Musikdramaturgie im Film: Wie Filmmusik Erzählformen und Filmwirkung beeinflusst 3869167858, 9783869167855

Die auditive Gestaltung im Kino lädt zum aufmerksamen Zuhören ein, um eine Geschichte interessant und unterhaltsam zu er

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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
Vorhaben, Prämissen und Methodik
Medientechnische Hinweise
Danksagung
Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung
1. Dramaturgie und Musik
1.1 Dramaturgie
1.1.1 Begriffsbestimmung Dramaturgie
1.1.2 Filmdramaturgie
1.1.3 Explizite Dramaturgie
1.1.4 Implizite Dramaturgie
1.1.5 Narratologie, narration und Filmdramaturgie
1.1.6 Die »Fabel« (mythos, story)
1.1.7 Das Fabel-Sujet-Begriffspaar
1.2 Musikästhetische Perspektiven auf Musik und Erzählen
1.2.1 »Absolute« und autonome Musik als musikalische Poesie
1.2.2 Programmmusik oder Ideenkunstwerk?
1.2.3 Narrative Metaphern und Formmodelle für Musik
1.3 Zusammenfassung Kapitel 1
2. Ästhetik und Affekt
2.1 Filmästhetische Überlegungen zur Einheit von Klang und Bild
2.1.1 Die äußeren Bedingungen zur Wahrnehmung der auditiven Schicht
2.1.2 Prozessualität und Räumlichkeit von Bild und Musik
2.1.3 Filmische Montage
2.1.4 Rezeptionsästhetische Modellvorstellungen zu Musik im Film
2.2 Einfühlung und Distanz
2.2.1 Brechts Kritik der Einfühlung
2.2.2 Strategien der Subjektivierung
2.2.3 Ernste und komische Effekte der Verfremdung
2.3 Filmmusik und Emotion
2.3.1 Thesen zur emotiven Wirkung von Filmmusik
2.3.2 Musik, Affekt und musikalischer Gestus
2.3.3 »Psychische Erholung« durch fiktive Lösungen
2.3.4 Einfühlung und Kontemplation als doppelte Basis der Affekte
2.3.5 Mitaffekt und Eigenaffekt
2.4 Zusammenfassung Kapitel 2
3. Musikdramaturgie und Film
3.1 Praxisorientierte und theoretische Ansätze
3.2 Abgrenzung zur Musiktheater-Dramaturgie
3.3 Zusammenfassung konkreter Aspekte der Musikdramaturgie im Film
Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse
4. Filmmusik und Analyse
4.1. Vorüberlegungen zum Themenbereich Filmmusik und Analyse
4.2 Kritik der Modelle und Kataloge filmmusikalischer Funktionen
4.3 Möglichkeiten und Grenzen der musikalischen Analyse von Filmmusik
4.3.1 Filmmusikalische Topologien
4.3.2 Musikalischer Ausdruck des Filmthemas und Einfluss auf narrative Strukturelemente
4.3.3 Grenzen der musikalischen Analyse
4.4 Fabelzusammenhang der Filmmusik
4.4.1 Definition Fabelzusammenhang der Filmmusik
4.4.2 Thesen zum Fabelzusammenhang der Filmmusik
4.4.3 Aristotelische Fabel und geschlossene Form
4.4.4 Heldenreise
4.4.5 Analytische Fabel
4.4.6 Episierende Fabel
4.4.7 Offene (dedramatisierte, sujetlose, episodische) Fabeltypen
4.5 Sujetbezug der Filmmusik
4.5.1 Thesen zum Sujetbezug der Filmmusik
4.5.2 Sujetbezug und narrative Funktionen
4.5.3 Das Zusammenwirken von Sujetbezug und Fabelzusammenhang
4.6 Die dramaturgische Dimension von Musik-Bild-Kopplungen
4.6.1 Klangperspektive
4.6.2 Extension
4.6.3 Synchrese
4.6.4 valeur ajoutée
4.6.5 Audiovisueller Kontrapunkt (»Kontrastierende Vertikalmontage « nach Eisenstein)
4.6.6 Sich bestätigende Beziehungen (Affirmation)
4.6.7 Sich ergänzende Beziehungen (»Dramaturgischer Kontrapunkt « nach Adorno / Eisler)
4.6.8 Filmmusikalisches Leitmotiv
4.6.9 Affirmation und Kontrapunkt als dramaturgisch vermittelte Beziehungen
4.7 Die auditiven Gestaltungs- und Wahrnehmungsebenen
4.7.1 Instrumentarium zur Analyse der auditiven Schicht
4.7.2 Erste und zweite auditive Ebene als kategoriales Gerüst
4.7.3 Mittelbarer auditiver Darstellungs- und Wahrnehmungsraum (mittelbare Ebene)
4.7.4 Modell der auditiven Ebenen
4.8 Zusammenfassung Kapitel 4
5. Zusammenfassung und Ausblick
6. Anhang
6.1 Verzeichnis der Filme
6.2 Verzeichnis der Abbildungen und Noten
6.3 Verzeichnis der Personen
6.4 Verzeichnis der Musikstücke und literarischen Werke
6.5 Internetquellen
6.6 Literaturverzeichnis
6.7 Glossar
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Musikdramaturgie im Film: Wie Filmmusik Erzählformen und Filmwirkung beeinflusst
 3869167858, 9783869167855

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ROBERT RABENALT

MUSIK DRAMA TURGIE IM FILM WIE FILMMUSIK ERZÄHLFORMEN UND FILMWIRKUNG BEEINFLUSST

Robert Rabenalt, geb. in Berlin, Studium der Musikwissenschaft und Musiktheorie in Berlin, Lehrtätigkeit im Bereich Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig, daneben Tätigkeit als Komponist für Ensembles und Film, Lehrbeauftragter für Musik- und Tondramaturgie an der Filmuniversität Babelsberg und als Mitherausgeber der Onlinezeitschrift Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung. Weitere Tätigkeit als Mitherausgeber, Autor von Artikeln, Lexikonbeiträgen, Leiter und Organisator von Workshops, Fachtagungen im Bereich Musiktheorie, Filmmusik und zur Didaktik im Spannungsfeld künstlerisch-­ wissenschaftlicher Arbeit sowie Vorträge auf nationalen und internationalen Tagungen und im Rahmen von Erasmus+ (Lissabon). 2019 Promotion an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg.

Musikdramaturgie im Film Wie Filmmusik Erzählformen und Filmwirkung beeinflusst Robert Rabenalt

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-86916-785-5 E-ISBN 978-3-96707-101-6 E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara Umschlagabbildung: Le Violon Rouge (Die Rote Violine, CAN/USA/I/GB/AT 1998, R. François Girard, M. John Corigliano). Screenshot DVD (125 Min.) Concorde, München, 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020 Levelingstraße 6a, 81673 München www.etk-muenchen.de Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck und Buchbinder: Laupp & Göbel GmbH, Robert-Bosch-Straße 42, 72810 Gomaringen

Inhalt Einleitung  9

Vorhaben, Prämissen und Methodik  9 Medientechnische Hinweise  13 Danksagung  14 Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung  15 1. Dramaturgie und Musik  17

1.1 Dramaturgie  17 1.1.1  Begriffsbestimmung Dramaturgie  17 1.1.2 Filmdramaturgie  27 1.1.3  Explizite Dramaturgie  42 1.1.4  Implizite Dramaturgie  44 1.1.5 Narratologie, narration und Filmdramaturgie  49 1.1.6  Die »Fabel« (mythos, story)  68 1.1.7  Das Fabel-Sujet-Begriffspaar  78 1.2  Musikästhetische Perspektiven auf Musik und Erzählen  85 1.2.1  »Absolute« und autonome Musik als musikalische Poesie  86 1.2.2  Programmmusik oder Ideenkunstwerk?  94 1.2.3  Narrative Metaphern und Formmodelle für Musik  98 1.3  Zusammenfassung Kapitel 1  109 2. Ästhetik und Affekt  114

2.1  Filmästhetische Überlegungen zur Einheit von Klang und Bild  115 2.1.1 Die äußeren Bedingungen zur Wahrnehmung der auditiven Schicht  115 2.1.2  Prozessualität und Räumlichkeit von Bild und Musik  116 2.1.3  Filmische Montage  118 2.1.4 Rezeptionsästhetische Modellvorstellungen zu Musik im Film  124 2.2  Einfühlung und Distanz  126 2.2.1  Brechts Kritik der Einfühlung  127 2.2.2  Strategien der Subjektivierung  130 2.2.3  Ernste und komische Effekte der Verfremdung  134

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Inhalt

2.3  Filmmusik und Emotion  138 2.3.1  Thesen zur emotiven Wirkung von Filmmusik  138 2.3.2  Musik, Affekt und musikalischer Gestus  143 2.3.3  »Psychische Erholung« durch fiktive Lösungen  148 2.3.4 Einfühlung und Kontemplation als doppelte Basis der Affekte  153 2.3.5  Mitaffekt und Eigenaffekt  154 2.4  Zusammenfassung Kapitel 2  159 3.  Musikdramaturgie und Film  164

3.1  Praxisorientierte und theoretische Ansätze  164 3.2  Abgrenzung zur Musiktheater-Dramaturgie  177 3.3 Zusammenfassung konkreter Aspekte der Musikdramaturgie  im Film  182 Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen ­Analyse  189 4.  Filmmusik und Analyse  191

4.1. Vorüberlegungen zum Themenbereich Filmmusik und Analyse  191 4.2  Kritik der Modelle und Kataloge filmmusikalischer ­Funktionen  193 4.3 Möglichkeiten und Grenzen der musikalischen Analyse von Filmmusik  200 4.3.1  Filmmusikalische Topologien  201 4.3.2 Musikalischer Ausdruck des Filmthemas und Einfluss auf narrative Strukturelemente  206 4.3.3  Grenzen der musikalischen Analyse  208 4.4  Fabelzusammenhang der Filmmusik  210 4.4.1  Definition Fabelzusammenhang der Filmmusik  211 4.4.2  Thesen zum Fabelzusammenhang der Filmmusik  215 4.4.3  Aristotelische Fabel und geschlossene Form  221 4.4.4 Heldenreise  224 4.4.5  Analytische Fabel  232 4.4.6  Episierende Fabel  235 4.4.7 Offene (dedramatisierte, sujetlose, episodische) Fabel­typen  240

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Inhalt

4.5  Sujetbezug der Filmmusik  250 4.5.1  Thesen zum Sujetbezug der Filmmusik  251 4.5.2  Sujetbezug und narrative Funktionen  252 4.5.3 Das Zusammenwirken von Sujetbezug und Fabelzusammenhang  254 4.6  Die dramaturgische Dimension von Musik-Bild-Kopplungen  261 4.6.1 Klangperspektive  263 4.6.2 Extension  265 4.6.3 Synchrese  267 4.6.4  valeur ajoutée  268 4.6.5 Audiovisueller Kontrapunkt (»Kontrastierende ­Vertikal­montage« nach Eisenstein)  272 4.6.6  Sich bestätigende Beziehungen (Affirmation)  276 4.6.7 Sich ergänzende Beziehungen (»Dramaturgischer ­Kontrapunkt« nach Adorno / Eisler)  279 4.6.8  Filmmusikalisches Leitmotiv  283 4.6.9 Affirmation und Kontrapunkt als dramaturgisch vermittelte Beziehungen  295 4.7  Die auditiven Gestaltungs- und Wahrnehmungsebenen  298 4.7.1  Instrumentarium zur Analyse der auditiven Schicht  298 4.7.2  Erste und zweite auditive Ebene als kategoriales Gerüst  306 4.7.3 Mittelbarer auditiver Darstellungs- und Wahrnehmungsraum (mittelbare Ebene)  318 4.7.4  Modell der auditiven Ebenen  325 4.8  Zusammenfassung Kapitel 4  342 5.  Zusammenfassung und Ausblick  350 6. Anhang  369

6.1  Verzeichnis der Filme  369 6.2  Verzeichnis der Abbildungen und Noten  373 6.3  Verzeichnis der Personen  374 6.4  Verzeichnis der Musikstücke und literarischen Werke  378 6.5 Internetquellen  380 6.6 Literaturverzeichnis  381 6.7 Glossar  395

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Einleitung Vorhaben, Prämissen und Methodik

Das Vorhandensein einer Musikdramaturgie im Film sollte zunächst begründet werden, weil Musik im Film nicht zwangsläufig vorhanden sein muss, um einen Film wirkungsvoll, inhaltlich und ästhetisch wertvoll zu gestalten. Musik ist nicht selten ein Auslöser und Anstoß von Filmen, Begleiter bei der Arbeit am Film oder gewohntes Beiwerk. Entgegen zahlloser Filmbeispiele, in denen nicht nur viel, sondern auch virtuos und kunstvoll Musik eingesetzt wird, ist es dennoch möglich, Filme ohne Musik – zumindest ohne hinzumontierte, nicht durch die gezeigte Szene begründete Musik – zu erschaffen. Doch schon hier beginnt eines der viel diskutierten Probleme der Musikdramaturgie im Film: Ist die gezeigte Musik lediglich in solchen Einstellungen zu hören, wo sie auch zu sehen ist? Wird Musik in der Szene nicht immer ein Kommentar, eine Vertiefung oder eine Interpretationshilfe sein wie externe Musik, z. B. wenn wir durch Montage gleichzeitig die Reaktionen auf das Erklingen der Musik sehen? Wenn uns diese Musik auch weiter in die folgende Szene begleitet, bedeutet sie dann nicht mehr, als nur die Ausstattung der Szene zu bereichern oder Übergänge fließend wirken zu lassen? Die Musikdramaturgie im Film beschäftigt sich sowohl mit Musik, die in vielerlei Form Teil der Handlung sein kann, als auch mit der Zuordnung von Musik zu einem filmisch organisierten Handlungsablauf. Als analoger Begriff zur Musikdramaturgie des Musiktheaters taugt der Begriff aufgrund mediumspezifischer und ästhetischer Unterschiede zwischen Film und Oper nicht ohne Weiteres, vor allem aber, weil Film keine im eigentlichen Sinne musikalische Gattung ist. Gemeinsamkeiten zwischen den sich in der Zeit entfaltenden Kunstformen Musik und Film erlauben aber, filmische Anordnungen durchaus als »musikalisch« zu bezeichnen, z. B. in Fragen des Rhythmus und Timings oder der Komposition und Anordnung der Ebenen und Teile. Wenn Filmdramaturgie die für die Gattung des narrativen Films kaum zu überschätzende Bedeutung der Bilder und das darstellende Spiel der Figuren ordnet, dann wird sie diese Ordnungskraft auch auf die hinzugefügte Musik übertragen. Eine unmittelbar führende Rolle nimmt Musik dabei selten ein. Dennoch scheint der Einfluss von Musik auf Dramaturgie und Filmwirkung enorm zu sein. In der vorliegenden Studie wird der Frage nachgegangen, wie vielfältig und wie konkret Musik als dramaturgisches Mittel zum Einsatz kommt und wie Musik die Filmform und die Filmwirkung beeinflusst. Unter Wirkung wird dabei nicht eine messbare physiologische oder psychologische Wirkung,

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Einleitung

sondern die Erlebnisqualität (Unterhaltung, Anregung) verstanden, die ein in Dramaturgie enthaltener Aspekt ist. Unter der Vorgabe, die bestmögliche Wirkung zu erreichen, organisiert Dramaturgie als Werkzeug der Konstruktion und Reflexion Struktur und Inhalt und setzt als zugleich praxisbezogene Disziplin Thema und filmische Präsentation einer Geschichte mit den zur Verfügung stehenden Mitteln und Aufführungsarten um. Ziel dieser Untersuchung ist es, die oft benannte, aber selten ausführlich behandelte, zeitgemäße Bedeutung der Dramaturgie für die Gestaltung, den Einsatz und die Wirkung der Filmmusik konkret und systematisch darzustellen. Es soll untersucht werden, wie Musik eigene Wirkungsmechanismen und Merkmale zugunsten einer Geschichte und ihrer filmischen Präsentation einbringt und mit Hinblick auf die kognitive und emotionale Anteilnahme eines anvisierten, idealen Publikums eingesetzt wird. Es sollen neue Thesen für die genannten Bereiche entwickelt und Musikdramaturgie als essenzieller Bestandteil einer Filmmusiktheorie ausgebaut werden. Hierfür wird ein zum Teil neues terminologisches und kategoriales Modell zur Beschreibung und Analyse von Filmmusik zur Diskussion gestellt. Als Prämissen für dieses Vorhaben, die in der Arbeit an geeigneter Stelle näher erläutert werden, gelten folgende Punkte: – Es existiert eine Musikdramaturgie außerhalb des Musiktheaters. – Dramaturgie ist zugleich Theorie und Praxis. – Zur Filmspezifik gehören ästhetisch eigene Formen der Repräsentation und Präsentation mit den Mitteln der filmischen Montage sowie die Synthese von Wahrnehmung und Wirkungen unterschiedlicher, schon existierender Kunstformen. – Filmmusik wird als poetisches Gestaltungsmittel verstanden, das einen Film unverwechselbar werden lässt. – Film dient als Kunst und Unterhaltung zur Erfassung der Welt und ist vielfach ebenso bedeutsam wie die Welterfahrung selbst oder eine Vorstufe davon. – Kunstwissenschaft muss nicht normativ sein, leitet Thesen und Instrumentarium aus den Werken selbst ab und respektiert dabei einen stets verbleibenden, nicht übersetzbaren Rest. Aus den Zielen und Prämissen ergibt sich, dass Dramaturgie als Methode zum Einsatz kommt, d. h. als Instrument der Reflexion, Analyse und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und des kreativen Durchdenkens von Phänomenen des darstellenden Erzählens und der Filmmusik. In der Filmmusikforschung ist Dramaturgie noch nicht systematisch als Methode genutzt worden, obwohl sie – von bestimmten kommerziellen Erwägungen abgesehen – die wohl wich-

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Einleitung

tigste Instanz darstellt, vor der sich alle zum Einsatz kommenden Mittel im Film, darunter die Filmmusik, direkt oder indirekt rechtfertigen können und meist auch müssen. Ziel dieser Studie ist es daher auch, Dramaturgie als wissenschaftliches Werkzeug zur Annäherung an künstlerische, sich in der Zeit entfaltende, multimediale Werke zu erschließen. Konkrete Fragen, die die Untersuchung leiten, sind: – Wie kann eine zeitgemäße Definition von Dramaturgie aussehen, die für tradierte Erzählformen im Film und für neuere Formen des filmischen Erzählens geeignet ist? – Wie unterscheidet sich Musikdramaturgie im Film von Musikdramaturgie im Musiktheater? – Wie lassen sich Filmformen, Stile oder Gattungen musikdramaturgisch differenzieren? – Hat Musik bereits eigene narrative oder semantische Implikationen, und falls ja, wie werden sie in eine filmisch erzählte Geschichte integriert? – Wie hält Musik das Interesse am Erzählten wach oder beeinflusst die Lesarten der erzählten Geschichte? – Wie wirken sich die Verabredungen und Bedingungen zur Gestaltung und Wahrnehmung der auditiven Schicht im Film auf die dramaturgische Bedeutung von im Film eingesetzter Musik aus? – Unter welchen Umständen gehört Musik zur Filmspezifik und trägt substanziell zur Filmsprache und Dramaturgie des Films bei, und wann und warum bleibt Musik entbehrlich oder lediglich akzidentielle Zutat? – Wann sind die musikalisch-kompositorischen Mittel ausschlaggebend für die Wirkung von Filmmusik und wann vielmehr die Art, wie Musik im Film zum Einsatz kommt? – Wie kann existierende Terminologie zur Beschreibung und Analyse von Filmmusik geschärft oder eine neue Terminologie gefunden werden, sodass in dem weiten Spannungsfeld von Ästhetik und Pragmatik (Filmpraxis, Filmtheorie, Medienwissenschaft, Filmkunst, Filmwahrnehmung und kommerzielle Massenverwertung) ein Vokabular und eine Methodik bereitstehen, die der Eigenheit und Wirkungsweise von Filmmusik so umfassend wie möglich gerecht werden? Daraus ergibt sich, dass ein interdisziplinärer Ansatz notwendig ist, um die grundlegenden und breit gefächerten dramaturgischen Aspekte der Gestaltung und Wirkung von Filmmusik zu untersuchen. Die Gliederung des Buches und der Umfang der einzelnen Kapitel nimmt darauf Rücksicht. Vonseiten der beteiligten wissenschaftlichen und künstlerischen Disziplinen Theater, Literatur, Musik

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Einleitung

(Theorie und Komposition), Musikwissenschaft, Film und Filmtheorie existiert keine universell anerkannte Definition von Dramaturgie. Auffällig in den zahlreich vorliegenden Veröffentlichungen zu Filmmusik ist eine Diskrepanz zwischen dem durchaus vorhandenen Bewusstsein von der Bedeutung der Dramaturgie für die Filmmusik einerseits und andererseits dem nicht selten eingeengten oder ungenauen Blick darauf, was Dramaturgie genau sei. Die Begriffsbestimmung steht daher am Anfang der Betrachtungen und ersetzt eine noch häufig anzutreffende reduzierte Auffassung, nach der Dramaturgie lediglich den Handlungsaufbau oder einen nicht näher definierten Spannungsaufbau betrifft, manchmal nur Worthülse für die Ansammlung von Strukturmustern ist oder allein das In-Szene-Setzen meint und überdies implizite, nicht offensichtliche Dramaturgieanteile vernachlässigt. Die Untersuchungen zur Musikästhetik, Filmästhetik, Kunst- und Emotionspsychologie werden auf jene Aspekte eingegrenzt, die für die dramaturgische Bedeutung von Filmmusik und ihre Rezeption wichtig erscheinen. Somit kann zwar keine als vollständig geltende Ästhetik der Filmmusik entwickelt werden, jedoch steht diese mehr als in anderen Veröffentlichungen zur Filmmusik am Anfang der Betrachtungen, und im Verlauf treten wesentliche Merkmale einer Ästhetik der Filmmusik hervor. Querverbindungen zwischen den Disziplinen und die für Filmmusik spezifisch geltenden Bedingungen bei der Filmherstellung und Aufführung führen die unterschiedlichen Perspektiven immer wieder zusammen, sodass auch hier die Frage nach der dramaturgischen Bedeutung von Filmmusik ins Zentrum gerückt werden kann. Die kritische Reflexion des Vokabulars und eine Aufstellung der konkreten Aspekte der Musikdramaturgie im Film bilden die Grundlage für das letzte Kapitel. Dort werden konkrete Thesen zur Theorie der dramaturgischen Einbindung von Musik sowie das Instrumentarium zur musikdramaturgischen Analyse präsentiert und mit zahlreichen Beispielen untermauert. Wenn Begriffe und Zusammenhänge von Grund auf neu überdacht werden, ist meist auch eine Kritik an der Terminologie oder ihrem Gebrauch die Folge. Diese Kritik richtet sich aber nicht an Personen, die mit solcher Terminologie arbeiten. Erkenntnisse oder neue Begriffe sollen zum Weiterdenken anregen und stehen im besten Fall auch für hier nicht diskutierte Gegebenheiten, Gattungen und Formen zur Verfügung. Der Korpus der Studie erwächst aus Filmen, die entweder durch ihr ästhetisches Konzept, ihre Dramaturgie und Erzählstruktur, ihre musikalischen Mittel und kommunikativen Codes oder aufgrund ihrer unterstellten Publikumswirksamkeit tief greifende Erkenntnisse zum Forschungsschwerpunkt erwarten lassen. Das gewählte Spektrum zeigt neben der dramaturgischen Dimension filmmusikalischer Arbeit auch, wie Musik für unterschiedliche Erzählformen eingesetzt wird

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Einleitung

bzw. wie sie diese beeinflusst, sowie die filmspezifischen Erscheinungsweisen von Musik im Film. Es handelt sich um exemplarisch gewählte Filme, die durch ihren Musikeinsatz prägend waren oder noch sind, unabhängig davon, ob die Filme zu ihrer Zeit oder heute massenwirksam geworden sind oder eher in Kreisen von Filmschaffenden, an Filmhochschulen, von der Filmkritik oder Filmwissenschaft diskutiert wurden. Manche Beispiele können für die Regel stehen, andere für die Ausnahme. Meistens zeigen die Beispiele die vielfältigen Möglichkeiten der musikdramaturgischen Arbeit im Film. Diese Methodik erlaubt es, anders als bei einer an Genres, einzelnen Personen, Epochen oder Markterfolg orientierten Studie, dem Anspruch nach einem umfassenden Spektrum musikdramaturgischer Konzepte und Wirkungsweisen der Filmmusik gerecht zu werden.

Medientechnische Hinweise

Die angegebenen Zeiten der Filmausschnitte von untersuchten Beispielen sind kein Timecode. Dazu fehlt nicht nur die letzte Angabe (frame), sondern auch eine einheitliche Grundlage für die unterschiedlichen zur Verfügung stehenden Videoformate. Die meisten Quellen haben keinen eingeschriebenen Timecode. Die meisten physischen und nativen Player geben nur berechnete Werte (gewissermaßen Schätzungen) zur Laufzeit bzw. Position an und keine absoluten, nicht zu löschenden Zuordnungen zu jedem einzelnen Frame wie bei einem Timecode. Die angegebenen Zeiten sind daher nur ungefähre Werte, erhalten in dieser Form bestehend aus Stunden:Minuten:Sekunden aber eine Übersichtlichkeit, z. B. 1:26:50 (h:mm:ss) im Gegensatz zum Timecode 01:26:50:24 (h:mm:ss:frame). Bei Abweichungen der in den Analysen angegebenen Zeiten von mehr als ein bis zwei Minuten (am Ende eines ca.  zweistündigen Films sogar von bis zu zehn Minuten) liegt der Grund in den unterschiedlichen Standards von 24 oder 25 Bildern/Sekunde, d. h. der Unterschied zwischen schneller laufender DVD und Kinofilm bzw. Streamingdiensten. Dieser Unterschied kann sich auch bei höheren frame-Raten moderner Videoformate bemerkbar machen, die diese Standards rekonstruieren. Je nach Format, Gerät und Software müssen beim Abspielen der Filme Abweichungen in Kauf genommen werden, selbst bei einer identischen Quelle und besonders bei unterschiedlichen Editionen. Vor diesem Hintergrund wurde auf eine sekundengenaue Angabe verzichtet und zumeist in Fünf-Sekunden-Schritten »gerundet«. Die durch unterschiedliche Bild- und Tonformate entstehenden Unterschiede der Tonhöhen ergeben das Problem, dass Filmmusik auf DVDs und vergleichbaren Formaten annähernd eine kleine Sekunde höher erklingt, als sie kompo-

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Einleitung

niert, notiert und aufgenommen wurde. Ein Musikstück in a-Moll erklingt dann in b-Moll, C-Dur klingt als Cis-Dur oder Des-Dur. Die hier vorliegenden Transkriptionen wurden durch den Autor vorgenommen und gleichen diese Differenz in der Regel aus. Mitunter ist aber nicht eindeutig zu bestimmten, in welcher Tonart eine im jeweiligen Videoformat klingende Musik steht oder komponiert wurde. Dieser Sachverhalt kann hier vernachlässigt werden, zumal im Arbeitsprozess musikalisch oder technisch nicht selten und für Außenstehende kaum nachzuprüfen transponiert wird und der Schwerpunkt hier nicht auf der Analyse von originalem Notenmaterial liegt.

Danksagung

Für ihre wertvolle Hilfe durch Gespräche, Anmerkungen, generelle und spezielle Hinweise oder sonstige Unterstützung danke ich den folgenden Personen (in alphabetischer Reihenfolge) sehr: Prof. Jens Becker, Ornella Calvano, Franziska Döhler, Prof. Dr. Hartmut Fladt, Stephanie Hörnes, Dr.in Anna Igielska, Prof. Dr. Georg Maas, Dr. Dieter Merlin, Prof. Peter Rabenalt, Pascal Rudolph, Prof. Dr.in Monika Suckfüll, Prof. Dr.in Kristin Wardetzky, Prof. Dr. Peter Wuss, Rita Ziller. Besonderer Dank gilt dem Team der Hochschulbibliothek und Mediathek der Filmuniversität »Konrad Wolf« Potsdam-Babelsberg, darunter ganz besonders für ihre engagierte Hilfe: Uwe Figge, Kirsten Otto und Susanne Reiser. Unschätzbar wertvoll war und ist der Austausch mit den Studierenden der Filmuniversität »Konrad Wolf« Potsdam-Babelsberg, insbesondere aus den Studiengängen »Sound«, »Sound for picture«, »Drehbuch/Dramaturgie« und »Filmmusik«. Dieses Buch habe ich auch (wie es sinngemäß Arnold Schönberg einmal ausdrückte) von ihnen gelernt.

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Teil I Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Im Film kann Musik als ein wesentliches Element der Dramaturgie einen faszinierenden Anteil an der Wirkung haben. Doch wie kann dieser analysiert, beschrieben und erklärt werden? In der Musik selbst stecken bereits Anteile dramaturgischer Gesetzmäßigkeiten, z. B. eine kalkulierte Verlaufswirkung, der Zusammenhalt der musikalischen Mittel untereinander oder das Einbeziehen von Publikumswissen. Beim Zusammentreffen verschiedener Kunstsysteme, die ihre eigenen Gesetze zu Sprache, Musik und Bild einbringen, prägt der Film eigene Spezifika aus. Die Kapitel des I. Teils sollen die Grundlage bilden, um diesen Dingen nachzugehen und eine Bestimmung des Begriffs »Musikdramaturgie im Film« zu ermöglichen. Kapitel 1–3 bewegen sich im interdisziplinären Umfeld der Filmmusik, beginnend mit der Frage, was unter Dramaturgie, Filmdramaturgie und filmischer Narration verstanden werden kann. Der changierende Begriff »Dramaturgie« wird hinterfragt, die wesentlichsten Aspekte zur Filmdramaturgie werden erläutert. Danach richtet sich der Blick auf musikgeschichtlich gewachsene Konnotationen zwischen Musik und außermusikalischen Inhalten, narrative Analogien in der Musik, psychologische Anteile der Filmwahrnehmung und Grundlagen der emotionalen Teilnahme am Film. Die Beschäftigung mit den filmästhetischen Bedingungen, unter denen Musik im Film wirkt, folgt der Ansicht, dass Dramaturgie auch eine ästhetische Theorie beinhaltet, die Inhalt, Struktur und Wirkung zueinander in Beziehung setzt. Die verschiedenen Blickwinkel in den ersten drei Kapiteln sind durch Querverweise und Rückfragen miteinander verbunden, auch um nach geeigneter Terminologie für ein Konzept der Musikdramaturgie im Film und die musikdramaturgische Analyse von Musik im Film zu suchen.

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1.  Dramaturgie und Musik 1.1 Dramaturgie 1.1.1  Begriffsbestimmung Dramaturgie

Eine Begriffsbestimmung für den Terminus »Dramaturgie« vorzunehmen, die alle mit Dramaturgie praktisch oder theoretisch in Berührung kommenden Bereiche, Kunstformen, Wissenschaftsdisziplinen usw. gleichermaßen berücksichtigt (und die Ansichten der Vertreterinnen und Verfechter ausreichend berücksichtigt), ist nach eingehender Untersuchung der Materie kaum möglich. Es stellt sich sogar die Frage, ob Dramaturgie überhaupt als Begriff taugt. Ähnlich verhält es sich bei der Diskussion, wie weit der Begriff »Filmmusik« zu fassen sei, wodurch einige Schwierigkeiten für eine wissenschaftliche Betrachtung von Musikdramaturgie im Film entstehen. In diesem Kapitel wie auch in der gesamten Untersuchung finden sich Gedanken, Definitionen und Tendenzen wieder, die einen Dramaturgiebegriff untermauern, der praktische, analytische und theoriebildende Aspekte berücksichtigt. Die Gewichtung dieser Anteile kann je nach Kontext, in dem das Wort Dramaturgie gebraucht wird, sehr unterschiedlich ausfallen. Zusammengehalten werden die genannten Aspekte durch die Ästhetik des darstellenden Erzählens, zu dem auch die Kunstform Film gezählt werden kann. Der hier dargelegte Dramaturgiebegriff greift Grundlagen der Theaterdramaturgie auf, schließt dabei antike, klassische und zeitgenössische Prägungen ein und öffnet sich auch den Erkenntnissen und Kategorien der Narratologie, die für die Filmwissenschaft und Filmmusikforschung immer bedeutsamer geworden sind. Ein aus der Belletristik stammendes Zitat zeigt anschaulich und kompakt die vielen Anteile, die Dramaturgie als Theorie und Praxis der Erzählkunst hat, und rückt einen noch nicht genannten Aspekt in den Mittelpunkt: dass der/die Erzählende um das Wissen des Publikums weiß und die eigene Sichtweise auf Thema und Geschichte zwar nicht vollständig offenlegt, aber dennoch durchblicken lässt: »Ich selbst genoss meinen Bericht so, als würde er von einem ganz anderen erzählt, und ich steigerte mich von Wort zu Wort und gab dem Ganzen, von meiner Leidenschaft für das Berichtete selbst angefeuert, eine Reihe von Akzenten, die entweder den ganzen Bericht würzende Übertreibungen oder sogar zusätzliche Erfindungen waren, um nicht sagen zu müssen: Lügen. Ich hatte auf dem Schemel neben dem Fenster sitzend, den Schorschi auf seinem Bett gegenüber, einen durch und durch dramatischen Bericht gegeben, von dem ich überzeugt war, dass man ihn als ein wohlgelungenes Kunstwerk auffassen musste, obwohl kein Zwei-

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung fel darüber bestehen konnte, dass es sich um wahre Begebenheiten und Tatsachen handelte. Wo es mir günstig erschien, hielt ich mich länger auf, verstärkte das eine, schwächte das andere ab, immer darauf bedacht, dem Höhepunkt der ganzen Geschichte zuzustreben, keine Pointe vorwegzunehmen und im Übrigen mich als den Mittelpunkt meines dramatischen Gedichts niemals außer acht zu lassen. Ich wusste, was dem Schorschi imponierte und was nicht, dieses Wissen war die Grundlage meines Berichts.« Thomas Bernhard, Ein Kind (Bernhard 1982/2012, S. 35 f.)

Dramaturgie ist ein Bereich der Praxis (Erfindung und Umsetzung) und zugleich der Theorie (Analyse und Reflexion der Regeln). Um eine Brücke zwischen theoretischen und praktischen Anteilen von Dramaturgie zu schlagen, kann man grundsätzlich sagen, dass Dramaturgie als eine Form des kreativen Durchdenkens einer Sache mit den Mitteln der poetischen Gestaltung zeitbasierter Künste verstanden werden kann. Daraus ergibt sich, dass Dramaturgie kein geschlossenes oder homogenes System darstellt – in diesem Sinne sollten die zitierten Definitionen oder Anmerkungen verstanden werden. Unterschiedliche Auffassungen zu und Anforderungen an Aufbau, Umsetzung und Rezeption einer Geschichte lassen Dramaturgie als vielfältiges und keineswegs normatives Gefüge begreifbar werden. Dieses Gefüge besteht aus in der Praxis gewonnenen und erprobten Strukturen und Wirkungsstrategien, die sich nicht selten zu erzählerischen Modellen und rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen zu Wahrnehmung und Aufschlüsselung von narrativen Werken verfestigt haben. Hierauf aufbauend entwickelte und entwickelt sich Dramaturgie als künstlerische und – wenn auch noch vereinzelt – zunehmend wissenschaftliche Disziplin, die unterschiedliche theoriebildende Ansätze und Forschungstraditionen bedient oder nutzt. Der im Folgenden ausgebreitete Dramaturgiebegriff berücksichtigt, dass Dramaturgie Strukturen und Wirkungen hervorbringt, aber mit ihrer Hilfe dieselben zugleich auch analysiert werden können.1 Ein solcher Dramaturgiebegriff lässt Strategien und Wirkungen als (bewusst oder unreflektiert) auf einer in Werken und Theorien überlieferten Basis sich entfaltend begreifbar werden. Aber auch nicht vollständig benennbare und dennoch praktizierte Strategien und funktionierende Wirkungsmechanismen sind Teil von Dramaturgie. Der Dramaturg und Drehbuchautor Jean-Claude Carrière spricht sogar von einem »Geheimnis«, das dem Erzählen innewohnt, und verortet damit Dramaturgie indirekt in einem

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Vgl. hierzu die Ausführungen von Kerstin Stutterheim zur »Dialektik des darstellenden Erzählens«: Kerstin Stutterheim und Silke Kaiser (2009/2011), Handbuch der Filmdramaturgie: Das Bauchgefühl und seine Ursachen, S. 5.

1.  Dramaturgie und Musik

Bereich, wo nicht alle Gestaltungselemente und Wirkungsweisen entschlüsselbar sind, aber dennoch in der Praxis existieren.2 Der Terminus »Dramaturgie« zielt insgesamt auf drei wesentliche Aspekte des darstellenden Erzählens ab: 1. die Tätigkeit der Fertigung und Aufführung von Dramen (in der Philosophie »Poiesis« genannt, altgriechisch: für zweckgebundenes Handeln), 2. die Lehre von den Regeln und Prinzipien für die Umsetzung im Rahmen der dem Medium entsprechenden Kriterien (»Poetik«) 3. eine Theorie, die Rechtfertigungen und Analysemethoden für die postulierten Regeln liefert und systematisiert.3 Aus der Perspektive, Dramaturgie als Werkzeug der Umsetzung wie auch Analyse zu betrachten, hat, als Beispiel, Gotthold Ephraim Lessing auf zeitgenössische Dramenaufführungen geblickt. Seine »Hamburgische Dramaturgie«4 enthält neben den Analysen implizit auch eine Theorie der Theaterdramaturgie. Er greift dabei unter anderem auf den von Aristoteles mit »Mythos« titulierten, in der Folge aber mit »Fabel« übersetzten Terminus (Schmitt 2008, S. 222) für die Organisation der Einheit der Handlung zurück und führt den Begriff »Intrige« ein (Lessing 1767/69, S. 163 f.). »Intrige« steht in manchen Dramentheorien für das Prinzip der »Fabel«, in anderen für den Teil der Geschichte, der durch meist entgegengesetzte Interessen und daraus resultierende Konflikte eine Handlung vorantreibt. Lessing knüpft an das aristotelische Paradigma an, dass die Handlung aus Notwendigkeit und nach Wahrscheinlichkeit voranschreiten solle (Aristoteles 2008, S. 13; Kap. 9,

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»Und das ist in der Tat ein Geheimnis. Aus komplexen und schlecht erforschten Gründen scheinen der Film und auch das Theater (aber der Film besonders) eng an eine spezielle Erzählweise gebunden, anders ausgedrückt an eine Geschichte. Sie kann langsam, schnell, nach innen gekehrt oder sehr auf Handlung bedacht, linear oder gebrochen sein – so oder so bleibt sie eine Erzählung. Und deshalb folgen wir ihr. Es gibt jemanden, dessen Schicksal mich interessiert. Wenn mich das so interessiert, dass ich den Rest der Welt vergesse, lebe ich zwei Stunden mit dieser Geschichte, bin gefesselt und davon gefangen genommen. Und ich will das Ende kennen. Worin liegt diese Verbindung zwischen den ältesten Formen der Geschichte und den modernsten Techniken des Films? Man weiß es nicht genau.« Jean-Claude Carrière (2002), Über das Geschichtenerzählen, S. 143. Vgl. hierzu außerdem: Stutterheim und Kaiser (2009/2011), Handbuch der Filmdramaturgie: Das Bauchgefühl und seine Ursachen, S. 5, 15, 276. Diese Systematik wendete Dahlhaus für Untersuchungen zur Musiktheater-Dramaturgie an, vgl. Carl Dahlhaus (2001a/GS2), »Opern- und Librettotheorie«, in: Hermann Danuser [Hg.], Gesammelte Schriften in 10 Bänden, S. 467 f. »Die ›Hamburgische Dramaturgie‹ erschien als Theaterzeitschrift begleitend zur kurzen Dauer der ›Entreprise‹ eines deutschen Nationaltheaters in Hamburg. Hier schrieb Lessing von Mai 1767 bis April 1768 regelmäßig Theaterkritiken und Gedanken zur Wirkung und Absicht des neuen bürgerlichen Dramas, die 1769 als Buch erschienen.« Bernd Stegemann (2009), Dramaturgie, S. 155.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

1451a35), und führt es mit den Ideen der Aufklärung zusammen. Die Katharsis, meist als Reinigung von den Affekten Furcht, Schaudern und Mitleid bzw. als Ausgleich dieser Affekte verstanden,5 transferiert Lessing demnach zu einer Verwandlung hin zu einem tugendhaften und aufgeklärten Geist. Von Brecht wurden die inhärenten Grundlagen der aristotelischen Dramaturgie und des bürgerlichen Theaters des 19. Jahrhunderts, wie z. B. die Einfühlung in Protagonisten und Konflikte sowie die schicksalhafte Unabänderlichkeit der Umstände, in denen eine Geschichte angesiedelt ist, scharf kritisiert. Doch auch er verwendet den Begriff »Fabel« und sieht ihn als einen zentralen dramaturgischen Terminus an. Zu Brechts Verständnis eines reformierten Fabel-Begriffs gehört die Idee, dass das Wesen des Menschen sich durch sein gesellschaftliches Handeln zeige.6 Dramaturgie ist aus dieser Sicht nicht nur die Lehre vom Drama (in allen seinen Formen und Medien), sondern immer auch eine Form der Lehre vom Menschen.7 »Fabel« bzw. »Intrige«, »Figur« und »Konflikt« sind zentrale Kategorien der traditionellen Dramaturgie. Normative Dramaturgien überlieferten zudem für den Dramenaufbau Vorgaben, so z. B. die überschaubare Einheit von Handlung, Zeit und Raum. Es existiert darüber hinaus eine Vielzahl an Begriffen für Handlungskomposition, Figurenrede und die sinnlich erfahrbare Darbietung. Auch hier findet sich die theoretische Basis schon bei Aristoteles, der sechs Ebenen eines Dramas benennt: Einheit der Begebenheiten als Handlungskomposition (mýthos), Charaktere (ēthos), sprachliche Gestaltung (lexis), Denkweise (diánoia), die Aufführung (ópsis) und Lieddichtung (melopiía)8 (Aristoteles 2008, S. 10; Kap. 6, 1450a10). Das, was heute als Handlung bezeichnet wird, entsteht aus der Verflechtung dieser Ebenen. Aristoteles unterschied dafür Handlungen (pragmata) und das Geflecht aus Handlungen (praxeis). Der Begriff »Drama«, aus dem das Wort Dramaturgie seinen Ursprung hat, bezeichnet dagegen die Bühnenaktion bzw. Umsetzung durch Darstellende. Die Handlungskomposition wird in vielen Übersetzungen »fabula« oder »Fabel« genannt. Der Handlungsaufbau enthält gegebenenfalls normierte Stationen bzw. Momente für den Anstoß oder die Fortsetzung der Handlung, z. B.: 5 6 7 8

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Siehe zu Katharsis die Erläuterungen in Kap. 1.1.6 (»Die ›Fabel‹ [mythos, story]«). Diese Prämisse ist vielerorts herauszulesen, u. a. in: Bertolt Brecht (1964b), »Kleines Organon für das Theater. Katzengraben-Notate. Stanislawski-Studien. Die Dialektik auf dem Theater (1948–1956)«, in: Schriften zum Theater (1937–1956). Vgl. hierzu: Jens Becker (2012), Figuren und Charaktere: Das Enneagramm als Werkzeug für Drehbuchautoren und andere Kreative. Mit Lieddichtung scheinen lyrische Intermezzi gemeint zu sein. Die musikalische Gestaltung wurde von Aristoteles dagegen mit harmonía bezeichnet, vgl. Arbogast Schmitt (2008), Aristoteles: Poetik, S. XVI.

1.  Dramaturgie und Musik

»Kollision«, »Umkehr« bzw. »Peripetie« (auch: Handlungs- oder Glücksumschlag), »Erkennung« (anagnō´risis) sowie »erregendes« und »retardierendes Moment« oder »steigende« und »fallende« Handlung (Freytag 1863) als Pendant zu Aristoteles’ »Schürzung des Knotens« und »Lösung des Knotens«. In Schmitts Übersetzung der Poetik von Aristoteles: »Verwicklung« und »Lösung« (Schmitt 2008). Gustav Freytag, wie auch Otto Ludwig in seinen von Nationalismus getragenen »Shakespeare-Studien« (Ludwig 1874/1901), beharrte auf einem Fünf-AktSchema, das nur auf einen eingeschränkten Korpus angewendet werden kann9 und welches das aristotelische Ideal erweitert. Damit einhergehend konnten gelockerte Regeln für eine Tragödie erfasst werden, z. B. für die Anzahl der handelnden Figuren oder für Handlungsorte. Auch Nebenhandlungen und Neben- oder Begleiterfiguren konnten im fünfaktigen Drama ausführlicher in Erscheinung treten. Einer Geschichte können so zusätzliche Bedeutungsebenen verliehen werden. Die bisher genannten Basisbegriffe sind – wie sich in den Untersuchungen zeigen wird – auf den narrativen Film produktiv anwendbar.10 Zu den Bereichen des darstellenden Erzählens, die mithilfe der Dramaturgie erfasst werden können, gehören nicht nur die Strukturen und Wirkungen, sondern auch die Figuren und ihr äußeres Erscheinen sowie ihr innerer Charakter und »sozialer Gestus« (Becker 2012, S. 4). Hier hinein fließen auch soziologische und psychologische Aspekte. Figuren lassen sich dann in »Charaktere« und »Typen« unterscheiden, deren physische Erscheinung sichtbar, deren geistige Eigenschaften dagegen unsichtbar sind (Becker 2012, S. 3 f.) – nicht zuletzt für die Filmmusik und Musikdramaturgie ein möglicher Ansatzpunkt. »Charaktere« sind individuell angelegt, komplexer gezeichnet und können Veränderungen durchlaufen. Im Handeln der »Charaktere« zeigen sich immer auch der überdauernde Teil der Figur und ihre ethischen Grundsätze. Davon kann das Pathos eines »Charakters« abgegrenzt werden, der den augenblicklichen Gemütszustand oder Affektausbruch zeigt. »Typen« sind Figuren, die sich im Verlauf der Handlung nicht ändern, die exemplarisch für überpersönliche Eigenschaften oder Verhaltensweisen stehen und meist in Zusammenhang mit feststehenden Sujets, Genres und Situationen auftreten. Nicht selten sind Nebenfiguren als »Typen« zu bezeichnen.

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»Das komische Drama, das mittelalterliche Drama, das Drama des Sturm und Drang oder die Stücke Büchners und Grabbes mußten ausgeklammert bleiben. Die Bauformen des Sophokles sowie klassische französische und deutsche Dramen folgten indes dem Modell, und unter bestimmten Vereinfachungen paßten auch einige Shakespearestücke in das Prokustesbett.« Vgl. Peter Wuss (1993/1999), Filmanalyse und Psychologie: Strukturen des Films im Wahrnehmungsprozess, S. 172. An gegebener Stelle, d. h. wo sie für die Musikdramaturgie bedeutsam sind, werden die genannten sowie weitere Begriffe eingehender erläutert.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Dramaturgie berührt auch die Inszenierung eines Werkes. Auf den Film übertragen bedeutetet dies allerdings, dass eine Inszenierung während vieler Phasen der Filmherstellung stattfindet: während des Drehs in der Arbeit mit Schauspielerinnen und bei der sogenannten »Auflösung« einer Szene (Position der Kamera, Kamerafahrten, Position der Schauspieler im Setting u. a.), bei der Montage und Bildbearbeitung sowie bei der abschließenden Filmmischung. Die Filmmischung ist nicht die Vervollständigung der Tonspur, sondern dient der Entscheidung und Festlegung dazu, wie Musik und Ton »inszeniert« werden. Erst im Zusammenwirken entfaltet alles seinen dramaturgischen Sinn. Hier mögen die Auffassungen darüber, wie weit Dramaturgie reicht, auseinandergehen. Die Musikdramaturgie im Film wird vom abschließenden Arbeitsschritt, der Filmmischung, entscheidend mitgeprägt. Hier werden alle auditiven Gestaltungselemente zueinander in Beziehung gesetzt, es wird ihre »sensorische Qualität«11 bestimmt und alles Klingende in endgültiger Form in Beziehung zur Geschichte gesetzt. Bei der Suche nach einer Definition von Dramaturgie finden sich einerseits solche, die die Breite der Thematik und Anwendungsbereiche abzudecken versuchen, dabei naturgemäß sehr allgemein bleiben, zum anderen Definitionen, die z. B. nur auf das Theater beschränkt sind, einen in anderer Weise eingeschränkten Dramaturgiebegriff fortschreiben oder bestimmte Teilaspekte in den Vordergrund rücken. Einige seien an dieser Stelle zitiert, gerade weil keine Definition allein für diese Arbeit tragfähig erscheint. »Dramaturgie ist angewandte Poetik […], die sich der Beziehung zwischen dem zugrunde liegenden Text, den konzeptuellen Überlegungen, die einer Aufführung oder der Vorführung vor Publikum vorangehen und deren Realisierung widmet. […] Dramaturgie ist als eine Teildisziplin der Ästhetik eine tradierte praxisbezogene wie praxisbasierte Wissenschaft, die sich dem Geheimnis des Erzählens widmet und gleichermaßen analysiert wie darstellt, was ein das Publikum unterhaltendes wie anregendes narrativ-performatives Werk ausmacht. Als Methode kann man Dramaturgie im übertragenen Sinne auch als Dialektik des darstellenden Erzählens verstehen. Die Begriffe und Kategorien der Dramaturgie werden in der dramaturgischen Tätigkeit – sei es die Analyse oder das ›Ins-Werk-

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Mit »sensorische Qualität« ist eine im Film speziell an das Hören gekoppelte Dimension gemeint, in der sich Qualitäten durch unbewusst ablaufende Verarbeitungsstrategien entwickeln, die dem bloßen Informationswert eines Klanges bezogen auf Struktur, Emotion und Sinnhaftigkeit eine größere Bedeutung geben. Diese Qualitäten werden z. B. durch Lautstärke oder Klangspektrum definiert, wie Flückiger herausgearbeitet hat: »Es wird  –  mit anderen Worten – der funktionalen Kommunikation eine Erlebnisqualität hinzugefügt.« siehe: Barbara Flückiger (2001/2007), Sound Design: Die virtuelle Klangwelt des Films, S. 345, 252, 289.

1.  Dramaturgie und Musik setzen‹ – mit dem konfrontiert, was mit ihnen ausgedrückt wird, und so stets in der Praxis überprüft.« (Stutterheim und Kaiser 2009/2011, S. 15)

Zur Ergänzung zitieren die Autorinnen aus Standardwerken, z. B. aus dem »Metzler-Lexikon Theatertheorie«, um weitere Anteile der Definition von Dramaturgie zu nennen, die in der Regel im Vordergrund stehen: Dramaturgie umfasst demnach auch »[…] das Wissen um und die Kenntnis der semantischen Dimension wie auch der strukturellen Gesetzmäßigkeit und Regelhaftigkeit von Texten, die dazu geschaffen sind, in eine Bühnenhandlung transformiert zu werden.« (Weiler 2005, S. 80).

Dass Dramaturgie nicht nur Strukturmodelle für die Schaffung eines Werkes benennt, sondern zugleich auf ein Publikum ausgerichtete Strategien einschließt, wird im selben Artikel weiter ausgeführt: »Darüber hinaus umfasst Dramaturgie die Reflexion auf ein zu erwartendes bzw. vorwegzunehmendes Wahrnehmungs- und Rezeptionsgeschehen auf der Seite der Zuschauer. Diese Reflexion kann sich durch den Reflexionsprozess in allen theatralen Elementen visuell oder lautlich manifestieren. So gesehen ist Dramaturgie durchaus als Strategie zu bezeichnen.« (Weiler 2005, S. 80)

Die hierin bereits angesprochene Fähigkeit des Publikums, eigene Prognosen zu Verlauf oder Inhalt bei der Filmwahrnehmung zu bilden und operativ weiter zu verwenden, wird nicht unerheblich von Musik bzw. Einsatzformen von Musik im Film beeinflusst  –  ein Gedanke, der die Argumentation in den folgenden Kapiteln stets begleitet.12 Eine Sicht, die verschiedene Dramaturgieanteile zur Gesamtdramaturgie eines Werkes des darstellenden Erzählens vereint sieht, vertritt unter anderen Eugenio Barba.13 Er ist Theatermacher und Theoretiker, der die Interaktionen der unterschiedlichen Gestaltungsebenen als Teil der Dramaturgie reflektiert: »In a performance, actions (that is, all that which has to do with the dramaturgy) are not only what is said and done, but also the sounds, the lights and the changes in space. At a higher level of organization, actions are the episodes of the story or the different facets of the performance, between two changes in the space – or

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Vgl. zu den Grundlagen dafür insb. die Kap. 2.1.4 (»Rezeptionsästhetische Modellvorstellungen zu Musik im Film«) und Kap. 2.3.3 (»›Psychische Erholung‹ durch fiktive Lösungen«). Auf ihn beziehen sich auch international vernetzte Theaterwissenschaftler/innen der Gesellschaft für Theaterwissenschaften, speziell in der Arbeitsgruppe »Dramaturgie«, vgl. online unter: http://www.theater-wissenschaft.de/forschung/arbeitsgruppen/#dramaturgie [letzter Zugriff: 22.10.2019].

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung even the evolution of musical score, the light changes, and the variations of rhythm and intensity which a performer develops […].« (Barba und Savarese 1991, S. 68)

So unscharf und teilweise vage (wie auch hier bei Barba) die Terminologie zur Dramaturgie aufgrund ihrer Position zwischen Praxis und Theorie ist und im Falle des Films in besonderem Maße auch im Spannungsfeld der ökonomischen Kräfte steht, führen doch wichtige Begriffe immer wieder zu Aristoteles. Dessen Poetik (entstanden nach 335 v. d. Z., zuletzt von Arbogast Schmitt 2008 neu übersetzt und sehr ausführlich kommentiert) gibt für viele Basisbegriffe der Formtypen, Fabelkonstruktion, Figuren- und Konfliktkonstellationen, Wirkungsmuster und Affektdispositionen die Grundlage ab. Mit dem Wort »action« benutzt Barba vermutlich ganz bewusst ein Wort, das auf Aristoteles’ Gebrauch des Begriffs »Drama« rekurriert.14 Aristoteles ist als Quelle auch deshalb von Bedeutung, weil er in seiner Poetik immer wieder die von Homer und anderen antiken Autoren in eine Form gebrachten antiken Erzählungen einer ursprünglich oralen Tradition würdigt. Gerade dann, wenn Kino als zeitgemäßer Ort des Erzählens aufgefasst wird, ist der zu den oralen Erzähltraditionen zurückschauende Blick von Interesse. Aristoteles verweist auf die Kunstfertigkeit, die diese nunmehr fixierten Erzählformen in sich tragen. Sie besteht, wie die Erzählforschung belegt,15 außer in den gewählten Versformen, die auch dem Memorieren dienten, noch grundlegender auch im Arrangement der Episoden, der Verschachtelung vieler auch separat existierender Geschichten innerhalb einer Haupt- oder Rahmenhandlung, dem Einweben von thematisch bestimmenden Grundmotiven über Episoden hinweg, moralischen Akzentuierungen als Kommentar zur aktuellen Lebenswelt der Adressaten,16 gegebenenfalls im Aufschub des weiteren Geschehens zur Spannungssteigerung (Retardierung) und Ähnlichem mehr. Es ließe sich demnach selbst dann von Dramaturgie sprechen, wenn es sich nicht um Dramen handelt, sondern zugehört oder gelesen wird, weil Strategien hierzu (Strukturierung, Spannungsaufbau, das

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Aristoteles äußerte sich zum Ursprung des Begriffs »Drama« folgendermaßen: »[…] beide [Sophokles und Aristophanes] verwenden einen Modus der Nachahmung, in dem Personen ihre Handlungen selbst ausführen. Daher kommt auch, wie einige meinen, der Name ›Drama‹ {(Bühnen-)Aktion} für ihre Dichtungen, weil sie ihre Charaktere selbst agieren lassen.« Aristoteles (2008), Poetik, S. 5; Kap. 3, 1448a25. Vgl. Wolfgang Kullmann und Michael Reichel (1990), Der Übergang von der Mündlichkeit zur Literatur bei den Griechen; sowie: Almut-Barbara Renger (2006), Zwischen Märchen und Mythos – Die Abenteuer des Odysseus und andere Geschichten von Homer bis Walter Benjamin: Eine gattungstheoretische Studie. Vgl. Kap. 1.1.4 (»Implizite Dramaturgie«).

1.  Dramaturgie und Musik

Wissen um das Wissen des zuhörenden oder lesenden Publikums) die Grundlage bilden, bei Leserinnen oder Zuhörern Interesse und Unterhaltung hervorzurufen. Die bereits oben genannten Klassiker der Dramaturgie können aufgrund ihrer analytischen Fähigkeiten und ihres Beitrags zur Theoriebildung immer wieder konsultiert werden, insbesondere um die dramaturgische Basis des darstellenden Erzählens zu untersuchen. Die historischen und gesellschaftlichen Umstände, unter denen diese Theorien entstanden, haben sich zwar geändert, doch bleiben universelle Gesetzmäßigkeiten, Ergebnis unzähliger praktischer Erfahrungen, erhalten. Dazu gehört, wenngleich Gewichtung und Vokabeln dafür unterschiedlich sein können, – dass eine Handlung begrenzt wird durch einen Ursprung, Anstoß und ein darauf bezogenes Endigen, – dass Figuren sich durch ein sie charakterisierendes Handeln zeigen, das deutlich macht, was sie vorziehen zu tun oder was sie vermeiden wollen, – dass Handlungen eine innere Notwendigkeit (in Übereinstimmung mit dem Charakter der Figur) und eine größtmögliche äußere Wahrscheinlichkeit haben, d. h. immer auf einen Figurenkonflikt oder einen anderen Ursprung der Handlung bezogen sind, der zu seinem logischen Ende geführt wird, – die Beachtung einer allgemeinen Ökonomie der Mittel (Verwendung der geeignetsten, prägnantesten Motive und Konzentration auf Zusammenhänge, die der gesamten Handlung dienen), – dass eine Handlungskomposition die eindrücklichste Anordnung dieser Handlungen darstellt – dass das Publikum die positiven oder negativen Sachverhalte, die eine Figur betreffen, mitempfindet und ggf. wegen der Konsequenzen bangt, – dass Umkehrpunkte in der Handlungskomposition (Wendungen in der Handlung, die unumkehrbar sind), Kulminationspunkte, beschleunigende oder retardierte Mittel den Verlauf strategisch gliedern, – dass tragische, komische und tragikomische Gattungen eigene Gesetze für Fabel, Figuren und Lösung der Konflikte haben, – dass Referenzen zu Alltag, Publikumswissen, Zeitgeist oder anderen künstlerischen Werken der Entstehungszeit oder aktuellen Zeit eine Entfaltung oder Aufschlüsselung des Werkes beeinflussen. Im Begriff Dramaturgie steckt neben der strukturellen auch eine wirkungsästhetische Dimension, denen sich diese Kriterien beugen müssen. Dabei spielen wahrnehmungspsychologische Phänomene eine wesentliche Rolle, die eng mit den Wesensmerkmalen der Verlaufskünste zusammenhängen:

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung »In allen prozessualen Künsten (Musik, Tanz, Theater, Film) beziehen sich die in langer Geschichte entstandenen künstlerischen Formen neben ihrem subjektiven individuellen Ausdruck eines bestimmten sozial und historisch gebundenen Zeitgeistes auch auf die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Wahrnehmung von zeitlich ablaufenden Ereignissen. Elementare physiologische und psychologische Konditionen wie Erregung und Entspannung, Aufmerksamkeit und Ermüdung, Erwartung und Enttäuschung, Bestätigung und Überraschung werden in der Strukturierung der gestalteten Abläufe berücksichtigt.« (Rabenalt 2011, S. 32)

Zum empirisch-praktischen und wissenschaftlich-theoretischen Wesen von Dramaturgie gehören demnach nicht nur tradierte, funktionierende Grundmuster des Formaufbaus eines Dramas, nicht nur Modelle für die Konstruktion und Entfaltung der Fabel, die Strukturierungen der gestalteten Abläufe in unterschiedlichsten Formen, sondern auch die wirkungsästhetische Frage, wie dies alles in der Wahrnehmung des Publikums unter den gegebenen Bedingungen der Rezeption funktionieren kann und zum Nachvollziehen der Geschichte einlädt. Die hieraus erwachsende Frage, was Spannung in der Dramaturgie bedeutet, ist aber noch nicht beantwortet. Carl Dahlhaus schrieb mit Blick auf das Musiktheater: »Den trivialen Begriff von dramatischer Spannung zu berücksichtigen, der sich in der Vorstellung von raschem Tempo, dichter Ereignisfolge und einer Häufung von unaufhaltsam einer tragischen oder komischen Katastrophe entgegen treibenden Vorgängen erschöpft, dürfte überflüssig sein.«

Entscheidend sei vielmehr »die Konfiguration der Personen und Affekte: eine Struktur, deren innere Spannung in jedem Augenblick fühlbar und nicht geringer als die Spannung einer Verkettung von Vorgängen ist, bei denen das Moment der Prozessualität in den Vordergrund tritt.« (Dahlhaus 2001a/GS2, S. 552)

Spannung entsteht demnach, wenn Affektdarstellungen sich ergänzend kontrastieren und einander durchkreuzen. Dies kann – dem Alltagsgebrauch des Wortes »dramatisch« für ereignisreiche, spannende oder ergreifende Phasen des Erlebens ganz klar widersprechend – sowohl mit dramatischen, epischen als auch lyrischen Mitteln geschehen. Dahlhaus fügt hinzu: »Eine dramatisch besonders wirksame Form der Spannung ist der Gegensatz zwischen manifesten und latenten Vorgängen, wie er aus Ibsens und Tschechows Schauspielen als Kontrast zwischen einer scheinbar harmlosen Konversation und

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1.  Dramaturgie und Musik den tragischen Ahnungen, die gleichsam in den Rissen des Dialogs einen Augenblick lang sichtbar werden, bekannt ist.« (Dahlhaus 2001a/GS2, S. 552)

Dramaturgie dient dem Wechselspiel aus Spannungsverlauf und Aufmerksamkeitslenkung mit visuellen, sprachlichen und auditiven Mitteln. Dabei darf Spannung aber nicht als allein prozessorientierte Verdichtung oder affektiv aufgeladener Vorgang missverstanden werden. Die durch dramatische, lyrische oder epische Mittel erzeugten Bezüge zwischen »äußerer« Handlung (suspense bzw. Verkettungen von Vorgängen handelnder Figuren) und »innerer« Handlung (tension bzw. sich durchkreuzende Affektdispositionen) lassen wirksame Formen der Spannung entstehen.

1.1.2 Filmdramaturgie

Die Auffassung, Filmdramaturgie auf klassischer Dramentheorie aufbauend herzuleiten, wird hauptsächlich vom Personal an Bildungseinrichtungen zum Film bzw. Theater vertreten, deren Schriften teilweise im vorangegangenen Kapitel bereits zitiert wurden. Zur Filmdramaturgie gehören handwerklich-gestalterische Anteile genauso wie das analytisch-beschreibende Wesen von Dramaturgie. Konzeption, Umsetzung, Wirkung, aber auch die analytische Reflexion des filmischen Erzählens werden – wie generell bei Dramaturgie – auch in der Filmdramaturgie maßgeblich von Auffassungen zur Ästhetik beeinflusst. Dazu kommen aber die bei dieser Kunstform zu berücksichtigenden komplexen ökonomischen Rahmenbedingungen der Produktions-, Aufführungs- und Vermarktungsabfolge, in denen Film als Produkt normalerweise auf eine bestimmte, unterschiedlich definierte Weise erfolgreich sein muss. Filmdramaturgie zeigt sich sowohl in der Anwendung von sehr weit zurückreichenden Gesetzmäßigkeiten, als auch in ganz neuen Formen der audiovisuellen Erzählkunst. Poetische Ideen müssen sich im Falle des Films im Rahmen wirtschaftlicher und organisatorischer Bedingungen und meistenteils industrialisierter Produktionsmethoden verwirklichen lassen. Poesie und Ökonomie stehen sich dabei manchmal behindernd, manchmal anregend gegenüber. Auch hierauf beziehen sich Auffassungen zur Filmdramaturgie, die Film als Kunst und zugleich als Ware in der Lebenswelt der Kunstschaffenden und Kunstrezipierenden positionieren. Gattungsbegriffe wie Autorenfilm, Mainstreamfilm, Arthouse und ähnliche zeigen diese unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Positionen, die in die Normen der Dramaturgie eines Films hineinwirken, bereits an.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Dramaturgie und die industriellen und technologischen Aspekte der Filmkunst sind mit dem Phänomen der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstund Industrieprodukts Film verknüpft.17 Besonders in Zeiten der annähernd vollständigen Digitalisierung der Medienwelt sind die Reproduzierbarkeit und Formen der Präsenz eines Films neben den langen Erzähltraditionen in Literatur und Drama ein wesentlicher Aspekt der Filmdramaturgie. So gilt Film als einflussreiches wie stark beeinflusstes Massenmedium und hebt sich in diesem Ausmaß z. B. von der Theaterdramaturgie ab. Filmdramaturgie rückt ein besonders heterogenes Publikum ins Zentrum dramaturgischer Strategien. Der ideale Zuschauer im Kino muss anders angesprochen werden als der ideale Leser eines Buches oder ein Theaterpublikum: Die unterschiedlichen Medien, Rezeptionsorte, Formen der Performativität18 und »Rezeptionsmodalitäten«19 beeinflussen generelle und spezielle Entscheidungen zur Filmdramaturgie, die hier allerdings nicht alle im Einzelnen dargelegt werden können. Gegenstand der Filmdramaturgie ist auch die dramaturgische Bedeutung der Montage, d. h. das Zueinander-in-Beziehung-Setzen der visuellen, verbalen und auditiven Gestaltungsmittel im Film, die somit Teil der Spezifik der Filmkunst sind. Hierzu gehört auch die besondere Beziehung zur »realen« Zeit, wie Tarkovskij schreibt: »[…] hier war ein neues Prinzip entstanden. Dieses Prinzip bestand darin, dass der Mensch zum ersten Mal in der Geschichte der Kunst und Kultur die Möglichkeit gefunden hatte, die Zeit unmittelbar festzuhalten und sich diese zugleich so oft reproduzieren zu können, also zu ihr zurückzukehren, wie ihm das in den Sinn kommt. Der Mensch erhielt damit eine Matrix der realen Zeit. […] Der Film entspringt der unmittelbaren Lebensbeobachtung. […] das filmische Bild ist seinem Wesen nach die Beobachtung eines in der Zeit angesiedelten Phänomens.« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 98 f.)

Filmdramaturgie beruht auf dem Erzählen mit eigenen bildgestalterischen und auditiven Elementen, zugleich aber auch auf Konzepten und Strukturen des Dramas und auf Mitteln des literarischen Erzählens. Zur Vergleichbarkeit des Films mit dem Drama schreibt Esslin: 17 18 19

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Vgl. Walter Benjamin (1935/1963), Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Drei Studien zur Kunstsoziologie. Performativität drückt aus, wie man sich einer Geschichte »nähert«. Nicht nur der Sprechakt, sondern die gesamte Körperlichkeit und Räumlichkeit einer Darstellung bringen einen möglichen Zugang zum Thema zum Ausdruck. Monika Suckfüll (2004), Rezeptionsmodalitäten: Ein integratives Konstrukt für die Medienwirkungsforschung.

1.  Dramaturgie und Musik »Daß das Theater (live, Drama auf der Bühne) sui generis ist und sich in vielen seiner Methoden vom Film (und von den filmischen Formen des Fernsehens) unterscheidet, daran besteht natürlich kein Zweifel. Dennoch erscheint mir ebensowenig Zweifel daran zu bestehen, daß beiden gemeinsam eine Basis zugrunde liegt, die des Dramas.« (Esslin 1989, S. 31)

Zu dieser gemeinsamen Basis gehören zunächst die in besonderer Weise an den zeitlichen Verlauf der Aufführung oder Vorführung vor Publikum gebundene Art des Erzählens sowie die meisten Formen des Handlungsaufbaus, der Figurendispositionen und -rede, Notwendigkeiten der Lokalisierung der Handlung, Gestaltung von Kontinuität und Diskontinuität und Perspektivierung. Film hat aber mit dem literarischen Erzählen gemeinsam, dass im Gegensatz zur Theaterbühne differenziertere bzw. indifferente Erzählinstanzen etabliert werden können. Mit den Möglichkeiten der filmischen Montage sind gegenüber Literatur und Theater vielfältigere Formen der Perspektivierung und zur Kreation und Imagination der erzählten Welt möglich. Bernhard Asmuth sieht den Tonfilm als mediendramatische Form und damit als eine Art der Darbietung eines Dramas mit elektronischen Medien an.20 Mit dieser »szenisch-theatralischen Darbietungsform« sind »vier Produktionsbereiche bzw. die ihnen zugeordneten wissenschaftlichen Disziplinen beschäftigt« (Asmuth 2004, S. 22), nämlich Theater, Literatur, elektronische Medien und Musik. Die Ausführungen von Aristoteles, die zwischen Epos und Tragödie unterscheiden, können auch für Filmdramaturgie berücksichtigt werden. Im Film finden sich beide Arten des nachahmenden bzw. nachschöpfenden Handelns, die auch als dramatisches und als episches Prinzip bezeichnet werden können. Diese Vergleichbarkeit von Film und Drama lässt weitere Überlegungen zu, die auch den Einsatz und die Analyse von Filmmusik betreffen, z. B. dass auch lyrische Prinzipien Anteil an der Filmerzählung haben. Daher hier eine Zusammenfassung der drei Prinzipien: 1. Dramatisches Prinzip (mimesis, Zeigehandlung): Das Erzählen durch zeigendes, direkt nachschöpfendes Handeln mithilfe von Figuren in wirklichkeitsnaher Präsenz und meist konflikthaften Situationen ist konstituierend für eine Bühnenhandlung. Die Erzählinstanz »verschwindet« hinter den Figuren. Eine Handlung ergibt sich traditionell in logischer, kausal-temporal übersichtlicher Abfolge von Ereignissen und Handlungen, die von den Eigenschaften, Motiven und Konflikten der Figuren und daraus folgenden Verdichtungen

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Bernhard Asmuth (2004), Einführung in die Dramenanalyse.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung angetrieben werden (»und weil … und weil …«21). Formal sind Handlungen in Szenen und Szenen in Akten gebündelt.

Im dramatischen Prinzip ist Nachahmung besonders anschaulich, kann aber nicht auf das Theater beschränkt werden. Bei Aristoteles ist zu lesen, wie Modi der Nachahmung zu unterscheiden sind: »Bei der Nachahmung gibt es ja diese drei Unterschiede, wie wir zu Beginn festgestellt haben: die Medien, die Gegenstände und den Modus der Nachahmung. Daher ist Sophokles im Sinn der einen Unterscheidung in der gleichen Weise ein nachahmender Dichter wie Homer, beide nämlich ahmen gute Charaktere nach, im Sinn der anderen Unterscheidung aber wie Aristophanes, denn beide [Sophokles und Aristophanes] verwenden einen Modus der Nachahmung, in dem Personen ihre Handlungen selbst ausführen. Daher kommt auch, wie einige meinen, der Name ›Drama‹ {(Bühnen-)Aktion} für ihre Dichtungen, weil sie ihre Charaktere selbst agieren lassen.« (Aristoteles 2008, S. 5; Kap. 3, 1448a25)

»Charaktere nachahmen« bedeutet in Bezug auf das Erzählen, die charakterisierenden Handlungen von darstellungswürdigen Figuren im darstellenden Spiel zu zeigen oder aber von solchen Handlungen der Charaktere mündlich oder schriftlich zu berichten.22 Nachahmung muss von der antiken rhetorischen Kategorie der imitatio unterschieden und kann besser als »Nachschöpfen« bezeichnet und verstanden werden. Dies hebt den Lernaspekt und das kreative Aneignen der Welt in den Vordergrund.23 2. Episches Prinzip (diegesis, Schilderung/Erzählung/Bericht): Das indirekt nachschöpfende Erzählen, bei dem Handlungen in Formen des Berichts (auktorial oder figural) geschildert werden (»und dann … und dann …«24), ist konstituierend für Epen, Romane, Erzählungen oder Novellen. Das Wesen der Figuren und ihrer Konflikte zeigt sich nicht im dargestellten Handeln und Sprechen, sondern durch die Beschreibung der Figuren und Vorgänge, d. h.

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Eine in der Dramaturgieausbildung weitverbreitete »Daumenregel«. Darstellungswürdige oder gute Charaktere sind im Sinne von Aristoteles solche, die überdurchschnittlich sich ihrer Bedürfnisse und Zwänge, ihrer moralischen (denkbar wäre aber auch ihrer amoralischen) Einstellung bewusst sind und danach handeln. Allerdings unterlaufen ihnen trotz ihrer Besonderheit Fehler, die sie erst für das Publikum interessant machen, da es, nach Aristoteles, interessanter ist einer Geschichte zu folgen, wenn einer Figur trotz ihrer Begabung, Ehrenhaftigkeit, Unschuld etc. etwas Widriges widerfährt. Vgl. die Ausführungen im Exkurs 2 (»diegetisch/non-diegetisch und mimesis/diegesis«) sowie die Diskussion des Themenfeldes diegesis, mimesis, imitatio sowie narrativ, deskriptiv und exegetisch bei: Wolf S­ chmid (2014), Elemente der Narratologie, S. 1–9 und S. 31 f. (nicht in früheren Ausgaben enthalten!). Auch dies eine in der Dramaturgieausbildung weitverbreitete »Daumenregel«.

1.  Dramaturgie und Musik mit den durch eine Erzählinstanz übermittelten Taten und zugewiesenen Worten. In diesem Modus ist die formal ordnende Hand einer auktorialen oder figuralen Erzählinstanz erkennbar. Die Erzählinstanz verknüpft alle Handlungsteile, Orte und Zeitebenen bzw. -abschnitte, weswegen dies nicht zwingend logisch, sondern gegebenenfalls thematisch, assoziativ oder Figurzentriert, aus wechselnder Perspektive usw. geschehen kann. Formal typisch sind die weitschweifige Anlage, gliedernde Kapitel und Rahmungen.

In einem Drama bleibt die Erzählinstanz hinter ihren Figuren und szenischen Einfällen verborgen: Die Figuren zeigen uns durch direkte Nachahmung (zeigendes Darstellen), worum es geht. Im berichtenden Modus mit indirekter Nachahmung (erzählendes Darstellen) tritt eine Erzählinstanz vermittelnd zwischen Geschichte und Publikum und berichtet von den Handlungen der Charaktere, d. h. erzählt auf indirekt nachahmende und nachschöpfende Art und Weise. Daraus ergeben sich andere Möglichkeiten zur Anordnung der Handlung im Drama oder im Epos. Das Grundprinzip des Nachschöpfens mit zum Aufführungsort gehörenden oder das Medium kennzeichnenden Mitteln gilt aber für beide Modi. Das Dramatische und Epische des Films betreffend schlussfolgerten schon Adorno und Eisler in ihrem Filmmusik-Buch: »Zur Einsicht in solche Möglichkeiten [zur Erzeugung von Spannung] hilft die Besinnung auf die dramaturgische Form des Films als solche. Film ist eine Mischform von Drama und Roman. Gleich dem Drama stellt er Personen und Vorgänge unmittelbar, leibhaft vor Augen, ohne das Moment des ›Berichts‹ zwischen den Vorgang und den Zuschauer zu schieben. Daher die Forderung nach der ›Intensität‹ des Films, wie sie als Spannung, Emotion, Konflikt sich kundgibt. Auf der anderen Seite aber hat der Film prinzipiell selber ein berichtendes Element. Jeder Spielfilm mahnt an Bildreportage. Der Film gliedert sich nach Kapiteln eher als nach Akten. Er baut sich aus Episoden auf. Dass zu Filmstoffen Romane und Novellen eher sich hergeben als Dramen, ist nicht zufällig, sondern hängt […] auch mit der extensiven epischen Form des Films zusammen. Ein Drama muss, um filmgerecht zu werden, gleichsam erst mit romanhaften Zügen versetzt werden. Zwischen den dramatischen und epischen Momenten aber besteht im Film ein Bruch: der eindimensionale Zeitverlauf des Films, seine epische Kontinuität erschwert die intensive Konzentration, die von der dramatischen Gegenwart der Filmvorgänge gefordert wird.« (Adorno und Eisler 1944/2006, S. 33 f.)

Adorno und Eisler benennen hier die womöglich grundlegendste dramaturgische Rechtfertigung von externer Musik im Tonfilm, sofern Filmmusik nicht nur aus Gewohnheit enthalten sein soll: Sie ist durch ihre eigene musikalische Kontinuität und ihren ergänzenden Wirkungsbereich in der Lage, die Brüche zwischen

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

den sich abwechselnden Erzählmodi, welche den Erzählfluss fragmentieren und die »intensive Konzentration« behindern könnten, zu schließen. Die beiden Modi entsprechen dem dramatischen bzw. epischen Prinzip, die in Hegels Ästhetik  –  ergänzt um die lyrischen Mittel  –  systematisiert werden.25 Hegel schreibt dem Epischen eine geistige, »einheitsvolle Totalität« zu, die den »allgemeinen Welthintergrund« und die »individuelle Begebenheit« miteinander verbindet (Hegel 1818–29/1984, S. 438 ff., Bd. 2). Er benennt die Eigenheiten des epischen Erzählens, die »einheitsvolle Totalität« und die Entfaltung ausufernder epischer Erzählformen, die sich dennoch in eine Gesamtform fügen müssen, in folgender Weise: »[…] erstens nämlich die Totalität der Objekte, welche um des Zusammenhangs der besonderen (individuellen) Handlung mit ihrem substanziellen Boden (dem allgemeinen Welthintergrund-)Willen zur Darstellung gelangen dürfen; zweitens den von der Lyrik und dramatischen Poesie verschiedenen Charakter der epischen Entfaltungsweise; drittens die konkrete Einheit, zu welcher sich das epische Werk seiner breiten Auseinanderlegung ungeachtet in sich abzurunden hat.« (Hegel 1818–29/1984, S. 438, Bd. 2)

Im Kino gehen das dramatische und epische Prinzip abwechselnd ineinander über oder überlagern sich sogar, z. B. wenn die Figuren noch agieren (dramatische Aktion) und die Filmmusik bereits auf die epische Totalität anspielt und die Situation in einen größeren Kontext stellt. Für das Publikum kann durch die unterschiedlichen Modi eine jeweils andere Rezeptionshaltung entstehen. Rezeptionshaltungen sind entscheidend für die Plausibilität und Aufschlüsselung der Handlung. Diese Beobachtungen sind grundlegend, betreffen auch die Wahl der Terminologie zur Analyse von Filmmusik und rechtfertigen eine noch etwas weitergehende Erläuterung der Erzählmodi. Im Film wechseln sich nicht nur beide Modi miteinander ab, sondern sind noch zusammen mit lyrischen Erzählmitteln wirksam. Jedoch können die drei Modi im Film weniger klar voneinander abgegrenzt werden als in Theater und Literatur. Dies zeichnet die Dramaturgie des Films auf grundlegender Ebene aus. Wesensmerkmal filmischer Erzählinstanzen ist demnach ihre Ambivalenz, die sich im flexiblen Umgang mit den Erzählmodi dramatisch, episch und lyrisch zeigt. Filmmusik gibt nicht selten Anhaltspunkte dafür, wie ein Bild oder eine

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Hegels Erläuterungen zur Poesie werden nur in einigen wenigen Veröffentlichungen als Referenz auch für Filmdramaturgie herangezogen, vgl. Wuss (1993/1999), Filmanalyse und Psychologie: Strukturen des Films im Wahrnehmungsprozess; Peter Rabenalt (2011), Filmdramaturgie; Kerstin Stutterheim (2015), Handbuch angewandter Dramaturgie: vom Geheimnis des filmischen Erzählens: Film, TV und Games.

1.  Dramaturgie und Musik

Aktion verstanden werden soll, welche narrative Bedeutung ein Vorgang, ein Bild oder Dialogsatz haben kann, speziell dann, wenn dass Dargestellte etwas anderes meint, als es zeigt, d. h. als Metapher verstanden werden sollte, wie im lyrischen Prinzip des Erzählens. 3. Lyrisches Prinzip: Das Konstitutive des lyrischen Prinzips sind die inneren Anschauungen, Emotionen und Assoziationen aus subjektiver Sicht eines Autors bzw. einer Autorin. Es werden mehr die Zustände und Empfindungen präsentiert als Vorgänge geschildert. Das Erzählte bzw. Gezeigte ist allegorisch oder metaphorisch gemeint, d. h. als bildhafter Vergleich, der lange Umschreibungen unnötig macht oder Bedeutungslücken schließt. Die Mittel des Lyrischen sind keiner raumzeitlichen Ordnung verhaftet, sondern durch Zeitlosigkeit, Rhythmus (z. B. Versmaß), Symmetrien usw. gekennzeichnet und strukturiert.

Im Lyrischen Erzählen wird der Anspruch auf Objektivität und Allwissenheit, der gerade in der Totalität des Epischen steckt, oder auf Authentizität sowie das Naturalistische, das der Zeigehandlung im dramatischen Modus anhaftet, aufgegeben. Charakteristisch sind auch die gefühlte Zeitlosigkeit – ganz im Gegensatz zum prozessorientierten dramatischen Modus oder dem raffenden oder weitschweifigen Gestus des epischen Erzählmodus. Bei Platon ist schon zu lesen, dass im lyrischen Modus (dithyrambos) der Dichter selbst zu hören sei, im Drama der Dichter hinter seinen Figuren verschwinde und im Epos die Rede des Dichters mit den handelnden Figuren kombiniert werde (Platon, S. 394 a–c, 3. Buch). Lyrische Mittel im Film sind durch Auswahl und Anordnung von Bildern, Sprache, Musik und Ton erkennbar, die nicht auf Figuren oder Handlungen, sondern mehr auf die Filmautoren und ihre Ansichten oder Assoziationen verweisen. Logik und Prozessualität werden ersetzt durch sinnbildhafte Assoziation und Dehnung eines Moments, um Bedeutung und Tiefe von Gefühlen oder Auffassungen auszuloten. Tarkovskijs Auffassung von filmischer Poesie scheint zu einem großen Teil vom lyrischen Prinzip geprägt zu sein, auch wenn er selbst gegenüber den Mitteln des Lyrischen Vorbehalte formuliert hat: »Der poetische Film bringt in der Regel Symbole, Allegorien und ähnliche rhetorische Figuren dieser Art hervor. Und ebendiese haben nun nichts mit jener Bildlichkeit gemeinsam, die die Natur des Films ausmacht.« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 98)

Seine Werke zeigen eine »poetische Logik«, die im hier verwendeten System der Unterscheidungen der Poesie als zum großen Teil »lyrisch« bezeichnet werden müsste. Poesie versteht Tarkovskij nicht als Gattungsbegriff, sondern als »eine

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Weltsicht, eine besondere Form des Verhältnisses zur Wirklichkeit« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 35), die der »Banalisierung der komplexen Lebensrealität«, die nach seiner Meinung durch die Logik der klassischen Dramaturgie entsteht, am ehesten entgegenwirken könne.26 Schon allein die fotografische Objektivität der filmischen Abbildung birgt in sich die Gefahr der Banalisierung. Formalisierungen der Dramaturgie vergrößern aber zweifellos diese Gefahr auf einer weiteren Ebene. Die »poetische Logik« stellt hierzu eine Alternative dar: »Doch es gibt auch andere Möglichkeiten zur Synthese filmischer Materialien, bei der das Wichtigste die Darstellung der Logik des menschlichen Denkens ist. Und in diesem Fall wird dann sie die Abfolge der Ereignisse und ihre Montage, die alles zu einem Ganzen zusammenfügt, bestimmen. […] Meiner Meinung nach steht die poetische Logik den Gesetzmäßigkeiten der Gedankenentwicklung wie dem Leben überhaupt erheblich näher als die Logik der klassischen Dramaturgie.« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 33)

Die Unterscheidung zwischen dramatischen, epischen und lyrischen Modi des Erzählens findet sich prinzipiell schon in der Antike. In Hegels Vorlesungen zur Ästhetik begegnet uns diese Unterscheidung ebenfalls.27 Das Konzept der Erzählmodi kann auch auf den Film angewandt werden, der erzähltheoretisch sowohl aus dem Drama als auch aus dem Roman, außerdem aus anderen literarischen Gattungen seine Mittel nimmt. Hegels Ausführungen sind nicht nur auf die Dichtkunst beschränkt, sondern betreffen die Grundprinzipien aller Künste. Sie eignen sich aus dieser Sicht auch für die Übertragung auf Filmdramaturgie, da es zum Wesen des Films gehört, die Mittel verschiedener Kunstformen in besonderer Weise integrieren zu können.28 So werden dramatische Darstellung, epischer Bericht und lyrische Prinzipien mit den visuellen und auditiven Mitteln des Films kreiert und in Kombination, sich gegenseitig ergänzend, für Strukturen und Wirkung des filmischen Erzählens bedeutsam. Auf die Filmdramaturgie haben nicht nur die Dramentheorien und Modelle von Aristoteles und weiteren klassischen Autoren, von Lessing, Freytag und

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Vgl. Andrej Tarkovskij, Hans-Joachim Schlegel und Dominik Graf (1985/2009), Die versiegelte Zeit: Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, S. 33. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1818–29/1984), Vorlesungen über die Ästhetik, S. 397– 586, Bd. 2. Ein nennenswerter Anteil der von Hegel beeinflussten Sicht auf Filmdramaturgie findet sich in: Peter Rabenalt (1986), Dramaturgie der Filmmusik; Wuss (1993/1999), Filmanalyse und Psychologie: Strukturen des Films im Wahrnehmungsprozess; Stutterheim und Kaiser (2009/2011), Handbuch der Filmdramaturgie: Das Bauchgefühl und seine Ursachen; Peter Rabenalt (2011), Filmdramaturgie.

1.  Dramaturgie und Musik

anderen Einfluss genommen, sondern auch das aus der Mythenforschung des 20.  Jahrhunderts kommende Modell der Heldenreise.29 Campbell und Frye (Campbell und Frye 1949) bilden mit dem Modell der Heldenreise etwas ab, das Filmschaffende in vielfältigen Varianten bewusst oder intuitiv nutzen, und lieferten zugleich Analyse- wie Strukturvorgaben, die für moderne Varianten der Filmdramaturgie anwendbar sind. Ihr Modell ist aus der tiefenpsychologischen Sicht auf die Bauform von Märchen30 und mythologischen Geschichten entstanden und verbindet Struktur und Psychologie in der für Dramaturgie bedeutsamen Weise, die das Publikum als Zentrum der Erzählstrategien sieht: Die Rezipierenden können nachvollziehen, wie eine Figur stellvertretend die Stationen der Heldenreise durchlebt und mit ihnen essenzielle, immanente und transzendente Erfahrungen simuliert werden.31 In der Filmdramaturgie sind pragmatisch ausgerichtete Strukturmodelle wie das 3-Akt- bzw. 5-Akt-Modell geläufig, aber auch ein sogenanntes 8-SequenzenModell.32 Niedergeschlagen hat sich dies inzwischen in etlichen Fachbüchern zum Verfassen von Drehbüchern, z. B. von Syd Field (Field 1979) und anderen.33 Christopher Voglers Buch (Vogler 1998) zeigt prominent, wie die epischen Anteile der Heldenreise und die dramatischen Anteile der 3-Akt-Struktur nach aristotelischem Vorbild für den Film miteinander kombiniert werden können. Die Autorinnen und Autoren von DramaQueen34, die einen pragmatischen, auf das Schrei­ben für Film fokussierten Zugang zur Thematik haben, formulieren 29 30

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Vgl. Joseph Campbell und Northrop Frye (1949), The hero with a thousand faces; sowie: Stutterheim und Kaiser (2009/2011), Handbuch der Filmdramaturgie: Das Bauchgefühl und seine Ursachen, S. 168–181. Eine Grundlage bildete Vladimir Propp (1928/dt. 1975), Morphologie des Märchens. Propp fand aus der Analyse von 100 russischen Märchen eine abstrahierbare Struktur und wiederkehrendes Personal, das nur in unterschiedlichen Varianten auftritt. Die Reihenfolge seiner 31 Handlungsfunktionen wird nie verändert, auch wenn Teile ausgelassen werden können. Die sogenannten Aktanten, die auch im Modell der Heldenreise vorkommen, sind: 1. Der Held (selten die Heldin), 2. Der Gegenspieler (böser Zauberer, böse Hexe), 3. Der Aussender des Helden, 4.  Der Helfer, 5.  Der falsche Held, 6.  Der Förderer/Mentor/in, Geber/in des Zaubermittels, 7. Das Opfer ( jedes geliebte Wesen), 8. Der Vater (Verwandte/r) des Opfers. Beschreibung und Analysen zur Heldenreise erfolgen in Kap. 4.4 (»Fabelzusammenhang der Filmmusik«). Hier kann und muss nicht auf alle Modelle und Tendenzen eingegangen werden. Für weitere Hinweise siehe: Dennis Eick (2006), Drehbuchtheorien: Eine vergleichende Analyse. Syd Field (1979), Screenplay: The basics of film writing; Linda Seger (1994), Making a good script great; David Howard und Edward Mabley (1996), Drehbuchhandwerk: Techniken und Grundlagen mit Analysen erfolgreicher Filme; Robert McKee (1997), Story: Substance, structure, style and the principles of screenwriting; Christopher Vogler (1998), The writer’s journey: mythic structure for writers. DramaQueenGmbH ist eine Firma, die Software zum Verfassen von Drehbüchern und Romanen vertreibt. Ihr Schwerpunkt bleibt daher pragmatisch bzw. modellhaft. Ihre inhaltliche Kompetenz schöpft DramaQueen aus zumeist akademischem Personal und Praktikern. DramaQueen bietet ein kostenloses Wiki an: http://dramaqueen.info/wiki/was-ist-dramawiki/

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

folgende Definitionen von Dramaturgie. Sie bauen erkennbar auf historisch überlieferten Prämissen auf: »Dramaturgie ist die Lehre der Auswahl und Anordnung erzählerischer Mittel zur Darstellung einer Geschichte. Als Technik des Geschichtenerzählens basiert sie auf Analysen von Erzählungen. Seit der Antike begannen sich die Erkenntnisse über Elemente und Bauformen von Mythen, Sagen, Märchen und Dramen zu Maximen zu verdichten. Auf diese Weise kristallisierten sich überkulturelle, mit dem menschlichen Bewusstsein korrespondierende Erzählmuster heraus. Aristoteles stellte erstmals einen Zusammenhang her zwischen der Art, wie eine Geschichte erzählt wird, und dem Empfinden sowie der Lebenserfahrung des Zuschauers. Er machte damit den Rezipienten zum Bezugspunkt der Dramaturgie. […] Filmdramaturgie liefert die Prinzipien für eine möglichst ›effektvolle‹ Komposition einer Geschichte. In einem Film stehen die Narrationskanäle Bild und Ton zu Verfügung, wobei sich die tonale Ebene wiederum in Sprache, Geräusche und Musik unterteilt. Daraus ergeben sich vielfältige erzählerische Möglichkeiten, die das Medium Film von allen räumlichen und zeitlichen Grenzen befreien. Dieser prinzipiellen Schrankenlosigkeit setzt Dramaturgie die Forderung nach Selektion und Effektivität entgegen.«35

Wenngleich sich die Terminologie der verschiedenen Modelle der klassischen Dramaturgie und die unterschiedlichen Ansätze zur Drehbuchliteratur voneinander unterscheiden, finden sich auffallend viele Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Strukturmodellen, egal ob sie in Akten, Stationen oder Sequenzen organisiert sind. Vergleicht man die Modelle miteinander, zeigt sich, dass vergleichbare Ereignismomente mit prinzipiell gleicher dramaturgischer Qualität in ihrer zeitlichen Organisation bezeichnet und angeordnet werden, wie Becker (Becker 2014) bereits feststellte.36 (s. Abb. 1) Berücksichtigt man die vielen Formen »offener« Dramaturgien im Kino, müssen die Schematisierungen verschiedener Drehbuchratgeber trotz teils erhellender Kategorien fast zwangsläufig als eine Reduktion der filmischen Vielfalt erscheinen. Auch entgegen vieler Modelle für die geschlossene Form sind z. B.

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36

[letzter Zugriff: 22.10.2019]. Es erfüllt relativ hohe Ansprüche, bleibt aber mit Details und Quellenangaben zurückhaltend. Der Mimesisbegriff, über den hier noch zu reden ist, wird im Wiki allerdings stark vereinfachend erklärt und lässt v. a. einen wesentlichen Fakt unberücksichtigt: Der Wahrheitsanspruch bei Platon wird für die Mimesis bei Aristoteles durch den Wahrscheinlichkeitanspruch ersetzt. Für die Terminologie zur Filmmusik ist diese Unterscheidung allerdings von großer Bedeutung, vgl. Exkurs 2: (»diegetisch/non-diegetisch und mimesis/diegesis«). http://dramaqueen.info/wiki/film-und-dramaturgie/#Filmdramaturgie [letzter Zugriff: 22.10.2019]. Eine vergleichende Gegenüberstellung der verschiedenen Strukturmodelle (darunter auch hier nicht diskutierte Modelle) gibt Jens Becker (2014), Das Drehbuch-Tool: Eneagramm 2.0, S. 47.

1.  Dramaturgie und Musik Stationen 1

Die gewohnte Welt

2

Ruf des Abenteuers

3

Weigerung

4

Begegnung mit dem Mentor

5

Überschreiten der ­ersten Schwelle

6

Bewährungsprobe, Feinde, Verbündete

7

Vordringen zum größten Gefahrenpunkt

8

Entscheidung und Prüfung

9

Belohnung, Kontakt mit weiteren Hilfs­ mitteln (Elixier, geweihte Waffe o. Ä.)

 

Akte 1

steigende Handlung (Verwicklung)

Einleitender Akkord Exposition

1 2

(Teil 1) 3 2

Erregendes Moment, ­Intrige Nebenhandlung Tragisches Moment, Glücksumschlag/­ Peripetie (idealtypisch in Kombination mit ­Erkennung) Gegenintrige

fallende Handlung (Lösung)

(Teil 2)

Retardierendes ­Moment 4

Nebenhandlung (Forts.)

10 Beginn des Rückwegs 11

Rettung oder ­Auferstehung

12 Rückkehr

3

Katastrophe/Happy End 5 Abschließender Akkord

Abb. 1: Vergleichbarkeit der dramaturgischen Strukturmodelle (nach Campbell, Aristoteles, Freytag, Field und Vogler)

plot points (Dreh- oder Wendepunkte der Handlung, die unumkehrbar sind und die nachfolgende Handlung richtungsgebend beeinflussen) nicht nur in bestimmten Akten oder Phasen eines Sequenzmodells anzutreffen, sondern können an vielen Stellen auftreten. Robert McKee versucht neben konventionellen Strategien (»archeplot«) auch offene (»miniplot«) bzw. nichtlineare Dramaturgien (»antiplot«) zu erfassen (McKee 1997). Das von Peter Hanson und Paul Herman 2010 veröffentlichte Buch Tales from the Script (Hanson und Herman 2010) lässt 50 Drehbuchautorinnen und -autoren selbst zu Wort kommen. Die Herausgeber belegen so Vielfalt, Komplexität und gegenseitige Beeinflussungen unterschiedlicher Kino- bzw. Erzähltraditionen und widerlegen zugleich die vermutlich aus kommerziellen Gründen

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

erwachsene Idee vom erfolgreichen Drehbuch, das lediglich auf schematisierten Mustern beruhen würde, und die von den meisten Drehbuchratgebern aufrechterhalten wird.37 Daneben finden sich deutschsprachige Veröffentlichungen zur Filmdramaturgie in der neueren medienwissenschaftlichen Literatur, die einen starken Einfluss der nordamerikanischen Drehbuchratgeber zeigen oder eine daran orientierte Filmanalyse betreiben (Eder 1999/2007, Krützen 2004, Beil, Kühnel und Neuhaus 2012), selten mit ausgeprägter praktischer Erfahrung im Hintergrund (Wagner 2015). Stutterheim und Kaiser (Stutterheim und Kaiser 2009/2011) sowie Lang und Dreher (Lang und Dreher 2013) wenden erstmals das bereits in der Musikwissenschaft (Dahlhaus 1992) und in der Theaterwissenschaft (Rohmer 2000) angewandte Konzept zur Differenzierung zwischen expliziten und impliziten Dramaturgieanteilen auf Filmdramaturgie an.38 Einen meist nur am Rande betrachteten Teil von Filmdramaturgie, die Erschaffung und Entwicklung von Figuren, rückt Jens Becker (Becker 2012) ins Zentrum. Für den englischsprachigen Raum ist Bordwells (Bordwell 1985) und Thompsons (Bordwell und Thompson 1979) Theorie zum Film als viel zitierter Ansatz zur Filmdramaturgie zu nennen. Bordwell und Thompson kommen allerdings ohne den Terminus »Dramaturgie« (dramaturgy) aus und verwenden den Begriff narration für die in weiten Teilen vergleichbaren Sachverhalte. Sie akzentuieren durch die Bezeichnung narration die im Werk angelegte strategische Informationsdistribution und kognitive Arbeit während der Rezeption.39 Bei der Frage nach der Unterscheidung zwischen der Dramaturgie fiktionaler und dokumentarischer Filme muss festgestellt werden, dass im Gegensatz zur Spielfilmdramaturgie kaum Literatur zur Dramaturgie des Dokumentarfilms

37 38 39

38

Vgl. auch: Stutterheim und Kaiser (2009/2011), Handbuch der Filmdramaturgie: Das Bauchgefühl und seine Ursachen, S. 168. Vgl. Stutterheim und Kaiser (2009/2011), Handbuch der Filmdramaturgie: Das Bauchgefühl und seine Ursachen, S. 57–60 sowie Stutterheim (2015), Handbuch angewandter Dramaturgie: vom Geheimnis des filmischen Erzählens: Film, TV und Games, S. 40–48. Bordwell schreibt: »In keeping with a perceptual-cognitive approach to the spectator’s work, this theory treats narration as a process which is not in its basic aims specific to any medium. As a dynamic process, narration deploys the materials and procedures of each medium for its ends. Thinking of narration in this way yields considerable scope for investigation while still al­­ lowing us to build in the specific possibilities of the film medium. In addition, a form-centered approach sets itself the task of explaining how narration functions in the totality of the film. Narrational patterning is a major part of the process by which we grasp films as more or less coherent wholes.« Vgl. David Bordwell (1985), Narration in the fiction film, S. 49.

1.  Dramaturgie und Musik

vorliegt.40 Bei genauerer Betrachtung weisen beide Gattungen grundsätzlich gesehen viele Gemeinsamkeiten auf: »Ein Autor/eine Autorin will aus einem spezifischen Anliegen heraus über einen von ihm oder ihr gewählten Ausschnitt der Wirklichkeit erzählen – mit wirklichen Menschen und mit Materialien, die vor Ort aufgenommen werden. Und: Erzählen ist – im Unterschied zur Mitteilung und der Rede – eine künstlerische Tätigkeit. Von der Regie und Kameraperson werden für einen solchen Film zunächst Motive ausgewählt, die genau dieses Anliegen auf die treffendste und bildhafteste Weise vermitteln. Ein Dokumentarfilm ist kein spiegelndes Dokument der Wirklichkeit – auch nicht der des Direct Cinema, das oft als vermeintliche Folie dafür angeführt wird.« (Stutterheim 2011, S. 2)

Auch die Analyse von Filmmusik im Dokumentarfilm bestätigt, dass grundlegende Gemeinsamkeiten in der Dramaturgie fiktionaler und dokumentarischer Filme bestehen.41 Wichtige Unterschiede sind z. B. darin zu finden, wie konkret ein Drehbuch verfasst ist, welche Intentionen die Filmschaffenden haben und dass im Dokumentarfilm eine Verantwortung gegenüber den Protagonisten besteht, deren Leben nicht nur der Vorwand für eine Geschichte ist. Interessant wäre die Frage, wie Aristoteles den Dokumentarfilm bewertet hätte. Vermutlich würde er seine Unterscheidung von Geschichtsschreibung und Poesie heranziehen: Die Mittel sind ganz ähnlich, aber der eine ahmt die Welt nach, wie sie ist, die Poesie ahmt die Welt nach, wie sie aus Sicht der Dichtenden sein sollte.

Exkurs 1: Geschlossene und offene Form

Die in Fachkreisen gebräuchlichen Bezeichnungen »geschlossene« oder »offene Dramaturgien« gehen zurück auf die Typologie von Dramen in geschlossener oder offener Form von Volker Klotz (Klotz 1960/1999). Sein Modell, das überhistorische Stiltendenzen aufzeigen soll, kann prinzipielle Unterschiede auf den verschiedenen Ebenen Handlung, Zeit, Ort, Figuren, Komposition und Sprache verdeutlichen. Für die Filmdramaturgie wurde das Konzept von offener und geschlossener Form von Kerstin Stutterheim adaptiert (Stutterheim und Kaiser

40 41

Stutterheim (2015), Handbuch angewandter Dramaturgie: vom Geheimnis des filmischen Erzählens: Film, TV und Games, S. 335–344. Siehe hierzu: Robert Rabenalt (2012), »Filmmusik im Dokumentarfilm – Die Gestaltung von Wirkmomenten im Spannungsfeld dokumentarischer und fiktionaler Erzählformen durch Musik«, in: Tarek Krohn und Willem Strank [Hg.], Film und Musik als multimedialer Raum. Auch online in den Kieler Beiträgen zur Filmmusikforschung 6: Robert Rabenalt (2010).

39

Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

2009/2011, Stutterheim 2015). Dass das Modell von Klotz kritisch gesehen und bzw. angewendet werden müsse, bemerkt und begründet B.  Asmuth (Asmuth 2004, S. 48–50). Eine Übertragung auf die Filmdramaturgie gelingt nur mit Berücksichtigung filmästhetischer Prämissen, zu denen auch die Klangschicht mit der Filmmusik gehört. Als geschlossene Form werden von Klotz Aufbau und Ausformung von Dramen bezeichnet, die eine in Struktur und Deutung vollständige Erzählung ausformen. Die Erzählweise orientiert sich hierbei meist auf eine Hauptfigur und einen Kontrahenten und bezieht gegebenenfalls Begleiterfiguren ein. Nebenhandlungen sind der Haupthandlung klar untergeordnet. Die geschlossene Form organisiert die Handlung so, dass sie exemplarisch oder als Ausschnitt für das Thema steht und die aristotelischen Ideale von Überschaubarkeit von Handlung, Zeit und Ort, die Unversetzbarkeit der Teile und die logische Aufeinanderfolge von Anfang, Mitte und Schluss größtenteils realisiert. Eine Szene hat ihre Bedeutung immer im Hinblick auf das Ganze. Die offene Form erzählt vom Thema dagegen in lückenhafter Weise. Eine Szene steht für sich selbst und kann in der Reihung als Variante oder als Kontrast zu anderen Szenen gesehen werden. Das eigentliche Thema muss hinter der Handlung erst abgeleitet werden. Die Handlung kann unvermittelt beginnen, sie kann statt logisch z. B. assoziativ angeordnet oder gereiht werden und muss nicht zwingend in sich abgerundet sein. »Das Ganze in Ausschnitten: Die äußere Handlung drängt über die Grenzen, die durch Anfang und Ende des Dramas gegeben sind, hinweg. Das Geschehen setzt unvermittelt ein, und es bricht unvermittelt ab. Innerhalb dieser Scheingrenzen verläuft es nicht kontinuierlich schlüssig, sondern punktuell interruptiv, nicht einer Entwicklung folgend, sondern Gleichwertiges reihend.« (Klotz 1960/1999, S. 217)

Außer Handlungskomposition, Zeit und Raum der Geschichte systematisiert Klotz auch typische Figurenkonstellationen als zur geschlossenen oder offenen Form gehörend: Figuren in geringer vs. großer Zahl, Ständeklausel vs. keine soziale Beschränkungen, eindeutige Bedürfnisse vs. komplexes Zusammenspiel von Innen- und Außenwelt. Die Konflikte der Figuren werden in der offenen Form ausgestellt und nicht wie in der geschlossenen Form als spannungssteigerndes Element einer Kausalkette genutzt. (s. Abb. 2) Offene Formen und Dramaturgien lassen sich weniger gut systematisieren, haben aber gemeinsame Merkmale: Beginn und Ende sind voraussetzungslos bzw. nicht abgeschlossen. Lose verknüpfte Episoden werden durch Assoziationen oder Zufälle zusammengehalten und gehören mehr oder weniger zu einem über-

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1.  Dramaturgie und Musik Geschlossene Form

Offene Form

Handlung

– einheitliche, in sich abgeschlossene Haupthandlung – kausale Verknüpfung der Szenen, d. h. einzelne Handlungen als Schritte einer logisch und psychologisch zwingenden ­Abfolge (Gebot der Unverrückbarkeit der Teile) – Der präsentierte Ausschnitt der erzählbaren Handlung steht für das vollständige Ganze

– mehrere Handlungen gleichzeitig – relative Autonomie einzelner Episoden – Handlungsabfolge durch ­Brüche gekennzeichnet – Das Ganze wird in unvollständig bleibenden Ausschnitten präsentiert

Zeit

– ausgedehnter Zeitraum – überschaubarer Zeitrahmen – Zeit als in die Ereignisse eindes Geschehens greifende Wirkungsmacht – Chronologie ohne Zeitsprünge – Zeitsprünge zwischen Szenen

Ort

– Vielheit der Orte – Einheit des Ortes (nur nahe­ – Räume charakterisieren und liegende Ortswechsel) determinieren Verhalten – Ort nur Raum des Geschehens

Personen

– geringe Zahl – Ständeklausel – hoher Bewusstseinsgrad

– große Zahl – keine ständischen und ­sozialen Beschränkungen – komplexes Zusammenspiel von Innenwelt und Außenwelt

Komposition

– lineare Abfolge des ­Geschehens – Handlungszusammenhang durch inneren Zusammenhalt – Funktionale Zuordnung ­(Szenen  → Akt, Akte → Drama)

– Dominanz des Ausschnitts – Szenen haben ihren Schwerpunkt in sich selbst – Variation oder Kontrastierung von Motiven oder Szenen – Rahmende bzw. gliedernde Strukturelemente durchziehen den Ablauf

Sprache

– Pluralismus des Sprechens, der – einheitlicher Sprachstil Sprachen und Sprachformen – Dialog (Rededuell und Pathos) – Bewusstsein (Ethos) dominiert – Mischung der Stilebenen und der Ausdruckshaltung Sprache – Orientierung an der Alltagssprache

Abb. 2: Zentrale Aspekte im Modell der geschlossenen und offenen Form im Drama nach Klotz (nach: Jochen Vogt, Einladung zur Literaturwissenschaft [W. Fink Paderborn 2008]).

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

geordneten Thema. Das Publikum muss selbst aktiv werden und Sinn stiftend das Geschehen deuten oder es einer übergeordneten Idee zuordnen. Dieser Teilaspekt des Modells zeigt Gemeinsamkeiten mit dem Konzept des »offenen Kunstwerks« von Umberto Eco, mit dem die »offene Form« aber nicht gleichgesetzt oder verwechselt werden darf. Hinter der Offenheit des Kunstwerkes stehen für Eco die besonderen Möglichkeiten der Teilhabe: »Die Poetik des ›offenen‹ Kunstwerks strebt danach, im Interpreten ›Akte bewußter Freiheit‹ hervorzurufen, ihn zum aktiven Zentrum eines Netzwerkes von unausschöpflichen Beziehungen zu machen, unter denen er seine Form herstellt, ohne von einer Notwendigkeit bestimmt zu sein, die ihm die definitiven Modi der Organisation des interpretierten Kunstwerkes vorschriebe« (Eco 1973/1977, S. 31)

Hiermit kommt ein wichtiger Aspekt zur Sprache, der mit dem auch allgemeinsprachlich genutzten Wort »offen« kaum erfasst wird und daher auch Missverständnisse produziert.42 Andererseits wird mit dem von Eco geäußerten Gedanken auch deutlich, warum Filmmusik einen großen Anteil daran haben kann, ob geschlossene oder offene Erzählkonzepte funktionieren können. Denn Musik (insbesondere Instrumentalmusik) vertieft bei entsprechender Zuordnung den Inhalt im Sinne einer geschlossenen Form, bleibt aber dennoch ungegenständlich und bietet so auch die Möglichkeit, Form und Deutungen zu öffnen, zumindest wenn stereotype Kopplungen vermieden werden.

1.1.3  Explizite Dramaturgie

Die Abgrenzung zwischen den expliziten und impliziten Dramaturgieanteilen soll eine weitere Möglichkeit zur Differenzierung der Formen und Wirkungsstrategien eines Werkes ermöglichen. Explizite und implizite Dramaturgieanteile wirken im Verbund und sind gemeinsam für Aufbau, Umsetzung und Wirkung eines Werkes verantwortlich. Die expliziten Dramaturgieanteile ließen sich mithilfe der Kommentare und der erläuternden Zusätze von Arbogast Schmitt in seiner Übersetzung der Poetik

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Hierauf weist auch schon Asmuth (in der 6. Auflage seines Standardwerkes) hin: Asmuth (2004), Einführung in die Dramenanalyse, S. 49 f. Dem ungeachtet schreibt z. B. Hickethier dennoch: »Am Ende kann deshalb der Zuschauer auch mit ›offenen‹, also innerhalb des dramatischen oder filmischen Geschehens nicht beantworteten Fragen entlassen werden.« Knut Hickethier (2003), Einführung in die Medienwissenschaft, S. 139.

1.  Dramaturgie und Musik

des Aristoteles (sie konkretisieren in geschweiften Klammern die Deutungsspielräume des griechischen Textes) auch als die »konstitutiven« Teile eines Werkes bezeichnen. Aristoteles formulierte für die Nachahmung von Handlung folgende Bedingung: »[…] die Anordnung der Handlungsteile muss so sein, dass das Ganze sich ändert und in Bewegung gerät, wenn auch nur ein Teil umgestellt oder entfernt wird. Das nämlich, was da sein oder nicht da sein kann ohne erkennbaren Unterschied, ist kein {konstitutiver} Teil des Ganzen.« (Aristoteles 2008, S. 13; Kap. 8, 1451a30)

Die Nähe zum Konzept der geschlossenen Form ist unverkennbar: Die Unverrückbarkeit der Teile eines Werkes und ihre daraus resultierende konstituierende Eigenschaft sind wichtige Merkmale der expliziten Dramaturgie. Zur expliziten Dramaturgie gehören alle Elemente des Handlungsaufbaus und der an der Oberfläche stattfindenden Handlung. Dazu gehört auch das Sujet, das ein Prinzip für die konkrete Ausgestaltung der Handlung und die Bedingungen, unter denen sie sich entfalten kann, darstellt. Das Sujet konkretisiert das Umfeld und setzt den Figuren und Ereignissen charakteristische Grenzen. Dies zusammen sind die an der Oberfläche sichtbaren handlungs- und strukturbezogenen Gestaltungselemente und Parameter. Sie sind als konstitutiv anzusehen, da eine Veränderung dieser Bestandteile die Logik der Entfaltung der Geschichte verändern würde. Gliederung und Form (Anfang – Mitte – Schluss), Strukturen, Unverrückbarkeit der Teile, der zweckmäßige Umfang eines Werkes und Gesetzmäßigkeiten zur Entwicklung der Handlung sind die grundlegendsten Elemente der expliziten Dramaturgie. Dies ließe sich mit den Worten Aristoteles’ auch so formulieren: »Wir haben {als Ergebnis} bereits festgehalten, dass die Tragödie die Nachahmung einer vollständigen und ganzen Handlung ist, die einen gewissen Umfang hat. Es kann etwas nämlich auch ein Ganzes sein, ohne einen nennenswerten Umfang zu haben. Ein Ganzes aber ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Anfang ist, was selbst nicht aus innerer Notwendigkeit auf etwas Anderes folgt, nachdem aber naturgemäß etwas Anderes ist oder entsteht. Ende dagegen ist, was selbst nach etwas Anderem ist, und zwar entweder notwendig oder meistens, nach dem aber nichts anderes {folgen muss}. Mitte ist das, was selbst nach etwas Anderem ist, und nach dem etwas Anderes ist. Wer also eine Handlung zusammenstellen will, darf nicht von irgendwoher, wie es sich gerade trifft, anfangen, noch, wie es sich gerade ergibt, irgendwo enden, sondern muss sich an die genannten Kriterien halten. […] Bei welcher Größe es sich ergibt, dass die mit Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit aufeinander folgenden Handlungsschritte zu einem Umschlag vom Glück ins Unglück oder vom Unglück ins

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung Glück führen, dies ist die hinreichende Begrenzung der Größe.« (Aristoteles 2008, S. 12; Kap. 7, 1450b24)

Hier werden von Aristoteles neben Umfang, Strukturfragen und Gesetzmäßigkeiten zur Entwicklung der Handlung auch die Wirkungsqualitäten der Wendepunkte angesprochen, die auch zur expliziten Dramaturgie gehören. Explizite Dramaturgie kann sowohl ein Sammelbecken für Normen sein, als auch – wie Dahlhaus auf das Musiktheater bezogen schrieb – eine Reihe »begrifflicher Hilfsmittel« zur Verfügung stellen, »deren Funktion es ist, dem Verständnis der einzelnen Werke in ihrer Besonderheit den Weg zu bahnen. Die ›explizite Dramaturgie‹, die als Theorie oder Theoriefragment formuliert wurde, bildete keinen Kodex […], dem die Werke sich fügen mussten, sondern gleichsam ein kategoriales Gerüst, mit dem man sie umstellte und das man wieder abriss, sobald es seinem Zweck, der Rekonstruktion der ›impliziten‹ Poetik individueller Werke, gerecht geworden war.« (Dahlhaus 2001a/GS2, S. 468)

Explizite und implizite Dramaturgie unterscheiden sich auch bei der Darstellung und Erzeugung von Komik und Humor. Während Komik (wie wir sie aus Filmen von Buster Keaton, Charles Chaplin u. a. kennen) überwiegend auf der expliziten Ebene funktioniert, z. B. durch Mittel der Unangemessenheit, Körperlichkeit, Übertreibung, Verwechslung und Eskalation, entfaltet sich Humor hauptsächlich implizit durch Erkennen von Zusammenhängen oder Anspielungen. Deren Entschlüsselung bereitet eine andere Art von Vergnügen als die Unmittelbarkeit der Komik. Als Beispiel für einen solchen humorvollen Einsatz kann die Verwendung von Strauss’ Also sprach Zarathustra in Wall•E (USA 2008, R.  Andrew Stanton) genannt werden. Das Hinzudenken des inzwischen bei einem Großteil des Publikums bekannten audiovisuellen Kontextes des Stückes führt bei der Entschlüsselung zum Schmunzeln, während der Ernst der Szene (die Menschheit kehrt endlich zurück zur Erde, um sie wieder zu begrünen) erhalten bleibt.

1.1.4  Implizite Dramaturgie

Implizite Dramaturgie befasst sich mit Bedeutungsanteilen, die einen Film (oder ein anderes Kunstwerk) auf tiefergehender Ebene oder alternativ verstehbar werden lassen. Nicht selten sind diese Anteile in Andeutungen oder Codes versteckt und beziehen sich auf den gesellschaftlichen, politischen oder persönlichen Hintergrund. Hinweise zu Teilaspekten oder zum Umfeld des gewählten Themas,

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des Films, der Filmschaffenden oder des Publikums können zu besonderen Wirkungen führen, wenn sie als spezielle Teilmomente in die Strukturen der hauptsächlich erzählten Geschichte eingearbeitet sind.43 Die gesellschaftlichen oder künstlerischen Bezüge müssen bekannt sein und passend übersetzt werden, um ein Werk umfassender zu verstehen und »zwischen den Zeilen« zu lesen. Der Aktualitätsbezug eines Werkes beruht in starkem Maße hierauf. Bei Inszenierungen von Klassikern am Theater oder an der Oper werden die Strategien der impliziten Dramaturgie durch das sogenannte »Regietheater« besonders deutlich, die entweder für ein tiefergehendes Verständnis der Vorlage oder für den Aktualitätsbezug eines Werkes, den es bei seiner Entstehung nicht haben konnte, stehen. Es werden so gewisse Teilaspekte des in einer Geschichte verhandelten Themas akzentuiert, aber ohne diese direkt anzusprechen. Der implizit herbeigeführte Aktualitätsbezug oder zusätzliche Bedeutungsebenen einer erzählten Geschichte sind für die Dramaturgie von großer Bedeutung und können auf allen Ebenen des darstellenden Erzählens realisiert werden. Oft betrifft dies Fragen des Zeitgeistes oder die Einbettung eines Werkes in ein bestimmtes persönliches, künstlerisches Umfeld oder in aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse. Generell akzentuiert das Konzept der impliziten Dramaturgie die Verstehensleistung des Publikums und markiert damit jene Anteile der Wirkung eines Kunstwerkes, die durch kollektive oder individuelle Aufschlüsselungen und Deutungen von Teilelementen entstehen, die bei alleiniger Untersuchung der expliziten Strukturen und Gestaltungselemente unbeachtet bleiben würden. Die Kategorien der impliziten Dramaturgie stellen damit auch Hilfsmittel zur Verfügung, um die Kommunikation zwischen Kunstschaffenden und Publikum über das Kunstwerk zu untersuchen. Hegel betitelte in seiner Ästhetik einen Abschnitt, der sich mit solchen Aspekten befasst, die in der hier verwendeten Systematik der impliziten Dramaturgie zuzurechnen sind, mit der »Äußerlichkeit des idealen Kunstwerkes im Verhältnis zum Publikum«: »Wie sehr es [das Kunstwerk] nun aber auch in sich eine übereinstimmende und abgerundete Welt abbilden mag, so ist das Kunstwerk selbst doch als wirkliches, vereinzeltes Objekt nicht FÜR SICH, sondern FÜR UNS, für ein Publikum, welches das Kunstwerk anschaut und genießt. […] Nun ist zwar das wahrhafte Ideal in den allgemeinen Interessen und Leidenschaften seiner Götter und Menschen für jeden verständlich; indem es seine Individuen jedoch innerhalb einer

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Siehe zur impliziten Dramaturgie und zum Zusammenwirken von expliziter und impliziter Dramaturgie: Stutterheim (2015), Handbuch angewandter Dramaturgie: vom Geheimnis des filmischen Erzählens: Film, TV und Games, S. 42 ff., 47 ff.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung bestimmten äußerlichen Welt der Sitten, Gebräuche und sonstiger Partikularitäten zur Anschauung bringt, tritt dadurch die neue Forderung hervor, dass diese Äußerlichkeit nicht nur mit den dargestellten Charakteren, sondern ebensosehr auch MIT UNS in Übereinstimmung trete.« [alle H. i. O.] (Hegel 1818–29/1984, S. 259, Bd. 1)

Die Voraussetzungen, die Hegel dafür nennt, wie ein Kunstwerk »mit uns in Übereinstimmung« zu bringen sei, sind den Aspekten der heute implizit genannten Dramaturgieanteile sehr nahe: »ein breiter Apparat geographischer, historischer, ja selbst philosophischer Notizen, Kenntnisse und Erkenntnisse« (Hegel 1818–29/1984, S. 260, Bd. 1). Hegel benennt auch Spezifikationen des »Partikulären«, also der konkreten fiktiven bzw. realen Umstände, und fragt hierfür, »wie ein Kunstwerk in betreff auf die Außenseite des Lokals, der Gewohnheiten, Gebräuche, religiösen, politischen, sozialen, sittlichen Zustände gestaltet sein müsse« (Hegel 1818–29/1984, S. 260, Bd. 1), um verstanden zu werden und das Publikum im Innern zu berühren. Diese Gedanken zeigen besonders deutlich, dass Strukturmodelle (als expliziter Dramaturgieanteil) allein kein Garant für eine gelungene Dramaturgie sein können. Im Vorwort einer interdisziplinär angelegten Veröffentlichung, die sich dem Thema implizite Dramaturgie widmet, schreibt Rolf Rohmer von den Schwierigkeiten und Vorteilen der Forschungsmethode: »Die erste Gruppe der vorliegenden Studien geht dem Phänomen der ›impliziten Dramaturgie‹ nach. Sie erkundet das Wirken dramaturgischer Strategien und Effekte insbesondere dort, wo sie weder reflektiert oder verbal behauptet noch konzeptionell ausgewiesen sind, sondern wo sie einfach stattfinden. Hier mussten bewährte Fragestellungen aufgegeben, erprobte Instrumente verworfen, sichere Wege und Methoden verlassen werden. Gleichzeitig konnten bestimmte Grenzen – Kunstgattungen wie Kommerz betreffend – nicht weiter gelten. Nun ließen sich dramaturgische Implikationen surrealer Filmsequenzen, kommerzieller Musicalpräsentationen, personaler Regiestrategien aufdecken, konnten neue kontextuale (Entertainment, Happening, Zitat) wie internale dramaturgische Sachverhalte (Rhythmus, musikalische Strukturen, metrische Potenziale, filmische Bildsprache) angegangen werden.« (Rohmer 2000, S. 8)

Doch wie lässt sich nun der Begriff der »impliziten Dramaturgie« definieren? Einige Passagen aus Rohmers Text enthalten zusammenfassende Beschreibungen: »Freilich bestimmen solche einzelnen Sachverhalte [die der impliziten Dramaturgie zuzurechnen sind] auch wenn sie gehäuft auftreten nicht die Gesamtstruktur des Werkes, sie bilden nicht ihr ›Gerüst‹. Sie haben aber doch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Sie verweisen auf oft nicht bemerkte dramaturgische

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1.  Dramaturgie und Musik Dimensionen in der Gesamtstruktur, präzisieren oder gewichten einzelne ihrer Teile bzw. Zusammenhänge und werden damit wichtig für die Deutung der Werke. […] ›Implizite Dramaturgien‹ sind spezielle Strukturelemente von unterschiedlicher, häufig grundsätzlicher Bedeutung, zwar in die Texte eingeschrieben, aber auffällig durch eine Art Sonderstellung im sich entfaltenden Textmaterial. Oft sind sie aus dem philosophischen, kulturgeschichtlichen, biografischen und sonstigen Umfeld des Autors in die Texte transponiert und dort gewissermaßen als Knotenpunkte festgemacht.« (Rohmer 2000, S. 15)

Der vielleicht offenkundigste Unterschied zur expliziten Dramaturgie ist dadurch erkennbar, dass die Strategien der impliziten Dramaturgie speziell die über die Handlung hinausweisende Sinnkonstitution befördern. Implizite Dramaturgie beeinflusst die Deutung eines Werkes durch Präzisierungen. Das gelingt durch Strukturelemente, die mit alltäglichen und medialen Erfahrungen der Rezipierenden verknüpft werden. Bezogen auf Filmwerke schreibt Christine Lang: »Implizite Dramaturgien […] sind […] mit den historisch ein Filmwerk umgebenden ästhetischen Diskursen, mit technischen Innovationen und gesellschaftspolitischen Umständen verbunden.« (Lang und Dreher 2013, S. 35)

Das Funktionieren dieser Sinnkonstitution (die Gewichtung und Präzisierung von inhaltlichen Zusammenhängen) durch implizite Dramaturgie ist daher abhängig von den »Lesefähigkeiten« des Publikums, welche wiederum regional und historisch ganz unterschiedlich sein können: »Implizite Dramaturgie [ist] nicht zuletzt und zum größten Teil für die Realismus-Wirkung und die Authentisierung des Erzählten verantwortlich. Stil und Humor sind immer zeit- und kontextabhängige Phänomene, und wenn etwa Metaphern und Verweise auf das Welt- und Alltagswissen medial erfahrener Rezipierender nicht stimmen, können ein Film oder eine Fernsehserie schnell ahnungslos oder naiv wirken.« (Lang und Dreher 2013, S. 34)

In Ergänzung zu expliziten dramaturgischen Mitteln, mit denen eine Form von Glaubwürdigkeit innerhalb der Handlung erreicht wird,44 wirken Geschichten erst dann überzeugend, wenn Inhalte und ästhetische Mittel durch Strategien der implizite Dramaturgie mit dem kulturellen, sozialen und sonstigen Hintergrund des Publikums verknüpft werden. Die Digitalisierung der Medienwelt erlaubt zudem sehr weitreichende oder verzweigte Bezüge, denn sie führt zur ständigen

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So z. B. die von Aristoteles beobachtete und hervorgehobene Art der Dichtung, bei der die Vorgänge aus »innerer Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit« (Aristoteles 2008, S. 13; Kap. 9, 1451a35) heraus sich entwickeln.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Verfügbarkeit von nahezu allen künstlerischen Werken bzw. ihren Reproduktionen, ihren Stilen und ihrer Ästhetik. Durch Digitalisierung kann permanent und umfänglich Bezug auf künstlerische oder gesellschaftspolitische Diskurse genommen werden. Die Bezugnahme zu Erfahrungen des Publikums mit anderen künstlerischen Werken oder Alltagserfahrungen aus einer Vielzahl anderer Lebensbereiche ist somit sehr leicht herzustellen, sodass künstlerische Strategien darauf aufbauen können. Die auf solche Weise erzeugten Bedeutungszusammenhänge sind für Inszenierung, Aufschlüsselung und Deutung eines Werkes – insbesondere im sich stets von wandelnder Technik beeinflussten Medium Film – nicht selten essenziell. In der Theatertheorie und -dramaturgie ist die Unterscheidung in einen expliziten und einen impliziten Wirkungsradius der Gestaltungselemente geläufiger als in anderen Disziplinen, die sich mit dem darstellenden Erzählen befassen. Im Handbuch der Filmdramaturgie von Kerstin Stutterheim und Silke Kaiser wird diese Terminologie erstmals auf die Filmdramaturgie übertragen (Stutterheim und Kaiser 2009/2011, S. 57–60). Aber schon Kristin Thompson (Thompson 1986) untersuchte in diesem Sinne implizit zu nennende Dramaturgieanteile im Film.45 Auch Dahlhaus unterschied in seiner Opern- und Librettotheorie (Dahlhaus 1992) bereits explizite Dramaturgie und implizite Poetik, wie das Zitat im vorigen Kapitel belegt.46 Für die Filmmusikforschung wurde die Differenzierung in explizite und implizite Dramaturgieanteile bisher noch nicht angewendet. Da aber insbesondere die Digitalisierung im Bereich des Films (d. h. die Verfügbarkeit zahlloser Medien, die Intertextualität und Verweisketten zulassen) zu einer Potenzierung der künstlerischen Möglichkeiten und damit einer vermuteten größeren Bedeutung der impliziten Dramaturgie geführt hat, kann dieser heuristische Ansatz auch für die aktuelle Filmmusikforschung sinnvoll und fruchtbar werden. Die Strategien der expliziten und impliziten Musikdramaturgie sollten aber nicht verabsolutiert, sondern in ihrem Zusammenwirken gesehen werden. Erst dann entfaltet sich der Sinn der Differenzierung in explizite und implizite dramaturgische

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Thompson spricht vom »concept of cinematic excess«: Kristin Thompson (1986), »The concept of cinematic excess«, in: Philip Rosen [Hg.], Narrative, Apparatus, Ideology: A Film Theory Reader, S. 130. Für die Geschichte der Musiktheorie entwickelte Dahlhaus die Idee, dass es eine explizite und eine implizite Theorie gebe, vgl. Jan Philipp Sprick (2016), »Zu Dahlhaus’ Historiographie der Musiktheorie im 19.  Jahrhundert«, in: ZGMTH Sonderausgabe (2016), online unter: https://www.gmth.de/zeitschrift/artikel/860.aspx [letzter Zugriff: 22.10.2019]. Damit ebnete Dahlhaus einen Weg nicht nur für die Musiktheorie, sondern generell für die Kunsttheorie, die auf solche Konzepte angewiesen ist, um den Bereich zwischen Theorie und Praxis ausloten zu können.

1.  Dramaturgie und Musik

Wirkungsbereiche. Die hier vorgeschlagene Systematik, mit der explizite und implizite Anteile der Musikdramaturgie differenziert werden können, ermöglicht es, verdeckt eingearbeitete Bestandteile und Strategien mit einem weiter reichenden Wirkungsradius zu analysieren und diese als Teildramaturgien zu verstehen. Teilaspekte der impliziten Dramaturgie im Film, die aus Sicht der film-, fernseh- und medienwissenschaftlichen Forschungszweige besonderes Interesse erlangt haben, wurden bisher untersucht, ohne die hier verwendete Terminologie zu verwenden. Intertextualität oder ein abgegrenztes ästhetisches System (wie z. B. in den Filmen von Quentin Tarantino) berufen sich auf Regeln und Kontexte, ohne die das Werk kaum zu entschlüsseln ist. Am Beispiel der Fernsehserie Breaking Bad hat Christine Lang implizite Dramaturgie bereits als spezifischen analytischen Zugang angewendet.47 Intertextualität als Teilaspekt der impliziten Dramaturgie spielt vor allem bei Untersuchungen zu Popmusik als Filmmusik, präexistenter Musik und musikalischen Zitaten im Film bereits eine bedeutende Rolle.48 Der Beitrag der Filmmusik zu einer so gewonnenen Komplexität eines Filmwerkes ist ein mehr und mehr bearbeitetes Forschungsfeld, in welchem noch viele Fragen und Bereiche ausgelotet werden können.

1.1.5 Narratologie, narration und Filmdramaturgie

Aus dem in dieser Untersuchung verfolgten Ansatz ergibt sich unter anderem, auf die Schnittmengen zwischen Narratologie und Dramaturgie einzugehen. Hiermit sind inhaltliche Schnittmengen aus Sicht der unterschiedlichen Disziplinen gemeint, aber auch sprachliche Besonderheiten, wenn z. B. im angloamerikanischen Raum mit narration Aspekte von Dramaturgie mit behandelt werden. Das Wort dramaturgy existiert zwar im Englischen, wird aber in der Regel für die praktische Tätigkeit des Ins-Werk-Setzens genutzt oder steht im schlimmsten Fall nur für einen allgemeinen oder beliebigen Bezug zu Handlung und Bauform. Hinter dem Sprachgebrauch von narration in der englischsprachigen und in der Folge Narration in der deutschsprachigen Literatur zum Film und zur Filmmusik findet sich vieles, das vonseiten der Theater- und Musikwissenschaft und von Filmpraktikern (darunter Filmmusiker) mithilfe der Vokabel »Dramaturgie« verhandelt wird. 47 48

Es handelt sich um die US-amerikanische Fernsehserie Breaking Bad des Senders AMC, vgl. Christine Lang und Christoph Dreher (2013), Breaking Down Breaking Bad: Dramaturgie einer Fernsehserie. Vgl. als ein Beispiel den Aufsatz von Willem Strank (2017), »Überlegungen zur Intertextualität von Filmmusik«, in: Manuel Gervink und Robert Rabenalt [Hg.], Filmmusik und Narration: Über Musik im filmischen Erzählen.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

In der Filmtheorie von Bordwell und Thompson ist ein nicht zu unterschätzender dramaturgisch zu nennender Theorieanteil erkennbar, so die Verbindung von Struktur und Aktivität des Publikums bzw. seine Verstehensleistung: »The spectator’s comprehension of the story is the principal aim of narration.« (Bordwell 1985, S. 30). Auch ist z. B. eine psychologische Komponente, die für den Begriff Narration charakteristisch zu sein scheint, in Bordwells Begriff primacy effect (Bordwell 1985, S. 38) enthalten. Unter primacy effect ist das Öffnen eines Registers zu verstehen, in das nachfolgende Reize eingeordnet werden. Der Begriff Narration wird so als eine gewählte Art der Vergabe von Informationen zum Verständnis der Handlung erklärbar, durch die auch die Struktur eines Films analysiert werden kann. Von Bordwell und Thompson werden explizite dramaturgische Basisbegriffe wie fabula (Fabel) und syuzhet (Sujet) sowie implizite dramaturgische Strategien berücksichtigt, die sie mit den Begriffen style (die filmspezifischen ästhetischen Mittel) und mit excess (ein »Mehr« oder »Überschuss«) umreißen.49 Michaela Krützen (Krützen 2004) versteht den Aufsatz von Kristin Thompson zum cinematic excess so, dass der »Überschuss« zwar nicht die Narration beträfe, aber entscheidend sei, um Besonderheiten in Form und Qualität, in bzw. mit der eine Geschichte erzählt wird, zu erkennen. »Der Exzess darf nicht als Störung abgetan werden. Bei der Analyse eines Films müssen Lücken und Sackgassen in der Erzählung berücksichtigt werden. Um die besondere Qualität dieser Lücken und Sackgassen in der Erzählung geht es Kristin Thompson. […] Thompson will die Aufmerksamkeit auf den Exzess lenken, um vor einer Überbewertung des Narrativen zu warnen: ›An awareness of excess may help change the status of narrative in general for the viewer. One of the great limitations for the viewer in our culture has been the attitude that film equals narrative (…). Such a belief limits the spectator’s participation to under­ standing only the chain of cause and effect.‹ (Thompson 1986, S. 140) Das Narrative und das Exzessive müssen in einem Zusammenhang gesehen werden.« (Krützen 2004, S. 299 f.)

Der auf Thompson zurückgehende Hinweis auf den cinematic excess, der sich später auch bei Bordwell findet (Bordwell 1985), kann als wichtiger Teil von Dramaturgie ernst genommen werden. Allerdings stehen Narration bzw. explizite Dramaturgie und »Überschuss« bzw. implizite Dramaturgie nicht gegeneinander,

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Vgl. Bordwell (1985), Narration in the fiction film, S. 49 f. Wie zuvor schon erwähnt, hat Kristin Thompson einen eigenen Aufsatz hierzu geschrieben: Thompson (1986), »The concept of cinematic excess«.

1.  Dramaturgie und Musik

wie der zitierte Ausschnitt vielleicht suggeriert, sondern wirken zusammen und ergänzen sich, wodurch die Komplexität eines Kunstwerkes erst möglich wird. Claudia Gorbman hat den Narrationsbegriff von Bordwell für die Filmmusikforschung übernommen. Sie verwendet den Terminus dramaturgy selten und zudem allgemein bleibend: »The repetition, interaction and variation of musical themes throughout a film contributes much to the clarity of its dramaturgy and to the clarity of its formal structures.« (Gorbman 1987, S. 91)

Der Satz steht im Kontext von Max Steiners Vorgehensweise, nach der er auf Grundlage der Sichtung eines Rohschnitts musikalische Themen für die Hauptcharaktere und wesentlichen Ideen des Films skizziert, um sie dann in die gesamte Anlage der Filmmusik zu integrieren und entsprechend auszuarbeiten. Da Gorbman nicht näher darauf eingeht, was Dramaturgie ist, bleibt allerdings offen, was die Merkmale solch einer »klaren« oder »anschaulichen« Dramaturgie sind. Es kann vermutet werden, dass die epische Anlage bestimmter Filme als dramaturgische Besonderheit angesehen wird, die den Einsatz von Leitmotiven sinnfällig und manchmal vielleicht sogar nötig werden lässt. Bei Berücksichtigung ihrer Beispiele scheint mir wahrscheinlicher zu sein, dass die Informationsdistribution gemeint ist und der Begriff narration synonym verwendet werden kann. Eine Filmnarratologie, die sich auch auf international verhandelte Theorien zum Thema bezieht, fassen im deutschsprachigen Raum Barbara Flückiger (Flückiger 2001/2007, S. 371–381) und Markus Kuhn zusammen. Kuhn (Kuhn 2011) referiert Ansätze der Erzähltheorie, deren verzweigte Ursprünge hier nicht dargestellt werden können. Das Problem, wie sich ein Erzähler im Film eigentlich konstituiert, wird nur theoretisch thematisiert. Die in der Filmpraxis sich sehr vielgestaltig zeigende Autorschaft bewirkt jedoch, dass eine eindeutige Abstufung von Erzählinstanzen (reale Autorinnen, idealer oder impliziter Autor, auktorialer und figuraler Erzähler) im Film schwer vorzunehmen oder an konkrete filmische Mittel gebunden ist, geschweige denn, dass Merkmale, die eine Erzählinstanz eindeutig markieren, narratologisch immer konsequent angewendet werden. Im Gegenteil: Die Dramaturgie eines Films verlangt für die wirkungsvollste Umsetzung von Thema und Geschichte Inkohärenzen in Bezug auf die Erzählinstanzen.50 50

Der Film The Truman Show (USA 1998, R. Peter Weir, M. Burkhard Dallwitz, Philip Glass) zeigt dies eindrücklich, weil er die Film-im-Film-Disposition permanent anspricht. Filmisch konsequent übersetzte Erzählebenen finden sich dabei nur an wenigen, für das Verständnis der Ausgangssituation notwendigen Passagen. Vgl. Claus Tieber (2010), »Informationsgehalt der Musik und Dramaturgie in The Truman Show«, in: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung (4).

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Kuhn reflektiert speziell mit Blick auf eine Filmnarratologie das durchaus schon bei Genette komplexe Modell der Fokalisierung. Es handelt sich um ein System zur Differenzierung der Erzählperspektive und das Verhältnis zwischen dem Wissensstand einer Erzählerebene und einer Figur. 1. externe Fokalisierung: Der Erzähler gibt weniger Informationen preis als der Einblick der Figuren ist, 2.  Null-Fokalisierung oder »auktorial«: Der Erzähler gibt die Informationen, die auch die Figuren haben, sorgt für den »optimalen« Überblick und nimmt dafür keine bestimmte Perspektive ein oder 3. interne Fokalisierung: Der Erzähler nimmt eine bestimmte Figurenperspektive ein und lässt dafür weg, was diese Figur nicht wissen kann.51 Das Konzept der Okularisierung (für visuelle Aspekte der Wahrnehmung) wird auch auf Teile der auditiven Schicht angewendet. So entsteht ein Modell der Aurikularisierung (für auditive Aspekte der Wahrnehmung), das Kuhn entsprechend Genettes Vorlage in Nullaurikularisierung, externe und interne Aurikularisierung unterteilt.52 Für die Analyse von Filmmusik legt Guido Heldt Diskussion und Forschungsstand der narratologischen Terminologie ausführlich dar. Gerade das umfassende Schrifttum an englischsprachigen Veröffentlichungen zum Thema wird von ihm produktiv reflektiert.53 Der zu beobachtende Übergang von der sprachbasierten zur transmedialen Narratologie bzw. Filmnarratologie führt in der Weise, wie Kuhn es zusammenfasst bzw. entwickelt und wie Heldt mit speziellem Blick auf die Filmmusik darlegt, zu einem äußerst differenzierten System, das narrative Instanzen beschreibt, welche für die Distribution von für die Handlung relevanten Informationen verantwortlich sind und Zuordnungen von Musik zu diesen Ebenen der Narration weitgehend erklärt. Im Kern bleibt es ein auf den Gesetzmäßigkeiten der Sprache beruhendes Konzept, das auf nichtsprachliche Anteile des Films erweitert wurde. Die narratologische Terminologie zielt auf differenzierte narrative Ebenen und Erzählinstanzen ab, die im Film nicht die gleiche Eindeutigkeit haben wie in

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Vgl. auch die Gegenüberstellung der Terminologie von Pouillon, Todorov und Genette bei: Wolf ­Schmid (2014), Elemente der Narratologie, S. 110. Dieses Konzept basiert auf Ideen von François Jost und Weiterentwicklungen von Sabine Schlickers, vgl. Markus Kuhn (2011), Filmnarratologie: Ein erzähltheoretisches Analysemodell, S. 128–131. Genettes umfassende Theorie, die auch Einfluss auf die Terminologie der Filmmusiktheorie genommen hat, kann hier nicht näher erläutert werden. Im Gegenteil verfolge ich die Suche nach einer Alternative zur Terminologie der im Wesentlichen doch auf der Funktionsweise oder Semantik der geschriebenen Sprache beruhenden Theorien von z. B. Genette und Deleuze. Siehe hierzu z. B. die Ausführungen zu den Begriffen nondiegetic, diegetic, ambi-diegetic, supradiegetic u. a. sowie zur Kritik dieser Terminologie: Guido Heldt (2013), Music and Levels of Narration in Film, S. 48 f. Heldt verweist auch auf eine mehrsprachige Liste bei Bullerjahn: Claudia Bullerjahn (2001), Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, S. 19–21.

1.  Dramaturgie und Musik

der Literatur. Schon Flückiger merkt an, dass die Fokalisierung im Film parallel auf mehrere Schichten durch Kamera, Stimme und Ton für das Publikum erfahrbar gemacht werden kann und daher sich die Gestaltungsmittel vervielfältigen (Flückiger 2001/2007, S. 373 f.). Da sich sprachliche, visuelle und klangliche Mittel im Film vielfältig ergänzen und innerhalb dieser Polyphonie der Mittel die Eigenständigkeit einer Ebene zu insgesamt anderen Erzählformen führen kann, ist der Fokus der Musikdramaturgie ein anderer. Aus Perspektive der Dramaturgie tritt in das Beziehungsgeflecht von Perspektive und Wissensstand zwischen Erzählerebene und Figuren das Publikum ein und wird sogar zum Zentrum der Beurteilung dieser Verhältnisse. Für eine Theorie der Musikdramaturgie im Film entsteht daher die Notwendigkeit, ein Modell der auditiven Ebenen zur Verfügung zu haben, das Auskunft über die Einbindung des im Film Klingenden in dramaturgische Strategien geben kann, die letztlich darauf abzielen, dass jedes klingende Element der Tonspur im Sinne von Geschichte, Struktur und Wirkung ausgerichtet ist. Wenn man auf die Ursprünge der von vielen Autorinnen und Autoren bereits diskutierten und zum Teil weiterentwickelten Kategorien zur Differenzierung der Klangschicht im Film blickt, stellt sich heraus, dass in Narratologie, Filmtheorie und Dramaturgie ein etwas anderes Verständnis zu den Begriffen Diegese, Fabel und Sujet sowie zu mimesis und diegesis besteht.54 Da im Besonderen das für die Filmmusik häufig verwendete Begriffspaar diegetische/non-diegetische Musik davon betroffen ist und die hier ausgebreiteten Ideen zur Wirkungsweise von Fabel und Sujet für den Einsatz der Filmmusik von Bordwells Rezeption der Terminologie und damit verbundenen Konzepten abweichen, folgt ein Exkurs und ein eigenes Kapitel dazu.

Exkurs 2: diegetisch/non-diegetisch und mimesis/diegesis

Das filmmusikalische Vokabular wurde wesentlich durch das Wisconsin Project (Bordwell und Thompson 1979) und Gorbman (Gorbman 1987) beeinflusst. Es beruht auf einem in den 1950er Jahren in Frankreich begründeten interdisziplinären Forschungsprojekt – der »filmologischen Schule«. Anne und Étienne Souriau führten dort erstmals den Begriff diégèse bzw. diégétique ein (Souriau 1951/dt. 1997). 54

Dies berücksichtigen auch schon Genette und andere: Gérard Genette (1972/dt. 1994), Die Erzählung, S. 202. Zur Problematik des Begriffs »Diegese« siehe auch: Edward Branigan (1992), Narrative comprehension and film; und: Anton Fuxjäger (2007), »Diegese, Diegesis, diegetisch: Versuch einer Begriffsentwirrung«, in: Diegese, montage AV(16/2/2007); Flückiger (2001/2007), Sound Design, S. 370–381.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Nicht nur Gerard Genette baute u. a. darauf das Vokabular eines Theoriegerüstes auf. Genette unterscheidet allerdings zwischen diegesis (mit dramentheoretischem Ursprung) und Diegese (eine narratologische Umdeutung).55 Einige Konzepte seines Modells wurden durch Bordwell und Thompson 1979 für den Film und von Gorbman 1987 für die Filmmusik adaptiert. Die Souriaus führten den aus der antiken Rhetorik und Dramentheorie stammenden Begriff diegesis bzw. diégèse in die Filmwissenschaft ein, unterschieden aber nicht in diegetisch und nicht-diegetisch, worauf schon Kessler, Fuxjäger und andere hinweisen,56 sondern in »diegetisch« (diégétique), »leinwandlich« (écranique) und »filmophanisch« (filmophanique) und andere sogenannte »filmische Realitäten« (Souriau 1951/dt. 1997, S. 144). Damit sind Diskursräume bzw. Schichten der Existenz eines Films wie z. B. seine profilmische Existenz, sein physikalisch be­­ dingter Ablauf und die Mittel seiner Vorführung, der virtuelle Ort eines Geschehens in der Geschichte, die Filmzeit, die sich von der erzählten Zeit unterscheidet, und die Interpretationsleistung des Publikums gemeint. Das Theoriegebäude sollte filmästhetische Spezifika hervorheben, eine wissenschaftliche Filmanalyse begründen und eine damit einhergehende Anerkennung filmwissenschaftlichen Arbeitens bewirken.57 Souriau zielte unter anderem darauf ab, dass der imaginative Handlungsraum, in dem auch Musik als Ereignis erklingt bzw. ihre Quelle hat, von den Mitteln seiner Darstellung getrennt werden muss. Imagination von Handlungsrealität, Handlungsraum und Handlungszeit sind von der filmisch umsetzenden Realität zu unterscheiden: »Dies ist der Raum, in dem sich die Geschichte abspielt. Beide Räume sind streng voneinander geschieden. Um sie nicht zu verwechseln, werden wir ihnen Namen geben […] Der erstgenannte ist der ›leinwandliche‹ [écranique] Raum. Den anderen nennen wir ›diegetisch‹ [diégètique] (abgeleitet vom griechischen diegesis, Die-

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In der Medienwissenschaft existiert für eine Differenzierung zudem der Begriff »Diegetisieren« im Film, vgl. Guido Heldt (2008), »Grenzgänge: Filmisches Erzählen und Hanns Eislers Musik«, in: Peter Schweinhardt [Hg.], Kompositionen für den Film; sowie: Heldt (2013), Music and Levels of Narration in Film. Hier nur die deutschsprachigen Autoren: Frank Kessler (1997), »Étienne Souriau und das Vokabular der filmologischen Schule«, in: Diegese; Fuxjäger (2007), »Diegese, Diegesis, diegetisch: Versuch einer Begriffsentwirrung«, S. 24; Didi Merlin (2010), »Diegetic Sound: Zur Konstituierung figureninterner und -externer Realitäten im Spielfilm«, in: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung = Dieter Merlin (2012), »Diegetic Sound: Zur Konstituierung figureninterner und -externer Realitäten im Spielfilm«, in: Tarek Krohn und Willem Strank [Hg.], Film und Musik als multimedialer Raum. Siehe hierzu den Aufsatz von Kessler (1997), »Étienne Souriau und das Vokabular der filmologischen Schule«; sowie: David Neumeyer (2009), »Diegetic/nondiegetic: A Theoretical Model«, in: Music and the Moving Image.

1.  Dramaturgie und Musik gese: Bericht, Erzählung, Darstellung). Damit haben wir also zwei Räume: 1.) Der leinwandliche Raum mit dem Spiel von Licht und Dunkelheit, den Formen, den sichtbaren Gestalten. 2.) Der diegetische Raum, der nur im Denken des Zuschauers rekonstruiert wird (und der zuvor vom Autor des Drehbuchs vorausgesetzt oder konstruiert wurde); in ihm sollen alle Ereignisse, die man mir zeigt, sich abspielen, in ihm scheinen sich die Figuren zu bewegen, sobald ich die Szene verstehe, an der man mich teilhaben lässt.« (Souriau 1951/dt. 1997, S. 144)

Wenn man sich auf die philologische Deutung der aktuellen Aristoteles-Forschung (Schmitt 2008) stützt, wird deutlich, dass dieser Diegesebegriff die bei Platon und Aristoteles wesentliche Unterscheidung der direkten Nachahmung (Charaktere, die ihre Handlungen selbst ausführen) und indirekten Nachahmung (der Bericht von den Handlungen der Charaktere) ignoriert. So geht auch verloren, dass eine jeweils andere Rezeptionshaltung erzeugt werden kann: Struktur und Wirkung ergeben sich in wirklichkeitsnaher Präsenz oder mit spürbaren Eingriffen einer vermittelnden Instanz in die Abläufe. Hätte Souriau statt von »erzählter Welt« von »gezeigter Welt« gesprochen, die im Film ausschnitthaft präsentiert wird und durch Imagination vervollständigt und kohärent wird, wäre die ursprüngliche dramaturgische Unterscheidung von zeigender und erzählender Nachahmung erhalten geblieben. Dies wäre zum einen logischer, insofern die imaginierte Welt nicht verbal erzählt, sondern im Film tatsächlich (und noch wirklichkeitsnäher als im Theater) »gezeigt« wird. Zum anderen erreicht ein Film seine Wirkung in der sehr flexiblen Abwechslung von direkter und indirekter Nachahmung bzw. dramatischen und epischen Mitteln. Der Suche nach einem geeigneten Begriff für die Unterscheidung der dargestellten Welt von den Mitteln, die sie darstellen, liegt also eine geringe Bewertung von dramaturgisch wirksamen Erzählmodi zugrunde. »Erzählt« (diegesis) wird im Film mit vielen Mitteln, darunter Musik. Das Erzählen begrenzt sich nicht darauf, eine Welt zu imaginieren, in der Figuren handeln.58 Die gezeigte Welt ist nur ein Teil davon und sollte den Begriff Diegese daher nicht für sich allein beanspruchen, wie es bei der Übertragung auf die Terminologie der Filmmusik geschieht. Der Begriff diegetische Filmmusik wird in der Filmmusikforschung als Folge dieser Ungenauigkeit für die Musik im Film verwendet, die Teil der direkt nachschöpfenden, gezeigten Handlungen ist, d. h. für Musik mit einer Ursache im imaginativen Handlungsraum. Um einen Gegenpol dazu zu schaffen, ergänzen Bordwell und Thompson (Bordwell und Thompson 1979, S. 254 ff.) sowie

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Daher brauchte es auch einen weiteren Begriff: »Diegetisieren«, der das Problem meiner Meinung nach allerdings nur vergrößert statt löst.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Gorbman (Gorbman 1987, S. 22) den Begriff non-diegetic und ersetzen damit auch Genettes Begriff extra-diégétique (Genette 1972/dt. 1994). Auch hier wird deutlich, dass der Diegesebegriff eigentlich nicht geeignet ist, denn die Aussagekraft über die von Genette ausführlich differenzierte Fokalisierung und den Zugriff auf Informationen zur Handlung entfällt dann (Wer hört? Wer weiß wovon im Vergleich zur kompletten Information des auktorialen Erzählers? Wer spricht bzw. hört?). Allerdings unterscheiden sich literarische und filmische Fokalisation in der Flexibilität, und abgesehen davon wird nicht klar, wie eine »nicht-erzählerisch« eingesetzte bzw. »nicht-erzählte« Musik zum Verständnis des Filmdramas beitragen könnte. Bordwell greift noch weiter zurück auf Platon und Aristoteles, um die Unterscheidung von diegesis (telling) und mimesis (showing) zu untermauern: »Diegetic theories conceive of narration as consisting either literally or analogically of verbal activity: a telling. This telling may be either oral or written. […] Mimetic theories conceive of narration as the presentation of spectacle: a show­ ing. Note, incidentally, that since the difference applies only to ›mode‹ of imitation, either theory may be applied to any medium.« (Bordwell 1985, S. 3)

Doch schon wenige Seiten später vermengt Bordwell Neues und Altes aus den zum Teil unterschiedlich übersetzten und schwer zu deutenden historischen Quellen: »›Diegesis‹ has become to be the accepted term for the fictional world of story. Calling one tradition of narrative theory ›diegetic‹ brings out the linguistic conception underlying Plato’s formulation. For Plato, both pure narrative and theatrical imitation presuppose the priority of the poet’s voice; in drama, the poet simply makes his own speech like that of another.« (Bordwell 1985, S. 16)

Gerade dann, wenn externe (nicht in der Handlung gezeigte) Musik als Beiordnung und erzählerisches Mittel bemerkbar und wirksam wird, wenn unstrittig ist, dass sie zum filmischen Diskurs gehört und auch mit ihr die Vorgänge strukturiert werden können (d. h. dass Filmmusik fokussiert, interpretiert und auf eine ordnende Instanz verweist), wird sie heute – eigentlich unpassend – als non-diegetisch (= »nicht-erzählend«?) bezeichnet. Wäre damals das Wort »virtuell« populär gewesen, hätte Souriau anstatt »diegetischer Raum« vielleicht diesen Begriff gewählt für den imaginativen (virtuellen) Handlungsraum. Dann wäre die Musik, die in dieser virtuellen Welt erklingt, von Gorbman vielleicht als »virtuelle Musik« bezeichnet worden, die beigeordnete Musik als »nicht-virtuell« (oder doch der Unterscheidung Platons folgend: »erzählend« bzw. »diegetisch«, was als Gegenteil zum derzeitigen Gebrauch zu bezeichnen wäre).

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1.  Dramaturgie und Musik

Dieter Merlin benennt in einem Aufsatz das begriffstheoretische Problem als »diegesetheoretisches Paradoxon« (Merlin 2012, S. 125). Ob ein Element zur erzählten Welt oder zum filmischen Diskurs gehöre, könne nicht bestimmt werden, ohne dieses mit Elementen zu vergleichen, die bereits Teil der erzählten Welt sind (Merlin 2012, S. 125). Es wird klar, dass die Reduzierung der Begriffe diegetisch/nicht-diegetisch auf den Aspekt des Raumes einige (zum Teil besonders schöne) filmspezifische Bauformen und Wirkungsmechanismen nicht erfassen kann. Merlin zitiert Fuxjäger (Fuxjäger 2007), der den Aspekt der Nachahmung bereits berücksichtigt und mit zeichentheoretischen Unterscheidungen einen modifizierten Diegesebegriff entwickelt (Merlin 2012, S. 121 ff.), sowie weitere Autorinnen, die aus bestimmten Gründen kritische Reflexionen zur Terminologie liefern. Die Verwendung des Diegesebegriffs tendiert zu einer Absolutheit  –  einer 100-prozentigen Konsistenz des raumzeitlichen Universums der fiktiven Welt –, die allerdings filmdramaturgisch nicht notwendig ist. Tobias Plebuch beschreibt das Problem so: »Die Begriffe ›diegetisch‹ und ›nondiegetisch‹ können sich in der Analyse als zu scharfe Werkzeuge erweisen, wenn sie begrifflich zwei Modi der Beziehung von Musik und Handlung trennen, die auf das Gleiche hinauslaufen: auf das Verständnis des Filmdramas.« (Plebuch 2014, S. 80)

Alleinstehend könnte Diegese als erzählte oder besser: gezeigte Welt verstanden werden, d. h. als eine Welt, die uns die Figuren, aber auch Musik und Ton mit dort verankerten Quellen zeigen. Aus dramaturgischer Sicht sind aber die Modi der direkten oder indirekten Nachahmung für die Filmanalyse von hohem Wert – auch für Erkenntnisse zur Wirkungsweise von Filmmusik. In der Paarung diegetisch/nicht-diegetisch geht diese Möglichkeit allerdings verloren. Ich plädiere daher dafür, den Diegesebegriff für die Analyse der klingenden Ereignisse im Film fallen zu lassen. Etwas seltener wird im Diskurs zur Anwendung narratologischer Terminologie für den Film Chatman zitiert, der in »Coming to Terms« sowohl Bordwell als auch Genette ausführlich diskutiert und kritisiert (Chatman 1990). Chatman entwickelte ein Modell der Filmnarratologie, das mit dem Begriffspaar diegetic und mimetic im eben beschriebenen Sinne arbeitet. Er sieht mimesis und diegesis nicht als Gegenpole, sondern als zwei Modi, wie eine Geschichte »kommuniziert« wird.59 Es wird damit anschaulich, dass im einen Fall von den Ereignissen berichtet wird

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» […] two ways of communicating a narrative, telling and showing.« (Chatman 1990, S. 115).

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

und eine mehr oder weniger bemerkbare, vermittelnde Erzählinstanz zwischen Geschichte und Publikum tritt (diegetic). Im anderen Fall werden die Vorgänge ohne diese Instanz direkt durch die Figuren vorgeführt (mimetic).60 Obwohl Chatman immer wieder zitiert wird, ist mir nicht bekannt, dass die durch ihn weiter verwendete Lesart von mimesis und diegesis als narratologische Basis für die Filmmusik herangezogen worden wäre. Im Unterschied zu Chatman würde ich jedoch in Betracht ziehen, dass eben diese Modi der »Kommunikation« beide im Film (als Mischform aus Roman und Drama) anzutreffen sind und nicht auf Romane / Epen (= diegetisch) bzw. Dramen/Filme (= mimetisch) begrenzt sind.61 Die notwendige Unterscheidung zwischen Bericht und Zeigehandlung muss aber außerdem in Zusammenhang mit dem qualitativen Sprung im Verständnis des Mimesisbegriffs gesehen werden, der zwischen Platon und Aristoteles liegt. In der von Filmmusikforschenden zitierten Erzähltheorie wird die unterschiedliche Bedeutung des Begriffs mimesis bei Platon und bei Aristoteles offenbar als unbedeutend eingeschätzt. Möglicherweise liegt aber in dieser Differenz ein Grund für die Schwierigkeiten mit dem Begriffspaar diegetisch/non-diegetisch. Das führt dazu, dass mimesis bei Bordwell mit dem in Platons Verständnis enthaltenen Wahrheitsanspruch interpretiert wird und den von Aristoteles eingeführten Wahrscheinlichkeitsanspruch ignoriert.62 Bordwell sieht offenbar daher mimesis und diegesis als Gegenpole (Nachahmung vs. Erzählung) anstatt als zwei Arten der Darstellung durch Modi der Nachahmung mit ihren jeweils eigenen Wirkungen auf das Publikum.63 Aristoteles übernimmt zwar die Unterscheidung zwischen »Erzählen« und »Zeigen« von Platon. Die entscheidenden Neuerungen wurden aber oft überlesen. Zu nennen sind: – Nachahmung ist nicht Imitation, sondern ein nachschöpfender Vorgang, der nicht die Wirklichkeit abbilden soll, sondern das Wahrscheinliche zeigt. – In der Nachahmung erkannte Dinge befriedigen den Erkenntnisdrang und dienen zur Aneignung der Welt.

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Siehe zum Widerspruch zwischen diegesis und Diegese sowie zwischen mimesis und diegetisch auch den Artikel von Neumeyer (2009), »Diegetic/nondiegetic: A Theoretical Model«. Vgl. sein Diagramm in: Chatman (1990), S. 115. Man kann insofern von einem Missverständnis der alten Quellen sprechen, da Bordwells Beispiele Nachahmung im Sinne der Imitation der Wirklichkeit belegen ohne den schöpferischen Charakter der mimesis. Daher folgt wohl auch sein Exkurs zur optischen Perspektive im Kapitel zu mimetischen Erzähltheorien. Vgl. mit der schon in Kap. 1.1.2 (»Filmdramaturgie«) geführten Diskussion und Schmids Ausführungen zu den Wortfeldern diegesis, mimesis, imitatio sowie narrativ, deskriptiv und exegetisch: ­Schmid (2014), Elemente der Narratologie, S. 1–9 und S. 31 f.

1.  Dramaturgie und Musik

– Mimesis und diegesis sind unter dieser Voraussetzung Modi der Nachahmung (im genannten Sinne eines schöpferischen und nicht eines imitierenden Vorgangs). – Die Definition und Bewertung der Begriffe bei Aristoteles werden davon bestimmt, wie Werke bei der Rezeption wirken, anstatt wie bei Platon normative Kategorien widerzuspiegeln. Das Publikum rückt damit erstmals ins Zentrum poetischer Theorie und charakterisiert damit einen Kernpunkt von Dramaturgie. In seinem Artikel »Aristoteles« beschreibt der Philologe Ulrich Fleischer das, was bei Aristoteles neu ist, so: »In der Kunsttheorie geht Aristoteles von der Lehre Platons aus, daß das Wesen des Kunstwerkes als ›Nachahmung‹ zu verstehen ist. Quelle der künstlerischen Nachahmung ist nach Aristoteles der Nachahmungstrieb, die dem Menschen eigentümliche Freude an Nachahmungen, die Aristoteles bezeichnenderweise auch dort feststellt, wo der nachgeahmte Gegenstand als solcher häßlich ist. Die Freude an der Nachahmung führt Aristoteles auf das Streben nach Erkenntnis zurück: In der Nachahmung wird das Dargestellte wiedererkannt, erschlossen, und dabei der dem Lernen eigentümliche Genuß gewonnen. […] Nachahmung kann [1.] die Gegenstände darstellen, wie sie sind, [2.] wie sie erscheinen und [3.] wie sie sein sollen. Hauptaufgabe der Kunst ist Darstellung des Seinsollenden, weswegen sie nicht so sehr das Einzelne als vielmehr das Allgemeine und das ideale Wesen der Dinge zum Vorbild nimmt.« (Fleischer 1989, S. 634)

Vor diesem Hintergrund ist mimesis zu verstehen als der direkt (von agierenden Figuren) ausgeführte, nachschaffende Modus, diegesis als der indirekt (durch eine Erzählinstanz vermittelte) nachschaffende Modus der Nachahmung. Beide zielen auf das ideale Wesen der Dinge und werden in der Erzählkunst zur Aneignung (nicht zur Imitation) der Wirklichkeit nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit angewendet. So wirkt auch laut Aristoteles das Scheitern eines Charakters (in der Tragödie) besonders eindrücklich, weil ihm trotz seiner herausragenden Eigenschaften, die der Grund sind, überhaupt von seinen oder ihren Taten zu berichten und ihn oder sie vom Publikum abheben, Fehler unterlaufen, die ihren Ursprung zugleich in diesen herausragenden Eigenschaften haben. So wird der Held/die Heldin zutiefst menschlich, sei die Geschichte noch so idealisiert oder fantastisch. Die Modi mimetisch und diegetisch erzeugen auf ihre jeweils eigene Weise den zu beobachtenden Genuss, der auch auf einem Lernprozess beim Publikum beruht.64 64

Höre hierzu den Vortrag von Arbogast Schmitt »Aristoteles’ Poetik. Grundlegung einer Theorie der Literatur in Europa« in der Veranstaltungsreihe des SFB 980 »Episteme in Bewegung«: http://www.sfb-episteme.de/Listen_Read_Watch/Audiomitschnitte/RV_Aristotelismen/1_ vortrag_schmitt/index.html [letzter Zugriff: 23.10.2019].

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Wie die Übersetzung von Aristoteles’ Poetik von Fuhrmann (1982), die Übersetzung und Kommentare von Schmitt (2008) und Fleischer (Fleischer 1989) zeigen, ist die oben geschilderte Bedeutung des Mimesisbegriffs um den für die Dramaturgie entscheidenden Aspekt der schöpferischen Teilnahme des Publikums und Lust am Lernen, (Wieder-)Erkennen und Sich-Erschließen der Welt zu erweitern. Mit der so gewichteten Terminologie kann, solange der seit Souriau geläufige Diegesebegriff außen vor bleibt, die besondere Qualität und Überzeugungskraft der sich im Film abwechselnden Modi der Nachahmung ausgedrückt werden. Für die Filmmusiktheorie sind nicht nur die Begriffe diegetisch und nicht-diegetisch aus Souriaus Vorstoß zur Diegese abgeleitet worden. Claudia Gorbman erwähnt mit Verweis auf Genette auch den Begriff meta-diegétic.65 Der Begriff soll eine weitere, untergeordnete Erzählinstanz bezeichnen, z. B. wenn eine Figur aus ihrer Perspektive von den Ereignissen erzählt und deren Ordnung verantwortet. In der aktuellen Filmmusiktheorie wird oft jene Musik damit bezeichnet, die (wie auch die Gedankenstimme) aus der subjektiven Perspektive einer Figur erklingt, d. h. »im Kopf«, als Gedanke, Erinnerung oder auditive Vision, z. B. Musik in Komponierszenen, die von anderen Figuren nicht gehört wird. Bei Genette bezeichnet meta-diegetisch den Modus, der als »Geschichte in der Geschichte« funktioniert, bei Wolf ­Schmid heißt dies »zitierte Welt« (­Schmid 2014, S. 46). Souriaus »diegetischen Raum« könnte man zur dramaturgischen Differenzierung der unterschiedlichen Wirkungsbereiche als imaginativen Handlungsraum bezeichnen und so den Begriff mimesis nicht nur als Nachahmung, sondern als »zeigende Darstellung« verstehen. Das Wortfeld Diegese/diegetisch könnte dann die Bedeutung von diegesis (»erzählende Darstellung«) behalten.66 Die Filmmusik in der Handlung (konventionell: diegetische Musik) könnte dann mimetische Filmmusik genannt werden, weil die Musik auditiv »gezeigt« wird (sowohl in der Ausführung durch Figuren als auch in jeder anderen Form, z. B. durch Wiedergabegeräte). Von außen kommende Filmmusik würde dann (allerdings genau anders herum als bisher üblich) als diegetisch bezeichnet werden, denn sie zeigt nicht, sondern »erzählt« und ist Teil des Berichts über die Ereignisse mit musikalischen Mitteln. Filmmusik, die nicht als Teil der Szene verstanden wird, gehört

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Vgl. zum Gebrauch von meta-diégétic auch: Michel Chion (1982/engl. 1994), The voice in cinema, S. 22, 166. Vgl. auch: S­ chmid (2014), Elemente der Narratologie, S. 7, Anm. 14, S. 8 f., S. 32, Anm. 26.

1.  Dramaturgie und Musik

dann logisch zur indirekten, berichtenden statt zeigenden Art der Nachahmung, verweist zugleich auf eine mal deutlich, mal weniger deutlich erkennbare, von außen steuernde Erzählinstanz. Bei Filmmusik, die sich wie z. B. beim underscoring im Genrekino oder beim mickey mousing in starkem Maße affirmativ zur Zeigehandlung verhält, zeigt sich sehr anschaulich, wie die soeben abgesteckte, zur derzeit üblichen Praxis umgedrehte Bedeutung der Terminologie die dramaturgische Bedeutung der Filmmusik zum Ausdruck bringen könnte. Denn mit dem Begriff »diegetisch« im ursprünglichen dramaturgischen Sinn würde das Offensichtliche erklärt werden können: dass externe Musik auch nachahmend ist. Da sie allerdings als von außen kommend verstanden wird, geschieht dies nur indirekt und wird ganz selbstverständlich als durch eine vermittelnde Erzählinstanz verantwortete Musik erkannt. Auch weniger affirmative Musik ist in dieser Logik nachahmend, hat aber gleichzeitig eine Tendenz zum Kommentar. Ben Winters (Winters 2010) schlägt für diese Unterscheidung externer Musik (die er extra-fictional music nennt) die Begriffe extra-diegetic music (ohne Bezug zu Aktionen der Protagonisten) und intra-diegetic music (mit [affirmativem] Bezug zu den Aktionen der Protagonisten) vor. Die theoriegeschichtlich gewachsenen Probleme mit dem Begriffspaar diegetisch/non-diegetisch werden durch immer neue Varianten eines Modells, dass den von vielen Seiten als problematisch angesehenen Diegesebegriff nutzt, nicht gelöst. Vor allem die daraus resultierende Illusion von Trennschärfe zwischen diegetisch und nicht-diegetisch ist als Problem oft diskutiert worden. So plädiert z. B. Gregg Redner für einen stufenlosen Übergang zwischen diegetisch und nicht-diegetisch (Redner 2011). Jeff Smith (Smith 2009) bemerkt zunächst völlig zutreffend, dass die durch Schnitte meistens nicht eindeutig zuzuordnenden Phänomene beim Einsatz von Musik im Film solange irrelevant sind, wie sie der Glaubwürdigkeit der erzählten Welt entsprechen oder zumindest nicht widersprechen. Er verwendet für diese dem Filmton eigene, variable Genauigkeit die Bezeichnung »fidelity of music« (Smith 2009, S. 15 f.), die auch Bordwell und Thompson nutzen. Auf sie beruft er sich auch bei der Unterscheidung von fabula und syuzhet und mahnt die Unterscheidung von narrativ und narration an (Smith 2009, S. 7), die auch bei Gorbman zu finden ist. Bei allen Schwierigkeiten, die aus der Übersetzung dieser Vokabeln ins Deutsche bestehen, kann gesagt werden, dass mit narrativ (als Substantiv: das Narrativ) die Anlage der erzählten Welt gemeint ist und aus meiner Sicht im Fabelbegriff enthalten ist. Narration (Narration als Vorgang) bezeichnet dagegen die strategisch dosierte Vergabe von Informationen für ein angestrebtes Verständnis der Geschichte durch ein ideales Publikum sowie die gezeigten, strukturierten und konkreten Handlungen.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Merkwürdig negativ bezeichnet Smith mit »temporal manipulation« und »spatially displaced sound« (Smith 2009, S. 8 ff. u. a.) die eigentlich selbstverständlichen Phänomene der filmischen Montage.67 Damit entfernt sich Smith noch mehr von der Dramaturgie der Filmmusik und den Forschungsfragen der Musikdramaturgie im Film, als es narratologische Konzepte bereits provozieren. Im Gegensatz zu Bordwell und Thompson, die diegetische Musik weiter differenzieren in internal diegetic (»subjective«) und external diegetic (»objective«) (Bordwell und Thompson 1979, S. 257), differenziert Winters – wie oben schon angedeutet – nicht die sogenannte diegetische Musik (fictional music), sondern die sogenannte non-diegetische Musik (extra-fictional music), und zwar in intra-diegetic, meta-diegetic und extra-diegetic (Winters 2010, S. 238). Nur Musik, die von den Protagonisten erzeugt oder gehört wird, ist diegetisch.68 Musik, die affirmativ ist, aber nicht von ihnen erzeugt oder gehört werden kann, nennt Winters intra-diegetisch (Winters 2010, S. 237). Dies wäre seine größte Änderung gegenüber dem kritisierten Modell, mit dem diese Musik vereinfachend als non-diegetisch bezeichnet würde. Meta-diegetisch sei Musik dann, wenn sie zu einer Passage erklingt, in der eine Figur berichtet (Winters 2010, S. 237, Anm. 60). Dies entspräche zwar Genettes Idee, widerspräche aber anderen Adaptionen, die auch Aspekte der subjektiven Wahrnehmung mit diesem Terminus einbeziehen, so z. B. auditive Analogien zum point of view.69 Die in Winters’ Artikel zu findende Gleichsetzung von nondiegetic music mit dem syuzhet und diegetic music mit fabula erzeugt bei Analysen aber viele Widersprüche. Die Ursache dafür liegt in der von Bordwell kolportierten Lesart der Begriffe fabula und syuzhet (ursprünglich aus der russischen formalistischen Literaturtheorie der 1920er Jahre), die Winters übernimmt, was noch separat diskutiert wird.70 Die im Ursprung begründeten Schwierigkeiten mit dem meiner Meinung nach ungeeigneten Begriffspaar diegetisch/non-diegetisch können durch Erweiterungen und Varianten dieses Konzepts nicht gelöst werden. Mit dieser These unterscheidet sich die hier ausgebreitete Kritik auch von bereits bestehender Kritik des narratologischen Vokabulars, wie sie bisher am umfassendsten von Guido 67

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Smiths Begriffe beschreiben das, was Kracauer als »asynchronen Ton« bezeichnete, vgl. Siegfried Kracauer (1960/dt. 1964), Theorie des Films: Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Gemeint sind dabei Varianten des off-Tons, die sich soweit von einer logisch zu verortenden Quelle entfernt haben, dass sie als auf einer anderen narrativen Ebene befindlich gelten könnten. Er folgt dabei der Definition von Diegese bei Branigan, der nur die den Figuren erreichbaren Dinge zur Diegese rechnet, vgl. Branigan (1992), Narrative comprehension and film. Siehe dazu und zu vielen weiteren Punkten der Diskussion zur Terminologie der Differenzierungen von diegetisch/non-diegetisch: Heldt (2013), Music and Levels of Narration in Film, S. 60 ff. Definition von Fabel und Sujet und ein Modell ihres Zusammenwirkens im Film werden in den beiden folgenden Kap. 1.1.6 (»Die ›Fabel‹ [mythos, story]«) und 1.1.7 (»Das Fabel-Sujet-Begriffspaar«) eingehender besprochen.

1.  Dramaturgie und Musik

Heldt formuliert und diskutiert wurde (Heldt 2013). Heldt weist bereits darauf hin, dass die von der Literaturtheorie kommenden narratologischen Kategorien bei der Adaption auf die Filmmusiktheorie nicht mit Aufgaben beladen werden dürfen, für die sie nicht gemacht sind (Heldt 2017, S. 81 f.).71 Wenn sich narratologische und filmologische Theorien und Vokabeln durchkreuzen (diegetisch/non-diegetisch mit den Konzepten narrativ und narration und mit fabula und syuzhet), bleibt unklar, ob die im Film gezeigte Welt (meist mit Diegese bezeichnet) der imaginierte Handlungsraum ist, d. h. der virtuelle Ort für die konkret ablaufende Handlung und weniger ein Universum, das – ähnlich dem Konzept der Fabel – den erzählbaren Teil einer Geschichte meint, dessen im Film sichtbare und hörbare Konkretisierung aber ein Merkmal vom Sujet wäre. Im einen Fall wäre diegetische Musik jene Musik des Handlungsraumes die eine dort zu findende szenische Ursache hat. Im anderen Fall wäre diegetische Musik jene Musik, die eine bestimmte Auswahl und Anordnung der Handlungselemente unterstützt, also eher die Fabel berührt. Beides ist für die Musikdramaturgie im Film von Bedeutung, kann aber durch die Unterscheidung diegetisch vs. nichtdiegetisch nicht angemessen zum Ausdruck gebracht oder differenziert werden. Die Bezeichnung »narrative film music« bei Gorbman bezieht sich eigentlich auf externe Filmmusik, die im zuletzt genannten Sinne der sogenannten Diegese zuarbeitet. Dennoch wird sie von Gorbman und vielen anderen als non-diegetisch bezeichnet. So unterläuft die Zuordnung diegetisch/non-diegetisch die oft referierte erzähltheoretische Basis bei Gorbman und einem Großteil der darauf aufbauenden Filmmusiktheorie. An zwei grafischen Veranschaulichungen narrativer Ebenen in literarischen Werken von Wolf ­Schmid (­Schmid 2014) wird das Problem der Bestimmung der verschiedenen Arten von Filmmusik mit dem Begriffspaar diegetisch/non-diegetisch besonders deutlich, denn im Film sind die Ebenen der Narration und die Fokalisation nicht in der präzisen Form, die Abb. 3 zeigt, sondern in flexibler oder fließender Form umgesetzt. Eine andere Konzeption, die S­ chmid vorgelegt hat, geht von der Auswahl, Anordnung und Konstruktion der Geschichte aus, um narrative Ebenen zu differenzieren. Abb. 4 zeigt unter anderem, warum der Begriff Diegese durch die Anwendung auf Film und Filmmusik durch Souriau, Bordwell / Thompson und 71

Auch andere Autoren und Autorinnen konstatieren dies, z. B. Neumeyer (2009), »Diegetic/ nondiegetic: A Theoretical Model« die sich widersprechende Terminologie (diegetisch = im Handlungsraum, aber diegesis = außerhalb des Handlungsraumes). Er verweist auch auf einen Diskurs im Forum der Online-Zeitschrift offscreen, der viele der hier angesprochenen konkreten Punkte bereits thematisiert: http://offscreen.com/view/soundforum_2 [letzter Zugriff: 28.10.2019].

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung konkrete/r Autor/in  konkrete/r Leser/in

abstrakter (impliziter) Autor  idealer Rezipient (unterstellter Adressat)

fiktive/r Erzähler/in  fiktive/r Leser/in

Figur 1  Figur 2

Literarisches Werk

Dargestellte Welt

Erzählte Welt

Zitierte Welt

Abb. 3: Narrative Ebenen und Instanzen und ihre Kommunikation nach: Wolf ­Schmid, Modell der Kommunikationsebenen, in: Elemente der Narratologie (de Gruyter Berlin/Boston 32014), S. 46.

Gorbman für die Filmmusiktheorie eher Probleme verursacht: Er ist nicht vereinbar mit den Kommunikationsebenen (Abb. 3) bzw. der Fokalisation und den narrativen Ebenen (Aufbau und Präsentation der Erzählung, Abb. 4). Zudem zeigt sich in der Übersicht von ­Schmid ein anderes, auch qualitatives anstatt nur quantitatives Konzept von Fabel und Sujet, als Bordwell / Thompson (und in der Folge viele andere) ihrer Filmtheorie zugrunde legen und das bereits seit einigen Jahrzehnten als zu eng konzipiert gilt.72 Konkret heißt das, dass es zwar nicht falsch ist, das Sujet als Teilmenge der Fabel zu verstehen. Die hier interessante Frage jedoch bliebe ungeklärt: Welche qualitativen Merkmale liegen den Auswahlprozessen zugrunde? Um die Wirkungsweise und damit Grundlagen der Filmmusik zu klären, hilft es zu verstehen, warum für die Filmerzählung Geschehnisse weggelassen bzw. welche Geschehnisse ausgewählt werden, um die Geschichte zu formen, nach welchen Kriterien das Arrangement der Teile und der Perspektive erfolgt und wie die Konkretisierung bzw. Präsentation der Erzählung mit filmi-

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Die Diskussion zu Fabel und Sujet erfolgt, wie oben schon gesagt, in den anschließenden Kap. 1.1.6 (»Die ›Fabel‹ [mythos, story]«) und 1.1.7 (»Das Fabel-Sujet-Begriffspaar«).

1.  Dramaturgie und Musik

Präsentation der Erzählung

O O O O O O O O

Sujet (discours)

Verbalisierung

Erzählung

O O O O O O O O

O

Geschichte

Raum

Geschehen

O O

O

Fabel (histoire)

Komposition (Linearisierung und Permutation) O O

O O

O O O O O O O O O

Auswahl (Geschehensmomente, Eigenschaften)

O O O O O O O O O O O O O O O O O O Zeit

Abb. 4: Zusammenwirken von Fabel und Sujet im Prozess von Auswahl, Komposition und Verbalisierung nach: Wolf ­Schmid, Idealgenetisches Modell der narrativen Ebenen, in Elemente der Narratologie (de Gruyter Berlin/Boston 3 2014), S. 225.

schen Mitteln Einfluss auf Auswahl und Anordnung hat. Daher lohnt ein Blick auf die Kombination des Begriffspaares mit den narrativen Ebenen in Wolf Schmids sogenanntem idealgenetischen Modell. Es ist zu erkennen, dass S­ chmid und mit ihm viele andere (wenn auch aus verschiedenen Gründen) auf den durchaus belasteten Fabelbegriff verzichten und er diesen durch die Differenzierung in Geschehen und Geschichte ersetzt. S­ chmid thematisiert aber die für die Fabel essenziellen qualitativen Kriterien zur Auswahl der Geschehnisse und deren Anordnung als Geschichte bzw. Handlung und nennt explizit den Vorgang der Komposition als Bindeglied beim Zusammenspiel von Fabel und Sujet. Der Erkenntnisgewinn, der mit der Terminologie der Erzähltheorie gezogen werden kann, betrifft die Grenzziehung zwischen narrativen Ebenen und Erzählinstanzen und erklärt die grundlegenden Prinzipien der Fokalisierung, die auch für Dramaturgie entscheidend sind. Auch nach reichlicher Prüfung ist nicht ganz

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

klar, inwieweit dies auf den Film übertragbar ist. So bezieht sich z. B. externe (non-diegetisch genannte) Musik mal bestätigend oder mal ergänzend auf die Zeigehandlung und steht nicht in Opposition zu ihr, wie der Begriff non-diegetisch suggeriert.73 Musik, Bild, Montage und Sprache können in der Kunstform Film unterschiedliche, sich sogar ergänzende Fokalisierungen umsetzen. Ebenso verhält es sich mit den durch Musik in Ergänzung zu den genannten anderen Mitteln hervorgerufenen Affekten und emotiven Wirkungen. Fokalisierung und die Dichotomie aus diegetisch/nicht-diegetisch bzw. Abstufungen, die sich aus den sich überkreuzenden Theorien ergeben, kommen den filmdramaturgischen und musikalischen Besonderheiten im Kino aus meiner Sicht nur begrenzt nahe. Für die Filmmusikforschung gäbe es mit der Besinnung auf ein modernes, allerdings auch noch filmästhetisch zu untermauerndes Konzept der Fabel methodische und terminologische Alternativen zur derzeitigen narratologischen Perspektive, da genau diese qualitativen Kriterien, die einen fertigen Film meist unsichtbar durchziehen, durch Filmmusik angesprochen bzw. wirksam werden können. Dazu müsste der aktualisierte Fabelbegriff mit der aristotelischen Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Nachahmung verbunden und die Unterscheidung poetischer Modi in dramatisch, episch und lyrisch mit ihren filmischen Gestaltungsmitteln sowie eine filmästhetische Auslegung von Montage, die über linear-narrative Formen hinausgeht, berücksichtigt werden. Zwar reflektiert Bordwell, der für die meisten Filmologen und Filmmusikforschenden direkt oder indirekt als Referenz dient, einige dieser Bereiche bereits (Aspekte der Poetik von Aristoteles, die Erzähltheorie der russischen Formalisten und die Montagetheorie Eisensteins), doch erhält seine herausgefilterte Essenz dieser Theorien in allen drei Fällen Reduktionen oder missverständliche Lesarten, die – wie gezeigt und im folgenden Kapitel noch konkretisiert wird – kritisiert werden können. Nicht zuletzt die umfassende Reflexion und Diskussion zur Narratologie, die von S­ chmid vorgelegt wurde (­Schmid 2014), sowie die filmspezifische Erneuerung der Konzepte Fabel und Sujet durch Wuss (Wuss 1990, Wuss 2009) und Eco (Eco 1973/1977, Eco 1979/dt. 1987) gaben und geben der Kritik neue Impulse. Einige der hier diskutierten narratologischen Begriffe bringen die filmspezifische Umsetzung einer Geschichte in umständlicher Weise zum Ausdruck. Eine Kennzeichnung narrativer Ebenen bzw. Instanzen und Räume ist im Film schwerer als in der Literatur vorzunehmen, weil die Präzision der sprachlichen Gram-

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Siehe dazu Kap. 4.6.9 (»Affirmation und Kontrapunkt als dramaturgisch vermittelte Beziehungen«).

1.  Dramaturgie und Musik

matik fehlt, weil unterschiedliche Medien an der Umsetzung beteiligt und zudem in ihrer Anordnung flexibler und dynamischer sind als in der Literatur. Für die Erklärung der dramaturgischen Bedeutung eines filmmusikalischen Phänomens erscheint mir die Terminologie damit ungeeignet. Zusammenfassend lassen sich die Probleme mit dem Begriffspaar diegetisch/ non-diegetisch so beschreiben: 1. Die Begriffswahl ist schon bei Souriau unglücklich, weil die an sich essenzielle Abgrenzung zwischen imaginativem Handlungsraum und den Mitteln, die ihn erzeugen, nicht durch die ursprüngliche Bedeutung von diegesis zum Ausdruck kommt. Es erfolgte daher eine Umwertung des Begriffs zu Diegese, wodurch das funktionierende dramaturgische System der Unterscheidung von mimesis und diegesis (im Sinne von Aristoteles »zeigende« und »erzählende Darstellung«) unbrauchbar wird, denn der Begriff Diegese nach Souriau trägt nun wesentliche Aspekte des mimetischen Modus der Darstellung in sich. 2. Die notwendige Unterscheidung zwischen diegesis und Diegese, die Genette vornimmt, verliert sich bei der Installation des Begriffspaares diegetisch/non-diegetisch. 3. Das Begriffspaar liefert Ursachen für die andauernden Schwierigkeiten, eine konsistente Theorie der auditiven Ebenen im Film zu entwickeln. Das selektive Herauslösen von Komponenten eines komplexen filmologischen (z. B. von Souriau) und eines komplexen narratologischen Modells (z. B. von Genette), die auf einen Dualismus reduziert werden, führen zu Widersprüchen in fast allen Modellen, selbst wenn Ergänzungen integriert werden. Weiteres Auffächern der Kategorien führt die Terminologie von den filmästhetischen Grundlagen (insbesondere vom praktischen wie auch ästhetischen Verständnis der Montage, die auch Ton und den Einsatz von Musik betrifft) weiter weg. 4. Das konstituierende filmästhetische Prinzip der Montage und die damit erzeugten spezifischen Phänomene der Filmmusik können mit dem Be­­ griffspaar kaum erfasst werden und erzeugen daher fast notwendigerweise negative Zusätze wie temporal manipulation und spatially displaced sound. 5. Die erzähltheoretischen Modelle für den Film, die zwischen narrativ (erzählter Welt) und narration (Handlung) unterscheiden und zusammen mit Fabel (fabula, Handlungsorganisation) und Sujet (syuzhet, Konkretisierung in der Aktion und einer gewählten Umgebung bzw. Zeit) filmische Narration erklären, bilden eine eigentlich sinnvolle Basis, die aber durch den widersprüchlichen Gebrauch des Begriffs »diegetische Musik« wieder unterlaufen wird (Welche Musik ist gemeint: im Handlungs-

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

raum = diegetisch oder aber Musik, die die Diegese stützt, aber nicht Teil des imaginativen Handlungsraumes ist?). 6. Ein tieferer oder gar dramaturgischer Sinn des Wortes nicht-diegetisch bzw. non-diegetic lässt sich kaum entdecken, außer dass er als Gegenpol fungieren soll. Die Alternative »extra-diegetisch« funktioniert als Gegenpol nur in wenigen eindeutigen Fällen, weil auch externe Filmmusik oftmals eng an das interne Geschehen im Handlungsraum gekoppelt ist. Im letzten Bearbeitungsschritt eines Films, bei der Filmmischung, wird deutlich, dass die Grenze zwischen interner und externer Musik im Film nur ein kategoriales Gerüst ist, das zugunsten der dramaturgischen Überzeugungskraft mal streng getrennt und mal wieder zurückgenommen werden kann. Das Spezifische des filmischen Erzählens liegt insbesondere in der Flexibilität bei der Verortung und Gewichtung alles Klingenden, die durch Vorgänge in der Filmmischung realisiert werden.

Ein Modell der auditiven Ebenen im Film müsste sich demnach den Interaktionen zuwenden, die einsetzen, sobald das kategoriale Gerüst aus interner und externer Zuordnung wieder wegfällt und der Film seine poetische Kraft und Eigenheit zeigt. Dieses Modell müsste selbstverständlich auch unterscheiden können, wann bei der Rezeption eine scharfe Trennung der Ebenen für die Dramaturgie eines Films wichtig ist.

1.1.6  Die »Fabel« (mythos, story)

In den folgenden beiden Kapiteln wird der ursprünglich sehr alte, aber auch in einem modernen Verständnis taugliche Begriff »Fabel« eingehender erläutert. Zudem soll das Fabel-Sujet-Begriffspaar neu diskutiert werden. Eine Systematisierung unterschiedlicher Fabelkonzepte und Beispiele für den Fabelzusammenhang und Sujetbezug der Filmmusik wird später in den Kapiteln 4.4. und 4.5 vorgenommen. Als Fabel kann die für die Wirkung einer Geschichte entscheidende Handlungskomposition bezeichnet werden. Bedeutende, theoretisch und praktisch untermauerte Fabelkonzepte stammen von Aristoteles (Aristoteles ca.  335 v. Chr./2008), Lessing (Lessing 1767/69), Brecht (Brecht 1964a) und Tarkovskij (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009). In der Filmpraxis werden individuelle Fabelkonzepte z. B. von Antonioni, Buñuel, Bergman u. a. Autorenfilmern realisiert oder aus literarischen Werken oder von Bühnenwerken übernommen. Deren

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1.  Dramaturgie und Musik

grundlegende Fabelideen finden sich nicht selten in filmisch erzählten Geschichten wieder. Da »Fabel« auch als literarischer Gattungsbegriff (z. B. Tierfabeln) verwendet wird, hier aber  –  den genannten Autoren folgend  –  in seiner dramaturgischen Bedeutung eingesetzt wird, soll dieser Terminus nun definiert und näher erläutert werden. Die Fabel (auch: Handlungskomposition; ursprünglich im Griechischen mythos, im Englischen meist story) ist als immaterielles, einheitsbildendes Prinzip zu verstehen und umreißt die Anlage der Geschichte bestehend aus Figur(en), Thema bzw. Konflikt und Grundzügen der Handlung.

Anders als die präsentierte Handlung (Sujet, discours oder plot), welche die Vorgänge, Begebenheiten und Tätigkeiten der Figuren zeigt, benennt die Fabel den inneren, spannungsvollen Zusammenhang aller Teile und der wesentlichen Vorgänge. Die Fabel enthält implizit den auf eine bestimmte Wirkung abzielenden Grund für die gewählte Disposition von Figur, Konflikt und Thema sowie essenzielle Anhaltspunkte zur Organisation des Ablaufs der Handlung. Dieser Zu­­ sammenhalt kann nicht nur über Chronologie und Kausalität hergestellt und nachvollzogen werden, wie etwa bei Bordwell und vielen anderen zu lesen ist. Wirkungsvolle Fabelideen beruhen vielmehr auf einem besonderen Blickwinkel auf die Geschehnisse. Ein besonderer Blickwinkel kann Nebenfiguren neu gewichten, Anachronien rechtfertigen oder nicht-logische Abläufe nach sich ziehen mit dem dramaturgischen Ziel, den Eindruck zu erwecken, dass die gewählte Disposition die passendste für die Geschichte oder neue Variante einer im Prinzip schon bekannten Geschichte sei. Die präsentierte Handlung konkretisiert Zeitsprünge lediglich, wohingegen die Fabel erklärt, weshalb sie vorgenommen wurden. Erst im Laufe des Geschehens erklärt sich einem Publikum der innere Zusammenhalt und kann als Fabel rekonstruiert werden. Eine kunstvolle Fabel bewirkt die spannungsvolle, zwingend oder folgerichtig erscheinende raumzeitliche Anordnung und Entwicklung der Vorgänge. Gerade wenn die epischen Stoffe der antiken Mythen in Dramenfassungen umgewandelt werden sollten, war eine pointierte und schlüssige Fabelidee die Grundlage für herausragende Wirkungen bei den attischen Dramenwettbewerben. In einer Fabel steckt das bindende dramaturgische Element für die Verknüpfung der Handlung(en), weswegen sie oft mit der Kausalkette gleichgesetzt wird. Die Fabel bestimmt aber auch jene Bindungskräfte, welche nicht nur die kausalen, sondern auch unbewusst bleibenden, nicht-logisch gereihten Motive und Handlungen verknüpft. Sie bestimmt die spannungsvollen Konstellationen aus Thema, Figur, Konflikt und Ablauf der

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Handlung. Darin eingeschlossen ist die Perspektivierung und der folgerichtige Sinn von chronologischer oder nicht-chronologischer Anordnung der Vorgänge. Im Einfall für eine Fabel stecken Disposition und Charakterisierung der Figuren, die Gründe für ihre Konflikte und die Grundrichtung dafür, wie sich die Handlung räumlich und zeitlich entfaltet. Die Fabel kann dabei bereits zentrale Elemente der Handlung enthalten, z. B. Wendepunkte (plot points). Daher ist auch der Begriff Plot im Sprachgebrauch zu finden, der allerdings die Gegenüberstellung von Fabel und Sujet (story und plot) unmöglich macht. Die Fabel trägt den inventionalen Kern der Geschichte in sich,74 z. B. einen Grundkonflikt. Sie bestimmt den generellen Blickwinkel auf das Geschehen bzw. die generelle Erzählperspektive so, dass die Erzählung spannungsvoll wirkt. Die Fabel beinhaltet die Grundlage für einen Konflikt und gibt ihm eine Richtung, sodass er – zumindest in der geschlossenen Form – folgerichtig zu einer glücklichen oder unglücklichen Lösung geführt werden kann. In offenen Formen gibt die Fabel den Rahmen, damit der Grundkonflikt oder das generelle Thema variiert anstatt durchgeführt werden kann. Eine Fabel lässt sich erst rückblickend gedanklich zusammensetzen und erscheint dann als auf »ihrer temporalen Achse entlang entfaltet« (Eco 1979/dt. 1987, S. 152). Die Fabel ist nicht die Handlung, sondern stellt den Handlungszusammenhang her. Tarkovskij fand für solche Bindungsgesetze im filmischen Erzählen die Formulierung »Arrangement von Beobachtungen« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 98), die vor allem für neuere, nicht-aristotelische Dramaturgien gelten sollte. Es wäre schwierig zu behaupten, die Elemente der Fabel in allen Fällen eindeutig benennen zu können. Dennoch kann eine überzeugend erzählte Geschichte meist auf einen solchen Kern der Erzählung zurückgeführt werden. Wenn man den künstlerischen Schaffensprozess des Erzählens vor Augen hat, kann die Erfindung einer Fabelidee als Prozess verstanden werden, der die zu erzählende Geschichte vom vor-künstlerischen Stoff durch Abstraktion, eine Auswahl von Begebenheiten bzw. durch Nicht-Ausgewähltes abgrenzt und so einen »erzählbaren Teil« der Welt erschafft.75 Schon die bewusst oder unreflektiert angewendeten Kriterien der Auswahl und Abstraktion erzeugen eine werkimmanente Kohärenz, die sich in einer Fabelidee konkretisiert.

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In frühen Übersetzungen der Poetik des Aristoteles wurde fabula auch als rerum constitutio bezeichnet. Schmitt (2008), Aristoteles: Poetik, S. 233. Vgl. auch das »idealgenetische Modell« der vier narrativen Ebenen von ­Schmid in: ­Schmid (2014), Elemente der Narratologie, S. 225.

1.  Dramaturgie und Musik

Das Fabelkonzept des Aristoteles für antike Tragödien, das in der Filmdramaturgie immer wieder Erwähnung findet, beruht bekanntlich auf dessen Beobachtungen bei einigen Autoren von Dramen, deren Werke in den öffentlichen attischen Dramenwettbewerben besondere Wirkung zeigten. Begebenheiten und Handlungen werden nach den Gesetzen der »inneren Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit« (Aristoteles 2008, S. 13; Kap. 9, 1451a35) komponiert, d. h. sie sind unter den Bedingungen der Mythostragödie kausal verbunden und werden – sich daraus ergebend – in einer raumzeitlich überschaubaren Einheit organisiert.76 Im Falle des Dramas bzw. der Tragödie ist nach Aristoteles die Handlungskomposition für die Konstitution gegenüber den Figuren vorzuziehen,77 welche die Handlungen zwar vorantreiben können, die aber nur als Teil der Fabel überhaupt eine Daseinsberechtigung haben (z. B. Ödipus in der Tragödie von Sophokles, dessen Geschichte zugunsten der Bauform des Dramas rückblickend erzählt wird). Aristoteles stellt dem die Epen gegenüber, die aufgrund ihres Modus der erzählenden bzw. berichtenden Darstellung (diegesis) anders funktionieren: Sie haben unbegrenzt Zeit und teils mehrere zentrale Figuren als konstituierende Kraft.78 Da der Film poetische Gattungsanteile von Drama und Epos enthält, wäre die Definition einer Filmfabel dementsprechend zu erweitern. Die Theoretiker der Neuzeit haben den Charakter der Fabel und die Bedeutung der Katharsis jeweils in ihrem Sinne interpretiert: im Barock und zur Zeit des aufkommenden Nationalismus im 19. Jahrhundert bei G. Freytag als Manifestation einer zentralen Macht und ihrer Repräsentanten, von Lessing als Weg zu einem aufgeklärten Geist und von Brecht, der die Fabel als zentrales dramaturgisches Element anerkennt, jedoch die Katharsis als zu überwindendes Konzept ablehnt, weil die für sie notwendige Einfühlung den Blick auf die änderbaren, verantwortlichen Umstände verstellt. Aristoteles selbst benutzte den Begriff mythos für das, was in der Regel heute mit dem dramaturgischen Begriff Fabel ausgedrückt werden kann. Erst in den lateinischen und französischen Übersetzungen der Poetik von Aristoteles in der Renaissance tritt der Begriff fabula überhaupt auf.79 Dass die Narratologie den

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Siehe dazu ausführlicher den Kommentar von Arbogast Schmitt zur Poetik des Aristoteles: Schmitt (2008), Aristoteles: Poetik, S. 323. Siehe den Kommentar von Schmitt (2008), Aristoteles: Poetik, S. 328. So z. B. in der Ilias, wo Homer die Geschichte vom Trojanischen Krieg in Rückblicken erzählt. Achilleus und seine inneren Widersprüche sind hier eine organisierte Komponente der Komposition. Daraus folgend lässt Homer die Geschichte im letzten Kriegsjahr beginnen, wo Achilleus’ Konflikt eskaliert. Vgl. Schmitt (2008), Aristoteles: Poetik, S. 222.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Begriff Fabel auch als Gattungsbegriff nutzt, schließt im Falle der Filmdramaturgie nicht aus, ihn wieder im dramaturgischen Sinne zu verwenden: »Nicht also um Charaktere nachzuahmen, lässt man {die Schauspieler auf der Bühne} handeln, sondern man umfasst die Charaktere durch die Handlungen mit. Daher sind die {einzelnen} Handlungen und der Mythos {als Einheit dieser Handlungen} das Ziel der Tragödie, das Ziel aber ist das Wichtigste von allem. Außerdem kann ohne Handlungen eine Tragödie überhaupt nicht zustande kommen, ohne Charaktere aber sehr wohl.« (Aristoteles 2008, S. 10; Kap. 6, 1450a20)

In der Übersetzung von Fuhrmann, der in seinen Kommentaren zur Poetik den Vorrang der Fabel auch als »Primat der Handlungsstruktur« (Fuhrmann 1982, S. 110) bezeichnet, klingt der Abschnitt so: »Der wichtigste Teil ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern Handlungen […]. Folglich handeln die Personen nicht, um die Charaktere nachzuahmen, sondern um der Handlungen willen beziehen sie [die Dichter, R. R.] Charaktere ein. Daher sind die Geschehnisse und der Mythos das Ziel der Tragödie; das Ziel ist aber das Wichtigste von allem.« (Fuhrmann 1982, S. 21)

Die Theorien zur dramaturgischen Kategorie Fabel bauen auf dem hier formulierten Vorrang der Fabel vor den Figuren auf. Dieser Sachverhalt ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass Erzähltheorien in einer Relation zu Relevanz und öffentlicher Wirksamkeit stehen, die eine Kunstgattung in der Gesellschaft hat. Besonders in der Anschaulichkeit des Dramas wird der Vorrang der Fabel gegenüber den Figuren deutlich: Ein Theaterstück sollte zwar eine Wirkung haben, die entstehenden Emotionen werden aber nicht um ihrer selbst willen hervorgerufen. Vielmehr wird dem Publikum die Gelegenheit gegeben, mitzuverfolgen, wie Konflikte erwachsen, Handlungen Affekte auslösen und diese sich auflösen, weil Konflikt und Handlungen zu ihrem logischen und letzten Ende geführt werden. Dieser Vorgang wird als Katharsis bezeichnet. Da Katharsis oft mit der Reinigung oder Läuterung von den dargestellten Affekten übersetzt wird, entsteht der Eindruck, dass allein dadurch, dass der Held oder die Heldin – gleichsam wie in einem Lehrstück – für uns ersatzweise leidet, die »Reinigung« von den Affekten möglich wäre.80 Kathartische Wirkungen sind aber eine Konsequenz der Fabel  –  auch daher der bei Aristoteles und anderen zu findende Vorrang der Fabel vor den Figuren. Mit anderen Worten: Katharsis ist möglich, weil sich für

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Vgl. die Aussagen von J. Lotman, die in Kap. 2.3.3 (»›Psychische Erholung‹ durch fiktive Lösungen«) zitiert werden.

1.  Dramaturgie und Musik

das Publikum ein Konflikt und die an ihn gebundenen und durch die konkrete Handlung ausgelösten Affekte dramaturgisch auflösen. Dieser Vorgang kann sogar zu Erkenntnis oder zumindest moralischer Erbauung führen. Da der umgangssprachliche, wissenschaftliche, aber auch philosophische Gebrauch der Begriffe Fabel und Mythos anders geprägt ist, sind beide Begriffsvarianten nicht unproblematisch. Daher wäre z. B. die Formulierung »Fabel als dramaturgische Kategorie« oder »Filmfabel« angebrachter. Im Englischen wird mal plot, meist story synonym für Fabel verwendet (Schmitt 2008, S. 233). Auch die aktuelle deutschsprachige Musikwissenschaft kommt zu nicht immer eindeutigen Varianten.81 Wolf ­Schmid hält dagegen, dass in den mehr als zweistufigen Modellen, die über die beiden Ebenen Fabel und Sujet hinausgehen, story der äquivalente Begriff für Fabel sei.82 Plot wäre dann das Äquivalent zum Sujet, wie auch Bordwell (Bordwell 1985, S. 50) meint. Die Regeln für ein Drama (als »ernste« Gattung) verfestigten sich seit der Renaissance.83 Zur Zeit der großen Zentralmonarchien führte dies aus ideologischen Gründen auch zum Paradigma der drei Einheiten Handlung, Zeit und Ort. Im Falle von Fabelkonstruktionen, die komplexer und weniger geradlinig oder kausal funktionieren, wenn Fabeln z. B. ein »eher rhizomatisches Diagramm« der Geschichten repräsentieren, wie Eco den Fabelbegriff erweitert (Eco 1979/dt. 1987, S. 153), wäre der Fabelauszug sehr schwierig zu bewerkstelligen und stellt dann eher eine Form der »kognitiven Annäherung« an die Narration dar (Wuss 1993/1999, S. 94). Anstatt die Architektur zur Dramatisierung (Chronologie oder Logik der Handlung) vorzugeben, kann bei solchen (Film-)Fabeln die Handlung assoziativ oder thematisch bzw. über variierte Motive zusammengehalten werden. Auch die Rolle der Filmmusik ist dramaturgisch schwerer zu bestimmen, wenn die Fabel eher ein abstrahierendes Organisationsschema bleibt und noch

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Hierauf wird zu Beginn von Kap. 1.2 (»Musikästhetische Perspektiven auf Musik und Erzählen«) näher eingegangen. Vgl. die Gegenüberstellung der Dichotomie Fabel  –  Sujet mit verschiedenen Drei-EbenenModellen, die entsprechende Umdeutungen der Begriffe vornehmen in: S­ chmid (2014), Elemente der Narratologie, S. 218–222. »Die scharfe Kritik, die man v. a. seit der Shakespeare-Rezeption im 18. Jahrhundert an der ›aristotelischen Nachahmungspoetik‹ geübt hat, geht auf die strikte Formalisierung dieser Regeln in den Poetik-Theorien von der Renaissance bis zur französischen Klassik zurück. Die über diese Thematik geführte Diskussion dreht sich vor allem um den Vorrang des (›klaren‹) Verstandes oder der Anschauung und des Gefühls, sie ist dadurch Teil der Entwicklung des Genie-Begriffs des 18. Jahrhunderts und hat mit der aristotelischen Problemstellung kaum zu tun. Was für Aristoteles wichtig war, hat im Grundsätzlichen Lessing schon richtig formuliert: ›Die Einheit der Handlung war das erste dramatische Gesetz der Alten; die Einheit der Zeit und die Einheit des Ortes waren gleichsam nur die Folgen aus jener‹ (Hamburgische Dramaturgie, 46. Stück)«. Schmitt (2008), Aristoteles: Poetik, S. 323.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

weniger Niederschlag in der konkret präsentierten Handlung findet als bei klassischen bzw. geschlossenen Fabelkonzepten. Um das Generelle einer Fabel und das Konkrete des Sujets zu veranschaulichen, kann der Vergleich von Original und Remake dienen sowie umgekehrt ein Vergleich von Filmen herangezogen werden, die zwar unterschiedliche Geschichten erzählen, aber auf der gleichen Anlage bzw. Fabelidee beruhen. Das jeweilige Sujet, das die Details der erzählten Welt und ihre Spielregeln bestimmt, kann trotz gleicher Fabelidee sehr verschieden sein. Historisch rückwärts lässt sich z. B. folgende Reihe bilden: Il Mercenario (I/SP 1968, R. Sergio Corbucci) ist eine auch im Sujet sehr ähnliche Variante des viel bekannteren Films Per un Pugno di Dollari (D/SP/I 1964, R. Sergio Leone). Leone aber hat die Fabel seines Films von Kurosawa und dessen Film Yôjinbô ( J 1961) übernommen und zudem fast alle Szenen kopiert, sodass von einem Remake gesprochen werden kann. Der daraus resultierende Rechtsstreit konnte allerdings nicht gelöst werden, weil Kurosawa nicht nachweisen konnte, nicht selbst die Fabel-Idee aus Goldonis Stück Arlecchino servitore di due padroni (Der Diener zweier Herren) kopiert zu haben.84 So unterschiedlich die drei Milieus sind und die präsentierten Handlungen (Sujet) mal ganz unterschiedlich, mal fast identisch sind, erwächst der bestimmende Ansatz dafür, wie die Geschichten erzählt werden, jeweils aus der gleichen Fabelidee und dem daraus resultierenden dramaturgischen Potenzial. Ein weiteres Beispiel: Die frappierende Fabel-Idee einer Kurzgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts, An Occurrence at Owl Creek Bridge (Der Zwischenfall auf der Eulenflussbrücke) von Ambroce Bierce, wurde ebenfalls mehrfach in Filmfabeln überführt, so für Carnival of Souls (USA 1962, R. Herk Harvey, M. Gene Moore). Diesen Film hat Christian Petzold für seinen Film Yella (D 2007, R. Christian Petzold, M. Stefan Will) als Inspiration gesehen.85 In Yella sind fast alle zentralen Handlungselemente aufgegriffen worden. Ähnliche Fabelkonstruktionen und Motivkomplexe wie in An Occurrence at Owl Creek Bridge von Ambrose Bierce liegen auch den Filmen Stay (USA 2005, R. Marc Forster), Mulholland Drive (F/USA 2001, R. David Lynch, M. Angelo Badalamenti) und A beautiful Mind (USA 2001, R. Ron Howard, M. James Horner) – in dessen erster Hälfte – zugrunde. Die Filme beziehen einen Großteil ihrer Spannung bereits aus der Anlage, mit anderen Worten: aus der Fabelidee. Sie beruht darauf, dass ein Großteil der Vorgänge sich als im Kopf der Figur abspielende Handlung erweist. Diese Fantasiewelt bzw. subjektive Perspektive kollidiert plötzlich (An Occurrence

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Siehe: Christopher Frayling (2000), Sergio Leone: Something to do with death, S. 148 f. http://www.taz.de/?id=archivseite&dig=2007/02/15/a0326 [letzter Zugriff: 28.10.2019].

1.  Dramaturgie und Musik

at Owl Creek Bridge) oder nach und nach (Yella, Stay, Mullholland Drive) mit der als objektiv geltenden Perspektive und erzeugt Spannung sowie Überraschung beim Umschwung. Der Filmwissenschaftler Peter Wuss entwickelte ein Modell der filmischen Narration, welches das Konzept Fabel in den wissenschaftlichen Diskurs nicht nur aufgenommen, sondern filmisch geprägt und für neuere Erzählformen geöffnet hat. Er verbindet Narratologie und klassische Dramaturgie und erweitert den aristotelischen Fabelbegriff, um ihn für den Film anwenden zu können (Wuss 1992, Wuss 1993/1999, Wuss 2005, Wuss 2009). Das Verständnis des Begriffspaares Fabel und Sujet von Wuss sieht im Detail anders aus als Thompsons und Bordwells Adaption der russischen formalistischen Terminologie. Dramaturgie, Narratologie und Filmästhetik fließen in sein Modell der Strukturbildung und der Wirkungsmechanismen filmischer Narration ein. Seine Untersuchungen sind außerdem durch Ansätze und Kategorien aus Psychologie und Emotionsforschung geprägt. Mit all diesen Disziplinen sind im Kontext der Filmdramaturgie antike, klassische und moderne Terminologie vereint und beeinflussen damit seinen Fabelbegriff: »Die Fabel orientiert sich, wie Lessing es in seiner Interpretation des Aristoteles nannte, an ›Ketten von Ursachen und Wirkungen‹. […] Im Rahmen meines Modells handelt es sich hier eindeutig um konzeptuell geleitete Strukturen, die sich beim Erzählvorgang auf die Kausal-Ketten zwischen den dargestellten Ergebnissen stützen. Damit wird auch erkennbar, dass die traditionelle Dramaturgie im Grunde generell auf Überlegungen beruht, die sich an diesen Strukturtyp heften. Ihre hermeneutische Verfahrensweise legt nahe, den roten Faden des Films als eine homogene Erscheinung aufzufassen, als einen bewusst erlebten Sinnzusammenhang, der sich mit der Kausalkette der Geschehnisse zu entrollen scheint. Das vorgeschlagene Modell hingegen rechnet damit, dass der rote Faden der Filmgeschichten inhomogen und in sich differenziert ist, also potentiell auch unbewusste Komponenten enthalten kann, ja gelegentlich sogar auf solchen beruht. Eine umfassende Narrativik des Films hätte jedenfalls auch andere Verknüpfungsprinzipien als die Ketten von Ursachen und Wirkung in Erwägung zu ziehen und sie auf ihre Fähigkeit zur Kohärenzbildung zu überprüfen, etwa solche, die auf Strukturangebote im Perzeptions- und Stereotypenbereich beruhen.« (Wuss 1993/1999, S. 91)

Fabeln mit Kausalketten gehören im Modell von Peter Wuss zu den »konzeptgeleiteten« Strukturen mit maximaler Auffälligkeit. Die »perzeptionsgeleiteten« Strukturen beruhen auf unbewusst hergestellten Zusammenhängen mit zunehmender Auffälligkeit. Nach Wuss haftet diesem Strukturtypus eine »bemerkens-

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

werte sinnliche Kraft« (Wuss 1993/1999, S. 58) an. Filmfabeln, die mehr auf perzeptionsgeleiteten Strukturen basieren, reihen z. B. Motive eines gemeinsamen Themas aneinander. Wuss führt dafür den Begriff der »Topik-Reihe« bzw. »topikalen« Reihe ein.86 In einer offenen Handlungskomposition werden Ereignisse durch mehrfache Wiederholungen und dabei unbewusst ablaufende Vergleiche und Invariantenbildung semantisch stabilisiert, von ihrer Vordergründigkeit abgelöst und im Sinne des Themas der Geschichte verallgemeinert. Bei Tarkovskij (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009) findet sich ein weiteres offenes Konzept der Fabel, in welchem die »Logik des Poetischen«87 den Zusammenhalt herstellt und bei welchem über Assoziationen die Beziehung zwischen den Handlungselementen und zu einem generellen Thema entsteht. Eine Filmfabel nutzt laut dem Modell von Wuss für die Strukturbildung insgesamt drei Basisformen der Narration und Arten der Verknüpfung und Kohärenz, die je nach Geschichte oder Stil unterschiedlich stark gewichtet auftreten können: 1. Stereotypengeleitete Strukturen beruhen auf permanenten kulturellen Lernprozessen. So können mit wenigen Mitteln, die mitunter auf Klischees reduziert werden, inhaltliche Komplexe abgerufen werden, die eine variable Stabilität aufweisen. So entstehen Stile und Gattungen, die durch Wiederholungen im kulturellen Repertoire verankert sind. 2. Konzeptgeleitete Strukturen sind narrativ wirksame Ereignisse, die singulär in einem Film und dessen Handlungslogik funktionieren. Mit ihnen lassen sich Kausalketten bilden, ohne die eine traditionelle Erzählung kaum auskommt. Bei Wiederholungen von konzeptgeleiteten Strukturmomenten entstehen allerdings Redundanzen, die mitunter als Spannungsabfall empfunden werden. Daher bleiben Kausalketten nur dann interessant, wenn in einen solchen Handlungsablauf weitere, meist konventionelle Strukturelemente wie Intrige und Gegenintrige, Handlungsumschwünge (plot points) und retardierende Momente zu einer auf das Ende hin orientierten Spannungskurve integriert sind.

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Er bezieht sich v. a. auf Umberto Eco, der den Begriff »Topik« sowohl allgemeinsprachlich vom englischen Wort »topic« als auch vom griechischen Wort »topos« der antiken Rhetorik herleitet, vgl. Umberto Eco (1979/dt. 1987), Lector in fabula: Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. Filme wie Ariel (FIN 1988, R. Aki Kaurismäki) oder In the Mood for Love (HONGKONG/F 2000, R. Wong Kar-Wai) basieren auf solchen Topik-Reihen. Siehe hierzu: Peter Wuss (1992), »Der Rote Faden der Filmgeschichten und seine unbewußten Komponenten: Topik-Reihen, Kausal-Ketten und Story-Schemata – drei Ebenen filmischer Narration«, in: montage AV sowie: Wuss (1993/1999), Filmanalyse und Psychologie: Strukturen des Films im Wahrnehmungsprozess. Siehe hierzu ausführlich: Peter Rabenalt (2011), Filmdramaturgie, S. 255 ff.

1.  Dramaturgie und Musik

3. Perzeptionsgeleitete Strukturen sind im Gegensatz zu den beiden anderen Typen wenig evident und bedürfen sogar der Wiederholung, um zunächst unbewusste Prozesse zur Aufschlüsselung der Vorgänge in Gang zu setzen, die nach und nach ins Bewusstsein treten. So entstehen TopikReihen, die in offenen Erzählformen Strukturen herausbilden, die als Ersatz für eine meist fehlende offensichtliche Handlung bzw. Handlungslogik dienen.88 Auch für neuere Dramaturgien und Filmdramaturgie ist der Fabelbegriff anwendbar, wenn er nicht nur auf die Kausalkette und ihre raumzeitliche Organisation begrenzt bleibt, was Wuss (Wuss 1992, Wuss 1993/1999, Wuss 2009) und Eco (Eco 1973/1977, Eco 1979/dt. 1987) belegen. Das Universelle des Fabelbegriffs, das ihn für Filmfabeln geeignet werden lässt, liegt in der Möglichkeit, darunter ganz unterschiedliche Bindungsgesetze, Strukturtypen und Wechselbeziehungen zwischen Figur, Konflikt und Handlung zu verstehen. So ergibt sich die Fabel als ein Prinzip, bei dem sich verschiedene grundlegende Fabeltypen unterscheiden lassen. Die Eigenart und Entfaltungsformen einer Filmfabel sind insofern mediumspezifisch, weil sie durch Zusammenwirken visueller und auditiver Mittel mitbestimmt werden und inhomogene, in sich differenzierte Anteile einschließen. Das Konzept der Fabel eignet sich für die Filmanalyse und Filmmusiktheorie insbesondere deswegen, weil der »ganzheitliche Zusammenhang des Kunsterlebens im Auge […] behalten« werden kann, »während man Teilmomente der Komposition betrachtet […]. Die Einsicht in die Dialektik von Teil und Ganzem wurde erleichtert durch das Zustandekommen von Sinnbezügen, die zur Kohärenz des Werkes führten, zugleich nachvollzogen, vergegenwärtigt und erklärbar gemacht.« (Wuss 1990, S. 91)

Dass für all die genannten Komponenten ein alternativer Begriff zu Fabel zur Verfügung stünde, ist mir bisher nicht bekannt. Trotz des historischen Ballasts soll der Begriff Fabel daher für die Musikdramaturgie im Film Verwendung finden.

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Barbara Flückiger kritisiert den Begriff »Perzeptionsgeleitete Strukturen« für den Kontext des Sound Designs: »Aus meiner Sicht muss der Begriff jedoch revidiert werden. Die Reihung perzeptiv ähnlicher Reizstrukturen ist nur ein Aspekt einer vorwiegend an der sensorischen Dimension ausgerichteten Rezeption. Aspekte wie Klangfarbe, Material, Stille oder Lautstärke werden auch ohne Reihung hauptsächlich oder zumindest teilweise im perzeptiven Modus verarbeitet.« Flückiger (2001/2007), Sound Design, S. 292. Flückiger schlägt den zeichentheoretischen Begriff »Isotopie« vor, der allerdings das Strukturelle, das sich in der Filmform auf besondere Weise entfaltet, außer Acht lässt. Da sich die beschriebenen Phänomene zudem nicht ausschließen bzw. widersprechen, würde ich in Ermangelung eines geeigneteren Begriffs bei »Perzeptionsgeleitete Strukturen« bleiben.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

1.1.7  Das Fabel-Sujet-Begriffspaar

Fabel und Sujet sind als dialektisch funktionierendes Paar zu verstehen, bei dem die Fabel das abstrakte, einheitsstiftende Prinzip zur raumzeitlichen Handlungsorganisation einerseits und das Sujet die Auswahl möglicher Motive und konkrete Ausgestaltung unter den äußeren und medialen (z. B. filmischen) Bedingungen andererseits darstellt. Der Begriff »Sujet« wird hier also nicht in der auch mit »Milieu« zu verstehenden Bedeutung verwendet, auch wenn es bezüglich der Konkretisierung der Handlung und ihrer visuellen Erscheinung im Film eine Schnittmenge gibt. Die Fabel ist materiell kaum präsent und korrespondiert nur in wenigen, aber entscheidenden Momenten mit der offensichtlichen Handlung. Im Sujet konkretisiert sich die Handlung, die in ihrer Grundrichtung der Fabel folgt. Das Sujet bestimmt aber die konkreten Bedingungen und die äußere Erscheinung der Vorgänge. Léon Moussinac charakterisierte in der frühen Filmtheorie das Sujet als ein einen »Vorwand« gebendes »visuelles Thema« (Moussinac 1925, S. 77). Hierauf kann wiederum ein Grundkonflikt, der durch die Fabel bestimmt wird, aufbauen, denn das Sujet liefert eine konkrete Variante für die den Konflikt auslösende Grenze. Sie zeigt die konkrete Seite eines in der Fabel nur abstrakt angelegten Konfliktes und wie er durchgeführt wird. Jurij Lotman beschreibt die Grenzen, die das Sujet vorgibt, genauer und lässt die dramaturgische Relevanz erkennen: »Gerade die Überschreitung einer Verbotsgrenze bildet bedeutungstragende Elemente im Verhalten einer Person, d. h. das EREIGNIS [H. i. O.]. Da die Zweiteilung des Sujetraums durch eine Grenze ja nur die elementarste Form der Gliederung darstellt (viel häufiger haben wir es mit einer Verbotshierarchie unterschiedlicher Bedeutungshaltigkeit und unterschiedlichen Werts zu tun), wird die Durchbrechung der Verbotsgrenzen in der Regel nicht als einmaliger Vorgang, als Ereignis, sondern als eine Kette von Ereignissen, als Sujet realisiert.« (Lotman 1977, S. 102)

Im Märchen sind oft Reichtum und Armut, Standesgrenzen, Gut und Böse solche sujetbedingten Grenzlinien. Im Modell der Heldenreise wird besonders anschaulich, wie eine Fabel selbst schon universelle Grenzlinien und Gesetze beinhaltet, diese aber in unterschiedlichen Sujets bzw. Handlungen individuell umgesetzt werden können.89 Generell ließe sich von charakteristischen, den Figu-

89

78

Siehe Kap. 4.4.4 (»Heldenreise«).

1.  Dramaturgie und Musik

ren konkret zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen sprechen, wenn die Bedeutung des Sujets beschrieben werden soll. Einen wesentlichen Einfluss auf die Begriffsprägung hatte die russische Literaturtheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auf die auch Bordwell zurückgreift. Er verwendet sogar die englisch umschriebene russische Aussprache des ursprünglich französischen Wortes Sujet (sjužet → syuzhet). Die russischen Formalisten führten zur genaueren Erläuterung dessen, was eine Fabel ausmacht, den Begriff des »Motivs« ein, benannten Auffassungen darüber, wie Motive verknüpft werden und installierten das Fabel-Sujet-Begriffspaar. Wie S­ chmid darstellt, changieren aber die Bedeutungen dieses Begriffspaares (­Schmid 2014, S. 205–222). Das trifft auch auf die vonseiten der französischen Strukturalisten gebildeten Analogien histoire und discours (Todorov und Jakobson 1966) zu, die zur Überwindung der in dieser Dichotomie begründeten Reduktionen entwickelt wurden und auch zu Genettes Ideen zur Narratologie führten (Kuhn 2011, S. 128–131). Immer wieder wird auch Chatman in der Literatur- und Filmtheorie zitiert. Er definierte story (analog – aber nicht identisch – zu Fabel) und discourse (analog – aber nicht identisch – zu Sujet) vereinfachend so: »In simple terms, the story is the what in a narrative that is depicted, the discourse the how. [H. i. O.]« (Chatman 1978, S. 19). Genette prägte zudem analog – aber nicht identisch – zu Sujet den Begriff récit (Genette 1972/dt. 1994).90 Im Sinne der russischen formalistischen Theorie der 1920er Jahre bildet die Fabel ein Schema für die vom Erzählmedium unabhängigen Ereignisse. Das Sujet bildet dagegen ein Schema für die Ausarbeitung des Werkes. Wie S­ chmid darlegt, gab es schon von Anfang an grundsätzliche Probleme beim Fabel-Sujet-Begriffspaar, speziell dabei, ob das Sujet auch die mediumspezifischen Mittel enthält: »Die handliche Fassung, die Tomaševskij dem formalistischen Fabel-Sujet-Paar gab, kann nicht das grundsätzliche Problem verdecken, das der Dichotomie von Anfang an innewohnte, nämlich die Ambivalenz beider Begriffe. Der Fabelbegriff oszillierte zwischen zwei Bedeutungen: (1) Material im Sinne des vorliterarischen Geschehens, (2) mit Anfang und Ende versehene und auch intern strukturierte Folge von Motiven in ihrem logischen, kausal-temporalen Zusammenhang. Der Sujetbegriff schwankte zwischen den Bedeutungen (1) energetische Kraft der Formung, (2) Resultat der Anwendung verschiedener Verfahren. In der zweiten Bedeutung blieb unklar, welche Verfahren Anteil haben sollten und in welcher Substanz das Sujet zu denken sei, ob es bereits als in der Sprache der Kunst (der 90

Vgl. hierzu auch die tabellarische Übersicht, in der die folgenden Begriffspaare mit Quellenangaben gegenübergestellt werden: Fabel und Sujet bzw. histoire und discours bzw. histoire und récit bzw. story und text bzw. fabula und story/text bzw. acción und relato/discurso; zu finden bei: Wolf ­Schmid (2014), Elemente der Narratologie, S. 222.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung Literatur, des Films, der Musik usw.) formuliert oder als medial noch nicht substantiierte Struktur vorgestellt werden müsse.« (­Schmid 2014, S. 218)

Thompson und Bordwell schließen die mediumspezifischen, strategisch eingesetzten Mittel im Begriff syuzhet nicht mit ein, sondern eröffnen dafür eine neue Kategorie: style (Bordwell 1985, S. 49 f.). Die Definitionen von Fabel, Sujet und style lauten bei Bordwell demnach so: »The imaginary construct we create, progressively and retroactively, was termed by Formalists the fabula (sometimes translated as ›story‹). More specifically, the fabula embodies the action as a chronological cause-and-effect chain of events occurring within a given duration and a spatial field. […] A film’s fabula is never materially present on the screen or soundtrack. […] The syuzhet (usually translated as ›plot‹) is the actual arrangement and presentation of the fabula in the film. […] ›Syuzhet‹ names the architectonics of the film’s presentation of the fabula. […] Logically, syuzhet patterning is independent of the medium; the same syuzhet patterns could be embodied in a novel, a play, or a film. […] ›style‹ simply names the film’s systematic use of cinematic devices. Style is thus wholly ingredient to the medium. Style interacts with syuzhet in various ways; […]« (Bordwell 1985, S. 49–50)

Auffällig ist hier die eingrenzende Auffassung davon, dass die Fabel lediglich die Einheit der Handlung als raumzeitlich geordnete Kausalkette verkörpere. Bordwell relativiert damit den noch grundsätzlicheren Charakter der Fabel. Er blendet in der Rückbesinnung auf die dialektische Konstruktion des Begriffspaares auch die interne Diskussion der russischen Formalisten und späterer Theoretiker (To­ dorov und Jakobson 1966, Eco 1973/1977, Lotman 1977) aus. Gleichzeitig verliert sich das Potenzial dieses dialektisch interagierenden Begriffspaares, wenn das Sujet als eine Teilmenge der Fabel verstanden wird. Auf Grundlage von Bordwells Lesart von Fabel und Sujet in seinem filmnarratologischen Modell entsteht eine Bedeutungsverschiebung. Der Begriff Fabel bzw. fabula bezeichnet nicht mehr das Prinzip und nicht die qualitativen Merkmale, nach welchem die relevanten Motive von den möglichen Motiven für die Organisation der Handlungskomposition ausgewählt und angeordnet werden. Dann wären die präsentierten Handlungen (das Sujet) lediglich die Teilmenge von etwas Größerem: der Fabel. Diese Abgrenzung unterscheidet also hauptsächlich quantitativ. Als qualitatives Kriterium bleibt bei dieser Deutung des Begriffs Fabel nur die Kausalkette. Das Prinzip der Auswahl von Motiven, aus denen dann eine Handlung zusammengesetzt wird, ist aber ein entscheidendes qualitatives Merkmal, ohne das der Handlungszusammenhang, vor allem dann, wenn er ohne

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1.  Dramaturgie und Musik

Kausalkette hergestellt wird, nicht beschrieben werden könnte. Der Begriff Fabel geht bei Bordwell u. a. dafür verloren zu erklären, warum die Auswahl der Motive in einer bestimmten Weise erfolgte. Zugleich erhält der Fabelbegriff mit der Prägung »kausal-temporale Ordnung« eine Überschneidung mit dem Diegesebegriff. Mit einem so geprägten Diegesebegriff kann zusammen mit der Terminologie aus Fabel und Sujet anscheinend nicht konsistent gearbeitet werden. Daher hat sich Souriau wohl von vornherein auch nicht auf das Begriffspaar (fable/fabula und sujet) eingelassen. Genette folgte Todorov und bediente sich eines neuen Begriffs für Fabel: histoire. Mit der Übertragung auf den Film ist diegetische Filmmusik im Sinne Bordwells und Gorbmans eigentlich ein Widerspruch: Die präsentierte Handlung (Sujet) ist eine Teilmenge der Diegese. Die Diegese wiederum ist das übergeordnete Prinzip, das in dieser Lesart allerdings Gemeinsamkeiten mit der Fabel hat. Verkürzt lässt sich der Widerspruch bei Bordwell so darstellen: Fabula = kausal-temporale Anordnung möglicher Handlungen ≈ ­ iegese → diegetisch = Auswahl und konkretisierte Präsentation D der Handlung = syuzhet. Zwar hat schon Gorbman die Schwierigkeiten bei der Übertragung des Begriffs Diegese auf den Film thematisiert (Gorbman 1987, S. 20–22), doch ihn deswegen nicht fallen gelassen. So greift sie zur Klärung dieser Schwierigkeiten auf die Differenzierung zwischen narration und narrative (als Substantiv) zurück. Die Bedeutung der Begriffe Diegese bzw. diegetisch, wie sie auch für die Analyse von Filmmusik relevant ist, wird dadurch allerdings nicht klarer, die Begriffe nicht aussagekräftiger. Die inzwischen lange geführte Diskussion zur Terminologie verdeutlicht dies. Bei Auslassung des Diegesebegriffs (nach Souriau u. a.) und mit der aristotelischen Bedeutung von Fabel bzw. mythos ergibt sich ein einfacheres, für den Film taugliches und konsistentes System, das erlaubt, das dialektische Begriffspaar Fabel und Sujet konstruktiv weiter zu verwenden: Fabel (mythos) = einheitsbildendes Prinzip (abstrakt, Anlage, Kriterien für Auswahl) versus diegetisch (diegesis) + mimetisch (mimesis) = Modi der Nachahmung von Handlungen mit mediumspezifischen Mitteln → Sujet (konkret, Ausarbeitung, Präsentation). 81

Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Auch das Wirken der filmischen Montage führt in Bordwells Konzept zu Widersprüchen bei der Zuordnung zu seiner Terminologie. Montage ist ein mediumspezifisches Mittel und würde daher in seiner Systematik dem style zugeordnet werden. Da aber die Präsentation der Handlung durch Montagetechniken erfolgt, müsste sie zugleich ein Aspekt vom syuzhet sein. Filmische Montage ist zudem mehr als die linear-narrative Konstruktion des Handlungsraumes und könnte als Mittel der spezifischen Entfaltung der Fabel gelten. Sie müsste daher ebenso zur Kategorie der fabula gerechnet werden. Offene Erzählformen werden manchmal »sujetlos« genannt, also ohne eigentliche Handlung.91 Die Ereignisse (Handlungen) sind durch die Abstraktion eines Themas verknüpft und bedeuten nicht zwangsläufig das, was sie zeigen. Konfliktkonstellationen, die sich aus einem Sujet ergeben würden (z. B. bei der Liebesgeschichte eines Paares), werden bei sujetlosen bzw. offenen Erzählformen und Fabeltypen bewusst nicht dafür verwendet, die Handlung voranzutreiben (z. B. eine dritte Person bringt das Gefüge der Paarbeziehung durcheinander). Vorschnelle Prognosen und Erwartungen führen auf einen falschen Weg oder zur falschen Interpretation der Vorgänge. Offene Erzählformen leuchten das Wesen ihrer Protagonisten und deren Lebensumstände aus. Ein vordergründiger Konflikt, der als Antrieb der Handlung benötigt wird, würde hier nur ablenken und die Lücken, die in einer solchen Erzählung bleiben, mit zu einfachen Antworten füllen. Handlungen und Ereignisse, deren Bedeutung manchmal nur erahnt werden können, reihen sich in offenen, sujetlosen Erzählformen so aneinander, dass sich oft erst am Ende ein Netzwerk der verwendeten Motive erschließt. Mit diesem Netzwerk der Motive müssen sich die Rezipierenden in offenen oder sujetlosen Erzählformen in Beziehung setzen. So entsteht ein Zusammenhang mit mehreren Deutungsmöglichkeiten. Das Fabel-Sujet-Begriffspaar kann in einer modernisierten Variante, die flexibel auf unterschiedliche Erzählformen anwendbar ist, für die Filmmusikforschung produktiv werden. Veröffentlichungen, die Fabel und Sujet für Untersuchungen zur Filmmusik nutzen, sind bisher selten und weisen nicht alle die gleiche Lesart dieser Konzepte auf.92 Royal S. Brown gebraucht mit »Mythos« die im aristoteli91 92

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Wuss (1993/1999), Filmanalyse und Psychologie: Strukturen des Films im Wahrnehmungsprozess, S. 119 f. Er nennt als Beispiele für solche »sujetlosen Fabeln« Filme von Antonioni und Kaurismäki. Zofia Lissa (1965), Ästhetik der Filmmusik; Royal S. Brown (1994), Overtones and undertones: Reading film music; Peter Rabenalt (2005), Filmmusik: Form und Funktion von Musik im Kino; Jeff Smith (2009), »Bridging the Gap: Reconsidering the Border between Diegetic and Nondiegetic Music«, in: University of Illinois Press [Hg.], Music and the Moving Image, Ben Winters (2010), »The non-diegetic fallacy: film, music, and narrative space«, in: Music & Letters 91(2).

1.  Dramaturgie und Musik

schen Sinne korrekt übersetzte Vokabel. Seine Verwendung des Wortes mythos changiert zwar, enthält aber wesentliche Aspekte, die ich im modernisierten Konzept der Fabel sehe, und er erinnert daran, dass die englischsprachige Erzähltheorie dafür das Wort story verwendet: »One thing that all of my uses of the concept of myth have in common, however, is the element of the paradigmatic. In other words, the degree to which a given character, object, or situation escapes from the moment of time and piece of space in which he/she/it appears in a given narrative (keeping in mind that mythos = story) to link with other characters, objects, and situations from other narratives, and the degree to which that character, object, and/or event escapes from a causal or historical determination of that moment of time and piece of space, is the degree to which the moment in the narrative becomes mythic.« (Brown 1994, S. 9)

Brown zitiert in seinem Filmmusikbuch auch einen Text von Lotman und untermauert das Fabel-Sujet-Begriffspaar, allerdings mit der ins Englische übersetzten Terminologie von Lotman: »I also find extremly useful an article by Russian semiotician Jurij Lotman entitled ›The Origin of Plot in the Light of Typology‹. In this key study, Lotman examines the differences between the mythic text and what he refers to as the ›plot text‹.« (Brown 1994, S. 9)

In der englischen Übersetzung von Lotmans Text erscheint plot bzw. plot text im Sinne von Sujet in der Ergänzung zu mythos bzw. mythic text im Sinne von Fabel. Browns Orientierung an diesen erzähltheoretischen Grundlagen blieb in der Filmmusikforschung bisher weitgehend unbeachtet. Die folgende Tabelle, die im Bereich Narratologie auf eine von S­ chmid gegebene Übersicht zum Begriffspaar Fabel und Sujet aufbaut (­Schmid 2014, S. 222), zeigt Begriffsvarianten und die Anwendung in anderen Wissenschaften, darunter in der Filmmusiktheorie. Auch wenn die Lesarten, Bedeutungen und Bedeutungsverschiebungen nicht in einer solchen Übersicht im Detail erfasst werden können, die Vergleichbarkeit nicht vollständig gegeben ist und immer die zugrunde liegenden theoretischen Hintergründe berücksichtig werden müssen, gibt sie doch einen Überblick zu diesem viel diskutierten Feld der Narratologie. (s. Abb. 5)

83

84 Geschehen

Fabel Plot Anlage

Bandur (2002)

Fladt (2009)

story, mythos, mythic text

Brown (1996)

Dahlhaus (1992)

Fabel narrative, diegesis

Lissa (1965)

Fabel

Wuss (1993)

Gorbman (1987)

story fabula, story

Geschichte

Bordwell (1985)

fabula

Chatman (1978)

Bal (1985)

­Schmid (2014)

Geschichte Erzählung

story

histoire

Genette (1972) Geschehen

histoire

Todorov (1966)

Stierle (1973)

сюже́т [sjužet]

фа́була [fabula]

Tomaševskij (1925)

Sujet

plot, plot text

narration, subject

Sujet

syuzhet, plot

discours

Präsentation der Erzählung

text

Text der Geschichte

récit

discours

πράγματα [pragmata] (πράξεις [praxeis])

Geschehnisse (Geflecht aus Handlungen)

μύθος [mythos]

Aristoteles
 (ca. 335 v. Chr.)

Abb. 5: Begriffsvarianten für Fabel und Sujet

Musikwissenschaft

Filmmusiktheorie

Filmwissenschaft

Narratologie

Poetik

Handlungskomposition (Handlungseinheit, -zusammenhang)

Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

1.  Dramaturgie und Musik

1.2  Musikästhetische Perspektiven auf Musik und Erzählen

Ohne die Berücksichtigung musikästhetischer Prämissen kommen Untersuchungen zur Musikdramaturgie im Film an sehr enge Grenzen, denn Musikästhetik berührt die allgemeinen Anschauungen zur Musik, ihren »Inhalt« und ihre Beschaffenheit. Diese Grundvorstellungen prägen die Komposition und Aufführung von Musik, ihre Nutzung im Alltag und bewusst oder unreflektiert auch den Einsatz und die Rezeption von Musik im Film. Musikästhetische Positionen werden durch gesellschaftliche und technologische Veränderungen (insbesondere durch digitale Medien) und die damit einhergehenden filmästhetischen Innovationen ständig beeinflusst. Musikdramaturgie im Film wird also sowohl von (auf unterschiedlichen Wegen) tradierten Vorstellungen als auch sich neu entwickelnden Positionen, Musik-Erfahrungen und den damit zusammenhängenden rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen beeinflusst. Die im folgenden Kapitel ausgebreiteten Überlegungen dienen als Grundlage dafür, den Begriff der filmischen Musikdramaturgie auch von musikästhetischer und musiktheoretischer Seite her zu untermauern und geeignete Termini aus diesen Fachgebieten zu erschließen. Einigen grundlegenden Themen der Musikästhetik soll daher nachgegangen werden, insbesondere dem, was musikalische Poesie, Programmmusik und Ideenkunstwerk bedeutet. Dabei stellt sich die Frage, welche poetischen oder narrativen Eigenschaften Musik ohne einen expliziten außermusikalischen Kontext schon in sich trägt und potenziell in einen Film einbringen kann. Der bereits über viele Jahrhunderte geführte Diskurs zur »musikalischen Poesie« und zur Programmmusik enthält in unterschiedlicher Weise Aspekte oder Ausprägungen von Narrativität. Sie zeigen sich in außermusikalischen Bezügen autonomer Musikstücke, die  –  genauso wie Opernmusik, Charakterstücke oder Programmmusik – als Vorbilder für die Komposition von Filmmusik gelten können oder selbst als Filmmusik eingesetzt wurden. Konkretere Fragen zu Aspekten musikalischer Poesie und narrativen Implikationen von Musik, die für einen Film bedeutsam werden können, sollen sich auf Metaphern für musikalische Analyse und Form sowie auf die Klangsemantik musikalischer Topoi richten. Aus dieser Perspektive kann auch die schon oft gestellte Frage untersucht werden, inwieweit filmmusikalische Klischees (stereotypisierte Kompositions- und Rezeptionsweisen der musikalischen Gestaltung eines Films) auf außer- oder vorfilmischen Erfahrungen mit Musik basieren. Musiktheorie und Musikwissenschaft bewegen sich derzeit in einem lebendig diskutierten Feld, das teils von alten und neuen Interpretationen musikästhetischer Konzepte und Theorien zur Narratologie beeinflusst ist. Es ist nicht abschließend zu klären, ob dies zu einer innovativen Methodik führt oder eine terminolo-

85

Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

gische Fundgrube offeriert. Innere musikalische Zusammenhänge, die Entfaltung musikalischer Ideen und eine unterstellte Wirkungskalkulation lassen sich aber durchaus vergleichen mit Handlungszusammenhang, Handlungskomposition und mit Motiven, die eine Handlung bzw. musikalische Prozesse voranbringen. Musikalische Komposition und Aufführung von Musik zielt wie in den narrativen Künsten auch auf die wirkungsvolle Entfaltung von Gestaltungsmitteln.

1.2.1  »Absolute« und autonome Musik als musikalische Poesie »Nicht Musik zwar will etwas erzählen, aber der Komponist will Musik machen, wie sonst einer erzählt.« (Adorno 1960/1969, S. 86)

Die Auffassungen zur »absoluten« Musik, die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden, wurden über lange Zeit und mit Vehemenz als positive (Hanslick) wie auch als abwertende Bezeichnung (Wagner) verwendet: einmal um Musik als höchste der Künste zu zeigen, da sie losgelöst von konkreten Bindungen zur Wirklichkeit existieren könne und so dem göttlichen Prinzip am nächsten stehe. Mit absoluter Musik könne die ideelle und emotionale Welt des Menschen im Vergleich zu anderen Künsten am universellsten ausgedrückt werden. Andererseits diente die Bezeichnung »absolut« dazu, der Musik die Erfüllung im »Gesamtkunstwerk« des musikalischen Dramas Wagner’scher Prägung abzusprechen.93 Um ästhetische Dogmen nicht weiter in der Filmmusikforschung fortzuschreiben, scheint es sinnvoll, für die folgenden Ausführungen eher von autonomer statt »absoluter« Musik zu sprechen. Ästhetisches und philosophisches Ziel der nicht selten auch dichtenden Komponistinnen und Komponisten des 19.  Jahrhunderts war es in erster Linie zu erreichen, dass Musik als gleichrangig mit Dichtkunst und Malerei im System der Künste galt. Hinter den Überlegungen zur Ebenbürtigkeit einzelner Kunstgattungen stand und steht vielleicht bis heute auch ein Gedanke, der generell abzuwägen versucht, in welchem Verhältnis die Kunst zur Unterhaltung bzw. dem Erkenntnisgewinn oder Verstehen der Welt dienen sollte. Noch weit ins 20.  Jahrhundert hinein beeinflussten die im 19. Jahrhundert entstandenen Vorstellungen zur Rolle der Musik für Individuum und Gesellschaft das Konzertleben, die Musikwissenschaft und nicht zuletzt die Filmmusikforschung. So hat Filmmusik, die als zweckge-

93

86

Wagner entwickelte den Terminus als Gegenbegriff gegen die v. a. von Hanslick geäußerten Ansichten zu einer »reinen, absoluten Tonkunst«, vgl. Klaus Kropfinger (1975), Wagner und Beethoven: Untersuchungen zur Beethoven-Rezeption Richard Wagners, S. 133.

1.  Dramaturgie und Musik

bundene Musik und nicht als Kunstform verstanden wurde, erst seit den 1970er Jahren ein breiteres Ansehen in der Musikwissenschaft erhalten, sodass sich eine Filmmusikforschung etablieren konnte.94 Der in der Musiktheorie und Musikwissenschaft existierende Begriff der »musica poetica« trägt das für die hier angestellten Überlegungen wichtige Wort Poesie in sich. Es lässt auf bereits bestehende Verbindungen zwischen Erzählkunst und Musik schließen. Während aber zwischen ca. 1500 und 1750 der Begriff lediglich die Kunst des Töne-Setzens, d. h. die praktische Kompositionslehre bezeichnete, vollzog sich Ende des 18. Jahrhunderts ein Wandel, der eine nahezu entgegengesetzte Bedeutung des Begriffs der musikalischen Poesie hervorbrachte. Musikalische Poesie wurde nun eigens zur Abgrenzung von der rein handwerklichen Kompositionspraxis verwendet, die man im technischen Sinne erlernen kann. Der »poetische« Teil des Kunstwerkes, das »Dichten« in der Sprache der Musik, wurde im Sinne der aufkommenden Genie- und Autonomieästhetik nur Wenigen zuerkannt, als nicht lehrbar bzw. erlernbar angesehen95 und galt nicht selten als »kunstvoller Regelverstoß« (Klassen 2006, S. 286). Musikalische Poesie rückt damit sehr nah an das, was als musikalische Erfindungskraft bezeichnet werden kann. Um 1800 und in der Folge differenzierten sich die Ansichten zum Poetischen in der Musik unter dem Einfluss von Dichtern wie Jean Paul und Philosophen wie Tieck und Hegel nochmals. Musikalische Poesie stand nun im Gegensatz zum Prosaischen, dem Trivial-Konkreten der Wirklichkeit. Die einer Musik womöglich zugrunde liegende epische, lyrische oder dramatische Dichtung oder Beschreibung eines außermusikalischen Programms (weswegen häufig Programmmusik gesagt wird) wurde als »historisch« tituliert und darf nicht mit musikalischer Poesie verwechselt werden, die von Programmatik befreit sein sollte. Ein Zuwachs an musikalischer Substanz konnte erwachsen, wenn außermusikalische Ideen in der Musik »weitergedacht« wurden. Erst dadurch charakterisiere sich poetische Musik, nicht aber durch die »Literarisierung« (Dahlhaus 2003/GS5, S. 150). Schildernde Tongemälde, also Werke mit illustrierender, nachzeichnender Musik, können aus dieser Sicht nicht als Formen musikalischer Poesie bezeichnet werden.96 Dies ist hier von Bedeutung, da solche schildernden, illustrierenden und literarisierenden Musikstücke eine Quelle für Filmmusik waren. Musikstü-

94 95 96

Exemplarisch seien hierfür genannt die Veröffentlichungen von Lissa (1965), Ästhetik der Filmmusik, oder Roy M. Prendergast (1977), Film Music – A neglected art: A critical study of music in films; Claudia Gorbman (1987), Unheard melodies: Narrative film music. Vgl. zu diesen und direkt nachfolgenden Fragen: Carl Dahlhaus (2000a/GS1), »Musica Poetica und Musikalische Poesie«, in: Hermann Danuser [Hg.], Gesammelte Schriften in 10 Bänden, S. 533–548. Vgl. Dahlhaus (2000a/GS1), »Musica Poetica und Musikalische Poesie«, S. 546.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

cke, die im Film als Zitat erkannt werden, sind dagegen solche, die zum »Weiterdenken« anregen können. Sie bereichern den Film ideell. Der Begriff der musikalischen Poesie, wie er ab dem frühen 19. Jahrhundert verstanden wurde, ist im Detail mehrschichtig. Auf der einen, musikhistorisch früheren Seite steht er für eine Formästhetik der Instrumentalmusik – dabei mit einer Akzentuierung des Thema-Begriffs und dem musikalischen Thema als Quelle der Entwicklung und Formgestaltung. Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert hängt mit dem Thema-Begriff zusammen, dass im Verlauf einer Komposition der im Thema formulierte Hauptgedanke zergliedert und – einer Abhandlung gleich – durchgeführt wird. Dies hatte die ästhetische Emanzipation der Instrumentalmusik von der Vokalmusik und Opernästhetik des 18. Jahrhunderts zum Ziel. Auf der anderen Seite ist der Begriff musikalische Poesie immer noch von einem vorhandenen vokalen Ideal und einer vom Zeitgeist des 19. Jahrhunderts getragenen Gefühlsästhetik geprägt. Der Thema-Begriff ist von dem im 18. Jahrhundert geprägten Melodie-Begriff zu unterscheiden.97 Dieser Melodie-Begriff gilt für Gattungen oder Sätze einer Sinfonie, die ohne Entwicklungsteile auskommen, d. h. liedhafte Musikstücke, die ohne die Verarbeitung ihres Themas bestehen können. Er schließt im 19. Jahrhundert das Ideal ein, dass der Ausdrucksgehalt einer instrumental erfundenen Melodie sich nicht in Worte oder Affektkategorien einordnen lässt. Gleich der gereimten Struktur in lyrischen Gattungen prägt die Melodie korrespondierende Abschnitte – Phrasen, Halbsätze und Kadenzen – aus. Damit reibt sich der Melodie-Begriff, der z. B. für die musikalische Anlage eines Adagios geeignet ist, mit dem Thema-Begriff, der auf musikalische Prosa abzielt und mit dem die Durchführungsarbeit in der musikalischen Komposition, z. B. in einem Allegro akzentuiert werden kann. Dass ein »Thema« auch formale Korrespondenzen zwischen Phrasen, Halbsätzen und Kadenzen wie eine »Melodie« zeigen kann, ist dabei nachgeordnet. Wie in vielen anderen Fällen muss hier von der Gleichzeitigkeit verschiedener Tendenzen ausgegangen werden. Das Nebeneinander der verschiedenen Auffassungen zum idealen Aufbau eines musikalischen »Gedankens« – einmal mit Analogie zum Lyrischen, einmal mit Tendenz zur musikalischen Prosa – erweist sich als fruchtbar bei der Analyse musikalischer Gestalten und Prozesse. Für die Unterscheidung von Leitmotiv, Leitthema und modularen Kompositionstechniken in der Filmmusik komme ich darauf zurück (siehe Kap. 4.6.8 »Filmmusikalisches Leitmotiv«). 97

88

Vgl. Carl Dahlhaus (2001b/GS2), »Melodielehre«, in: Hermann Danuser [Hg.], Gesammelte Schriften in 10 Bänden, S. 130–133.

1.  Dramaturgie und Musik

Die Musikästhetik Ende des 18. Jahrhunderts richtete sich in Abgrenzung zur im Barock noch populären Nachahmungsästhetik gegen die meist simplifizierende Nachahmung außermusikalischer Inhalte, also gegen einen referenziellen Bezug der Musik zur belebten und unbelebten Natur. Alles Gegenständliche und Objektive, die bloße Nachahmung von Wirklichkeit wurde um 1800 nicht nur von Heinrich Christoph Koch als »großer Fehler« tituliert: »Allerdings kan die Tonkunst das Gefühl, welches die schlagende Nachtigall im Thale in der Seele des Dichters erweckte, vollkommen ausdrücken, ohne sich des lebendigen Ausdruckes zu bedienen. Und wenn er[,] der lebendige Ausdruck, nicht ein Bild, eine Figur, unterstützt, wenn er nur das Amt des Wörterbuchs verwaltet, so ist er ein Fehler, ein großer Fehler.« (Kaiser 2007, Koch: Versuch … I. Teil, Einleitung, S. 7)

Johann Jakob Engel unterschied in seiner Abhandlung zur »musikalischen Ma­­ lerey« zwei Arten der Tonmalerei: die konkret nachahmende, gegenständliche und diejenige, die allgemeine Eigenschaften des Menschen abbildet. Die erste Art lässt außermusikalische Referenzen zu, für die zweite Art seien »tranzendentelle Ähnlichkeiten« (Engel 1780, S. 9) beim Zusammenspiel der beiden Sinne Hören und Sehen verantwortlich. Für Filmmusik sind beide Arten relevant. Im Film ist das Wissen um die Effekte beim Zusammenspiel der Sinne, das »intermodale Assoziation von Ton und Bild« genannt wird, eine wichtige Grundlage der Tongestaltung (Flückiger 2001/2007, S. 137). Wenn Sichtbares einen Klang assoziiert oder umgekehrt ein Klang die visuelle Erscheinung mit Bedeutung auflädt, dann ist es möglich, den Klang dramaturgisch zu nutzen.98 Die musikalischen Romantiker99 entwickelten eine Musikästhetik, die musikalische Poesie als Nachahmung einer sich wechselseitig spiegelnden »inneren und äußeren Natur« (Dahlhaus 2000a/GS1, S. 546) ansahen. Die Bezeichnung »musikalische Poesie« dient zur Abgrenzung vom Handwerklichen und Alltäglichen und wird zur Kennzeichnung eines Bereichs der Freiheit sowie als Gegenbegriff zu Nachahmung eingesetzt.

98 99

Siehe auch die Ausführungen zur »intermodalen Assoziation« in Kap. 4.6.3 (»Synchrese«). V. a. Robert Schumann, E. T. A. Hoffmann und Hector Berlioz sind gemeint, die sich explizit auch als Literaten verstanden und hervortaten und die von Beethovens musikästhetischen Ansichten und Jean Pauls Texten beeinflusst waren. Für Persönlichkeiten wie beispielsweise Peter Cornelius ist kaum zu sagen, ob sie mehr Schriftsteller oder mehr Musiker waren und ob sie mehr von Musikern beeinflusste Literaten waren oder umgekehrt (im Falle von Cornelius: z. B. durch Schumann, Liszt und Wagner).

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung »›Poesie‹ ist der zentrale Begriff in den Kritiken Robert Schumanns, die aus der Poetik Jean Pauls eine Musikästhetik entwickeln. Poiesis erscheint erstens als Gegenbegriff zu Mimesis, zur Kopie von Vorbildern und zur Nachahmung der Wirklichkeit. Zweitens betont Schumann den Kontrast zur ›Prosa‹, zum ›Trivialen‹, ›Flachen‹ und ›Gemeinen‹. Gegenüber prosaischer Empirie erscheint ›Poesie‹ als das ›Übersinnliche‹, gegenüber den Einschränkungen des prosaischen Alltags als Reich der ›Freiheit‹. Drittens ist das ›Poetische‹ der Widerpart zum ›Mechanischen‹ und ›Gemachten‹, sowohl zu bloßer Virtuosität als auch zur Borniertheit eines musikalischen Handwerks, das sich selbst genügt.« (Dahlhaus 2000a/GS1, S. 547)

Der Übergang von einer in diesem Sinne poetischen Musik zu einer Musik, die Bilder reiht und Vorgänge illustriert, ist allerdings in der Praxis fließend. Ein prominentes Beispiel zeigt, wie die beiden Tendenzen koexistieren: Beispiel 1: L. v. Beethoven: Sinfonie Nr. 6 Beethovens Partitur der 6. Sinfonie (F-Dur op. 68, 1807/1808, »Pastorale«), die auf einer szenisch-programmatischen Grundlage konzipiert ist, enthält den oft zitierten Vermerk zum 1. Satz: »Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerey«. Und in Skizzen zur Sinfonie findet sich die Bemerkung: »Jede Mahlerey, nachdem sie in der Instrumentalmusik zu weit getrieben, verliert.« Während sich im 1. Satz noch Charakterisierungen, Gedanken und Empfindungen entsprechend der ergänzenden Satzbezeichnung »Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande« als Ausdruck des Naturerlebnisses zu einem Ganzen formieren und KuckucksrufImitationen oder Bordunklänge als Bauernleier-Imitation sehr zurückhaltend in Erscheinung treten, bedienen die Sätze 2 bis 4, teils auch der 5. Satz die ästhetische Tradition der schildernden pastoralen Sinfonie als »Tongemälde«. Beispiel 2: L. v. Beethoven: Sinfonie Nr. 5 Die im selben Konzert wie die »Pastorale« am 22. Dezember 1808 in Wien uraufgeführte, nicht weniger prominente 5.  Sinfonie von Beethoven (c-Moll op.  67) vermag die romantische Idee von musikalischer Poesie vielleicht deutlicher zu zeigen, weil kaum eine Verwechslung mit Tonmalerei möglich ist. Hier wird eine übergeordnete Idee, die das musikalische Werk durchdringt, auf rein musikalische Weise charakterisiert, »weitergedichtet« und kommentiert. Im Kopfsatz erscheint zuerst das zum kulturellen Erbe gewordene Motto im alla-breve-Takt bestehend aus drei Achtelnoten nach einer Achtelpause auf einem Ton (g) und folgender Halben Note (es), dessen Gestalt sich als konstituierend für den gesamten Satz und die Sinfonie erweist. Dieses Motto steht – ganz im Gegensatz zu den schon im 19. Jahrhundert kolportierten Interpretationen – nicht für »das Schick-

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1.  Dramaturgie und Musik sal, das an die Tür klopft«, sondern ist für Zeitgenossen sicherlich als Zitat verständlich geworden, welches politische Hintergründe betrifft und die zudem kaum offen ausgesprochen werden durften. Es geht um Anspielungen, die Beethovens Sympathien mit der französischen Revolution, damit verbundene Aktivitäten zur bürgerlichen Emanzipation und die Rolle Napoleons betreffen. Es lässt sich nicht ausschließen, dass die Deutung des »Inhalts« der 5. Sinfonie in Richtung Beethovens bürgerlich-freiheitlicher Ideale für einige Menschen als konkrete Botschaft verstanden wurde.100 Die Tonartenwahl der 5.  Sinfonie, das Motto im 1. Satz und zusätzlich seine musikalische Verarbeitung rekurrieren auf französische Revolutionsopern und nationale (französische) Festmusiken dieser Zeit.101 Beethoven kannte – wie Georg Knepler darlegt – mit sehr großer Wahrscheinlichkeit durch das Magasin de Musique à l’usage des Fêtes nationales die Revolutionsmusiken von Cherubini, Kreutzer und Méhul, so auch Cherubinis »Hymne auf das Pantheon« und den dort enthaltenen »Schwur der Horatier«. Dessen sprachliche Gestalt lieferte die musikalische Vorlage: »Das ist nicht nur der Grundrhythmus der Fünften Sinfonie, der übrigens oft in der französischen Revolutionsmusik vorkommt, namentlich bei Méhul: die ganze Anlage mit der Erbreiterung des Rhythmus in den 4 ersten Takten – auch Beethoven wollte nach Schindlers Überlieferung das Anfangsmotiv etwas breiter genommen haben  –  mit Halt im 2. und 4.  Takt, mit der komplementärrhythmischen Behandlung der Stimmen vom 5.  Takt an, dies alles erinnert sofort an den Anfang der Fünften.« (Schmitz zitiert nach Knepler 1961, S. 554) Beethovens 5. Sinfonie, aber auch die 3. (»Eroica«) und die 9. Sinfonie galten lange als idealtypische Beispiele poetischer und »absoluter« Musik, die aus sich selbst heraus »erzählt«, die aber trotz konkreter außermusikalischer Referenzen, d. h. zur Lebenswirklichkeit, weit genug davon entfernt ist, schildernde Illustration zu sein.

Die Überlegungen zur musikalischen Poesie zeigen, dass mit dem Begriff die von der Vokalmusik emanzipierte Instrumentalmusik gemeint ist. Ein referenzieller Bezug in der Musik beschreibt, anders als ein Klang bei der Tongestaltung im

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Botschaften und allgemeine Ansichten dazu mussten als Anspielungen versteckt oder zumindest verschleiert werden, weil jegliche Sympathien mit der französischen Revolution in Österreich als Hochverrat angesehen wurden und die Situation für die Betreffenden lebensbedrohlich werden konnte. Für Beethoven war dies in seinem Bekanntenkreis um Jean Baptiste Bernadotte und Rodolphe Kreutzer konkret zu beobachten. Vgl. Georg Knepler (1961), Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, S. 544. Vgl. Knepler (1961), Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, S. 542–545.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Film, nicht einen außermusikalischen Ursprung, sondern ist nur Impuls für die musikalische Arbeit. Instrumentalmusik rechtfertigt sich im Sinne der musikalische Poesie ästhetisch dadurch, »dass sie die Struktur einer thematischen Abhandlung annimmt; dass sie, wie Tieck es ausdrückt, ›für sich selbst dichtet und sich selber poetisch kommentiert‹«. (Dahlhaus 2003/GS5, S. 144). Musikalische Poetik ist keine Tonmalerei, Sujet- oder Affektdarstellung – mit anderen Worten: keine Nachahmung der äußeren Realität mit musikalischen Mitteln. Sie richtet sich nach innen und zeigt sich als Ausdruck der Gedanken, Kommentare und Charakterisierungen von außermusikalischen Erfahrungen, die sich in Musik zu einem sehr persönlichen Ganzen formen können. Als erstaunlich modern zeigt sich auch hier Aristoteles, der laut Fleischer die Wirkung von Instrumentalmusik hervorhebt, weil sie am ehesten Resonanzen zwischen äußerer und innerer Welt zu erzeugen vermag: »Die Musik hat, wie die Poesie, zum Gegenstand der Nachahmung den Menschen, seinen Charakter. Sie ist mehr als jede andere Kunst zur Darstellung seelischer Eigenschaften befähigt, und diese ruft in dem Hörer die verwandten Seelenregungen hervor. Die ethische Wirkung der Musik erklärt Aristoteles aus dem Wesen der Musik selbst, ohne den Text heranzuziehen.« (Fleischer 1989, S. 634)

Damit ist die Frage nach dem Gegenstand oder »Inhalt« von Musik aufgeworfen, den Hegel in seinem Kapitel über die Romantischen Künste »gegenstandslose Innerlichkeit« nannte. »Ihr [der Musik] Inhalt ist nicht das an sich selbst Subjektive, und die Äußerung bringt es gleichfalls nicht zu einer räumlich BLEIBENDEN [H. i. O.] Objektivität, sondern zeigt durch ihr haltungsloses freies Verschweben, daß sie eine Mitteilung ist, die, statt für sich selbst einen Bestand zu haben, nur vom Inneren und Subjektiven getragen und nur für das subjektive Innere dasein soll. […] die Töne klingen [wegen ihrer äußerlichen Flüchtigkeit, R. R.] nur in der tiefsten Seele nach, die in ihrer ideellen Subjektivität ergriffen und in Bewegung gebracht wird. Diese gegenstandslose Innerlichkeit in betreff auf den Inhalt wie auf die Ausdrucksweise macht das Formelle der Musik aus. Sie hat zwar auch einen Inhalt, doch weder in dem Sinne der bildenden Künste noch der Poesie; denn was ihr abgeht, ist eben das objektive Sichausgestalten, sei es zu Formen wirklicher äußerer Erscheinungen oder zur Objektivität von geistigen Anschauungen und Vorstellungen.« (Hegel 1818–29/1984, S. 262)

Konkreter wird es bei Musik, die an ein konkretes Sujet gebunden ist. Doch auch hier lässt sich ein Inhalt letztlich nicht genau bestimmen. Für die Beurteilung einer möglichen Narrativität von Musik ist der Unterschied zwischen den Materialarten (Töne und thematisiertes Sujet) wichtig.

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1.  Dramaturgie und Musik »[…] ein Sujet ist kein Vorbild, das nachgeahmt wird, sondern ein Stoff, den der Komponist verarbeitet. Ein Tonvorrat und ein Sujet bilden […] zwei Arten von Material; und erst aus der Wechselwirkung von Sujet und ›tönend bewegten Formen‹ [eine Formulierung von Eduard Hanslick  –  R. R.] entsteht der musikalische Inhalt, den erzählen zu wollen einen Irrtum über seine Daseinsweise einschließt.« (Dahlhaus 2000b/GS1, S. 489)

Für einen Diskurs zur Ästhetik und Praxis der Filmmusik darf Richard Wagner weder vergessen noch überschätzt werden. Die Kunstform Film wird immer wieder in Beziehung zu seiner Idee vom »Gesamtkunstwerk« gesetzt, in welchem Musik mit den anderen Künsten erst zu ihrer vollen Entfaltung komme. Wagners Musik prägte zweifellos die Komposition und den Einsatz von Musik im Film. Er vertrat aber eine in sich widersprüchliche Musikästhetik. Schließlich sah er »absolute« Musik als eine Form an, der die Vollendung versagt bliebe, da sie von szenischer Aktion und Sprache losgelöst sei: »[…] in ›Das Kunstwerk der Zukunft‹ (1849) und ›Oper und Drama‹ (1851) wird der […] Terminus ›absolute Musik‹ – oder das Wortfeld, das die Ausdrücke ›absolute Musik‹, ›absolute Instrumentalmusik‹, ›absolute Tonsprache‹, ›absolute Melodie‹ und ›absolute Harmonie‹ umfasst  –  zur zentralen Vokabel einer ge­­ schichtsphilosophischen oder geschichtsmythologischen Konstruktion, die auf das musikalische Drama zielt. ›Absolut‹ nennt Wagner  –  mit polemischem Akzent  –  sämtliche vom ›Gesamtkunstwerk‹ losgerissenen ›Teilkünste‹. […] ›Absolute Musik‹ ist nach Wagner eine ›abgelöste‹, von ihren Wurzeln in Sprache und Tanz losgerissene und darum schlecht abstrakte Musik. Wagner, der vom musikalischen Drama eine Wiedergeburt der griechischen Tragödie erhoffte, wandte sich zurück zu dem musikästhetischen Paradigma antiken Ursprungs, von dem sich im späten 18. Jahrhundert die romantische Metaphysik der Instrumentalmusik polemisch abgehoben hatte.« (Dahlhaus 2002/GS4, S. 25)

Ein Teil der Anziehungskraft von Wagners Musik zu außermusikalischen Inhalten des Films liegt wohl darin, dass diese im Bewusstsein davon komponiert wurde, mit szenischer Aktion und Sprache zusammenzuwirken. In einem Brief an Theodor Uhlig erklärt Wagner, dass das Wesenhafte der Musik (er bezieht sich dabei auf Beethovens sinfonisches Werk) auf einem Gegenstand beruhe, der zur Darstellung komme.102 Würde Musik nur aus musikalischen Elementen heraus entwickelt werden, ihr also keine »philosophische Idee« oder kein »dichteri-

102

Vgl. Kropfinger (1975), Wagner und Beethoven: Untersuchungen zur Beethoven-Rezeption Richard Wagners, S. 146.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

scher Gegenstand«103 zugrunde liegen, die den Anlass für die ausgedrückten Empfindungen gäben, wäre dies so, als würde ein Maler seinen Gegenstand aus der Farbe entnehmen.104

1.2.2  Programmmusik oder Ideenkunstwerk?

Auffassungen und Begriffe zur Musikdramaturgie im Film scheinen erheblich von musikästhetischen Auffassungen zur Programmmusik beeinflusst worden zu sein. So haben  –  wohl in der geschichtlichen Entwicklung der Filmmusik begründet – Ansichten aus dem 19. Jahrhundert offenkundig auf die Filmmusik und Musikdramaturgie im Film eingewirkt.105 Die Ablehnung oder Umdeutung dieser musikästhetischen Positionen zeigte sich dann in neuen Kompositionstechniken (modulare Patterns, Techniken der sogenannten Neuen Musik, Verfremdungstechniken), in der Verwendung kammermusikalischer Besetzungen, verfremdender elektronischer Musikanteile, im Fehlen von Musik an erwartbaren Stellen oder durch das ausgefeilte Unterlegen von Filmen mit existierenden Popsongs (song scoring) anstelle von komponierter Filmmusik. Die Geschichte der Filmmusik geht dabei untrennbar einher mit der Filmgeschichte, d. h. mit Filmen, die andere Themen wählten oder andere Formen für ihre Geschichte gefunden haben. Doch auch hier gilt es, die Koexistenz unterschiedlicher Tendenzen im Auge zu behalten, um Musikgeschichte und Musikästhetik für die Theoriebildung berücksichtigen zu können.106

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V. a. in »Oper und Drama« (1851) verwendet Wagner diese Bezeichnungen, vgl. Kropfinger (1975), Wagner und Beethoven: Untersuchungen zur Beethoven-Rezeption Richard Wagners, S. 141. Vgl. Kropfinger (1975), Wagner und Beethoven: Untersuchungen zur Beethoven-Rezeption Richard Wagners, S. 146. Siehe hierzu auch die Kap. »Beethoven und die absolute Musik« sowie »Beethovens ›dichterischer Gegenstand‹« bei Kropfinger (1975), Wagner und Beethoven: Untersuchungen zur Beethoven-Rezeption Richard Wagners, S. 137–146. Darunter fallen die Sammlungen von Musikstücken des v. a. klassisch-romantischen Repertoires in den Kinotheken aus Zeiten der Kompilationspraxis für Stummfilme. Diese Praxis wurde sicher teils von ökonomischen Interessen und dem Forcieren einer Anerkennung der Filmkunst, aber auch durch die verinnerlichte Ästhetik und Kunstrezeption des 19. Jahrhundert geprägt. Zugleich gibt es den direkten personellen Einfluss einer Wiener Tradition auf das Hollywoodkino. Komponisten wie z. B. Max Steiner erhielten Unterricht bei Gustav Mahler und Richard Strauss; Erich Wolfgang Korngold wurde – durch Mahler vermittelt – von Zemlinsky unterrichtet. Siehe dazu: Carl Dahlhaus (2000b/GS1), »›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹«, in: Hermann Danuser [Hg.], Gesammelte Schriften in 10 Bänden.

1.  Dramaturgie und Musik

Die Untersuchung der Ursprünge und Fragen nach einer möglichen Narrativität von Musik ergibt folgendes Bild: Programmmusik ist das Verständnis von Musik in der Zeit des späten 18. und im 19. Jahrhundert, in der den Menschen Erfahrungen über die Welt hauptsächlich über die Literatur zukommen »und die Literatur über eine Sache von kaum geringerer Bedeutung als die Sache selbst ist« (Dahlhaus 2000b/GS1, S. 498). Literarische Texte (aber auch Bilder) können entweder als initiierende Impulse für oder als nachfolgende Reflexe auf den »Inhalt« von Musik angesehen werden. Die Auffassungen zur Programmmusik sind im 19. Jahrhundert, in welchem die musikästhetische Debatte zu diesem Thema einen Höhepunkt hatte, davon geprägt, dass Musik zwar »beredt sei, […] sich aber dem Begreifen, der Vergewisserung des Inhalts der Musik immer wieder entzog« (Dahlhaus 2000b/GS1, S. 499). Von Narrativität in Programmmusik kann also nur indirekt gesprochen werden, da Musik uns zwar durchaus etwas »erzählt«, jedoch der konkrete Inhalt dieser »Erzählung« in unzählige individuelle Deutungen zerfällt, ja im Verständnis der Musikästhetik des 19. Jahrhunderts vage bleiben soll. Sobald man den Inhalt von Musik in Worte fasst oder den emotionalen Reflex auf Musik zu beschreiben versucht, verschwindet die Ambivalenz und damit der Wert, den musikalische Programmatik für den Gefühlshaushalt hat. Mit dem, was Worte beschreiben können, werden Empfindungen banalisiert, da sie meist alles drumherum Befindliche ausschließen. Eine »musikalische Erzählung« schließt dagegen unterschiedliche Deutungen mit ein und mit ihr die verwandten Empfindungen einer zentralen Inhaltsidee.

Beispiel: Debussy: Préludes für Klavier Claude Debussy hat seinen Préludes für Klavier (1910–1913) programmatische Titel nachgestellt. Das Prélude Nr. 6, triste et lent aus dem 1. Band trägt beispielsweise den Untertitel Des Pas Sur La Neige. Nachdem also das Stück gespielt wurde, bietet der Komponist ein Programm an, das sich in einem möglichen Sujet (z. B. Spaziergang durch verschneite Landschaft) zeigt. Der schreitende Rhythmus, das Innehalten, der melancholische Grundton, die spürbare »Stille«, wie sie für Landschaften im Schnee, der akustische Reflexionen »verschluckt«, typisch ist, erscheinen plötzlich als treffende Assoziationen. Welche Facette dieser nur geringen Auswahl an narrativen Implikationen gültig ist, bleibt völlig offen, so offen, dass auch ein anderes Sujet zur selben Musik durch eine Unteroder Überschrift benannt werden könnte. Für die Préludes Nr. 1, 3, 4, 7 und 8 aus Band 1 sowie Nr. 2, 3, 4, 6, 7, 8, 9, 10 aus Band 2 lassen sich immerhin konkrete außermusikalische Impulse belegen, die aus der Literatur, Sagenwelt, Architek-

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung tur und Malerei stammen oder sich – wie im Falle von Nr. 6 (Band 2) General Lavine  –  excentric auf eine konkrete Person (einen amerikanischen Clown, der 1910/12 in Paris auftrat) beziehen.107

Ein Programm, das von Komponisten bei der Entstehung oder Veröffentlichung von Musik herangezogen wird, bleibt in seiner Wirkung auf das Publikum ambivalent, weil nie ganz geklärt werden kann, ob es Impuls oder Reflex auf die Musik oder ihre Rezeption ist. Dies gilt für Tendenzen impressionistischer Kunst ebenso wie für Charakterstücke aus Barock, Klassik und Romantik. Ein Programm kann die Wahrnehmung öffnen und das Verständnis fördern (und damit sowohl der Erkenntnis als auch dem Kunstgenuss dienen), solange es nur hindeutet und nicht versucht, dem Publikum eine einzig gültige Deutung aufzuzwingen und das Werk nicht letztgültig erschließen will.108 Die Sinfonische Dichtung ist eines der prominentesten Beispiele für Gattungen der Programmmusik. Doch auch an dieser Gattung zeigt sich, dass der »Inhalt« von Programmmusik musikalischer und nicht literarischer Natur ist.109 Sieht man das Programm als Impuls einer inneren Empfindung oder als Reflex auf einen äußeren Anlass, ist der außermusikalischen Stoff, das Sujet, nicht der schöpferisch-formende Teil des Werkes, sondern das Musikalische. Selbst bei stereotyper Nutzung von Werken der Programmmusik im Film scheint die »tönend bewegte Form« die schöpferische und ästhetische Kraft zu sein und nicht der Inhalt des Programms. Gustav Mahler unterschied zwischen einem »inneren« und »äußeren« Programm, wie Dahlhaus zusammenfasst: »Präsentiert sich das »äußere« Programm als Bilderfolge, so ist das ›innere‹ ein ›Empfindungsgang‹, allerdings einer, der sich dem Zugriff empirisch-psychologischer Kategorien entzieht.« (Dahlhaus 2002/GS4, S. 115).

Der Dirigent und Komponist Gustav Mahler sieht im Musizieren den »ganzen Menschen« sich ausdrücken, der vom Gang seiner Empfindungen in Bezug zu allem, was ihn bewegt, erzählt. In Mahlers Vorstellung sind andere Kunstformen im Musizieren vereinigt. An den Dirigenten Bruno Walter schrieb er:

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Vgl. Vorwort von François Lesure zur Ausgabe der Préludes Premier Livre (Urtext), Henle 1986 sowie Préludes Deuxième Livre (Urtext), Henle 1988. Vgl. auch den Aufsatz von Constantin Floros (2011), »Zur Relevanz der ›Programme‹ in Mahlers Symphonien«, in: Peter Revers und Oliver Korte [Hg.], Gustav Mahler: Interpretationen seiner Werke (Bd. 1), S. 398–415. Vgl. Dahlhaus (2000b/GS1), »Musikästhetik«, S. 498.

1.  Dramaturgie und Musik »Wenn man musizieren will, darf man nicht malen, dichten, beschreiben wollen. Aber WAS man musiziert, ist doch immer der GANZE (also fühlende, denkende, atmende, leidende etc.) Mensch. Es wäre ja auch weiterhin nichts gegen ein ›Programm‹ einzuwenden (wenn es auch nicht gerade die höchste Staffel der Leiter ist) – aber ein MUSIKER muss sich da aussprechen und nicht ein Literat, Philosoph, Maler (alle die sind im Musiker enthalten). [alle H. i. O.]« (Mahler 1982, S. 293)

Gustav Mahler bewegt sich in einem Bereich der metaphysischen Musikästhetik. Das »äußere« Programm lässt sich zwar mit konkreten Bildern und sprachlichen Mitteln beschreiben, aber verbleibt im Bereich der literarischen oder bildenden Kunst. Das »innere« Programm, das Mahler als »Empfindungsgang« sieht, er­­zählt vom ethos seines Schöpfers und kann vom pathos, das im Illustrativen steckt, unterschieden werden. Die Ganzheit der Gefühls-, Lebens- und Gedankenwelt, die sich im Musizieren und in Musikwerken ausdrücken kann, legt es nahe, von Weltanschauungsmusik oder »Ideenkunstwerk« statt von Programmmusik zu sprechen.110 Fasst man die Diskussion über Programmmusik und sogenannte »absolute« Musik grob zusammen, lässt sich sagen, dass literarische Programme nicht die Substanz des musikalischen Werkes berühren. Sie können zu den Entstehungsbedingungen von Musik gehören, aber nicht das Wesen der Musik darstellen oder erfassen. Aus dieser Sicht bleibt Programmmusik – im Gegensatz zur Illustrationsmusik – autonome Musik. Richard Strauss ging so weit zu sagen, dass es gar keine Programmmusik gäbe.111 Dennoch schuf auch er Werke, die zweifellos schildernd sind, äußere Natur illustrieren oder eine Geschichte musikalisch bebildern. Neben Programmmusik als »hermeneutische Gleichnisreden« (Dahlhaus 2002/GS4, S. 112) existieren auch Abstufungen, die bis hin zur Illustration einer äußeren Erscheinung reichen. Adorno schreibt in seinem wegweisenden Mahler-Buch: »Nicht Musik zwar will etwas erzählen, aber der Komponist will Musik machen, wie sonst einer erzählt.« (Adorno 1960/1969, S. 86). Dort beschreibt er auch den mimetischen Impuls, den Musik in unterschiedlichem Maße haben kann und der durch die musikalische Formung in eine Wechselbeziehung zum Musikalischen tritt. Mit dieser anschaulichen Formulierung ist nicht die Nachahmung eines Sujets gemeint, sondern seine Verarbeitung.

110 111

Vgl. Carl Dahlhaus (2003/GS5), »Die Musik des 19. Jahrhunderts«, in: Hermann Danuser [Hg.], Gesammelte Schriften in 10 Bänden, S. 348 ff. In Strauss’ »Betrachtungen und Erinnerungen«, vgl. Carl Dahlhaus (2002/GS4), »Die Idee der absoluten Musik«, in: Hermann Danuser [Hg.], Gesammelte Schriften in 10 Bänden, S. 114.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung »Als ausdrucksvolle verhält Musik sich mimetisch, nachahmend, wie Gesten auf einen Reiz ansprechen, dem sie sich im Reflex gleichmachen. Dies mimetische Moment tritt in der Musik allmählich mit dem rationalen, der Herrschaft über das Material zusammen: wie beide aneinander sich abarbeiten, ist ihre Geschichte.« (Adorno 1960/1969, S. 34)112

In der Musikästhetik des späten 19. Jahrhunderts verbirgt sich der seltsame Widerspruch zwischen Nicht-Erfassbarkeit von Gefühl oder Idee und deren Bindungen an außermusikalische Impulse. Der erzählende Gestus und die Perspektive einer künstlerisch sich äußernden Person, die ein Sujet verarbeitet, ist zu einem Merkmal des Kunstsystems Musik geworden. Im Kino trifft es auf ein filmisches Kunstsystem, dem man eine ähnliche Qualität zuschreiben kann, sodass mit den Worten Bachtins von der »Polyphonie der Stimmen« auch im Kino gesprochen werden kann.113 Die vage Existenz eines »ästhetischen Subjekts« (Danuser 1975, S. 15), das sich durch Musik äußert, bildet einen Teil der rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen, die den Einsatz und die Wirkung von Filmmusik beeinflussen. Die Affinität von Filmschaffenden für die Verwendung der Musik von Wagner und Mahler im Film hängt, so lässt sich mit einer gewissen Sicherheit vermuten, mit der in ihrer Instrumentalmusik schon enthaltenen Wechselwirkung von musikalischer Form mit Ideen- und Gefühlswelt zusammen. Die Gedanken, Ideen und Gefühle, die sich in einem musikalischen Ideenkunstwerk niedergeschlagen haben, können bei zitierter, präexistenter oder an jene Tonsprache angelehnter Musik in die filmische Erzählung integriert werden, z. B. zur Strukturbildung, Sinnstiftung oder Illustration. Bis ins Letzte bestimmbar sind die Ideen jedoch – zumal in einem neuen, tatsächlich narrativen Kontext eines Films, der ihre ideelle Bedeutung allerdings auch einengen kann – nicht.

1.2.3  Narrative Metaphern und Formmodelle für Musik

In der angloamerikanischen Musikwissenschaft wird seit ca. 1990 über Analogien zwischen musikalischen und narrativen Prinzipien nachgedacht. In dazu gehörenden und anderen Untersuchungen zeigen sich unterschiedliche Tendenzen, 112

113

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In einem Text zu Adornos und Eislers Exilzeit in den USA lässt Hartmut Fladt erkennen, dass Musik kaum ohne einen »mimetischen Impuls« auskommt, der Impuls und seine Verarbeitung jedoch verschiedenste Ausprägungen haben können, vgl. Hartmut Fladt (2004), »Musikdenken und komponieren im Exil: Theodor W. Adorno und Hanns Eisler in den USA der 1940er Jahre«, in: Cordula Heymann-Wentzel und Johannes Laas [Hg.], Musik und Biografie: Festschrift für Rainer Cadenbach. Vgl. Michael Bachtin (1929/dt. 1985), Probleme der Poetik Dostojewskis.

1.  Dramaturgie und Musik

die von allgemeinen Vergleichen zwischen Handlung, Charakteren usw. und musikalischen Gestalten, Prozessen usw. bis hin zu sehr direkten Vergleichen reichen, die selbst Zeitformen und die Unterscheidung von erster oder dritter Person suchen.114 Fred Maus beruft sich auf Heinrich Schenker (Schenker 1935/1956), dessen Vergleiche zwischen alltäglichen Erfahrungen und deren künstlerischen Übersetzungen die Möglichkeit zulassen, musikalische Ereignisse als Teil einer »musikalischen Handlung« zu verstehen: »Schenker’s remarks suggest the possibility of a generalized plot structure for tonal music; his list of ›obstacles, reverses, disappointments‹, and so on enumer­ ates, informally, kinds of event in musical plots […].« (Maus 1991, S. 4).

Doch auch schon in seiner Harmonielehre (Schenker 1906) zeigt sich eine narrative Implikation: Die in einem Ton enthaltene Tendenz zur Hinzufügung der Quinte (gefolgt von der Terz als Ergänzung zum Dreiklang) kann als prozessuale, in die Zukunft gerichtete Analogie gelesen werden. Dagegen wäre die »Inversion« (Schenker 1906, S. 44 ff.) zur Unterquinte bzw. zum Quintfall als »Vergangenheit« des Tons zu verstehen. Damit steht Schenker allerdings einer anderen Tradition entgegen: der Rameau’schen Fundamenttheorie, die sich seine Zeitgenossen Simon Sechter, Anton Bruckner und Arnold Schönberg zu eigen machten, welche genau umgekehrt die Tendenz zum bzw. Auflösung mit einem Quintfall als in die Zukunft gerichtete Erwartung auffasst. Einige neuere Arbeiten zeigen Versuche, narrative Kategorien möglichst direkt zu übertragen, z. B. die grammatikalischen Fragen nach der ersten oder dritten Person oder dem Vorhandensein verschiedener Zeitformen, insbesondere einer Vergangenheitsform in musikalischen Strukturen.115 Raymond

114

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In chronologischer Reihenfolge seien hier einige Veröffentlichungen genannt: Jean-Jacques Nattiez (1990), »Can one Speak of Narrativity in Music?«, in: Journal of the Royal Musical Association; Carolyn Abbate (1991), »What the Sorcerer Said«, in: Unsung voices: Opera and musical narrative in the nineteenth century; Lawrence Kramer (1991), »Musical narratology: A Theoretical Outline«, in: Indiana Theory Review; Fred Maus (1991), »Music as Narrative«, in: Indiana Theory Review; Gregory Karl (1991), »The Temporal Life of the Musical Persona: Implications for Narrative and Dramatic Interpretation«, in: Music Research Forum; Gregory Karl (1993), Music as Plot: A Study in Cyclic Forms; Fred Maus (1997), »Narrative, Drama, and Emotion in Instrumental Music«, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism; Christopher Butler (1997), »Music and Narrative in Recent Theory«, in: David Greer [Hg.], Musicology and Sister Disciplines: Past, Present, and Future: Proceedings of the 16th International Congress of the International Musicological Society; Raymond Monelle (2000), The Sense of Music: Semiotic Essays; Eero Tarasti (2004), »Music as a Narrative Art«, in: Marie-Laure Ryan [Hg.], Narrative across media: The Languages of Storytelling (Frontiers of narrative); Byron Almén (2008), A Theory of Musical Narrative, Márta Grabócz (2009), Musique, narrativité, signification. Vgl. Abbate (1991), »What the Sorcerer Said«.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Monelle behauptet, dass harmonisch oder thematisch fest gefügte Abschnitte (insbesondere Themen und Themenblöcke) der Schilderung von Vergangenheit entsprächen, Entwicklungsteile (Überleitung, Modulation, Durchführung, rhythmische oder harmonische Verdichtung) dagegen mit der Schilderung von gegenwärtiger Handlung vergleichbar wären (Monelle 2000, S. 102). Schon Heinrich Christoph Koch hatte in seinem 1802 veröffentlichten Musikalischen Lexikon den Versuch unternommen, musikalische Logik anhand der Zuweisung von Subjekt und Prädikat fassbar zu machen, nahm davon aber aufgrund der nicht zu leugnenden Beliebigkeit bei der Zuordnung wieder Abstand.116 Musikalische Prozesse könnten zwar nach Auffassung von Nattiez, der immer wieder im Zusammenhang von Narrativität und Musik zitiert wird, die prozessuale Gestalt einer Handlung annehmen, aber nicht mit Bedeutung ge­­ füllt werden: »If, in listening to music, I am tempted by the ›narrative impulse‹, it is indeed because, on the level of the strictly musical discourse, I recognize returns, expectations and resolutions, but of what, I do not know.« (Nattiez 1990, S. 245)

So blieben nur Metaphern, schlussfolgert Nattiez weiter (Nattiez 1990, S. 257). Musikalische Narrativität ist in der angloamerikanischen Forschungslinie, die auch von Kanada ausgeht und in Frankreich rezipiert wird und teils das Vokabular der russischen Formalisten aufgreift, durch entweder sehr direkte Analogien zu literarischen Kategorien geprägt oder wird wegen der Begrenztheit dieser Versuche kritisch hinterfragt, besonders wegen der schwer zu klärenden Frage nach Inhalt, Bedeutung oder der Botschaft von Musik und worin musikalische Logik außerhalb der motivisch-thematischen Arbeit begründet sei. Im deutschsprachigen Raum greifen Markus Bandur117 und Hartmut Fladt118 die Idee auf, Begriffe der Filmtheorie musikwissenschaftlich zu beleuchten. Plot – das englischsprachige Wort für Handlung bzw. Sujet119 – steht bei Bandur allerdings für das, was ich als Fabel bezeichnen würde:

116 117 118 119

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Vgl. Carl Dahlhaus (2001c/GS3), »Der rhetorische Formbegriff Heinrich Christoph Kochs und die Theorie der Sonatenform«, in: Hermann Danuser [Hg.], Gesammelte Schriften in 10 Bänden, S. 614. Markus Bandur (2002), »Plot und Rekurs  –  ›eine gantz neue besondere art‹?: Analytische Überlegungen zum Kopfsatz von Joseph Haydns Streichquartett op. 33,1«, in: Haydns Streichquartette: Eine moderne Gattung. Hartmut Fladt (2009), »Haydns Formdenken und die Kategorie des ›Witzes‹«, in: Sebastian Urmoneit [Hg.], Joseph Haydn (1732–1809). »The syuzhet (normally translated as ›plot‹) is the actual arrangement and presentation of the fable in the film.« Bordwell (1985), Narration in the fiction film, S. 50.

1.  Dramaturgie und Musik »Der Ausdruck Plot, der in der Literaturwissenschaft und davon ausgehend in der Filmtheorie zur Bezeichnung einer Handlung beziehungsweise ihres Kerns, ihrer kausalen Stimmigkeit und ihrer strukturellen Logik dient, kann dementsprechend in der Musik den in Sprache übersetzbaren ›Angelpunkt‹ oder die umfassende Grundidee eines musikalischen Gebildes bezeichnen, aus dem beziehungsweise der heraus sich seine individuelle Formung verstehen und erklären läßt. […] Wie jeder Beschreibung musikalischer Sachverhalte durch Wortsprache haftet der Herausarbeitung eines Plots in der [musikalischen – R. R.] Analyse dabei der Charakter des Metaphorischen und Analogischen an.« (Bandur 2002, S. 69)

Mit »Angelpunkt« und »umfassende Grundidee« beschreibt Bandur eigentlich den für die Fabel charakteristischen inneren Zusammenhang, den geeigneten Ausgangspunkt, aber auch das Entwicklungspotenzial des Materials und sich daraus ergebende Beziehungen der Teilelemente untereinander. Der erste zitierte Satz von Bandur ist allerdings ungenau: Plot heißt Handlung, der sogenannte Kern der Handlung wäre die Fabel bzw. story.120 Der frühere musiktheoretische Begriff dafür ist »Anlage« von Heinrich Christoph Koch (Koch 1782/1787/1793), der – wie Hartmut Fladt bemerkt (Fladt 2009, S. 13) – seit Ende des 18. Jahrhundert in Philosophie und Musiktheorie geläufig ist.121 Das Konzept vom »ästhetischen Subjekt« (Danuser 1975, S. 15) überbrückt eine Reihe von Schwierigkeiten bei der Analogiebildung zwischen literarischer und musikalischer »Narrativität«. Es tritt nicht nur als moralische Instanz auf, sondern kann auch ähnlich einer narrativen Instanz musikalische Vorgänge strukturieren und sogar kommentieren. Beispiel: L. v. Beethoven: Klaviersonate Nr. 17 (op. 31, 2) Ludwig van Beethovens Musik »kommentiert« die von ihm provozierten Um­­ brüche – seinen vielzitierten »neuen Weg«122 – zuerst in den Klaviersonaten, dann auch in den Sinfonien. So beginnt z. B. der erste Satz Largo  –  Allegro in Beet­ hovens Klaviersonate Nr. 17 (op. 31, Nr. 2) mit einem arpeggierten A-Dur-Sextakkord, der die Assoziation an ein Rezitativ weckt. Es ist eine Form innerhalb von Vokalwerken, in der die Figurenrede oder aber der Bericht oder Kommentar eines Erzählers vorgetragen wird. Innerhalb der einleitenden 20 Largo-Takte erklingt die Gestalt des Sextakkordes ein weiteres Mal. Im Übergang zur Durch120 121

122

Vgl. Abb. 5: Begriffsvarianten für Fabel und Sujet in Kap. 1.1.7 (»Das Fabel-Sujet-Begriffspaar«). Vgl. Johann Georg Sulzer (1771, 1774/2002), Allgemeine Theorie der schönen Künste: Lexikon der Künste und der Ästhetik (1771/1774) sowie Heinrich Christoph Kochs Versuch einer Anleitung zur Composition in: Ulrich Kaiser (2007), Musiktheoretische Quellen 1750–1800: Gedruckte Schriften von J. Riepel, H. Chr. Koch, J. F. Daube und J. A. Scheibe. Siehe: Carl Czerny (1860/1968), Erinnerungen aus meinem Leben, S. 43.

101

Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung führung erscheinen in T. 93–98 drei weitere solcher Sextakkorde mit der Rezitativ-Assoziation. In der Reprise kehren die ersten beiden Sextakkorde wieder, nun erweitert durch etwas, das als wortloses, mit dem Klavier »gesungenes« Rezitativ bezeichnet werden kann. Es setzt sich deutlich von der Umgebung ab (T. 143– 158) und ist mit con espressione e semplice überschrieben. Spätestens an dieser Stelle ist Raum für die Assoziation zu jenem Gestus, der für die Eröffnung von Rezitativen typisch wäre. Durch das eingefügte Klavier-Rezitativ und die rezitativisch anmutenden Sextakkorde als versetzt eingestreute Begleitakkorde verschafft sich inmitten des musikalischen Prozesses gleichsam ein »Erzähler« Raum und Gelegenheit zum Kommentar. Das scheint auch insofern in diesem Fall notwendig zu sein, da der erste Satz der Sonate die tradierten Auffassungen zur musikalischen Form ignoriert: Die barocke und klassische Idee der Affekteinheit innerhalb eines Satzes, die z. B. noch bei Haydn obligatorisch war, wird negiert, und die Ergänzung musikalischer Teile mit Taktgruppen, die einen Ausgleich von harmonischer und motivisch-thematischer Spannung bewirken, bleibt unvollkommen. In seinem persönlichen Experimentierfeld der Klaviersonate markiert Beethoven somit einen kompositorischen Neuanfang,123 der Außergewöhnliches in seiner musikalischen Dramaturgie offenbart. Im erwähnten Beispiel steht noch relativ deutlich und mit den genannten musikalischen Mitteln markiert das »ästhetische Subjekt« als imaginärer »Erzähler« oder »Moderator« vermittelnd zwischen Publikum und Werk.

Für musikalische Formen wurden vonseiten der Musiktheorie und Musikwissenschaft immer wieder Analogien zu den narrativen Künsten hergestellt. Ein durch narrative Metaphern124 gestütztes Formdenken wirkte wiederum auf den musikalischen »Inhalt« und seinen »Sinn« zurück. Um die Funktions- und Konstruktionsprinzipien musikalischer Teilmomente sowie den Zusammenhalt von Musik 123

124

102

Von Beethovens Schüler Czerny ist eine Aussage überliefert, die nahelegt, dass sich Beethoven der Neuartigkeit seiner Konzeption bewusst war. Um 1803 soll Beethoven zu dem befreundeten Geiger Wenzel Krumpholz gesagt haben: »Ich bin nur wenig zufrieden mit meinen bisherigen Arbeiten. Von heute an will ich einen neuen Weg einschlagen.«, vgl. Czerny (1860/1968), Erinnerungen aus meinem Leben, S. 43. Forner legt dar, dass sich das Zitat tatsächlich direkt auf die drei Sonaten op. 31, 1–3 bezieht, siehe: Johannes Forner (2011), Ludwig van Beethoven – Die Klaviersonaten: Betrachtungen zu Werk und Gestalt, S. 86. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle eine vollständige Metapherntheorie zu bemühen, doch muss berücksichtigt werden, dass unterschiedliche Gewichtungen in der Bedeutung des Begriffs »Metapher« gesetzt werden können. In der Poetik des Aristoteles ist von der Übertragung zwischen verschiedenen Modi, nicht der direkten Anwendung zu lesen sowie von Analogiebildung: »Die Metapher ist die Übertragung eines Wortes, das (eigentlich) der Name für etwas anderes ist, entweder von der Gattung auf die Art oder von der Art auf die Gattung oder von einer Art auf eine (andere) Art oder gemäß einer Analogie.«; vgl. Aristoteles (2008), Poetik, S. 29; Kap. 21, 1457b5.

1.  Dramaturgie und Musik

zu beschreiben oder – wie Dahlhaus formulierte – um »das Bleibende im Transistorischen der Musik« (Dahlhaus 2001c/GS3, S. 609) zu fassen, entlehnte man als Metaphern immer wieder Begriffe aus Rhetorik und Poetik. Analogien zur sprachlichen Syntax, Figurenlehre bzw. Rhetorik und zur Dramentheorie waren am nachhaltigsten. Die Analogiebildungen zwischen sprachlicher und musikalischer Syntax dienten vor allem der Differenzierung der gliedernden musikalischen Mittel und führten 1787 bei Heinrich Christoph Koch zum Begriff der »interpunctischen Form«.125 Zur Abstufung unterschiedlich stark gliedernder Kadenzen oder melodischer Formeln wurde der Vergleich mit den Satzzeichen und Sinneinheiten der geschriebenen Sprache bzw. dem Sprechen gezogen (so auch mit dem Heben oder Senken der Stimme bei Fragen oder Aussagen). Auch verglich schon 1739 Johann Mattheson (und in der Folge einige andere Musiktheoretiker) die Gesamtstruktur eines Musikstückes mit Strukturen und Wirkungsmechanismen der allseits geläufigen Rhetorik.126 Dies führte speziell zum Vergleich musikalischer Abschnitte und Mittel mit dem Aufbau und den Mitteln der antiken Gerichtsrede (Mattheson 1739/1999, S. 349 f.). Der seit Nikolaus Harnoncourt wieder genutzte Begriff der »Klang-Rede« (Harnoncourt 1982) versucht dies zu erfassen und steht seit den 1980er Jahren für ein Musikverständnis, das sich einer historisch informierten Aufführungspraxis zuwendet.127 Um zu belegen, dass Komponisten und Theoretiker im 18. Jahrhundert »rhetorisch dachten und fühlten (sie hatten in der Regel das Fach ›Rhetorik‹ im Rahmen ihres Latein-Unterrichts)« (Fladt 1998/2000, S. 458), soll ein Zitat aus Matthesons Abhandlung Der Vollkommene Capellmeister von 1739 deutlich machen, wie grundlegend Rhetorik und Dichtkunst bei der theoretischen und praktischen Beschäftigung mit Musik war: Um »bis auf den Mittelpunct« der Musik durchzudringen, »müssen wir uns die Mühe geben, die liebe Grammatic sowol, als die schätzbare Rhetoric und werthe Poesie auf gewisse Weise zur Hand zu nehmen: denn ohne von diesen schönen Wissenschafften vor allen die gehörige Kundschaft zu haben, greifft man das Werck, ungeachtet des übrigen Bestrebens, doch nur mit ungewaschenen Händen und fast vergeblich an.« (Mattheson 1739/1999, S. 279)

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126 127

Der Begriff der »interpunctischen Form« von Heinrich Christoph Koch spiegelt das Denken in rhetorischen Kategorien besonders deutlich wieder, vgl. Kochs Traktat »Versuch einer Anleitung zur Composition« von 1787. Siehe auch: Kaiser (2007), Musiktheoretische Quellen 1750– 1800: Gedruckte Schriften von J. Riepel, H. Chr. Koch, J. F. Daube und J. A. Scheibe. Im 18. Jahrhundert verwiesen die Musiktheoretiker Mattheson und Koch ebenso wie die Philosophen Sulzer, D’Alembert und Diderot stets auf die Sprachähnlichkeit der Musik oder forderten für die musikalische Komposition die Orientierung an der Dichtkunst und Rhetorik. Vgl. Hartmut Fladt (1998/2000), »Formbildung«, in: Ulrich Kaiser [Hg.], Gehörbildung: Satzlehre, Improvisation, Höranalyse: ein Lehrgang mit historischen Beispielen, S. 458.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Noch deutlicher  –  wie Dahlhaus bemerkt  –  zeichnet sich der Zusammenhang von musikalischem Formendenken und rhetorischer Konzeption eines Vortrages oder einer Rede bei Johann Nikolaus Forkel ab, der 1788 in der Einleitung seiner Allgemeinen Geschichte der Musik schreibt: »Die Hauptempfindung, der Hauptsatz, das Thema  …  muss vorzüglich genau bestimmt werden; daher bedient man sich 1) der Zergliederung, um sie auf allen möglichen Seiten zu zeigen; 2) passender Nebensätze, um sie damit zu unterstützen; 3) möglicher Zweifel, das heißt im musikalischen Sinn, solcher Sätze, die der Hauptempfindung zu widersprechen scheinen, um durch die darauf folgende Widerlegung derselben den Hauptsatz desto mehr zu bestimmen; und endlich 4)  der Bekräftigung durch Vereinigung, oder nähere Zusammenstellung aller Sätze, die vereint dem Hauptsatze die stärkste Wirkung verschaffen können.« (Zitiert nach Dahlhaus 2001c/GS3, S. 612)

Obwohl die Rhetorik zu einem Großteil als Rechtfertigung für die nicht von einem Text bestimmte Formbildung in der Instrumentalmusik herangezogen wurde und damit ihrer Emanzipation von der Vokalmusik diente, wird doch deutlich, wie gemeinsame Wesensmerkmale von sprachlichem Vortrag und musikalischer Gliederung bzw. Verlauf benannt werden können. Die Anordnung und Unverrückbarkeit der Teile, ihre Funktion mit Hinblick auf eine zu erzielende Wirkung zeigen dabei in der Musik eine abstrakte Form von Narrativität und eigene Art der musikalischen Dramaturgie in »autonomer« Musik. An ausgewählten Metaphern, die für die Theorie der Sonatenform verwendet wurden, kann exemplarisch gezeigt werden, welche Akzente für Pragmatik und Ästhetik der Musik gesetzt und welche narrativen Implikationen in »autonomer« Musik musiktheoretisch schon erörtert wurden. Interessant an diesen Deutungsund Erklärungsansätzen für musikalische Form ist insbesondere, dass sie unterschiedlich mit dem Phänomen der Wiederholung umgehen. Wiederholungsstrukturen besitzen zweifellos dramaturgische Relevanz. Dieser Sachverhalt ist auch für die Musikdramaturgie im Film bedeutsam. Musikwissenschaftlich sind Fragen nach der Funktion und Wirkung von Wiederholungen als Teil der Formenlehre thematisiert worden. Wiederholungen aber auch andere in der Zeit sich entfaltende Phänomene wie Rhythmisierung des Ablaufs, Tempoempfinden, Verdichtungsprozesse u. Ä. sind in ihrer Wirkung im Kino durch das Aufeinandertreffen der beiden ästhetischen Systeme Musik und Film geprägt und durch die Kontinuität der Zeitachse als Schnittstelle aufeinander bezogen. Antonín Reicha hat 1826 den Sonatenhauptsatz mit dem Aufbau eines Dramas verglichen. Reichas Auffassung geht von dem in der Mitte liegenden Teil des Sonatenhauptsatzes, der Durchführung, aus. Er trennt mit einem Schnitt (coupe)

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1.  Dramaturgie und Musik

am Ende der Exposition den Sonatenhauptsatz in zwei große Teile und spricht vom »zweiteiligen Drama«.128 Diese Mitte markiert das Ende der »Exposition«, welche die zwei »Mutterideen« (idée mère) enthält, und ist zugleich der Beginn der Durchführung. Der Schnitt kündigt den dramaturgischen Kulminationspunkt an, vergleichbar mit dem im Drama ebenfalls ungefähr in der Mitte oder spätestens am Ende des zweiten Drittels liegenden Handlungsumschlag (Peripetie). Die Durchführung wäre demnach beim Vergleich mit der aristotelischen Dramaturgie die Stelle der »äußersten Steigerung« (Aristoteles 2008, S. 25; Kap. 18, 1455b25). Eindeutig auf die Terminologie von Lessing und Aristoteles zurückgreifend verwendet Reicha die Begriffe »Intrige« (intrigue, nach Lessing) bzw. »Knoten« (nœud bzw. Verwicklung, nach Aristoteles).129 Die heute als Durchführung (französisch: développement, englisch: development) bezeichnete erste Passage des zweiten Teils enthält demnach die Intrige oder die Schürzung des Knotens. Die heute im Deutschen Reprise, im Englischen recapitulation bezeichnete zweite Passage des zweiten Teils »entknotet« demnach die in der Durchführung aufgebaute Spannung: »La première partie de cette coupe est l’exposition du morceau; la première section [de la deuxième partie] en est l’intrigue, ou le nœud; la seconde section en est le dénoûement« (Zitiert nach Dahlhaus 2001c/GS3, S. 610)

Eine aus dramaturgischer Sicht notwendige Kritik dieser Dramen-Analogie Reichas setzt an der Übersetzung des aristotelischen Begriffs an: In der neuen Übersetzung der Poetik von Arbogast Schmitt (Schmitt 2008) heißt es »Verwicklung« anstelle von »Knoten«, wie auch schon Carl Czerny in seiner Übersetzung von Antonín Reichas Kompositionslehre schreibt: »Der erste Theil dieses Rahmens [des Formmodells der großen zweiteiligen Form, R. R.] ist die Exposition des Stückes; Die erste Unterabtheilung des zweiten Theils desselben [mit heutiger Terminologie: Durchführung, R. R.] ist die Verwicklung (die Intrigue) oder der Knoten; Die zweite Unterabtheilung desselben [mit heutiger Terminologie: Reprise, R. R.] ist die Entwicklung oder Entschürzung.«; siehe: (Reicha 1824–26, S. 1162 – 10ter Theil).

Während »Knoten« sehr punktuell wirkt, zeigt das Wort Verwicklung die langwierige, vorbereitende Arbeit. Die »Entknotung« ist die Phase der »fallenden Handlung« (Freytag 1863) und erzeugt Spannung, weil in der Auflösung der Ver128 129

Bei Reicha auf S. 298 seines Traité de haute composition musicale (Bd. 2) von 1826. Arbogast Schmitt übersetzte an dieser Stelle mit »Verwicklung« anstelle von »Knoten«: »Die Verwicklung ist der Teil der Handlung, der von ihrem Anfang bis zu dem Punkt reicht, der die äußerste Steigerung bildet, von der aus der Übergang ins Glück bzw. ins Unglück stattfindet; die Auflösung ist der Teil der Handlung, der vom Anfang des Übergangs bis zum Schluss reicht.« Aristoteles (2008), Poetik, S. 25; Kap. 18, 1455b25.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

wicklung die weit reichende bzw. psychologisch tief liegende Begründung der Verwicklung deutlich wird und die Lösung umso befriedigender erscheinen lässt. So entsteht ein Widerspruch innerhalb der Analogie, da im dramaturgischen Sinne die »Entknotung« spannungssteigernd funktioniert. Die Reprise als harmonisch ausgeglichene Wiederkehr der Exposition, in der auch widersprüchliche Identitäten durch die gemeinsame Tonart versöhnt erklingen, widerspricht dem. In der musikalischen Realität wird in der Reprise die durch thematische Verwicklung und harmonische Prozesse aufgebaute Spannung ausgeglichen und durch meist überschaubare Interventionen, die Redundanzen verhindern sollen, auf einem notwendigen Level gehalten. Sie als dénoûement zu bezeichnen, ist im engeren Sinne dramaturgisch gesehen falsch, weil im Drama die Spannung während der »fallenden Handlung« durch »Entknotung« erheblich steigt, dagegen im konventionellen Sonatensatz die Wiederkehr von »eingerichteten« musikalischen Strukturen in der Reprise das Moment des Wiedererkennens darstellt und ein Signal für den Abschluss des Satzes nach dessen Entwicklungsteil (der Durchführung) gibt. Wie Dahlhaus erläutert, hat sich Carl Czerny der Sicht seines Lehrers Reicha wenig später angeschlossen und interpretierte aus scheinbar gesteigertem Interesse an dessen Theorie die Sonatenform in einem nunmehr offensichtlichen Widerspruch zum musikalischen Sachverhalt der meisten Beispiele, wie Dahlhaus ausführt: »Die Metapher ›dénoûement‹, die für die Wiederherstellung der Thematik in der Reprise nach den Verwicklungen in der Durchführung sinnvoll und angemessen sein mag, solange die Erinnerung an die Dramentheorie schattenhaft bleibt, verfehlt allerdings den musikalischen Sachverhalt, wenn man wie Czerny den Vergleich mit dem Drama presst und vom Anfang der Reprise als einer ›überraschenden Katastrophe‹ spricht.« (Dahlhaus 2001c/GS3, S. 610)

Das Ereignis »Reprise«, die Wiederkehr von Bekanntem als fundamentales musikalisches Gestaltungsprinzip, wird in der zugespitzten Interpretation Czernys kaum gewürdigt. Dennoch kann die Metapher der Sonatenhauptsatzform als Drama nachvollziehbare Analogien zwischen den musikalischen und den dramatischen Identitäten sowie den Prozessen der Verarbeitung von Material und Konflikten herstellen. Insbesondere die Akzentuierung des Widersprüchlichen, Dynamischen und Prozessualen wäre ein wichtiges Merkmal der Dramen-Analogie für den Sonatenhauptsatz.130 Mit Hinblick auf die Finalkonzeptionen vieler 130

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Als dynamischen Prozess kann man im Sonatensatz z. B. die motivisch-thematische Arbeit in den Entwicklungsteilen (Überleitungen in der Exposition und die Durchführung) und die dazu gehörenden Merkmale wie Zergliederung, Motivabspaltung, polyphone Verdichtung, entwickelnde Variation, allgemein gesagt Verdichtung und Expressivität ansehen.

1.  Dramaturgie und Musik

Sinfonien des (späteren) 19. Jahrhunderts ließe sich die Dramentheorie eventuell doch wieder als Analogie aufgreifen. Sie müsste dann aber auf Abfolge und Konzeption aller Sätze und nicht auf den Haupt- oder Kopfsatz bezogen werden. Die in romantischen Sinfonien über die Teilsätze hinweg ausgelegten musikalischen Gedanken, deren Verarbeitung und Aufgehen in einer Schlusswirkung bei gleichzeitiger Spannungssteigerung zum Ende hin passen nicht selten zu den erläuterten Konzepten der Dramentheorie. Eine andere, bisher noch nicht musikwissenschaftlich untersuchte Analogie aus der Dramentheorie, die produktiv auf die musikalische Komposition angewendet werden kann, ist das »retardierende Moment«.131 Es ist ein musikalischer Abschnitt, der vom Innehalten, vom Anhalten der zuvor in Gang gesetzten Prozesse vor dem letzten, auf Schlusswirkung abzielenden Abschnitt eines Werkes geprägt ist. Das retardierende Moment liefert eine bisher unberücksichtigte Sicht auf Geschehen und Konflikte. Das retardierende Moment hat die Aufgabe, die Spannung durch eine der Hauptrichtung entgegenwirkende Tendenz zu steigern. Bei einem tragischen Ausgang entsteht überraschend der Eindruck, dass plötzlich doch noch das Unglück verhindert werden könnte. Bei einem angestrebten glücklichen Ende erzeugt das retardierende Moment die Spannung durch Behinderungen der Lösung. Die so entstehende »Fallhöhe« lässt sich auf Musikstücke und deren angestrebte Finalwirkung übertragen. Der Erwartbarkeit thematischer, kadenzieller oder die Proportionen betreffender Redundanz in der Reprise einer Sonate oder den vergleichbaren Vorgängen bei der Abfolge von Variationen und einigen anderen musikalischen Gattungen wird etwas entgegengestellt. Daher kann ein retardierendes Moment auch außerhalb des Musiktheaters als musikdramaturgisches Mittel verstanden werden. Ein weites Feld für Analogien öffnet sich bei Analysen der motivisch-thematischen Verarbeitung von musikalischem Material. Nicht selten zeigt sich hierbei ein scheinbar logischer Anteil, ähnlich der Kausalität einer sich aus inneren Notwendigkeiten und äußeren Wahrscheinlichkeiten heraus entfaltenden »Handlung«. Adorno bezeichnet solche Beobachtungen in den ersten Sätzen der 3., 5. und 7. Sinfonie von Beethoven als »Pathos des klassizistischen Symphonietypus«, den er von Mahlers romanhaftem »epischen Kompositionsideal« abgrenzt (Adorno 1960/1969, S. 88). Adornos Ausführungen zeigen, dass die Anlehnung an

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Meine Untersuchungen dazu befinden sich ganz am Anfang. Einen Ausgangspunkt könnte dieser Beitrag bilden: Robert Rabenalt (2013), »Musikdramaturgie als kreatives Analysewerkzeug für die Untersuchung von Beschaffenheit und Wirkung musikalischer Werke.«, in: Andreas C. Lehmann, Ariane Jeßulat und Christoph Wünsch [Hg.], Kreativität – Struktur und Emotion.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

narrative Kategorien dann sinnvoll sein kann, wenn sich autonome Musik – wie im Falle von Beethovens und Mahlers Sinfonien – den tradierten Formkonzepten und damit auch den Rezeptionsgewohnheiten entzieht. Dies scheint produktiver als ein Hineinpressen von Musik entweder in eine zu begrenzte Sonatentheorie oder in Modelle der Dramentheorie. Wie Sponheuer am Beispiel des Terminus »Peripetie« zeigt, steht Adorno damit in einer  –  wenn auch noch relativ kurzen – Forschungstradition: »Der Begriff ›Peripetie‹ als musikalische Kategorie ist wohl zum ersten Male in der Wiener Dissertation Heinrich Schmidts ›Formprobleme und Entwicklungslinien in Gustav Mahlers Symphonien. Ein Beitrag zur Formenlehre der musikalischen Romantik‹, Wien 1929, auf Mahlers Symphonien angewandt worden: ­Schmidt 81 ff. Er wird dort allerdings mehr psychologisch (›Betrachtung der psychologischen Steigerungen und Entwicklungen, die wie in jedem romantischen Werk auch in Mahlers Symphonien den Kern der Anlage bilden‹ S­ chmidt, 81) als strukturell akzentuiert. Der Adorno’sche Begriff des ›Durchbruchs‹ (vgl. Adorno, Mahler, 10–24, 60 ff.) entspricht weitgehend dem der Peripetie, allerdings ohne im geringsten dessen psychologische Motivation zu teilen.« (Sponheuer 1978, S. 52, Anm. 5)

Als ein interessanter neuerer Versuch, literarische Kategorien auf Musik zu übertragen, ist ein Kongress-Beitrag von Jens Marggraf zu nennen, der bereits folgendermaßen kommentiert wurde: »Die Überführung von Analyse in Musikästhetik realisierte mustergültig Jens Marggraf (Halle), der eine Annäherung an den Kompositionsstil C. Ph. E. Bachs ausgehend von analogen Strukturprinzipien in Laurence Sternes Roman Tristram Shandy suchte. Dabei gelang ihm eine verblüffende Parallelisierung von literarischen Techniken der englischen Empfindsamkeit mit kompositorischen Strategien in Bachs Rondos und Fantasien.« (Froebe 2006, S. 368)

Der von Marggraf angestellte Vergleich mit Laurence Sternes Roman The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman132 ist auch insofern interessant, als dass Sterne ein Vorbild für Jean Paul war, der (wie im vorigen Kapitel ausgeführt) bedeutsam für die musikalischen Romantiker (allen voran E. T. A. Hoffmann, R. Schumann und H. Berlioz) war. Bei allen bemerkenswerten Analogien in der Geschichte der Musiktheorie, die zum Drama, Roman oder aber zu Modellen der Rhetorik hergestellt werden

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Auch Bandur erwähnt L. Sterne in: Bandur (2002), »Plot und Rekurs – ›eine gantz neue besondere art‹?: Analytische Überlegungen zum Kopfsatz von Joseph Haydns Streichquartett op. 33,1«.

1.  Dramaturgie und Musik

können, geht jedoch keines der Analogiekonzepte vollständig auf. Die narrativen und dramaturgischen Implikationen, die von diesen Analogien angesprochen werden, sind aber von großem Interesse für die musikalische Analyse und für die von Dramaturgie thematisierten Fragen zum Zusammenhang von Struktur und Wirkung prozessualer Künste. Greifbar werden sie durch miteinander in Beziehung tretende und aus anderen Kunstgattungen vertraute Wirkungsmechanismen und Strukturähnlichkeiten. Durch Analogien verbalisierbare Ideen verbinden sich so mit einer abstrakt bleibenden musikalischen Welt, die viele individuelle Reflexionen und Resonanzen zulässt.

1.3  Zusammenfassung Kapitel 1

Dramaturgie hat eine praktische, auf die Aufführung gerichtete und eine theoretische Seite, die Strategien, Grundsätze und Normen systematisiert. Sie ist auch als eine Methode geeignet, künstlerische Werke in den Erscheinungsformen der zeitbasierten, darstellenden Künste zu durchdringen. Die Kategorien der Dramaturgie sind dafür geeignet, Erzählkunst und rezeptionsästhetische Modellvorstellungen des darstellenden Erzählens begrifflich und künstlerisch zu fassen. Dabei wird das Publikum ins Zentrum der Betrachtung gerückt. Darin unterscheidet sie sich z. B. von der Narratologie. Mit Dramaturgie kann man die in einer Geschichte verhandelten Themen kreativ durchdenken. Sie ist weniger als ein fest gefügtes Regelwerk zu verstehen, als das sie oft eingegrenzt wird, sondern bündelt Überlegungen und Konzepte, um die für eine (filmische) Erzählung geeignetste Relation von Handlungsaufbau, Wirkung und Glaubwürdigkeit zu erreichen. Dazu gehört auch der Aktualitätsbezug der Geschichte und ihrer Form. Die Vielfalt der erzählerischen visuellen und auditiven Mittel, darunter Sprache, Affektlaute, Geräusche und Musik, wird von Dramaturgie in eine notwendige Begrenzung geführt. Damit ist Dramaturgie Teil der Ästhetik und Theoriebildung ebenso wie der praktischen Umsetzung. Trotz unterschiedlicher Auffassungen und unterschiedlicher Terminologie kann eine Reihe tradierter, aber auch moderner Begriffe, Strukturmodelle und Strategien aufgegriffen werden. Dazu zählen grundsätzliche Konzepte wie die Unterscheidung zwischen expliziten und impliziten Dramaturgieanteilen, das Konzept der offenen und geschlossenen Form und das Fabel-Sujet-Begriffspaar. Konkreter werden Strukturmodelle, die nach Akten oder Sequenzen gegliedert sind, einhergehend mit der Benennung von Wendepunkten der Handlung und die Differenzierungen unterschiedlicher Fabelkonzepte und Strukturmuster.

109

Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Die Kategorie der Spannung ist ein wesentliches Element von Dramaturgie, da neben strukturellen Fragen auch das Wechselspiel aus Spannungsverlauf und Aufmerksamkeitslenkung mit visuellen, sprachlichen und anderen auditiven Mitteln (darunter Musik) von Dramaturgie mitbestimmt wird. Die genannten Modelle beinhalten daher Konzepte, die das Verhältnis von Handlungskurve und Spannungskurve regeln. Durch Bezüge zwischen äußeren Handlungen (Figuren in sichtbaren Vorgängen) und inneren Handlungen (Affektdispositionen und Überzeugungen der Charaktere) entsteht aber auch eine andere Form von dramaturgisch bedeutsamer Spannung, sodass zwischen handlungslogischer Spannung (suspense) und in der Anlage und Figurendispositionen einer Geschichte steckender Grundspannung (tension) unterschieden werden kann. Bei der Anwendung des Begriffs Dramaturgie auf den Film kommen poetische Eigenheiten hinzu, vor allem die Gestaltungsformen der filmischen Montage. Sie ist nicht nur als Technik zur Simulation eines raumzeitlichen Kontinuums zu verstehen, das der Handlungslogik dient, sondern realisiert auch auf spezifische Weise den Wechsel zwischen epischen, dramatischen und lyrischen Passagen einer Filmgeschichte. In keinem anderen Medium ist der Wechsel zwischen diesen Erzählmodi so flexibel möglich. Sofern ergänzende Filmmusik nicht nur aus Gewohnheit in einem Film enthalten ist, liegt ihre dramaturgische Berechtigung in erster Line darin, Brüche bei den Übergängen zwischen den Modi zu überbrücken und die an sie geknüpften unterschiedlichen Rezeptionsstrategien wach zu rufen. Filmdramaturgie befindet sich im Spannungsfeld der ökonomischen Kräfte eines reproduzierbaren Massenmediums, sodass nie eindeutig gesagt werden kann, welche Faktoren für den Erfolg eines Films stehen und ob sich Kunst und Ökonomie in einem befruchtenden oder behindernden Verhältnis gegenüberstehen. Aus dramaturgischer Sicht muss die Terminologie zur Analyse von Filmmusik an entscheidender Stelle überdacht werden, was am Beispiel der Diskussion zu den Begriffen diegetisch/non-diegetisch deutlich wird. Bei der Übertragung des antiken Begriffs diegesis in die Filmtheorie sind für die Dramaturgie entscheidende Aspekte unberücksichtigt geblieben. So entstand eine inkonsistente, für Filmmusik nicht treffend differenzierte Terminologie, deren Umbau mit Blick auf die Musikdramaturgie nach wie vor nicht zu befriedigenden Lösungen geführt hat. Auch zum Begriff mimesis bestehen Missverständnisse, die zur Eingrenzung von mimesis als Nachahmung der Wirklichkeit führen können und ihre schöpferische Seite (in doppelter Hinsicht: durch das Dichten und beim Nachschöpfen durch das Publikum) bei der Aneignung der Welt vernachlässigen. Vor allem der durch Aristoteles geforderte Aspekt der Wahrscheinlichkeit relativiert den Wahrheitsanspruch der Nachahmung nach Platon und verleiht der Mimesis die Eigenschaft, die Welt so zeigen zu können, wie sie »sein soll«.

110

1.  Dramaturgie und Musik

In der Erzählkunst kann unterschieden werden, ob Handlungen mimetisch (zeigend) und somit ohne eine vermittelnde Instanz oder diegetisch (erzählend, berichtend) und dabei mit Vermittlung durch eine Erzählinstanz präsentiert werden. Beides sind für den Film essenzielle Arten der Nachahmung bzw. Modi der Darstellung, die allerdings nicht kompatibel sind mit der geläufigen Terminologie der Filmmusiktheorie, insbesondere mit den Begriffen diegetisch/non-diegetisch, die – einfacher – durch das Paar intern/extern ersetzt werden könnten, um die dramaturgische Dimension der antiken Begriffe diegesis und mimesis beibehalten zu können. In der Poesie des Kinos ist die logische Trennung von Musik im Präsentationsraum (extern) und im Handlungsraum (intern) nur als kategoriales Gerüst hilfreich, das wieder entfernt werden kann, sobald die Geschichte vollständig ist und in der Aufführung bzw. Vorführung abläuft. Der mimetische Modus der Darstellung hat eine Bindung an gut überschaubare raumzeitliche Bedingungen. Die Handlungen der Figuren sind der Gegenwart und begrenzten Räumlichkeit einer (ursprünglichen) Bühnendarstellung verhaftet. Hinter ihnen verschwinden der konkrete und der abstrakte (implizite) Autor. Der diegetische Modus dagegen erzählt von Handlungen, ahmt sie durch Sprache und Erzählinstanz indirekt nach, sodass konkreter und abstrakter (impliziter) Autor außerhalb wörtlicher Rede an ihren eigenen Worten und Wendungen erkennbar werden. Die bemerkbare vermittelnde narrative Instanz ist räumlich und zeitlich ungebunden, wie es für epische Gattungen konstituierend ist – im Gegensatz zum mimetischen Modus, der durch die Präsenz agierender Figuren charakterisiert wird und für dramatische Gattungen konstituierend ist. Daraus folgen jeweils andere Möglichkeiten zur Anordnungen der Handlung. Beide Modi des nachschöpfenden Erzählens sind im Verbund mit lyrischen Mitteln im Film spezifisch umgesetzt anzutreffen und bringen eine Bandbreite unterschiedlicher Arten von Spannung und Wirkungen des filmischen Erzählens hervor. Filmmusik leistet beim Wechsel zwischen den Modi und für das Abrufen passender Strategien bei der Rezeption oftmals einen entscheidenden Anteil. Die folgende Grafik zeigt eine komprimierte Zusammenfassung der bisher diskutierten Fragen zu filmästhetisch und narratologisch abgrenzbaren Räumen und die Überschneidungen dieser Konzepte mit Aspekten der Filmdramaturgie. Sie kann auch als Grundlage genommen werden, um später die Terminologie der auditiven Ebenen neu zu diskutieren. (s. Abb. 6) Die Gattungsmerkmale fiktionaler und dokumentarischer Formen des Films unterscheiden sich zwar in einigen durchaus wesentlichen Punkten (Konkretheit des Drehbuchs, Spontaneität, Intention der Filmschaffenden, Verantwortung gegenüber den Protagonisten). Dramaturgisch gesehen gibt es jedoch mehr Ge­­ meinsamkeiten als Unterschiede zwischen Spiel- und Dokumentarfilm und somit

111

Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung Auswahl | Geschichte | Komposition (Fabel, mythos, story) Exposé/ Drehbuch | Filmmischung | vorliegender Film

visuelle, klangliche und sprachliche Konkretisierung (Text) | Präsentation der Handlung (Sujet, plot) szenische Einrichtung (mise en scène), Inszenierung (ópsis) | optische Kadrierung | Montage

Zitierte Welt von Figuren entworfene/ erzählte Welt

Gezeigte Welt (imaginativer Handlungsraum) Mimetischer Erzählmodus (direkt Nachahmen) = Zeigen Diegetischer Erzählmodus (indirekt Nachahmen) = Berichten

Filmsprachlich dargestellte Welt Filmisches Werk

Vorfilmische Welt Abb. 6: Filmästhetisch, dramaturgisch und narratologisch abgrenzbare Räume

eine Vielzahl von gegenseitigen Einflüssen und Mischformen. Hier zeigt sich, dass Dramaturgie über Gattungsgrenzen hinweg ein Werkzeug ist, um Erzählungen zu erschaffen, und durch den Gebrauch der künstlerischen Mittel ein Erkenntnisinstrument ist, mit dessen Hilfe gesellschaftliche Umstände abgebildet werden können. Dass dies im Falle des Dokumentarfilms offensichtlich geschieht und in fiktionalen Genres eher verschleiert wird, ist bei Berücksichtigung vieler Beispiele eine nicht zu haltende Ansicht. Die Untersuchungen musikästhetischer Auffassungen und überlieferter Kontroversen haben gezeigt, dass musikwissenschaftliche Methoden der Filmmusikforschung bei der Entwicklung von Thesen helfen können und eine Reihe hilfreicher Begriffe zur Verfügung stellen. Insbesondere die Thesen dazu, was der Inhalt von Musik wäre, inwieweit Musik die geeignete Sprache sei, um Innerlichkeit zum Ausdruck zu bringen, und was musikalische Poesie und Programmmusik sind, offerieren Ideen dafür, worauf Filmmusik ästhetisch aufbaut und wie sich ihre Wirkung in den Erzählkünsten erklären lässt. Musik »erzählt« nicht selbst. Aber in Strukturen und Prozessen von Musik steckt implizit die Geste eines »erzählenden« Subjekts. Musiktheoretische Formbegriffe korrespondieren mit narrativen Formidealen und zielen z. B. auf den lyrisch-kreisenden Charakter von Musik (z. B. realisiert

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1.  Dramaturgie und Musik

in einer liedhaften Melodie), den prozessualen Charakter von Musik (z. B. ein Thema und seine Verarbeitung) oder auf die Disposition der Teile und Charaktere (z. B. Verwicklung, Höhepunkt und Lösung; Analogien zwischen Themendualismus und Protagonist vs. Antagonist, Nebenthema und Nebenfigur), was auch die Methodik zur musikalischen Analyse von Filmmusik beeinflusst hat und weiter beeinflussen dürfte. In der musikalischen Komposition wird ein außermusikalisches Sujet als kompositorisches Material verstanden, wie Töne, Rhythmus und Harmonien. Musik »spricht« dann von den Resonanzen, die zwischen den Haltungen und Gefühlen der Komponierenden und Ausführenden entstehen. Einhergehende Missverständnisse zur Narrativität von Musik, etwa die Literarisierung von Musik durch verbales Festhalten eines dem Musikstück zugrunde liegenden Programms, führten aber zu fließenden Grenzen im Verständnis von musikalischer Illustration, Musik als Ausdruck innerer Empfindungen und Ideenkunstwerk. Für die Analyse von Filmmusik könnten die musikalischen Mittel, die illustrieren oder solche Resonanzen schon einmal außerhalb des Films zum Ausdruck gebracht haben, interessant werden. Es wäre noch genauer zu untersuchen, wann und welche musikalischen Topoi in komponierter, kompilierter oder zitierter Filmmusik zum Einsatz kommen und dramaturgische Bedeutung erlangen.

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2.  Ästhetik und Affekt Dieses Kapitel widmet sich Aspekten der Filmästhetik und dem emotiven Erleben von Film und Filmmusik. Im audiovisuellen Kontext ist Musik häufig daran beteiligt, Stimmungen, Gefühle und Affekte sowie Basisemotionen zu begleiten oder zu beeinflussen. Emotionen haben eine objektive physiologische Komponente (die hier nicht Gegenstand der Betrachtung ist) und eine subjektive psychologische Komponente, die in Beziehung gesetzt werden sollen zur Erzählkunst. Ausgangspunkt für die hier angestellten Untersuchungen ist, dass die gereihten Bilder der visuellen Schicht die zu erzählende Geschichte konkretisieren und dem Film einen authentisch wirkenden Charakter geben. Die zu den Bildern montierte Klangschicht aus Ton und Musik befördert dabei den Eindruck von Einheitlichkeit, denn formell betrachtet liegt ein nur aus montierten Bruchstücken bestehendes visuelles Abbild der fiktionalen Wirklichkeit vor. Schon Zofia Lissa stellte fest, dass die Konkretheit der Bilder durch Musik verallgemeinert oder vertieft werden kann (Lissa 1965, S. 357). Musik im Film wird aber von der Konkretheit der visuellen Schicht auch selbst beeinflusst und dabei nicht selten auf Teilmomente (z. B. den Stimmungsgehalt) eingegrenzt.133 Wenn Musik als Material und weitere Dimension im Film hinzutritt, ergeben sich Möglichkeiten für die Gestaltung der Bildanordnung, die über die kausal-temporale Logik hinausgehen. Daher werden in diesem Kapitel unterschiedliche Arten der filmischen Montage reflektiert. Die Fragen zum Zusammenhang zwischen Filmmusik und Emotion können auf zwei qualitativ verschiedenen Ebenen untersucht werden: als Teil der Affektkonfiguration, die aus dem Fabelaufbau und der Figurenkonstellation resultiert sowie als subjektiv-mentales Phänomen der Rezeption. Bei dieser Gelegenheit sollen Anknüpfungspunkte zwischen Emotionen, kognitiven Prozessen bei der Filmwahrnehmung, die als Problemlösungsprozesse verstanden werden können, und der dramaturgischen Kategorie des Konfliktes genauer untersucht werden.

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Siehe hierzu auch die Ausführungen zur »dialektischen Einheit« von Bild und Musik von Lissa (1965), Ästhetik der Filmmusik, S. 70 und S. 357.

2.  Ästhetik und Affekt

2.1  Filmästhetische Überlegungen zur Einheit von Klang und Bild 2.1.1 Die äußeren Bedingungen zur Wahrnehmung der auditiven Schicht

Die Begrenzung des Bildrahmens und die sich aus den Schnitten zwischen den montierten Bildern ergebenden Brüche lassen Leerstellen entstehen, die vom Publikum mit der eigenen Imagination gefüllt werden. Aus der Begrenzung des Bildrahmens und der meist zweidimensionalen Abbildung erwächst also ästhetisch gesehen kein Nachteil.134 Zur Bereitschaft, sich daran mental aktiv zu beteiligen, trägt seit Beginn des Filmschaffens die Filmmusik bei, wie auch alles andere Klingende auf der Tonspur. Aus der Konkretheit der fotografischen Abbildung (oder damit vergleichbaren virtuellen Verfahren) und aus der Referenzialität diverser Klänge der Tonspur erwächst ein impliziter Realitätsanspruch der Kunstform Film. Er kann auch Authentieeffekt genannt werden. Die Ästhetik des Films baut aber auch darauf auf, dass Musik und Sound Design mit einer anderen, verallgemeinernden Tendenz hinzutreten und die vermeintliche Authentizität poetisieren, d. h. einen dramaturgischen Wahrscheinlichkeitsanspruch im Mimetischen des Films untermauern.135 »Bildausschnitt und Montage sind die Grundelemente des Films« (Eisenstein 1929/2006, S. 91 f.). Montage und Filmmischung sind darauf angelegt, die visuellen und klanglichen Mittel des Films in einer Vorführung so abzubilden, dass sie im poetischen Ganzen aufgehen. Wahrnehmungspsychologisch dominieren meist Bild und sprachliche Anteile und lenken die Verstehensleitung zu Handlung und Konflikt. Musik hat dagegen durch ihre verallgemeinernde Tendenz für die Ausdeutung der Vorgänge einen großen Anteil.

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3D-Abbildungen machen da noch keine Ausnahme. Wird ein Film mit 180°-Kameratechnik aufgezeichnet und mit einer 180°-Leinwand vorgeführt, entstehen für das Zusammenwirken von Bild und Ton bzw. Musik neue Fragen, z. B. ob alle im Kameraausschnitt zu sehenden Details vertont werden sollten oder ob dies zu einer Überfrachtung führt und dem Folgen der Geschichte hinderlich ist. Wenn ein derart großer visueller Rahmen zur Verfügung steht, könnten in ein und demselben visuellen Angebot parallel ablaufende Erzählstränge untergebracht werden, die aber kaum parallel vertont werden könnten. Schon jetzt simuliert die Tongestaltung im Film eine selektive Wahrnehmung. Offene Formen des filmischen Erzählens könnten hier flexibel genug sein. Im konventionellen Animationsfilm nähern sich die Eigenschaften der visuellen und der klanglichen Schicht einander ästhetisch an: Das Bild wird abstrakter (Zeichnung statt Fotografie), die Musik konkreter (lautmalerisch, geräuschhaft, synchron zu den Bewegungsabläufen).

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

2.1.2  Prozessualität und Räumlichkeit von Bild und Musik

Die unterschiedlichen Eigenschaften von Bild, Ton und Musik in Bezug auf Prozessualität und Räumlichkeit beeinflussen die Einheit von Klang und Bild im Film unterschiedlich. Die zeitliche Kontinuität und räumliche Kohärenz der erzählten Welt entstehen nur in der Vorstellung der Rezipierenden. Bild und Klang tragen auf ihre Weise dazu bei, einen imaginativen Handlungsraum, d. h. eine raumzeitliche Kontinuität der erzählten bzw. gezeigten Welt zu erschaffen, innerhalb derer sich die Geschichte glaubwürdig abspielen kann. Von Bedeutung ist allerdings nicht die absolute Kohärenz im Sinne eines vollständig konsistenten oder logischen Universums, sondern die Plausibilität der Vorgänge und die Wirkung, die von der raumzeitlichen Dehnung und Verkürzung bzw. Straffung der filmisch erzählten Vorgänge ausgeht. Erdmann, Becce und Brav haben diesen Zusammenhang schon früh erkannt und auch den Grund dafür benannt: »Für den Film ist immer nur die Zeit maßgeblich, die zur Hervorbringung einer angestrebten Gefühlswirkung benötigt wird. Filmzeit ist also in keiner Weise gleich Realzeit. Bestehen bleibt unvermindert die Forderung der Handlungseinheit.« (Erdmann, Becce und Brav 1927, S. 46)

Zwei grundlegende Phänomene bei der Imagination des Handlungsraumes, die filmische Zeit und filmischen Raum betreffen, sollen nun besprochen werden: Kontinuitätsübertrag und Anwesenheitseffekt. 1. Kontinuitätsübertrag: Die Vorstellung einer zeitlich kontinuierlich ablaufenden Szene oder Sequenz ist zuallererst an den inhaltlichen Zusammenhang dessen gekoppelt, was in den einzelnen Einstellungen zu sehen ist. Je logischer die Verbindung unterschiedlicher Bilder oder Einstellungen, desto fragloser ist das Resultat des entstehenden Gedankens. Figuren und ihre Handlungen sind dem Handlungsraum auch zeitlich verhaftet. Ihre Aktionen sind an die Zeit gekoppelt, die sie dafür brauchen. Die reale Zeit, die man dem abgebildeten Vorgang unterstellt, wird meist filmisch gerafft, d. h. dass nur charakteristische Ausschnitte davon zusammengesetzt werden. Sie sollen dennoch eine Kontinuität erhalten. Je größer die Sprünge im virtuellen zeitlichen Ablauf der Vorgänge sind, desto mehr ist die visuelle Schicht auf die Kontinuität der Tonspur angewiesen. Andersherum kann im Film mit der Diskontinuität der Tonspur auch ein Zeitsprung erzählt werden, manchmal sogar besser als mit dem Bild, weil man gewohnt ist, wechselnde Bilder im engen zeitlichen Zusammenhang zu verstehen. Wechselnder Ton hingegen zeigt häufig wechselnde Räume oder Zeitsprünge an. Jeder Klang entfaltet sich in der Zeit. Seine Bedeutung oder Charakteristik kann nur im nicht unterbrochenen Verlauf erkannt werden. Bei Musik ist dieses

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2.  Ästhetik und Affekt

Phänomen noch stärker. Das Prozesshafte, das in Film und Musik steckt, manifestiert sich spürbar im Rhythmus: Die rhythmische Abfolge von Bewegungen und Schnitten ist eine wesensverwandte Eigenschaft der Kunstform Film mit der Musik. Musik und Bild können daher nicht nur unter narrativen, sondern auch unter musikalischen Gesichtspunkten vereint werden. »In der Bewegung löst sich alles auf, aber im Rhythmus findet sich alles wieder« (Weill 1930/2000, S. 112). Abgesehen von dieser synthetischen Dimension wirkt sich das Transitorische der Musik auch auf die Narration aus. Da Musik durch Metrum, Tempo, Rhythmus und Klangentwicklung eine eigene, musikalisch sinnvolle Kontinuität erzeugt, wird Musik häufig dafür eingesetzt, ihre Kontinuität auf die Diskontinuität der visuellen Schicht zu übertragen. Besonders wichtig wird der Kontinuitätsübertrag bei Szenen und Sequenzen, die besonders große raumzeitliche Sprünge vollführen oder die nicht logisch, sondern assoziativ aufeinander bezogene Bilder enthalten. Die der Musik eigene Kontinuität und das eigene Zeitempfinden übertragen sich auf die visuell dargebotenen Teilstücke und befördern die Imagination und Sinngebung. In bestimmten Fällen wird damit nicht nur ein sinnvoller, audiovisueller Fluss hergestellt, sondern es ergibt sich auch eine weiterreichende dramaturgische Bedeutung. Beispiel: The Mission (GB/F 1986, R. Roland Joffé, M. Ennio Morricone) Eine Sequenz des Films The Mission zeigt, wie ein Missionar in das Gebiet eines südamerikanischen Indio-Stammes vordringt (0:08:55–0:13:40). Er gewinnt durch sein Spiel auf einer Oboe das Vertrauen der Indios. Als die Szene endet, setzt die Filmmusik ein, welche die eben im Handlungsraum zu hörende Melodie des Paters aufgreift; es folgt eine weite Einstellung (Totale) über den Regenwald. Dann er­­ neuter Wechsel, der die Missionierung im vollen Gange zeigt: Am Flussufer sitzen Indios, die sich christliche Heiligenbilder ansehen, unter ihnen der Pater, der wiederum Oboe spielt. Die immer noch klingende externe Filmmusik verknüpft die einzelnen Abschnitte der zeitlich und räumlich auseinanderliegenden Handlungen. Sie wird zu einem dramaturgischen Mittel, das den dramatischen Erzählmodus mit seiner dem Handlungsraum verhafteten Intensität überführt in einen epischen Bericht, ohne dass dabei Spannung verloren geht. Die Filmmusik synthetisiert den Wechsel der Räume und die Zeitsprünge in der Handlung und verweist zudem schon auf die epische Totalität der Geschichte, deren Beginn wir erleben.

2. Anwesenheitseffekt: Vom Phänomen des Anwesenheitseffektes kann gesprochen werden, wenn das Publikum so in den Handlungsraum hineingeführt wird, dass der Eindruck entsteht, unter den Figuren »anwesend« zu sein. Blickwinkel,

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Auswahl und Anordnung der Einstellungen sind so gewählt, dass man sich im Handlungsraum als unsichtbarer Beobachter fühlt. Dies ist insbesondere bei ge­­ schlossenen Erzählformen notwendig, deren Entfaltungs- und Wirkungsstrategien auf einem hohen Maß an Einfühlung bzw. Immersion beruhen. Erreicht wird dieser Effekt durch geschickte Wechsel von nahen, halbnahen und totalen Einstellungen, die eine räumliche Konsistenz, Übersicht und scheinbare Anwesenheit suggerieren. Der Anwesenheitseffekt beinhaltet, dass man auch bei entsprechender Nähe zum Geschehen meist mehr Informationen und Einblicke als die Figuren erhält. Im Gegensatz dazu steht der subjektive point of view. Kann dieser noch gut mit dem Begriff der internen Fokalisierung narratologisch be­­ schrieben werden, trifft der Ausdruck Null-Fokalsierung (auktorial) im Film oft nicht oder zumindest in einer anderen Ausprägung zu, obwohl keine bestimmte Perspektive eingenommen wird. Die Bezeichnung Anwesenheitseffekt im Film wird daher benötigt, um den Sachverhalt zum Ausdruck zu bringen, dass das Publikum im Film Beobachter und Teilnehmer zugleich ist. Während auf der Leinwand der Raum (in der Regel) zweidimensional abgebildet wird und eine Tiefe nur virtuell in unserer Imagination entsteht, breitet sich der Ton dreidimensional im Kinoraum aus. Die Filmmischung unterstützt dies durch eine auditive Staffelung des Raumes durch das Verhältnis von Direktschall und Raumklang einer Schallquelle und Abstufung der Lautstärke. Durch surround-Wiedergabe und Dolby® bzw. Dolby® AtmosTM ist die auditive Simulation eines dreidimensionalen Raumes noch umfassender bemerkbar. Die Imaginationsleistung wird hierdurch in einer bestimmten Art gefördert und für das immersive Erzählen genutzt.136 Zu den Erzählkonventionen des Kinos gehört es allerdings, dass die externe, ergänzende Filmmusik in aller Regel im Stereobild verortet wird, also aus den Frontlautsprechern erklingt und nur vereinzelte Effekte wie Nachhall in den surround verlegt werden.

2.1.3  Filmische Montage

Montage ist einerseits ein handwerklicher Vorgang – das Auseinander-Schneiden und Aneinander-Fügen des analogen oder digitalen Materials zu einer sukzessiven Anordnung von Bildern (horizontale Montage) bzw. zu einer simultanen Anordnung von Bildern mit Klängen (vertikale Montage). Mit Montage wird zugleich ein filmästhetisches Phänomen bezeichnet, das die Entstehung einer

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Siehe dazu Exkurs 3 (»Immersion«).

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2.  Ästhetik und Affekt

Bedeutung beschreibt, die aus der Konfrontation aneinander gefügter Bilder bzw. aus der Begegnung oder Kollision von Bildern mit Musik und Ton erwächst. Diese Prinzipien bilden die praktische und ästhetische Grundlage für die Umsetzung dramaturgischer Wirkungen der Filmmusik. Je nach Sprachgebrauch ist mit dem Begriff Montage der Schnitt (editing) oder aber das filmästhetische Mittel (montage) gemeint. Im Zusammenhang mit Montagetheorien wurden Begriffe wie Komposition, Kontrapunkt, Polyphonie und Rhythmus der Musiktheorie entlehnt, um auf ästhetische Gemeinsamkeiten der Verlaufskünste Musik und Film hinzuweisen. Die vorhandenen unterschiedlichen Wesensmerkmale von Bild und Musik werden entlang dieser Gemeinsamkeiten verbunden, um aus dem synchronisierten Zusammenstoß und den beteiligten Fragmenten eine Bedeutung im Sinne der Ganzheit des Films und seiner Geschichte zu erschaffen. Sergej Eisenstein sieht in der Kollision das dramatische Prinzip, das für den Fortgang einer Geschichte seine Energie und Spannung aus der kollidierenden Handlung entwickelt und das sich mit der Montage in filmisch spezifischer Weise (als »Methodik«) zeigt und umsetzen lässt: »Meiner Ansicht nach ist aber Montage nicht ein aus aufeinanderfolgenden Stücken zusammengesetzter Gedanke, sondern ein Gedanke, der im Zusammenprall voneinander unabhängiger Stücke ENTSTEHT [H. i. O.] (›Dramatisches Prinzip‹). (›Episch‹ und ›dramatisch‹ [in bezug] auf Methodik der Form und nicht [auf ] Inhalt oder Handlung!!)« (Eisenstein 1929/2006, S. 92)

Das Ergebnis der Kollision ist dabei mehr als die Addition seiner Komponenten. Für die Tongestaltung und das Beifügen von Musik ist diese Idee essenziell. In Eisensteins Montagetheorie haben Ton und Musik keine Ausstattungsfunktion. Ton oder Musik komplettieren nicht das Bild, sondern ergänzen es so, dass ein darüber hinausgehender Gedanke entsteht. Die Referenzialität des Tons und der Abstraktionsgrad der Musik bewirken, dass sich Ton und Musik in unterschiedlicher Weise in den Gedanken produzierenden, schöpferischen Prozess einbringen lassen. Adorno und Eisler begründen den Montagecharakter des Films mit der Divergenz der Medien und akzentuieren die sich ergänzenden Beziehungen:137 »Wenn irgend dem von Eisenstein so emphatisch vertretenen Begriff der Montage sein Recht zukommt, dann in der Beziehung zwischen Bild und Musik. Ihre

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Siehe dazu Kap. 4.6.7 (»Sich ergänzende Beziehungen [›Dramaturgischer Kontrapunkt‹ nach Adorno / Eisler]«).

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung Einheit ist der ästhetischen Idee nach nicht, oder nur gelegentlich, eine solche der Ähnlichkeit und in der Regel weit mehr eine Frage von Antwort, Position und Negation, von Erscheinung und Wesen. Die Divergenz der Medien schreibt diesen Montagecharakter vor.« (Adorno und Eisler 1944/2006, S. 64)

In Eisensteins Montagetheorie bekommt die Möglichkeit der Gegenüberstellung, Antwort bzw. Antithese eine prominente Rolle: »Abbild A und Abbild B müssen so aus sämtlichen möglichen Wesenszügen des zu entwickelnden Themas ausgewählt sein, dass IHRE GEGENÜBERSTELLUNG (und nicht etwa die Aneinanderfügung anderer Elemente) in der Wahrnehmung und im Gefühl des Zuschauers ein absolut erschöpfendes und VERALLGEMEINERTES BILD DES THEMAS auslöst.« [alle H. i. O.] (Eisenstein 1938/2006, S. 162)

Die Betonung des Konflikts bzw. Kontrasts als dramaturgisches Ziel der Montage wurde auch kritisiert. In der Filmästhetik Bazins zeigen sich beispielsweise Ideen, wie auch in einer einzigen Einstellung durch das Arrangement bzw. die Auflösung oder Einrichtung einer Szene (mise en scène) ohne Schnitte und montierte Einstellungen die Themen und Konflikte einer Geschichte deutlich werden können. In einer Plansequenz könne sogar ein ganzer Film in wenigen Minuten vom Sinn her verdichtet erscheinen.138 In diesem wie in jenem Falle ist die Zuordnung von Musik und Ton zur visuellen Schicht ein Vorgang der Montage, d. h. auch im handwerklich-praktischen Sinne eine Verbindung divergenter Medien für den synchronisierten Ablauf, der auf eine Bedeutung hin gestaltet wird. Die simultanen (Bild und Ton) oder sukzessiven Kopplungen (Bild und Bild) erzeugen dabei auch spontane emotive Wirkungen. »In der Tat geht es immer darum, daß ein Miteinander und ein Gegeneinander von Elementen entsteht, welches jenes ›innere Überraschungsmoment‹ der Komposition erzeugt […]« (Wuss 1993/1999, S. 260). Montage ist ein äußerlich sichtbares Kunstmittel, das Narrativität und Performativität im Film spezifisch prägt.139 Unter Performativität kann man nicht nur den Sprechakt, sondern die gesamte Körperlichkeit einer Darstellung verstehen. Sie ist an die Räumlichkeit und an die Auffassungen zu den dargebotenen Inhalten gebunden, die in der Körperlichkeit zum Ausdruck kommen. Performativität drückt also aus, wie man sich einem Thema im Wortsinn »nähert«. Im Film ist die 138 139

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Vgl. André Bazin (1958/2009), Was ist Film?; sowie: Lexikon der Filmbegriffe, Art. mise-enscène, online unter: http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id= 4741 [letzter Zugriff: 15.11.2019]. Montage ist in gewisser Weise auch im Theater und in der Literatur möglich, aber nicht konstitutiv und üblicherweise weniger virtuos.

2.  Ästhetik und Affekt

Performativität ganz anders als im Theater durch die Festlegung der Einstellungen (Nahaufnahme, halbnahe Einstellung, Schwenk, »Verfolger«-Kamera u. v. a.) und die Montage dieser Elemente mitbestimmt. Als Kunst sowohl der sukzessiven und simultanen Kopplungen organisiert die Montage zumeist auf einer expliziten Ebene Aufmerksamkeit für Vorgänge und fordert darüber hinaus dazu auf, Sinnzusammenhänge herzustellen. Dabei geht es nicht nur um entstehende Gedanken und Erkenntnisprozesse: »Dem künstlerischen Film geht es nicht allein oder nicht vor allem darum, eine Verstehensleistung beim Zuschauer zu erwirken, sondern vielmehr um ein komplexes Erleben, das Prozesse der Wahrnehmung und des Verstehens mit solchen der Vorstellung und Fantasie sowie der Emotionen verkoppelt.« (Wuss 1993/1999, S. 260) »Man könnte Montage im Film als eine ästhetische Organisationsform deuten, die den Sinnfluss einer Geschichte auf eine ästhetisch-lustvolle Weise realisiert, indem sie die optimale Geschehenswahrnehmung von Handlung mit der Lenkung von Aufmerksamkeit verbindet.« (Wuss 1993/1999, S. 261)

Um die dramaturgischen Auswirkungen unterschiedlicher Arten von Montage differenzieren zu können, sollen einige Aspekte der filmischen Montage kurz genauer beschrieben werden. Zusammen ermöglichen sie die oben im Zitat genannte »optimale Geschehenswahrnehmung« und »Lenkung der Aufmerksamkeit« und »verkoppeln Wahrnehmung mit Fantasie und Emotion«: 1. linear-narrative Montage – realisiert auf einer Basisebene die Illusion des raumzeitlichen Kontinuums der fiktionalen Wirklichkeit 2. Anachronien  –  Erweiterung der linear-narrativen Montage als Retrospektive (Analepse, Rückwendung, flash back) und Prolepse (Vorausnahme, flash forward) 3. Parallelmontage – die Vorstellung von zwei oder mehr zeitgleich ablaufenden oder inhaltlich in Beziehung zu setzenden Vorgängen durch Hinund-her-Springen zwischen Versatzstücken des einen und des anderen Vorgangs; geht über das cross cutting hinaus, das zwischen verschiedenen Elementen innerhalb einer plot line hin- und herschneidet 4. Introspektiven – Bilder oder Klänge aus der Gedankenwelt einer Figur. 5. metaphorische Montage – Bedeutungszusammenhänge, die durch lyrische Mittel des Vergleichs oder der Allegorie entstehen. Hierbei löst sich die ursprüngliche Bedeutung von visuellen und auditiven Abbildungen. Mitunter kann so ein über die Geschichte hinausgehender, sehr persönlicher Autoren/Autorinnen-Kommentar realisiert oder ein experimenteller Zugang zu einem Thema gefunden werden.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Walter Murch stellt die hier zuerst genannte Form zur Herstellung raumzeitlicher Kontinuität bewusst an das Ende seiner sechs wesentlichen Kriterien des Filmschnitts (Murch 2004, S. 28–30). Er konzentriert sich zuvor auf die fundamentale Wirkung von auffälligen, aber auch unauffälligen Schnitten und ihre interpunktierende Funktion. Vorbild sei das vertraute, alltägliche Erleben: »Wir haben einen Gedanken oder eine Abfolge miteinander verbundener Gedanken, und wir blinzeln, um diese Gedankenkette von dem, was folgt, zu trennen und zu interpunktieren. Genauso liefert uns im Film jede einzelne Einstellung eine Idee oder eine Abfolge von Ideen, und der Schnitt ist der ›Lidschlag‹, der diese Ideen trennt und interpunktiert.« (Murch 2004, S. 61)

Mithilfe der Montage könne auch von den nur im Inneren liegenden Gedanken der Figuren etwas erzählt werden: »Film ist eine dramatische Konstruktion, bei der man, erstmals in der Geschichte, den Figuren beim Denken auch auf subtilster Ebene zusehen kann; und diese Gedanken werden dann choreographiert.« (Murch 2004, S. 133)

Die Montage ermöglicht es dem Publikum sich zu beteiligen. Eisenstein erklärte, die eigene Mitarbeit gleiche einem schöpferischen Akt: »Die Kraft der Montage beruht darin, dass Emotionen und Verstand des Zuschauers am schöpferischen Prozess teilnehmen.« (Eisenstein 1938/2006, S. 177). Auch Ejchenbaum vermerkt die Eigenbeteiligung des Publikums, die er in dieser frühen Phase der Filmtheorie mit der Formulierung »innere Rede« umschreibt: »Jede Szene wird ja dem Zuschauer stückweise, in Sprüngen gegeben. Vieles sieht er überhaupt nicht: Die Intervalle zwischen den Sprüngen werden durch innere Rede gefüllt. Damit aber die innere Rede sich einstellt und dem Zuschauer den Eindruck von Fülle und Logik vermittelt, müssen die Sprünge in irgendeinem bestimmten Zusammenhang stehen und die Übergänge hinlänglich motiviert sein. […] Hier zeigt sich auch die Bedeutung solcher Verfahren wie Kontrast, Koinzidenz, Vergleich usw. Die Vielfältigkeit auf diesem Gebiet ist unerschöpflich, jedoch dient als allgemeine Grundlage diese oder jene VERKNÜPFUNG. […] DIE VERKNÜPFUNGSVERFAHREN DER TEILE EINER SEQUENZ [H. i. O.]  –  das ist das fundamentale Problem der Montage.« (Ejchenbaum 1927/2003, S. 128 f.)

Die Montage leitet das Nachdenken. Sie ist das Mittel zum »Aufdecken innerer Zusammenhänge« zwischen Filmkunst und Lebenswirklichkeit (Pudowkin 1966/2003). Regisseure wie René Clair, Fritz Lang und andere weiten nach Einführung des Tonfilms dieses Prinzip voller Experimentierfreude auch auf die auditive Schicht aus.

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2.  Ästhetik und Affekt

Die Parallelmontage, die eine Illusion des gleichzeitigen Ablaufs mehrerer, mitunter längerer Handlungsstränge erzeugt, bietet dem Einsatz von Filmmusik ein reiches Repertoire an Formen und Möglichkeiten. Sie kann auch zeitlich nicht parallel stattfindende, dafür aber durch einen Sinnzusammenhang oder metaphorischen Bezug verbundene Ereignisse arrangieren wie z. B. in Intolerance – Love’s Struggle Throughout the Ages (Intoleranz – Die Tragödie der Menschheit USA 1916, R.  David Wark Griffith) oder The Hours (The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit USA/GB 2002, Stephen Daldry, M. Philipp Glass)140. Filme wie Night On Earth (USA 1991, R.  Jim Jarmusch, M.  Tom Waits), Short Cuts (USA 1993, R. Robert Altman, M. Marc Isham), der mehrere Kurzgeschichten von Raymond Carver zu einem Film verbindet, oder Nachtgestalten (D 1999, R. Andreas Dresen, M. Cathrin Pfeifer, Rainer Rohloff ) sind als Ganzes in Form einer Parallelmontage angelegt, wobei die Musik die räumlich und zeitlich großen Sprünge zwischen den Episoden überbrückt und damit einen Fabelzusammenhang offener Erzählformen erzeugt.141 High Noon (Zwölf Uhr Mittags USA 1952, R. Fred Zinnemann, M. Dmitri Tjomkin) führt durch eine Parallelmontage direkt ins Thema ein. Die Ankunft der Ganoven, die sich an Marshall Kane rächen wollen, verläuft parallel zu Kanes Heirat, der vor die Frage gestellt ist, sein persönliches Glück hinter das Wohlergehen der Gemeinschaft zu stellen und ob er dafür die nötige Unterstützung erhalten werde. Das underscoring in der Filmmusik kommt hier an eine Grenze beim immer kürzeren Hin-undher-Springen zwischen beiden Handlungssträngen, illustriert aber unter Einbeziehung des extra komponierten Songs zu den eröffnenden credits treffend die unterschiedlichen Eigenschaften der später aufeinandertreffenden Gegner.142 In Brassed Off (Brassed Off  –  Mit Pauken und Trompeten GB/USA 1996, R. Marc Herman, M. Trevor Jones) werden in einer Parallelmontage der musikalische Erfolg der Bergarbeiter-Band und eine zeitgleiche berufliche Niederlage bei der Abstimmung zum Erhalt der Zeche erzählt. Hier erklingt die heitere Blasmusik des einen Erzählstranges auch zum anderen, negativ besetzten Strang. Dieser kontrapunktische Musikeinsatz lässt den Zuschauer das Geschehen in einem größeren Kontext sehen und hat dadurch und wegen des Widerspruchs an der visuellen Oberfläche eine besondere emotionale Wirkung. In The Fifth Element (Das fünfte Element F 1997, R. Luc Besson, M. Eric Serra) sorgt die Musik für 140 141 142

Siehe die Analyse in Kap. 4.3.2 (»Musikalischer Ausdruck des Filmthemas und Einfluss auf narrative Strukturelemente«). Siehe die Analyse in Kap. 4.4.7 (»Offene [dedramatisierte, sujetlose, episodische] Fabeltypen«). Siehe die Analyse in Kap. 4.7.4 (»Modell der auditiven Ebenen«). Vgl. auch: Hans-Christian ­Schmidt (1987), »Zur Funktion von Musik in der filmischen Parallelmontage«, in: Klaus-Ernst Behne [Hg.], Film – Musik – Video oder Die Konkurrenz von Auge und Ohr.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

die Synchronisation von sogar drei gleichzeitig ablaufenden Handlungen. Während einer Opernaufführung findet ein Kampf zwischen Leeloo und den Kriegermonstern statt, der verknüpft ist mit der Ankunft von Zorg, der ebenfalls auf der Jagd nach den magischen Steinen ist. Die Musik von Eric Serra und ihr Einsatz als Rückgrat der Parallelmontage verdeutlicht innere Zusammenhänge zwischen der singenden Diva und Leloo, zugleich ist der musikalische Rhythmus bestimmend für die Choreografie der Kampfszene und beeinflusste offensichtlich deren Schnitt.

2.1.4 Rezeptionsästhetische Modellvorstellungen zu Musik im Film

Von rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen war in den vorigen Kapiteln schon gelegentlich die Rede. Nun soll zusammengefasst werden, was bezüglich der Filmmusik darunter verstanden werden kann, denn das musikalische Vokabular der Filmmusik ist selbst Teil der rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen geworden. Der Begriff Rezeptionsästhetik geht auf die Literaturtheorie der späten 1960er und frühen 1970er Jahre zurück. In einer Einführung zur Rezeptionsästhetik spricht Rainer Warning von »Modalitäten«, »Bedingungen« und »Ergebnissen der Begegnung von Werk und Adressat« (Warning 1975/1994, S. 9). Das Konzept richtet sich gegen die »Einseitigkeit einer bloßen Semiotik des Codes« (Warning 1975/1994, S. 10), also dass das Abgebildete als Zeichen lediglich auf das Bezeichnete verweist. So entsteht ein Konzept, das Kunst als »ästhetische Mitteilung« und den Rezipienten als »ästhetisches Objekt« in seinem »lebensweltlichen Erfahrungshorizont« und seiner Interpretationsleistung begreift (Warning 1975/1994, S. 24). Der Begriff Rezeptionsästhetik ist ein Schlüssel für die interdisziplinäre Forschung, der erzähltheoretische, soziologische und psychologische Aspekte in ihrem ästhetischen Zusammenwirken beschreiben kann. Für die Dramaturgie und dramaturgische Untersuchung der Filmmusik ist er daher unerlässlich. Rezeptionsästhetische Modellvorstellungen sind Teil der Kommunikation zwischen Filmschaffenden und Publikum. Besonders bei Filmgenres wird deutlich, dass filmisches Erzählen auf rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen beruht. Genremerkmale und Stil eines Films sind implizite Verabredungen zwischen Filmschaffenden und Publikum. Für die Dramaturgie sind rezeptionsästhetische Modellvorstellungen von Bedeutung, da Erwartungen zum Thema, zum Handlungsverlauf und zum Stil eines Films aufgebaut werden. Der Stil eines Films beinhaltet bereits implizit Story-Schemata und den plausiblen Handlungs-

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2.  Ästhetik und Affekt

spielraum der Figuren und beeinflusst damit die beim Publikum entstehenden Prognosen zum Handlungsablauf. Diese wiederum werden Teil der dramaturgischen Strategien, sodass sich beide Seiten, Filmschaffende und Publikum, im Kern auf ein Spielfeld von vertrauten Gestaltungsmitteln verlassen können, die in der Regel nicht hinterfragt werden. Die rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen zur Filmmusik betreffen zunächst das Phänomen, dass überhaupt Musik im Film erklingt, obwohl keine handlungsbedingte Motivation vorliegt – vergleichbar mit der gültigen Verabredung darüber, dass eine im Handlungsraum filmende Kamera nicht hinterfragt wird.143 Auch nach Einführung des Tonfilms wird dem Gezeigten, bis auf einige Ausnahmen wie z. B. Fritz Langs erster Tonfilm M  –  Eine Stadt sucht einen Mörder (D 1931), über weite Strecken Musik beigeordnet, obwohl das Fehlen von Sprache und Ausstattungston nicht mehr überbrückt werden musste. Das ist besonders zu beobachten bei komplexer werdenden Geschichten, fantastischen Sujets usw., liegt aber auch an der rezeptionsästhetischen Verabredung, dass der Einsatz von Filmmusik nicht grundsätzlich hinterfragt, sondern  –  im Gegenteil – meist auch erwartet wird. Das Filmmusical ist ein auffälligeres Beispiel für rezeptionsästhetische Modellvorstellungen. Der Einsatz der Musik (extern) und das synchrone Verhalten der singenden Protagonisten (intern) wird unter den Vorzeichen dieses Genres akzeptiert und mit besonderem ästhetischen Vergnügen verfolgt, während dies in anderen Genres unangemessen, ein Sonderfall oder unglaubwürdig wäre. Komplizierter verhält es sich mit den rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen bei der Frage nach den Erzählinstanzen im Film. Durch den Wechsel von dramatischem und epischem Modus und wegen der ambivalenten Zwischenstufen bei den Erzählperspektiven erscheint die Filmform an dieser Stelle narratologisch gesehen sehr kompliziert. Für ein gelungenes Kunstgenießen, das im Zentrum dramaturgischer Überlegungen steht, müssen diese Dinge dennoch nicht erklärt oder verhandelt werden, weil wir Modelle zur Filmform durch Kenntnisse anderer Filme bei der Rezeption unbewusst mit heranziehen. Rezeptionsästhetische Modellvorstellungen wirken bis in den Handlungsaufbau hinein. Sie sind eine Grundlage dafür, dass stabile Erwartungen und Antizi143

Eine von Mark Evans (und später vielen anderen) wiedergegebene Anekdote zwischen Alfred Hitchcock und dem Komponisten David Raksin illustriert diesen Sachverhalt pointiert: »Alfred Hitchcock drehte gerade eine Szene, in der ein Rettungsboot auf hoher See treibt, und hatte die Absicht, jegliche Musik wegzulassen. Zu guter Letzt stellte er die rhetorische Frage: ›Wo kommt denn um Himmels Willen die Musik mitten auf dem Ozean her?‹ Worauf David Raksin eine schnelle Erwiderung wußte: ›Fragen Sie Hitchcock woher die Kamera kommt, und ich sage ihm dann, woher die Musik kommt‹.«; vgl. Mark Evans (1975), Soundtrack: The music of the movies, S. 212, zitiert nach: Hans-Christian S­ chmidt (1982), Filmmusik, S. 111.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

pationen vom Verlauf der Handlung entstehen. Und insbesondere hier setzt die Wirksamkeit von Filmmusik an, denn wir haben Modelle davon im Kopf, welche Bedeutung das Einsetzen von Musik oder eine bestimmte Art von Musik haben können und bewerten danach eine Situation im Film. Je mehr die Geschichte auf Stereotypen aufbaut, desto sicherer sind dann zunächst die Prognosen. Andersherum destabilisiert Musik im Film auch Prognosen und Erwartungen. Auch die Darstellung und Interpretation der Affekte wird von nicht näher artikulierten »Abmachungen« und rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen geprägt, die allerdings bei tragischen, komischen oder tragikomischen Erzählformen, in den unterschiedlichen Formen des Filmmusicals und nicht zuletzt je nach Zusammensetzungen des Publikums verschieden sind.

2.2  Einfühlung und Distanz

Eine der Fragestellungen, die ich in dieser Untersuchung verfolgen möchte, ist, ob und wie Filmmusik die Rezeptionshaltung des Publikums beeinflusst. Gemeint ist die Haltung, mit der wir uns überhaupt auf die Erzählform und schließlich auf das Thema einer Geschichte einlassen und die mitbestimmt, ob und wie wir eine Brücke zur eigenen Lebenswirklichkeit schlagen. Hieraus erwächst eine wichtige Grundlage für die emotive Wirkung von Filmmusik. Die Rezeptionshaltung wird natürlich von vielen auch außerfilmischen und erst recht außermusikalischen Faktoren beeinflusst. Ein Aspekt, der im Film besonders nachhaltig durch Filmmusik beeinflusst wird, ist die dynamische Beziehung zwischen Einfühlung und Distanz. Statt von Einfühlung wird nicht selten auch von Empathie gesprochen, im Sinne eines einfühlenden Verstehens.144 Der ästhetische (nicht psychologische) Begriff Einfühlung bezieht sich aber unabhängig von der Fähigkeit zur Empathie auf das Einfühlen in die dramaturgische Situation bzw. das Interesse an der »Problemlösung«, die eine konventionelle Handlung kennzeichnet. Das Verhältnis zwischen Einfühlung und Distanz ist durch Genres und Erwartungen zwar grundsätzlich vorgeprägt, wird in jedem Film aber noch einmal neu ausbalanciert, denn – so lautet die hier getroffene Annahme – es beeinflusst die Erlebnisqualität. Den hier angestellten Untersuchungen liegt die These zugrunde, dass Filmmusik beteiligt ist an einer Tendenz oder dem Grad der Einfühlung bzw.

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Vgl. Peter Wuss (2005), »Konflikt und Emotion im Filmerleben«, in: Matthias Brütsch, Vinzenz Hediger, Ursula von Keitz, Alexandra Schneider und Margrit Tröhler [Hg.], Kinogefühle: Emotionalität und Film, S. 217–219.

2.  Ästhetik und Affekt

Distanzierung. Hieran schließen sich Fragen nach der konkreten Ausführung und Beteiligung der Filmmusik und dem übergeordneten dramaturgischen Sinn solcher Strategien an.

2.2.1  Brechts Kritik der Einfühlung

Der Begriff Einfühlung diente Bertold Brecht zur Argumentation für sein Konzept vom Epischen Theater, mit dem er sich gegen eine aristotelische Dramaturgie wandte.145 Im Sinne Brechts, der sich auch über die Einsatzmöglichkeiten von Filmmusik äußerte, ist Einfühlung ein problematisches Phänomen. Kunst müsse nach Brecht einen Abstand zwischen dem Publikum, der Geschichte und den Personen auf der Bühne ermöglichen. Diese Distanz soll die Verbindung einer Geschichte zur eigenen Lebenswirklichkeit, aber auch Handlungsspielräume aufzuzeigen und nicht zuletzt falsche Identifikationen verhindern. Brechts grundlegende Kritik an der Einfühlung basiert auf der Auffassung, dass Kunst nicht nur zur Aufgabe habe zu unterhalten, sondern auch zu belehren. Die Kunstschaffenden sollten der Gesellschaft aktuelle gesellschaftliche Fragen vor Augen führen, Abhängigkeiten erkennen und die gesellschaftlichen Umstände als änderbar darstellen. Brechts Mittel gegen die »Hypnose« durch Einfühlung (Brecht 1964a, S. 108) und zur Erreichung eines für ihn notwendigen Abstandes sind das gestische Prinzip und die Strategien der Verfremdung. Sie wurden zwar nicht von Brecht entdeckt, aber von ihm praktisch und theoretisch am prominentesten diskutiert. Brechts Konzept der Verfremdung erlebte allerdings Wandlungen. Er bezog Verfremdung außerdem fast ausschließlich auf das Spiel der Schauspielerinnen und Darsteller. Er äußerte sich nur einmal auch zur verfremdenden Funktion der Filmmusik (Brecht 1964a, S. 311–314) mit den Mitteln der »gestischen Musik« (Brecht 1964a, S. 304–309) – ein Konzept, das höchstwahrscheinlich von Kurt Weill stammt.146 Das laut Brecht für die Kunst geltende Paradigma der »Verschmelzung der beiden Funktionen Unterhaltung und Belehrung« (Brecht 1964a, S. 99) wird durch Einfühlung unterlaufen. Die aristotelische Dramaturgie, die für zahllose fiktio-

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Siehe z. B. Bertolt Brecht (1964a), »Über eine nichtaristotelische Dramatik. Neue Technik der Schauspielkunst. Der Bühnenbau des epischen Theaters. Über Bühnen- und Filmmusik (1933– 1947)«, in: Schriften zum Theater (1933–1947). Vgl. die Texte von Weill aus den Jahren 1927–1946 in: Kurt Weill (2000), Musik und musikalisches Theater.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

nale (und sogar manche dokumentarischen) Filme grundlegend ist, basiert nach Brechts Ansicht zu sehr auf dem Konzept der Einfühlung und der Gleichheit des Fühlens. »Die Kunst erreicht dieses Privileg, ihre eigene Welt bauen zu dürfen, die sich mit der andern nicht zu decken braucht, durch ein eigentümliches Phänomen, durch die auf der Basis der Suggestion hergestellte Einfühlung des Zuschauers in den Künstler und über ihn in die Personen und Vorgänge auf der Bühne. […] Die Einfühlung ist ein Grundpfeiler der herrschenden Ästhetik. Schon in der großartigen Poetik des Aristoteles wird beschrieben, wie die Katharsis, das heißt die seelische Läuterung des Zuschauers, durch die Mimesis herbeigeführt wird. Der Schauspieler ahmt den Helden nach (den Ödipus oder den Prometheus), und er tut es mit solcher Suggestion und Verwandlungskraft, daß der Zuschauer ihn darin nachahmt und sich so in Besitz der Erlebnisse des Helden setzt.« (Brecht 1964a, S. 104)147

Brecht problematisiert in seiner Kritik an der Einfühlungsästhetik, dass sie eine Diskussion über das menschliche Verhalten nahezu unmöglich mache und individuelle soziale und andere Unterschiede oberflächlich überbrücke. Solange menschliches Verhalten als schicksalhaft und unentrinnbar dargestellt wird, bliebe nur Mitfühlen ohne Bewusst-Werden. Die Basis der Einfühlung liege in der Grundannahme, dass menschliches Handeln (bzw. dessen Spiegelung in den Geschichten) vom Schicksal oder einer göttlichen Macht bestimmt sei und daher nicht änderbar wäre. Die besonders große Bedeutung der Einfühlung für das Kino wird deutlich, wenn man sich vor Augen hält, dass sich im Film nicht nur Darstellerinnen und Schauspieler und die von ihnen verkörperten Figuren mit ihren Konflikten als Zugänge der Einfühlung anbieten. Hinzu kommen komplex zusammenwirkende visuelle und auditive Gestaltungsmittel, die darauf ausgerichtet sein können, die Distanz zum Geschehen zu verringern. Gelingt dies in hohem Maße bis hin zu einer gefühlten Verschmelzung, kann von Immersion gesprochen werden. Eine nicht-aristotelische Dramatik verlagert den Fokus und organisiert und inszeniert eine Geschichte so, dass die Alternative einer Handlung oder Entscheidung einer Figur deutlich wird. »Einfühlung in änderbare Menschen, vermeidbare Handlungen, überflüssigen Schmerz und so weiter ist nicht möglich« (Brecht 1964a, S. 105). Hierin liegt die dramaturgische Eigenart und zugleich das gesell-

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Vgl. die Diskussion zu Katharsis und mimesis in Kap. 1.1.6 (»Die ›Fabel‹ [mythos, story]«) und zu mimesis in Kap. 1.1.2 (»Filmdramaturgie«).

2.  Ästhetik und Affekt

schaftspolitische Potenzial der nicht-aristotelischen Dramatik und ihre anhaltende Aktualität, weil Menschen und Umstände als änderbar gezeigt werden. »Nichtaristotelische Dramatik würde die Ereignisse, die sie vorführt, keineswegs zu einem unentrinnbaren Schicksal zusammenfassen und diesem den Menschen hilflos, wenn auch schön und bedeutsam reagierend, ausliefern, sie würde im Gegenteil gerade dieses ›Schicksal‹ unter die Lupe nehmen und es als menschliche Machenschaften enthüllen.« (Brecht 1964a, S. 294)

Eine Dramaturgie, die eine Identifikation mit den Protagonisten nicht als gesetzmäßige Voraussetzung ansieht, muss zwangsläufig standardisierte Konfliktkonstellation, Figuren- und Affektdispositionen neu formen. Die nicht-aristotelische Dramatik hält dennoch an einer Fabel fest, nutzt aber illusionsdurchbrechende Mittel und lotet das Potenzial eines Konfliktes und eines Sujets in anderer Weise und Richtung aus. Konkretisiert hat Brecht seine Ansichten dazu in seinem Konzept vom epischen Theater. Dieses Konzept für eine von Brecht, Erwin Piscator, Kurt Weill und anderen experimentell erarbeitete sogenannte nicht-aristotelische Dramatik rückt die Diskussion über menschliches Verhalten und die Umstände, in denen es sich zeigt, in den Mittelpunkt: »Das epische Theater ist hauptsächlich interessiert an dem Verhalten der Menschen zueinander, wo es sozialhistorisch bedeutend (typisch) ist. Es arbeitet Szenen heraus, in denen Menschen sich so verhalten, daß die sozialen Gesetze, unter denen sie stehen, sichtbar werden. […] Das menschliche Verhalten wird als veränderlich gezeigt, der Mensch als abhängig und zugleich als fähig, sie zu verändern. […] Der Zuschauer soll also in der Lage sein, Vergleiche anzustellen, was menschliche Verhaltensweisen anbetrifft. Dies bedeutet, vom Standpunkt der Ästhetik aus, daß der gesellschaftliche Gestus der Schauspieler besonders wichtig wird. Es handelt sich für die Kunst um eine Kultivierung des Gestus. (Selbstverständlich handelt es sich um eine gesellschaftlich bedeutsame Gestik, nicht um illustrierende und expressive Gestik.) Das mimische Prinzip wird sozusagen vom gestischen Prinzip abgelöst.« (Brecht 1964a, S. 292 f.)

Brecht argumentiert für eine Preisgabe der Einfühlung (Brecht 1964a, S. 104 f.). Das emotionale Erleben besteht dann nicht aus Mitfühlen und Rührung, sondern aus Bewegt-Sein durch Begreifen, was dem moderneren Begriff der Empathie als einfühlendem Verstehen entgegenkommt: »Welche Haltung sollte der Zuhörer einnehmen in den neuen Theatern, wenn ihm die traumbefangene, passive, in das Schicksal ergebene Haltung verwehrt wurde? Er sollte nicht mehr aus seiner Welt in die Welt der Kunst entführt, nicht mehr gekidnappt werden, im Gegenteil sollte er in seine reale Welt ein-

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung geführt werden, mit wachen Sinnen. […] Das Prinzip besteht darin, an Stelle der Einfühlung die VERFREMDUNG [H. i. O.] herbeizuführen.« (Brecht 1964a, S. 108 f.)

Für das gestische Prinzip als Technik der Verfremdung ist die Definition von »Gestus« wichtig, die Brecht folgendermaßen formuliert: Unter Gestus soll nicht Gestikulieren verstanden sein; es handelt sich nicht um unterstreichende oder erläuternde Handbewegungen, es handelt sich um GESAMTHALTUNGEN [H. i. O.]. Gestisch ist eine Sprache, wenn sie auf dem Gestus beruht, bestimmte Haltungen des Sprechenden anzeigt, die dieser andern Menschen gegenüber einnimmt.« (Brecht 1964a, S. 304)

Eine Kritik an Brechts Auffassungen lässt sich zumindest an zwei Stellen festmachen: (1) die Absolutheit, mit der Brecht die doppelte Rolle der Kunst als Unterhaltung und zugleich Belehrung sieht, sowie (2) die Absolutheit der Ansicht, es könne jeder Mensch sich und seine Abhängigkeit im sozialen Gefüge durchschauen und dann auch ändern. Die Individualität der Menschen beinhaltet auch, sich in ein Schicksal zu ergeben oder in einer Illusion aufzugehen. Dann fehlt die letzte Bereitschaft oder das Vermögen, sich selbst und die Umstände in bewussten Prozessen der Erkenntnis zu erfassen und zu ändern. Aus individuellen Gründen kann dieses Dasein trotz empfundener Widersprüche als passende Form für Bedürfnisse und Persönlichkeitsstruktur aufgefasst werden  –  und das, obwohl objektiv zu benennende Sachverhalte dagegensprechen. Die Vielschichtigkeit der Rezeption und Aneignung der in einer Geschichte verhandelten Themen bewirkt und erfordert vielseitige Formen von Kunst, weswegen Brechts Kritik an der Einfühlung einerseits immer noch dringliche Aktualität besitzt, andererseits aber als bloßes Paradigma nicht taugt.

2.2.2  Strategien der Subjektivierung

Strategien der Subjektivierung konkretisieren Einfühlung, Empathie und Immersion an dramaturgisch entscheidender Stelle: bei der Identifikation mit einer Figur. Sie sind in einigen Momenten des Filmerlebens ein äußerst effektives dramaturgisches Mittel, das darauf zielt, sich unhinterfragt in die Figuren hineinzuversetzen, d. h. für einen bestimmten Zeitraum der Filmwahrnehmung erst ihre Perspektive und schließlich ihre Sicht der Dinge zu teilen. Subjektivierung ist damit sowohl ein Aspekt dramaturgischer Strategien wie auch der Fokalisierung.

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2.  Ästhetik und Affekt

Barbara Flückiger behandelt Strategien der Subjektivierung mit Hinblick auf die Perspektive (Fokalisierung). Eine Strategie der Subjektivierung ist die »Dissoziation von Ton und Bild« (Flückiger 2001/2007, S. 395 f.). Sobald zwischen Ton und Bild Verschiebungen entstehen, bewirken kognitive Strategien bei der Rezeption, dass eine Erklärung bereitgestellt wird. Das Dargestellte wird dann als Innensicht der Figur akzeptiert. Die Erklärung erfolgt vor dem Hintergrund unseres »natürlichen Erfahrungshintergrundes« (Flückiger 2001/2007, S. 395), also im Vergleich mit unserer Realitäts- oder Selbstwahrnehmung. Nach und nach haben sich im Kino die Mittel subjektivierender Strategien zu rezeptionsästhetischen Verabredungen verfestigt. Flückiger nennt für das Sound Design folgende Varianten der Dissoziation von Bild und Ton als Strategien der Subjektivierung: 1. Geräusche verschwinden 2. Hall 3. Zeitlupe (veranlasst oft eine auditive Analogie) 4. Vergrößerung (veranlasst oft eine auditive Analogie) 5. Atmen/Herzklopfen 6. Antinaturalistische Selektion von Klangobjekten. Sobald man Strategien der Subjektivierung im Einsatz der Filmmusik sucht, wird ein entscheidender Unterschied zur Tongestaltung deutlich: Die genannten Phänomene beruhen auf der Referenzialität des Tons, d. h. dass ein Klang auf sein Material, seine Herkunft und seine Funktion in der fiktionalen Welt verweist. Der Abstraktionsgrad von Musik bewirkt, dass Subjektivierung weniger als Mittel der Narration zu bewerten ist (um gezielt relevante Informationen zu vergeben), sondern mehr dem Bereich der dramaturgischen Strategien zugehört.148 Schon bei sehr elaboriertem Sound Design ist die Trennlinie zwischen Strategien der Subjektivierung und generellen, dramaturgisch wirksamen Mitteln schwer zu ziehen.149 Bei Filmmusik wird dies noch schwieriger. Eine prominente filmmusikalische Technik, die als eine Strategie der Subjektivierung mit dramaturgischer Bedeutung gelten kann, ist das »psychologisierende underscoring«. Hierbei spiegelt Musik seelische oder gedankliche Regungen der Figur als Widerhall innerer Empfindung. Voraussetzung dafür ist, dass durch Anlage, Stil und visuelle Umsetzung die intensive Konzentration auf eine (Haupt-)Figur möglich ist. In einem solchen Beispiel besteht, wie eingangs beschrieben, eine im jeweiligen 148 149

Siehe hierzu die schon geführte Diskussion in Kap. 1.1.5 (»Narratologie, narration und Filmdramaturgie«). Vgl. dazu Flückiger (2001/2007), Sound Design, S. 409.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

ästhetischen Rahmen definierte Diskrepanz zwischen Bild und Musik: Fehlen die äußeren Entsprechungen zur Bewegtheit der Musik, springt die psychologische Ebene, die äußerlich nicht unbedingt sichtbar wird, als Erklärung dieser »Dissonanz« ein. Subjektivierung ist das intensiv erlebte Eindringen in Wahrnehmung und Gedanken einer Figur. Die visuellen und auditiven Elemente subjektivierender Strategien werden als nahezu identisch mit der Wahrnehmung bzw. Gedankenwelt der Figur verstanden. Sie erzählen damit, wie sich die Welt der Figur zeigt oder was die Figur von der Welt denkt. Die verallgemeinernde Wirkung von Filmmusik und ihre dadurch gewonnene dramaturgische Dimension führt dazu, dass die so erzählte Innensicht einer Figur nicht nur als narrativer Baustein oder Momentbeschreibung verstanden wird, sondern in einem übergeordneten Kontext aufgeht.

Exkurs 3: Immersion

In der medienwissenschaftlichen Forschung hat sich für den Gebrauch subjektivierender Mittel, die dazu führen, die imaginierte Welt besonders intensiv und ohne Distanz zum Geschehen zu erleben, ein anderer Begriff etabliert: Immersion. Die Begriffe Immersion und Einfühlung werden aber teilweise synonym verwendet. »Wie Theodor Lipps in seinen Schriften zur Psychologie und Ästhetik am Anfang des letzten Jahrhunderts ausgeführt hat, soll der Raum des Ästhetischen medienübergreifend eine bestimmte Form des Erlebens eröffnen: das Sich-selbst-Erleben in einem Anderen, kurz: Einfühlung. Der durch Einfühlung in einen Gegenstand zustande kommende Eindruck, dieser sei belebt und innerlich von Kraft und Energie durchströmt, ist das, was Lipps als ›symbolischen Gehalt‹ aller Kunst bezeichnet und was hier mehr oder weniger synonym mit ›Immersion‹ verstanden werden soll […] Wichtig ist für Lipps, dass das einfühlende Erfassen einer lebendigen Kraft ohne weitere Präsuppositionen von Wirklichkeit auskommt. Die so unmittelbare wie unstrittige Empfindung von Lebendigkeit in der ästhetischen Einfühlung ersetzt die Realitätsprüfung und macht rationale Begründungen für Existenzannahmen überflüssig, wie sie für unser Verhältnis zur empirischen Welt ansonsten leitend sind.« (Voss 2008, S. 72 f.)

Ich würde jedoch für eine Trennung plädieren. Einfühlung ist meist empathisch auf eine zentrale Figur, deren Sicht, Konflikte und Bedürfnisse oder auf ein Konfliktfeld gerichtet und trägt die im vorigen Kapitel erläuterte, von Brecht prominent diskutierte dramaturgische und politische Debatte an sich. Der Begriff

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2.  Ästhetik und Affekt

Immersion kann ohne diese politische Dimension gebraucht werden und gilt erweitert für das empathische Aneignen und Durchleben des gesamten Kosmos einer imaginativen Welt. In der aktuellen medienwissenschaftlichen Diskussion wird das Konzept der Immersion auch auf den Film bezogen und den dortigen spezifischen Umständen angepasst. »Wenn wir dem fiktiven Filmgeschehen so weit folgen, dass ein Großteil unserer Aufmerksamkeit dabei absorbiert wird, kann man von ›Immersion in ein fiktionales Gebilde‹ oder auch von ›fiktionaler Immersion‹ sprechen.« (Voss 2008, S. 69) »Immersionen verschaffen uns eine körperlich-geistige Nähe zum Filmgeschehen. […] Diese aktuell sich vollziehende Absorption in ein fiktionales Geschehen führt eine unhinterfragte Akzeptanz der greifbaren Gegenwart dieses Geschehens mit sich und gleicht so die Distanz erzeugenden Fiktionsmarkierungen des filmischen ›Als-ob‹ auf der Erlebnisebene aus. Man weiß, dass es ›nur‹ ein Film ist, und erfährt zugleich immersiv den Gang der Ereignisse hautnah mit.« (Voss 2008, S. 71)

Die unterschiedlichen Auffassungen zu Immersion, die derzeit diskutiert werden, haben nach Voss eine gemeinsame Grundlage: »Sie lassen sich zueinander ins Verhältnis setzen, weil sie Immersion oder ihre Modifikationen wie ›Einfühlung‹ und das ›Imaginäre‹ als wirkungsästhetische Kategorien analysieren und dabei jeweils einschlägige Charakteristika des Phänomens hervorheben.« (Voss 2008, S. 72)

Die Zitate zeigen aber auch ein Problem: Lipps (Lipps 1903/06) reflektiert die damals noch junge Theorie zur Einfühlung150 und lässt die Medien der Kunst dabei offen. Die Anwendung auf Erzählkunst, die Brecht vollzogen hat, führte aber zu den schon diskutierten dramaturgischen und politischen Implikationen, die verschwinden würden, wenn Einfühlung und Immersion synonym verwendet werden. Gegen die Gleichsetzung spricht Einiges: 1. Wenn Kunst als eine Form der Aneignung der Welt verstanden wird und Film im Besonderen mimetische Mittel dafür einsetzt, dann ist Einfühlung keine »Modifikation« von Immersion (Voss 2008, S. 72), sondern schöpferische Aneignung  –  wenn auch mit begrenzten Erkenntnismomenten für die Umstände. 2. Die meist spontane Fähigkeit zur Empathie, die für Immersion notwendig ist, entspricht nicht dem Vorgang der Einfühlung, denn Einfühlung

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Stichworte dafür sind die transitive Ich-Ausweitung durch die Romantiker und der Einfluss der aufkommenden Psychoanalyse um 1900.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

erfordert eine detailliertere und andauernde Beschäftigung mit der dramaturgischen Konstellation. 3. Brecht hat den Begriff der Einfühlung bereits auf den Film und seine Dramaturgie sowie Filmmusik angewendet.151 Diese Prägungen können bei einer Unterscheidung der Begriffe für die weitere Theoriebildung erhalten bleiben. 4. Es wäre mit dem Begriff Immersion im Kontext des Films ein Terminus zur Hand, der den Effekt des unhinterfragten Sich-eins-Fühlens beschreibt, genauer gesagt mit einer virtuellen »Als-ob-Situation«, die durch die ab­­ sorbierende Kraft audiovisueller Mittel erzeugt wird. 5. Der Begriff Immersion hat gegenüber Einfühlung keine dramaturgische Bedeutung. Eine Theorie immersiven Erzählens rückt demnach die ab­­ sorbierende Wirkung der Mittel ins Zentrum. Hier zeigen sich verschiedene Trends, die bei der Reflexion audiovisueller Künste koexistieren: Einer, der Illusionsbildung in einen gesellschaftspolitischen Kontext stellt, und andere, die Illusion und Absorption durch audiovisuelle Mittel, d. h. den Attraktionswert ggf. ohne gesellschaftspolitische Implikationen hervorheben.

2.2.3  Ernste und komische Effekte der Verfremdung

Der Begriff Verfremdung kann in einem allgemeinen, nicht dramaturgischen Sinn für die Veränderung eines Gestaltungselementes (z. B. die Verzerrung eines Tones) verstanden werden. Hier ist aber die dramaturgische Bedeutung des Be­­ griffs gemeint, der einen Qualitätssprung beschreibt. Bertold Brecht war zwar nicht der Erfinder des Begriffs und von Strategien der Verfremdung, hat sie aber relativ konsequent für eine veränderte Ästhetik des darstellenden Erzählens thematisiert und umgesetzt.152 Die Erklärung des Konzeptes der Verfremdung im Sinne und mit den Worten Brechts lautet: »Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende

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Vgl. die Abschnitte »Erfahrungen des Theaters verwendbar für den Film?« und »Trennung der Elemente im Spielfilm« in: Brecht (1964a), »Über eine nichtaristotelische Dramatik. Neue Technik der Schauspielkunst. Der Bühnenbau des epischen Theaters. Über Bühnen- und Filmmusik (1933–1947)«, S. 298 ff., 311 f. und 325 f. Hier ist nicht der Raum, die Theorie der Verfremdung zu reflektieren. Dennoch sei gesagt, dass Brecht, wie viele andere Künstler oder Theoretiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch (z. B. S. Eisenstein, M. Bachtin oder W. Majakowskij), die Idee der Verfremdung und

2.  Ästhetik und Affekt zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen. Nehmen wir wieder den Zorn des Lear über die Undankbarkeit seiner Töchter.153 […] Die Haltung des Lear wird verfremdet, das heißt, sie wird als eigentümlich, auffallend, bemerkenswert dargestellt, als gesellschaftliches Phänomen, das nicht selbstverständlich ist. Dieser Zorn ist menschlich, aber nicht allgemein menschlich. Nicht bei allen Menschen und zu allen Zeiten müssen die Erfahrungen, die Lear macht, Zorn auslösen.« (Brecht 1964a, S. 109) »Verfremden heißt also historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also vergänglich darstellen. Dasselbe kann natürlich auch mit Zeitgenossen geschehen, auch ihre Haltungen können als zeitgebunden, historisch, vergänglich dargestellt werden. […] Damit ist gewonnen, dass der Zuschauer im Theater eine neue Haltung bekommt. […] Das Theater legt ihm nunmehr die Welt vor zum Zugriff.« (Brecht 1964a, S. 110 f.)

Die Wortwahl Brechts macht zwei Intentionen sehr deutlich, die einerseits auf Dramaturgie, andererseits auf die politische Dimension von Erzählkunst hinweisen. Das Vorführen von menschlichem Handeln erzeugt »Staunen und Neugierde«, und andererseits zeigt sich ein »Zugriff«, um die Umstände, in denen dieser Mensch in dieser Weise gehandelt hat, ändern zu können. Die politische Seite der Kunst, die hier deutlich mitschwingt, außer Acht zu lassen (zumal beim Film als einer ökonomisch und ideell einflussreichen Gattung, die heute für die Konstruktion von Weltbildern und für die Welterfahrung so große Bedeutung hat), wäre naiv. Durch Verfremdung kann Vorgängen das scheinbar Einleuchtende genommen werden. So wird mit dem Konzept der Verfremdung eine andere Dramaturgie realisierbar, die auch eine andere Art Emotionalität hervorbringt. »Indem sie plötzlich und unerwartete Konzeptualisierungen schafft, dringt Verfremdung damit auf die Konstruktion neuer Weltmodelle und sorgt auch für emotionale Haltungen, die eine analytische Distanz gegenüber den Vorgängen ermöglichen.« (Wuss 1993/1999, S. 347)

Brecht weist auf einen Qualitätssprung hin durch den »Umschwung von Quantität in Qualität« und »das Übergehen der Gefühle in andere Gefühle entgegengesetzter Art« (Brecht 1964b, S. 195).

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der »vereitelten Form« von Viktor B. Schklowskij (Literat, Theoretiker und Drehbuchautor) adaptierte und durch dessen Ansichten zur Literatur und Kinematografie beeinflusst wurde. Gemeint ist das Drama King Lear von William Shakespeare (geschrieben 1606). Es ist nicht ganz klar, ob Brecht Lears Zorn über die jüngste Tochter, die er zunächst verkennt, oder über die beiden älteren Töchter, die ihn als Last sehen, gemeint hat oder aber Lears Verzweiflung am Ende der Tragödie.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Filmmusik, die mit verfremdenden Mitteln gestaltet ist, beeinflusst das Verhältnis von Einfühlung und Distanz sowie die emotive Wirkung der Vorgänge. Allein durch Filmmusik werden solche Effekte nur selten erreicht. Aber wenn in der Struktur, in den Handlungen an der Oberfläche des Films oder in der Bildgestaltung eine gewisse Offenheit oder »Rauheit« existiert, wird auch Filmmusik an diesen Stellen anknüpfen können und mit verfremdenden Mitteln einen Anteil an besonderen Wirkungen eines Films haben. Bei der Suche nach Filmmusik mit verfremdender Wirkung, zeigen sich drei Tendenzen: – Die Musik enthält selbst einen großen Anteil verfremdender Mittel (z. B. bei Michael Nyman). – Die Musik ist konventionell konzipiert, enthält aber in der Umsetzung unscheinbare Details, die verfremdende Wirkung haben können, d. h. das Gewohnte anders präsentieren (z. B. bei Ennio Morricone154) – Die Musik selbst kommt ohne verfremdende Mittel aus; die Art aber, wie sie zu den Bildern montiert wird, erzeugt insgesamt einen Verfremdungseffekt (z. B. auffällig bei Stanley Kubrick oder zurückhaltender bei Marin Scorsese). Für Verfremdungstechniken gibt es keine »Rezepte«. Die passenden Mittel müssen je nach Gegenstand und filmischer Form neu gefunden werden, sonst entstehen Missverständnisse oder der Eindruck von Beliebigkeit. Eine Erzählform, die auf Verfremdung angewiesen ist, ist die Komödie bzw. Komik. Brecht schrieb dazu in seinem Arbeitsjournal: »Der v-effekt ist ein altes kunstmittel, bekannt aus der komödie, gewissen zweigen der volkskunst und der praxis des asiatischen theaters«.155 Beim komischen Erzählen nehmen die Darstellungen, das Verhalten und Aussehen der Figuren den Vorgängen das Gewöhnliche, verwandeln sie mit Auffälligkeiten zu etwas, das zeigen kann, wie unpassend etwas ist oder wie Bedeutungen in ihr Gegenteil verdreht werden, lassen Absicht

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Mit der Kategorie der Verfremdung kann als Beispiel die Qualität der Filmmusik Ennio Morricones erst umfassend genug gewürdigt und als ein Teil seines Erfolgs erklärt werden. Mithilfe zahlreicher, während der Rezeption kaum zu konkretisierender musikalischer Verfremdungen (sei es durch die Instrumentierung, Klangfarben oder Klangkopplungen, Dissonanzen oder rhythmisch-metrische Verschiebungen) erfährt seine Musik eine Veränderung, die andernfalls nicht selten zum Klischee tendieren würde und die der Darstellung das »Bekannte« und »Einleuchtende« nimmt. Morricone äußerte sich in einem Interview vorsichtig zustimmend gegenüber dieser These und weist auf Techniken der Neuen Musik in seiner Konzertmusik und seiner Filmmusik hin; vgl. Robert Rabenalt und Ornella Calvano (2014), »Interview mit Ennio Morricone«, in: G. Heldt, T. Krohn, P. Moormann und W. Strank [Hg.], Ennio Morricone, S. 143 f. Zitiert nach: Wuss (1993/1999), Filmanalyse und Psychologie: Strukturen des Films im Wahrnehmungsprozess, S. 358 f.

2.  Ästhetik und Affekt

und Wirkung von Handlungen sich auffallend widersprechen. Indem das Publikum dadurch auch hinter die Vorgänge schauen kann und dabei die Abhängigkeit der Figuren von den Umständen durchschaut, wird es in die Lage versetzt, über Vorgänge lachen zu können. Übertreibungen oder Unangemessenheit von Vorgängen, eskalierende Verkettungen und Handlungen, die einer scheinbar offensichtlichen Handlungslogik entgegenlaufen, sind Mittel der Verfremdung im Komischen. Im Lachen entlädt sich eine aufgestaute Energie, die entsteht, wenn diese Verkehrtheit und mit ihr ein Zusammenhang erkannt werden. Aus diesen Überlegungen und Beobachtungen ergibt sich, dass der Anteil der Filmmusik beim komischen Erzählen ein ganz anderer ist als bei anderen ernsten Formen. Wenn sich so viele Parameter geradezu in ihr Gegenteil verkehren, ändern sich auch die Beziehungen der Filmmusik zu den Vorgängen und die Bedeutungen von Musik-Bild-Kopplungen. Unter den anderen Vorzeichen der Komödie ist auch die dramaturgische Bedeutung von Musik eine andere. So enthalten z. B. Chaplins Filme keine Musik, die selbst »lustig« klingt, oft sogar im Gegenteil. Da die Komik aus der sogenannten Erkennung (z. B. der Verkehrtheit der Umstände) entsteht, ist es wichtig, dass die Musik diese Erkennung nicht vorwegnimmt, uns das Durchschauen nicht abnimmt (z. B. indem sie bereits mit musikalischen Mitteln ausdrückt: »Das ist jetzt aber unangemessen!«, »Achtung, hier liegt eine Verwechslung vor!« oder »Das ist jetzt übertrieben!« usw.). Wenn anstatt der musikalischen Mittel, die selbst schon verfremdende Wirkung haben können, über die Wirkungen gesprochen wird, die durch die Kopplung von Musik und Bild entstehen, würde ich zwei Typen von Verfremdung vorschlagen: Verfremdung des Typs I entsteht, wenn die übertriebene Synchronität von Bewegung und Musik komische Wirkungen erzeugt. Typ II entsteht durch audiovisuellen Kontrapunkt, der Vorgängen das Gewohnte nimmt. Diese Art der Verfremdung dient dem Bewusst-Werden von Umständen und Haltungen.156

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Weitergehende Ausführungen dazu finden sich in Kap. 2.3.5 (»Mitaffekt und Eigenaffekt«) sowie Kap. 4.6.9 (»Affirmation und Kontrapunkt als dramaturgisch vermittelte Beziehungen«).

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

2.3  Filmmusik und Emotion

Die im Folgenden vorgestellten Thesen sind nach der Sichtung der einschlägigen Literatur entstanden und werden in den diesem Kapitel zugeordneten Unterkapiteln noch näher erläutert und belegt. Die hier eingenommene Perspektive auf das Thema Emotion bleibt aber die der Ästhetik. Empirische und psychologische Ansätze, die sich dem physiologischen Teil zuwenden, werden zugunsten der subjektiven und psychologischen Anteile hier ausgeklammert. Da die empirische Filmmusikforschung die Komplexität des Filmerlebens im Moment kaum bewältigen kann, könnte der hier vorgestellte Ansatz diesem Forschungszweig möglicherweise neue geeignete Fragestellungen offerieren.

2.3.1  Thesen zur emotiven Wirkung von Filmmusik

Zu Emotionen als Aspekt der ästhetischen Eigenart des Films äußerte sich Hugo Münsterberg schon 1916 folgendermaßen: »Der Film erzählt uns die Story des Menschen, indem er die Formen der äußeren Welt, nämlich Raum, Zeit und Kausalität, überwindet und die Ereignisse den Formen der inneren Welt, nämlich Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Imagination und Emotion, anpaßt.«157

Emotionen waren und sind Teil der Ästhetik des Films und Teil der Dramaturgie, denn indem sie die Geschichte organisiert, bestimmt Dramaturgie den Anpassungsprozess mit, von dem Münsterberg spricht. Um anhaltende, kurzlebige, diffuse oder gerichtete Emotionen zu unterscheiden, können unter dem Begriff Emotionen verschiedene Erscheinungen differenziert werden: Stimmungen, Gefühle, Affekte und Basisemotionen. Emotionen sind komplex, prozessual und haben einen subjektiv-psychologischen und einen physiologischen Anteil. Der subjektive Anteil wird meist als Gefühl bezeichnet. In den darstellenden Künsten spricht man oft von Affekten. Der Begriff scheint geeignet zu sein, da Aktionen der handelnden Figuren nicht nur von einem Grundkonflikt oder Grundbedürfnis bestimmt werden, sondern auch von dem für Affekte typischen intensiven Erleben und Antrieb, das sich gut in Handlungen zeigen lässt. Im realen Leben werden Affekte in der Regel ausagiert. 157

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Hugo Münsterberg (1970), The film: A psychological study, S. 73, zitiert nach: Peter Wuss (1990), Die Tiefenstruktur des Filmkunstwerks zur Analyse von Spielfilmen mit offener Komposition, S. 72.

2.  Ästhetik und Affekt

Der ästhetische Affektbegriff beschreibt dagegen, dass Affekte zwar adressiert bzw. erzählt werden, bei der Rezeption allerdings nur sehr begrenzt ausagiert werden können. In der Filmrezeption erleben wir daher ersatzweise, d. h. vertreten durch die handelnden Figuren, das Ausagieren der Affekte. Affektbegriff und Mimesis (das nachschöpfende Prinzip des darstellenden Erzählens) gehören daher zusammen. Stimmungen sind diffuser und anhaltender als die meist kurzlebigen Affekte. Sie sind weniger intensive Gemütsempfindungen, die sich nicht zwangsläufig in einer Aktion manifestieren. Sie geben jedoch der Bewertung des Umfelds eine Richtung vor oder färben das Geschehen in einer bestimmten Weise ein. Gefühle sind komplexer als Affekte und nachhaltiger im Erleben, d. h. ihre erlebte Wirkung geht über einen Moment hinaus. In der Filmwirkungsforschung stehen meist die Affekte während der Rezeption im Vordergrund. Die nach Filmende sich entwickelnden Gefühle zu Vorgängen, Thema und Bewertungen der eigenen Reaktionen und Anteilnahme werden nur selten, z. B. durch spätere Interviews erfasst. Bereits der Abspann eines Films mit der dort erklingenden Musik ist Teil dieser beginnenden Beurteilung und Umwertung von eigenen spontanen Reaktionen in Gefühle, die auch nach der Filmrezeption anhalten oder erst dann entstehen. Gefühle sind demnach die bewusst gewordene Wahrnehmung innerer, subjektiver Empfindungen, die schon bewusste und unbewusste Bewertungsschleifen durchlaufen haben. Die physischen Reaktionen auf Erlebtes (oder die Filmrezeption) wie erhöhter Puls, Schwitzen u. a. sind Teil dieser Bewertungsschleifen sowie des Ineinandergreifens psychologischer und physiologischer Vorgänge, die als Emotionen bezeichnet werden können. Autorinnen und Autoren der Filmwissenschaft und Medienwissenschaft berufen sich aktuell meist auf das component process model for emotion.158 Auch neuere deutschsprachige Veröffentlichungen zu Emotionen im audiovisuellen Kontext stützen sich darauf.159 Die Parameter des component process model for emotion sind im übertragenen Sinne dramaturgisch interpretierbar. Es kann zu den Prozessen der Filmwahrnehmung in Beziehung gesetzt werden.160 In dieser modellhaften Ver158 159

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Vgl. Klaus R. Scherer (2001), »Appraisal considered as a process of multilevel sequential check­ ing«, in: Klaus R. Scherer, Angela Schorr und Tom Johnstone [Hg.], Appraisal processes in emotion: Theory, methods, research. Siehe hierzu Vorwort und Aufsätze in: Stefan Weinacht und Helmut Scherer (2008), Wissenschaftliche Perspektiven auf Musik und Medien; darin speziell den Aufsatz von Dagmar Unz, Frank Schwab, Jelka Mönch, »Filmmusik und Emotion«. Siehe auch Vorwort und Beiträge in: Matthias Brütsch, Vinzenz Hediger, Ursula von Keitz, Alexandra Schneider und Margrit Tröhler (2005), Kinogefühle: Emotionalität und Film. Vgl. Wuss (2005), »Konflikt und Emotion im Filmerleben«.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

gleichbarkeit von Prozessen der Reizverarbeitung und der Konstruktion und Rezeption einer Geschichte liegt möglicherweise eines der Geheimnisse des Erzählens verborgen: Ausgangspunkt ist ein Ereignis (event); in einer gewissen Zeitspanne finden Prozesse zur Prüfung der Relevanz des Ereignisses statt, wobei gespeicherte Erfahrungen, Selbstbild und Motivation die Vorgänge mitbestimmen. Resultierende Aktionen befinden sich in einem permanenten Rückkopplungsprozess, an dem mehrere Komponenten parallel beteiligt sind: Physiologie, Handlungsoptionen, resultierende Handlungen und der Gefühlszustand (feeling state) zum jeweiligen Zeitpunkt.161 Signifikanz und Relevanz von Ereignissen unterliegen einer ständigen, meist unbewusst ablaufenden Kontrolle, um eine Neubewertung des Ereignisses (coping) zu ermöglichen, die durch die aktuelle Situation, aber auch durch frühere Erfahrungen beeinflusst ist. Nicht selten werden durch Filme Basisemotionen angesprochen, z. B. Furcht, Ärger, Freude, Ekel, Trauer, Überraschung, Vertrauen.162 Einerseits scheinen im Kino Prozesse abzulaufen, die dem emotionalen Erleben im Alltag ähneln. Andererseits ermöglicht die spezielle Rezeptionssituation beim Film die genussvolle Grenzüberschreitung, denn Erzählen hat Spielcharakter, und es handelt sich bei einer Geschichte nur um ein Modell der Wirklichkeit. Aus den genannten Thesen und Theorien ergeben sich eine Reihe Anhaltspunkte für die Filmdramaturgie und Filmmusik: 1. Affekte, Stimmungen und Gefühle sind Kategorien, die sowohl auf der Darstellungsebene wie auf der Rezipientenebene existieren, d. h. erzählt bzw. erlebt werden. 2. Der Prozesscharakter von Emotionen, angefangen bei kurzlebigen Affekten bis hin zur Verarbeitung komplexer und anhaltender Empfindungen, kann mit dem Prozesscharakter des darstellenden Erzählens synchronisiert werden, z. B. durch Dehnung kurzlebiger Affekte oder Verdichtung einer diffusen Stimmung.

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Vgl. Scherer (2001), »Appraisal considered as a process of multilevel sequential checking«, S. 100 f. Je nach Emotionsmodell variieren die Anzahl und Art der Basisemotionen leicht. Einen gewissen Überblick gibt: Günther Rötter (2005), »Musik und Emotion«, in: Helga de la Motte-Haber [Hg.], Musikpsychologie. Die in Rötters Beitrag für das Lexikon von 2005 enthaltenen Anteile und zitierten Ansichten von Filmmusikforschenden zur Bedeutung der Filmmusik für Emotionen sind allerdings veraltet und werden hier und in den folgenden Kapiteln noch eingehender kritisiert. Dieser Anteil kann nunmehr ersetzt werden durch: Dagmar Unz, Frank Schwab und Jelka Mönch (2008), »Filmmusik und Emotion«, in: Stefan Weinacht und Helmut Scherer [Hg.], Wissenschaftliche Perspektiven auf Musik und Medien.

2.  Ästhetik und Affekt

3. Filmwahrnehmung kann als kognitiver Prozess verstanden werden, der mit kognitiven Prozessen zur Verarbeitung von Emotionen in einigen Punkten vergleichbar ist, z. B. die Einordnung von aktuellen oder früheren Ereignissen auf Basis von Erfahrungen und Informationen zur Beherrschung der Situation oder Erstellung einer Prognose über den Verlauf der Handlung. Für die Beurteilung der emotiven Wirkungen der Filmmusik ist es demnach wichtig, – die dargestellten, erzählten Affekte (Erregungszustände der Figuren) zu unterscheiden von den zu eigen gemachten Affekten (das empathische Mitempfinden des Publikums), – Emotionen des Publikums auch als außerhalb der Geschichte verankert zu verstehen (Emotionen, die auf die eigene Lebenswirklichkeit referieren), – zu untersuchen, welchen Anteil Musik daran hat, sich auf die Geschichte einzulassen, damit komplexe emotive Prozesse überhaupt in Gang kommen, – zu untersuchen, welchen Anteil Musik daran hat, dass Menschen außerhalb der Filmrezeption verankerte Emotionen mit einbringen. Nicht nur beim Denken kann man im Film den Figuren »auf subtilster Ebene« zusehen, wie Murch sagt (Murch 2004, S. 133), sondern auch beim Fühlen. Durch Filmmusik ist es bei diesem Prozess möglich, erzählte Emotionen mit den mitempfundenen und den eigenen Emotionen zu verbinden. Musik im Film erzielt somit emotive Wirkungen, ohne dass sie selbst emotional sein muss, wie oft angenommen wird. Das Emotionale an Filmmusik beruht oft darauf, dass sie die flüchtigen Affekte in anhaltende Zustände überführt, die dann mit dem Timing der erzählten Geschichte besser synchronisiert werden können. Die Abstraktheit der Musik bewirkt außerdem, dass der Authentieeffekt des Films (sein realitätsnaher, visueller Bezug zur äußeren Welt) nicht von der Innerlichkeit der Figuren oder der eigenen Innerlichkeit weg, sondern im Gegenteil zu ihr hin führt. Diese Gedanken könnten statt aus Sicht der Rezeption auch andersherum aus Sicht des Schaffensprozesses formuliert werden: Um die Emotionen des Publikums zu erreichen, kommt der Musik beim filmischen Erzählen die Rolle zu, Emotionen von ihren in der Lebensrealität verankerten Auslösern zu entkoppeln und einer poetischen Realität zuzuordnen. Der Abstraktionsgrad der Musik unterstützt maßgeblich die Bereitschaft, in den Bereich der inneren Anschauung einzutreten. So ergibt sich eine dramaturgische Einflussnahme der Musik, die immer dann, wenn die äußere Realität trivial gegenüber emotional bewegter,

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

subjektiver Innerlichkeit erscheint, eine vermittelnde und poetisierende Funktion einnimmt. Etwas allgemeiner drückte es Zofia Lissa aus: »[…] die Musik verallgemeinert durch ihre Mittel den individuellen emotionalen Ton der Szene und vertieft ihn damit.« (Lissa 1965, S. 357). Peter Wuss vergleicht kognitive Problemlösungsprozesse mit dem Nachvollziehen einer Filmhandlung. Dabei widerspricht die Situation der Rezeption im Kino allerdings dem »Primärmotiv« (Wuss 2005, S. 215), d. h. dem Bedürfnis, Übersicht, Kontrolle und Handlungsmächtigkeit zu gewinnen: »Im Normalfall der Lebenssituation geht es dem Menschen um AKTIVE Kontrolle, um eine praktische Veränderung des Umweltgeschehens in seinem Sinne. Im Kunsterleben ist dergleichen nicht möglich, denn der Zuschauer kann ein Filmgeschehen nicht ändern – aber er kann sich wenigstens um PASSIVE Kontrolle im Sinne von besserer Voraussicht und Antizipation der Ereignisse bemühen. […] Der Zuschauer wird, auch wenn er am Resultat der Handlung realiter nichts ändern kann, sehr wohl psychisch aktiv, denn er sucht intuitiv zumindest nach den richtigen Voraussagen über die Geschehensverläufe, möchte er doch die Unsicherheit darüber loswerden, wie ein Konflikt auf der Leinwand entschieden wird, was dann eine zugleich kognitive wie emotive Angelegenheit ist.« [H. i. O.] (Wuss 2005, S. 215 f.)

Monika Suckfüll legte Untersuchungen zur Medienrezeption vor, die klar unterscheiden zwischen Emotionen im Alltag und Emotionen bei der Filmrezeption.163 Ihre durch Modelle der filmischen Narration untermauerten empirischen Studien zeigen miteinander in Beziehung stehende Phänomene, die als Berührungspunkte zwischen Emotionstheorie und Dramaturgie gelten können. Dazu gehören vor allem Wirkmomente, die nicht selten mit den dramaturgisch bedeutsamen plot points (Dreh- oder Wendepunkte der Handlung, die unumkehrbar sind und die nachfolgende Handlung richtungsgebend beeinflussen) zusammenfallen.164 Eine Dramaturgie-basierte Methode hätte zum Ziel, die emotive Wirkung von Filmmusik aus dem komplexen Zusammenwirken der erzählerischen Mittel heraus zu erklären. Dabei haben zahlreiche Teilaspekte große Bedeutung, wie z. B. Aufmerksamkeit, Bereitschaft zur schöpferischen Teilnahme, Bestätigung, Überraschung, Einfühlung, Affekte und Affektdispositionen, Abstufungen von Spannung (tension und suspense) und Wirkmomente. Experiment-Designs der bisher 163

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Monika Suckfüll (2007), »Emotionale Modalitäten der Filmrezeption«, in: J. Eder, A. Bartsch und K. Fahlenbrach [Hg.], Audiovisuelle Emotionen; Monika Suckfüll (2013), »Emotion regulation by switching between modes of receptions«, in: Arthur P. Shimamura [Hg.], Psychocinematics: Exploring Cognition at the Movies. Vgl. Monika Suckfüll (2010), »Films that move us: Moments of narrative impact in an animat ed short film«, in: Projections. ­

2.  Ästhetik und Affekt

bekannten empirischen Studien165 gehen nicht selten den umgekehrten Weg: Messbare Anzeichen von Emotionen in einem vom Kontext abgelösten Ausschnitt bilden den Ausgangspunkt. So kann gezeigt werden, dass eine Reaktion entsteht, aber nicht warum oder warum gerade an einer bestimmten Stelle im Verlauf.166

2.3.2  Musik, Affekt und musikalischer Gestus

Die Frage nach den emotiven Wirkungen von autonomer Musik kann im Gegensatz zu narrativen Implikationen in der Musik kaum zufriedenstellend beantwortet werden. Die lange Tradition der Systematisierung musikalischer Affekte, die Kataloge und Differenzierungen musikalischer Mittel und ihrer Funktionen für den Ausdruck von Gefühlen zeugen von dem Versuch, komplexe, kaum zu fassende Phänomene emotiver Wirkungen von Musik in ein handliches Format für Theorie und Praxis zu bringen. Direkt und indirekt haben rezeptionsästhetische Modellvorstellungen zur Bedeutung musikalischer Mittel für den Ausdruck von Emotionen auch den Weg in die Kinotheken der Stummfilmmusik gefunden, von wo aus sie vielleicht bis heute ausstrahlen. Die Affektenlehre reicht bis in die Antike zurück und ist von der Temperamentenlehre und Rhetorik kaum zu trennen. Affekt als ästhetische Kategorie bezeichnet dargestellte Erregungszustände und solche, die beim Kunstgenießen entstehen. Affekte besitzen individuelle, aber auch überindividuelle Bedeutung. Affektsysteme versuchen, über die individuelle Wirkung eines Affektes hinaus die Gemeinsamkeit von emotiven Wirkungen bei einer großen Gruppe von Menschen und vergleichbaren Kunstgattungen als überindividuelle Affekte zu kategorisieren. Die emotionale Wirkung von Musik umschreibt Hegel mit den Worten, dass Musik »Mitteilungen« an die »ideelle Subjektivität« richte. Die im Innern verborgene ideelle Subjektivität könne nur von Musik »in Bewegung gebracht« werden, da sie im Gegensatz zu den anderen Künsten ohne »äußere Objektivität« auskomme (Hegel 1818–29/1984, S. 262, Bd. 2). Nur mit einer narrativen Metapher (»Mitteilungen«, durch die Musik zu uns spreche) kann Hegel ausdrücken, was

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Siehe hierzu die Auflistung von Studien zur empirischen Wirkungsforschung zur Filmmusik bei Bullerjahn (2001), Grundlagen der Wirkung von Filmmusik. Eine Ausnahme bildet Monika Suckfülls Artikel zur Untersuchung eines vollständigen achtminütigen Films: Suckfüll (2010), »Films that move us: Moments of narrative impact in an animated short film«. Vgl. auch eine andere Arbeit von Monika Suckfüll: Monika Suckfüll (1997), Film erleben: Narrative Strukturen und physiologische Prozesse – »Das Piano« von Jane Campion.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

sich der äußeren Welt entzieht. Die ästhetische Prämisse, dass Musik losgelöst von der Konkretheit der äußeren Welt mit unseren inneren Anschauungen korrespondiere, beschreibt eine Grundlage dafür, dass uns Musik so umfassend emotional bewegen kann. Die Prozesse, die zu einer evozierten Emotion führen, werden nicht nur durch die Geschichte und filmischen Mittel angeregt, sondern auch von subjektiven, individuellen Kriterien bestimmt, die – bewusst oder unreflektiert – Teil eines persönlichen Ideals oder einer übergeordneten Idee zur eigenen Persönlichkeit oder der Welt sind. Die Ideen Hegels und Modelle der Emotionsforschung legen einen Gedanken nahe, der allerdings die häufig eingeschlagene Richtung zur Erklärung von Emotionen in der Musik und im Film umkehrt: Das BewegtSein durch Musik ist eine selbst erzeugte, individuelle Konkretisierung von Empfindungen. Die künstlerischen Mittel regen uns durch Resonanzen dazu an, sind aber selbst nicht »emotional«. Die Tatsache, dass Musik in den meisten Fällen ohne äußere Objektivität auskommt, bewirkt, dass jede Hörerin und jeder Hörer eine eigene innere Anschauung entwickeln kann, eigene Konkretisierungen von Empfindungen erschafft, die in den eigenen Hörerfahrungen, in der eigenen Lebenserfahrung und in den eigenen Selbst- bzw. Weltkonzepten Resonanz finden. Mit anderen Worten: Die Resonanzen zwischen Musik und innerer Empfindung sind bei der Filmwahrnehmung den sogenannten Rezeptionsmodalitäten unterworfen. Rezeptionsmodalitäten sind Arten und Grade der kognitiven und emotionalen Beteiligung während der Medienrezeption, die qualitative Unterschiede aufweisen und individuell und bei unterschiedlichen Publikumsgruppen unterschiedlich ausfallen können. Die Rezeptionsmodalitäten sind Basis für die emotionale Wirkung, z. B. der Grad des Involviert-Seins in das Thema, die Identitätsbildung der Rezipierenden und vieles mehr.167 Der tradierte Affektbegriff in der Musiktheorie hat seine Grenzen. Er ist mit der Illustration von Vorgängen so eng verknüpft, dass er laut Fasshauer für offenere Zuschreibungen in der Filmmusiktheorie kaum mehr taugt.168 Am ehesten kann der Begriff Affekt in ein System aus Abstufungen emotiver Bedeutungen oder

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Rezeptionsmodalitäten sind ein von Monika Suckfüll entworfenes Modell zur Untersuchung emotiver Wirkungen bei der Filmwahrnehmung, vgl. Suckfüll (2004), Rezeptionsmodalitäten: Ein integratives Konstrukt für die Medienwirkungsforschung; Suckfüll (2007), »Emotionale Modalitäten der Filmrezeption«. Vgl. Tobias Fasshauer (2008), »Film – Musik – Montage«, in: Peter Schweinhardt [Hg.], Kompositionen für den Film.

2.  Ästhetik und Affekt

Wirkungen der Filmmusik integriert werden, in dem die Begriffe Affekt, Empfindung, Stimmung und musikalischer Gestus unterschiedliche Akzente bei der Beurteilung emotiver Wirkungen der Filmmusik setzen. Der Begriff »Gestus« eignet sich für Phänomene der emotiven Wirkungen, weil Gesten – wie Emotionen – komplex sind. Hinter dem Gestus einer Sache stecken die Kombinationen von Empfindung, innerer Haltung, Erfahrung, sozialer Verknüpfung und dem Bewusstsein über die Umstände. Das von K. Weill und B. Brecht für ihr Musiktheater entwickelte Konzept des gestischen Prinzips und der daran gekoppelte Begriff »musikalischer Gestus« könnten laut Fasshauer den traditionellen musikalischen Affektbegriff ersetzen (Fasshauer 2008). In der Mitte des 18. Jahrhunderts trat der Begriff der »Empfindung« zum Affekt-Begriff hinzu, damit ein qualitativer Wandel des emotionalen Empfindens im Kontext ästhetischer Äußerung und Rezeption zum Ausdruck gebracht werden konnte. Der Wandel zu Beginn des 20. Jahrhunderts würde sich am Begriff »gestische Musik« festmachen lassen. Brecht dachte selbst über die Übertragbarkeit der Erfahrungen des Theaters mit Musik auf den Film nach und argumentiert dafür (Brecht 1964a, S. 311 f.). Vom Konzept des epischen Theaters kann für den Film bzw. die Filmmusik z. B. die Idee übernommen werden, dass durch Verfremdung »das Übergehen der Gefühle in andere Gefühle entgegengesetzter Art« (Brecht 1964b, S. 195) erreicht wird. Gestische Musik (im Sinne des Gestus-Begriffs, der die Komplexität von Haltung, Erfahrung, Empfindung und Reaktion enthält) ist dafür ein Mittel. Gestische Musik drückt etwas Grundsätzliches aus und kann daher das Bedeutsame, über das Individuelle auch hinausgehende in einem Verhalten oder einer Emotion ausdrücken. Vielleicht ist es nur ein einzelner musikalischer Parameter, der dieses Besondere erahnen lässt. Ziel gestischer Musik ist es, ein Gleichfühlen zwischen Figur und Darstellerin bzw. Darsteller für einen überzeugenden Vortrag unnötig werden zu lassen und mit einer gewissen Präzision komplexe Konstellationen und Emotionen umsetzen zu können. Kurt Weill beschreibt die Eigenart gestischer Musik anhand eines Beispiels: »›Dies Bildnis ist bezaubernd schön‹ [Arie des Tamino aus Mozarts Zauberflöte, R. R.]  –  die Haltung eines Mannes, der ein Bild betrachtet, ist hier durch die Musik allein bestimmt. Er kann das Bild in der rechten oder linken Hand, nach oben oder unten halten, er kann durch einen Scheinwerfer beleuchtet sein oder im Dunkeln stehen – sein Grundgestus ist richtig, weil er von der Musik richtig diktiert ist.« (Weill 2000, S. 85)

Der musikalische Gestus unterstreicht nicht, sondern »zeigt an«, er gestattet auch die Beurteilung des Geschehens, anstatt dass er eine Stimmung vorgibt, die »den

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Hörer emotional ansteckt und gleichstimmt« (Brecht 1964a, S. 311) und assoziiert einen sozialen Kontext. Beispiel: C’era una Volta il West (Spiel mir das Lied vom Tod, I/USA 1968, R. Sergio Leone, M. Ennio Morricone) Die Musik von Ennio Morricone zu der Szene in C’era una Volta il West, in der Jill McBain nach der Ermordung ihrer Familie die Farm verlassen will, trägt einen musikalischen Gestus, der Trauer ausdrückt, aber über den Moment und die individuelle Trauer der Figur hinausgeht. (s. Abb. 7) Es ist ein Beispiel, wie kleine Verfremdungen das Naheliegende hinterfragen: Das vermeintliche Einzelschicksal ist Teil eines größeren Problems. Nicht nur Jill ist das Opfer von Franks Machenschaften (zunächst im Auftrag von Morton, der die Eisenbahnstrecke dort entlang bauen lassen will, wo die Familie McBain ihre Farm hat). Die Musik trägt durch ihren Gestus die Tragik in sich, die alle Figuren, die unter Frank leiden müssen, vereint. Der Gestus des Themas, das eigentlich Frank gehört und zu Anfang des Films, als von ihm die Rede ist, mit Banjo und pizzicato sowie später – als Frank den Jungen erschießt – mit E-Gitarre gespielt wird, bekommt in der Instrumentierung mit Englischhorn einen erstaunlichen neuen Ausdruck: Intervallsprünge und der Rhythmus (besonders das Zusammentreffen von Sechzehnteln und Halben) enthalten noch die Kraft seines ursprünglichen Auftretens. Das Thema wirkt aber nun vom beseelten Klang der tiefen Oboe weich, doch zugleich mit Stärke versehen.169 Wir erfahren somit etwas sowohl von der Emotionalität der Figur, von der Gewalt, die ihr angetan wurde, aber auch von Jills (noch nicht sichtbarer) Kraft sich dem entgegenzusetzen. Konkret zeigt sich diese Haltung und Stärke als Gestus der Musik in der aufsteigenden Quinte der Melodie (T. 2 klingend a – e, notiert e – h) gefolgt von der aufsteigenden Oktave (T. 4) mit anschließendem weiter aufsteigenden Sekundschritt. Die zweite Phrase kehrt die Quinte um (T. 7–8) und enthält mit der aufsteigenden Sexte (T. 9) eine bekannte rhetorische Figur für den klagenden Ausruf (exclamatio). Die schreitenden Streicherakkorde über dem Lamentobass (die abwärts gerichtete Tonfolge a – e, 1. Phrase T. 2–5 und 3. Phrase T. 12–15) sind ein alter musikalischer Topos für Klage und Schmerz. Aber die Violine 1 geht in eine Gegenbewegung, die etwas Aufrichtendes hat und als Höhepunkt den Fmaj 7-Akkord ansteuert. Der über dem liegenden a-Moll-Akkord weiter absteigende Bass

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Das Englischhorn ist wahrscheinlich einem breiten Publikum aus Dvořáks Sinfonie aus der Neuen Welt bekannt.

2.  Ästhetik und Affekt

Abb. 7: Notenbeispiel Jill will die Farm verlassen aus C’era una Volta il West

(T. 6 f.) erinnert im Gestus an barocke Opernmusik, wodurch die Emotionalität wie in einer »Arie ohne Worte« auf einer Bühne ausgestellt wird, während die Zeit stillzustehen scheint. Im Film schaut Jill hier lange in den Spiegel, will Abschied von dem Ort und ihrer ursprünglichen Lebensplanung nehmen, was ihr sichtlich schwerfällt. Kleine Verfremdungen bereiten auch auf das Überraschende vor: Jill wird von Harmonica aufgehalten, denn er hat noch seine Rechnung mit Frank zu beglei-

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung chen. Aus Trauer wird, wenn auch zunächst unfreiwillig, Widerstand. Die verfremdenden Mittel bewahren die Musik auch vor dem Klischee: 1.) fehlender Bass am Anfang, erst in T. 6 sind eine Oktave tiefer klingend die Kontrabässe dabei; 2.) es gibt fast durchgehend einen Orgelpunkt, der beharrlich wirkt und zu eigenartig verteilten Akkordtönen führt (T. 1–7 e1 in Vl. 2, T. 7–10 a1 in der Va. zusammen mit Vl. 1 bis T. 9, sodass die Septime des Klanges über H in T. 8 doppelt klingt und die verminderte Quinte des halbverminderten Sextakkordes fehlt, bis das a der Va. zum Vorhaltston für den E-Dur-Akkord in T. 10 wird, ab T. 11 wieder Orgelpunkt e1 in Vl. 2); 3.) ein dritter Anlauf wird genommen für den Lamentobass, der aber doppelt so schnell anfängt und nicht zu Ende geführt wird, sondern auf f stehen bleibt, dem Trugschlussklang der Grundtonart a-Moll.

2.3.3  »Psychische Erholung« durch fiktive Lösungen

Der Semiotiker Jurij Lotman formulierte die These, dass fiktive Lösungen in Kunstwerken, im dramatischen Spiel oder in Spielsituationen eine menschlich notwendige »psychische Erholung« ermöglichen (Lotman 1981, S. 83). Die Idee von Lotman bietet geeignete Anknüpfungspunkte, um auch Aspekte der emotiven Wirkung von Filmmusik zu untersuchen. Sein Modell vom Spielcharakter der Kunst setzt folgende Komponenten miteinander in Beziehung: Wirklichkeit, Modell von der Wirklichkeit, Sprache und Regelwerk eines Kunstwerks, Verhaltensprozesse der Rezipierenden und schließlich die durch Kunsterfahrung geänderte Wahrnehmung von Wirklichkeit. Lotmans Thesen scheinen vom component process model for emotion der aktuellen Emotionsforschung bestätigt zu werden. Sie würden das Modell sogar bereichern, falls eine Erweiterung auf das emotive Erleben von Kunst vorgenommen werden würde. Lotman versteht Kunst als eine Form der Aneignung der uns umgebenden Welt und ist damit sehr nahe am mimesis-Begriff des Aristoteles.170 Dies geschieht laut Lotman in einer Form, in der die komplexe Lebensrealität in vereinfachten Regelsystemen, die denen eines Spiels ähneln, ersatzweise durchlebt werden können. Kunst ist nach Lotman ein System, das ein mögliches Modell der Wirklichkeit bildet, innerhalb dessen den Rezipierenden zunächst nur die für die Kunstrezeption »benötigten Informationen« gegeben werden, gleichzeitig bereitet das Kunstwerk auf weitere »in ihm enthaltene Informationen« vor (Lotman 1981, S. 87) und ermöglicht das Aufschließen tieferer Schichten. Dieses Phänomen kor-

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Siehe Exkurs 2 (»diegetisch/non-diegetisch und mimesis/diegesis«).

2.  Ästhetik und Affekt

respondiert mit den in der Emotionsforschung thematisierten sehr komplexen unbewussten und bewussten Prozessen bei der Entstehung von Emotionen und kann ohne Mühe auf die Filmwahrnehmung übertragen werden, zumal Lotman die Kinoästhetik bereits im Blick hatte (Lotman 1977). Dadurch, dass durch vereinfachte (Spiel-)Regeln in den Modellen von Wirklichkeit Situationen exemplarisch dastehen und beherrschbar werden, wären Rezipierende psychologisch gesehen auf kommende Kunstrezeption (und Lebenssituationen) emotional vorbereitet. Dies bewirke, dass Ängste abgebaut und positive Emotionen aufgebaut werden können: »Das Spiel und die Kunst besitzen – im Verfolg ihrer Ziele zur Aneignung der Welt – eine gemeinsame Eigenschaft: Sie ermöglichen fiktive Lösungen. Indem sie die unübersichtlich komplexen Regeln der Wirklichkeit durch ein einfacheres System ersetzen, stellen sie – psychologisch betrachtet – die Befolgung der im gegebenen Modellierungssystem gültigen Regeln als die Lösung einer Lebenssituation dar. Deshalb sind Kunst und Spiel (auch das blutige Spiel, der Stierkampf, oder die tragische Kunst) nicht nur – in gnoseologischer Hinsicht – Mittel der Erkenntnis, sondern – in psychologischer Hinsicht – auch Mittel der Erholung. Sie bringen Lösungen, die für den psychischen Haushalt des Menschen unabdingbar sind.« (Lotman 1981, S. 83)

Objekte oder Vorgänge der Wirklichkeit werden nach Lotman, der hiermit Erkenntnistheorie und Psychologie zusammenbringt, in vier Stufen künstlerisch verarbeitet: Von der Wirklichkeit als erster Stufe wird ein theoretisches Modell (das Lotman als »Sprache« versteht) als zweite Stufe abstrahiert, von wo aus als dritte Stufe ein Kunstwerk, das diese Sprache anwendet, geschaffen werden kann. Der nun folgende Schritt zur vierten Stufe in Lotmans Theorie von Kunst als modellbildendem System ist entscheidend: Das Kunstwerk ermöglicht durch seine vereinfachende Modellierung der Realität, Wirklichkeit »im Lichte vorangegangener Kunsterfahrung« erneut zu begreifen (Lotman 1981, S. 86). Damit böte Kunstrezeption nicht nur die Möglichkeit für »psychische Erholung«, Aneignung und fiktive Bewältigung von Konflikten, sondern zugleich eine Voraussetzung für tiefergehenden Kunstgenuss. Denn das erneute Begreifen von Wirklichkeit nach dem Kunstgenuss ermöglicht es, die vorhandene Komplexität von Kunstwerken sowie weitere Bedeutungsebenen, die unterhalb der Oberflächenstrukturen liegen, aufzuschließen. Die psychische Erholung beruht einerseits auf der Lösung für bestimmte Situationen und zugleich auf dem positiv erlebten Effekt, sich in den Regeln des Spiels bzw. der Kunst genussvoll zu verlieren. Sich in Kunst »zu vergessen« bedeute, »eine fiktive, spielerische Lösung von Konflikten zu erreichen, die in praxi ent-

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

weder überhaupt oder innerhalb des gegebenen gesellschaftlichen Systems unlösbar sind« (Lotman 1981, S. 76). Kunst hat damit eine ähnliche Funktion wie die »psychologisch-erzieherische Funktion des Spiels: Es hilft nämlich, die Furcht vor ähnlichen Situationen zu überwinden, und es bildet die für das praktische Handeln notwendige Emotionalstruktur aus. Dieses Phänomen, das man psychologisch als Psychotherapie interpretieren könnte, ist der Katharsis in der Kunst vergleichbar.« (Lotman 1981, S. 71)

Die Formulierung »ähnliche Situationen« im Zitat von Lotman sollte nicht wörtlich genommen werden als Wiederkehr der äußerlichen Situation. Es geht vielmehr um emotional ähnliche Situationen, die durch einen von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlichen, individuellen Realitätsbezug gekennzeichnet sind. Zwischen dem Bedürfnis und den Möglichkeiten der Regulation von Konfliktsituationen im Alltag und deren modellhafter Widerspiegelung in der Kunst bestehen Beziehungen, auf denen dramaturgische Strategien aufbauen, die aber je nach Genre verschiedene Schwerpunkte setzen. »Die unterschiedlichen Genres sind vermutlich in der Lage, auf diese variablen Spannungsverhältnisse mit einem angemessenen Programm zu reagieren, denn die dort jeweils dominanten Wirkungsgesetze wie Suspense, Verfremdung, Pathos, Katharsis usw. sorgen für eine je kognitive und emotionale Strategie.« (Wuss 1993/1999, S. 322)

Auch wenn der Ausgang einer Geschichte unglücklich verläuft, können positive Emotionen am Ende der Kunstrezeption stehen, sofern die Erzählstrategien durch ein entsprechendes Informationskonzept auf das Regulationsbedürfnis des Publikums eingehen: »Das Informationskonzept verlangt am Ende nur die Aufhebung des Defizits an pragmatischer Information, die zur Beseitigung von Unsicherheit als notwendig prognostiziert worden war. Die befürchtete, jedoch voraussagbare Katastrophe der Tragödie kann dergestalt ebenso zur positiven Emotion werden wie der erwünschte Triumph des Helden im Drama oder die Darstellung eines keineswegs gebilligten, doch in seinen Mängeln durchschaubaren Gesellschaftszustands in der Komödie. Die genregebundenen Affekte bzw. Erlebnistönungen wie Traurigkeit, Begeisterung, Heiterkeit (oder wie immer die Gefühlsnuancen klassifiziert und bezeichnet werden können) ändern die Grundemotion in ihrer Ausrichtung nicht, auch wenn sie sie natürlich modifizieren.« (Wuss 1993/1999, S. 340 f.)

Der Prozess der spielerisch-ästhetischen Aneignung kann zum Effekt der psychischen Erholung und zu positiven Emotionen führen, da für die Bewältigung von

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2.  Ästhetik und Affekt

Problemen fiktive Lösungen erlebt werden und das Bedürfnis nach einem gewissen Maß an Vorhersehbarkeit des Ablaufs letztlich erfüllt bzw. durch eigene psychische Aktivität erreicht wird. Die Umgebung des Kinos setzt für das emotionale Erleben besondere Rahmenbedingungen. Lotman berücksichtig diese folgendermaßen in seinem Konzept vom »künstlerischen Verhalten«: »Eine wichtige Eigenschaft künstlerischen Verhaltens besteht darin, daß, wer es praktiziert, zugleich zweierlei Verhalten realisiert: Er durchlebt alle Emotionen, die die analoge Situation [die der künstlerischen Situation emotional entsprechende reale Situation; R. R.] hervorrufen würde, und zugleich weiß er jedoch genau, daß er die mit dieser Situation verbundenen Handlungen (etwa: Hilfeleistungen für den Helden) nicht ausführen darf. Künstlerisches Verhalten ist aufzufassen als Synthese von praktischem und fiktivem Verhalten.« (Lotman 1981, S. 79)

Peter Wuss konkretisiert Lotmans Idee der psychischen Erholung durch fiktive Lösungen an einer wesentlichen Stelle, dem dramaturgischen Konflikt. Die These dahinter ist die Vergleichbarkeit von psychologischem und dramaturgischem Konflikt: »Seit jeher geht die Dramaturgie des Theaters und des Films davon aus, daß ein dramatisches Geschehen auf Konflikten beruht, die wiederum auf Widersprüchen im Interessenfeld der Figuren basieren. Abgesehen davon, daß sich mit den Konflikten Probleme für die Figuren ergeben, ist es mindestens ebenso von Belang, daß die dramatische Handlung damit sogleich eine Problemsituation für den Zuschauer aufbaut, in der es um die kognitive Bewältigung der dargestellten Beziehungen geht. Der Zuschauer möchte die Konfliktstoffe geistig beherrschen; er möchte wissen, woran er ist und was er erwarten kann. Folgt man Überlegungen allgemeiner Art zu Problemlösungen […], dann läßt sich ein Geschehensverlauf im Film als Prozeß ansehen, in dem sich aufgrund einer Konfliktsituation der Figuren ein Problemzustand für den Rezipienten herstellt.« (Wuss 1993/1999, S. 114)

Nach Wuss geht es demnach nur zur Hälfte um das ersatzweise Durchleben und Lösen einer Situation, sondern auch um das Beherrschen der Situation unter der speziellen Bedingung, wenn man der Informationsdistribution der filmischen Narration ausgeliefert ist. Dieser Ansatz wird von Wuss auch auf offene Formen des Erzählens erweitert, die mithilfe des Modells der Topik-Reihe strukturell analysiert werden können. Teil einer kognitiven Strategie ist dann das Finden der Invariante von zunächst scheinbar zusammenhangslos dargebotenen Ereignissen, die aber dem gleichen Thema zuzuordnen sind. Die psychische Aktivität, um Übersicht und Kontrolle zu erlangen, ähnelt dem Lösungsprozess in geschlossenen Formen, lässt aber mehr Deutungsspielraum für die Vorgänge zu.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Für die Vergleichbarkeit von psychologischem und dramaturgischem Konflikt ist von Bedeutung, dass Narration als das strategische Organisieren und Platzieren von Informationen zur Handlung aufgefasst werden kann, und es haben sich dafür unterschiedliche Muster ausgebildet. Diese narrativen Muster beeinflussen den Prozess der Problemlösung und das Verhältnis von Vorhersehbarkeit und Überraschung. Fragen nach der emotionalen Wirksamkeit von Filmmusik können sich also auch darauf richten, wie Filmmusik solche Muster unterstützt oder unterläuft. Insgesamt lassen sich mehrere Thesen aus Lotmans Erläuterungen und aus den Ausführungen von Wuss ableiten: 1. Externe Musik zeigt den Spielcharakter an. Schon die meist eröffnenden Jingles bewirken dies. Aber auch im weiteren Verlauf gibt die Tatsache des Vorhandenseins von Musik in den meisten Fällen eine Gewissheit, dass das Publikum eine Lösung laut der Regeln dieses »Spiels« miterleben wird. 2. Unsere Erfahrungen mit Musik außerhalb des Filmerlebens sind bereits eine Form des künstlerischen Verhaltens, d. h. ein Verhalten, das Miterleben ohne eingreifen zu können dennoch als positiv bewertet. So entsteht Vertrauen in den Kunstgenuss bei der Filmrezeption. Da wir Musik in unser tägliches Leben einbinden können, aber in einen Song oder eine Sinfonie während eines Konzerts ebenso wenig eingreifen können wie in eine Filmhandlung im Kino, ist das Erleben von Filmmusik zur erzählten Geschichte für eine positive emotionale Grundeinstellung wichtig.171 3. Aufgrund der Rezeptionserfahrungen und rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen kommuniziert die Art der Musik dem Publikum die Art der Regeln, die für eine Geschichte gelten. Besonders deutlich wird dies, wenn Musik einem Filmgenre zugerechnet wird und das Genrewissen für dramaturgische Strategien benötigt wird, d. h. sogleich in die kognitiven Verarbeitungsstrategien bei der Filmrezeption Eingang findet. Aber auch in weniger plakativen Fällen kann dieser Aspekt berücksichtigt werden. 4. Eine persönliche, emotional analoge Situation, die der künstlerischen Situation entsprechend ist, muss als solche erkannt werden. Musikalische Anspielungen, musikalische Querverweise innerhalb eines Films und über Filmgrenzen hinweg, musikalische Topoi und vieles mehr sind ge­­ eignete Mittel, die Fantasie dahingehend anzuregen. 171

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Dass dieser Gedanke für die Untersuchung diverser Rezeptionsformen außerhalb des Kinos bzw. Konzertes variiert werden oder in bestimmten Fällen, z. B. beim interaktiven Erzählen, grundsätzlich infrage gestellt werden muss, liegt auf der Hand.

2.  Ästhetik und Affekt

5. Narrative Muster, die das Verhältnis von Vorhersehbarkeit und Überraschung bestimmen, können auch über den Kanal der Filmmusik kommuniziert werden. Informationen über zu erwartende Ereignisse, die durch Filmmusik kommuniziert werden, werden auch beim Bedürfnis nach Kontrolle verwertet. Filmmusik ist daher ein Mittel, das das Verhältnis von Vorhersehbarkeit und Überraschung beeinflusst und darauf eine emotionale Wirkung aufbaut, die je nach Genre oder Situation noch weiter ausdifferenziert werden kann.

2.3.4 Einfühlung und Kontemplation als doppelte Basis der Affekte

Der aktuelle medienwissenschaftliche Diskurs zur Wirkung und Bedeutung von Affekten befasst sich mit antiken Philosophen, geht über Spinoza bis zu Deleuze, die vielerorts zitiert werden.172 Doch für die musikdramaturgische Untersuchung der Filmmusik und ihre Bedeutung für die emotiven Wirkungen des Films zeigen sich mir keine weiteren Anknüpfungspunkte. Aus der Kunstpsychologie kommende Thesen zu Art, Disposition und Funktionalität der Affekte haben sich dagegen in Analysen als tragfähig und inspirierend erwiesen, die zusammen mit der kritischen Reflexion des Affektbegriffs bei der Anwendung auf die emotive Wirkung der Filmmusik fruchtbar werden können. Die im Folgenden vorgestellten Thesen stammen von Richard Müller-Freienfels (Müller-Freienfels 1922/1944, Müller-Freienfels 1936), wurden von Lew Vygotskij (Vygotskij 1965/ dt. 1976) rezipiert und durch ihn schließlich direkt oder indirekt von einigen wenigen Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Filmwissenschaft zur Kenntnis genommen.173 Müller-Freienfels unterscheidet bei der Kunstrezeption zwischen dem einfühlenden Nacherleben des im Kunstwerk ausgedrückten Seelenlebens und dem kontemplativen ästhetischen Schauen, das auf die Form des Werkes gerichtet sei (Müller-Freienfels 1936, S. 11 f.). Dabei wird vorausgesetzt, dass alles Kunstschaffen eine ästhetische Wirkung instinktiv berücksichtigt, ebenso wie die Annahme besteht, dass »das künstlerische Genießen sehr wesentlich ein Nacherleben des 172 173

Vgl. Antje Krause-Wahl, Heike Oehlschlägel, Serjoscha Wiemer und Mieke Bal (2006), Affekte: Analysen ästhetisch-medialer Prozesse. Vgl. Wuss (1993/1999), Filmanalyse und Psychologie: Strukturen des Films im Wahrnehmungsprozess; Rabenalt (2011), Filmdramaturgie; Adrian Weibel (2008), Spannung bei Hitchcock: Zur Funktionsweise des auktorialen Suspense; Stutterheim und Kaiser (2009/2011), Handbuch der Filmdramaturgie: Das Bauchgefühl und seine Ursachen, S. 107 ff.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

vom Schaffenden gestalteten Ausdrucks ist« (Müller-Freienfels 1936, S. 10). Zum Kunstgenießen gehören also Affekte durch Einfühlen und Nacherleben als wesentliche Faktoren dazu, jedoch stehen sie in Beziehung zur Kontemplation. In dieser Auffassung von Kunstrezeption ist das spannungsreiche Verhältnis von nach außen gerichteten Affekten und nach innen gerichteter Anschauung bzw. konzentrierter Versenkung vereint. Auch die Rhetorik systematisiert Affekte. Dort sind sie als Teil eines formalen Plans zur Gewinnung und Überzeugung des Publikums zu verstehen, wodurch eine gewisse Nähe zur Dramaturgie besteht. »Die Rhetorik unterscheidet: (a)  heftige Affekte = meist nur kurz andauernde, d. h. transitorische Gemütsbewegungen (Haß, Liebe, Zorn, Mitleid), die häufig mit motorischen und vegetativen Symptomen verknüpft sind; (b)  sanfte Affekte (Gefühle) = länger anhaltende, d. h. nicht-transitorische Ge­­ mütsbewegungen (Gefallen, Wohlwollen); (c)  Stimmungen = allgemeine, ungerichtete Gesamtdisposition.« (Kanzog 2001, S. 167)

»Sanfte Affekte« sollen das Publikum grundsätzlich für den Redner einnehmen, »heftige Affekte« sollen spontane Parteinahme zu dessen Thesen bewirken. Wendet man die Affektkategorien der Rhetorik auf den Film an, können »situative Affektstützungen« für momentane Anforderungen und »diskurslenkende Affektkodierungen« für übergreifende Strategien unterschieden werden. Zudem können »Leitaffekte« erkannt werden, die ein Grundthema vorgeben, auf dem folgende Affektstützungen und Affektkodierungen aufbauen (Kanzog 2001, S. 169). Die durch die Kamera vorgegebene visuelle Begrenzung bzw. Detailgenauigkeit oder (Un-)Übersichtlichkeit, der sogenannte point of view, wird mit dem Vokabular der Rhetorik als deixis der Kamera bezeichnet und insbesondere für die Unterscheidung von gezeigten (erzählten) Emotionen und erlebten Emotionen des Publikums verantwortlich gemacht: kurze Verweildauer bewege mehr das Gemüt des Publikums, lange Verweildauer und Detailgenauigkeit erzähle von Emotionen der Figuren (Kanzog 2001, S. 170).

2.3.5  Mitaffekt und Eigenaffekt

Ästhetische Affekte sind Affekte bei der Kunstrezeption, die im Gegensatz zum Erleben im Alltag nicht in ein Handeln übergehen. Ästhetischen Affekten fehlt also eine Qualität dadurch, dass sie nicht ausagiert werden können. Die beim

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2.  Ästhetik und Affekt

Kunstgenuss erlebten Affekte schalten laut Müller-Freienfels das »nach außen dringende Handeln« aus (Müller-Freienfels 1922/1944, S. 210). Die psychische Aktivität ist allem Anschein nach dennoch hoch. Auf die Unterscheidung der im ästhetischen Genießen vorkommenden Affekte und derjenigen des täglichen Lebens weist auch Monika Suckfüll (Suckfüll 2007, Suckfüll 2013) hin. Das gleichzeitige Erleben von innerer Anschauung und von Affekten, die eigentlich nach außen dringen wollen, kann als eine Besonderheit der emotiven Wirkungen bei der Filmrezeption gelten. Für beide Phänomene kann Filmmusik den Ausschlag geben oder an ihnen Anteil haben. Für die dramaturgische Analyse ist von Bedeutung, dass Affekte in zwei Arten unterschieden werden können. Richard Müller-Freienfels, der zuerst durch Vygotskij rezipiert wurde, (Vygotskij 1965/dt. 1976), legt dies am Beispiel des darstellenden Erzählens im Theater dar: »Es können nämlich die Affekte dadurch entstehen, daß ich sie mit den dargestellten Personen MITERLEBE, sie ihnen substituiere. Wenn ich die Wut und den Schmerz des Othello auf der Bühne miterlebe, wenn ich zusammenzucke in dem Augenblicke, wo er dort auf der Bühne, von Jagos giftigen Einflüsterungen getroffen, zusammenfährt – wenn sich mir die Brust zusammenkrampft in dem Augenblick, wo ich Macbeth zurückschaudern sehe beim Anblick von Banquos Geist: überall in solchen Fällen spreche ich von MITAFFEKTEN. Daß die motorische Nachahmung für solche Mitaffekte von größter Wichtigkeit ist, wurde bereits hervorgehoben. Meine gewöhnliche Ichvorstellung ist dabei gar nicht im Bewußtseinsfelde. Mein Ich scheint eins zu sein mit dem des Menschen dort auf der Szene. Aber ich erlebe vor der Bühne noch eine ganze Reihe von anderen Affekten, die keineswegs substituiert zu sein brauchen. Ich kann für Desdemona zittern, ehe sie überhaupt nur von ferne sich träumen läßt, daß ein Unheil zu ihren Häupten droht. […] Jedenfalls ist das ganz sicher, daß die in den Kunstwerken dargestellten Personen und Ereignisse eine Menge von Affekten in uns auslösen können, die nicht den Objekten substituiert sind, sondern die wir ganz als unsere eigenen dem Kunstwerk gegenüber erleben. Diese nenne ich im Gegensatz zu den MITaffekten: EIGENAFFEKTE. In Wirklichkeit sind natürlich Mitaffekte und Eigenaffekte niemals scharf zu sondern: erstens schon darum, weil ich sie im letzten Grunde beide, ob ich sie nun substituiere oder nicht, in meinem Körper erlebe, und zweitens, weil infolge der nachklingenden und zerfließenden Wesensart der Gefühle alle bei dem Wechsel, den der Genuss der Kunst mit sich bringt, ineinander verlaufen und zu einer großen allgemeinen Gesamtstimmung werden, aus der sich die Einzelaffekte nur vorübergehend ablösen.« [alle H. i. O.] (Müller-Freienfels 1922/1944, S. 208 f.)

Das Erleben von Mitaffekt (den Affekt der Figur »mit«empfinden) und Eigenaffekt (andere, »eigene« Affekte empfinden) benötigt ein Mindestmaß an Empathie

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

mit den Figuren und deren Situation. Gemeinsam ist ihnen die »Empathie als einfühlendes Verstehen« (Wuss 2005, S. 118). Unterschiedliche Qualitäten der Affekttypen beruhen auf einem Wissensvorsprung des Publikums, der den Eigenaffekt ermöglicht. Dieser Sachverhalt wird heute meist durch Fokalisierung unterschieden. Jedoch kommen dann der gefühlte Qualitätssprung und die Art und Weise, wie Mitaffekt und Eigenaffekt im Ablauf eines Films (oder Theaterstücks) interagieren, nicht zum Ausdruck. Sind Handlungen und von außen kommende Filmmusik so synchronisiert, dass ihr Ausdruck in die gleiche Richtung geht, entsteht ein Mitaffekt, weil Musik den Vorgang intensiviert. Gibt uns externe Filmmusik allerdings einen Informationsvorsprung, z. B. über drohende Gefahr, die von der Figur noch nicht wahrgenommen werden kann, bietet sich die Möglichkeit, einen Eigenaffekt und damit suspense zu erzeugen. Da ein Eingreifen in die Handlung bei der Filmrezeption nicht möglich ist, bangen wir um die Figur – ein Affekt, den nur das Publikum gegenüber der Situation erlebt. Gegenüber François Truffaut erklärt Alfred Hitchcock das Phänomen so: »Der Unterschied zwischen Suspense und Überraschung ist sehr einfach, ich habe das oft erklärt. Dennoch werden die Begriffe in vielen Filmen verwechselt. Wir reden miteinander, vielleicht ist eine Bombe unter dem Tisch, und wir haben eine ganz gewöhnliche Unterhaltung, nichts besonderes passiert, und plötzlich, bumm, eine Explosion. Das Publikum ist überrascht, aber die Szene davor war ganz gewöhnlich, ganz uninteressant. Schauen wir uns jetzt den Suspense an. Die Bombe ist unterm Tisch, und das Publikum weiß es. Nehmen wir an, weil es gesehen hat, wie der Anarchist sie da hingelegt hat. Das Publikum weiß, daß die Bombe um ein Uhr explodieren wird, und jetzt ist es 12 Uhr 55 – man sieht eine Uhr –. Dieselbe unverfängliche Unterhaltung wird plötzlich interessant, weil das Publikum an der Szene teilnimmt. Es möchte den Leuten auf der Leinwand zurufen: Reden Sie nicht über so banale Dinge, unter dem Tisch ist eine Bombe, und gleich wird sie explodieren! Im ersten Fall hat das Publikum fünfzehn Sekunden Überraschung beim Explodieren der Bombe. Im zweiten Fall bieten wir fünf Minuten Suspense. Daraus folgt, daß das Publikum informiert werden muss, wann immer es möglich ist. Ausgenommen, wenn die Überraschung wirklich dazugehört, wenn das Unerwartete der Lösung das Salz in der Anekdote ist.« (Truffaut 1966/1999, S. 64)

Für die Wirkungsweise des Eigenaffektes ist das kategoriale Gerüst aus interner (erster) und externer (zweiter) auditiver Ebene eine Voraussetzung. An dieses Gerüst ist die rezeptionsästhetische Vereinbarung gekoppelt, nach der Figuren die externe Musik nicht hören können. So versichert uns der Gebrauch von externer Musik – im Zusammenspiel mit dem sichtbaren Verhalten der Figur – dass eine

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2.  Ästhetik und Affekt

Figur wirklich (noch) unwissend ist und legt die Grundlage für den Eigenaffekt des Publikums. Für den Eigenaffekt beim suspense wird letztlich der musikalische Ausdruck mit dem gezeigten Inhalt zeitlich versetzt dargeboten, sodass in der Musik die von der Figur erst später gefühlte Spannung schon erklingt. Im Rahmen des ästhetischen Konzepts der Einfühlung kann sich der Eigenaffekt also vorübergehend vom Figurenaffekt lösen und später wieder verbinden. Er geht dann über in das synchronisierte Mitempfinden bzw. den Mitaffekt. Die zeitliche Versetzung von musikalisch und von visuell repräsentiertem Ausdruck kann offenbar nur begrenzt aufrechterhalten werden und erfordert eine Lösung im synchronisierten Mitaffekt. Damit der Eigenaffekt nicht als bloßer Effekt »verpufft«, ist auch die Strategie zu beobachten, eine immer weiterführende Spannung zu erzeugen, z. B. durch einen höheren Grad der Verwicklung (Intrige und Gegenintrige) oder die Dehnung des retardierenden Moments (Behinderungen einer Lösung). Schon MüllerFreienfels sprach davon, dass Furcht »in der Zeit« entsteht und die Frage aufwirft »Was wird jetzt?« (Müller-Freienfels 1922/1944, S. 218 f.). Die Wirkungsweise des Eigenaffektes scheint beim suspense psychologisch so stark zu sein, dass sie von den Inhalten losgelöst funktioniert. Einfühlung (in der Kunst) funktioniert auch ohne Empathie. Auch darüber sprach Truffaut mit Hitchcock: »In der klassischen Situation mit der Bombe, die zu einem bestimmten Zeitpunkt explodieren soll, da ist es die Furcht, die Angst um jemand, und die Angst hängt ab von der Intensität, mit der der Zuschauer sich mit der Person identifiziert, die in Gefahr ist. Ich könnte noch weiter gehen und behaupten, dass es bei dieser altbekannten Bombensituation, die ich eben erwähnte, sogar Gangster oder eine Bande ganz übler Burschen sein können, die da um den Tisch versammelt sind. [Truffaut:] Zum Beispiel die Bombe in der Aktentasche beim Attentat vom zwanzigsten Juli. [Hitchcock:] Ja, sogar in dem Fall glaube ich nicht, daß der Zuschauer sich sagt: Ah, sehr gut, gleich sind alle hin. Sondern vielmehr: Aufgepasst, da ist eine Bombe! Was bedeutet das? Daß die Furcht vor der Bombe mächtiger ist, als die Gefühle von Sympathie und Anthipathie den Personen gegenüber.« (Truffaut 1966/1999, S. 63)

Adorno / Eisler kritisieren die entstehenden falschen Identifikationen durch den konventionellen Einsatz von Filmmusik heftig in ihrem Filmmusikbuch im Kapitel »Funktion und Dramaturgie« (Adorno und Eisler 1944/2006, S. 25–34). Bei bloßer Anwendung des dramaturgisch Gewohnten oder mit der Vorstellung, dass es nur diese Form der Spannung gäbe, bangen wir um die Person, selbst wenn unser Verstand deren historische Bedeutung anders beurteilt. So verflachen die Umstände und Hintergründe, um die es in einer Geschichte auch geht. Für ein

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

historisch äußerst problematisches Thema wie das von Truffaut angesprochene hätte dies fatale Folgen.174 Der Eigenaffekt existiert aber auch außerhalb der suspense-Technik. Wegen der nach innen gerichteten kontemplativen Tendenz beim Kunstgenießen entsteht eine den nach außen dringenden Affekten entgegensetzte eigene, von den Protagonisten losgelöste Beziehung zur Geschichte. So kann auch eine zuweilen empfundene Distanz sinnfällig erscheinen, ohne dass die emotionale Anteilnahme verschwindet. Auch Komik beruht auf dem Phänomen des Eigenaffekts. Die Figuren werden von den Umständen, die sie meist nicht überschauen können, zu ungewöhnlichen Handlungen getrieben oder sie verschärfen die sich ihnen in den Weg stellenden Schwierigkeiten (in der Regel durch ihre charakterlichen Eigenschaften oder Eskalation einer Verkehrtheit), wodurch sie in weitere Schwierigkeiten verwickelt werden usw. Ein Paradebeispiel wäre die Verwechslungskomödie. Diese Schwierigkeiten einer Figur sind in einer (Tragi-)Komödie nicht die Schwierigkeiten, in die sich das Publikum hineinversetzt. Die musikalisch unterstützte oder hergestellte Affektdisposition belässt eine Distanz zu den Vorgängen, welche die Voraussetzung ist, über die Situation lachen zu können. Beispiel: The Great Dictator (Der grosse Diktator, USA 1940, R.  Charles Chaplin, M. Charles Chaplin, Meredith Willson) In The Great Dictator teilen wir aus den genannten Gründen nicht den Affekt des Kunden auf dem Rasierstuhl des jüdischen Friseurs, wenn dieser ihn nach der Musik von Brahms, die aus dem Radio erklingt, rasiert (ab 0:53:26). Der Gast wundert sich, bangt fast um sein Leben angesichts der waghalsigen Aktionen im Rhythmus der Musik. Die dramaturgische Anlage zielt nicht auf das Nachvollziehen dieser der Figur eigenen Affekte, sondern auf den Affekt, der für uns entsteht, wenn die Umstände (Rasur als Choreografie), Verkehrtheit (Bewegungsabläufe einer Rasur stimmen normalerweise nicht mit musikalischen Abläufen überein) und die wahren Charaktereigenschaften von Figuren durchschaut werden (der Friseur sieht nichts Ungewöhnliches in seinem Verhalten, der Gast schon), woraus schließlich ein Lustgewinn gezogen werden kann. Wenn sich dieser im Lachen entlädt, dann stimmt der nach außen dringende Affekt des Publikums ganz

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Ein Beispiel: Der Film Der Untergang (D/AT/I 2004, R. Oliver Hirschbiegel) entgeht dieser Gefahr der falschen Identifikationen nicht, insbesondere wenn man im Film den Musikeinsatz von Henry Purcells When I’m laid in earth (zu hören in unterschiedlichen musikalischen Einrichtungen) in Erwägung zieht.

2.  Ästhetik und Affekt offensichtlich nicht mit dem Affekt der Figuren überein und wird daher auch in komischen Erzählformen durchaus treffend mit Eigenaffekt bezeichnet. Es ist kein Zufall, dass direkt vor dieser Szene und genau in der Mitte des Films ein szenisches Pendant montiert ist, denn so wird die Idee der Verwechslung von Diktator und Friseur musikalisch bereits vorbereitet. Hynkel tanzt mit der Weltkugel zu Wagners Lohengrin-Vorspiel zum 1. Akt. Auch hier wird ein Widerspruch deutlich: Die Erhabenheit der Musik widerspricht Chaplins Gesten und Tanz­ bewegungen. Während der Diktator ganz in seiner Vorstellung von der Welt­ eroberung eintaucht, entlarvt die musikdramaturgische Konstellation im Zusammenspiel mit der schauspielerischen Leistung den Größenwahn. Die Trennung der Affekte erlaubt uns einen notwendig analytischen Blick auf den Vorgang.175

Mit der Theorie der Fokalisierung kann zwar die Erzählperspektive und die hier relevante Differenz zwischen Informationen des Erzählers und Wahrnehmung der Figur konstatiert werden. Warum diese Situation aber komisch wirkt, kann damit nicht erklärt werden. Mit der hier zitierten Terminologie rückt genau diese Frage ins Zentrum der Betrachtung. Um eine komische Situation zu erzeugen, wird eine musikalische Gestaltung benötigt, die verdeutlicht, dass nicht der Konflikt des Gastes erzählt wird, sondern welchen Charakter der Friseur hat. Daher richtet sich auch die musikalische Gestaltung nicht auf den Konflikt des Kunden. Der Vorgang wird nicht empathisch, d. h. ohne Einfühlung erzählt und eröffnet damit ein anderes, komisches Spektrum der Affekte.

2.4  Zusammenfassung Kapitel 2

Die Wesensunterschiede der im Film zusammengebrachten Medien Bild und Musik liegen in der Diskontinuität und im impliziten Realitätsanspruch der Bilder (Authentieeffekt) sowie in der verallgemeinernden bzw. vertiefenden Wirkung und eigenen Kontinuität der Musik. Die Brüche und Lücken zwischen den montierten Bildern und die Begrenzung des Bildausschnitts erweisen sich für den Film nicht als Nachteil, sondern als ästhetisches Mittel, um das Publikum zu aktivieren, die Lücken mit Imagination zu füllen. Das, was nicht gezeigt wird, sich zwischen den Einstellungen befindet und nicht explizit erzählt wird, gelangt durch die Mitarbeit der Rezipierenden ins Kunstwerk und wird ein flexibler Teil davon. Die der Musik eigene Kontinuität kann diesen Vorgang unterstützen 175

Siehe auch die Analyse dieser Szene in Kap. 4.6.9 (»Affirmation und Kontrapunkt als dramaturgisch vermittelte Beziehungen«).

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

(Kontinuitätsübertrag) und gibt der filmischen Montage zugleich einen größeren Spielraum für Klang-Bild-Kopplungen und für zu erschließende Bedeutungen. Die Montage hat demnach eine technische und eine ästhetische Dimension: Technisch ist der Vorgang des Trennens und Zusammenfügens von visuellem und klanglichem Material; ästhetisch ist die Sinnstiftung durch ausgewählte Kopplungen oder Kollisionen von Bildern (Horizontalmontage) und von Bildern mit Musik bzw. Ton (Vertikalmontage). Die Mitarbeit und Imagination anzuregen – auch mit Musik und Geräuschen – und als Teil des filmischen Erzählens zu verstehen, ist eine ästhetische Eigenheit des Films und seiner Musikdramaturgie. Umgekehrt beeinflusst aber auch die visuelle Schicht die Wahrnehmung der Musik, die dann auf einzelne musikalische Merkmale wie z. B. den Stimmungsgehalt eingegrenzt wird. Neben der linear-narrativen Montage und ihren anachronen Erweiterungen, die das raumzeitliche Kontinuum des imaginativen Handlungsraumes (storyworld) erschaffen sollen, dient Montage zur bildlichen Veräußerung von Introspektion, metaphorischen Gleichnissen und der Möglichkeit, den zeitgleichen Ablauf mehrerer Handlungen zu simulieren (Parallelmontage). Die Mittel der Montage und letztlich die gesamte visuelle Umsetzung führen oft zu dem Gefühl, im Handlungsraum als Beobachter anwesend zu sein (Anwesenheitseffekt). Dabei wird meist keine bestimmte, sondern eine – je nach Intention – ideale Perspektive eingenommen, sodass es möglich ist, sich im Kino als Beobachter und zugleich als Teilnehmer am Geschehen zu fühlen. Musik im Film hilft durch ihren Zugang zur verbal nicht fassbaren Innerlichkeit des Menschen ganz grundsätzlich dabei mit, Film als poetische Form zu verstehen. Die Imagination und »innere Rede« des Publikums scheinen wie ein notwendiges Gegengewicht zum Authentieeffekt der visuellen Abbildung und des referenziellen Tons zu wirken und arbeiten einer Trivialisierung der Vorgänge entgegen. Für die Musikdramaturgie im Film sind rezeptionsästhetische Modellvorstellungen von Bedeutung. Zum einen erklärt sich so ganz allgemein, dass das Vorhandensein von Musik nicht hinterfragt, sondern im Gegenteil meist erwartet wird. Zum anderen können ganz spezielle Erwartungen, Prognosen und Antizipationen zum Handlungsverlauf mit musikalischen Mitteln unterstützt und Andeutungen semantisch stabilisiert (manchmal auch destabilisiert) werden. Hierbei spielt es weniger als oftmals angenommen eine Rolle, ob es sich um interne Filmmusik als Teil der Handlung oder um Musik auf der externen auditiven Ebene handelt. Zu den rezeptionsästhetischen Modellvorstellungen gehören auch die affektlenkenden Wirkungen der Musik. Sie sind aus musikalischen und aus filmischen

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2.  Ästhetik und Affekt

Rezeptionserfahrungen heraus entstanden. Für Dramaturgie und Musikdramaturgie ist die Unterscheidung in Mitaffekt und Eigenaffekt essenziell. Ist ein Film dramaturgisch auf das empathische Mitempfinden (Einfühlung) angelegt, kann das Publikum den Affekt einer Figur zu seinem eigenen Affekt machen (Mitaffekt). Der musikalische Ausdruck der Filmmusik ist dafür meist affirmativ und mit dem Ausdruck der Figur und ihren Handlungen synchronisiert. Hat Musik jedoch innerhalb einer Einfühlungsästhetik einen anderen Ausdruck oder nimmt den erst später eintretenden Figurenaffekt vorweg, führt die Empathie mit der Figur dazu, dass wir um sie bangen, während sie noch ahnungslos ist (Eigenaffekt). Die Unterscheidung von Eigenaffekt und Mitaffekt ist auch für Komik und offene Erzählformen wichtig. Nur durch Trennung der Affekte, d. h. dass wir nicht die Schwierigkeiten mit einer Figur durchleben, sondern die Problematik und ihre Situation durchschauen können, ist das Lachen über die Situationen möglich, oder es wird durch die Erkenntnis größerer Zusammenhänge tiefgehende Ergriffenheit erzeugt. Somit ermöglicht die Unterscheidung der Affekte die Beschreibung und Analyse von einigen der elementaren emotiven Wirkungen der Filmmusik. Filmmusik lenkt die Wahrnehmung auf narrative Teilmomente, die für das Verständnis der Handlung wichtig sind. Manchmal geschieht dies durch Strategien der Subjektivierung (annähernde Gleichsetzung der Perspektivierung mit der Wahrnehmung einer Figur). Der Abstraktionsgrad von Musik bewirkt dabei, dass die Innensicht einer Figur nicht nur als narrativ notwendige Momentbeschreibung verstanden wird, sondern in übergeordneten dramaturgischen Strategien aufgeht. Führt der Gebrauch subjektivierender Mittel zu einem besonders intensiven empathischen Aneignen und Durchleben des gesamten Kosmos der imaginierten Welt, kann von Immersion gesprochen werden. Das immersive Erzählen rückt die absorbierende Wirkung der audiovisuellen Mittel ins Zentrum der dramaturgischen Strategien. Kritik an der Einfühlungsästhetik bezieht sich auf die Beobachtung, dass durch Einfühlung eine Diskussion über änderbares menschliches Verhalten unmöglich wird und individuelle und soziale Unterschiede oberflächlich überbrückt werden. Gestalterische Mittel wie das gestische Prinzip und Verfremdungstechniken, die auch in Filmmusik zu finden sind, dienen dazu, Alternativen zur Einfühlung zu realisieren. Neben diesen beiden stehen mit dem von Tarkovskij postulierten Prinzip der subjektiv-lyrischen Gedankenlogik insgesamt drei Prinzipien zur Ergänzung oder als Alternative klassischer Dramaturgien und emotiver Wirkungen zur Seite, die auch durch Filmmusik beeinflusst werden. Der Begriff »filmmusikalischer Gestus« adaptiert die Idee, ein Gleichfühlen von Figur und Darstellerin bzw. Darsteller für ein überzeugendes Spiel unnötig werden zu lassen

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

und steht für die Komplexität von Empfindungen, innerer Haltung und Erfahrung, die für emotive Wirkungen von Bedeutung sind. Filmmusik kann zur Erreichung solcher Wirkungen selbst einen hohen oder aber weniger deutlichen Anteil verfremdender Mittel an sich haben. Eine verfremdende Wirkung entsteht auch durch die Art und Weise, wie Filmmusik zu den Bildern im Rahmen von Verabredungen und Konventionen montiert wird. Verfremdungstechniken sind seit Langem vonseiten des komischen Erzählens her bekannt. In ernsten und komischen Erzählformen dient Verfremdung dazu, die Urteilskraft über Vorgänge zu behalten oder Emotionen eine andere als die gewohnte Richtung zu geben. Nach dem, was in der aktuellen Emotionsforschung über Emotionen zu erfahren ist, beruht die emotive Wirkung von Filmmusik wahrscheinlich auf noch grundlegenderen Effekten der Filmwahrnehmung und bestimmten Wesensmerkmalen der Musik. So muss zunächst unterschieden werden, ob Affekte (kurzlebig), Gefühle (andauernde intensive Empfindungen), Stimmungen (diffuse Gemütsregungen) und Emotionen (komplexe Empfindungen und Bewertungen) dargestellt bzw. erzählt werden oder aber auf Rezipientenebene erlebt werden. Auf Rezipientenebene entstehende emotive Wirkungen sind abhängig von der sozialen und kulturellen Vernetzung und in der eigenen Lebenswirklichkeit sowie in Selbstkonzepten verankert. Auf dieser Grundlage gewinnt Filmmusik ihre emotive Wirkung dadurch, dass sich das Publikum auf die Geschichte einlässt und die eigenen Emotionen in Beziehung zur Geschichte setzt. Musik muss also nicht selbst emotional sein, sondern hilft, die erzählten, die mitempfundenen und die eigenen Emotionen plausibel zu verbinden. Dieser Prozess muss mit dem Ablauf der Geschichte synchronisiert werden. Filmmusik sorgt dabei auch dafür, dass flüchtige Affekte länger als in der Lebensrealität anhalten, dass das fehlende Ausagieren der Affekte nicht als Defizit, sondern im ersatzweisen Durchleben als Genuss empfunden wird und schließlich dass die selbst eingebrachte Innerlichkeit nicht im Gegensatz zu den erzählten Emotionen steht oder gar von ihnen wegführt. Kontinuität und Timing der Musik sorgen dafür, dass eine Abnutzung von Affektauslösern vermieden wird. Es kann angenommen werden, dass Filmmusik individuelle und überindividuelle Affekte bei der Filmrezeption vereinheitlicht und so die Publikumswirksamkeit kalkulierbarer wird. Auch daraus erwächst eine dramaturgische Relevanz der Filmmusik, weil Dramaturgie Strukturen und Wirkungen mit Hinblick auf ein anvisiertes Publikum zueinander in Relation setzt. Man kann im Film eine eher statische Form der Spannung (tension), die aus bestehenden Konfliktfeldern erwächst, unterscheiden von dynamischer Spannung durch vorübergehenden Wissensvorsprung gegenüber den Figuren (suspense) oder überraschende Wendungen und Verdichtungen. Die Besonderheit bei

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2.  Ästhetik und Affekt

der Filmrezeption, nicht in die Vorgänge eingreifen zu können, verstärkt beide Arten von Spannung und verlagert die psychische Aktivität in den Bereich der Prognosen zum Verlauf. Die These von der psychischen Erholung durch fiktive Lösungen besagt, dass unter der Voraussetzung, dass Kunst als modellbildendes System verstanden wird, ein mit der Geschichte durchlebter Konflikt die Beherrschbarkeit schwieriger oder unvorhersehbarer Situationen simuliert. Sowohl ein positives wie negatives Ende führt dann zu positiven Emotionen, weil innerhalb der Spielregeln der Geschichte eine Lösung erreicht wurde, an der die Rezipierenden durch gelenkte Vorhersagen und Antizipationen mitgewirkt haben. Besonders intensiv wird dies erlebt, wenn eine emotional ähnliche Situation des eigenen Erlebens in Beziehung zur Geschichte gesetzt wird. Vereinfachter Modellcharakter der Kunst und spielerische Lösungen sind nach dieser These ein Weg zur Aneignung der in Wirklichkeit komplexen Welt. Filmmusik unterstreicht den Spielcharakter, kommuniziert die Regeln einer Geschichte oder eines Genres, regt die Fantasie an, damit eine analoge emotionale Situation gefunden und in Beziehung gesetzt wird, und beeinflusst den Prozess der Vorhersage über den Verlauf (das Primärbedürfnis nach Kontrolle) durch musikalische Hinweise dazu, wie narrative Teilmomente bewertet werden können. Für eine umfassende Untersuchung der emotiven Wirkung von Filmmusik müssten empirische und ästhetische Forschungsansätze bzw. Thesen miteinander vereint werden.

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3.  Musikdramaturgie und Film In diesem Kapitel soll eine Definition von Musikdramaturgie im Film erarbeitet und erläutert werden, die die Aspekte der in Kapitel 1 und 2 diskutierten Phänomene so umfassend wie möglich berücksichtigt und weiter konkretisiert. Untersuchungen, Konzepte und Verfahren zum dramaturgisch begründeten Einsatz von Musik im Film, die der Komplexität des Themengebiets gerecht werden sollen, benötigen einen entsprechenden theoretischen Unterbau, bevor im II. Teil des Buches Methoden und Instrumente sowie die Anwendung der musikdramaturgischen Analyse erläutert und dargestellt werden. Dieser Zwischenschritt erfolgt auch mit Hinblick auf die im Schrifttum zur Filmmusik vertretenen sehr unterschiedlichen Auffassungen davon, was Musikdramaturgie im Film ist. Nicht nur in der Fachliteratur ist zwar fast durchgehend von dramaturgischen Funktionen der Filmmusik die Rede, doch es finden sich keine systematischen Untersuchungen oder Ansätze, die auf die Vielfalt der heute anzutreffenden Erzählformen angewendet werden könnten. Hier soll eine entsprechend differenzierte Musikdramaturgie im Film eine Alternative aufzeigen.

3.1  Praxisorientierte und theoretische Ansätze »Alle die Grundgesetze der Musik, in der Menschenseele zu unterst verankert, das An- und Abschwellen der Gefühlslinie, das Treiben und Gehemmtsein, der Gegensatz mit all seinen vielen Unterschattierungen, all das ist in seiner wortlosen psychischen Basierung dem Film wie der Musik gemeinsam.« (Erdmann, Becce und Brav 1927, S. 16)

Mit der Klangschicht erhält der narrative Film einen den visuellen Raum ergänzenden auditiven Eigenschaftsraum mit eigens zu bestimmender dramaturgischer Bedeutung. Mit der Differenzierung in eine dem imaginativen Handlungsraum zuzuordnende und eine davon abzugrenzende Ebene differenziert sich auch dieser Eigenschaftsraum weiter. Es ist jedoch zu bedenken, dass über viele Jahrzehnte im Kino schon aus technischen Gründen diese beiden auditiven Ebenen nie trennscharf zu unterscheiden waren und so Filmsprache, Stil, Produktion und Rezeption geprägt wurden. Auch wäre der Vorgang der Beiordnung und Montage aus filmpraktischer bzw. handwerklicher Sicht nicht nur für die externe, sondern auch für die in der gezeigten Aktion zu hörende, interne Musik gültig. Diese handlungsinterne Musik wird in der Regel zwar einer konkreten Quelle im ima-

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3.  Musikdramaturgie und Film

ginativen Handlungsraum (in der storyworld) zugeordnet (source music). Doch ist sie zugleich ein Mittel der allgegenwärtigen Montage und kann sich von der verursachenden Quelle als ursprüngliche oder alleinige Bedeutung lösen. Genauso wie beigeordnete, externe Musik nicht nur ein Kommentar ist, sondern indirekt der Ausstattung und Illustration dienen kann, ist interne, handlungsbedingte Musik nicht nur eine klangliche Variante von Ausstattung, sondern kann Teil eines dramaturgisch notwendigen oder zumindest gewollten Kommentars sein. In diesen Fällen wären Filmmusik und ihre Dramaturgie ein spezifischer Teil der Filmform. Neben einer Tondramaturgie wäre dann auch eine Musikdramaturgie nachweisbar, wenngleich der narrative Film grundsätzlich auch ohne Musik auskommen kann. So fließen in das gewachsene rezeptionsästhetische Verständnis zu den beiden auditiven Ebenen innerhalb des den visuellen Raum ergänzenden auditiven Eigenschaftsraumes drei eigentlich widersprüchliche medienspezifische Erfahrungen ein: a) Die Stummfilmpraxis erzeugte de facto eine ausschließlich beigeordnete Musik. Handlungsbedingte Musik in der Szene konnte kaum naturalistisch wirken, sondern wurde in den Fluss der musikalischen Begleitung integriert, ähnlich wie eingesprochene Dialoge oder Klänge der Geräuschemacher. b) Das Wesen des narrativen Films, zu dem das Montieren von Bildern, Ton und Musik und die verschiedenen Arten der Montage gehören, beinhaltet eine in der Filmsprache übliche, über naturalistische Konzepte hinausgehende Bedeutung. Bei der Synchronität und Übereinstimmung des visuellen und auditiven Raumes gab es immer Differenzen, die aber selten als Defizit verstanden werden, sondern im Gegenteil als poetischer Gewinn wahrgenommen und genutzt werden können. c) Immersion und Illusion stehen sich manchmal gegenseitig im Wege. Neue technische Entwicklungen und heutige Produktionsverfahren in der fast vollständig digitalisierten Kette der Filmherstellung sowie die Wiedergabebedingungen im Kino176 und Heimkinobereich erlauben zwar wie nie zuvor eine naturalistische Simulation und differenzierteste Abstufungen der sensorischen Qualität der auditiven Ebenen.177 Bei Filmen, deren Dramaturgie sich hauptsächlich über Dialoge und nachzuvollziehende Kausalketten realisiert, führt eine hyperrealistische audi-

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Gemeint sind Phänomene des surround-Sounds, im DolbyR-AtmosTM-Format oder durch Wellenfeldsynthese. Im Falle der Wellenfeldsynthese sogar für fast alle Bereiche des Kinosaals und nicht nur im sogenannten »sweet spot«.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

tive Illusion (z. B. Stimmen von hinten, sich hinten oder oben bewegende Objekte usw.) allerdings auch zu Irritationen, die letztlich die Immersion stören können. Daher erfüllt die Musik- und Tongestaltung offenbar weiterhin tradierte rezeptionsästhetische Vereinbarungen, auch wenn nun technisch gesehen Änderungen möglich wären. So gilt z. B. weiterhin, dass Dialoge bis auf wenige Ausnahmen aus dem Center-Lautsprecher zu hören sind, Filmmusik und szenische Musik mit lokalisierbaren Quellen im imaginativen Handlungsraum (source music) im Stereobild erklingen, aber kaum im surround. Abweichungen davon werden nach wie vor als poetisch kodierte Gestaltungsmittel für bestimmte Sonderfälle erkennbar, z. B. psychisch-mentale Ausnahmesituationen oder Tod.178 Eine Abweichung von gelernten Standards der Musik- und Tongestaltung wird auch als narrativ begründete Irritation in Bezug auf die Einheit von Raum und Zeit verstanden – zumindest außerhalb der grundsätzlich diese Verabredungen infrage stellenden Filme z. B. von Jean Luc Godard und in einer gänzlich anderen Ästhetik z. B. des asiatischen Kinos. Filmmusik im surround wie z. B. in Das Parfüm – Die Geschichte eines Mörders (D/F/SP/USA 2006, R. Tom Tykwer, M.  Reinhold Heil, Johnny Klimek, Tom Tykwer),179 wo das Phänomen allerdings nicht konsequent angewendet wird, kann als eine Übersetzung der ätherischen Qualität des Duftes gelten und ist seltene Ausnahme und Beleg für Versuche, neues Potenzial aus der Differenzierung des Klangraumes im Kino zu ziehen. Simulation und Authentieeffekt sind zunächst nur Ausgangspunkt für die Unterscheidung interner und externer auditiver Gestaltungsebenen. Letztlich bestimmen dramaturgische Beweggründe die Abgrenzungen, Trennschärfe und Übergänge zwischen den auditiven Ebenen oder die Position von Filmmusik in einem ambivalent bleibenden »Ort«. Neben einigen älteren Veröffentlichungen zur Musikdramaturgie180 zeigen auch aktuelle Veröffentlichungen eine erhöhte Aufmerksamkeit für die dramaturgische Bedeutung der Filmmusik.181 Andere Arbeiten behandeln Phänomene der 178 179 180 181

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Anschauliche Beispiele bei der Tongestaltung liefert hierfür Görne in: Thomas Görne (2017), Sounddesign: Klang Wahrnehmung Emotion, S. 184 f. Für den Hinweis auf dieses Beispiel danke ich Nils Vogel sehr. Hans Erdmann, Giuseppe Becce und Ludwig Brav (1927), Allgemeines Handbuch der FilmMusik; Theodor W. Adorno und Hanns Eisler (1944/2006), Komposition für den Film; Lissa (1965), Ästhetik der Filmmusik; Peter Rabenalt (1986), Dramaturgie der Filmmusik. Vgl. z. B.: Heldt (2008), »Grenzgänge: Filmisches Erzählen und Hanns Eislers Musik«; Fasshauer (2008), »Film – Musik – Montage«; Tieber (2010), »Informationsgehalt der Musik und Dramaturgie in The Truman Show«; Tobias Plebuch (2014), »Musikdramaturgie im Spielfilm«,

3.  Musikdramaturgie und Film

Musikdramaturgie im Film unter speziellen Gesichtspunkten (z. B. Genreuntersuchungen, Zeichencharakter der Filmmusik, Personalstile) bzw. begnügen sich mit verhältnismäßig kurzen Kapiteln zur Musikdramaturgie182 oder vertreten einen aus der hier eingenommenen Perspektive zu sehr eingeschränkten oder nicht näher konkretisierten Dramaturgiebegriff. Die Zeichenhaftigkeit des Films, insbesondere des Filmbildes, bringt zwar spezifische Fragestellungen mit sich, die aber aus Sicht der Musikdramaturgie durch semiotische Theorieansätze der Filmmusik nicht vertieft werden können.183 Die Auffassungen darüber, worin genau die dramaturgische Bedeutung von Filmmusik besteht, gehen weit auseinander und enthalten gelegentlich die Gleichsetzung (oder Verwechslung) von »dramatisch« und »dramaturgisch«.184 In englischsprachigen oder osteuropäischen Veröffentlichungen ist Dramaturgie und dramaturgisches Denken weniger an die entsprechende Vokabel gebunden und spielt dennoch als Theorie eine Rolle.185 Die Auffassung, dass nur begleitende, externe Filmmusik dramaturgische Funktion habe, ist auf Bemerkungen von Béla Balázs zurückzuführen, die bereits Zofia Lissa übernimmt und die kontinuierlich in der Fachliteratur fortgeschrieben wurden, darunter Schneider (Schneider 1986/1990) im deutschsprachigen Raum. Béla Balázs unterscheidet zwischen Musik als »Gegenstand des Konflikts« bzw. »Grundlage des Drehbuchs« und »dramaturgischer Musik« zur Charakterisierung der Figuren bzw. für den »Unterton der Handlung«, wie Lissa bereits zusammen-

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in: Christa Hasche, Eleonore Kalisch und Thomas Weber [Hg.], Der dramaturgische Blick: Potentiale und Modelle von Dramaturgien im Medienwandel; Peter Rabenalt (2014), Der Klang des Films: Dramaturgie und Geschichte des Filmtons. Darunter auch viel zitierte Arbeiten z. B. von: Josef Kloppenburg (1986), Die dramaturgische Funktion der Musik in Filmen Alfred Hitchcocks, Norbert Jürgen Schneider (1986/1990), Handbuch Filmmusik 1: Musikdramaturgie im Neuen Deutschen Film, Jessica Merten (2001), Semantische Beschriftung im Film durch »autonome« Musik. Eine funktionale Analyse ausgewählter Themen, Bullerjahn (2001), Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, Josef Kloppenburg (2012), Das Handbuch der Filmmusik: Geschichte, Ästhetik, Funktionalität. Siehe z. B.: Juraj Lexmann (2006), Theory of film music. Auch im Gegensatz zu N. J. Schneider bin ich nicht der Meinung, dass Filmmusik ein (eigenes) Zeichensystem sei, vgl. Schneider (1986/1990), Handbuch Filmmusik 1: Musikdramaturgie im Neuen Deutschen Film, S. 80–86. Semantisierungsprozesse sind zwar nicht ausgeschlossen (vgl. Kap. 4.3.1 »Filmmusikalische Topologien«), jedoch führt eine Systematik der Zeichentheorie weg von den praktischen und theoretischen dramaturgischen Aspekten, die mir für eine Theorie der Filmmusik von weit größerer Bedeutung zu sein scheinen. Bullerjahn bezeichnet zwar im Prinzip richtig wie schon Adorno / Eisler (s. Kaptitel 1.1.2 »Filmdramaturgie«) den Film als ein »Mischgebilde aus Gattungen des Theaters und der Epik (insbesondere des Romans)«. Weiter heißt es aber bei ihr der gängigen Erzähltheorie widersprechend: »Als dramaturgische Funktionen können alle Aufgaben bezeichnet werden, die eine Filmmusik für die unmittelbar gegenwärtige dramatische Handlung übernimmt.« Bullerjahn (2001), Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, S. 69. Z. B. Gorbman (1987), Unheard melodies: Narrative film music; Brown (1994), Overtones and undertones; Lexmann (2006), Theory of film music.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

fasst (Lissa 1965, S. 109). Balázs’ Begriff von der »dramaturgischen Musik« für die nicht dem Handlungsraum zuzuordnende Musik ist insofern problematisch, da er suggeriert, dass die szenisch in der Handlung erklingende Musik keine dramaturgische Bedeutung hätte. Wie Balázs aber selbst sagt, kann sogar der zentrale Konflikt durch die handlungsbedingte Musik (als »Gegenstand des Konfliktes« oder »Grundlage des Drehbuches«) etabliert oder zugespitzt werden. Auch die von den Figuren ausgeführte, abgespielte und gehörte Musik ist ein dramaturgisches Werkzeug in den Händen der Filmschaffenden. Auch diese Musik hat einen Gestus, der in Beziehung zur Handlung steht, und sie kann auf Grundlage ihrer musikalischen (oder bei Songs auch ihrer textlichen Mittel) für die Dramaturgie wichtige Zusammenhänge herstellen. Wie die beigeordnete, begleitende Filmmusik kann die in der dargestellten Handlung präsentierte Musik für innere und äußere Konflikte stehen oder einen tieferen Bezug zur Handlungskomposition haben. All dies wirkt über eine Ausstattungsfunktion als »musikalisches Requisit« (Erdmann, Becce und Brav 1927, S. 18) hinaus. Beispiele: In Höstsonaten (Herbstsonate, S 1978, R. Ingmar Bergman), Monsieur Hire (Die Verlobung des Monsieur Hire, F 1989, R. Patrice Leconte), The Piano (Das Piano, NZ/AUS/F 1992, R. Jane Campion), Death and the Maiden (Der Tod und das Mädchen, USA/F/GB 1994 R. Roman Polanski) wird der Konflikt mithilfe der handlungsbedingten Musik auf der ersten, internen auditiven Ebene erzählt und hat zugleich einen größeren Bezug zur Hand­lungskomposition bzw. Fabel. Interne, handlungsbedingte Musik exponiert oder etabliert den Konflikt, vertieft ihn in seiner Bedeutung für die Geschichte, charakterisiert oder motiviert die Figuren auf eigene Weise, die sich von der von außen beigeordneten Musik qualitativ unterscheidet, auch wenn das Ziel das gleiche ist: der innere Zu­­ sammenhalt der filmischen Erzählung. Diese interne Musik beeinflusst aber auch Art und Gestaltung der begleitenden, externen Musik, z. B. in: Casablanca (USA 1942, R. Michael Curtiz, M. Max Steiner), La Strada (Das Lied der Straße, I 1954 R.  Federico Fellini, M.  Nino Rota), Apocalypse Now (USA 1976–79 R. Francis Ford Coppola), Taxi Driver (USA 1976, R. Martin Scorsese), Sostiene Pereira (Erklärt Pereira, I/F/P 1995 R. Roberto Faenza, M. Ennio Morricone), High Fidelity (USA/GB 2000, R. Stephen Frears) oder Match Point (USA/GB 2005 R. Woody Allen)186.

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Siehe zu Match Point auch Kap. 4.6.7 (»Sich ergänzende Beziehungen [›Dramaturgischer Kontrapunkt‹ nach Adorno / Eisler]«).

3.  Musikdramaturgie und Film

Als roter Faden zieht sich durch das Handbuch von Becce / Erdmann / Brav eine Argumentation, welche die Rolle des Filmkomponisten als dramaturgisch beurteilende Person betont. Diese sei in der Lage und verantwortlich dafür, dass nicht Kompilation, sondern – wegen der komplexer werdenden Erzählformen – zunehmend Komposition der geeignete Weg sei, um der auch zu Stummfilmzeiten schon audiovisuellen Kunstform Film zur ästhetischen Reife zu verhelfen (Erdmann, Becce und Brav 1927, S. 6 ff.). Sie trennen daraufhin die Kapitel des theoretischen Teils ihres Handbuches in generelle Überlegungen zu Ästhetik und Kunstform sowie Gebrauchsform des Films (Erdmann, Becce und Brav 1927, S. 1–35), zur Musikdramaturgie (Erdmann, Becce und Brav 1927, S. 36–57) und Methodik der kompilatorischen Illustration andererseits (Erdmann, Becce und Brav 1927, S. 58–70). Der dramaturgisch urteilende Komponist soll befähigt werden, Film in seinem ästhetischen Wesen zu verstehen und darauf aufbauend das dramaturgisch Wesentliche durch Musik zu stärken. Im Kapitel 10 »Zur Musikdramaturgie im Film« bezeichnen die Autoren die Musikdramaturgie immerhin als »Hauptfrage« (Erdmann, Becce und Brav 1927, S. 36). Sie führen grundlegende Begriffe ein, z. B. »Expression« (interpretierende bzw. ausdeutende Beiordnung) und »Incidenz« als aktiver Teil der Handlung und assoziative Verbindung zu »Zeit, Ort und Gelegenheit« (Erdmann, Becce und Brav 1927, S. 41). Sie thematisieren die Unterstützung der Handlungseinheit (Handlungskomposition, Fabel) durch Musik, ihren Gegensatz zu inneren oder äußeren Handlungen und konkrete Phänomene und Techniken wie Leitmotive, Bewegung, Dynamik, Stimmung, Musikwechsel, das Nebeneinander zweier Handlungen, Geräuschmusik, komische Musik u. a. Nach Veröffentlichung des Handbuchs von Erdmann / Becce / Brav (Erdmann, Becce und Brav 1927) erschien mit Adornos / Eislers Buch (Adorno und Eisler 1944/2006) die zweite größere Abhandlung zur Filmmusik, in der die Dramaturgie der Filmmusik umfassender besprochen wird.187 Die essenziellen Aspekte der Musikdramaturgie im Film, die Adorno / Eisler benennen, sind:

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Claudia Bullerjahn – und in der Folge auch andere, die Bullerjahns Systematik zitieren oder übernehmen  –  ordnet allerdings ausgerechnet das Filmmusikbuch von Adorno / Eisler den sogenannten »ideologiebezogenen Theorien« zu, obwohl die Autoren an zentralen Stellen dramaturgisch argumentieren und dramaturgische Kategorien in die Filmmusiktheorie eingeführt haben, siehe Kap. 1.1.2 (»Filmdramaturgie«). Die in ihrer Zeit verankerte Kunstauffassung und die gesellschaftspolitisch beeinflussten Ideale von Adorno und Eisler können besser als normativ bezeichnet werden. Als »dramaturgiebezogene Theorien« nennt Bullerjahn nur das Handbuch von Erdmann, Becce und Brav (1927), Allgemeines Handbuch der Film-Musik und Lissa (1965), Ästhetik der Filmmusik; siehe: Bullerjahn (2001), Grundlagen der Wirkung von Filmmusik, S. 15.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

– Divergenz zwischen den visuellen und musikalischen Wesensmerkmalen, – Problematik des Spannungsabfalls beim Wechsel zwischen dramatischem und epischem Erzählmodus, – Problematik sich ausschließlich bestätigender Beziehungen zwischen Handlung und Musik, – dramaturgischer Kontrapunkt, – musikalischer Gestus und Verfremdungstechniken. Zofia Lissas »Ästhetik der Filmmusik« (Lissa 1965) hinterfragt innerhalb ihres aufgefächerten Funktionsspektrums der Filmmusik mit insgesamt 18 Unterpunkten deren dramaturgische Bedeutung und stellt ein theoretisch wie analytisch weitgehend überzeugendes Modell der Klangschichten im Film vor. Denn Lissa betont die Notwendigkeit der Systematisierung der dramaturgischen Funktionen der Filmmusik und stellt nach ihrer Sichtung der damals vorliegenden Literatur fest: »Die Lektüre all dieser zuweilen höchst interessanten und ein kühnes Denken beweisenden Ausführungen lässt eine synthetische Arbeit um so notwendiger erscheinen, die einerseits von einer bestimmten ästhetischen und erkenntnistheoretischen Konzeption, von theoretischen Grundgedanken über Filmkunst als Ganzes ausgeht und andererseits, hierauf aufbauend, eine Systematisierung der dramaturgischen Funktionen der Musik im Film durchführt, und, gestützt auf langjährige Beobachtungen und Analysen, eine gewisse Ordnung in die ungewöhnlich reichhaltigen und mannigfaltigen Erscheinungen ihres Funktionierens innerhalb der Ganzheit des Filmwerkes bringt (wobei unter ›Ganzheit der Filmwerkes‹ das Ergebnis des Zusammenwirkens aller Elemente eines Filmwerkes in ihrem gegenseitigen Verhältnis zueinander und das Ergebnis der Aufnahme durch das perzipierende Subjekt verstanden wird).« (Lissa 1965, S. 15)

Diese Beschreibung rechtfertigt die Anwendung des Begriffs »Musikdramaturgie« für den Film ausdrücklich: als Systematisierung von Funktionen von Filmmusik unter Berücksichtigung ihrer dramaturgischen Bedeutung, darunter auch die Frage, wie Musik von den Rezipierenden in der Gesamtheit des Films verstanden wird. Von »Musikdramaturgie« im Film spricht Lissa wahrscheinlich nur deshalb nicht, weil für sie als Musikwissenschaftlerin mit dem Begriff traditionell sicherlich der Einsatz von Musik im Musiktheater gemeint ist, aber auch, weil Probleme der Übersetzung ihres Textes ins Deutsche berücksichtig werden müssen. Kurt Weills Auffassungen zur Musikdramaturgie im Film, die im Gegensatz zu denen von Lissa und anderen selten zitiert werden, beruhen auf folgenden Kerngedanken:

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3.  Musikdramaturgie und Film

– Musik im Film müsse genauso eingesetzt werden wie im Theater, »als Träger von Ideen oder mindestens als ästhetisch-formalistisches Element« (Weill 1930/2000, S. 110). – Das Wissen um die Wirkungsweise von Filmmusik macht deutlich, »wie sehr eine Partitur hilft, eine Filmhandlung zu ›erwärmen‹, die emotionale Wirkung zu erhöhen, Schwächen der Handlung oder des Spiels in einzelnen Szenen zu überdecken und Episoden zusammenzuhalten, die ohne die Brücke der Musik ganz ohne Verbindung schienen. Sie [die Filmproduzenten] wissen, daß eine gute Melodie das Publikum bewegen wird, wo es Wort und Spiel allein nicht gelingt.« (Weill 1946/2000, S. 171)

– Die Wirkung, die Musik im Film hat, wenn diese Raum zur Entfaltung und eine »definierbare Form« hat. Dann beziehe Musik »eine ziemlich objektive Haltung gegenüber der Handlung des Films, und manchmal erzeugten sie [die Komponisten] eine Art kontrapunktischen Effekt, indem sie die Musik in einer Stimmung schrieben, die der Stimmung der Szene entgegengesetzt war.« (Weill 1946/2000, S. 176)

Weill wendet sich generell – wie schon Busoni für das Musiktheater – gegen musikalische Illustration, um stattdessen »die ›innere Stimme‹ der Charaktere auszudrücken« (Weill 1946/2000, S. 178). – Das Augenmerk der Filmmusik richte sich »auf das, was hinter den Vorgängen steht, auf den philosophischen Gehalt, auf den Hintergrund der Szene« (Weill 1931/2000, S. 128). In einem Interview mit Lotte Eisner, das 1927 veröffentlicht wurde und Grundzüge der Eisler’schen Auffassungen zur Musikdramaturgie vorwegnimmt, sagt Weill: »[…] ein Illustrieren paßt sich nur scheinbar dem Geschehen an. In Wirklichkeit zerreißt es den Film. Die Musik darf nicht mit literarischen Mitteln arbeiten. […] Die wertvollste Stützung des Films seitens der Musik sehe ich jedenfalls in der blinden Kraft eines nach musikalischen Gesetzen geformten Ausdeutens des filmischen Vorgangs.« (Weill 1927/2000, S. 437)

Das Wichtigste, um die Filmeinheit von der Musik her zu erreichen, sieht Weill darin, »dass sie den inneren Höhepunkt des Films erfasst, der durchaus nicht mit dem äußeren Höhepunkt des Filmgeschehens zusammenfallen muss« (Weill 1927/2000, S. 438). Im selben Interview gibt er auch zu bedenken, »daß durch Steigerung der äußeren Ausdrucksmittel keineswegs die Intensität des Kunstwerkes gesteigert wird« (Weill 1927/2000, S. 438).

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Rainer Fabich gibt in einem Kapitel zur Musikdramaturgie (Fabich 1993, S. 56 ff.) einen Überblick über Theorien zu den dramaturgischen Aufgaben der Filmmusik. Er zitiert auch Kurt Weill, dessen erhellende Gedanken zur Musikdramaturgie sonst kaum zur Kenntnis genommen wurden. Er führt aus, wie Weill die Ästhetik seines Lehrers Busoni weiterführt und berücksichtigt die unterschiedlichen Möglichkeiten der Filmmusik im Kontext der Montage. Sein Modell der Relation von Bild und Musik für unterschiedliche Montageformen wird allerdings von der Polarität von synchronen und asynchronen Beziehungen beschränkt, die auf Kracauer zurückgehen (Kracauer 1960/dt. 1964). Das Modell wird damit dem umfassenden filmischen Prinzip der Montage nicht gerecht und berührt nur Teilaspekte der Musikdramaturgie. Jessica Merten (Merten 2001, S. 43 f.) übernimmt zwar den aus der hier eingenommen Perspektive als verkürzt zu bezeichnenden Dramaturgie-Begriff, den Kloppenburg vertritt (Kloppenburg 1986, S. 47), schreibt aber zum Begriff der Musikdramaturgie anschlussfähig. Sie sieht Filmästhetik und Musikdramaturgie aufeinander bezogen: »Der Begriff der Musikdramaturgie deutet auf die Ästhetik der Filmmusik. Gegenstand der Musikdramaturgie im Film, [sic] sind – wie im Falle der filmischen Dramaturgie – die Regeln für die äußere Bauform und die Gesetzmäßigkeiten der inneren Struktur der Musik und ihr Verhältnis zur Gesamtform des Films. Das Musikanlegen ist die eigentliche Schule der Musikdramaturgie im Film. An keinem anderen Element des Films läßt sich so handgreiflich ausprobieren, welche Veränderungen im Bild und in der Handlung geschehen, wenn man Musik beispielsweise um eine halbe Sekunde vorrückt oder den Musikeinsatz um zwei Sekunden verzögert, wenn man an eine Filmstelle völlig unterschiedliche Musiken zur Auswahl legt. Aber auch Gestaltungselemente wie Kameraperspektive, Kameraführung oder Beleuchtung sind von subtiler emotionaler Wirkung im Film.« (Merten 2001, S. 45)

Obwohl Norbert Jürgen Schneider in seinem »Handbuch Filmmusik« (Schneider 1986/1990) im Untertitel und in den Überschriften zu den Kapiteln V und VI den Begriff Musikdramaturgie verwendet, lässt sich aus den Erörterungen nur eine allgemein bleibende bzw. pragmatisch bleibende Bedeutung von Dramaturgie und Musikdramaturgie herauslesen. Musikdramaturgie im Film steht laut Schneider für ein allgemeines, in gewissem Maße sowohl theoretisch als auch intuitiv begründbares Vorgehen beim Konzipieren und Komponieren von Filmmusik, was auch in einer späteren Veröffentlichung nicht grundsätzlich anders dargestellt wird (Schneider 1997). Schneider weist darauf hin, dass Filmmusik immer zu den anderen Ebenen des Films in Beziehung steht. Seine Auswahl und Beschrei-

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3.  Musikdramaturgie und Film

bung dieser Ebenen ist an pragmatischen Aspekten der Filmmusikkomposition orientiert: »Bildinhalte, Bildbewegung, Farben, Helligkeitswerte, Bildgestaltung (Kamera / Schnitt), schauspielerischer Ausdruck (Mimik, Gestik), Dialog, Geräusche und Atmosphären« (Schneider 1997/2005, S. 63). Schneider vernachlässigt allerdings ein zentrales dramaturgisches Kriterium: die durch Musik erzeugte oder verdeutlichte Verknüpfung von Figur, Konflikt und Handlung. Hier seine zwar stimmige, aber doch allgemein und verkürzend bleibende Definition von Dramaturgie und Musikdramaturgie: »Dramaturgie (vom griechischen: ›ein Drama ins Werk setzen‹) ist das Wissen um Wesen und Form des Dramas, zugleich auch die Umsetzung dieses Wissens in eine sinnlich-konkrete Gestalt. Musikdramaturgie kann nur ein Teil der allgemeinen Dramaturgie des Films sein: sie beschreibt die Verflechtung von Musik mit den Erfordernissen des Dramas, – der Story, der Geschichte. Musikdramaturgie ist die übergeordnete Gestaltungsweise von Musik im Film: von sich aus tendiert Filmmusik zur bloßen Reihungsform, da sie vornehmlich der Vergegenwärtigung des dramatischen oder lyrischen Moments dient. Filmmusikalische Sinnzusammenhänge müssen sich weniger aus der materialen Beschaffenheit der Musik ergeben, sondern aus der dramaturgischen Richtigkeit, d. h. Stimmigkeit jedes Musikeinsatzes und seiner Form zum Stand der Geschichte.« (Schneider 1986/1990, S. 63)

Konkretisiert wird sein Konzept durch wahrnehmungspsychologische Beobachtungen und Formen der Zuordnung von Bild und Musik. So trage Filmmusik maßgeblich dazu bei, dass der Film eine »innere Wirklichkeit« erhält (Schneider 1986/1990, S. 75); Filmmusik könne man als »selbständige und kommentierende Schicht im Film belassen« oder »dramaturgisch so einsetzen, daß sie ganz mit den Personen oder Objekten bzw. Situationen im Film verwoben scheint« (Schneider 1986/1990, S. 76). Schneiders sechs »Grundsätze« der Musikdramaturgie im neuen deutschen Film geben weitere Anhaltspunkte zum Verständnis darüber, was Musikdramaturgie nach seinem Verständnis ist. Sie enthalten die Fragen – ob überhaupt Musik im Film benötigt wird, – wie auffällig Musik sein sollte, – Unterscheidungen von narrativen, »lyrisch-poetischen«, »nicht-kausalen«, »nicht-narrativen« Filmformen,188

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Eine Terminologie, die nicht erklärt wird und die  –  wie die Ausführungen im Kap. 1.1 (»Begriffsbestimmung Dramaturgie«) zeigen – sich in dieser Form nicht halten lässt.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

– die Zuordnung zu »dramaturgischen Ebenen« im »on« und »off«,189 – personenbezogene Musik, – »sehr unterschiedliche dramaturgische Funktionen« (Schneider 1986/1990, S. 87 f.) Die unterschiedlichen dramaturgischen Einflussbereiche von Musik befinden sich in Schneiders Theorie auf einer Skala zwischen den Polen »völlig bild- und handlungsintegrierter« Musik mit einheitlichen audiovisuellem Ausdruck und Gehalt und »völlig unabhängiger« oder im Ausdruck »gegenläufiger« Musik, die er ähnlich wie zunächst Pauli (Pauli 1976) »kommentierend« und »kontrapunktisch« nennt (Schneider 1986/1990, S. 89). In seiner Zusammenschau bisheriger Systematiken von Musik-Bild-Zuordnungen, darunter die von Erdmann / Becce / Brav (Erdmann, Becce und Brav 1927), Lissa (Lissa 1965), Thiel (Thiel 1981) und Pauli (Pauli 1981), sind einige Verkürzungen enthalten. Paulis kritische Revision seines eigenen, von ihm selbst als zu eng angesehenen ersten Modells von 1976 kennt Schneider zwar, greift dennoch, wie bis heute auch andere Autorinnen, auf die dreistufige Anordnung zurück (Schneider 1986/1990, S. 79): Filmmusik könne »paraphrasierend«, »polarisierend« oder »kontrapunktierend« sein. Zu Schneiders Musikdramaturgie-Begriff gehören außerdem noch die Aspekte »musikalisches Klischee« und »Semantisierung« (Schneider 1986/1990, S. 83 f.) sowie die Funktionalität von Filmmusik. Eine Auflistung, für die Schneider keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, nennt 20 Funktionen der Filmmusik (Schneider 1986/1990, S. 90 f.). Obwohl Hans-Christian ­Schmidt (­Schmidt 1982) selten mit dem Wort Musikdramaturgie arbeitet, zeigt er anschaulich und umfassend wesentliche Aspekte der Musikdramaturgie im Film auf. Musikalische Komposition, Dramaturgie des Films, filmpraktische und filmästhetische Erwägungen sowie musikästhetische Aspekte gehen in nahezu gleichberechtigten Anteilen in seine Untersuchungen zur Filmmusik ein. Auch Peter Rabenalt (Rabenalt 2005) verwendet in seinem Buch über Filmmusik das Wort Musikdramaturgie nicht im Titel oder in den Kapitelüberschriften. Dennoch befassen sich die einzelnen Abschnitte jeweils mit bestimmten dra-

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Hier ist der von Schneider übernommene Jargon der Filmschaffenden allerdings irreführend: Mit Musik aus dem »off« meint er die begleitende Filmmusik. »on« und »off« sind aber Kategorien des Handlungsraumes – also der Musik, die als Teil der dargestellten Handlung zu hören und ggf. zu sehen ist – je nachdem, ob der Bildausschnitt die Quelle von Musik erfasst oder nicht. »Off-Musik« gehört daher intern zur Szene, deren Quelle aber nur im Handlungsraum vermutet und nicht gezeigt wird. Siehe dazu den Exkurs 4 (»on und off«).

3.  Musikdramaturgie und Film

maturgischen Phänomenen, die durch Filmmusik beeinflusst oder erzeugt werden. Hierbei steht die Frage nach der Bedeutung der Musik für die Handlungseinheit (Fabel) immer wieder im Zentrum. Die Ausführungen zeigen eine konsequente Erörterung aus filmästhetischer Sicht, d. h. inwieweit Musik im filmgeschichtlich gewachsenen, audiovisuellen Kontext funktioniert und unterschiedliche Erzähltraditionen zu unterschiedlichen filmmusikalischen Lösungen kommen. Peter Rabenalt benennt wesentliche Aspekte, aber auch Missverständnisse der Musikdramaturgie im Film: »Die meisten Versuche, Formen und Funktionen von Filmmusik zu systematisieren, leiden unter der, zumindest für den Spielfilm, falschen Prämisse, von Beziehungen der Musik zum ›Bild‹ auszugehen. Das lag vielleicht zur Zeit des Stummfilms noch nahe. Wirkliche, also dramaturgische Funktionalität lässt sich jedoch nur in der Erstellung der Musik zu dem, was abgebildet wird, zur Fabel, den Figuren und ihren in Handlungen ausgetragenen oder zutage tretenden Konflikten erkennen und sinnvoll beschreiben. […] Beherrscht die Musik den Tonraum, so kann sie die Raum und Zeit konstituierenden Regeln der Bildmontage ebenso außer Kraft setzen wie die Authentizität stiftenden Eigenschaften der fotografischen Abbildungen. Sie dominiert dann mit dem ihr eigenen ästhetischen Raum-Zeit-Gefühl über den besonderen Realitätsbezug des Filmmediums. Innerhalb eines dementsprechenden dramaturgischen Zusammenhangs entstehen in glücklichen Momenten dadurch Formen des Zusammenwirkens von Film und Musik mit eigener, nur im Kino möglicher Aura.« (Rabenalt 2005, S. 96 f.)

Die englischsprachige Fachliteratur hat aufgrund der schon im Kapitel 1.1.5 (»Narratologie, narration und Filmdramaturgie«) dargelegten Gründe einen etwas anderen Zugang zur Thematik. Dort wird die dramaturgische Bedeutung von Filmmusik unter den Begriffen narration bzw. narrative behandelt, die Ähnlichkeit, aber auch entscheidende Unterschiede mit der Bedeutung des deutschen Vokabulars haben. Ein methodisches, aber auch wissenschaftstheoretisches Problem der Filmmusikforschung besteht darin, dass Thesen zur Wirkung von Filmmusik, die empirischen Studien zugrunde liegen, bisher nicht der Komplexität des Gegenstandes gerecht werden. Filmästhetisch und erzähltheoretisch nicht fundierte Thesen können nach meiner Auffassung nicht als Grundlage für Studien herangezogen werden, um filmmusikalische Theorien zu belegen oder sie zu widerlegen. In ihrer Schlussbetrachtung beschreibt Claudia Bullerjahn dennoch ein darauf beruhendes Modell zur Wirkungsweise der Filmmusik. Ihre Ausführungen werden immer wieder zitiert, wodurch sich das methodische Problem jedoch fortschreibt:

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung »Thesen zur Wirkung von Filmmusik aus Filmmusikveröffentlichungen mit theoretischem und Analyseschwerpunkt werden integriert und mit gegebenenfalls vorliegenden Ergebnissen aus der Wirkungsforschung be- oder widerlegt.« (Bullerjahn 2001, S. 298)

Ich vertrete dagegen umgekehrt die Ansicht, dass musikdramaturgische Thesen die Basis liefern, auf der empirische Studien konzipiert werden können. Als besonders auffälliges Beispiel kann Folgendes dienen: Man würde den Topos des Bösen, der nicht selten durch Kinderlieder im Genre des Thrillers musikalisch realisiert und abgerufen wird, nie mit der Qualität der Musik, sondern mit ihrem kontextbezogenen, dramaturgischen Einsatz begründen. Bei anderen filmischen und musikalischen Genres tritt dieses Problem lediglich nicht so offensichtlich zutage. Reduziert man die Experiment-Designs auf einzelne Szenen, benennt nicht die dramaturgischen Ansatzpunkte der Filmmusik, tauscht Musik zu einer aus dem Kontext gerissenen Szene aus und lässt die Wirkungen, die durch die Filmmischung entstehen, außer Acht, werden die eigentlichen Grundlagen für entstehende Wirkungen verändert oder nicht beachtet. Mit einem Experiment-Design zur empirischen Untersuchung von Filmmusik, das nicht erzähltheoretisch fundiert ist und nicht Ästhetik und Dramaturgie der Filmmusik berücksichtigt, ist kaum mehr herauszufinden, als ohnehin seit vielen Jahrzehnten vermutet wird und trotz solcher Studien Behauptung bleiben wird, besonders beim Thema Emotion. Daher erscheint mir Bullerjahns Schlussfolgerung übertrieben (und zugleich zu offensichtlich sowie ohne Erklärung warum), dass »Zahlreiche Untersuchungen belegen, daß der musikalische Ausdruck den emotionalen Gesamteindruck eines Films beeinflussen kann« (Bullerjahn 2001, S. 299). Bisher gibt es nur Untersuchungen zu kleinen Ausschnitten, aber nicht zu einem kompletten Film, wie behauptet. Eine in Kapitel 2.3.1 (»Thesen zur emotiven Wirkung von Filmmusik«) bereits genannte Ausnahme ist die Studie von Suckfüll (Suckfüll 2013). Abgesehen davon wäre es interessant, wie die Beeinflussungen genau aussehen oder warum etwas auf eine bestimmte Art wirkt. Musikdramaturgie im Film ist für die Filmwirkungsforschung noch nicht als theoretische Grundlage herangezogen worden, obwohl von hier aus eine Reihe interessanter Thesen entwickelt werden können, von denen einige im Kapitel 2 schon formuliert wurden. Die mehrschichtig angelegten Angebote künstlerischer Äußerung und Gestaltung legen z. B. nahe, dass eine abgestufte Wirkungskalkulation angestrebt wird, die sich empirisch nachweisen lassen müsste: Die wesentlichsten, dramaturgisch bestimmten bzw. dramaturgisch bestimmbaren Wirkmomente werden von fast allen Teilen des Publikums in prinzipiell gleicher Weise,

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3.  Musikdramaturgie und Film

andere Wirkmomente unterschiedlich oder nur von einem kleineren Teil des Publikums wahrgenommen. Inwieweit aber die ganz unterschiedlich aufgeschlüsselten Anreicherungen einer zentralen Geschichte zur Filmwirkung beitragen, wird wohl kaum endgültig geklärt werden können. Darunter fällt auch die Frage, inwieweit Filmmusik dazu beiträgt, nicht nur der Geschichte zu folgen, sondern die Rezeptionserfahrungen und in der Lebenswelt verankerten Auslöser für Emotionen beim Filmerlebnis einfließen zu lassen.

3.2  Abgrenzung zur Musiktheater-Dramaturgie

Die Musikdramaturgie ist in Werken des Musiktheaters vor allem durch die Tatsache bestimmt, dass die Handlung oder das, was dafür gelten kann, per Definition musikalisch erzählt wird. Im Film entfällt dieser zentrale Aspekt der Musikdramaturgie – abgesehen vom Filmmusical und gewissen Ausnahmen, sodass sich der Aufgabenbereich von Musik im Film auf Teilaspekte der Dramaturgie oder der Handlung verschiebt, d. h. sie unterstützt nur, prägt aber dennoch die Präsentation der Handlung durchaus entscheidend.190 Film erzählt nicht prinzipiell musikalisch, integriert aber das Musikalische: in Form von Rhythmus, Verlauf, Klangsemantik und schließlich auch durch spezifische Melodien und Harmonik. Das Musikalische ist selten die Substanz, sondern ergänzt (gegebenenfalls entscheidend) das Visuelle und Verbale, kann aber auch erst im Verlaufe der Produktion eines Films dramaturgisch immer wichtiger werden. Im Musiktheater hat der Begriff Dramaturgie zudem für die ausführende Phase der Umsetzung der Handlung und von in der Partitur festgelegten Textund Musikanteilen eine spezifische Bedeutung. Hier werden bei grundsätzlich gleichbleibender Musik die narrativ-performative Umsetzung der Geschichte, die ästhetischen »Grundlinien« und der Aktualitätsbezug für die jeweilige Inszenierung eines Werkes neu gefunden und festgelegt. Diese Fragen entscheiden sich im Film meist nicht entlang, aber mit Hilfe der Musik. 190

Darauf, dass Musik nicht notwendigerweise zur audiovisuellen Kunstgattung Film gehört, hat schon Peter Rabenalt hingewiesen: »Die Tatsache, dass Filme und Musik als ›Bewegung in der Zeit‹ existieren, ermöglicht zwar eine Verbindung im Kino, lässt sie aber nicht als notwendig oder gar gattungsprägend erscheinen. Nicht wenige Regisseure, wie beispielsweise Michelangelo Antonioni, Ingmar Bergman oder Michael Hanecke, misstrauen der heimlichen Unterstützung durch zusätzliche Musik und verzichten oft in ihren Filmen zu Gunsten der angestrebten Wirkung durch die filmspezifischen Ausdrucksmittel auf beigefügte Filmmusik.« Rabenalt (2014), Der Klang des Films: Dramaturgie und Geschichte des Filmtons, S. 206.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Musikdramaturgische Entscheidungen im Film fallen dementsprechend manchmal sehr früh im Drehbuch, während der Montage bzw. des Schnitts, nicht selten aber auch erst spät bei der Filmmischung. Die Musikdramaturgie im Film wird daher in jeweils unterschiedlichen Phasen des Arbeitsprozesses erarbeitet und erhält auch aus technischen Gründen eine andere, flexiblere Prägung als im Musiktheater. Von der Arbeit am Drehbuch angefangen bis hin zum Schnitt und beim letzten Arbeitsschritt der Filmmischung, kann der Anteil der Musik für Form und Wirkung eingearbeitet werden, bleibt dann aber nach Fertigstellung des Filmwerkes unverändert. Abgesehen von diesen äußeren Bedingungen ist die Abgrenzung von der Musiktheater-Dramaturgie aus weiteren Gründen notwendig, von denen mir die Folgenden als am wichtigsten erscheinen: 1. Handlung, Handlungsaufbau, Charakterisierung der Figuren und Vertiefung der Konflikte sind im Film nicht an musikalische Formen und musikalischen Ausdruck gebunden. Diese zentralen dramaturgischen Aufgaben können im Film auch ohne Musik umgesetzt werden. Wenn zentrale dramaturgische Aufgaben ohne Musik umgesetzt werden können, eröffnen sich Gestaltungsspielräume der Musik für andere, filmspezifische Wirkungsweisen. Musik im Film ist dadurch mehr als im Musiktheater dafür verantwortlich, wie erzählt und wie rezipiert wird und weniger dafür, was erzählt wird. 2. Weil Filmmusik durch ihre musikalischen Gesetze das Zeit- und Raumempfinden beeinflusst, entsteht für die Montage ein Freiraum, der filmeigene Ausdrucksformen ermöglicht. 3. Die unterschiedlichen Formen von Performanz der Gattung Film im Gegensatz zum (traditionellen) Musiktheater begründen kleingliedrigere Segmente mit Begleitung durch Musik. 4. Der Einfluss von Musik betrifft im Film wegen der vielfältigen Interaktionen mit den anderen filmischen Mitteln mehr als in der Oper die psychologische und emotionale Differenzierung. Musik im Film hat dann einen höheren Anteil an der Deutung auch beiläufiger Vorgänge oder von Teilaspekten der Handlung. Die Verlagerung entscheidender Handlungsabläufe in den Bereich feinster Abstufungen der Mimik und inneren Vorgänge, die in einer Opernaufführung mit »großer Geste« umgesetzt werden, erfolgt im Film zumeist mit Unterstützung von Musik. 5. Im Film erfolgt eine Relativierung des Realitätsbezugs des Bildes durch Musik, während sich im Musiktheater diese Aufgabe gar nicht erst stellt. 6. Musik bestimmt das Timing der Abläufe dadurch, dass das Zeitempfinden an unterschiedliche Anforderungen der gesamten Inszenierung ange-

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3.  Musikdramaturgie und Film

passt werden kann, wohingegen sich im Musiktheater das Zeitempfinden und die Inszenierung an der Musik selbst orientieren. 7. Die Montage erschafft filmspezifisch eine narrative Logik und ist für den Anwesenheitseffekt verantwortlich. Die Betrachterrolle (und damit die Distanz zur Aufführung), die in der Oper fest etabliert ist, wechselt im Film ab mit einer immersiven Rolle als virtueller Teilnehmer. 8. Die Gestaltung und Wahrnehmung der auditiven Ebenen im Film, in denen handlungsinterne Musik (Inzidenzmusik) oder begleitende externe Musik erklingt, sind zwar grundsätzlich auch in der Oper angelegt, wirken sich aber wegen des Realitätsbezugs des Films anders aus. Besonders die Übergänge und Wechselwirkungen zwischen den auditiven Ebenen sind in der Oper nicht so realisierbar wie im Film. 9. Musik teilt sich im Film den Klangraum mit Geräuschen (Ausstattungston und Sound Design) und mit dem gesprochenen und gesungenen Wort. In der Filmmischung werden diese Anteile in feinsten Abstufungen gewichtet und dynamisiert. Im Theater und Musiktheater geschieht dies seltener und ist nur in gröberer Form möglich. Die Aufführung im Theater lebt vom Live-Charakter, da Raum, Bühnengeräusche und Publikumsreaktionen sich ändern können und selbst die technischen Anteile der Darbietung nicht zu 100 Prozent genau reproduzierbar sind. Selbst im vergleichbaren Fall der Inzidenzmusik, d. h. der in die Handlung integrierten Musiknummer, gibt es Unterschiede zwischen Oper und Film: Die Filmdramaturgie kann sich für die Wirkung einer Szene mit Musik auf die Nutzung der Reaktionen und inneren Regungen der hörenden Figuren konzentrieren. Kurt Weill gibt dazu folgendes Beispiel: »Wir erkennen aber auch Möglichkeiten, […] einen Gesang von der Kamera her aufzulösen, indem man während des Gesanges zugleich die Wirkung auf den Hörer zeigt (wie beim Lied der Marlene Dietrich im ›Blauen Engel‹)« (Weill 1930/2000, S. 111).

Auch die potenziell vielfältigeren Zeichen- und Referenzsysteme, die im Kino auch mit Musik aktiviert werden, regen unter Umständen weiterreichende Deutungen an als in der Oper. Diese Tendenz veranlasst vermutlich auch die in Theater- und Opernaufführungen zu beobachtende Integration filmischer Mittel. Ohne im eigentlichen Sinne narrativ zu sein, bringt Musik im Film Hintergründe, Ideen und Metaphern ein, die nicht bis ins Letzte bestimmt werden können, also vage bleiben. Die Oper ist dafür auf andere Mittel angewiesen.

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Da Musik im Film nicht von vornherein als Träger der handlungsrelevanten Aktionen dienen muss, kann ihre »gegenstandslose Innerlichkeit« (Hegel 1818– 29/1984, S. 262 [Bd. 2]) in durchaus komplexen Beziehungsfeldern in das Ge­­ samtwerk einfließen. Visueller und musikalischer Rhythmus, Klangsemantik, Bildbedeutungen und semantische Beschriftung durch Musik (nicht selten durch Erfahrungen aus dem Musiktheater geprägt), Kontinuität und Diskontinuität fordern die multimodale Sinnesverarbeitung weit mehr als das traditionelle Musiktheater. Neben den hier benannten Unterschieden, die zu einer Unterscheidung von Musikdramaturgie im Film und im Musiktheater gehören, gibt es selbstverständlich Gemeinsamkeiten. Sie ergeben sich aus dem dramaturgischen Potenzial der Beiordnung von Musik zu einer Handlung. Während die Handlung das eine zeigt, kann Musik dies sowohl unterstreichen und zugleich auch auf etwas anderes verweisen, sowohl was den handlungsbedingten als auch den psychologischen oder gesellschaftlichen Hintergrund betrifft. Dies geschieht mal direkt und offenkundig, mal unterschwellig bleibend. »Zu Recht haben Wagner, Nietzsche, Freytag und Dahlhaus in ihren Schriften die ›innere Handlung‹ der Gefühle und Gedanken als eine treibende Kraft des Dramas hervorgehoben, und man braucht in Filmmusik nicht den Weltwillen zu hören, kein Schopenhauerianer zu sein, um in ihr mehr zu erkennen als eine Untermalung des Geschehens.« (Plebuch 2014, S. 70)

Ferruccio Busoni formulierte in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst einige Punkte zur Notwendigkeit und Möglichkeit von Musik, die einer (Opernoder Theater-)Handlung zugeordnet wird: »Der größte Teil neuerer Theatermusik leidet an dem Fehler, daß sie die Vorgänge, die sich auf der Bühne abspielen, wiederholen will, anstatt ihrer eigentlichen Aufgabe nachzugehen, den Seelenzustand der handelnden Personen während jener Vorgänge zu tragen.« (Busoni 1907/2001, S. 22)

Er weist auch auf jene Rolle der Musik hin, die eine Verbindung zu den Empfindungen des Publikums schafft und die Scheinwelt der ästhetischen Konstruktion stützt: »Es sollte die Oper des Übernatürlichen oder Unnatürlichen, als der allein ihr natürlich zufallenden Region der Erscheinungen und der Empfindungen, sich bemächtigen und dergestalt eine Scheinwelt schaffen, die bewußt das geben will, was in dem wirklichen Leben nicht zu finden ist.« (Busoni 1907/2001, S. 25)

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3.  Musikdramaturgie und Film

Zugleich erwähnt Busoni die »unerlässlichen« Momente für Musik, die ohne Einschränkung als Gemeinsamkeiten von Musikdramaturgie im Film und Dramaturgie des Musiktheaters gelten können: »Bei der Frage über die Zukunft der Oper ist es nötig, über diese andere [Frage] Klarheit zu gewinnen: ›An welchen Momenten ist die Musik auf der Bühne unerläßlich?‹ Die präzise Antwort gibt diese Auskunft: ›Bei Tänzen, bei Märschen, bei Liedern und – beim Eintreten des Übernatürlichen in die Handlung‹.« […] (Busoni 1907/2001, S. 24)

Michelangelo Antonioni hat in seinen Filmen ein mit dieser Ästhetik sehr verwandtes Musikkonzept realisiert, da oft nur Musik als Teil der Szene (»auf der Bühne«) erklingt, jedoch dann, wenn es ins Metaphorische oder Metaphysische geht, Musik auch ohne szenischen Auslöser erklingt. Beispiel: Zabriskie Point (USA 1969, R. Michelangelo Antonioni, M. Pink Floyd, Jerry Garcia) In Zabriskie Point ist nur zum Vorspann (Pink Floyd, Heart Beat, Pig Meat), in der Mitte (Liebesszene in der Wüste: Improvisation von Jerry Garcia, Love Scene) und am Ende (Explosion: Pink Floyd, Careful with That Axe, Eugene) Musik außerhalb der aktiven, gezeigten Handlung zu hören. Alle anderen Titel stammen aus der Szene (z. B. im Autoradio) und zudem aus der Handlungszeit der späten 1960er Jahre. Liebesszene und Explosion haben beide das übernatürliche Element, das laut Busoni das Erscheinen von Musik rechtfertige. Die Liebesszene realisiert eine utopische Vision des Zusammenlebens und der freien Liebe. Die Explosion am Ende des Films findet wahrscheinlich nur in der Vorstellung der Figur (Daria) statt und ist in einem experimentellen Stil inszeniert, der die Ästhetik des Actionkinos und Werbefilms vereint, um den amerikanischen Mythos vom Wohlstand, seinen Zusammenbruch und die 68er-Revolte metaphorisch zu thematisieren.

In der Rezeptionserfahrung des Musiktheaters liegt auch die Ursache für den unproblematischen Einsatz von Musik im speziellen Falle des Filmmusicals: Das Erklingen von Musik zusammen mit einer singenden Figur, jedoch ohne, dass das begleitende Orchester Teil der Handlung ist, entspricht einer Gewohnheit, die im Musiktheater ihren Ursprung hat. In Richard Wagners Bauplan vom Festspielhaus in Bayreuth sorgt der abgesenkte und verblendete Orchestergraben sogar für ein vollständiges Verschwinden der einzigen sichtbaren Erklärung dafür, dass Musik zu einer Handlung erklingt und zu ihr gesungen wird. Das Verstecken

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

der Kunstmittel zur Illusionsbildung und zugleich als Merkmal einer Überwältigungsästhetik ist selbstverständlicher Teil des Filmschaffens geworden. Musiktheorie und Filmtheorie teilen sich über die genannten musikdramaturgischen Gemeinsamkeiten zwischen Oper und Film hinaus einige grundlegende Begriffe und Kategorien, wie z. B. Komposition, Motiv, Rhythmus, Variation, Reihung, Kontrapunkt. Darunter sind auch solche mit narrativen oder dramaturgischen Implikationen, wie z. B. Exposition, Durchführung, Verwicklung, Peripetie, Klimax und Episode. Auch Begriffe wie Fabel, Sujet und Plot gehören zur musiktheoretischen und zur filmtheoretischen Terminologie und betonen die vergleichbaren dramaturgischen Gegebenheiten.

3.3 Zusammenfassung konkreter Aspekte der Musikdramaturgie im Film

Die Musikdramaturgie im Film konkretisiert sich in einigen wesentlichen Punkten: 1. Unterscheidung von Musik als Teil der Zeigehandlung oder als Bei­ ordnung 2. dramaturgisches Zusammenspiel der daraus resultierenden und weiter zu differenzierenden auditiven Ebenen 3. Fabelzusammenhang und Sujetbezug der Filmmusik 4. Montage und Timing 5. Unterscheidung der Affekttypen 6. Flexibilität der Erzählmodi und Erzählinstanzen 7. Stabilisierung von Tiefenstrukturen 8. Mehrdeutigkeit und mehrfache Funktionalität 9. emotive Wirkungen 10. gedankliche Eigenbeteiligung Die genannten Punkte sollen nun kommentiert werden, damit die in den vorangegangenen Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse für weitere Fragestellungen und Untersuchungen sowie zur Thesenbildung in Kapitel 4 einfließen können. Zu 1)  Die kategoriale Unterscheidung von Musik als Teil der direkt nachahmenden Handlung (Zeigehandlung) oder als Beiordnung ist für die Narration (System und Vergabe der handlungsrelevanten Informationen) eine filmspezifische Grundlage. Für die Musikdramaturgie im Film ist es wichtig, dass diese Unterscheidung nicht allein akustisch (quasi objektiv) realisiert wird, sondern sich auch durch den Kontext erschließt.

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3.  Musikdramaturgie und Film

Zu 2)  Dramaturgisches Zusammenspiel der daraus resultierenden und weiter zu differenzierenden auditiven Ebenen: Ein Modell der auditiven Ebenen und die dazugehörige Terminologie müssen in der Lage sein, die Vielfalt der dramaturgischen Integration von Musik wenigstens in Tendenzen abzubilden. Die Begriffe diegetisch und nicht-diegetisch werden aus den im Kapitel 1.1.5 (»Narratologie, narration und Filmdramaturgie«) und im Exkurs 2 (»diegetisch/non-diegetisch und mimesis/diegesis«) genannten Gründen ersetzt bzw. neu definiert. Die kategoriale Trennung in zwei Ebenen dient dabei als Bezeichnung eines Ausgangspunktes. Für die poetische Verarbeitung und für weiterreichende dramaturgische Strategien interagieren diese Ebenen. Phasenweise kann die Auflösung der Trennung Merkmal der filmischen Übersetzung einer Geschichte werden. Zu 3)  Fabelzusammenhang und Sujetbezug der Filmmusik: Dadurch, dass Musik Verknüpfungen der Handlungsteile oder Hinweise zur Handlung, ihrem Hintergrund und zu den Figuren vielfältig in Beziehung setzen kann, bestimmt sie die Dramaturgie im Film spezifisch. In der Analyse hinterlässt Musik jedoch kaum sichtbare oder objektivierbare Spuren wie beispielsweise ein Schnitt oder Dialoge, eingeblendete Schrift und andere verbale Hinweise. Daher ist der Zusammenhang, den Filmmusik zur Fabel oder zum Sujet herstellt, ungleich schwerer zu erfassen. Darin liegt aber zugleich ihr Nutzen für die filmspezifische Umsetzung von Fabel und Sujet. Zu 4)  Montage und Timing: Das Prinzip der Montage als Sinn stiftende Kopplung unterschiedlichen Materials wird im Film durch die auditive Schicht um eine zusätzliche Dimension erweitert (mit den Worten Eisensteins: Zur Horizontalmontage gesellt sich die Vertikalmontage191). Montage bildet die Basis für vielfältige Erscheinungsformen des filmischen Erzählens und entsprechend vielfältige Strategien und Umsetzungen von Musik-Bild-Kopplungen. Die Möglichkeiten der sukzessiven und simultanen Kopplungen von Musik und Bildern sind mediumspezifischer Teil der Musikdramaturgie im Film. Musik-Bild-Kopplungen haben meist eine lokale und – als audiovisuelle Strategie – eine übergreifende dramaturgische Bedeutung. Die Entscheidung über Einsatzpunkte der Musik (cueing) und das genaue Timing bei der Zuordnung musikalischer Verläufe zu visuellen Abläufen ist elementar und unmittelbar für die Musikdramaturgie von Bedeutung. Die Gestaltungsmöglichkeiten in diesem Bereich prägen genauso Genres und Stile im Film wie die Musikstile und Kompositionstechniken selbst. Zwei generelle Tendenzen können benannt werden: Während das merkbare Ein- oder Aussetzen von Musik

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Siehe hierzu Kap. 2.1.3 (»Filmische Montage«).

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

eine organisierende Hand erahnen lässt und der implizite oder ideale Filmautor spürbar wird, sind genau synchronisierte Abläufe und die affirmativen Kopplungen von Musik, die das dramatische Handlungsgeschehen (Aktionen und Pathos der Figuren) nachzeichnen, für das unhinterfragte Eintauchen in die gezeigte Welt, d. h. für die Immersion, wichtig. Zu 5)  Unterscheidung der Affekttypen: Die Bedeutung der Musik und Aufgabe der Musikdramaturgie liegen nicht allein in der Verstärkung der ohnehin dargestellten Affekte, sondern auch in der Trennung der Affekte in Mitaffekt und Eigenaffekt. Die Trennung der Affekte ist für mehrere filmmusikalische Strategien und Strategien der Musik-Bild-Kopplungen von Bedeutung, z. B. suspense, psychologisierendes underscoring, Komik, Humor, Verfremdung und dramaturgischen Kontrapunkt. Dramaturgisch eingesetzte Musik beeinflusst Identifikation, Einfühlung, Mitfühlen oder Distanz mindestens ebenso sehr durch ihre Bedeutung zur Trennung der Affekte, wie auch durch ihren eigenen musikalischen Ausdruck. Entscheidend dafür ist die Art und Weise der Zuordnung von Musik zur Handlung. Konventionelle Spannungsdramaturgie (insbesondere die suspense-Technik) basiert auf dem Abwechseln der beiden Affekttypen, was oft als »spannend« empfunden wird. Bei zugrunde liegender Einfühlung bangen wir durch einen höheren Wissensstand (erweiterte Perspektive, optimaler Blickpunkt) um die Figur – es entsteht im Publikum ein »eigener« Affekt. Bei Auflösung der Situation dominiert dann der Mitaffekt (gemeinsame Perspektivierung mit der Figur, Eintauchen in das simulierte emotionale Erleben der Figur, Verfolgen der gleichen Ziele). Nicht selten zieht dies eine Kette von sich immer weiter steigernden Verwicklungen in der Handlung nach sich, wobei das Abwechseln von Mitaffekt und Eigenaffekt emotionale Aktivität suggeriert. Wenn Musik an diesen Prozessen beteiligt wird, entsteht ein Gefühl von Unmittelbarkeit, das ein gesteigertes Interesse an den Folgen der Handlungen der Figuren fördert. Komik ist dagegen ein Spezialfall, der auf der beibehaltenen Trennung der Affekte beruht. Der psychologisch wichtige Lustgewinn, der u. a. zum Lachen führen kann, ist nur möglich, wenn das Publikum Beobachter der Situation bleibt und wenn Empathie ohne den Zwang zur Einfühlung entsteht. Die für Komik ebenfalls charakteristische Eskalationsdramaturgie, bei der ein meist zufälliger Auslöser eine Kette von Schwierigkeiten auslöst, ist ein Beispiel für steigende Spannung ohne Einfühlung. Somit gibt die Unterscheidung der Affekttypen einen praktischen und analytischen Ansatzpunkt für Analyse der dramaturgischen Bedeutung und Integration von Filmmusik in bestimmten Genres. Zu 6)  Flexibilität der Erzählmodi und Erzählinstanzen: Musik vereinheitlicht den Gestus des Erzählens im Film und überbrückt die unterschiedlich

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3.  Musikdramaturgie und Film

wahrgenommene Intensität der Erzählmodi (dramatisch: Zeigehandlung, episch: Bericht und scheinbare Objektivität, lyrisch: erzählerische Subjektivität und Allegorie). Musik gibt nicht selten den Hinweis darauf, ob eine Szene im Hinblick auf die dramatische Aktion Bedeutung hat, im Hinblick auf die Totalität des epischen Erzählens verstanden werden muss oder Bilder lyrisch umgedeutet werden können. Zu 7)  Stabilisierung von Tiefenstrukturen: Für die Musikdramaturgie ist das Bestätigen des Nicht-Offensichtlichen wahrscheinlich von größerer Bedeutung als das Bestätigen von dem, was durch das Geschehen an der Oberfläche der Handlung bereits zum Ausdruck kommt bzw. strukturell schon deutlich wird. Musik im Film eignet sich aufgrund ihres Abstraktionsgrades besonders dazu, zunächst unbewusst zusammenwirkende Elemente zu verbinden und diese in der Folge evident und damit auch reflektierbar werden zu lassen. Musik lässt sich auch an Formationen narrativer Elemente koppeln, die wichtige zusätzliche Aspekte der Geschichte unterschwellig zur offensichtlichen Handlung miterzählen. Zu 8)  Mehrdeutigkeit und mehrfache Funktionalität: Der Abstraktionsgrad von Musik wirkt sich im Film in struktureller und wirkungsästhetischer Hinsicht aus. Einzelne musikalische Parameter lassen sich zwar konkret an sichtbare Teilmomente der visuellen Darstellung koppeln (so ergeben Schnitte und Bewegungen einen Rhythmus, der mit der Musik korrespondiert; ebenso sind diverse klangsemantische Kopplungen für topics wie Bedrohung, Freude, Liebe, Angst, Trauer usw. charakteristische Anlässe für den Einsatz von Musik). Jedoch ist bei aller Untermalung oder Illustration durch Musik immer eine Mehrdeutigkeit möglich, deren Bandbreite eingeschränkt oder geöffnet werden kann. Zudem erlaubt der Abstraktionsgrad von Musik auch, in einem einzelnen Musikstück mehrere Kopplungen zwischen visuellen und musikalischen Elementen und damit mehrere Bedeutungen zu vereinen. Auch tiefergehende Illustration kann durch das Nicht-Objektive der Musik an die Handlung gekoppelt werden, z. B. bei der Unterscheidung und Darstellung von verborgen bleibender oder allmählich nach außen tretender Innerlichkeit einer Figur. Illustrierende Wirkungen der Musik gehen mit unabhängigen Anteilen, die Musik immer mit in die Polyphonie der Erzählmittel einbringt, Hand in Hand und machen Musik gerade dadurch dramaturgisch wertvoll. Die Mehrdeutigkeit der Musik ist nicht nur für die mehrfache Funktionalität verantwortlich, sondern öffnet den abgebildeten Inhalt auch für eigene Deutungen, die außerhalb der Narration liegen. Die Filmwirkung wird dadurch über intendierte Wirkungen hinaus geöffnet. Zu 9)  Emotive Wirkungen: Die im Film mitschwingende subjektive Innerlichkeit entzieht sich mit Unterstützung der Musik der Konkretheit und

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Teil I: Grundlagen und interdisziplinäre Umgebung

Begrenztheit der auslösenden Darstellung. Erzählte Emotionen werden durch die Verbindung zur eigenen, korrespondierenden emotionalen Erfahrung zu anhaltenden emotiven Wirkungen im Film. Zudem vermittelt Musik zwischen der durch künstlerische Angebote angeregten kontemplativen inneren Anschauung mit den nach außen tretenden Affekten, die im Kino nicht ausagiert werden können. Musik im Film verhilft uns, diese entgegenwirkenden Tendenzen als eine vom Alltag abgrenzbare ästhetische Erfahrung zu vereinheitlichen und dadurch Emotionen während und nach der Filmwahrnehmung intensiv zu erleben. Die im Film enthaltenen Hinweise zur Regelhaftigkeit und zum Modellcharakter der künstlerischen Umsetzung erlauben positive Gefühle der Beherrschbarkeit von Problemen, die ersatzweise in der Geschichte mit Tendenz zum positiven oder negativen Ausgang durchlebt werden können. Vereinfacht dargestellte Regeln von den aus der Wirklichkeit bekannten, emotional analogen Situationen werden durch Musik in eine für Kunstwerke charakteristische Komplexität überführt. Filmmusik beeinflusst auch die Prognosen zum Verlauf der Handlung, was eine Analogie zu einer der Aufgaben von Emotionen im realen Leben darstellt. Zu besonders intensiv erlebten Emotionen während und nach der Filmwahrnehmung führt dies auch, weil das Publikum nicht in die Handlung eingreifen kann, Affekte nicht ausagiert werden können und Musik dann den Widerspruch zur regulierenden Funktion von Emotionen ästhetisch ausgleicht. Zu 10)  Gedankliche Eigenbeteiligung: Insbesondere bei Auslassungen, Widersprüchen und Brüchen in der Geschichte, die technisch gesehen allein schon in der visuellen Vorlage auftreten, befördert Musik im Film die »innere Rede« (Ejchenbaum 1927/2003, S. 128). Filmmusik betrifft also jene von Dramaturgie beeinflusste gedankliche Eigenbeteiligung des Publikums, welche die zwangsläufig vorhandenen Leerstellen zwischen den zusammengefügten Medien und Abschnitten mit Gedanken füllt und so den Eindruck von Fülle und von im Fluss bleibendem Zusammenhang herstellt. So kann auch eine ganz grundsätzliche Bedeutung von Musikdramaturgie im Film benannt werden: Musikdramaturgie hält den Fluss der inneren Rede aufrecht. Unterschiedliche Erzählformen benötigen unterschiedliche Arten der inneren Rede und bedienen sich daher unterschiedlicher Strategien der Einbindung von Musik. Diese Überlegungen zur Dramaturgie und Ästhetik der Filmmusik zeigen, dass Musikdramaturgie nicht auf die zweifellos bedeutsame praktische Tätigkeit der Zuordnung von Musik zum Film reduziert werden kann. Musikdramaturgie im Film ist zugleich ästhetische Theorie zur Reflexion und Analyse für eine Kunstform, bei der Musik eine von mehreren eigenständig funktionierenden Systemen ist, die miteinander in Berührung kommen. Ihre gemeinsamen Bezugspunkte

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3.  Musikdramaturgie und Film

sind eine zu entwickelnde Geschichte und deren Wirkung. Dramaturgie dient auch der Rechtfertigung und Erläuterung solcher Regeln, die der multimedialen Ausformung zugrunde liegen. Damit können allgemeine und spezifische Regeln, Vorgehensweisen und Muster für Strukturen und Wirkungen systematisch untersucht werden.

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Teil II Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Der II. Teil dieses Buches entwickelt ein Instrumentarium für die Analyse von Filmmusik und diskutiert bzw. hinterfragt bestehende Analyseansätze aus Perspektive der Dramaturgie im eingangs bestimmten Sinne. Folgende Fragen leiten die Argumentation: Warum sind Funktionskataloge problematisch? Wann ist die musikalische Analyse von Filmmusik aussagekräftig und wann nicht? Was bedeuten Musik-Bild-Kopplungen für die Musikdramaturgie im Film? Welche Terminologie eignet sich für Bezeichnung und Wirkungsweise der auditiven Ebenen, und was leistet ein darauf aufbauendes Konzept im Vergleich zu bereits existierenden, viel diskutierten Konzepten? Welche konzeptionellen und terminologischen Ergänzungen oder Vereinfachungen sind aus dramaturgischer Sicht tatsächlich aussagekräftig und können Phänomene auf der Tonspur eines Films erfassen, die sonst gegebenenfalls unberücksichtigt bleiben?

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4.  Filmmusik und Analyse 4.1.  Vorüberlegungen zum Themenbereich Filmmusik und Analyse

Die besondere Wirkung einer audiovisuellen Kunstform liegt zweifellos in dem konkreten Beitrag der gesamten auditiven Schicht bestehend aus abbildendem Ton, Sound Design, Sprache und Musik. Die Analyse des durch Musik im Film herbeigeführten Beitrages zum Erzählten und zum notwendigen Aktivieren der kognitiven und emotionalen Aktivität des Publikums könnte die Phänomene der oft als besonders intensiv erlebten Filmrezeption teilweise erklären. Da aber auch ohne Musik zweifellos eine gelungene filmische Erzählung denkbar ist, bei der sich Erzählinhalt, Struktur und emotionale Tiefe kunstvoll verbinden, stellt sich die Frage, was das Besondere an Filmmusik sei, die dennoch und nicht nur aus Gewohnheit im Film erklingt. Sind es ihre musikalischen Eigenheiten und Merkmale oder die Art wie sie eingesetzt wird? In dieser Studie gehe ich von der These aus, dass Filmmusik immer dann »wirkt«, wenn sie ein Teil der Filmdramaturgie geworden ist. Dramaturgie stellt das Publikum ins Zentrum der Betrachtung und konstruiert und reflektiert die Zusammenhänge zwischen Thema, Geschichte, Strukturen, Kontextualisierung und der Eigenbeteiligung des Publikums. Ein dramaturgischer Analyseansatz für Filmmusik kann an einer beliebigen, aber gut begründeten Stelle innerhalb dieser Architektur ansetzen und von da aus tiefer- bzw. weitergehende Analysen verfolgen. Daraus ergibt sich, dass Methoden und Instrumentarium vielseitig fundiert sein müssen: erzähltheoretisch, musiktheoretisch, audiovisuell, wirkungsästhetisch, rezeptionsästhetisch. Für die Filmmusikanalyse können konkrete Fragen gestellt werden, z. B. wie Filmmusik im konkreten Einzelfall die für den Inhalt geeigneten Strukturen stützt, wie sie das Interesse am Erzählten wachhält oder die Lesarten der erzählten Geschichte beeinflusst. Wenn auch nicht alle Fragen eindeutig beantwortet werden können, erzeugt diese Methodik doch eine Aufmerksamkeit für das Zusammenspiel der filmischen Mittel. Nicht selten stellt sich dabei heraus, dass der Anteil der Filmmusik am filmischen Erzählen und zur schöpferischen Aktivität der Rezipierenden nicht durch eine musikalische Analyse erklärt werden kann. Analysierende müssen selbst eine gewisse Kreativität aufbringen um herauszubekommen, wo sie am besten musikalisch und wo medienästhetisch analysieren. Die Hauptanteile der musikdramaturgischen Analyse, die in diesem Kapitel diskutiert werden, sind: 1. Fabelzusammenhang, 2. Sujetbezug,

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

3. Musik-Bild-Kopplungen, 4. die auditiven Gestaltungs- und Wahrnehmungsebenen. Ein mit Beispielen illustrierter Überblick über Fabelkonzepte und den Sujetbezug der Filmmusik zeigt die grundlegende Verbindung zur Filmdramaturgie. So ließen sich Verfahren der filmmusikalischen Komposition, darunter auch die oft besprochenen Standards wie Leitmotivtechnik, underscoring, mood technique, Kompilation und das Zitieren von Musik systematisch und in ihrer Bedeutung für die Dramaturgie des Films erfassen. Erläuterungen der Musik-Bild-Kopplungen ergänzen diesen grundlegenden Anteil von Musik beim filmischen Erzählen mit Hinblick auf wahrnehmungspsychologisch und zugleich filmästhetisch relevante Phänomene. Die rezeptionsästhetischen Verabredungen zur Differenzierung der Klangschicht des Films in zwei auditive Ebenen, die ein kategoriales Ausgangsgerüst darstellen, ermöglichen eine spezifische Formenvielfalt im audiovisuellen Erzählen. Daher wird auch ein Modell der auditiven Gestaltungs- und Wahrnehmungsebenen benötigt, welches das begriffliche Instrumentarium für die auditive Schicht konkretisiert. Das Modell kann als ein theoretisches Gerüst und Analysewerkzeug dienen, um die künstlerische Gestaltung ebenso wie die intendierte oder tatsächliche Wirkung von Filmmusik als Teil der Filmdramaturgie zu systematisieren. Die Unterscheidung mehrerer auditiver Ebenen bei der Gestaltung und Wahrnehmung von Musik und Ton im Film ist ein analytisches Instrument, das für die Filmanalyse von genereller Bedeutung ist. Bekannte Systematiken zur Differenzierung der Klangschicht im Film werden in diesem Kapitel miteinander verglichen und unter dem Gesichtspunkt der dramaturgischen Einbindung, die sich im Zusammenspiel der auditiven Ebenen realisiert, betrachtet. So kann ein Modell der auditiven Gestaltungs- und Wahrnehmungsebenen entwickelt werden, das auf dramaturgische Aspekte in besonderem Maße eingeht. Filmmusik und Filmklang können im Folgenden als ein gemeinsames Ganzes verstanden werden, da Musik im Film kaum aus dem sensiblen Gefüge der Filmmischung herausgerissen werden kann, ohne entscheidend die Bedeutung und Wirkung zu verändern. Die Beobachtung, dass das Sound Design verstärkt Wirkungsbereiche einnimmt, die filmgeschichtlich gesehen zuvor von Filmmusik besetzt waren, stärken diese erweiterte Definition von Filmmusik.192 192

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Die Tongestaltung geht im Kino oft über die reine Ausstattungsfunktion der Szenen hinaus. Als Sound Design kann dann eine (stilisierende) Gestaltung des Tons verstanden werden, die Klänge nicht auf ihre referenzielle Bedeutung zu einem sichtbaren oder zu vermutenden Teil des Handlungsraumes begrenzt und die »musikalisch« mit allen Klängen umgeht. Das kann z. B. bedeuten, dass Klänge wie musikalische Motive exponiert, durchgeführt und variiert werden, dass sie Entwicklungen durchlaufen und in einer Beziehung zu allem anderen, das klingt, gesetzt werden, sei es als Textur, Kontrast, Höhepunkt oder Begleitung.

4.  Filmmusik und Analyse

4.2  Kritik der Modelle und Kataloge filmmusikalischer Funktionen

Kaum eine Veröffentlichung zur Filmmusik kommt ohne ein System von Funktionen aus – ob selbst geschaffen oder referiert und kommentiert, korrigiert, variiert oder revidiert. Auch wenn vielerorts Kritik an Funktionsmodellen der Filmmusik geäußert wurde, hat sich bisher noch kein wissenschaftlicher Ansatz entwickelt, der ohne ein System von Funktionen der Filmmusik auskommt. Es zeigen sich in den Katalogen und Kommentaren der Funktion der Filmmusik viele Unklarheiten darüber, ob unter der Überschrift »Funktionen« Kompositionstechniken zu verstehen sind, Prinzipien des Einsatzes von Filmmusik, Beziehungen zwischen Bild und Musik, belegbare bzw. vermutete Intentionen oder eindeutige oder weniger klar umrissene Aufgaben. Selbst wenn gewisse Zuschreibungen von Funktionen getroffen werden können, bleibt unklar, ob etwas hinreichend gesichert darüber ausgesagt werden kann, wie Filmschaffende arbeiten, was sie beabsichtigt haben könnten, wie eine konkrete Szene oder ein Film als Ganzes funktioniert oder was eine Funktion beim Publikum bewirkt. Mit einer musikdramaturgischen Analyse werden diese Fragen aus einer anderen Perspektive untersucht, sodass die begrenzte Aussagekraft von Funktionen im künstlerischen Kontext akzeptiert werden kann und ersetzt wird durch Konnektivität. Die Konnektivität der Filmmusik zeigt sich durch den Nachweis eines Zusammenhangs mit Strategien, in welche stets mehrere Gestaltungsmittel einbezogen sind und die alle ein Ziel haben: die überzeugende Filmerzählung. Analysen, die solche Zusammenhänge verdeutlichen, tragen zu einem tieferen Verständnis der filmmusikalischen Phänomene bei, als es Funktionen anzeigen können. Allenfalls auf die komplexe »Funktionalität« von Filmmusik wäre dann zu verweisen. Einzelne Funktionen mit Sicherheit bestimmen zu können, bleibt daher Illusion. Funktionen täuschen eine Genauigkeit vor, die in poetischen Formen selten so benannt werden kann. Die Breite der filmmusikalischen Phänomene, die den Zusammenhang von Struktur, Wirkung und Beteiligung des Publikums betreffen, können kaum durch die Zergliederung eines noch so breiten Funktionsspektrums erfasst werden. Reduktionen auf wenige vermeintlich entscheidende Parameter offenbaren wiederum eine zu große Diskrepanz zwischen Filmpraxis, Filmerleben und Theorie. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Behauptung, dass Filmmusik einem »neutralen Bild« eine Bedeutung geben würde. Denn da in einem Film ein Bild immer Teil der Montage ist, ist es keinesfalls neutral, bedeutet nicht nur schon etwas, sondern erzählt bereits davon durch die Art des Arrangements der Teile. Das Hinzufügen von Musik beeinflusst durch eine nun zu­­ sätzlich entstehende Kopplung oder Kollision die Einordnung, z. B. indem ein

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größerer Kontext mitgedacht oder emotional vertieft wird. Der Reiz, der durch das Hinzutreten von Filmmusik entsteht, liegt unter anderem darin, dass einer Bedeutung, die das Publikum aus der Bildmontage erfasst – gewissermaßen aus dem sichtbar gemachten dramaturgischen Kontext  –, eine zusätzliche, nicht sichtbare, sondern auf musikalische Weise erzeugte und in Zusammenhang mit dieser Bedeutung stehende Qualität hinzugefügt wird. Meine Erfahrungen mit den Systemen, Katalogen und Modellen der Funktionen von Filmmusik – und offenbar auch die anderer Autorinnen – sind aus diesen Gründen meist unbefriedigend, sowohl aus Sicht des Forschenden als auch aus Sicht des Lehrenden. Aus Sicht des Komponierenden stellt sich die Frage nach der Funktionalität von Filmmusik noch einmal auf ganz andere Weise. Dann kann z. B. der Gedanke, dass Musik ein Weg für Filmschaffende ist, Lösungen zum Fortgang des künstlerischen Prozesses zu finden, sich zum Inhalt zu positionieren oder die eigene Emotionalität beim Zusammentreffen mit dem Inhalt zu verarbeiten, für die Filmmusikforschung ein weiterer produktiver Ansatzpunkt sein. Filmmusik dient auch dazu, sich selbst als Filmschaffender mit dem zu Erzählenden auseinanderzusetzen und geeignete Ausdrucksformen dafür zu finden.193 Maas und Schudack schrei­ben mit Blick auf die pädagogische Anwendung bereits über das Zusammenspiel der Filmmusik mit anderen Gestaltungsmitteln, über Schwierigkeiten bei der Gewichtung zwischen grundlegenden Funktionen und den theoretisch unendlich neuen Funktionen im speziellen Einzelfall: »1. Musik ist nur ein Gestaltungsmittel des Films und muss in ihrer Funktionalität in Relation zu den verschiedenen filmischen Gestaltungsebenen (Dramaturgie, Kameraarbeit, Farbgebung usw.) betrachtet werden. 2.  Die Bestimmung von Funktionen der Filmmusik muss den Einzelfall als Bezugs- und Ausgangspunkt aller Überlegungen wahren, jede Systematik filmmusikalischer Funktionen, jede Klassifikation hat nur den Sinn, für den einzelnen Film Hinweise darauf zu liefern, warum gerade hier in der Szene die bestimmte Musik eingesetzt ist. Und jeder Film könnte potenziell neue Funktionen der Filmmusik ›erfinden‹. 3. Die Frage nach der Funktion einer bestimmten Filmmusik für eine bestimmte Filmszene bedeutet einen hypothetischen Interpretationsprozess. Es kann nur vermutet werden, welchen Zweck Regisseur und Komponist durch die verwendete Musik erreichen wollten. Gewissheit kann es hier kaum geben.« (Maas und Schudack 1994, S. 31)

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Der Forschungsbereich, in welchem diese Aspekte ins Zentrum gestellt werden, wird international als »artistic research« bzw. »Künstlerische Forschung« bezeichnet und gewinnt an Lehrund Forschungseinrichtungen mehr und mehr Bedeutung.

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Dennoch wurde bisher nicht versucht, Filmmusik ohne Funktionsmodelle zu analysieren, im Gegenteil. Meist stehen Abhandlungen darüber am Anfang zahlreicher Arbeiten und bilden die Grundlage für eigene Forschungsfragen. So wird trotz existierender Kritik ein System gefestigt, das für viele Fragen zu Gestaltung und mehrdimensionaler Wirkung von Filmmusik nicht taugt. Die offensichtliche Pragmatik, die in einigen Modellen der Funktionen von Filmmusik steckt, hat ernst zu nehmende Vorteile im Bereich der Musikpädagogik und bei ästhetisch gut abgrenzbaren Bereichen, wie z. B. einige filmmusikalische Techniken, Epochen, Genres oder Personalstile. Ein simplifizierender oder zu sehr verallgemeinernder Umgang mit den Modellen würde diese Vorteile jedoch wieder zunichte machen. Zwei Beispiele können dies illustrieren: »What follows, then is a synthetic outline of principles of music composition and mixing, and editing in the classical narrative film. It describes a discursive field rather than a monolithic system with invisible rules. While I shall not argue for equilibrium profiles or ripeness, I shall emphasize the period of the late thirties into the forties, in order to contribute to an established and growing body of knowledge about the field of classical cinema.« (Gorbman 1987, S. 73)

Dies schreibt Claudia Gorbman, bevor sie sieben Prinzipien zur Filmmusik auflistet. Ihr Modell zu den Aufgaben der Filmmusik im »classical cinema« wurde vielfach generalisiert – entgegen der relativierenden, auf einen bestimmten Korpus und bestimmte Erzählformen eingrenzenden Hinweise der Autorin – und dadurch zur Funktionsliste degradiert. Sie selbst versteht die Liste der wesentlichen Prinzipien als »diskursives Feld«, innerhalb dessen sich die Arbeitsweise bestimmter Komponisten, von denen Max Steiner als idealtypisch genannt wird, begreifen lässt. Die von ihr klar benannten Begrenzungen der Studie sollten daher mitgelesen und mitzitiert werden. Dass Filmmusik in Kommunikationsprozessen »funktionieren« muss, wie Schneider schreibt (Schneider 1986/1990, S. 80), heißt genau genommen nur, dass ihre Wirkungsweise viel stärker als in anderen Kontexten von außermusikalischen Faktoren bestimmt wird. Es heißt also nicht, dass eine Systematik der Musik-Bild-Relationen gleichbedeutend mit Funktionen der Filmmusik ist.194

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Allerdings teile ich nicht vollständig die Ansicht Schneiders, dass Filmmusik ein Sprachsystem sei, vgl. Schneider (1986/1990), Handbuch Filmmusik 1: Musikdramaturgie im Neuen Deutschen Film, S. 80. Ihr »Funktionieren im Kommunikationsprozess« beeinflusst ihren sprachähnlichen Charakter, den Musik nachweislich hat, so sehr, dass es als bedingtes Sprachsystem gelten muss und die Sprachanalogie daher als methodischer Zugriff nur für einen kleinen Teil filmmusikalischer Phänomene hilfreich ist.

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Und auch im Falle von Schneider wird die vom Autor selbst gegebene Eingrenzung des Korpus allzu oft ignoriert. Sein »bipolares Modell« der Musik-BildZuordnungen, das er im Kapitel »Bild und Musik: Formen ihrer Zuordnung« ausbreitet (Schneider 1986/1990, S. 68–80), gilt für den sogenannten »Neuen Deutschen Film« und seine Erzählformen, und alle Beispiele zur Untermauerung seiner Thesen stammen aus diesem Korpus und aus der entsprechenden Entstehungszeit. Die »dramaturgischen Funktionen« (Schneider 1986/1990, S. 90 f.), die sich zwischen den Polen »völlig bild- und handlungsintegriert; Einheit des Ausdrucks und Gehalts« und »völlig unabhängig« ansiedeln lassen, sind »Aufgaben [, die] der Regisseur an Musik bzw. seinen Komponist stellen darf« (Schneider 1986/1990, S. 90),195 und sie sollten  –  gerade in einem vom Zeitgeist geprägten Medium wie dem Film  –  nicht phänomenologisch und filmhistorisch generalisiert werden. Jessica Merten formulierte bereits Kritik am Erstellen und – aus methodischer Sicht – problematischen Verwenden von Funktionskatalogen. Jedoch löst sie sich in Ermangelung von Alternativen nicht davon und nennt »allgemeine Funktionskategorien«: »Es sei jedoch an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß bei der folgenden Zusammenfassung theoretischer Systematisierungsversuche von Funktionen kein ›Funktionenkatalog‹ erstellt werden soll, wie Lissa sich dies in ihren durch ihre Ausführlichkeit eher unübersichtlichen Ausführungen vorbehält. […] Eine Unterteilung wie etwa ›Musik als Unterstreichung von Bewegungen‹, ›Musik in ihrer natürlichen Rolle‹ oder ›Musik als Grundlage der Einfühlung‹ sollte hier nicht vorangestellt werden, sondern am Ende der Analyse stehen. Dies gilt besonders für Funktionen, die Inhalt und Dramaturgie eines Films betreffen. Sie dürfen der Analyse nicht als unflexible Kriterien vorangestellt werden. Filmmusik nach diesen Kriterien zu untersuchen erscheint wenig sinnvoll, da sie stark von dem subjektiven Eindruck, der individuellen Interpretationszielsetzung oder der ideologischen Haltung des Analysierenden abhängen. Wenn man Filmmusik anhand von a priori festgesetzten spezifischen Parametern untersucht, besteht die Gefahr, daß man den vom Gesamtkonzept eines Films jeweils abhän-

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Das »bipolare Modell« von Schneider findet sich ganz ähnlich auch bei Fabich in: Rainer Fabich (1993), Musik für den Stummfilm: Analysierende Beschreibung originaler Filmkompositionen, S. 68–75. Seine Darstellung der Musik-Bild-Beziehungen ist begrenzt auf die Polarität von »Synchronismus« und »Asynchronismus«. Diese Grundidee findet sich aber auch bei Lissa, die diese Hauptbeziehungen auch aus den von ihrer dargelegten Systematiken ableitet; vgl. Lissa (1965), Ästhetik der Filmmusik, S. 113. Die Terminologie »Synchronismus« und »Asynchronismus« geht aber zurück auf Siegfried Kracauer (1964), Theorie des Films: Die Errettung der äußeren Wirklichkeit.

4.  Filmmusik und Analyse gigen Eigenheiten und spezifischen Aufgaben der Filmmusik nicht gerecht wird. Als, so Brößke, unabdingbare Voraussetzung einer individuellen Interpretation und Funktionsbestimmung von Musik im Film gilt mitunter eine protokollarische Musikdarstellung und kein vorgefertigtes Funktionsraster. Aus diesem Grunde werden in den folgenden theoretischen Absätzen lediglich allgemeine Funktionskategorien genannt.« (Merten 2001, S. 63 f.)196

Die generalisierende Tendenz, die in Modellen zur Funktion von Filmmusik fast zwangsläufig steckt, fordert zu einer Alternative auf, mit der Analysierende der Funktionalität von Filmmusik eher gerecht werden können. Musikdramaturgie, die als Teil der Filmästhetik und Filmdramaturgie »funktioniert«, könnte eine solche Alternative sein, die sich aber in einem interdisziplinären Umfeld befindet, das in den Kapiteln 1 bis 3 ausführlicher beschrieben wurde und in dem die Filmmusikforschung und die Forschenden selbst sich bewegen. Die folgenden Punkte untermauern konkret die Kritik der Modelle und Kataloge filmmusikalischer Funktionen: 1. Funktionen der Filmmusik als eindeutig begrenzte Aufgabe kann es beim filmischen Erzählen kaum geben, allenfalls als loser Anhalts- oder Ausgangspunkt. Die poetische Verdichtung und die in Filmen zwangsläufig vorliegende Modellhaftigkeit, die Vereinfachung der abgebildeten Erfahrungen, Emotionen oder Themen fordern gerade dazu auf, gezeigte Inhalte durch den Umgang mit Musik und Ton wieder zu verallgemeinern, d. h. weniger eindeutig zu machen, als es die Abbildung unterstellt. Inhalte öffnen, damit wir das Gezeigte unserer eigenen Erfahrung annähern oder sogar spielartig zu unserer eigenen Erfahrung machen können, ist eine Strategie der Erzählkunst und kann nicht durch die Kombination bestimmter Funktionen der Filmmusik erklärt werden. 2. Die grundlegende Frage, was genau gemeint sei, wenn Musik im Film eine Funktion hat, wird selten genug beantwortet. Die Bezeichnungen »Aufgabe«, »Wirkung«, »Beziehung« und »Funktion«, die Musik im Film haben kann, werden nicht selten synonym verwendet. Auch solche Versuche, die zwischen scheinbar objektiven, in Experimenten messbaren Wirkungen und intendierten Wirkungen unterscheiden, um letztlich eine Funktion von Musik annähernd korrekt zu bestimmen, bleiben auf-

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Merten bezieht sich auf folgenden Beitrag: Gabriele Brößke (1987/2010), »›… a language we all understand.‹: Zur Analyse und Funktion von Filmmusik«, in: Michael Schaudig [Hg.], Strategien der Filmanalyse.

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grund der großen Schwierigkeiten bei der Methodik empirischer Studien aus dramaturgischer Sicht bisher wenig aussagekräftig.197 Dass in einem Moment ein Musikeinsatz oder eine bestimmte Musik diese oder jene Funktion einnehmen kann, liegt bei Verlaufskünsten immer auch am Timing, vor allem an den Einsatzpunkten eines cues, an der Dauer eines Musikeinsatzes oder an den Pausen dazwischen usw. Auch Aufmerksamkeitszyklen, Prognosen zu Inhalt und Verlauf, die über die bisherige Filmzeit entwickelt wurden und auf den Rest des Films angewendet werden und die viel weniger mit dem Momentanen, in dem eine Funktion bestimmt werden kann, zu tun haben, sind für die Funktionalität von Filmmusik verantwortlich. So erscheint es fraglich, ein Modell von Funktionen zu erbauen, das diesem verlaufsgebundenen Gefüge nicht entspricht. Musik wird in den Gesamtklang integriert. Durch kleine Änderungen an diesem sensorischen und zeitlich strukturierten Gefüge können sich Funktionen derselben Musik ändern, möglicherweise bis hin zu einer gegenteiligen Funktion. So erscheint es fraglich, überhaupt ein Modell von Funktionen fortzuschreiben oder neu zu entwickeln, das diesem sensorisch in der Filmmischung hergestellten Gefüge nicht entspricht. Die impliziten Verabredungen zwischen Filmschaffenden und Publikum bilden einen Raum zur Kommunikation und Umsetzung von Möglichkeiten, innerhalb dessen die Entfaltung einer Geschichte akzeptiert wird und in dem Wirkungen überhaupt erst eine Reflexionsfläche bekommen. Ohne diese in den Erzähl- und Rezeptionshaltungen steckenden Verabredungen würde Filmmusik keine dramaturgische Wirkung entfalten. Systeme der Funktionen von Filmmusik benennen Effekte, umgehen aber die Fragen danach, warum sie überhaupt im einen Fall wirken können und im Sinne der Geschichte sinnvoll eingesetzt sind, in einem anderen jedoch nicht. Nicht selten bestätigen Systeme zu den Funktionen von Filmmusik lediglich filmmusikalische oder rezeptionsästhetische Klischees. Die Lebendigkeit und Vielfältigkeit des filmischen Erzählens beruht aber u. a. auf der Veränderung der Grenzen zum Klischee und auf (vermeintlichen) Regelbrüchen im Umgang mit den beteiligten Medien. So führt die

Es bedarf weiterer Forschung und eines aufmerksamen Austausches, bis tragfähige Erkenntnisse aus Psychologie und Filmwirkungsforschung in der Filmmusikforschung etabliert werden können und sich eine Methodik für empirische Ansätze entwickelt, die dramaturgische Fragen berücksichtigt, vgl. Kap. 2.3.1 (»Thesen zur emotiven Wirkung von Filmmusik«).

4.  Filmmusik und Analyse

Benennung von bestimmten Funktionen der Filmmusik – wohlmöglich entgegen der Intentionen ihrer Befürworter – zu einer Marginalisierung der Bedeutung von Musik im Film. Genreerneuerung oder Erneuerungen von Story-Schemata bleiben in Funktionskatalogen weitgehend unberücksichtigt. Wenn aber hierfür immer weitere, neue Funktionen bestimmt werden, stellt eine Systematik von Funktionen der Filmmusik ihre Gültigkeit im Bereich der filmischen Innovationen selbst infrage.198 7. Funktionen der Filmmusik vereinzeln die Fragestellungen zur Wirkungsweise so sehr, dass verschiedene Aufgaben und Wirkungen, die gleichzeitig erfüllt werden, und wie das Zusammenspiel mit anderen filmischen Gestaltungselementen funktioniert, nicht erklärt oder besser verstanden werden können. Für die Analyse dieses Zusammenspiels wird durch Funktionenmodelle letztlich keine methodische Hilfe bereitgestellt. 8. Funktionskataloge von Filmmusik, die einerseits speziell, aber notwendigerweise auch so offen und flexibel wie möglich formuliert werden müssen, damit sie der filmischen Realität standhalten, verlangen eine Menge an filmspezifischem Verständnis sowie Rezeptionserfahrung und setzen einen kreativen Umgang mit dem jeweiligen Modell oder System voraus. Falls ein entsprechendes Vorwissen oder Erfahrungen nicht vorhanden sind, werden immer wieder gerade die vereinfachenden und unflexiblen Modelle zitiert.199 Bei Veröffentlichung eines Funktionskataloges müssten deutliche Hinweise für die gedachte Nutzung als Instrument der Analyse gegeben werden, die Missverständnisse verringern. 9. Untersuchungen zur Filmmusik können für die Medienkompetenz wichtig werden. Dazu sind aber nicht Funktionskataloge, sondern Zusammenhänge wichtig. Sie werden durch Disziplinen wie Musikästhetik, Filmästhetik, Dramaturgie und Narratologie sowie das Wissen um die technischen Grundlagen der Bildgestaltung und Filmmischung hergestellt.200

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Auch das Mainstreamkino würde ohne diese Erneuerungen, an denen Musik ihren spezifischen Anteil hat, ökonomisch nicht funktionieren, d. h. es profitiert von den beschriebenen Vorgängen in den Nischen des Autor/innen- bzw. Arthousekinos. Prominentestes Beispiel ist Pauli, der sein simplifizierendes System von Beziehungen (oder doch Funktionen?) zwischen Bild und Musik selbst wieder revidiert hat. Vgl. dazu Paulis dreistufiges System »Paraphrasierung  –  Polarisierung  –  Kontrapunktierung« in: Hansjörg Pauli (1976), »Filmmusik  –  Ein historisch-kritischer Abriß«, in: Hans-Christian ­Schmidt [Hg.], Musik in den Massenmedien Rundfunk und Fernsehen: Perspektiven und Materialien mit der von ihm selbst vorgenommenen Relativierung in: Hansjörg Pauli (1981), Filmmusik: Stummfilm, S. 190 sowie die Kommentare von ­Schmidt in: ­Schmidt (1982), Filmmusik, S. 104. Diese Auflistung lässt bereits erkennen, dass eine solche Filmmusiktheorie in Ausbildungskontexten nicht allein in musikalischen Fächern, sondern erst im Verbund mit weiteren Fächern, d. h. interdisziplinär, möglich wird.

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10. Filmmusik und Emotion bilden ein in Theorien zur Filmmusik oder des Tons immer wieder diskutiertes, hochkomplexes Themenfeld, das in Funktionskatalogen kaum angemessen berücksichtig werden kann. 11. Die Idee, Filmmusik als funktional zu betrachten, entspringt einem musikwissenschaftlichen Ansatz. Dieser ist auch von dem im 19. Jahrhundert entstandenen Verständnis einer »absoluten« Musik geprägt – mit all jenem ideologischen Ballast, der schon in Kapitel 1.2.1 (»›Absolute‹ und autonome Musik als musikalische Poesie«) diskutiert wurde. Diejenigen Ideen von »absoluter« Musik, die sie als von jeder Konkretheit unabhängige Kunst ansehen, teilen einer zu bestimmten Kontexten abhängig eingesetzten Musik zwangsläufig eine Funktion zu, um das ästhetische Grundprinzip »absoluter« Musik nicht aufzugeben. Dies ist zwar musikhistorisch von großer Bedeutung, greift aber für Untersuchungen zur Musikdramaturgie im Film zu kurz. Inzwischen wird in Teilbereichen der musikwissenschaftlichen Forschung die Autonomie von Musik selbst relativiert (z. B. Musiksoziologie, Musikethnologie, Gender Studies, Musiktechnologie), da fast alle Musik auf ihre jeweilige Art als kontextbezogen aufgefasst werden kann.

4.3 Möglichkeiten und Grenzen der musikalischen Analyse von Filmmusik

Die Bandbreite zwischen Filmmusik als zwar gewohnte, dabei aber akzidentiell bleibende Zutat und Filmmusik, die substanziell die Filmerzählung prägt, weil sie z. B. die tragende Komponente der audiovisuellen Montage ist, einen Konflikt etabliert oder Sinnzusammenhänge herstellt, zeigt die Möglichkeiten und Grenzen der musikalischen Analyse von Filmmusik. Wodurch Filmmusik ihre Beziehung zur Geschichte und ihrer Struktur aufbaut, kann aber variieren: ob allein durch die Kopplung an das visuelle Geschehen oder weil spezielle musikalische Mittel, z. B. Leitmotive oder bestimmte Instrumente, zum Einsatz gekommen sind. In jedem Einzelfall muss herausgefunden werden, was wichtiger ist: ein »musikalischer Gedanke«, eine musikalische Variante davon oder aber die Tatsache, dass überhaupt Musik an bestimmten Stellen einsetzt oder aufhört.

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4.3.1  Filmmusikalische Topologien

Filmmusik steht mit einer Tradition musikalischer Topoi in Verbindung, die in beinahe ungebrochener Kontinuität außermusikalische Sujets oder Ideenwelten mit musikalischen Mitteln verknüpfen. Manche musikalische Gattungen haben daran einen besonders großen Anteil, vor allem und naturgemäß jene Gattungen mit Textbezug, z. B. Theatermusik, Kunstlieder und Charakterstücke, aber auch manche Konzertmusik. Mit nur wenigen musikalischen Mitteln ist es dadurch möglich, musikgeschichtlich gewachsene Bedeutungskomplexe zu assoziieren und mit dem Publikum zu kommunizieren. Untersuchungen zur Musikdramaturgie im Film können von der musikalischen Analyse filmmusikalischer Topologien profitieren, denn sie berühren ein Wesensmerkmal von Dramaturgie: die Korrelation einer konkreten Struktur mit dessen Wirkung in einem größeren Kontext. Filmmusikalische Topologien201 verbinden musikalische Strukturen mit musikund filmgeschichtlich gewachsenen Bedeutungen und mit deren dramaturgischer Funktion. Mithilfe musikalischer Analyse sind diastematische, rhythmische und harmonische Parameter, die Instrumentierung oder der Gestus von Filmmusik zu bestimmen, die Teil der musikalischen Sprache sind und filmmusikalische Topologien konkret realisieren. Da die semantische Qualität musikalischer Topoi über ein einzelnes Werk hinausgeht, können damit größere Themenfelder schnell und wirksam einen künstlerischen Ausdruck finden und mit dem Inhalt der erzählten Geschichte in Verbindung gebracht werden. In als Filmmusik verwendeten Musikstücken ebenso wie in eigens komponierter Filmmusik gehören  –  bewusst oder unreflektiert eingesetzt  –  musikalische Topoi zum Vokabular von Filmmusikschaffenden. Die musikalische Substanz filmmusikalischer Topoi ist mit Bedeutungen, Ideen oder einem Gestus behaftet, die sich im Kino immer weiter semantisch stabilisieren und nicht zwangsläufig bewusst erkannt und reflektiert werden müssen, um dennoch wirken zu können. Über Stile und Gattungen hinweg sind musikalisch-satztechnische Topoi je nach Hörerfahrung unterschiedlich intensiv sich auswirkende, expressive musikalische Mittel.202 In harmonisch-kontrapunktischen Modellen ebenso wie in Rhythmus, Diastematik und in einer durch die Instrumentation ausdifferenzierten Klangsemantik haben sich musikgeschichtlich über lange Zeit musikalische 201 202

Gorbman spricht in dem damit verbundenen Wortfeldbereich von »musical codes«, siehe: Gorbman (1987), Unheard melodies: Narrative film music, S. 13. Einen Überblick der musiktheoretischen Diskussion über »musikalische Topoi« gibt Hans Aerts (2007), »›Modell‹ und ›Topos‹ in der deutschsprachigen Musiktheorie seit Riemann«, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie ZGMTH.

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Topoi herausgebildet, die in »klassischer« Musik ebenso wie in Popmusik kontinuierlich weiterleben.203 Sowohl in vokalen Gattungen mit semantischem oder narrativem Bezug als auch in instrumentalen Gattungen kommen satztechnische Topoi vor. »Sie [satztechnische Topoi] bezeichnen, quer durch die Musikgeschichte und in fast allen Gattungen und Stilen, eine unauflösbare Einheit von kontrapunktischen und harmonischen Prinzipien, denen immer auch zugleich geschichtlich gewachsene Semantik anhaftet  –  daher, bei aller Problematik, die Bevorzugung des Topos-Begriffs. Dass bestimmte Modelle in bestimmten Gattungen, an bestimmten formal-dramaturgischen Positionen oder in Kontexten genau definierbarer Semantik immer wieder  –  kaum modifiziert oder individualisiert  –  von den Komponierenden abgerufen werden, ist wesentlicher Bestandteil ihres ToposCharakters und begründet auch grundlegende musikalische Verknüpfungsweisen. ›Modell‹ ist primär Struktur, ›Topos‹ die Einheit von Struktur und geschichtlich definierter Bedeutung/Funktion.« (Fladt 2005, S. 189)

Die Kinotheken der Stummfilmzeit, worunter Anfang des 20. Jahrhunderts pragmatisch organisierte Sammlungen und Hinweise für Kapellmeister eines Stummfilmorchesters verstanden werden können,204 sind Fundgruben dieser musikalischen und damit auch filmmusikalischen Topoi, die im Genrekino in moderner Gestalt weiterleben. Ein altes, fest etabliertes satztechnisches Modell mit Topos-Charakter ist der Lamento-Bass, der schon zu einem filmmusikalischen Topos geworden ist. Der absteigende Bassgang im oberen Moll-Tetrachord enthält am Ende die »enge« kleine Sekunde zwischen 6. und 7. Skalenstufe (Fa – Mi). In seiner diatonischen oder chromatischen Variante erklingt das Modell häufig, wenn Klage, Trauer oder Schmerz thematisiert werden. Dies zeigen die Drucke von Josquins Chansonmotetten Plusieurs regretz und Mille regretz aus der Mitte des 16. Jahrhunderts sowie Claudio Monteverdis Lamento d’Arianna aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert, die europaweit bekannt waren und Anfang einer westlichen kompositorischen Tradition sind, die diesen satztechnischen Topos in die Kunstmusik im oben beschriebenen Sinne integriert hat. Die Wiederentdeckung der Musik Johann Sebastian Bachs im 19. Jahrhundert förderte musikalische Anwendungsbeispiele dieses Modells von größter individueller und kreativer Vielfalt im welt203 204

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Vgl. hierzu die zahlreichen Beispiele in: Hartmut Fladt (2012), Der Musikversteher: Was wir fühlen, wenn wir hören. Kinotheken enthielten meist Particelle von neuen, bewährten oder schon existierende Kompositionen aus dem klassisch-romantischen Konzert- und Opernrepertoire, die unter bestimmten, auf eine Handlung zu beziehenden Stichworten einsortiert waren. Mit diesen Ausschnitten aus Kompositionen konnte ein Film im wörtlichen Sinne über Nacht vertont werden.

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lichen und geistlichen Kontext zutage, z. B. in der Ciaccona für Violine solo aus der Partita d-Moll (BWV 1004) oder im Crucifixus der h-Moll-Messe (BWV 232). Heute lebt der Topos zitiert, ironisiert oder modifiziert in der Popmusik fort, so in Hit the Road Jack von Percy Mayfield (ironisch-mehrdeutig) oder King of Sorrow der Band Sade (mit Überspringen der sonst üblichen 7., dafür Dopplung der 6. Skalenstufe [Fa] und nicht zuletzt als insistierende ostinato-Variation). Die Analyse zu C’era una Volta il West in Kapitel 2.3.2 (»Musik, Affekt und musikalischer Gestus«) und Memento in Kapitel 4.4.5 (»Analytische Fabel«) zeigen die Verwendung dieses satztechnischen Topos in einem kulturell einzugrenzenden Bereich und weisen zugleich auf Abwandlungen hin. Die Tatsache, dass musikalische Topoi in mindestens ebenso vielen Beispielen auch ohne die ihnen anhaftende Semantik verwendet werden, stellt ihre Wirksamkeit keineswegs infrage.205 Die Gleichzeitigkeit verschiedener Hör- bzw. Rezeptionserfahrungen oder die Tatsache, dass nur in einigen Fällen die Referenzialität konkret nachgewiesen werden kann, können nicht als Argument gelten, dass die Wirkungsweise der musikalische Topoi generell nicht gegeben sei. Wichtig ist vielmehr, ob ein narrativer oder sonstiger Kontext die Bereitschaft auslöst und Fähigkeiten freisetzt, semantische Implikationen für die Herstellung und Rezeption von Musik zu nutzen. Linda Maria Koldau analysiert in ihrem Artikel zu kompositorischen Topoi im Kino den schon angesprochenen charakteristischen Moll-Tetrachord des Lamento-Basses, Ostinato-Figuren und musikalische Motive aus großen und kleinen Sekunden. Sie schreibt abschließend zu den Eigenschaften und Rezeptionsbedingungen: »Freilich ist aus den Erfordernissen filmischer Gestaltung nicht zu schließen, dass Filmkomposition nichts anderes sei als das Spiel mit etablierten musikalischen Topoi, die der Unterstützung der visuellen Ebene und der Handlung dienen. Eine derartige Vereinfachung ginge am Wesen der Filmmusik vorbei. Ihr ist in erster Linie entgegenzuhalten, dass ein Filmscore aus weit mehr besteht als aus derartigen Topoi: Musikalische Topoi sind lediglich rudimentäre Grundstruktu205

Vgl. hierzu die Ausführungen zu »falschen Identifikationen« im Kap. 2.3.5 (»Mitaffekt und Eigenaffekt«) und dort die Anmerkung zum Film Der Untergang (D/AT/I 2004, R. Oliver Hirschbiegel). Der dort eingesetzten Arie When I’m laid in earth aus Dido and Aeneas von Henry Purcell liegt die chromatische Version des Lamentobasses zu Grunde. Während in der Oper die Arie zum quälend langsam ablaufenden, tragischen Selbstmord der verlassenen Dido erklingt, eindringlich Klage und Leid ausdrückt und den Seelenschmerz sinnlich und ästhetisch erfahrbar werden lässt, bleibt die topologische Beziehung zum Film, seiner Aussage, seinen Figuren und deren Konflikten unklar. Sollen wir angesichts des Untergangs der Nazidiktatur mit Albert Speer trauern, mit Traudl Jung, mit »den Deutschen«?. Der Einsatz der Arie kann in diesem Film daher als deplatziert, dem Thema nicht gerecht werdend und die Wirkung der Musik effektheischend und sentimental verengend bezeichnet werden.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse ren, die auf unendlich vielfältige Weise gefüllt werden können – und auf ebenso vielfaltige Weise mit anderen musikalischen und filmischen Parametern zusammenwirken.« (Koldau 2008, S. 268) Um die intendierte filmische Aussage zu stützen, bedarf es des Einsatzes spezifischer musikalischer Mittel und einer genauen Abstimmung auf die anderen Parameter einer Filmszene; hilfreich ist hierbei in vielen Fällen der Rückgriff auf Topoi und Konventionen in der westlichen Komposition. Die Verwendung solcher Topoi wird dadurch befördert, dass beim Publikum eine Kompetenz in ihrer  –  oft unbewussten  –  Rezeption und Deutung vorauszusetzen ist. […] Gerade die Verwendung musikalischer Topoi im Film führt hier zu einer spezifischen Medienkompetenz: Die Verbindung musikalischer Strukturen mit bestimmten Szenentypen (z. B. Verfolgungsjagden; anwachsende Spannung und Bedrohung; Liebesszenen; Ausbruch von Unheil) verleihen der Musik kommunikative und emotional wirksame Fähigkeiten, die auch von einem Publikum ohne spezielle musikwissenschaftliche Bildung erfasst werden können – einfach, weil dieses Publikum sein Leben lang derartige Szenen mit entsprechender musikalischer Unterlegung rezipiert hat.« (Koldau 2008, S. 270)

Eine immer wieder zu findende Argumentation gegen die Wirksamkeit musikalischer Topoi basiert auf der Beobachtung, dass die Satzmodelle (vor allem in ihren »rudimentären« Varianten) auch ohne die assoziierten Themenfelder in Erscheinung treten und daher keine Gültigkeit hätten. Doch die Antwort auf diese Gegenthese liegt bereits in der Argumentation selbst: Die Wirksamkeit eines (film)musikalischen Topos tritt durch die Andeutungen eines Kontextes hervor. Sobald semantische Implikationen, die durch das Visuelle, Figur, Ge­­ schichte, Dialog, Schrift und andere Texte hinzutreten und mit der Musik zusammenwirken, kann sich ein Themenkomplex herausbilden und zugleich ein weiteres Stück neu geformt werden. Filmmusikalische Topologien basieren nicht nur auf schon existierender Musik außerhalb des Kinos, sondern entwickeln sich (z. B. durch den von Koldau beschriebenen Prozess) auch innerhalb des Mediums Film. Beispiel: Gladiator (USA/GB 2000, R.  Ridley Scott, M.  Hans Zimmer, Lisa Gerrard) Die Analyse zu Gladiator in Kaptitel 4.5.3 (»Das Zusammenwirken von Sujetbezug und Fabelzusammenhang«) zeigt auch, wie durch die Verwendung der Duduk in der jüngeren Geschichte der Filmmusik ein filmmusikalischer Topos gewachsen ist. Der Film hat diesen Topos erzeugt, und er findet sich in darauffolgenden Produktionen seither erneut (siehe die Nennungen und Beschreibungen im genannten Kapitel). Die charakteristische Klangfarbe der Duduk und der

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4.  Filmmusik und Analyse durch die Spielweise dieses Doppelrohrblattinstrumentes charakteristische melodische Duktus haben einen Bedeutungskomplex ausgebildet, der sich im Wesentlichen durch drei bis vier Merkmale abstecken lässt: melancholische Grundstimmung meist in Kombination mit einem exotisch-fremden Sujet, schicksalhaft-unausweichlicher Verlust, unerfüllte Liebe, allgemeines Symbol für innere Bewegtheit des edlen Charakters. Für die Dramaturgie von Gladiator – dem Film, der diesen filmmusikalischen Topos zwar nicht allein hervorgebracht, jedoch im Mainstreamkino verankert hat206 – ist es von entscheidender Bedeutung, dass die edle Seite im Charakter der Hauptfigur Maximus und sein höheres Ziel mithilfe der Duduk verdeutlicht werden und zudem im Verlauf präsent bleiben. Ein bloß erfolgreich tötender Held würde nicht die notwendige Identifikation und Einfühlung hervorrufen und nicht den langen Umweg, den die Geschichte nimmt, rechtfertigen. Aus einer Rachegeschichte wird so die Geschichte eines Mannes, der seinen Weg bis zu Ende geht, um wieder vereint zu sein mit seiner ermordeten Familie, selbst wenn dies mit dem Tod des Helden enden muss.

Für filmmusikalische Topologien lassen sich zwei Tendenzen beschreiben: – Gezielter oder intuitiver Rückgriff auf die musikalische und filmmusikalische Tradition und damit Rückgriff auf bestehendes Publikumswissen für neu komponierte Musik, nach Vorbildern komponierte Musik und beim Einsatz von bestehender Musik, die aufgrund ihrer semantischen Implikationen als passend (Illustration, Andeutungen, Assoziationen usw.) empfunden wird. – Neue Konditionierung des Publikums im Verlauf eines Films. Die erklingende (komponierte oder präexistente) Musik ist wenig, nicht eindeutig oder gar nicht semantisch belegt, bekommt aber durch die Art und Weise ihres Einsatzes innerhalb eines Films und im Laufe der Spieldauer eine entsprechende Bedeutung. Die Dauerhaftigkeit einer solchen semantischen Setzung kann stark variieren und hängt auch von Genre, Stil und dominierenden Anteilen der Narration ab, insbesondere vom Vorhandensein von stereotypengeleiteteten Strukturen207, an die sich musikalische Topoi leicht heften lassen.

206 207

Vgl. auch Wagenknecht (2020), »Immer wenn die Duduk spielt«, in: Heldt, Krohn, Moormann und Strank [Hg.], Musik im Vorspann. Siehe dazu das Strukturmodell von Wuss in Kap. 1.1.6 (»Die ›Fabel‹ [mythos, story]«).

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

4.3.2 Musikalischer Ausdruck des Filmthemas und Einfluss auf narrative Strukturelemente

Musikalische Analyse von Filmmusik kann zeigen, wie Musik einen eigenen musikalischen Ausdruck dafür finden und beisteuern kann, was in der Geschichte verhandelt wird bzw. Thema eines Films ist. Beispiel 1: The Hours (The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit, GB/USA 2002, R. Stephen Daldry, M. Philip Glass) In The Hours enthält die Musik zur Eröffnung gleichzeitig mehrere rhythmische Ebenen, die sich nach und nach überlagern. Es entstehen bei der größten Verdichtung mehrere Konfliktrhythmen (Achtel gegen Achteltriolen gegen Sechzehntel: 2:3:4 und Viertel gegen Halbetriolen: 4:3). Weil in den Überlagerungen der Metren die Untergliederung von Zeitabschnitten musikalisch thematisiert wird, kann im intuitiven Hörerlebnis Zeit oder sogar Zeitlosigkeit assoziiert werden. Damit berührt die Musik einen zentralen Aspekt der Geschichte, deren Fabel sich über mehrere Figuren und Zeitebenen hinweg entfaltet. Visuelle und musikalische Mittel tangieren in je eigener künstlerischer Weise die Grundidee aus Virginia Woolfs Geschichte, treffen sich aber dabei zugunsten dramaturgischer Wirksamkeit an wichtigen Stellen, die in der Eingangssequenz exemplarisch vorgeführt werden. Diese Exposition sensibilisiert somit für die notwendige Aufmerksamkeit, um die Entwicklung der Geschichte weiter zu verfolgen.208 Beispiel 2: A Beautiful Mind (USA 2001, R. Ron Howard, M. James Horner) In A Beautiful Mind habe James Horner laut eines Artikels von Frank Lehman (Lehman 2013) eine musikalische Variante vom Kaleidoscope of Mathematics komponiert, welche die Schönheit der Mathematik nicht nur in Zahlen, sondern auch in Musik ausdrücken könne. Terzverwandte Klänge mit mindestens einem gemeinsamen Ton und chromatische Rückungen ergäben einen musikalischen Kaleidoskopeffekt, der immer neue Muster aus den gleichen Bausteinen ergibt. Ähnlich der persönlichen Faszination des Protagonisten für mathematische Muster ergänzt das musikalische Bild davon diesen Aspekt des Themas und führt zu einer Form des audiovisuellen Ausdrucks. Diese Analyse kann zwar insofern kritisiert werden, als dass die genannten musikalischen Mittel zur generellen Tonsprache

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206

Vgl. die umfangreichere Analyse in: Robert Rabenalt (2013), »Der Einsatz von Musik und Ton bei Varianten des multiperspektivischen Erzählens«, in: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung 9.

4.  Filmmusik und Analyse des neuromantischen Hollywoodkinos gehören und vielfach auch in anderen Kontexten in ganz ähnlicher Form eingesetzt werden. Als verbindenden Topos sehe ich dennoch den Aspekt des erhabenen Staunens und gegebenenfalls des Zauberhaften, der durch diesen musikalischen Topos zum Ausdruck gebracht und verstanden werden kann.

Musikalische Analyse führt zu Einsichten in das Zusammenwirken von Musik und Filmdramaturgie, wenn der musikalische Einfluss auf narrative Strukturelemente deutlich wird. »Der rote Faden der Filmgeschichten« (Wuss 1992) besteht aus einer Kombination von konzeptgeleiteten, perzeptionsgeleiteten und stereotypengeleiteten Strukturelementen, mit anderen Worten und verkürzend gesagt: aus Kausalketten, Topikreihen und narrativen Klischees, ohne die ein Erzählfluss herzustellen schwierig wäre. Es gehört zur Filmdramaturgie, eine zu Thema und Geschichte passende Balance zwischen vertrauten Erzählmustern und ihrer intertextuellen Pluralität, stabilen und instabilen Strukturelementen sowie überraschenden Anteilen der Narration zu finden. Wenn es mit musikalischer Analyse gelänge herauszuarbeiten, welche musikalischen Strukturen mit bestimmten Strukturmustern zusammenwirken, würde sie die dramaturgische Bedeutung von Filmmusik konkret belegen können. So kann beispielsweise herausgearbeitet werden, wie musikalische Klischees, die oft an narrative Klischees gebunden sind, durch Verfremdungstechniken so verwandelt werden, dass sie universell wirksam bleiben und trotzdem interessant wirken. Die Erneuerung von narrativen Stereotypen kann für die richtige Balance aus Vertrautheit und Unvorhersehbarkeit sorgen, z. B. durch den ungewöhnlichen Einsatz von Musik oder durch in der Musik selbst enthaltene kompositorische Mittel, die einen geeigneten musikalischen Gestus erzeugen. Ein tieferer Sinn der musikalischen Analyse ergibt sich besonders im zuletzt genannten Fall.209 Leitmotivtechnik ist (nicht nur in ihrer musikalischen Realisierung) eine dramaturgische Option, um Zusammenhänge auch dann präsent werden zu lassen, wenn sie sich aus zurückliegenden oder noch kommenden Abschnitten der Handlung herleiten. Musikalische Leitmotivtechnik erlangt ihre Bedeutung vor allem dann, wenn die Verbindung zu räumlich oder zeitlich entfernten Zusammenhängen angedeutet werden, die sonst nicht zu sehen sind und nicht im Dialog genannt werden. Die musikalische Analyse ist hier unerlässlich, weil Musik als Leitmotiv

209

Siehe dazu die Analyse zu C’era una Volta il West in Kap. 2.3.2 (»Musik, Affekt und musikalischer Gestus«).

207

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Strukturelemente semantisiert. Im Netzwerk der musikalischen und der narrativen Strukturen des Films ist die musikalische Analyse von Leitthemen und Leitmotiven per se musikdramaturgische Analyse.210

4.3.3  Grenzen der musikalischen Analyse

Dramaturgische Standardsituationen, die Strukturen und Wirkungen in konventionellen narrativen Kontexten kennzeichnen (z. B. Bedrohung, Verwechslung, Erkennung, retardierendes Moment), sind ohne Musik meist so verständlich, dass das Vorhandensein von Musik nur durch Gewohnheit begründet werden kann. Dennoch gelangt oftmals gerade dann viel Musik zum Einsatz. Die musikalische Analyse kommt hier an eine Grenze, da die Musik dann austauschbar wird und lediglich einem Gewohnheitseffekt dient. Die musikalische Analyse von austauschbarer Musik führt zu keinen weiter reichenden Erkenntnissen, sondern bestätigt allenfalls das Offensichtliche. Auch für Musik mit Zitatfunktion ist die Aussagekraft musikalischer Analyse begrenzt. Erkennen wir das Zitat, setzen Wirkungsmechanismen ein, die mit musikalischer Analyse nicht erfasst werden können.211 Es besteht im Gegenteil sogar die Gefahr, dass musikalische Analyse ein hilfloser Versuch bleibt, der zu Überinterpretationen führt. Ein oft bemühtes Beispiel aus Stanley Kubricks Film 2001: A Space Odyssee (Odyssee im Weltraum, GB/USA 1968) kann diese Grenzen der musikalischen Analyse verdeutlichen. Warum wurde die Musik von Richard Strauss (Also sprach Zarathustra) der Originalmusik von Alex North vorgezogen, obwohl North im musikanalytischen Vergleich den Vorbildern (darunter auch das als temporary track eingesetzte Scherzo aus Mendelssohns Sommernachtstraum op. 61, das durch Johann Strauß’ An der schönen blauen Donau ersetzt wurde) sehr nahekommt?212 Die musikalische Vergleichbarkeit der Musik von Alex

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208

Siehe dazu die Analyse zu C’era una Volta il West in Kap. 4.6.8 (»Filmmusikalisches Leitmotiv«). »Zitatfunktion« bedeutet hier nicht, dass eine konkrete Funktion benannt wird, welche ein Zitat ausfüllt, sondern nur, dass Musik als Zitat (wieder-)erkannt wird. Dass Alex North die Musik von Mendelssohn und von R.  Strauss, die möglicherweise zunächst nur als temporary track gedacht waren, als kompositorische Vorlage genommen hat, ist stark zu vermuten, da fast alle musikalischen Parameter prinzipiell übereinstimmen. Als Grundlage für die musikalische Analyse können zwei Einspielungen von Norths Musik auf CD genommen werden: Die CD mit den originalen Aufnahmen zum Film von 1968 »Music for 2001: A Space Odyssey – The Original Score by Alex North« Track 4 Bones, Intrada 2007 und die Neuaufnahme unter Jerry Goldsmith (in stereo): »2001 The Legendary Original Score«, Track  1 Main Title, Varese Sarabande 1993. Die ebenfalls verwendeten Musikstücke von György Ligeti und Aram Chatschaturjan bleiben hier nur deswegen unerwähnt, weil für sie

4.  Filmmusik und Analyse

North und der Vorlage von Richard Strauss für die Szene, in der ein Knochen als Werkzeug funktionalisiert wird, ist so groß wie selten in der Filmgeschichte. Die Wirkung ist dennoch sehr unterschiedlich, sodass die Ursachen dafür kaum allein im Musikalischen liegen können. Beispiel: 2001: A Space Odyssee (Odyssee im Weltraum, GB/USA 1968) Der musikalische Vergleich zwischen Alex Norths Musik Main Title bzw. Bones mit dem Beginn von Richard Strauss’ Also sprach Zarathustra in Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssee zeigt, dass Stücke, die sich im Gestus und in der Verwendung musikalischer Topoi, Instrumentation usw. sehr ähneln, dennoch ganz verschiedene Wirkung haben können. Während Norths Musik die berühmte Szene, in der der Affe den Knochen als Werkzeug entdeckt, illustriert und mit viel Pathos auflädt, bewirkt der Status des Zitats, der der Musik von Strauss’ Zarathustra zukommt, eine Umkehr der Hierarchie zwischen visueller und auditiver Schicht: Das Zitat weist darauf hin, dass eine über der Handlung stehende Idee bebildert wird, für die die konkrete Handlung lediglich ein szenischer Einfall ist. So verschiebt sich die Rezeptionshaltung. Die musikalische Analyse vermag hier nicht den dramaturgischen Sinn zu erfassen, der darauf abzielt, den Film nicht auf konventionelle Art zu lesen, sondern dem Werk mit einer anderen, angemessenen Strategie der Deutung und Entschlüsselung entgegenzukommen. Die Komposition Also sprach Zarathustra spiegelt bei Strauss eine musikalische, von der Tradition der Romantik geprägte subjektive Reaktion213 auf Motive in Nietzsches Text wider (z. B. Umwertung aller Werte, Infragestellung von Gott und Religion, Sinngebung, Neubeginn aus sich selbst), die dort schon nicht restlos übersetzt werden können und Leerstellen, Brüche und Widersprüche zeigen. Als eine Gemeinsamkeit kann ggf. das Verständnis der Autoren (Strauss und Kubrick) als Künstler gelten, die über Genregrenzen hinweg »dichten«. Die Musik im Film (Strauss’ Zarathustra) kann aufgrund ihrer Rezeptionsgeschichte als Zitat erkannt werden, bleibt aber als philosophischer Verweis an Nietzsches Denken nur noch Anspielung und kann in ihrer inhaltlichen Bedeutung für den Film kaum zufriedenstellend aufgeschlüsselt werden. Im Film regt die Musik aber vielleicht gerade dadurch das Assoziieren im Sinne der »poetischen Logik« (Tarkovskij) an. Sie kündigt etwas Größeres als die Handlung selbst an. Durch den match cut zwischen fliegendem Knochen und Raumschiff folgt der Ankündi-

213

die Zitatfunktion nicht zutrifft, d. h. dass zu der Zeit der Veröffentlichung des Films kaum jemand die Konzertmusik von Ligeti und das bis dahin selten zu hörende Stück von Chatschaturjan erkannt haben mag. Vgl. Kap. 1.2.2 (»Programmmusik oder Ideenkunstwerk?«).

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse gung auch eine visuelle Umsetzung, die wiederum erst entschlüsselt werden muss und nicht restlos erfasst werden kann. Vermutlich gerade der Fakt, dass man gar nicht zwingend die genauen philosophischen Details aus Strauss’ bzw. Nietzsches Zarathustra kennen muss, macht das Zitat für diesen Effekt interessant. Zitate von Strauss’ Zarathustra in anderen Filmen bauen hierauf auf. Die Anspielungen funktionieren in der Folge als Mittel der impliziten Dramaturgie mit mal ernstem, z. B. in Being There (USA 1979, R. Hal Ashby), mal komischem oder ironischem Kommentar, z. B. in Wall•E (USA 2008, R. Andrew Stanton).214

Das Beispiel gibt zugleich einen Eindruck von der Wirkungsweise von Musik als implizitem Dramaturgieanteil, der musikalische Analyse als nachrangig erscheinen lässt. Die musikalische Analyse der Filmmusik hat gegenüber der Verweisfunktion und der Kontextualisierung (Anspielungen auf Kontexte, die aus der Lebenswelt der Filmschaffenden oder des Publikums stammen und die besonders für die Deutung einer Geschichte wichtig sind) eine geringe Bedeutung. Ein weiteres, außerhalb des rein Musikalischen liegendes Argument  –  und damit ein Argument für die begrenzten Möglichkeiten der musikalische Analyse von Filmmusik – kann angeführt werden: Wenn Musik die anderen Bestandteile der Tonspur überlagert, insbesondere wenn in der Filmmischung Musik den szenischen Ton verdrängt, ist das Fehlen des Tons aus dem Handlungsraum und die stärkere akustische Gewichtung der beigeordneten Musik ein oftmals gewichtigeres Mittel als die konkrete musikalische Komposition. Die Wirkung der Musik beruht dann auf der verallgemeinernden Tendenz, die als eine generelle Eigenschaft der zweiten auditiven Ebene angesehen werden kann. Für die Musik bleibt dann relativ viel Spielraum für die konkrete Wahl der musikalischen Mittel, weil die dramaturgische Bedeutung über das Verhältnis der auditiven Ebenen zueinander realisiert wird.215

4.4  Fabelzusammenhang der Filmmusik

Ein zentraler Ansatzpunkt musikdramaturgischer Analyse ist der Fabelzusammenhang der Filmmusik. Die These vom Fabelzusammenhang der Filmmusik ist eine der Konsequenzen aus den bisher angestellten Untersuchungen zur Musik-

214 215

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Für andere als die hier genannten filmmusikalischen Verweise durch Strauss’ Zarathustra und weitere Thesen zur Kontextualisierung siehe: Strank (2017), »Überlegungen zur Intertextualität von Filmmusik«, S. 78 f. Siehe auch das Kap. 4.7.4 (»Modell der auditiven Ebenen«) und speziell die Analyse zu Platoon.

4.  Filmmusik und Analyse

dramaturgie im Film. Mit diesem Konzept wird es möglich, an fast jedem Punkt der Filmerzählung, z. B. einem Wirkmoment, an dem auch Filmmusik beteiligt ist, aber auch an vielen anderen Stellen eines Films die Bedeutung dieses Moments mit der Anlage der Geschichte in Beziehung zu setzen und die Rolle der Musik an der Wirkung zu untersuchen. Wirkmomente sind nur möglich, wenn das narrative Umfeld und die filmischen Mittel koordiniert darauf hinwirken. Sie stellen nicht selten einige der wenigen Momente dar, in denen sich die Fabel auch in einer konkreten Handlung zeigt. Zusammenhänge, die von der Filmmusik dabei hergestellt werden, verweisen auf die Konstellation aus Figur, Konflikt und Handlungsablauf. Dieser Zusammenhang ist die Grundlage für viele darauf aufbauende Strukturen und Konfliktdispositionen und damit für die grundsätzliche Richtung der Wirkung von Filmmusik. Eine Erweiterung des Konzeptes von Fabel und Sujet, um es auch auf neuere Erzählformen anwenden zu können, findet sich bei Wuss (Wuss 1992, Wuss 1993/1999, Wuss 2009) und Eco (Eco 1973/1977, Eco 1979/dt. 1987), blieb aber für die Filmmusikforschung bisher ungenutzt. Die damit in Verbindung stehenden Phänomene konnten daher bisher nicht fokussiert oder systematisch untersucht werden und wurden allenfalls vereinzelt mitdiskutiert.

4.4.1  Definition Fabelzusammenhang der Filmmusik

Bei Berücksichtigung von Begriffen, die für Fabel und den Fabelzusammenhang der Filmmusik stehen könnten, zeigt sich ein eher verwirrendes Bild, das in den Kapiteln 1.1.6 und 1.1.7 ausführlich diskutiert wurde. Begriffliche Neuschöpfungen oder Wiederbelebungen alter Terminologie, Bedeutungsähnlichkeiten verschiedener und Bedeutungsunterschiede gleicher Begriffe gehören derzeit zum keineswegs konsistenten terminologischen Feld der Filmmusikforschung, in dem Narratologie, Theaterdramaturgie, Musikwissenschaft, Filmpraxis, Psychologie und andere Bereiche sich treffen.216 Von Fabelzusammenhang der Filmmusik kann gesprochen werden, wenn Musik im Film das Prinzip der Handlungseinheit (Komposition und Organisation) bzw. konstituierende innere Zusammenhänge zwischen Figur, Konflikt und Handlung stützt oder verdeutlicht.

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Zur Debatte über die Terminologie für narrative bzw. dramaturgische Phänomene der Filmmusik vgl. die Beiträge in Manuel Gervink und Robert Rabenalt [Hg.] (2017), Filmmusik und Narration: Über Musik im filmischen Erzählen.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Die vorgeschlagene Terminologie mag veraltet klingen, hat aber für die hier eingenommene Perspektive immer noch Berechtigung, weil das Grundlegende, das organisierend hinter einer Geschichte gesetzt ist, sonst keinen Namen erhält. In der Fachliteratur wird das Phänomen des Fabelzusammenhangs der Filmmusik mit immer anderen und manchmal umständlichen Worten angesprochen, wie dieses Zitat exemplarisch zeigen soll: »Oberstes Gebot ist die Ganzheit des Konzepts. Ganzheit nicht in einem harmonisierenden Sinne, sondern als kontrollmäßiger Überblick.« (Schneider 1986/1990, S. 106). Schneider und die meisten anderen Autorinnen sprechen bereits wichtige Aspekte des Fabelzusammenhangs der Filmmusik an, allerdings ohne die »Ganzheit« zu erklären und ohne Fabelkonzepte zu benennen oder zu systematisieren. Zur vertiefenden Betrachtung der dramaturgischen Wirksamkeit von Filmmusik wurde der Fabelbegriff bisher nur bei Zofia Lissa (Lissa 1965) und erst 40 Jahre später wieder bei Peter Rabenalt (Rabenalt 2005) gebraucht. Lissa greift für ihr Verständnis von der Fabel auf Roman Ingarden (Ingarden 1931/1972) zurück. Laut Ingardens Theorie besteht ein Kunstwerk aus mehreren Schichten, z. B. der sprachlichen Schicht, der Schicht der Bedeutungen und der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeit u. a. m. Lissa sieht demnach wie Ingarden die Fabel als separate ontologische Schicht des Films an.217 Claudia Bullerjahn zitiert Bordwells Verständnis von fabula (Bullerjahn 2001, S. 241 f.), das in Kapitel 1.1.6 (»Die ›Fabel‹ [mythos, story]«) und 1.1.7 (»Das FabelSujet-Begriffspaar«) bereits kritisch beleuchtet wurde, schreibt aber später, dass »das Hauptinteresse des Publikums auf dem Verfolgen des Fabelverlaufes liegt« (Bullerjahn 2001, S. 299). Der Fabelbegriff wird allerdings unscharf, wenn er synonym für Handlungsverlauf verwendet wird.218 Erinnert sei daran: Die Fabel ist nicht die Handlung, der die Zuschauer folgen, sondern steht für die generelle Anlage einer Geschichte, ihr organisierendes Prinzip und stellt den erst später bewusst werdenden Handlungszusammenhang her. Die Fabel gibt der Narration den Rahmen, Ausgangspunkt, Blickwinkel, die emotionale Ausrichtung oder Grundrichtung. Der Begriff Fabel scheint mir dafür besonders geeignet zu sein, da ansonsten vage Umschreibungen nötig werden. Dafür müsste der Fabelbegriff

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Die Rolle Ingardens für die moderne Erzähltheorie (und wie Todorov und damit Genette darauf aufbauen) ist bisher entweder unterschlagen oder kaum aufgearbeitet worden. Für diesen Hinweis und weitere zur Fabel bei Zofia Lissa bedanke ich mich ausdrücklich bei Dr.in Anna Igielska. So auch in Bullerjahns Artikel »Psychologie der Filmmusik« in: Frank Hentschel, Peter Moormann [Hg.] (2018), Filmmusik, Ein alternatives Kompendium, S. 188.

4.  Filmmusik und Analyse

aber von der literarischen Gattung, z. B. der Tierfabel, gelöst und für offene Formen erweitert werden. Die Bezeichnungen Filmfabel oder Fabelzusammenhang würden dabei helfen. Treffend hat Kurt Weill in einem Interview einen Gedanken geäußert, der dem hier dargelegten Konzept vom Fabelzusammenhang zuzuordnen ist. In Kapitel 3 wurde er schon zitiert, soll wegen seiner Klarheit aber nochmals erwähnt werden. Musik im Film trage dadurch zur »Filmeinheit« bei, »dass sie den inneren Höhepunkt des Films erfaßt, der durchaus nicht mit dem äußeren Höhepunkt des Filmgeschehens zusammenfallen muss« (Weill 1927/2000, S. 438). Der Unterschied zwischen innerem Zusammenhang und äußerlich sich zeigender Handlung wird dadurch genauso angesprochen wie die Kongruenz dieser beiden Ebenen in ausgewählten Momenten des Filmverlaufs. Ein wichtiges Wirkungsfeld der Filmmusik ergibt sich aus ihrer Eigenschaft, sich der Objektivität der dargestellten Vorgänge zu entziehen und – darauf beruhend – aus ihrem Potenzial, parallel zur konkreten Handlung auch die inneren Zusammenhänge jederzeit abstrahiert und durch eine ideelle oder emotionale Resonanz auszudrücken. Daher erscheint Filmmusik als besonders geeignetes Mittel, um Ereignisse mit der im Hintergrund wirkenden Fabel oder bestimmten Aspekten einer Fabelidee zu verknüpfen. Der Fabelzusammenhang der Filmmusik ist strukturell (für den Zusammenhalt), wahrnehmungspsychologisch (als framing, das die Interpretationsleistung lenkt), für die Sinnkonstruktion und zur Deutung wichtig. Konkret entsteht ein Fabelzusammenhang, wenn Filmmusik das Zusammenwirken zwischen dem Ausgangspunkt einer Handlung, dem eingenommenen Blickwinkel auf das Geschehen und dem Grundkonflikt der Figuren verdeutlicht oder parallel zur äußeren Handlung einen inneren Höhepunkt der Handlung spürbar werden lässt. Der Fabelzusammenhang erschließt sich – wie die Fabel selbst – erst nach und nach. Er bezeichnet die mit Musik hergestellten Bindungsgesetze und Strukturen, die eine gewählte Filmform, den Grundkonflikt und die Perspektive auf das Geschehen stützen.

Durch das Erfassen eines Fabelzusammenhangs erschließt sich die gesamte Anlage eines Films, dessen Rezeptionsvorgaben sich vor dem Hintergrund der Fabelidee rechtfertigen lassen. Mit dem Fabelzusammenhang der Filmmusik können Wirkungsbereiche von Musik bezeichnet werden, die über die Intensität einzelner Filmszenen hinaus wirken. Die folgende Grafik symbolisiert zum einen die wichtigsten Komponenten der Fabel (Thema bzw. Konflikt, Blickwinkel und Verlauf der Handlung), zum anderen wo Filmmusik Wechselwirkungen der aufeinander bezogenen Komponenten beeinflussen kann (Pfeile). (s. Abb. 8)

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Ausgangspunkt und Blickwinkel

Fabel Thema oder Figurenkonflikt

Verlauf der Handlung

Abb. 8: Grafik Fabelzusammenhang der Filmmusik

Die Fabel als bindendes und organisierendes Prinzip der Handlungskomposition bildet den »roten Faden der Filmgeschichten« (Wuss 1992). Dem roten Faden folgen heißt letztlich, bewusst oder unbewusst Bindungsgesetze, die sich aus der grundlegenden Disposition und aus dem Ablauf der Ereignisse ergeben, herauszufiltern. Die Fabel manifestiert sich nur manchmal in besonders wichtigen konkreten Teilhandlungen. Ihre wesentliche Bedeutung erhält sie dadurch, dass sie eine Beziehung der Teilhandlungen zueinander und zum generellen Thema der Geschichte setzt.

Seitdem Filmmusik zu immer komplexer erzählten und filmisch aufbereiteten Geschichten erklingt, wird ihr Einsatz auch mit Blick auf ihren Bezug zur Fabel bestimmt. Die Beurteilung über gelungene oder nicht gelungene Filmmusik hängt nicht selten auch davon ab, ob die aus dem Hintergrund heraus wirkenden Kräfte einer Fabel mithilfe der Filmmusik zur Geltung kommen. Die Fabel kann als übergeordnete poetische Instanz angesehen werden, vor der sich der Einsatz von Musik im Film rechtfertigen kann. Wegen der offenen, komplexen Wirkungsweise von Musik ist es möglich, dass der Fabelzusammenhang der Filmmusik tiefer liegende innere Verbindungen zwischen den Geschehnissen verdeutlichen kann, während gleichzeitig einige musikalische Elemente der Filmmusik auch auf das Oberflächengeschehen eingehen, d. h. auf die äußerlichen Zusammenhänge der konkreten Handlung. Bei der Analyse einer Szene fällt häufig nur ein Wirkungsbereich der Filmmusik auf. Wird die Szene aber in einen größeren dramaturgischen Kontext gestellt, kann sich ein Fabelzusammenhang und damit eine Erklärung für eine bestimmte Art von Musik zeigen, die sich aus

214

4.  Filmmusik und Analyse

der offensichtlichen Beziehung von Musik und Bild sonst nicht ergibt. Ohne den größeren dramaturgischen Kontext, der sich über weite Strecken mit der Fabel assoziieren lässt, kann es bei der Analyse von Filmmusik sogar zu Fehlinterpretationen der oberflächlichen Musik-Bild-Kopplung kommen.

4.4.2  Thesen zum Fabelzusammenhang der Filmmusik

Unter Zuhilfenahme der Terminologie, die von Volker Klotz (Klotz 1960/1999) für die Dramentheorie etabliert wurde, können tendenziell »offene« und tendenziell »geschlossene« Konzepte für die Fabel unterschieden werden.219 Geschlossene Fabelkonzepte sind demnach gekennzeichnet einerseits durch die Einschränkung auf meist einen zentralen Helden und raumzeitliche Überschaubarkeit, wobei semantisch stabile Kausalketten den Handlungsaufbau bestimmen. Diese Fabelkonzepte beruhen auf einem hohen Maß an Einfühlung in Figuren und Konflikte seitens des Publikums. Offene Fabelkonzepte verlagern die Bedeutung der Fabel und des Fabelzusammenhangs der Filmmusik weg von der Handlung bzw. den Figurenkonflikten mehr hin zum generellen Thema und dem dazu eingenommenen Blickwinkel. Sie zeigen damit eine Nähe zum oben bereits besprochenen gestischen Prinzip.220 Offene Fabelkonzepte werden manchmal auch episch (wegen Brechts Theorie vom »epischen Theater«), dedramatisiert oder sujetlos genannt, weil nicht die auf Interessenkonflikten beruhende kollidierende Handlung als treibende und verbindende Kraft fungiert, weil die Verschärfung und Lösung eines Konfliktes als zentrale Fabelideen fehlen oder die Handlung durch semantisch instabile Motive oder Topik-Reihen verknüpft wird, die eine breite Deutung der Vorgänge zulassen. Beispiel 1: The Godfather (Der Pate USA 1972/1974, R. Francis Ford Coppola, M. Nino Rota) Eine der einflussreichsten Filmmusiken hat Nino Rota für The Godfather I + II (Der Pate I + II, USA 1972 + 1974) komponiert. Sie wurde erst kritisiert, weil die Produzenten sie für einige Szenen als nicht geeignet ansahen. Ihre Qualität liegt allerdings nicht in der Illustration der konkreten Handlung oder des Milieus. Ihre Wirkung erwächst vielmehr aus dem Fabelzusammenhang. Die Verortung der

219 220

Siehe hierzu im Kap. 1.1 den Exkurs 1 (»Geschlossene und offene Form«). Vgl. Kap. 2.3.2 (»Musik, Affekt und musikalischer Gestus«).

215

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse Fabel im Sujet der Mafia (d. h. mit den daran verbundenen narrativen Mustern) ist dabei nur ein Aspekt. So konnten Walter Murch und Francis Ford Coppola die Kritiker von Rotas Musik für die Szene, in der der Filmproduzent den abgetrennten Pferdekopf in seinem Bett findet (0:31:00–0:32:15), erst durch eine eigens hergestellte Collage aus dissonierenden Varianten des Hauptthemas überzeugen. Die Fabelidee in The Godfather ist einfach, aber wirkungsvoll: Die Hauptfigur Michael Corleone setzt alles daran, nicht Teil der kriminellen Machenschaften des Clans zu werden, wird aber dadurch die geeignete Figur, um den Vater und die Familie zu retten und die Leitung des Clans zu übernehmen. Er wird – was er lebenslang versucht hat zu vermeiden – Teil der Illegalität und sogar zum effizienten, modernen Paten. Die Fabel zeigt sich in der konkreten Handlung z. B. dann, wenn Michael dem Vater nach dem Attentat im Krankenhaus versichert: »I’m with you« (0:43:40). Die Szene konkretisiert den für die Fabel entscheidenden Wendepunkt, ab dem Michael von seiner bisherigen Haltung abrückt und kühl planend den Vater und die Familie rettet. Derjenige, der nichts mit der Mafia zu tun haben wollte, wird die geeignetste Figur für den Nachfolger des Don. Michael lebt aber nun jeden Tag entgegen einem ihm selbst wichtigen Teil seiner inneren Anschauungen. Dadurch sind auch jene Szenen intensiv, die keine konventionelle Spannung (z. B. durch Bedrohung, Verfolgung und andere äußere Konflikte) erzeugen. Der Bezugspunkt für Nino Rotas Musik ist diese grundlegende Idee, die den tragischen Konflikt der Hauptfigur als Brennglas für die Ereignisse nimmt und in zahlreichen Varianten und Steigerungen durchführt. Durch die filmmusikalische Unterstützung der Fabelidee (d. h. der strategisch platzierte Einsatz des Hauptthemas und seine – hier allerdings nicht analysierten – musikalischen Charakteristika) wirken auch jene Szenen intensiv, die vordergründig keine dramatische Handlung zeigen. Mit anderen Worten: Rotas Musik bewirkt, dass Szenen und Sequenzen auf scheinbar geheimnisvolle Weise spannungsvoll wirken, selbst wenn an der Oberfläche nichts Außergewöhnliches passiert, weil sich die musikalische Ausarbeitung nicht am dramatischen Handlungsverlauf, sondern an der Fabel orientiert. Die Fabelidee ermöglicht in zweiter Konsequenz auch Spannung auf lange Sicht: Michael plant den Ausstieg aus den illegalen Geschäften bzw. deren Legalisierung. Das musikalische Hauptthema reflektiert – an den genannten Stellen und zudem kontinuierlich in Teil I und II des dreiteilig angelegten Zyklus eingesetzt – die Facetten von Michaels innerem Konflikt und erinnert damit an die dramaturgische Grundidee der Geschichte. Dabei ist es aber nicht an die Figur gekoppelt, sondern erklingt auch in Abwandlungen zu anderen Situationen mit anderen Figuren.

216

4.  Filmmusik und Analyse

Eine weitere Wirkungsmöglichkeit für den Fabelzusammenhang der Filmmusik besteht darin, dass Musik im Film altbewährten narrativen Mustern zu neuer filmischer Wirksamkeit verhilft. Beispiel 2: Casino (USA 1995, R. Martin Scorsese) In Casino bemüht Martin Scorsese die längst strapazierten Grenzlinien im Sujet des Mafiafilms, an denen sich die Figuren abarbeiten. Um also die Geschichte von Ace Rothstein zu erzählen, der etwas Normalität und sogar Liebe in dieser brutalen Welt ermöglichen will, bedarf es der Erneuerung der fast schon mythologisch verfestigten Story-Schemata mit ihren plakativen Figurtypen. Dafür wählt Scorsese eine von mehreren lose wechselnden Figurenerzählern und von deren Perspektive geleitete Struktur sowie einen ausgefeilten Soundtrack aus meistenteils schon existierender Musik (Songs, Klassik und existierende Filmmusik). So gelingt es, die alten Grundmuster einer Mafiageschichte zu erneuern und charakteristische eigene Anteile der Geschichte zu gewichten, die mit einer genretypischen Filmmusikkomposition hinter den offensichtlichen Vorgängen verborgen bleiben würden. Die fast unbeholfen wirkende Einfühlsamkeit des Protagonisten und sein Versuch, eine Beziehung aufzubauen zur Prostituierten Ginger werden z. B. durch einen Song, gesungen von Dinah Washington (What a Difference A Day Makes, denkbar auch als szenisch motivierte Musik), kommentiert. Der Song lässt die Zweifel der Frau stärker erkennen, die ihre ökonomische Unabhängigkeit bei einer Heirat mit Ace verlieren würde.221 Georges Delerues Thème de Camille aus Le Mépris (Die Verachtung, F 1963, R. Jean-Luc Godard) wird strategisch wie schon bei Godard eingesetzt, indem es mehreren »Szenen des Beziehungszerfalls«222 unterlegt ist, und durch sein Erscheinen im Abspann wird die Bedeutung dieses Themas als Fabel-relevanter Anteil der gesamten filmischen Komposition unterstrichen.

Zofia Lissa bemerkt, dass im Film »der ständige Wechsel der Episoden […] die Fabel auf eine der Bühnenvorstellung unbekannte Art dynamisiert« (Lissa 1965, S. 77). Bei neueren Erzählformen und im postmodernen Kino ist Filmmusik ein

221

222

Eine weitergehende Einbettung dieser Strategie der »Perfektion kompilierter Soundtracks« ist nachzulesen in: Robert Rabenalt (2015), »›This is addictive‹: Robbie Robertson als Scorseses music supervisor«, in: Guido Heldt, Tarek Krohn, Peter Moormann und Willem Strank [Hg.], Martin Scorsese: Die Musikalität der Bilder, S. 34–37 sowie in den anderen Beiträgen des genannten Sammelbandes. Siehe den Aufsatz von Jonathan Godsall (2015), »Präexistente Musik als Autorensignatur in den Filmen Martin Scorseses«, in: Guido Heldt, Tarek Krohn, Peter Moormann und Willem Strank [Hg.], Martin Scorsese: Die Musikalität der Bilder, S. 22 f.

217

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

verstärkt eingesetztes, sehr wirksames Mittel dafür, das zugleich an der »inneren Rede« mitwirkt, die »sich einstellt und dem Zuschauer den Eindruck von Fülle und Logik vermittelt« (Ejchenbaum 1927/2003, S. 128). Filmmusik stützt die individuelle Ausprägung einer Fabel oder hat ihren Anteil daran, dass Besonderheiten eines Fabelkonzeptes nicht fehlinterpretiert werden. Beispiel 3: Kill Bill Vol. 2 (USA 2004, R. Quentin Tarantino) In Kill Bill Vol. 2 verwendet der Regisseur u. a. Musik von Ennio Morricone aus Per un Pugno di Dollari (Für eine Handvoll Dollar, D/SP/I 1964, R. Sergio Leone) und Il Mercenario (I/SP 1968, R.  Sergio Corbucci). Die beiden durch die Filmmusik in Kill Bill zitierten Filme sind wiederum durch die sich gleichende Fabelidee mit Akira Kurosawas Film Yôjinbô ( J 1961) verbunden: Ein professioneller Killer spielt rivalisierende Seiten zum eigenen Nutzen gegeneinander aus. So unterschiedlich die drei Sujets (Samurai, Western und moderne Killer, die Kampfkunst beherrschen) äußerlich sind, so sehr ähneln sich jedoch die zentralen Figurtypen und ihre Situation, aus der das tragische und im Falle von Goldoni223 das komische Potenzial resultiert. Tarantino gelingt es, seine Rachegeschichte durch den Verweis auf die anderen Filme anzureichern – ein Merkmal des Wirkungsspektrums der Filmmusik für die implizite Dramaturgie. Somit erscheint die Kampfkunst nicht nur als äußerliches Element der Handlung, sondern bestimmt z. B. mit der ausschweifenden Pai-Mei-Episode die gesamte Anlage, leitet den Einschub schlüssig und »dynamisch« durch Musik ein und wieder zurück. Wir verstehen, wie grundsätzlich der Wunsch nach einer Familie ist (eine vergleichbare Situation in Per un Pugno di Dollari), woher Beatrix ihre Fähigkeiten hat, wie ihre Rettung durch Kontextwissen eine zusätzliche Glaubwürdigkeit bekommt (vergleichbare Situation in Il Mercenario), und können dies mit dem aktuellen Rache-Plot verknüpfen.224 (s. Abb. 9)

In offenen Fabelkonzepten sind ausschnitthaft, manchmal sogar unvollständig wirkende Ereignisse und Episoden oder ungewöhnliche Blickwinkel kennzeichnend, deren innere Verbindung mit einer universellen Thematik zusammenhängt oder einer »poetischen Logik« (Tarkovskij, Schlegel und Graf 1985/2009, S. 33)

223 224

218

Siehe die Ausführungen zum genannten Beispiel in Kap. 1.1.6 (»Die ›Fabel‹ [mythos, story]«), wo Goldonis Fabelidee zu Arlecchino servitore di due padroni (Der Diener zweier Herren) als zugrunde liegende Fabelidee der genannten Filme dargestellt wird. Eine genauere Analyse, die auch erklärt, warum die zitierte Musik von Morricone nicht unbedingt als Zitat erkannt werden muss, findet sich in: Robert Rabenalt (2017), »Zwischen Text, Klang und Drama: Über den Zusammenhang von Narration und Musik im Film«, in: Manuel Gervink und Robert Rabenalt [Hg.], Filmmusik und Narration: Über Musik im filmischen Erzählen, S. 54–58.

Budd überwältigt Beatrix

0:25:20

Beatrix soll lebendig begraben werden

0:34:05 0:34:20

Befreiung aus dem Sarg

0:55:00

0:37:35

Pai-Mei-Episode (»Chapter 8«)

DOLLARI

(D/SP/I 1964, R. Sergio Leone)

E. Morricone: Libertà (Variation von L‘Arena) aus IL MERCENARIO (I/SP 1968, R. Sergio Corbucci)

219

rekurriert auf den Samurai-Film YÔJINBÔ (J 1961, R. Akira Kurosawa)

E. Morricone: L‘Arena (Intro) aus IL MERCENARIO

Morricone: L‘Arena (jetzt vollständig) aus IL MERCENARIO

Abb. 9: Anreicherung und Dynamisierung der Filmfabel in Kill Bill Vol . 2 durch zitierte Filmmusik

4.  Filmmusik und Analyse

E. Morricone: Per un pugno di dollari aus P ER UN PUGNO DI

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

folgt. Aufgrund komplexerer und teils unbestimmter innerer Beziehungen sind die tendenziell offenen Fabelkonzepte schwerer zu systematisieren als die ge­­ schlossenen. Die »Offenheit« der Form bringt zum Ausdruck, dass der Blick auf ein Thema ganz unterschiedlich sein kann. Eine einzige mögliche Deutung der Vorgänge wird durch eine Vielzahl von Ansätzen und Perspektiven vermieden. Der Fabelzusammenhang der Filmmusik kann dann darin bestehen, dass die möglicherweise wie zufällig angeordnet wirkenden Ausschnitte einer Geschichte oder die Vielfalt der Perspektiven mithilfe der Musik als zusammengehörig empfunden werden, ohne dass man konkret sagen könnte warum. Peter Wuss bezeichnet narrative Ketten von Motiven, die sich verdichten und Motive der Geschichte von schwacher zu starker semantischer Stabilität führen, als Topik-Reihe. Für die nicht-musikalischen Mittel des filmischen Erzählens formuliert er das Phänomen so: »Die ständige Wiederkehr analoger Reizmuster komplexer Art innerhalb einer Filmhandlung schafft eine Reihe von Topiks, von verdichteten Sinnbeziehungen, die auch narrativ wirksam sind. Trotz der geringen semantischen Stabilität der Strukturen, bauen sich doch latente Erwartungen inhaltlicher Art beim Zuschauer auf. Antizipationen entstehen, die dafür sorgen, dass sich über die homologen Formen eine Bindung zwischen den Ereignissen einstellt und im Falle ihrer Dominanz sogar ein Fabelzusammenhang.« (Wuss 1992, S. 29)

Ein Filmmusikkonzept, das an der Fabel orientiert ist, lässt den Sinnzusammenhang von Ereignissen, die nur Begleiterscheinungen der Handlung sind, sich aber unter einem für die Geschichte relevanten Topik zusammenfassen lassen, hervortreten. Musik mit Bezug zur Fabel – ganz gleich ob als Teil der Szene oder beigeordnet – zielt insbesondere bei offenen Erzählformen auf das übergeordnete Thema und damit auf die Aneignung der gezeigten Vorgänge im Sinne des Ganzen ab, von dem die gezeigte Handlung nur Ausschnitte präsentiert.

Im Schaffensprozess der Filmentstehung werden die fabelrelevanten Musikstücke und Musikeinsätze, Stile, Instrumente oder Sounds  –  intuitiv oder absichtsvoll – meist zuerst abgesprochen und umgesetzt. Sie werden gegebenenfalls am meisten diskutiert und sind kaum austauschbar. So entsteht ein musikalisches »Skelett«, das für die Filmerzählung substanziell wichtig ist und aufgefüllt werden kann durch weitere Filmmusik, die sich an anderen dramaturgischen Gegebenheiten orientiert. Schwierigkeiten bei der Analyse des Fabelzusammenhangs der Filmmusik entstehen dadurch, dass die Architektur und Charakteristik einer Filmfabel nicht

220

4.  Filmmusik und Analyse

selten durch Überlagerungen mehrerer Konzepte und Strukturtypen gekennzeichnet ist. Enthält ein Film sehr viel Musik, heben sich die Musikeinsätze mit Fabelzusammenhang nur schwer von Musik ab, die zwar nicht unbedingt überflüssig ist, jedoch tendenziell austauschbar bleibt.225 Auch die Tatsache, dass der Fabelzusammenhang der Filmmusik mal relativ offensichtlich sein kann (z. B. bei Geschichten, die durch leitmotivische Verknüpfungen gekennzeichnet sind), mal weniger offensichtlich ist bzw. viel seltener konstatiert werden kann (z. B. im Actionfilm oder bei Filmen, die zugunsten anderer Aspekte eine dramaturgisch weniger konsequente Anlage besitzen), stellt Analysierende vor Schwierigkeiten.

4.4.3  Aristotelische Fabel und geschlossene Form

Dieser Fabeltypus erzeugt Aufmerksamkeit, Erwartungen, Spannung und Affekte in ernsten Genres durch eine logische, sich zwingend aus sich selbst heraus ergebende Entwicklung der Ereignisse und zugleich unter den Bedingungen der äußeren Wahrscheinlichkeit. Die Figuren, die im Zentrum stehen, bilden nicht selten Idealtypen ab und haben einen »edlen« Charakter, d. h. sie heben sich in mindestens einem entscheidenden Punkt von der Allgemeinheit ab, wählen sich ihre Aktionen aus und handeln planvoll aufgrund ihrer inneren Überzeugungen. Die Handlungskomposition setzt einen überschaubaren Rahmen und gibt die inneren und äußeren Gründe vor, welche die Handlung zu ihrem folgerichtigen Ende führen. Häufig ist der geschlossene Fabeltypus an das in vielen Filmen zu entdeckende 3-Akt- oder 5-Akt-Schema gekoppelt, die ausgehend von Exposition über Störung, Konflikt und Lösung den Verlauf modellartig arrangieren. Selbst wenn die Architektur einer Filmfabel nicht oder nur in Teilen den formalen Kriterien der aristotelischen Fabel entspricht, sind doch einige der folgenden Aspekte häufig in Filmen zu finden. Aristotelische bzw. tendenziell geschlossene Fabelkonstruktionen enthalten idealtypische Eingrenzungen (z. B. bei der Figurenwahl) und folgen meist nicht genannten, aber als selbstverständlich vorausgesetzten moralischen und gesellschaftlichen Maximen, die in der Regel nicht hinterfragt oder als unumstößlich betrachtet werden. Ihre Affektdispositionen (insbesondere die Wechselwirkung zwischen innerem Konflikt eines edlen Menschen und äußeren Umständen) konzentrieren sich auf einen zentralen Helden (selten eine zentrale Heldin) und auf raumzeitliche Überschaubarkeit. Geschlossene Filmfabeln bilden ein Gerüst, das 225

In empirischen Studien könnte diese These überprüft und für weitere Experimente herangezogen werden.

221

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

ohne epische Weitschweifigkeit oder geistige Totalität auskommt. Die paradigmatischen Eingrenzungen aristotelischer Dramaturgie für Dramen (Einheit von Raum, Zeit und Handlung, zeitlicher Umfang entspricht dem Ablauf eines Tages) sind für Filmfabeln weniger zutreffend. Für die Kette der Ereignisse gilt oft die Zweiteilung in charakteristische Ereignisse, die bis zu dem Punkt führen, an dem Glück in Unglück umschlägt (nach Freytag: steigende Handlung und Peripetie, nach Aristoteles Verwicklung bzw. Schürzung des Knotens und Glücksumschlag), und eine Verkettung, die nur unter den neuen Vorzeichen nach dem Glücksumschlag funktioniert (fallende Handlung, Lösung des Knotens). Zudem wird bei Fabeln nach aristotelischem Vorbild der Fortgang der Handlung sowohl aus innerer Notwendigkeit als auch nach den Gesetzen der äußeren Wahrscheinlichkeit angestrebt. Das bedeutet auch, dass sich die Lösung des tragenden Konflikts (in der Tragödie die Katastrophe, im Hollywoodkino in der Regel das happy end) am wirkungsvollsten aus den in den Charakteren bereits angelegten Eigenschaften ergibt. Beispiel: Au revoir les Enfants (Auf Wiedersehen Kinder, F/D/I 1987, R. Louis Malle, M. Franz Schubert, Camille Saint-Saëns) Der Film Au revoir les Enfants trägt wichtige Merkmale einer aristotelischen Fabel und zugleich Anreicherungen, die mit der 5-Akt-Struktur in dieser »Schicksalstragödie«226 treffend strukturiert werden können. Der Film kommt mit sehr wenig und zudem präexistenter Musik aus. Eigens komponierte Musik erklingt gar nicht. Durch die an der aristotelischen Fabel orientierte Handlungskomposition ist die Entwicklung der Handlung auch ohne empathische oder psychologisierende Ergänzungen durch Musik überzeugend und ergreifend. Die Art, wie Musik eingesetzt wird, führt dennoch zu einem tieferen Verständnis der Anlage, hier speziell durch die Ausleuchtung der Beziehung zwischen den beiden Hauptfiguren ( Julien und Jean), welche die Wirkung der Ereignisse speziell aus deren Sicht so ergreifend zeigt. Umso mehr kann das Geschehen aus sich selbst heraus in das tragische Ende geführt werden. Musikalische Mittel betreffen auch das retardierende Moment in der fünfaktigen Struktur des Films, das dazu dient, die Spannung vor der sich ereignenden Katastrophe zu erhöhen, indem eine glückliche Lösung doch noch greifbar erscheint.

226

222

So bezeichnet Stutterheim die dramaturgische Grundlage des Films in ihrer Analyse, vgl. Stutterheim und Kaiser (2009/2011), Handbuch der Filmdramaturgie: Das Bauchgefühl und seine Ursachen, S. 147. Sie weist in ihrer Analyse eine 5-Akt-Struktur und dazugehörige dramaturgische Stationen als strukturelle Basis nach.

4.  Filmmusik und Analyse Freundschaft, Solidarität, Verrat und die Frage nach individueller Schuld werden aus Sicht des Jungen Julien erzählt, der 1944 in einem katholischen Internat lebt, in dem die Priester auch jüdische Kinder verstecken, darunter Jean, mit dem er sich nach einer Phase der Konkurrenz anfreundet. Aspekte der aristotelischen Fabel sind hier: zentraler Held, Überschaubarkeit des Ortes und des zeitlichen Rahmens sowie die für Julien und Jean schicksalhafte Situation (Besatzung und Judenverfolgung). Die Kinder bekommen dort auch Klavierunterricht; so entsteht ein Anhaltspunkt für den Einsatz eines Klavierstücks von Schubert als interne (szenische) Musik und als externe Filmmusik. Schuberts Moment musical Nr. 2 As-Dur erklingt bereits anfangs beim Abschied Juliens von seiner Mutter, die er im Internat zutiefst vermisst. Es ist aber auch als Teil der Szene in einer Klavierstunde zu hören (ab 0:24:35), in der Julien und Jean, den er bald als einen der versteckten jüdischen Jungen erkennt, sich an diesem Stück probieren (dann allerdings mit seinem B-Teil in fis-Moll). Zweimal, wenn sich Julien sehnsüchtig an die hübsche Klavierlehrerin, aber auch den besser spielenden Jean erinnert, erklingt kurz die Melodie dieses B-Teils als externe Filmmusik. Schuberts Moment musical Nr. 2 wäre geeignet, nicht nur zu Beginn des Films den traurigen Affekt des Jungen zu illustrieren, sondern durch seine Gegenüberstellung von Dur und Moll im A-Teil die noch kommenden emotionalen inneren Widersprüche ( Jean als Konkurrent und zugleich als Freund) zu symbolisieren. Doch nach nur zwei Minuten Film ist diese Dimension noch nicht spürbar. Erst durch die Wiederverwendung des Stückes in der Klavierstunde, wo Jean als der deutlich bessere Spieler erscheint, stellt sich vage diese Verbindung her. Die Peripetie bzw. der Höhepunkt der sich zuspitzenden Handlung wird eingeleitet dadurch, dass Julien und Jean sich spätabends im Wald verlaufen und von Wehrmachtssoldaten aufgegriffen werden, bis die Vorgänge in die Erkennung (anagnṓrisis) münden, also den Moment, in dem Julien Jean zeigt, dass er dessen jüdische Herkunft herausgefunden hat (0:58:15). Dass Jean in Gefahr ist und zwischen Julien und ihm nun aber auch eine Freundschaft erwächst, sind Kriterien, die für den Handlungsumschlag wichtig sind. Die drohende Gefahr entdeckt zu werden, konkretisiert sich nun immer weiter und steigert sich in einem weiteren, untergeordneten Wendepunkt, wenn der von vielen Jungen gedemütigte Küchengehilfe Joseph des Diebstahls überführt und entlassen wird (1:18:00). Nun will sich Joseph rächen und verrät die Patres an die Nazis. Aus den zunächst relativ harmlosen Schwierigkeiten bei der Geheimhaltung der jüdischen Identität und der Konkurrenz zwischen den Jungen wird nun eine lebensbedrohliche Situation. Teil der Idee für die Filmfabel ist, dass durch diesen Umschlag in der Handlung der private Konflikt des Küchenjungen und der zwischen Julien und Jean von hier an in einen gesellschaftlichen Konflikt umschlagen.

223

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse Die Zuspitzung und Lösung des Konflikts begründen sich im Sinne der aristotelischen Prinzipien in den bereits von Anfang an angelegten Eigenheiten der Figuren, insbesondere der von Julien. Er gewinnt durch sein nachforschendes Wesen Jean als echten Freund und setzt ihn dadurch zugleich der Gefahr aus entdeckt zu werden. Die sparsam, aber treffend konzipierte Musik im Film lässt insbesondere diesen tragischen Konflikt als konstituierenden Teil der Fabelkonstruktion deutlich werden. Zuvor aber vergrößert ein retardierendes Moment die Fallhöhe für den weiteren Verlauf. Es zeigt ausführlich eine emotionale Entspannung und die wachsende Freundschaft. Dieser dramaturgisch wichtige Moment wird filmmusikalisch unterstützt: Die Klavierlehrerin und ein Pater spielen für alle Jungen im Internat Camille Saint-Saëns’ Rondo capriccioso in einer Fassung für Geige und Klavier zur Begleitung eines Stummfilms (1:11:15). Hier entsteht ein Bezug zur Fabel durch den Dialog aus der Klavierstunde. Dort fragte die Klavierlehrerin, warum Julien nicht lieber Geige spiele; er antwortet, dass die Mutter Klavier wünschte. Somit erklärt sich nachträglich die Verwendung des Moment musical beim Abschied von der Mutter am Anfang und die Verwendung des Stückes von Saint-Saëns in der Bearbeitung für Geige und Klavier. Auch direkt nachdem Joseph fortgeschickt wird, gibt es einen durch die Musik gekennzeichneten Moment, der die sich zur Katastrophe zuspitzende Handlung durch eine scheinbare Entspannung unterbricht und von der Verbundenheit der Jungen erzählt: Jean bringt Julien einen Blues bei (ab 1:19:30), während draußen Fliegeralarm herrscht. Weil sich die Jungen nicht um den Alarm kümmern und weil Jazz und Blues unter den Nazis verboten waren, bekommt diese Szene eine subversiv-komische Bedeutung und erzählt von der wachsenden Freundschaft, während sich aber die Handlung hin zur unaufhaltsamen Katastrophe entwickelt. Spekulationen über den Antagonismus zwischen dem für Kenner musikalisch nachvollziehbaren Unterschied zwischen französischer und deutscher Romantik (Franz Schubert und Camille Saint-Saëns) als Symbol für die Situation des durch die Nazis besetzten Frankreichs sind kaum nötig, um den Fabelzusammenhang der eingesetzten Musik zu untermauern.

4.4.4 Heldenreise

Das Modell der Heldenreise kann sowohl Strukturtypus als auch Fabeltypus sein. Die grundlegenden Eigenschaften eines Protagonisten (Weigerung), die Abstraktion von Grenzlinien der Handlung (Übertreten der ersten und zweiten Schwelle; Vordringen zum größten Gefahrenpunkt) und die Figurendisposition (zentraler

224

4.  Filmmusik und Analyse

Held, Begleiter, Mentor) sind universelle Merkmale einer Fabel. Sie beinhalten das Zwingende in der Anlage und beeinflussen daher Architektur und Zusammenhalt des Ganzen maßgeblich. Eine Urform der Heldenreise bildet wohl die Odyssee von Homer, die schon für mittelalterliche Epen Vorbild war. Diese Epen haben Grundformen und erzählerische Topoi tief in das kulturelle Gedächtnis eingebrannt. Auch andere Gattungen oder Modelle sind vom Modell der Heldenreise beeinflusst, weil sie z. B. ausgewählte typische Stationen der Heldenreise enthalten. Das road movie ist ebenfalls verwandt mit der Heldenreise, jedoch weniger geschlossen, sondern meist episodisch erzählt. Es ist geprägt durch eine zentrale Figur auf Reisen, ständige Ortswechsel mit dort jeweils charakteristischen Aufgaben und Figuren sowie den Moment des Zufalls, dabei aber doch einem allgemeinen Thema folgend (z. B. Suche nach sich selbst, kaleidoskopartiges Abbild einer Gesellschaft usw.). Das road movie strebt dabei eine größere Realismuswirkung an als die Vorbilder in den antiken und mittelalterlichen Epen. Das Modell der Heldenreise ist ein Ergebnis der Erzähl- und Mythenforschung (Propp 1928/dt. 1975, Campbell und Frye 1949), die tiefenpsychologische Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts in die Erzähltheorie hat einfließen lassen. So lässt sich ein zwölfstufiges Modell abstrahieren, das sich im Falle des Films gut mit dem 3-Akt-Schema kombinieren lässt, wenn man die für die jeweiligen Akte charakteristischen Stationen bündelt. Möglich sind auch Kombinationen mit dem 5-AktSchema und den dort charakteristischen Ereignissen.227 Außer den Stationen sind auch sogenannte Aktanten abstrahierbar: Held, Gegenspieler, böser Zauberer/ böse Hexe, Aussender des Helden, Helfer, falscher Held, Mentor/in, ein geliebtes Wesen als Opfer, Verwandte/r des Opfers. Die Stationen werden – geringfügig variierend – folgendermaßen benannt: 1. Die gewohnte Welt, 2. Ruf des Abenteuers, 3. Weigerung, 4. Begegnung mit dem Mentor, 5. Überschreiten der ersten Schwelle, 6. Bewährungsprobe, Feinde, Verbündete, 7. Vordringen zum größten Gefahrenpunkt, 8. Entscheidung und Prüfung (Übertreten der zweiten Schwelle), 9. Belohnung, Kontakt mit weiteren Hilfsmitteln (Elixier, geweihte Waffe o. Ä.), 10. Beginn des Rückwegs, 11. Rettung oder Auferstehung, 12. Rückkehr. Beispiel: Matrix (AUS/USA 1999, R. The Wachowskis, M. Don Davis) In Matrix kann das Modell der Heldenreise in Kombination mit dem 5-AktSchema überzeugend nachgewiesen werden. Die Filmmusik ist prinzipiell durch underscoring affirmativ an den konkreten Vorgängen und Affekten orientiert. Darüber hinaus gibt es aber Anteile der Filmmusik, die den Weg des Helden und

227

Vgl. Abb. 1 in Kap. 1.1.2 (»Filmdramaturgie«).

225

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse wichtige Stationen der Heldenreise stützen und dadurch während der actionreichen Vorgänge wie ein Kompass die Grundrichtung der Ereignisse anzeigen. Ähnlich wie Leitmotivtechnik an Personen, Orte, Ereignisse usw. erinnern oder diese vorausdeuten kann, erinnern die hier diskutierten, für die Fabel relevanten Anteile der Filmmusik in Matrix an den vergangenen oder noch bevorstehenden Weg und die Aufgaben des Helden auf seiner »Reise«. (s. Abb. 10) Der erste Akt enthält die Exposition aller wichtigen Ausgangspunkte der Geschichte und entspricht den Stationen 1–2: gewohnte Welt als Hacker, Ruf des Abenteuers (bis ca.  0:15:00). Im zweiten Akt folgen die Stationen 3–5: Weigerung – Neo lässt sich abführen (Beispiel a), Begegnung mit dem Mentor und die Übertretung der ersten Schwelle: Er spricht mit Morpheus und wählt die rote Pille (Beispiel  b) und wird befreit (bis ca.  0:35:00). Im dritten Akt folgen die Stationen 6–7: Bewährung (Beispiel  c), Feinde, Verbündete sowie größter Gefahrenpunkt: Neo muss sich in der Matrix bewähren, Orakelspruch (Beispiel d), Cypher offenbart sich als Verräter (Beispiel e), Morpheus wird gefangen, (bis ca.  1:25:00). Der vierte Akt lässt wie der zweite Akt gegebenenfalls Raum für eine Nebenhandlung (Agent Smith hat individuelle Motive) und enthält Hinderungsgründe für eine Lösung (Bedeutung des Orakelspruches, Beispiel f) = Station 8 und 9: Entscheidung und Prüfung, Belohnung und weitere Hilfsmittel; Neo will zurück in die Matrix um Morpheus zu retten; die Rettung gelingt, Neo entdeckt seine besonderen Kräfte (bis ca. 1:45:00). Im fünften Akt sind die Stationen 10–12 enthalten:228 Neo stirbt (retardierendes Moment), Auferstehung und Rückkehr zur alten Welt (Neo erwacht durch Trinitys Liebesbotschaft wieder zum Leben und kehrt in seine alte Welt zurück, um noch mehr Menschen aus der Matrix zu befreien). Auch mit Dialog und Bild werden die Stationen aufeinander bezogen, z. B. der »weiße Hase«, der die steigende Handlung (bis zum Handlungshöhepunkt bzw. zur Peripetie, Station 6) begleitet: als Symbol für den Ruf des Abenteuers (Station 2, 0:07:20), wenn Morpheus bei seiner ersten Begegnung mit Neo (Station 4) sagt: »… feeling like Alice – tumbling down the rabbit hole« (0:25:25) und mit »or stay in wonderland«, als Neo sich für die rote Pille entscheidet (Station 5, 0:28:10), beim Orakel (Station 6) laufen Hasen durchs TV-Bild (1:08:20). An einigen Stellen entspricht dies auch den Wendepunkten in der Aktstruktur, z. B. wenn Neo seinem Mentor Morpheus begegnet und er sich für die rote Pille entscheidet (Beispiel  b) oder wenn Neo die Bedeutung des Orakelspruchs erkennt (Beispiel f). Durch das Zusammenfallen von Stationen der Heldenreise und Wende228

226

Für Station 10 (Rückweg) gibt es nach meinem Dafürhalten keine klare Entsprechung, weil der show down alle Mittel für das Finale bündelt.

4.  Filmmusik und Analyse Stationen der Heldenreise

Matrix Musik­ beispiele

1

Akte

Dialog/Handlung

Die gewohnte Welt

2

Ruf des Abenteuers

3

Weigerung

Beispiel a

4

Begegnung mit dem Mentor

Beispiel b

»follow the white ­rabbit«

1

Exposition Erregendes ­Moment

»tumbling down the rabbit hole«

Überschreiten der Schwelle

2 »or stay in wonderland«

5

Hasen im TV beim Orakel 6

Bewährungsprobe, Feinde, Verbündete

7

Vordringen zum größten Gefahrenpunkt

8

9

10

Beispiel c + d Beispiel e 3

Entscheidung und Prüfung Verrat Cypher
 Belohnung, Kontakt mit weiteren Hilfs­ mitteln (Elixier, geweihte Waffe o. Ä.) Beginn des Rückwegs

Beispiel f

Neo versucht das Unmögliche und entdeckt seine Kräfte 4 Neo stirbt

Rettung oder ­Auferstehung

12

Rückkehr (erneuter Übertritt der Schwelle)

(Anweisungen von Morpheus am Telefon, Neo wird abgeführt und verhört, Neo wählt die rote Pille)
 Glücksumschlag (Peripetie), Erkennung 1 (Cypher als Verräter) Nebenhandlung (individuelle ­Motivation von Agent Smith) Erkennung 2 (­ Bedeutung des Orakelspruches) Retardierendes Moment

Neo aufersteht 11

Einleitender ­Akkord

Happy End 5

Abschließender Akkord

Abb. 10: Position der gewählten Beispiele in M atrix im Strukturmodell

punkten innerhalb der Aktstruktur kann dem Genre des Actionfilms ebenso entsprochen werden wie dem mythologischen Anteil der Geschichte. Die Anteile der Filmmusik, die die Struktur der Heldenreise und die daran gebundenen Aufgaben des Helden betreffen, sind weniger durch ein bestimmtes musikalisches Motiv gekennzeichnet als durch einen Gestus, der  –  passend zu

227

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Abb. 11: »Matrix-Akkord« als Ausgangsmaterial

Neos Charakter – etwas verhalten Erhabenes hat. Es handelt sich um die Variante eines filmmusikalischen Topos, der in Hollywoods Tonsprache oftmals verknüpft ist mit Szenen voll Pathos und der Last von Schicksalsschlägen. Dieser musikalische Gestus setzt sich erkennbar ab von den dissonanten Blechbläserakkorden und von den perkussiven Anteilen der Musik, die zu den Actionszenen erklingen und welche die Matrix als Ort sowie die Gegenspieler charakterisieren. Abb. 11 zeigt den »Matrix-Akkord« als dennoch gemeinsamen Ausgangspunkt. Er ist das Erste, was wir von der Filmmusik hören. Unter Verwendung dieses Ausgangsmaterials unterstützt und verknüpft z. B. die Klangkombination Hörner/Posaunen (in mittlerer bis tiefer Lage) mit dem Material des »Matrix-Akkordes« entscheidende Situationen, in denen Neo die Last seines Schicksals offenbar wird, z. B. wenn an ihn die hohen Erwartungen als Retter herangetragen werden (Beispiel  e).229 Die Beispiele  a–f (s. Abb. 12a–f ) zeigen Momente, in denen wichtige Stationen der Heldenreise mit plot points zusammentreffen oder Situationen, in denen auf die Prophezeiungen des Orakels angespielt wird und die den Weg und das Schicksalhafte seiner Heldenreise skizzieren. Gemeinsamkeit dieser Musikeinsätze, die den Weg der Heldenreise kenntlich machen oder erinnern, ist der Wechsel zwischen Moll-Tonika und ihrem Gegenklang. Die simultan erklingenden Akkorde  –  aber auch sukzessiv erklingende Ausschnitte davon  –  sind eine Variante des »Matrix-Akkordes«, der ganz zu

229

228

Dass auch nur eine Klangfarbe als (film-)musikalisches Leitmotiv dienen kann, erwähnt schon Lissa: »Es kommt vor, daß ein Leitmotiv einer Gestalt oder bestimmten Situation ständig in einer bestimmten Klangfarbe auftritt, etwas nur in den dunklen Farben der Kontrabässe und Fagotte (wie das Rogoshin-Motiv in ›Nastasja Filipowna‹, deutsch: ›Der Idiot‹, nach Dostojewskij) oder nur auf der Mundharmonika gespielt (wie das Motiv des Farmers in ›Mein großer Freund Shane‹) usw.« Lissa (1965), Ästhetik der Filmmusik, S. 278.

4.  Filmmusik und Analyse Beginn mit Erscheinen des Logos zu hören ist – ein sechstöniger Akkord, der aus erster (i.) und sechster (VI.) Stufe zusammengesetzt ist. Er kann symbolisch verstanden werden als Abbild bzw. Wechsel von Matrix und realer Welt außerhalb der Matrix. Die mit der kleinen Sekunde als Achse entstehende Spiegelung kann auch als musikalische Nachahmung der Spiegelsymbolik auf visueller Ebene verstanden werden.230 Eine zweite Variante des »Matrix-Akkordes« (s. Abb. 11: »Matrixakkord« Variante 2) findet sich ebenfalls gleich am Beginn, dient aber im Verlauf zur Illustration der Actionszenen und wird hier nicht musikdramaturgisch thematisiert. Bei diesem Akkord treffen zwei Dur-Akkorde (ebenfalls über die Beziehung I. Stufe – VI.Stufe) aufeinander, sind aber über eine große Sekunde miteinander verknüpft und stehen nicht in diatonischer Beziehung (Medianten zweiten Grades). Die analysierten Musikeinsätze verknüpfen auf der übergeordneten, abstrakten Ebene der Fabel zusammenhängende Stationen der Heldenreise. Aufgrund des generellen Charakters der Fabel muss die Musik nicht wörtlich wiedererkennbare Leitmotive enthalten, um diese Verbindung zu assoziieren – im Gegenteil. Die unbewusst wahrgenommene Ähnlichkeit zwischen den Beispielen gibt der Fabel, die hinter der konkreten Handlung steht, eine angemessene strukturelle Präsenz. Folgende Beispiele zeigen einen solchen Fabelzusammenhang: a) »Weigerung« (zweiter Ruf des Abenteuers und 3. Station, ab ca. 0:15:30): Morpheus am Telefon, Neo lässt sich von den Agenten festnehmen

Abb. 12a: M atrix, Beispiel a)

230

Der Tonikagegenklang (VI. Stufe in Moll) ist musiktheoretisch gesehen tatsächlich eine Spiegelung, und zwar der Paralleltonart, z. B. befindet sich stufig betrachtet C-Dur (III. Stufe) als Paralleltonart in a-Moll eine Terz über a, der Gegenklang F-Dur (VI. Stufe) eine Terz unter a.

229

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse b) »Begegnung mit dem Mentor« (4. Station und Vorbereitung zu Station 5 »Überschreiten der ersten Schwelle«, erste direkte Begegnung mit Morpheus, ab ca. 0:24:05)

Abb. 12b: M atrix, Beispiel b)

c) Morpheus offenbart ihm, er sei der vom Orakel prophezeite Retter (ab ca. 0:44:20)

Abb. 12c: M atrix, Beispiel c)

d) Begegnung mit dem Orakel, das ihm sagt, er sei nicht der Retter, hätte aber in der Zukunft eine Wahl zu treffen zwischen seinem Leben und dem von Morpheus (ab ca. 1:13:00)

230

4.  Filmmusik und Analyse

Abb. 12d: M atrix, Beispiel d)

e) Durch den Verrat von Cypher sind alle in Gefahr und hoffen, dass das Orakel Neo bestätigt hat. (ab ca. 1:17:35)

Abb. 12e: M atrix, Beispiel e)

f ) 8. Station »Entscheidung und Prüfung«: Neo erkennt die Bedeutung des Orakelspruches, entschließt sich zur Rettung von Morpheus (ab ca. 1:31:15)

Abb. 12f: M atrix, Beispiel f)

231

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse Den Beispielen gemeinsam ist die Beziehung zwischen i. und VI. Stufe bzw. dem fallenden oder steigenden Intervall Sexte und die kleine Sekunde zwischen V. und VI. Stufe. Auch der Liegeton in tiefer oder hoher Lage ist den Beispielen gemeinsam (dient aber auch als zeitlich dehnbares musikalisches Mittel, damit musikalische Ereignisse exakt mit dem gelieferten Feinschnitt synchronisiert werden können). Die Sexte, die Tonfolge 1–6–5 und die kleine Sekunde zischen 5–6 bzw. 6–5 sind nahezu omnipräsent. Latent ist damit eine Kombination der rhetorischen Figuren der exclamatio (Ausruf, z. B. 1–6 in Beispiel b + e) und suspiratio (Seufzer, z. B. 5–6 in Beispiel a; bzw. 6–5 in Beispiel b, c, d + f ) enthalten. Die Beispiele zeigen das Material, das die Erhabenheit und zugleich die Last des Auserwählt-Seins zum Ausdruck bringen kann, entweder linear auskomponiert (sukzessiv) oder akkordisch (simultan) umgesetzt. Manche Stationen der Heldenreise in Matrix haben die Qualität von plot points, z. B. Neo entscheidet sich für die rote Pille (Station 5: Übertreten der ersten Schwelle), die Information, er sei nicht der Auserwählte (Station 6: Bewährungsprobe, Erkennung 1), oder seine Entscheidung, das Unmögliche zu versuchen und Morpheus zu retten (Station 8: Entscheidung und Prüfung, Erkennung 2). Der musikalische Gestus, der durch die oben genannten Mittel (Tonvorrat, Instrumentierung, musikalisch-rhetorische Figuren) realisiert wird, verweist durch den somit spürbaren Zusammenhang auf die Fabel, d. h. auf die Anlage der Geschichte als Heldenreise.

Die Analyse der Beispiele aus Matrix zeigt zudem, dass Filmmusik auf Stichworte im Dialog »reagiert«. Diese Form der Affirmation bestimmt den musikalischen Ablauf bzw. das underscoring in den gewählten Bespielen sogar mehr, als die visuelle Vorgabe. Wenn von der Relation zwischen Bild und Musik die Rede ist, darf dieses Verfahren nicht unterbewertet werden, denn beides  –  Bild und Musik – richtet sich nicht nur nach der gezeigten Aktion, sondern auch nach dem Dialog. Aus dramaturgischer Sicht ist die Relation Bild/Dialog bzw. Musik/Dialog der Relation Bild/Musik übergeordnet.

4.4.5  Analytische Fabel

Wesentliches Merkmal der analytischen Fabel ist, dass das auslösende Ereignis der Geschichte vor Beginn der einsetzenden Handlung liegt und erst ermittelt wird, wie es zu diesem Ereignis kam bzw. welche im Moment verborgenen Gründe es herbeiführten. Urbild der analytischen Fabel und damit für ein ganzes Genre, den Kriminalfilm, ist jene Fabelidee, die Sophokles für die antike Sage des Ödipus

232

4.  Filmmusik und Analyse

gefunden hatte:231 Die Geschichte von Ödipus wird nicht chronologisch erzählt, sondern setzt an einem schon weit fortgeschrittenen Punkt der Geschehnisse ein: König Ödipus verspricht, den Mord an seinem Vorgänger Laios aufzuklären und einen Fluch von der Stadt zu lösen. Interesse und Spannung entstehen durch die nach und nach gesammelten Informationen zu dem, was in dieser Fabelkonstruktion die Vorgeschichte ist, im zugrunde liegenden Epos aber chronologisch abläuft. Im Falle von Sophokles verbinden sich weitere Aspekte eines kunstvollen Fabelaufbaus, z. B. dass Ödipus unwissend gegen sich selbst ermittelt und durch Unwissenheit und seine Aufrichtigkeit den eigenen Untergang bewirkt. Beispiel: Memento (USA 2000, R. Christopher Nolan, M. David Julyan) Im Film Memento sind zwei Fabelideen kombiniert, sodass eine besondere Erzählweise entsteht. Das Beispiel steht damit auch für die in Filmen nicht selten anzutreffende Kombination mehrerer Fabeltypen, um charakteristische filmische Formen einer Fabel samt deren Wirkungspotenzial auszubilden. Zuunterst liegt die analytische Fabel zugrunde. Dazu tritt die Idee, hier eine subjektive Perspektive der Hauptfigur einzunehmen und in dieser rückwärts zu erzählen (farbig gefilmt). Dieser Handlungsstrang ist parallel mit einem anderen, verschachtelt angeordneten Erzählstrang montiert, der chronologisch ist und eine annähernd objektive Perspektive darstellt (s/w gefilmt). Die anachrone Struktur verhindert einen logisch-kausalen Handlungsaufbau und gibt dem Genre (Kriminalfall mit Thrillerelementen) eine eigentümliche und widersprüchliche Grundlage. So entsteht eine besondere Architektur, die dem Typus der analytischen Fabel zu einer besonderen, individuellen filmischen Ausarbeitung verhilft. Die subjektive Perspektive des einen Strangs (wir erhalten nur die Informationen zur Vorgeschichte, derer sich auch die Hauptfigur bewusst wird) fördert eine Identifikation mit dem Protagonisten. Auch die Filmmusik unterstützt diese Perspektive, obwohl nach und nach widersprüchliche Informationen gegeben werden. Wir verstehen schließlich, dass Leonard Shalby auf der Suche nach dem Mörder seiner Frau ist und dass er aufgrund seines fehlenden Kurzzeitgedächtnisses unfähig ist, irgendeine sinnvolle Unternehmung zu vollziehen. Sein Schicksal bewirkt ähnlich wie in Oidípous Týrannos von Sophokles, dass Leonard unwissend gegen sich selbst ermittelt, denn er verdrängt seinen tragischen Anteil am Unglück: Seine Frau überlebte den als Auslöser fungierenden Angriff und starb erst durch die von ihm verabreichte Überdosis Insulin. Die Thrilleranteile des parallelen Erzählstranges treten erst langsam hervor (Leonard wird für dubiose Auftragsmorde missbraucht), ver-

231

Vgl. Peter Rabenalt (2011), Filmdramaturgie, S. 101 f.

233

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse schwinden aber hinter einer immer deutlicher werdenden tragischen Verwicklung, durch die Leonard den Tod seiner Frau selbst herbeiführte. Die anfangs gegebenen Informationen vermitteln mithilfe der Musik zu einem gewissen Grad an Mitleid und ggf. Identifikation mit dem Helden, der den angeblichen Mörder seiner Frau sucht. Trauer und Wut scheinen die treibenden Kräfte hinter Leonards Handlungen zu sein mit dem Ziel, den Schuldigen zu finden und die Tat zu rächen. Dafür muss der Hergang aufgeklärt werden. Die Musik fördert schon durch den eröffnenden Musikeinsatz die Identifikation mit Leonard. Es erklingen nach einer Einleitung, wenn das Foto des toten Jimmy zu sehen ist, fünfmal hintereinander ein »Lamento-Bass« in h-Moll (verkürzt auf nur drei Töne des absteigenden Moll-Tetrachords) in der Bass-Stimme der Synthpads232. Wie in unzähligen musikgeschichtlichen Vorbildern sind neben der Verwendung der Bassfigur als Ostinato auch die bei diesem Satzmodell über dem Bass übliche Bewegung der Oberstimme zur Sexte, die bei stufig absteigendem Bass zur Septime wird (hier ohne Auflösung der entstehenden Dissonanz) sowie die Gegenbewegung zur absteigenden Bassformel in der Komposition enthalten. Es handelt sich um einen verbreiteten (film)musikalischen Topos als Symbol der Trauer oder Klage, der hier assoziiert werden kann.233 Diese Musik ist der einleitenden, physikalisch rückwärts abgespielten Sequenz unterlegt (ein erster deutlicher Hinweis auf das Rückwärts-Erzählen des ganzen Strangs) bis dahin, wo das Polaroidfoto sich zu seiner blassen Ausgangsform zurück verfärbt hat, und erklingt danach noch weitere Male in Varianten bis ungefähr zur Mitte des Films (neben noch anderen Musikeinsätzen), vor allem wenn die Erinnerungen an Leonards Frau thematisiert werden. Unsicherheit über das, was war, und Unfähigkeit zu strategischem Vorgehen treiben ihn dazu, permanent zu ermitteln, letztlich auch, um einen Grund zu haben weiterzuleben. Das Interesse an der Aufklärung ist der Kern und die Grundlage für die Spannung bei der analytischen Fabel. Hieran wirkt die Musik auf die beschriebene, nicht unbedingt einem Thriller zuzurechnende Weise mit. Nur andeutungsweise ist Musik enthalten, die für konventionelle Thriller-Anteile steht. Auch wird die Musik durch den Einsatz der Synthesizer-Sounds nie tiefgehend emotional. Dies ist einerseits aus Gründen der Zweifel gegenüber den verschiedenen im Film gegebenen Wahrheiten angebracht, zum anderen bleibt die Erzählung mit ihren Andeutungen insgesamt – für das postmoderne Erzählen durchaus typisch – eher an der Oberfläche der tangierten Themen. Durch die filmisch und filmmusika-

232 233

234

Eine in der Popmusik verbreitete Synthesizer-Variante eines Streichorchesterklanges. Vgl. auch die Analyse aus C’era una Volta il West in Kap. 2.3.2 (»Musik, Affekt und musikalischer Gestus«) sowie Kap. 4.3.1 (»Filmmusikalische Topologien«).

4.  Filmmusik und Analyse lisch spezielle Umsetzung der Fabelkonstruktion wird aber verdeutlicht, dass menschliches Verhalten nur durch den Kontext, in dem es sich uns zeigt, bewertet werden kann. Ändert sich der Kontext, ändern sich auch unsere Einschätzungen. Der Grad der Eingrenzung unserer Perspektive entscheidet also mit darüber, ob wir bei der Beurteilung oder Wertung menschlichen Verhaltens »richtig« liegen oder doch nur unsere eigene Geschichte (ein eigenes Narrativ) entstehen lassen. Die Ermittlungen, die für die analytische Fabel kennzeichnend sind, bekommen am Ende des Films eine Richtung, die der herausragenden Fabelidee in Sophokles’ Ödipus ähnelt, der unwissend gegen sich selbst ermittelt und damit die Wirksamkeit des tragischen Moments maßgeblich verstärkt.

4.4.6  Episierende Fabel

Mit der Bezeichnung episierende Fabel ist nicht das Konzept des epischen Theaters gemeint.234 Vielmehr ist dies ein Typus, bei welchem der Anteil der epischen Prinzipien des Erzählens im Film bestimmend ist. Dies dient dazu, ein Thema umfassend (im quantitativen und qualitativen Sinne) zu beleuchten oder mythologische Geschichten als Teil eines größeren narrativen Universums zu erzählen, wofür meist eine weitschweifige Architektur der Geschichte nötig ist. Die Handlung kann sich über Grenzen von Raum und Zeit hinweg entfalten und wird entweder von einer zentralen Erzählinstanz (figural oder auktorial) oder anderen strukturierenden Mitteln (z. B. Rahmenhandlung, Kapitelüberschriften, Ortsund Zeitangaben) zusammengehalten. Im Gegensatz zum dramatischen Prinzip, das z. B. die aristotelische und analytische Fabel bestimmt, ist die episierende Fabel dadurch viel weniger an raumzeitliche Grenzen und Überschaubarkeit der Handlung gebunden. Als Beispiel für den Kontinuitätsübertrag durch Filmmusik bei raumzeitlich größeren Sprüngen in der Handlung diente bereits The Mission (GB/F 1986, R. Roland Joffé, M. Ennio Morricone).235 Auch hier sind Prinzipien des epischen Erzählens236 an entscheidenden Stellen prägendes Stilmittel, z. B. der Bericht der Erzählerfigur, Rückblicke bzw. Kommentare (als voice over) und die Rahmen-

234 235 236

Für die damit verwandten Phänomene wird hier die Bezeichnung »dedramatisierte« bzw. »sujetlose« Fabel verwendet, siehe das folgende Kap. 4.4.7 (»Offene [dedramatisierte, sujetlose, episodische] Fabeltypen«). Siehe Kap. 2.1.2 (»Prozessualität und Räumlichkeit von Bild und Musik«). Siehe zur Unterscheidung des dramatischen, epischen und lyrischen Prinzips Kap. 1.1.2 (»Filmdramaturgie«).

235

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

handlung (ein hoher Geistlicher schreibt einen Bericht an den Vatikan über seine Untersuchung zur Missionierung im Amazonasgebiet). In episierenden Fabeln sorgt oft eine Rahmenhandlung dafür, dass weitschweifige Erzählungen, eine Vielzahl von Episoden, Handlungsorten und -zeiten und Hintergründe verklammert werden und sich so dem Thema der Geschichte zuordnen lassen. Episierende Fabeln eignen sich, die Dominanz des dramatischen Prinzips in bestimmten Sujets zu brechen. Beispiel 1: High Fidelity (GB/USA 2000, R. Stephen Frears, M. Howard Shore) In High Fidelity nach der Romanvorlage von Nick Hornby strukturiert die zentrale Figur Rob als figurale Erzählinstanz die Handlung, vermittelt die Zeitsprünge und dominiert den Blickwinkel. Diese Variante eines episierenden Fabeltypus sieht vor, dass die Hauptfigur »Beiseite-Sprechen« kann – also ein Mittel, das eigentlich nur im Theater notwendig ist, um ohne Erzähler die Gedankenwelt der Figur mit dem Publikum zu kommunizieren.237 Das Beiseite-Sprechen findet als aus dem Theater vertrautes Phänomen Eingang in die Filmdramaturgie, erhält den Spielcharakter aufrecht und kann gerade im postmodernen Kino ein Element unter vielen sein, das eine bestimmte Erzählhaltung prägt. Rob tritt dann aus der Handlung heraus und kommentiert die Vorgänge. Im Film, der mit der Möglichkeit zum voice over diese Konstruktion eigentlich überflüssig werden lässt, erlaubt das Beiseite-Sprechen einen postmodern-spielerischen Ansatz mit ironischem Unterton. Die sonst eher unübliche Ansprache einer Figur ans Publikum (in die Kamera) erscheint in diesem Film als plausibler Teil der gesamten Anlage und Dramaturgie und umgeht damit die Sentimentalität des Stoffes. Beispiel 2: Le Violon Rouge (Die rote Violine, CAN/USA/I/GB/AT 1998, R. François Girard, M. John Corigliano) Im Film Le Violon Rouge wird der Weg einer außergewöhnlich klangschönen Violine vom Ende des 17. bis zum Ende des 20.  Jahrhunderts erzählt. Verschiedene Protagonisten in verschiedenen Zeitebenen und Handlungsorten gelangen zu dem besonderen Instrument und sind fasziniert von dessen perfektem Klang. Die Menschen verfallen dieser Perfektion, stehen aber wie unter einem schicksalhaften, todbringenden Fluch. Die auslösende Episode in Cremona (17. Jahrhundert) und die Versteigerung der Violine im kanadischen Montréal (20. Jahrhundert) sind die tragenden Pfeiler und bilden zwei miteinander verschachtelte

237

236

Im Jargon von Theaterleuten das »Durchbrechen der vierten Wand« genannt.

4.  Filmmusik und Analyse Rahmenhandlungen. Sie werden aber nicht in sich abgeschlossen erzählt wie die anderen Stationen, sondern sind in sich immer weiter rückwärts gehend organisiert und im Falle der Montréal-Episode sogar multiperspektivisch (aus Sicht verschiedener Figuren dieser Ebene, die alle eine Beziehung zu den früheren Ereignissen der Episoden in Wien, Oxford und Shanghai haben) erzählt. Die Episode in Montréal bildet den letzten Abschnitt, der an ihrem schon gezeigten Ende vom Anfang des Films anknüpft und dann diese Episode vervollständigt. Eine Erzählerstimme als episches Mittel, das die sprunghafte und teils nicht-chronologische Anlage vermittelt, existiert nicht. Die Wechsel und Sprünge werden aber durch die Filmmusik getragen. Außer für die Bauform ist die Filmmusik auch für die Übertragung der schicksalhaften Befangenheit verantwortlich, die den Figuren der verschiedenen Ebenen zum Verhängnis wird. Die Filmmusik verknüpft Thema, Struktur und Konfliktpotenzial und hat dadurch einen Fabelzusammenhang. In der Italien-Episode stirbt die Frau des Geigenbauers Busotti bei der Geburt ihres Kindes. Um diesen Verlust zu verarbeiten, kommt er auf die ungewöhnliche Idee, den Lack mit dem Blut seiner toten Frau einzufärben. Sie und das Instrument sind nun eins. In ihm klingt die Seele der Frau mit, und ihr Schicksal vermittelt sich auf wundersame Weise denen, die das Instrument spielen, was durch die Farbe des Lacks augenscheinlich und durch die Filmmusik immer wieder hörbar wird. Doch bevor dies in den aufgeteilten Abschnitten der Italien-Episode klar wird, gibt es einen Rückblick: Die schwangere Frau des Geigenbauers lässt sich mit Tarot-Karten die Zukunft wahrsagen. In jeder Episode des Films, die in einem anderen Land und zu einer anderen Zeit spielt, wird eine Karte aus dieser Rückblende in der Cremona-Rahmenhandlung aufgedeckt, gedeutet und auf die in der jeweils aktuellen Episode agierenden Figuren übertragen. Es gibt fünf Karten, die aufgedeckt und der Reihe nach ausgedeutet werden. Dies ergibt die Strukturierung des Films im Großen, die einer 5-Akt-Struktur gleichkommt. Teil der Filmfabel ist die Idee, dass sich die Wahrsagungen erst mit den Figuren der anderen Episoden erfüllen. Mit Blick auf die wieder zusammengelegten Karten endet der auf diese Weise episch gerahmte Film. (s. Abb. 13) Diese Episodenstruktur erhält durch die episierende Fabel-Idee nicht nur eine äußere Geschlossenheit, sondern auch innere Verbundenheit, sodass die weit schweifende Handlung zusammengehalten werden kann. Es öffnet sich außerdem ein Freiraum, um Rückblicke (Analepsen) in die Montréal- und in die Cremona-Episode einzubauen. Diese Rückblicke, die den Hergang erst nach und nach preisgeben, erzeugen dabei eine ähnliche Spannung, wie man sie aus analytischen Fabelkonstruktionen kennt. Die Filmmusik symbolisiert durch den fabelrelevanten Einfall der musikalischen Verknüpfung zwischen der Frau des Geigen-

237

Cremona (1681)

Abb. 13: Anordnung der Rahmenhandlungen (Cremona, Montréal) und Episoden in Le Violon Rouge

vor dem Tod der Frau/Legen der Tarotkarten

nach dem Tod der Frau/Mann lackiert die Violine

Waisenhaus/ Wien

„Zigeuner“/ Oxford

18. Jh.

19. Jh.

Shanghai 1960er

Waisenhaus/ Wien

Montréal die wichtigsten Einsätze des musikalischen Leitthemas

1990er

0:00:00–0:03:50 *** 0:03:50 ***

Leitthema Leitthema (auch szenisch)

0:06:20 (Karte 1) 0:17:50 Anordnung als Handlung

0:19:16 0:21:25 (Karte 2) Leitthema

0:21:55 0:45:10

Leitthema (szenisch,variiert)

0:46:05 0:47:40 0:48:35 0:48:48 (Karte 3)

Leitthema (szenisch, variiert)

0:49:13 1:05:45

Leitthema

1:07:20

Leitthema (auch szenisch)

1:11:05 (Karte 4) 1:11:25 1:28:05 1:28:50 (Karte 5) 1:29:16 1:30:45 1:46:05

Leitthema

*** 1:49:10 ***

Abspann = Zeitsprung rückwärts innerhalb einer Episode/Zeitebene

Leitthema Leitthema

1:49:25

Leitthema

*** = Zusammentreffen der Handlungszeit mit einem vorigen Abschnitt der gleichen Episode/Zeitebene

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

238

Chronologie der Ereignisse/ Weg der Violine

4.  Filmmusik und Analyse bauers mit der Violine und den Figuren, die auf ihr in den anderen Episoden spielen, auch den inneren Zusammenhalt. Das in Varianten wiederkehrende musikalische Thema erklingt sowohl intern (szenisch) als auch extern als beigeordnete Filmmusik. In der ersten MontréalEpisode ist das Thema erst in der Filmmusik zu hören, dann aber, als die Geige für die Versteigerung präsentiert wird, von einer Frauenstimme gesummt. Mit der Gesangsstimme wird die Sequenz überführt nach Cremona im Jahre 1681, wo die schwangere Frau ihrem Ungeborenen diese Melodie vorsingt. Die Geige ist unabhängig von dem, der sie spielt, Trägerin der immer gleichen Melodie, die aber auch musikstilistisch variiert vorkommt (z. B. als »Zigeuner«-Musik oder virtuose Variation im Stile Paganinis in der Oxford-Episode). Die besondere Wirkung, welche der Klang der Violine ausstrahlt, wird verschiedentlich filmisch verdeutlicht. Am häufigsten durch reaction shots, wenn Figuren dem Klang lauschen. In der rahmenden Montréal-Episode geschieht dies aber noch eindrücklicher dadurch, dass zur szenisch gespielten Melodie der Violine der filmmusikalische Orchesterklang der externen Filmmusik dazu erklingt (ab 1:41:40). Der Fabelzusammenhang der Filmmusik konkretisiert sich also durch die Gleichsetzung der auditiven Ebenen, d. h. die beiden auditiven Ebenen werden entgegen einer naturalistischen Logik miteinander verknüpft. Dieser Umgang mit den auditiven Ebenen verdeutlicht und stärkt den Fabelzusammenhang der Musik, weil die externe Musik, die als Begleitung verstanden wird, in die konkrete Handlung eindringt.

Für die Filmmusik zu Filmen mit mythologischen oder fantastischen Geschichten besteht die schwierige Aufgabe darin, den dramatischen und den epischen Anteilen gerecht zu werden und das ganze Universum, in dem sich die Geschichte abspielt, abbilden zu können. Die Harry-Potter-Filme (GB/USA 2002–2011, R. Chris Columbus, Alfonso Cuarón, Mike Newell, David Yates, M. John Williams, Patrick Doyle, Nicholas Hooper, Alexandre Desplat), The Lord of the Rings (NZ/USA 2001–2003, R. Peter Jackson, M. Howard Shore) oder Cloud Atlas (D/USA/HK/SG 2012, R.  Tom Tykwer, Lana und Lilly Wachowski, M. Reinhold Heil, Johnny Klimek, Tom Tykwer) sind Beispiele dafür, wie Filmmusik die permanenten Übergänge zwischen dramatischer Aktion und der epischen Dimension überbrücken muss. Leitmotive und Leitthemen, die den epischen Anteilen der Fabel gerecht werden, können die situative Spannung in konfliktreichen Situationen oder bei Actionszenen nicht genretypisch unterstützen. So entstehen Soundtracks, die sehr viel Musik enthalten, weil unentwegt neue Anforderungen für die Schaffung der Handlungseinheit gestellt werden. Filmmusik muss in solchen narrativen Kontexten fast in jeder Szene oder Sequenz

239

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

die relativ große dramaturgische Entfernung zwischen der epischen Dimension (mit überblicksartigem, erhabenem Gestus) und der dramatischen (konflikt- und affektorientierten) Aktion überbrücken.

4.4.7  Offene (dedramatisierte, sujetlose, episodische) Fabeltypen

Unter offenen Fabeltypen sind solche Fabeln zu verstehen, die ihre Spannung und das Interesse für die Geschichte nicht aus dem Verhältnis Figur–Konflikt– Handlung entwickeln, sondern ein generelles Thema aus Reihungen und Variationen von Motiven, einem ungewöhnlichen Blickwinkel, aus Widersprüchen (z. B. der raumzeitlichen Logik) oder aus unvollständig oder zufällig wirkenden Ausschnitten der erzählten Welt herleiten. Als Handlung kann hier nur das kunstvolle Arrangement der Beobachtungen oder Ausschnitte gelten, die oft als Episoden angeordnet sind, daher auch »episodisches Erzählen« genannt. Zeit, Raum und Kausalität werden dem untergeordnet. Die prominenten Merkmale der aristotelischen Dramaturgie haben hier kaum (oder deutlich weniger) Bedeutung. Konflikte können thematisiert werden, wirken aber wie ausgestellt und werden nicht durchgeführt. Durch Reihung von Begebenheiten oder Episoden und deren thematische oder assoziative Verkettungen entstehen narrative Formen der Verallgemeinerung der konkreten Begebenheiten. So entsteht auch ein individuelles Schema oder Prinzip für die Handlungskomposition. Dies führt zu offenen Erzählformen ohne kollidierende Handlung als Triebkraft des Fortgangs der Geschichte (daher auch die Bezeichnung »dedramatisiert« bzw. »sujetlos«). Offene Fabelkonzepte sind – wie dies schon für die offene Form besprochen wurde238 – durch einen zufällig wirkenden Beginn, kommentierende oder kontemplative Unterbrechungen und ein wie unvollständig wirkendes »offenes Ende«239 gekennzeichnet. Den Ausgangspunkt oder Blickwinkel für verschiedene denkbare Varianten offener Fabeltypen bilden z. B. die spezielle Psychologie einer Figur, Multiperspektivität, komplexe Themen, die nicht zu einer handlichen Form einer geschlossenen Geschichte verdichtet werden können, oder  gewisse Ereignisse des Alltags, die scheinbar ohne poetische Verdichtung dargestellt werden. Jeder Film kann seine eigene Form von Offenheit der Anlage und Deutung erzeugen. Die Filmschaffenden haben ganz unterschiedliche Wege gefunden,

238 239

240

Vgl. Exkurs 1 (»Geschlossene und offene Form«) in Kap. 1. In dem Sinne offen, dass das Publikum mit seinen eigenen Gedanken die entstehenden oder verbleibenden Lücken füllen bzw. Zusammenhänge herstellen muss, Allegorien chiffrieren und mehrere mögliche Deutungen zulassen sollte.

4.  Filmmusik und Analyse

Musik an der Konstruktion, Entfaltung oder Erschließung solcher Fabeln zu beteiligen  –  ebenso unterschiedlich, wie ihre Themen sind. Dementsprechend sollen nun mehrere Beispiele mit je eigenem Schwerpunkt und charakteristischen Aspekten der Offenheit die Varianten eines Fabelzusammenhangs der Filmmusik in offenen Fabelkonzepten zeigen. Beispiel 1: Oh Boy (D 2012, R. Jan Ole Gerster, M. The Major Minors, Cherilyn MacNeil) Im Film Oh Boy sind zehn Episoden zu sehen, die Ereignisse eines Tages der Hauptfigur Niko Fischer zeigen und von einem »ausklingenden Akkord«240 abgeschlossen werden. Musikeinsätze gliedern die Struktur und erklingen meist zwischen den Episoden als Übergang. Einige Episoden enthalten weitere Einsätze (Episode 5, 6 und 9), sodass insgesamt 16 cues vorkommen (ohne die Hintergrundmusik in der Szene). Während noch die Vorspanntitel zur ersten Episode zu sehen sind, will sich Niko aus der Wohnung seiner Freundin schleichen, um sich der offensichtlich verschleppten Beendigung der Beziehung ein erneutes Mal zu entziehen. Hier zeigt sich exemplarisch, dass Konflikte nur angedeutet, aber nicht auserzählt bzw. durchgeführt und nicht zur treibenden Kraft der Handlung werden. Die Bedeutung der Ereignisse ist nicht immer vollständig oder eindeutig zu entschlüsseln. Ereignisse und Episoden folgen wie von Zufällen aneinandergereiht, oft den vagen Interessen der Hauptfigur gar nicht entsprechend. Die Musik verhilft zu einem tragikomischen und teils ironischen Tonfall der Erzählung. Von den 16 Musikeinsätzen sind 13 eigens komponierte Jazztitel (in drei Grundrichtungen: ballad, standard medium und ragtime) von der Band The Major Minors. Sie korrespondieren in wenigen Fällen mit Stimmungen oder Affekten, sodass das Verhältnis von Einfühlung und Distanz das Publikum in Richtung einer beobachtenden Rezeptionshaltung lenkt. So entsteht Abstand bei gleichzeitigem Interesse an der sympathischen Hauptfigur, wodurch die Musik als ironischer Kommentar wirken kann (wiederum exemplarisch Episode  1) und die Tragikomik einiger Dialoge und Episoden möglich bzw. unterstützt wird. Drei Musikeinsätze sind nachdenkliche Kompositionen für Klavier solo, die affirmativ zum Figurenaffekt wirken. Sie erklingen in Episode 6, 9 und 10 (bei 0:38:05, 1:04:15 und 1:13:15). Der dramaturgische Grund für den Unterschied zu den ansonsten zur Gliederung und ironischen Distanz eingesetzten Jazz-Stücken ist darin zu

240

»Nach Gustav Freytag kann die letzte, beendende Sequenz eines Filmes, durch die die Gesamtheit der Filmhandlung zum Abschluss gebracht wird, analog zum einstimmenden Akkord als ausklingender Akkord bezeichnet werden.« Siehe: Stutterheim und Kaiser (2009/2011), Handbuch der Filmdramaturgie: Das Bauchgefühl und seine Ursachen, S. 344.

241

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse suchen, dass in Episode 6 im Dialog das Grundthema in einer möglichen Konkretisierung benannt wird. In der Mitte des Films ist dieser Hinweis für die Deutungsversuche des Publikums eine hilfreiche Stütze. Die Einsätze in Episode  9 und 10 dienen der Schlusswirkung, die auch in offenen Fabeltypen in zumindest einer minimalen Form erreicht werden muss. Genaue Beobachtungen, sorgfältige Dialoge und wie zufällig und dokumentarisch wirkende Szenen zeigen alltägliche Missverständnisse, kleine Überraschungen aber auch Erniedrigungen, Scham, Staunen oder Befremden gegenüber Normalität und Absurdität des Alltags. Für diejenigen, die diese Art von Situationen schon einmal erlebt haben, kann gelten, dass eigene Erfahrungen dazu bewusst oder unbewusst wachgerufen werden. So entstehen zahlreiche emotionale Situationen auch ohne die Hilfe der Musik. Ihre Rolle und Beziehung zur Fabel liegt vielmehr darin, dass durch subtil gehaltene Distanz der tragikomische Blickwinkel eingenommen werden kann und wir mit der dazu gehörigen Distanz beobachten können, wie die komischen Momente zur größer werdenden Verwicklung beitragen und umgekehrt: wie die Verwicklungen zur Steigerung der Komik beitragen. Der Erfolg des Films mag darin liegen, dass aus dem gelassen-ironischen Blickwinkel heraus das Problem einer ganzen Generation junger Menschen, die ihre eigenen Interessen nicht klar benennen können, aber vielen Erwartungen ausgesetzt sind, zum Leitthema wird. Es manifestiert sich als filmische Form, indem der Film dies in Episoden anordnet. Der Fabelzusammenhang in Oh Boy liegt bei dieser Variante eines offenen Fabeltypus in struktureller Hinsicht begründet (Gliederung der episodischen Reihung von zufällig wirkenden Ereignissen) und in der Trennung der Affekte, welche eine Beobachterperspektive auf das Geschehene erlaubt, ohne die die spezielle Art von Emotionalität (Resonanz mit eigenen Erfahrungen und zugleich Ironie und Tragikomik) kaum möglich wäre. Beispiel 2: In the Mood for Love (HK/F 2000, R. Wong Kar-Wai, M. Shigeru Umebayashi, Michael Galasso) Der Film In the Mood for Love lässt die im Sujet des Ehebruchs liegenden Konfliktfelder fallen und formt und rhythmisiert stattdessen Motive der inneren Verfassung der Figuren (ihre verborgene Empfindsamkeit und die Grenzen ihrer Haltung zu den sie jeweils betrügenden Ehepartnern). Die äußeren Vorgänge können als Ereignisse verstanden werden, welche als lyrische Mittel den inneren Vorgängen der Figuren eine äußerliche Präsenz geben. In einem solchen Fall kommt der Filmmusik eine besondere Rolle zu, die die Deutung dieser Vorgänge und Metaphern betrifft. So scheinen durch die Musik die beiden Hauptfiguren, wenn sie sich zufällig begegnen, umeinander herum zu »tanzen«, ohne dass sie gemerkt haben, wie sie sich ineinander verlieben und ohne dass sie sich diese

242

4.  Filmmusik und Analyse Liebe eingestehen können. Der Fabelzusammenhang der Filmmusik in In the Mood for Love zeigt sich darin, dass sie eben diese Sequenzen heraushebt, die den ganzen Film strukturieren und in denen das Thema tangiert und variiert wird. Die Filmmusik gibt dem visuellen Arrangement Musikalität und öffnet die Deutung der Situation zwischen den beiden Hauptfiguren. Es ist (bis auf intern erklingende Songs der Handlungszeit und den Schluss des Films) die immer gleiche Musik zu hören. Es handelt sich sogar um den immer gleichen take für jene Momente, in denen die uneingestandene und unerfüllte Liebe der gleichermaßen betrogenen Ehepartner Su und Chow begonnen haben könnte und die visuell durch slow motion markiert sind (0:04:15, 0:13:40, 0:22:55, 0:35:10, 0:40:45, 0:52:55, 0:59:55, 1:08:55). Diese nur latent bestehende Frage, welche die Musik gleichsam von Anfang an zu beantworten versucht, stellt Chow schließlich selbst im Verlauf des Films. So wenig signifikant solche Momente im Leben sein mögen, so intensiv weist in der filmisch realisierten Geschichte die immer gleiche, eindringliche Musik von Shigeru Umebayashi (die allerdings aus einem anderen Film stammt241), an den genannten Stellen auf diese möglichen Momente hin. Mithilfe der Musik wird außerdem die Anverwandlung der damit verbundenen Emotionen möglich. Unterstützt wird die Konzentration auf diese scheinbar nebensächlichen Situationen durch logische Widersprüche in den zeitlichen Abläufen (Zeitsprünge) und Wiederholungen einer Situation in mehreren Varianten (Su und Chow verpassen sich/sie treffen sich doch). Die verwendeten Songs aus der Handlungszeit, die als szenische Musik vorkommen, korrespondieren nur zum Teil mit den uneingestandenen bzw. unerfüllten Wünschen der Figuren.242 Am Ende ist Su nicht auf Chows Einladung eingegangen, gemeinsam wegzugehen. Chow, der einen Schlusspunkt setzen möchte, spricht ein Geheimnis im Angkor Wat Tempel in ein Loch in der Wand, doch es bleibt offen, welches Geheimnis er meint (ist der Sohn von Su sein eigener Sohn?). Nur zur Szene im Tempel hören wir eine andere, von Michael Galasso komponierte Musik, die als Variation des Stückes von Umebayashi zu erkennen ist. So realisiert sich musikdramaturgisch das offene Ende dieses Fabelkonzeptes: Einerseits ist durch die variierte Musik zu spüren, dass das zuvor Geschehene abgeschlossen werden soll, andererseits ist die musikalische Nähe so groß, dass die Musik ein Fabel-relevantes Symbol dafür ist, dass doch keine echte Lösung gefunden wurde und offenbleibt, welches Geheimnis gemeint ist. Wong Kar-Wai ent241 242

Gemeint ist der Film Yumeji (J 1991, R. Seijun Suzuki). Die Hauptfigur verliebt sich hier in eine unbekannte Schöne. Auffällig wird dies dennoch durch den Song Quizás, quizás, quizás von Osvaldo Farrés in der Version von Nat King Cole (1958), der auf seine Art das In-der-Schwebe-Bleiben der Situation auf den Punkt bringt.

243

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse fernte eine gedrehte Sex-Szene zwischen Su und Chow, wodurch die – im Bezug auf die Deutung – Offenheit des Endes noch deutlicher wird. Der offene Fabeltypus ist hier durch fehlende Dramatisierung des Ehekonflikts, die lyrisch-metaphorische Dimension der Handlungen und die nicht eindeutig zu klärenden Umstände am Ende gekennzeichnet. Die Filmmusik bildet keine Ergänzung zur Handlung, sondern ist  –  ungewöhnlich konsequent in diesem Sinne eingesetzt – konstituierend für die musikalische zu nennende Anlage des Films, der um die beschriebenen Sequenzen herum gebaut ist. Das Fehlen des szenischen Tons auf der ersten auditiven Ebene zu diesen Sequenzen verstärkt den generellen, fabelrelevanten Eindruck der Musik noch. Beispiel 3: Toni Erdmann (D/AT/RO/F 2016, R. Maren Ade, M. George Benson) Der Film Toni Erdmann hat gar keine beigeordnete, also externe Filmmusik. Dennoch wird mit der szenischen Musik dramaturgisch gearbeitet. Wenn Ines, die international agierende Beraterin, ihrem Vater zuliebe für die bulgarische Gesellschaft eines Festes einen Song von Whitney Houston darbietet,243 zeigt sich an Ines der Wunsch auszubrechen, nicht mehr nur den Anforderungen anderer (Arbeit, Eltern) zu entsprechen, sondern die eigenen Wünsche wieder zu entdecken und zu leben. Im Arbeitsleben gelingt ihr dies (noch) nicht, aber das Singen auf der ungewollten Bühne wird zum ersten Ort, der den Schritt vom BewusstWerden zum Protest oder sogar Ausstieg möglich machen könnte. Bisher stand sie sich dafür selbst im Wege. Am Vater, den als Musiklehrer das gemeinsame Musizieren offenbar beglückt, zeigt sich ein unkritisches Wesen, das er aber an seiner Tochter kritisiert, die ihr Menschsein vergessen habe. Einige Textzeilen konkretisieren noch weitere Themen, die zwischen Vater und Tochter unausgesprochen oder ungelöst bleiben.244 Da die Verhandlung dieser Themen im Widerspruch zur Situation der Feier steht, trägt die Musiknummer mit zur Komik und Absurdität der Szene bei. Auf Festivals und im Kino löste diese Szene laut eigener Beobachtungen und Kritiken245 Begeisterung und Applaus aus. Der Grund mag nicht nur in der herausragenden darstellerischen Leistung liegen, sondern auch in der Tatsache, dass hier ein Höhepunkt in der Handlung entsteht. Wie in einem Brennpunkt für das

243 244 245

244

Greatest Love of All von George Benson (1977) vom Debütalbum Whitney Houston (1985). So z. B. »I dicided long ago / Never walk in anyone’s shadows«, »I found the greatest love of all / Inside me« oder »No matter what they take from me / They can’t take away my dignity«. Andrea Seier, »The greates Schnuck of all. Über Väter und Töchter im Film Toni Erdmann«: https://www.zfmedienwissenschaft.de/online/blog/greatest-schnuck-all [letzter Zugriff: 3.12.2019].

4.  Filmmusik und Analyse Thema des Films, der sich als Sujet die Auswüchse neoliberaler Arbeitswelten gewählt hat, zeigt sich in der Darbietung des Songs der innere Konflikt, der auch für viele andere Szenen den psychologischen Hintergrund bildet.246 Die Musiknummer ist die musikalische Variante einer Reihe von tragikomischen Ereignissen und steht damit für den Blickwinkel der Fabelidee. Das entfremdete Verhältnis zwischen Vater und Tochter in einer entfremdeten, globalisierten Gesellschaft und der beim Vater offene, bei Ines verdeckte Wunsch nach Nähe zueinander finden ein treffendes, die Fabel stützendes musikalisch-filmisches Bild. Konventionelle Filmmusik würde entgegen dem Charakter der offenen Fabel Antworten suggerieren, wo eigentlich Fragen gestellt werden, und würde vermutlich dazu führen, dass die vielen Ursachen für Entfremdung übersehen oder auf einen allgemeinen Konflikt zwischen Tochter und Vater reduziert werden. Beispiel 4: Elephant (USA 2003, R. Gus van Sant, M. Hildegard Westerkamp, SD. Leslie Shatz) Auch Elephant hat keine eigentliche Filmmusik bis auf eine Ausnahme am Anfang und zum Abspann.247 Die schwer begreiflichen Vorgänge an der Columbine Highschool im Jahre 1999 bilden den Anlass zu einer Filmhandlung ohne Kausalkette, Handlungslogik, Konfliktdarstellung und der Auseinandersetzung von Protagonisten und Antagonisten. Die Struktur des Films orientiert sich an etwas anderem: Van Sant folgt in multiperspektivisch angelegten Episoden einzelnen Jugendlichen auf ihren Wegen in der Schule an dem Tag des Amoklaufs. Sein genauer Blick erfasst dabei vieles, was am Rande der Geschichte vom Hergang des Amoklaufs liegt. Die eigentliche Geschichte ist daher nicht der Hergang, die Erzählung von Tätern und Opfern. In dem Bewusstsein, dass keine einfachen Erklärungen für die Ursachen zu finden sind, die als dramatische Handlung exemplifiziert werden könnten, ist die Handlungskomposition strukturell und in der Deutung offen angelegt und spart dramatische Aktion aus (dedramatisiert, sujetlos). So wird beiläufig reflektiert, welche Hintergründe zur Tat bekannt

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247

Der Film kann auch aus Sicht der gender studies Erkenntnis bringend untersucht werden, wobei ebenfalls die Darbietung des Songs als Schlüsselmoment im Zentrum steht. Siehe nochmals den Beitrag von Andrea Seier, »The greatest Schnuck of all. Über Väter und Töchter im Film Toni Erdmann«: https://www.zfmedienwissenschaft.de/online/blog/greatest-schnuck-all [letzter Zugriff: 3.12.2019]. Der Beginn der Klaviersonate Nr. 14, op.  27 Nr. 2 von Beethoven, der sogenannten Mondscheinsonate, erklingt ab 0:08:20 als Vorwegnahme des handlungsbedingten Erscheinens in der Mitte 0:48:30; auch zum Abspann erklingt ein Klavierstück von Beethoven, die Bagatelle Nr. 25, WoO 59, bekannt als Für Elise – ebenfalls motiviert durch das frühere szenische Erklingen (0:44:55), aber überlagert von einer Klangkomposition von Hildegard Westerkamp.

245

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse Zeitsprünge rückwärts

Name als Zwischentitel

multiperspektivische Korrespondenz

0:00:00 0:01:50

John

0:03:45

Elias

0:08:20

Mondscheinsonate Westerkamp

0:11:50 0:13:25

Nathan begegnet Brittany, Jordan & Nicole 0:37:45

0:14:30

Nathan & Carrie

0:17:00

Acadia

0:19:45

Elias, John & Michelle 0:36:15 0:56:45

0:21:20

John mit Hund 0:41:30 1:02:55

0:21:55

Westerkamp

Eric & Alex

0:24:45

Alex in der Mensa hört …

Michelle

0:28:30 + 0:35:40

Westerkamp

0:36:15

Elias, John & Michelle 0:19:45 0:56:45

0:37:30

Michelle in der Bibliothek 0:58:24

0:37:35

Brittany, Jordan & Nicole

0:37:45

Nathan begegnet Brittany, Jordan & Nicole 0:13:25

0:41:25

John mit Hund 0:21:20 1:02:55

0:44:30

Brittany, Jordan & Nicole auf der Toilette 1:05:25

0:44:55

Alex spielt …

0:48:30

Alex spielt …

0:56:25 0:56:45

0:58:25

… Für Elise (szenisch) … Mondscheinsonate (szenisch) Westerkamp

Elias, John & Michelle 0:19:45 0:36:15

0:37:30

Abb. 14: Multiperspektivische Anlage in Elephant

246

… überlaute Geräusche Westerkamp

0:24:55 0:27:35

Musik + Sound Design

(Vorspann)

Michelle in der Bibliothek hört …

… Laden der Waffen von Eric und Alex

4.  Filmmusik und Analyse Zeitsprünge rückwärts

Name als Zwischentitel

multiperspektivische Korrespondenz

0:58:30

Eric & Alex zu Hause

1:02:55

John mit Hund 0:21:20 0:41:25

1:04:00

Musik + Sound Design

Beginn des Amoklaufs

Westerkamp

Elias in der Bibliothek hört …

1:04:50

0:37:30

0:58:25

… Laden der Waffen von Eric und Alex

Brittany, Jordan & Nicole auf der Toilette hören … 0:44:30

1:05:25

… Schüsse

1:06:30

Westerkamp

1:07:45

Benny

1:09:20

Westerkamp Westerkamp

1:13:20 1:14:40

(Abspann)

Für Elise

+

Westerkamp

1:18:05

= erkennbare Kreuzungspunkte der verschiedenen Perspektiven

Abb. 14: Fortsetzung

wurden, wie die Ereignisse medial rezipiert und meist vorschnell gedeutet wurden. Schließlich wird ohne Pathos gezeigt, wie das Töten nach Kenntnissen durch die Videokameras in der Schule ablief. Aus mehreren Perspektiven werden die Vorgänge an der Columbine Highschool geschildert, jeweils bis kurz vor Beginn des Amoklaufs. Insgesamt fünfmal erfolgt ein zeitlicher Rückwärtssprung, ab dem dann andere Protagonisten im Zentrum einer neuen Episode stehen. In der letzten Episode (ab 1:04:00) setzt sich die Handlung dort fort, wo die früheren Episoden endeten (ab 1:02:55). Bekannte Szenen wiederholen sich bei dieser Anlage aus anderer visueller und auditiver Perspektive (siehe Abb. 14) und bereichern den Informationsstand zwar, allerdings ohne eine Antwort auf die Frage zu geben, wie oder warum dies geschehen konnte. Vielmehr sind Anlage und Blickwinkel des Films gekennzeichnet von einem großen Interesse an den Jugendlichen und dem, was sie generell beschäftigt oder bewegt. Das Sound Design hat eine besondere Bedeutung, weil die Ursache für einen zu hörenden Klang oftmals entweder vergebens im Bild gesucht wird oder sich im Nachhinein als falsch herausstellt. Es löst sich immer wieder von seinen im Bild vermuteten, auslösenden Klangquellen. Dann handelt es sich um eigene Klangkompositionen, die eingesetzt werden wie sonst Filmmusik. Darunter befindet sich auch das Stück mit dem programmatischen Titel Türen der Wahrnehmung von

247

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse Hildegard Westerkamp.248 Die Fabelidee von Elephant scheint wie von diesem Motto beeinflusst zu sein und lädt uns ein, einen Blick hinter verschiedene »Türen« zu werfen und sich so dem schwer zu fassenden Thema Amoklauf unter Jugendlichen anzunähern. Das Sound Design nimmt in Elephant den Klangraum der beigeordneten, externen Filmmusik ein und wirft Fragen zu dem im Bild Sichtbaren auf durch asynchrone oder nicht passend wirkende Ton-BildKopplungen (z. B. versetzte oder falsche Türgeräusche, Durchsagen auf einem deutschen Bahnhof, Tiergeräusche, Knistern von Feuer u. v. a.), die durchaus irritierende Assoziationen wecken. Diese ästhetisch auffällige Entscheidung mag typisch für einige Filme von Gus van Sant sein, geht hier aber mit Thema und Struktur des Films eine besondere Beziehung ein. In der Gesamtschau der multiperspektivischen Fabel ist ein Sinn zu erkennen: Das Phänomen der Attentate auf Mitschüler und Lehrer ist  –  um im Bild des titelgebenden Elefanten zu bleiben – zu groß, um erklärt oder passend erzählt werden zu können. Ursprung für den metaphorischen Titel »Elephant« ist daher eine asiatische Anekdote, die auf die Größe eines Problems verweist, das nur in Ausschnitten untersucht, aber nie vollständig erfasst werden kann. Die Mondscheinsonate und Für Elise von Beethoven sind Klavierstücke, die einer der beiden Amokläufer zu Hause spielt. Dies gibt offenbar den Anlass, sie als externe Filmmusik am Anfang und zum Abspann einzusetzen. Die dedramatisierte Fabelidee zeigt sich auch in der Verwendung dieser Stücke als Filmmusik, da der aufgerufene Affekt der Musik und ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund keine Rolle für die Handlung spielen. In einem Interview erklärt van Sant, dass schon ein Komponist für die Filmmusik beauftragt wurde, dann aber der Jugendliche, der Alex darstellte, beim Dreh diese Stücke zufällig spielte. Daraufhin entschied sich van Sant, diese Stücke als Filmmusik zu verwenden.249 Eine mögliche Deutung dieser Entscheidung wäre folgende: Ebenso zufällig wie die Auswahl der Stücke erfolgte, entschied sich auch, wer Opfer des Amoklaufes wurde. In der Polyphonie der auditiven »Stimmen« in van Sants Film ist die Musik Beethovens (laienhaft gespielt und in einer professionellen Aufnahme) eine von vielen Bereicherungen, die zugunsten der vielschichtigen Betrachtungsweise des Themas und entfernt von Klischees filmischer Darstellung wirken.

248 249

248

Siehe zu van Sants musikalisiertem Sound Design, das vom Handlungsraum emanzipiert erklingt, die Untersuchungen von Johannes Varga (2010), Extradiegetisches Sounddesign in den Filmen von Gus van Sant. Siehe das Interview mit van Sant online unter: www.geraldpeary.com/interviews/stuv/vansant-elephant.html [letzter Zugriff: 3.12.2019]. Vgl. auch: Varga (2010), Extradiegetisches Sounddesign in den Filmen von Gus van Sant, S. 51 f.

4.  Filmmusik und Analyse Beispiel 5: Orlando (GB/RUS/I/NL 1992, R. Sally Potter, M. David Motion, Sally Potter) In Orlando hören wir als Filmmusik eine Musik, die deutliche musikästhetische Merkmale von experimenteller Pop-Musik und Allusionen zu Barockmusik hat, jedoch klar erkennbar aus der Entstehungszeit des Films stammt. Obwohl das dominierende Sujet (Orlando als Günstling Elisabeths  I. im 16.  Jahrhundert) eine  –  zumindest konventionell gedacht  –  historisierende Filmmusik nahelegt, wird diese Möglichkeit ausgeschlagen und damit eine offene, sujetlose Fabel gestützt. Durch die ahistorische Musik wird deutlich, worauf die Fabel abzielt, die von Virginia Woolfs Romanvorlage »Orlando« (1928) übernommen wurde. Es geht am Beispiel einer durch die Epochen reisenden zentralen Figur mit wechselndem Geschlecht um die Rollenbilder, mit denen Männer und Frauen gesellschaftlich und privat Entwicklungsmöglichkeiten und Freiräume für eigene Lebensentwürfe haben oder aber um die Umstände, die ihnen dies verwehren. Der Blickwinkel ist der einer postmodernen Figur, die durch Zeit, Raum und über Geschlechtergrenzen hinweg sich bewegen kann. Diese Fabel ist bereits in Virginia Woolfs Buchvorlage, auf der der Film beruht, angelegt, wird aber weitergedacht und mit filmischen, anti-illusionistischen Mitteln, darunter die das Sujet verfremdende Musik, glaubhaft gemacht.

Beispiel 6: The Hours (USA/GB 2002, R. Stephen Daldry, M. Philip Glass) Die Filmfabel von The Hours kann zumindest in ihrem wesentlichsten Aspekt als offener Fabeltypus angesehen werden. Der Film basiert auf der Romanvorlage von Michael Cunningham. Die Fabelidee beruht darauf, dass Figuren miteinander interagieren, die raumzeitlich keine Beziehung haben können. Diese Anlage ist in Virginia Woolfs Roman Mrs. Dalloway bereits vorgeprägt: Zwei Figuren (Clarissa Dalloway und Septimus Warren Smith), die sich nie persönlich begegnen, beeinflussen sich dennoch gegenseitig. Sie werden in eine enge Beziehung gesetzt, um eine facettenreiche emotionale und psychologische Innenperspektive von Mrs. Dalloway zu ermöglichen. Der Film zeigt anschaulich den schon von Aristoteles benannten dramaturgischen Vorrang der Fabel vor den Figuren, welche einbezogen werden, die Kombination aus Struktur und Wirkung der Fabel – auch in ihren offenen Varianten – zu ermöglichen. Drei Frauen in drei Zeitepochen werden zueinander in Verbindung stehend gezeigt. Innerhalb einer jeden Geschichte gibt es geschlossene Handlungsabläufe. Die alles verknüpfende Fabel entfaltet sich hier über die Personen, Zeitebenen und Teilhandlungen hinweg entlang der inneren Verfassung der Figuren, die wie Persönlichkeitsanteile einer sie anscheinend verknüpfenden Figur wirken. Es ist

249

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse Mrs. Dalloway aus Virginia Woolfs gleichnamigem Roman.250 Eine aufwendig gestaltete fast 15-minütige Eingangssequenz, die mit Musik von Philip Glass unterlegt ist, soll uns diese Fabel-Konstruktion vermitteln und lenkt die Aufmerksamkeit auf die in Beziehung stehenden Facetten von Emotionen, Psychologie und Handlungen der drei Figuren. Wenn auch visuell bereits deutliche Hinweise auf die logisch kaum zu erklärende Verbindung zwischen den Figuren gegeben werden, verknüpft die an minimal music orientierte Filmmusik auf ihre auf die Zeit anspielende Art die Ebenen. Durch für diese Musik typische Überlagerung verschiedener Metren entsteht ein fühlbares musikalisches Symbol für die Fabelkonstruktion mit sich überlagernden Zeitebenen bzw. für die auch visuell umgesetzte Relativierung der Zeit.251

4.5  Sujetbezug der Filmmusik

Das Zusammenwirken von Fabel und Sujet – oder mit dem Vokabular der angloamerikanischen Filmtheorie ausgedrückt story und plot – legt nahe, dass der Fabelzusammenhang der Filmmusik in Verbindung zum Sujetbezug von Filmmusik gesehen werden kann. Musik im Film kann implizit und explizit ausdrücken, wie das Generelle der Fabel und das Konkrete des Sujets aufeinander bezogen sind. Jede handlungsbedingte Musik, vor allem wenn Musik einen Grund für aktive Handlungen der Figuren darstellt, hat einen direkten Sujetbezug. Aber auch externe Filmmusik, die affirmativ zu aktiv handelnden Figuren eingesetzt wird, welche die Handlungszeit oder den Handlungsort charakterisiert oder die Handlungslogik von Szenen und Sequenzen unterstützt, hat einen Sujetbezug. Er kann dann auch als indirekter Sujetbezug bezeichnet werden. Viele, meist als narrativ bezeichnete Funktionen der Filmmusik können als mögliche Varianten des Sujetbezugs von Musik im Film erschlossen werden. Mit der Bezeichnung Sujetbezug kann aber die Relation zur Fabel mitbedacht werden. Damit kann die hier grundsätzlich unterstellte mehrfache Wirksamkeit und vielfache Richtung der Funktionalität von Musik berücksichtigt werden.

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Vgl. zu diesem Beispiel: Stutterheim und Kaiser (2009/2011), Handbuch der Filmdramaturgie: Das Bauchgefühl und seine Ursachen, S. 279 ff. Eine genauere musikalische Analyse findet sich in: Robert Rabenalt (2013), »Der Einsatz von Musik und Ton bei Varianten des multiperspektivischen Erzählens«.

4.  Filmmusik und Analyse

4.5.1  Thesen zum Sujetbezug der Filmmusik

Der Sujetbezug der Filmmusik kann direkt oder indirekt entstehen. Direkt funktioniert der Sujetbezug über die in der Handlung erklingende Musik. Indirekt manifestiert er sich über externe Filmmusik, z. B. über musikalische Stile, Gattungen und Instrumente, die einer Handlungszeit oder einem Handlungsort hinreichend zugeordnet werden können. Der indirekte Sujetbezug entsteht oft mithilfe filmmusikalischer Topoi, also über erlernte außermusikalische Bedeutungen und Zusammenhänge, die an bestimmte musikalische Mittel oder Strukturen geknüpft sind. Hierdurch können Aspekte des konkreten Handlungsgeschehens nonverbal und ohne umständliche visuelle Erklärungen kommuniziert werden. Die semantischen Implikationen durch Musik werden nicht unbedingt über tatsächlich authentische musikalische Mittel erzeugt, sondern durch Setzungen oder das, was für authentisch gehalten wird. Es reicht zudem aus, wenn einige wenige Aspekte musikalischer Gestaltung im Film zu einem stabilen Teil des mediumspezifischen Wissens geworden sind (insbesondere für ein spezielles Genre), um die Imaginationsleistung für die gezeigte Welt zu befördern. Der Sujetbezug der Filmmusik basiert auf einem möglichen Realitätsbezug von Musik, den sie durch ihre ethnologische und soziologische Verankerung in der Gesellschaft erlangt. Besonders in der Wahl der Instrumente kommt dies zum Ausdruck, z. B. bei einem ethnisch relativ klar zu verortenden Instrument wie einer Bambusflöte, einer Flamenco-Gitarre oder einem Dudelsack, sofern z. B. das damit verknüpfte Land bzw. Region als Handlungsort oder Herkunfts- oder Sehnsuchtsort einer Figur usw. gemeint ist. Tatsächlich äußern sich viele Filmmusikerinnen dahingehend, zu allererst einen spezifischen Sound für einen zu erarbeitenden Film zu suchen. Hierin drückt sich vermutlich der abwägende Gedanke aus, dass (analoge bzw. elektronische) Instrumente und musikalischer Stil mit der imaginierten Welt oder einer Grundstimmung korrelieren sollen. Zugleich aber soll und muss praktisch gesehen die Möglichkeit zur Abstraktion bestehen. Teilaspekte der Geschichte und der Handlung bilden zwar den Ausgangspunkt einer filmmusikalischen Idee (Instrument, Rhythmus, Melodie usw.), diese müssen aber auch zu verschiedenen weiteren Gelegenheiten und in anderen Kombinationen sinnvoll zur Handlung zugeordnet werden können. Dieser Sinn betrifft nicht selten generelle Aspekte der Relation von Thema, Figurenkonflikt, Blickwickel und Verlauf der Handlung, die – wenn sie als Einheit gedacht werden – mit dem Begriff Fabel umrissen werden können. Filmmusikalische Topologien erlangen ihre sujetbezogene Semantik durch Zuschreibungen. Solche Zuschreibungen – angewendet etwa zur musikalischen Untermalung von Standardszenen wie Beerdigungen, Liebesszenen, Verfolgun-

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

gen, Intrigen, Schlachten u. a. – scheinen fest im kulturellen Gedächtnis und filmgeschichtlichen Wissen verankert zu sein. Das kalkuliert eingesetzte Wissen der Filmschaffenden um dieses Wissen des Publikums ist somit Teil der Musikdramaturgie im Film. Folgende Definition soll den Sujetbezug der Filmmusik charakterisieren und kann als Ergänzung zu den Wirkungsbereichen herangezogen werden, die nicht durch den Fabelbezug beschrieben werden können: Der Sujetbezug der Filmmusik ergibt sich aus den musikalisch repräsentierten Ereignissen in der Handlung oder betrifft die äußerlich erkennbaren Handlungsabläufe. Er ist das musikdramaturgische Mittel, mit dessen Hilfe Umfeld und Milieu, handlungsrelevante Charakteristika der Figuren und Orte der gezeigten Welt und damit dramaturgisch relevante Hierarchien und Grenzlinien kommuniziert werden.

Konkreter ausgedrückt heißt das beispielsweise, dass ein Sujetbezug der Filmmusik entsteht, wenn mithilfe der in der Handlung erklingenden Musik oder mit externer Filmmusik Figurenaffekte illustriert werden, das Agieren der Figuren untermalt wird oder Herkunft, Eigenheiten und Fähigkeiten der Figuren näher beschrieben werden, die für das Verständnis der unmittelbaren Handlung notwendig sind. Musik »erzählt« dann von der Umwelt oder der Innenwelt sowie von den Begrenzungen der Handlungsoptionen einer Figur in dieser Umwelt. Musik adressiert damit zugleich die dramaturgisch bedeutsamen Bedingungen und Hierarchien, die die Handlungslogik betreffen.

4.5.2  Sujetbezug und narrative Funktionen

Die eben angestellten Überlegungen zeigen, dass der Sujetbezug der Filmmusik auch mit narrativen Funktionen von Filmmusik umschrieben und weiter differenziert werden könnte. Damit sind Phänomene gemeint, die dem basalen Verständnis der erzählten Inhalte dienen. Das Sujet ist nicht nur das »visuelle Thema« (Moussinac 1925, S. 77), welches die Handlung optisch, verbal und musikalisch »ausstattet«, sondern konkretisiert auch die eine Figur betreffenden, vom Milieu bestimmten Grenzlinien und raumzeitlichen Bedingungen, an denen sich die von der Fabel gesetzten Konflikte der Figuren praktisch entzünden. Der Sujetbezug der Filmmusik entsteht vor allem durch die Verbindung zum pathos der Figuren, das sich im konkreten Handeln zeigt, während die generellen Anschauungen einer Figur (ethos) oft einen Zusammenhang mit der Fabel haben.

252

4.  Filmmusik und Analyse

Mit Filmmusik wurden in der Kinogeschichte gewisse Einschränkungen bei der Ausstattung des Handlungsraumes mit dem passenden Ton überbrückt. Filmmusik kann von musikalischer Seite her Sets von Orientierungsklängen und Atmosphären (Atmos) im Sound Design, die den gleichen Zweck erfüllen, ergänzen. Sound Design in modernen Filmproduktionen könnte Filmmusik für diese Aufgabe eigentlich ersetzen. Dennoch ergibt sich ein noch heute gültiger Wirkungsbereich, z. B. welche Art von Musik, welche Instrumente oder Abspieltechnik typischerweise aus den umliegenden Häusern eines zu imaginierenden Ortes klingen. Barbara Flückiger schreibt dazu: »Eine Ausnahme [von der im klassischen Hollywoodkino fast ausschließlich visuell umgesetzten Orientierungsfunktion] bildet die Filmmusik, die – ausgehend von der Technik der couleur locale der Grande Opéra des 19. Jahrhunderts – ein eigenes System von Orientierungshinweisen auf Orte und Zeiten entwickelt hat. Teile einer ethnisch verankerten Musik  –  zum Beispiel Dixie oder spanische Gitarrenmusik  –  können einen Schauplatz charakterisieren; Hymnen […] können – wie Brown (1994: [S.] 52) bemerkt – ganze politische Mythologien vertreten; Kirchenorgel, Trommelwirbel, Marschmusik, Wienerwalzer verfügen über jene Bedeutungen höherer Ordnung, die Barthes als Mythen bezeichnet.« (Flückiger 2001/2007, S. 315)

Folgende Merkmale können unterschieden werden, die an die Auflistung von narrativen Funktionen des Sound Designs von Barbara Flückiger angelehnt sind und hier ergänzt und anders geordnet wurden:252 1. Exposition und Charakterisierung von Schauplätzen, Figuren oder für die Fabel wichtigen Gegenständen 2. zeitliche und örtliche Orientierung im Verlauf (Logizität von Sequenzen, Montageeinheiten, Szenenfolgen und Ereignissen) 3. Motivation für konkrete Handlungen der Figuren oder für die Bewegungen der Kamera 4. Erzählperspektive und Wissenstand des Publikums (Aspekte der Fokalisierung) 5. Figur-Umwelt-Relation zur Ausdifferenzierung der subjektiven psychischen und physischen Befindlichkeit der Figur in bestimmten Situationen bzw. Orten 6. Subjektivierung (an psychisch-mentalen Prozessen der Figur orientiert) 7. Desorientierung und Fremdheit

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Flückiger (2001/2007), Sound Design, S. 298–411.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Aus dieser Auflistung ist zu schlussfolgern, dass Filmmusik mit Sujetbezug auf der internen und der externen auditiven Ebene einen Beitrag zur Informationsdistribution liefert. Die Grenze zu einer Wirkung der Musik, die darüber hinaus auch die Deutung beeinflusst, ist allerdings schwer zu ziehen.

4.5.3 Das Zusammenwirken von Sujetbezug und Fabelzusammenhang

Die dramaturgische Wirksamkeit von Musik kann über den Moment eines einzelnen Musikeinsatzes hinausgehen. Dann wird verständlich, dass Motive in der Filmerzählung oder dass Motivfamilien als Varianten eines größeren Themas erscheinen. Die begriffliche Nähe der narratologischen Terminologie zur musikalischen (Thema, Motiv, Motivvariante) erscheint aus dieser Perspektive nur natürlich und kann die Analyse von Filmmusik und ihrer dramaturgischen Bedeutung lenken. Die Berücksichtigung dessen und die Unterscheidung von Fabelzusammenhang und Sujetbezug ermöglichen es, ausgehend von einer beliebigen Szene, welche ein Motiv verarbeitet, den Sinn der Szene und zugleich ihren Sinn für das Ganze zu erschließen. So können zusammengehörige Szenen und gegebenenfalls Schlüsselmomente identifiziert werden. Oder aber die Analyse startet von einem Höhepunkt oder anderen Schlüsselmomenten ausgehend, die meist einen Bezug zur Fabel haben und untersucht die narrative Umgebung bzw. Grundlage dafür, die eine solche Wirksamkeit als Schlüsselmoment überhaupt erst ermöglichen. Interessant ist bei der Analyse von Filmmusik schon die Frage danach, wann überhaupt bzw. wann genau Musik erklingt (durch das Setzen von cues). Fabelzusammenhang und Sujetbezug werden auch dadurch wesentlich bestimmt. Das Einsetzen von Musik verweist, mal deutlicher, mal unterschwellig, auf eine ordnende Erzählinstanz und stützt damit die globale Anlage der Geschichte (Fabel) oder lenkt die Aufmerksamkeit auf handlungsrelevante Details, sodass der Fortgang der Ereignisse möglich und logisch erscheint (Sujet). Schlüsselmomente in der Handlung zeigen nicht selten das Zusammentreffen von Sujet und Fabel. Dort treffen sich die konkrete Handlung und das Prinzip der Handlungsorganisation und so auch Musik mit Sujetbezug und möglicherweise zugleich mit Anteilen, welche die grundlegende Ausrichtung der Fabel betreffen. Der mimetische Impuls, der in Filmmusik oft zu spüren ist, erzählt von der subjektiven Sicht, wenn außermusikalische Einflüsse als Teil eines Sujets künstlerisch verarbeitet werden. Fabelzusammenhang und Sujetbezug können aber von derselben Musik hergestellt werden, da Musik auch dann ihren prinzipiell abstrakten Charak-

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4.  Filmmusik und Analyse

ter behält. Die Kombination der musikalischen Mittel, Arrangement und Instrumentierung können auf der einen Seite die Fabel stützen und andererseits durch den Sujetbezug auf die konkrete Handlung und die situativen Affekte eingehen. Die Untersuchung des Zusammenspiels von Fabelzusammenhang und Sujetbezug lässt konkret werden, was oft nur eine allgemein bleibende Feststellung ist: dass Filmmusik nicht nur einzelne Funktionen erfüllt, sondern komplexe, in einem Wechselspiel sich befindende dramaturgische Fragen berührt. Auch Qualitäten des Genrekinos lassen sich durch das Zusammenwirken von Fabelzusammenhang und Sujetbezug der Filmmusik konkretisieren. Zwei Beispiele, je eins aus dem Bereich von Mainstream- und Autorenkino, sollen das kaum zu trennende Zusammenwirken illustrieren. Beispiel 1: Gladiator (USA/GB 2000, R.  Ridley Scott, M.  Hans Zimmer, Lisa Gerrard) Als zu Beginn der Handlung von Gladiator die Hauptfigur nach gewonnener Schlacht in ein Festzelt geht, hören wir Filmmusik, die zur auditiven Ausstattung der Szene erklingt, so wie man sich Gebrauchsmusik zu dieser Zeit und zu diesem Anlass für die Darstellung im Kino vorstellen mag: Flöten spielen einfache Melodien in archaisch anmutender Satztechnik, ein Schlaginstrument und rhythmisches Rufen wie das von anwesenden Musikern sind zu hören (0:17:30–0:20:40). Aber weder sind Instrumente noch Musizierende zu sehen noch wird der sowieso unnötige Versuch unternommen, die Szene authentischer zu gestalten als nötig. Der Sujetbezug der Filmmusik erlaubt es sogar, die Trennung zwischen Musik im Handlungsraum und externer Musik außer Acht zu lassen. In der Analyse ist nicht klar, um welche Art Filmmusik (intern oder extern) es sich genau handelt. Der konkrete Zusammenhang suggeriert eine handlungsinterne Musik. Der visuelle und quasi musikethnologische Nachweis fehlt aber, weil er poetisch nicht notwendig ist. Die Filmmusik in Gladiator berührt aber bereits zur Einblendung des Titels und zu den ersten Filmbildern auch die Fabel (der Weg des Helden, Zusammenhalt der unterschiedlichen Abschnitte: erfolgreicher Feldherr, Kämpfe als Gladiator, Rache für die Ermordung seiner Familie, Vereinigung im Jenseits). Noch bevor die erste Schlacht beginnt, erklärt sich dem Publikum der Anlass für den ersten Einsatz eines in der Filmmusik populär gewordenen Instruments: die Duduk. Maximus, der zentrale Held im Dienste des römischen Kaisers, sehnt sich nach seiner Familie in seinem Heimatort in Zentralspanien  –  daher wird die nun erklingende Duduk wohl von Gitarre (stereotypisierter Sujetbezug zum Sehnsuchtsort der Figur) und Geräuschen spielender Kinder begleitet. Als Maximus nach der gewonnenen Schlacht der Bitte des alten Kaisers zustimmen soll, Pro-

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse tektor von Rom zu werden, erklingt die Duduk in der Filmmusik das zweite Mal (0:26:40). Diese Bitte widerspricht allerdings seinem größten Wunsch, als Zivilist in die Heimat zurückzukehren. Die Filmmusik ist ab jetzt in der Lage, die Erzählhaltung und Grundrichtig der Geschichte zu unterstützen, d. h. sie vermittelt uns die edlen Absichten des Helden und zugleich, wie weit er von der Verwirklichung seiner Ziele entfernt ist. Fabelzusammenhang und Sujetbezug treffen in der Verwendung der Duduk zusammen: Als Maximus sich Commodus, dem emporstrebenden Sohn des Kaisers, widersetzt, dieser seine Familie ermorden lässt und Maximus selbst versklavt wird, spricht Maximus mit einem der anderen Gladiatoren über das Leben nach dem Tod und wie ihre Familien im Elysium wieder vereint werden. Wie ein roter Faden zieht sich nun diese Idee durch den Film und erhält eine Erklärung aufrecht, wie der Weg des Helden aussehen muss: Um die Ermordung seiner Familie zu rächen, wird er den Weg voller Gewalt zu Ende gehen, bis der Schuldige die Rache für erlittenes Leid erfährt. Die Geschichte endet allerdings erst richtig mit der Wiedervereinigung im Tod. Die Duduk illustriert also einerseits die exotischen Handlungsorte auf dem Weg (oder besser: Umweg) des Helden nach Rom. Sie erinnert uns aber auch an seine edlen Absichten und hält damit die weitschweifige Handlung zusammen. Am Ende schließt sich der Kreis zu den vom Anfang bekannten Sehnsuchtsbildern der Hauptfigur (das reife Getreide auf dem heimischen Feld, die mit der Duduk assoziiert werden), die sich vereinen mit dem lyrischen Bild für das Elysium als logisches Ende der Handlungsorganisation.253 In späteren cues erklingt das musikalische Thema der Duduk von einer Frauenstimme gesungen, die uns an die Ermordung von Maximus’ Frau und seine daraus resultierende Motivation erinnern kann, und verbindet in dieser Variante Sujetbezug und Fabelzusammenhang (0:25:30; 0:44:50; 1:50:25; 2:19:50).254

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In einer Dokumentation über die Entstehung von Gladiator äußert sich der als Berater hinzugezogene Drehbuchautor Bill Nicholson folgendermaßen (und zeigt damit einen musikdramaturgischen Ansatzpunkt): »Das Wesentliche, das ich identifizierte, war die Geschichte eines Mannes, der jemanden töten will. Und ich will keinen Film sehen über jemanden, der jemand anderen töten will. Ich will einen Film über die Liebe sehen. Also fragte ich mich, wen liebt er, wenn er doch am Ende stirbt? Diese Struktur hatte ich übernommen. […] Es ist gut, dass das Monster [Commodus] erlegt wird. Aber es ist nicht das Ende der Geschichte, außer man macht einen zweitklassigen Film. Also war die offensichtliche Antwort das Jenseits […] Das wurde der rote Faden, sodass sein eigentliches Ziel die Wiedervereinigung mit seinen Lieben im Jenseits ist und sein Tod eine Bedeutung bekommt.« in: Strength and Honor – Creating the World of Gladiator (Bonus-DVD zu Gladiator, Dreamworks 2000). Dieser Teil der Filmmusik stammt von Lisa Gerrard (auch Gasparyan soll Anteile beigesteuert haben), während die Idee zum Einsatz der Duduk von Hans Zimmer stammt; vgl. den BookletText in: Gladiator [Vol. 2]: More Music from the Motion Picture, Decca, 2001(56  Min.). Im Finale sind Duduk und Frauenstimme gekoppelt und verschmelzen beim Erklingen des Themas.

4.  Filmmusik und Analyse Der Sujetbezug, der durch die Duduk hergestellt wird, könnte im Übrigen durch die historischen Rahmenbedingungen belegt werden. So wird als Auftakt des Films die riesige Ausdehnung des römischen Reiches benannt. Zum historischen Hintergrund der Handlung gehören mediterrane und nordische Regionen wie auch Gebiete des mittleren Ostens – so auch die historisch verbürgte Eroberung Armeniens (Herkunftsland des Instruments) zur Amtszeit des in der Handlung auftretenden Kaisers Marcus Aurelius. Nicht selten arbeiten Filmschaffende mit solchen wahrscheinlichen Anspielungen, um Geschichten plausibel zu gestalten. Die Duduk erhält aber, wie geschildert, auch einen Fabelzusammenhang, weil sie über den Film hinweg den Ausgangspunkt der Handlung, den Weg des Helden und sein Ziel symbolisiert. Die Filmmusik stützt damit unsere Auffassung vom »edlen Charakter« des Helden, der ihn uns als Identifikationsfigur erscheinen lässt, selbst dann, wenn er unentwegt tötet. Obwohl es sich also eigentlich um ein armenisches Doppelrohrblattinstrument handelt, das auch in Syrien, der Türkei und im mittleren Osten vorkommt, wird die Duduk in Gladiator als Mittel eingesetzt, das für eine unbestimmt exotische, sehnsuchtsvoll-melancholische Stimmung im Kontext tragischer Verwicklungen steht, in die der edle Held unverschuldet geraten ist. Aufgebaut hat sich dieser Topos schon in früheren Filmen, in denen das Instrument – außer beim folgenden ersten Beispiel sogar vom selben Musiker, Djivan Gasparyan, gespielt – erklingt255: – The Last Temptation of Christ (Die letzte Versuchung Christi, CA/USA 1988, R. Martin Scorsese, M. Peter Gabriel) – Im Vorspann erklingt die Duduk und ist Teil einer Konzeption, die die Leidensgeschichte Jesu neu zu definieren versucht.256 – Calendar (ARM/CA/D 1993, R. Atom Egoyan) – Hier hat die Duduk noch einen Bezug zu ihrer Ursprungsregion und zum Handlungsort Armenien. – Ronin (FR/USA/GB 1998, R.  John Frankenheimer, M.  Elia Cmiral)  –  Die Duduk verkörpert hier die Einsamkeit der Ex-Agenten und die Schwierigkeit, Vertrauen zu anderen Menschen aufzubauen. Der Regisseur nannte einem Interview zufolge Cmiral drei Eigenschaften, die die Filmmusik zum Ausdruck bringen sollte: Traurigkeit, Einsamkeit und Heroismus in einem Umfeld, in dem keiner dem anderen vertrauen kann. Die Verwendung der Duduk drücke

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Gasparyan wird allerdings nicht immer in den Credits der genannten Filme aufgelistet, vgl. http://www.imdb.com/name/nm0309222/?ref_=ttfc_fc_cr704 [letzer Zugriff: 27.2.2018]. Siehe hierzu den Artikel von Andreas Wagenknecht (2020), Immer wenn die Duduk spielt, in: Heldt, Krohn, Moormann und Strank [Hg.], Musik im Vorspann.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse dies und die unbeholfene Freundschaft zwischen den von Jean Reno und Robert DeNiro gespielten Ex-Agenten treffend aus.257 – Onegin (Onegin – Eine Liebe in Sankt Petersburg, GB 1999 R. Martha Fiennes, M. Magnus Fiennes) – Die Duduk gibt der beginnenden Liebe und Tatjanas Liebeserklärung einen schicksalhaft-melancholischen Anstrich, der sich später durch die tragische Verwicklung erfüllt. Gladiator greift im Jahre 2000 die inzwischen stabilisierten semantischen Implikationen (Traurigkeit, Einsamkeit, unerfüllte Liebe, Heroismus, Exotismus) auf.258 Fortgesetzt hören wir den zum filmmusikalischen Topos gewordenen Klang der Duduk erstaunlich kontinuierlich wieder in: – Sinbad: Legend of the Seven Seas (Sinbad – Der Herr der sieben Meere, USA 2003, R. Patrick Gilmore, Tim Johnson, M. Harry Gregson-Williams) – Die Duduk erklingt, als weit entfernt von der Heimat Sindbad und Marina sich ihre Liebe eingestehen, obwohl Marina Sindbads bestem Freund Proteus versprochen ist. – Syriana (USA 2005, R.  Steven Gaghan, M.  Alexandre Desplat)  –  Die teils unabhängigen, teils verknüpften Handlungsstränge sind über die Orte des Geschehens im mittleren Osten verbunden. Die Duduk kann als Kennzeichen dieses Zusammenhangs angesehen werden. Sie leistet aber auch Unterstützung zur Anteilnahme an der Freundschaft, die sich zwischen zwei jugendlichen Gastarbeitern entwickelt, die später einen Selbstmordanschlag verüben. – Blood Diamond (D/USA 2006, R.  Edward Zwick, M.  James Newton Howard)  –  Die Duduk erklingt zusammen mit einer Reihe anderer, nichtwestlicher Instrumente, die den fremdartigen Handlungsort und das Schicksalhafte der Handlung charakterisieren sollen. Darüber hinaus kann vermutet werden, dass die Duduk zur Unterstützung der in diesem Thriller vorsichtig enthaltenen Kritik die Darstellung emotionalisieren soll, z. B. um die Anteilnahme an der Ausbeutung der schwarzen Bevölkerung zu steigern. – Die Flucht (D 2007, R. Kai Wessel, M. Enjott Schneider) – Ein deutschsprachig produzierter Fernseh-Zweiteiler, der die Verbindung über den inzwischen etablierten Topos zitiert. Hier untermalt das Instrument die unglückliche Liebe einer Gräfin auf der Flucht aus Ostpreußen zum Ende des Zweiten Weltkrieges.

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Vgl. dazu das Interview mit dem Komponisten Elia Cmiral (ab 0:08:30), DVD Ronin, Disc 2 der Special Edition, Twentieth Century Fox, Frankfurt/M. 2006. Hans Zimmer äußerte sich zwar nicht konkret dazu, allerdings waren ihm zu Beginn der Arbeit an Gladiator Gasparyan, das Instrument und seine Wirkung bekannt, sodass er ihn für den Film engagierte, vgl. den Booklet-Text in: Gladiator CD 2 (56 Min.): More Music from the Motion Picture, Decca, 2001.

4.  Filmmusik und Analyse

Das folgende Beispiel zeigt – diesmal im Falle des Autorenkinos und für eine moralisch und psychologisch allerdings weit schwieriger zu entschlüsselnde Geschichte  –  die Doppelfunktion von Filmmusik im Sinne des Zusammenwirkens von Fabel und Sujet. Beispiel 2: The Sweet Hereafter (Das süsse Jenseits, CA 1997, R. Atom Egoyan, M. Michael Danna) Im Film The Sweet Hereafter sind zwei Erzählstränge, die nicht chronologisch ablaufen, miteinander verzahnt. Das Mädchen Nicole, das von ihrem Vater offenbar missbraucht wird, hat als Einzige einen Unfall des Schulbusses des kleinen Ortes überlebt. Der daraufhin beauftragte Anwalt versucht die schwierige Beziehung zu seiner eigenen Tochter mit diesem Auftrag ersatzweise zu verarbeiten  –  ein Versuch, der zum Scheitern verurteilt ist. Die Organisation der Filmhandlung ist durch die vage Beziehung zur Fabelidee aus dem Märchen Der Rattenfänger von Hameln entwickelt worden. Wie im Falle des Märchens vom Rattenfänger sind der Anwalt und die Eltern des Ortes traumatisiert durch den Verlust ihrer Kinder. Der Film stellt allerdings Fragen zur Verantwortung, die die Eltern selbst daran tragen, vergleichbar mit dem Märchen, in dem der Rattenfänger die Bürger der Stadt dafür bestraft, dass sie ihm seinen zustehenden Lohn nicht auszahlen. Die Filmmusik setzt sich zum einen Teil aus szenisch interpretierten Songs zusammen (Nicole schreibt eigene Songs, in denen sie Hoffnungen und Wünsche verarbeitet), zum anderen Teil aus Renaissance-Musik, die auf historischen Instrumenten gespielt wird. Hinzu kommen einige cues, die elektronische Musik und musikalisiertes Sound Design (von Steven Munro) enthalten, die den entlegenen Ort und den schrecklichen Unfall klanglich und musikalisch präsentieren können, denn das Sound Design enthält Andeutungen metallischer Klänge und Kindergeschrei, die dem auslösenden Busunglück zugeordnet werden können. Bei 0:41:00 liest Nicole vor dem Unfall zwei Kindern die Geschichte vom Rattenfänger von Hameln vor. Erstmals konkretisiert sich eine mögliche Verbindung zur Fabel des Märchens. Hiermit ist aber auch der direkte Sujetbezug gegeben, weil das Märchen, das »vor 500 Jahren« spielt und die Alte Musik, die Flöte des Rattenfängers, die im Dialog erwähnt und auf der Abbildung im Buch zu sehen ist, und die Flöte in der Filmmusik eine sich bestätigende (affirmative) Beziehung haben. Nicoles Stimme wird als voice over auch zu anderen Vorgängen der aktuellen Handlung eingesetzt (wir hören das Märchen und weitere Gedichte) und kommentiert damit bestimmte Vorgänge, darunter die Missbrauch-Szene, die zeigt wie ihr Vater sie wie eine Geliebte küsst und berührt (ab

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse ca. 0:46:40).259 Die Analogie zum vorgelesenen Märchen konkretisiert sich nach und nach. In der Filmfabel ist die Figur des Rattenfängers schließlich dreifach aufgespalten in den Anwalt, den Vater und das Mädchen: 1.  Der Anwalt versucht, die Eltern hinter sich zu bringen und deren vermeintliche Interessen zu vertreten. Als Leitmotiv dafür steht sein Satz »We have to talk« (zuerst bei 0:12:15), mit dem er die Eltern überreden will, ihm zu folgen. Dabei spielt sich der Anwalt zum moralischen Richter auf und handelt einen finanziellen Vergleich aus. 2. Der zunächst sympathisch erscheinende Vater entreißt Nicole ihre Kindheit. Er lockt sie in eine Scheune, während Nicole im voice over vom Rattenfänger erzählt (ab 0:46:45; »… führt sie in den Schnee«/»… Kinder folgen dem Fänger – außer eines«). 3. Wie der Rattenfänger an den Bürgern der Stadt rächt sich Nicole, die einzig Überlebende unter den Kindern, an ihrem Vater und damit zugleich an der Gemeinschaft der Erwachsenen durch eine Falschaussage, die bewirkt, dass niemand aus dem Ort die ausgehandelte Abfindung für den Verlust der Kinder bekommen wird. Die Renaissance-Musik, mit der der Film eröffnet, verweist mit ihrem epischen Duktus auf etwas Altes, Generelles und bezieht sich nach und nach deutlicher auf das Märchen, das dann auch vorgelesen wird, und auf sein dahinter stehendes Thema. Der Fabelzusammenhang (Analogie zum Märchen) und Sujetbezug (die Alte Musik verweist auf die Handlungszeit des Märchens) haben eine wichtige Bedeutung dafür, um einerseits die fragmentiert erzählte und durch ständige Zeitsprünge für weitere Deutungen geöffnete Geschichte zusammenzuhalten. Andererseits kann die Tiefe der verhandelten Themen in Kombination mit dem Sound Design und den sphärischen elektronischen Klängen ausgelotet werden. In diesem Film sind moralische Fragen von Bedeutung, z. B. wo verbergen sich die Untiefen des menschlichen Zusammenlebens, welche Form von Geborgenheit ist für Kinder wie Erwachsene nötig, wie kann Gerechtigkeit gegeben werden und wie sieht der Umgang mit einem gemeinschaftlichen Trauma aus? So wirkt die Filmmusik darauf hin, eine Aufmerksamkeit zu wecken, die über das an der Oberfläche der Filmhandlung dargestellte Verhandeln der Schuldfrage und den angestrebten Gerichtsprozess hinausgeht. Bei Adaptionen der Fabelidee aus dem Märchen geht es nicht nur um die Analogie. Vielmehr durchwebt die Adaption die filmische Handlungsorganisation mit einem roten Faden, um ungewöhnlichen Anordnungen von Sequenzen, Abläufen und thematischen Gegenüberstellungen eine einheitsstiftende und zugleich spannungsvolle Form zu geben.

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Die eigentlich schönen Bilder dieser Szene dürfen nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass es sich um eine filmisch-poetische Darstellung von Missbrauch handelt, um das Nicht-Zeigbare zeigen zu können.

4.  Filmmusik und Analyse

4.6  Die dramaturgische Dimension von Musik-Bild-Kopplungen

Musik-Bild-Kopplungen sind rezeptionsästhetisch größtenteils verfestigte Annahmen zur Bedeutung des Dargestellten, die in audiovisueller Montage zum Ausdruck gebracht bzw. damit kommuniziert werden. Mit ihrer systematischen Betrachtung können einige rezeptionsästhetische und dramaturgische Grundlagen der Wirkungsweisen von Filmmusik verbalisiert werden. In diesem Kapitel wird die dramaturgische Dimension dieser Kopplungen untersucht. Die Darstellungen und Kommentare der Musik-Bild-Kopplungen liefern ein geeignetes und oft notwendiges Vokabular zu Filmmusikanalyse, vor allem für das an der Oberfläche erkennbare Zusammenwirken, zum Teil aber auch für die dahinter liegenden Beziehungen. Adorno / Eisler gehen so weit zu sagen, dass für eine sich audiovisuell realisierende Geschichte weniger das Musikalische als vielmehr die Art, wie Musik als klingende Komponente ans Bild gekoppelt wird, den filmmusikalischen Einfall auszeichnet. »Das präzise Hinzuerfinden von Musik ist der eigentliche ›Einfall‹ des Filmkomponisten. […] Aber die Einheit beider Medien ist eine vermittelte, nicht die unmittelbare Identität irgendwelcher Momente […]« (Adorno und Eisler 1944/2006, S. 64)

Vermittelt wird  –  folgt man dieser filmästhetischen Ansicht  –  zwischen Musik und Bildern durch die jeweils eigene Beziehung, welche beide zur Geschichte haben. Das Zusammenwirken von Geschichte und Musik durch Sujetbezug, Fabelzusammenhang und die hier besprochenen Phänomene bei der Kopplung von Musik und Bildern ergeben zusammen ein dramaturgisch begründetes System zur Filmmusikanalyse. Die Relationen von Musik und Bild sind im Schrifttum zur Filmmusik immer wieder Gegenstand einer manchmal ausufernden Debatte. Oft werden sie den Modellen der Funktionen von Filmmusik zugerechnet.260 Die größten Schwierigkeiten bei der Systematisierung der Musik-Bild-Kopplungen liegen aber darin, dass nicht klar abgegrenzt werden kann, für welchen Filmausschnitt, d. h. für welche Dauer diese Beziehungen gelten sollen und nach welchen Kriterien die Begrenzung festgesetzt wird, z. B. ob sie eine oder mehrere Einstellungen, eine ganze Szene oder längere Sequenz beschreiben. Schon Fabich äußerte Zweifel an

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Siehe Kap. 4.2 (»Kritik der Modelle und Kataloge filmmusikalischer Funktionen«). Ergänzt werden kann hier noch, dass Fasshauer Musik-Bild-Beziehungen im Zusammenhang mit dem »musikdramaturgischen Kontrapunkt« diskutiert, vgl. Fasshauer (2008), »Film  – Musik – Montage«.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

den von ihm selbst vorgestellten Beziehungen zwischen Musik und Bild, deren Systematik (»illustrierend«, »expressiv« und »kommentierend«) an Becce / Erdmann / Brav (Erdmann, Becce und Brav 1927) sowie Lissa (Lissa 1965) und Pauli (Pauli 1981) angelehnt ist. Er nennt die Beziehungen »dramaturgische Funktionen« von Filmmusik und begründet musikalisch, warum solche Kategorien problematisch für die Anwendung auf Musik und Bild sind: »Wo verläuft die Grenze zwischen illustrierender, expressiver und kommentierender Musik? Inwieweit lässt sich Filmmusik diesen Modellen zuordnen, insbesondere bei raschen Änderungen des musikalischen Verlaufs, bei fließenden Übergängen? Gehen diese Übergänge nicht von einem einheitlichen ›homophonen‹ Musikbild aus und negieren dadurch polyphone Satzstrukturen, die unter Umständen gleichzeitig verschiedene Funktionen erfüllen können […]?« (Fabich 1993, S. 59)

Als eine geeignete Basis, um eine Terminologie der musikdramaturgisch relevanten Beziehungen von Musik und Bild zu kategorisieren, erweist sich Barbara Flückigers Systematisierung der Ton-Bild-Beziehungen (Flückiger 2001/2007, S. 131–157). Da sie die Tongestaltung ohne die Musik untersucht, konnten die gerade angesprochenen Schwierigkeiten der Begrenzung der Gültigkeit teilweise aufgelöst werden. Die dominierenden Aufgaben des Tons als auditive Ausstattung und Garant für die Wahrnehmung von raumzeitlicher Kontinuität ermöglichen eine sinnvolle Begrenzung der syntaktischen Einheiten des Films. Die durch Musik sich manifestierende Filmsyntax folgt noch anderen, im Kunstsystem der Musik liegenden Gesetzen, die sich nur teilweise auf den filmischen Ablauf oder von dort auf die Musik übertragen lassen. Die im Folgenden genannten und anschließend näher erläuterten Musik-BildKopplungen können als filmästhetische und wahrnehmungspsychologische Grundlagen angesehen werden. Ihre Bedeutung bleibt aber nicht zwangsläufig auf den Moment begrenzt, sondern geht letztlich in übergeordneten dramaturgischen Strategien auf. Die Annahme, dass Musik durch Kopplung an ein angeblich neutrales Bild diesem erst eine Bedeutung verleiht, kann im Sinne der musikdramaturgischen Analyse nicht aufrechterhalten werden, da Bilder im Film (anders als in vielen Experimenten) in montierten visuellen Kontexten stehen und daher nicht neutral sind. Die Bedeutungen entstehen also aus einer mehrfachen Kopplung (sukzessiv: Bild+Bild, simultan: Bild+Klang/Musik), die zudem in der Kontinuität des Verlaufs eines Films bewertet werden. Alle genannten Phänomene können Teil film- oder musikästhetischer Präferenzen sein, die konkrete Entscheidungen der Filmschaffenden bewusst oder unreflektiert lenken. Auch Genres und filmgeschichtliche Tendenzen, die beim

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4.  Filmmusik und Analyse

Umgang mit Musik im Film zu beobachten sind, können mithilfe der systematisierten Kopplungen zwischen Musik und Bild beschrieben werden.261 Die folgende Liste möglicher Musik-Bild-Kopplungen soll die Ausführungen dieses Kapitels strukturieren, wobei unter A Formen eines audiovisuellen Abbilds der fiktionalen, imaginierten Wirklichkeit beschrieben werden, die basale dramaturgische Bedeutung haben, und unter B Kopplungen mit einer weiter reichenden dramaturgischen Dimension. A 1) Klangperspektive 2) Extension 3) Synchrese 4) valeur ajoutée (bei Flückiger: »Mehrwert«) B 5) audiovisueller Kontrapunkt (»kontrastierende Vertikalmontage« nach Eisenstein) 6) sich bestätigende Beziehungen (Affirmation) 7) sich ergänzende Beziehungen (»dramaturgischer Kontrapunkt« nach Adorno / Eisler) 8) Leitmotiv Die Bezeichnung Musik-Bild-Kopplungen soll verdeutlichen, dass es sich um einen ersten analytischen Zugriff an der konkreten »Oberfläche« handelt, der einerseits dem Entstehungsprozess des audiovisuellen Mediums gerecht wird und andererseits zeigt, dass eine dramaturgische Bedeutung aus der Beziehung zur Handlung (anders gesagt: zum Geflecht aus Figur, Konflikt und Handlung) erwächst und nicht aus einer Beziehung zum Bild. (s. Abb. 15)

4.6.1 Klangperspektive

Die Klangperspektive (Flückiger formuliert für das Sound Design: die Tonperspektive – die Idee wird von mir jedoch etwas weiter gefasst) ist als Strategie zur Orientierung im Handlungsraum begreifbar. Sie wird durch Simulation der 261

Als Beispiel für einen solchen Analyseansatz kann folgende Dissertation genannt werden: Silke Martin (2010), Die Sichtbarkeit des Tons im Film: Akustische Modernisierungen des Films seit den 1920er Jahren.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Schilderung (»narrative ­Funktionen«)

Klangperspektive Extension Synchrese Valeur ajoutée (bei Flückiger »Mehrwert«) Sich bestätigende Beziehungen (Affirmation) Leitmotiv

dramaturgische Bedeutung

Sich ergänzende Beziehungen (»Dramaturgischer ­ ontrapunkt« nach Adorno/Eisler) K Audiovisueller Kontrapunkt (»kontrastierende Vertikal­ montage« nach Eisenstein)

Abb. 15: Systematik der Musik-Bild-Kopplungen

selektiven Wahrnehmung, wie sie hörpsychologisch auch aus der Alltagserfahrung bekannt ist, erreicht. Die Perspektivierung des Tons und der in der Handlung erklingenden Musik erfolgt durch die Staffelung des Raumes in einen akustischen Vorder- und Hintergrund, das Sortieren der Klänge im Zentrum und am Rand des Bildausschnitts sowie durch das charakteristische Klangspektrum einer akustischen Quelle von Musik. Die Perspektivierung des Tons beruht auf den hörbaren Unterscheidungen der Klangqualität und Klangrichtung, außerdem dadurch, »dass die Klangobjekte auch zeitlich möglichst auseinander sortiert werden […], um den natürlichen Selektionsmechanismus zu simulieren« (Flückiger 2001/2007, S. 151). Um Sprache von anderen Geräuschen abzugrenzen, klingen Dialoge in der Regel in zentraler Position des Hörfeldes (meist im Center des Mehrkanaltons). Filmgeschichtliche Entwicklungen, Genres und dramaturgische Strategien lassen sich anhand des Umgangs mit der Tonperspektive differenzieren. Wie Flückiger ausführt, war im europäischen Kunstfilm ab den 1950er Jahren eine »Weigerung« zur »perzeptiven Vorarbeit« bemerkbar, die an den frühen Tonfilm anknüpfte und vom »passiven Konsum« (Flückiger 2001/2007, S. 152) wegführen sollte. Aber auch im Mainstreamkino findet sich diese Strategie wieder: »Die Verletzungen der Norm [der Sprachverständlichkeit, R. R.] steht hier […] unter einem anderen Vorzeichen […]: Sie wird zur gezielten Informationsverweigerung funktionalisiert und somit der Intention oder dem narrativen Fluss der Informationsdistribution untergeordnet« (Flückiger 2001/2007, S. 153).

In erster Linie wird handlungsbedingte Musik in der Szene an die simulierte spezifische Raumsituation angepasst. Sie unterscheidet sich sensorisch dadurch

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4.  Filmmusik und Analyse

erkennbar von Musik der zweiten auditiven Ebene. Die Klangperspektive sorgt also für die Verortung von Musik und Ton im Handlungsraum (am elementarsten durch die Relation von Direktschall und Raumklang) und gibt Auskunft über die Materialität des simulierten Raumes (vorrangig durch das Frequenzspektrum der Reflexionen) und die Art der Quelle (charakteristisches Frequenzspektrum z. B. von Wiedergabegeräten oder Hörpositionen). Die Umsetzung dieser Aspekte und damit eine Zuordnung zu den auditiven Ebenen findet in der Filmmischung statt. Abweichungen von der den Handlungsraum abbildenden Klangperspektive der ersten auditiven Ebene, die in der Regel den Handlungsraum auditiv abbilden soll, haben eine dramaturgische Bedeutung. Auch unscheinbare oder nur unterschwellige Eingriffe in Aspekte der Klangperspektive sind dramaturgisch von Bedeutung, da oft nicht nur die klangliche Ausstattung einer Szene das Ziel ist, sondern ein größerer Zusammenhang erzählt und so die Szene in einen narrativen Kontext eingegliedert werden kann.

4.6.2 Extension

Barbara Flückiger greift diesen Begriff von Chion (Chion 1990/dt. 2012, S. 181) auf und definiert Extension als »Erweiterung des Klangraumes auf 360° im Kino« (Flückiger 2001/2007, S. 153) sowie als »Entgrenzung der Leinwand« ­(Flückiger 2001/2007, S. 154). Es entsteht hierdurch eine Differenz zwischen der vom Bildrahmen begrenzten visuellen zu einer weniger begrenzten auditiven Abbildung im Kino, weil unter den modernen Bedingungen des Kinoerlebnisses »Klangobjekte mit unterschiedlichen semantischen Funktionen […] sich über den Bildraum hinaus in alle Quadranten des Kinos verlagern« (Flückiger 2001/2007, S. 153). Dies beeinflusst zweifellos die Rezeption: Das Publikum wird versuchen, die Quelle und den Ort des Tons zu bestimmen, einen Sinn in seinem Erklingen zu entdecken und den Ton mit Figuren und Handlung in Beziehung zu setzen. »Bildraum und Tonraum treten über die Extension in einen Dialog, der abstrakt in folgende Muster eingeteilt werden kann: a) Bildraum und Tonraum entsprechen einander; b) das Bild suggeriert Weite, die Töne haben eine trockene Studiopräsenz; c) das Bild ist ausschnitthaft, die Tonspur verdeutlicht den Raum.« (Flückiger 2001/2007, S. 154)

Die Begrenzung der visuellen Abbildung der fiktionalen Welt durch den Bildrahmen (Kadrierung) führte zur Einführung der Begriffe on(screen) und off(screen) für Klänge, deren Quellen innerhalb des gesetzten Bildrahmens sichtbar

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

sind – on, und Quellen, die in der angrenzenden Umgebung des Handlungsraumes zu vermuten sind, aber vom Bildrahmen nicht erfasst werden – off.262 Extension bezeichnet die Erweiterung des Klangraumes über die Grenzen des Bildrahmens hinweg und beschreibt demnach Phänomene des Off-Tons. Flückiger nennt als Beispiel für Extension durch das Sound Design die eröffnende Szene aus dem Film The Piano (Das Piano NZ/AUS/F 1992, R. Jane Campion, SD. Lee Smith) (Flückiger 2001/2007, S. 155–157). Es handelt sich um die 3. Szene am Beginn, in der Ada mit ihrer Tochter in Neuseeland ankommt, um ihr neues Leben mit ihrem noch unbekannten Ehemann zu führen. Sie landen mit einem Boot am Strand, und das Rauschen (Wellen, Wind, Sand, Bäume vom dahinter liegenden Wald) ist übermächtig. Der Bildausschnitt wird räumlich entgrenzt und die neue Heimat als fremd und un(be)greifbar symbolisiert. Ada und ihre Tochter suchen als Reaktion Schutz unter dem abgelegten Rock wie unter einem Zelt, an dessen Rand der Ton allerdings nicht Halt macht. Eine dramaturgische Dimension der Extension ließe sich anhand dieses Beispiels darin erkennen, dass die hörbare Weite und Wucht der auditiven Ereignisse bei der Ankunft am Strand eine notwendige Einstimmung für die Tragweite und Wucht der Geschichte bietet. Auch die Musik aus dem off, deren Quelle aus unterschiedlichsten Gründen nicht sichtbar ist, kann als Strategie der Extension fungieren. Die in Kapitel 4.5.3 geschilderte Szene in Gladiator, in der nach der gewonnenen Schlacht in einem Festzelt Gebrauchsmusik von nur mutmaßlich anwesenden Musikern zu hören ist (0:17:30–0:20:40), wäre ein Beispiel für Extension durch Musik. Es gibt keine Einstellung mit musizierenden Figuren oder sichtbare Instrumente. Vielleicht dringt die Musik auch aus einem der anderen Zelte in den sichtbaren Bereich des Bildausschnitts. Doch es geht nicht um das Fest, z. B. als Höhepunkt eines entsprechenden Handlungsstranges, sodass der Abbildung des Festes kein großes Gewicht (z. B. durch anwesende Musiker) zukommt. Die Musik aus dem off des Handlungsraumes ist Filmmusik, die den Raum musikalisch erweitert, wodurch visuell die Konzentration auf die Hauptfigur möglich wird. Die dramaturgische Bedeutung, die im Sujetbezug der Musik und in der Strategie der Extension liegt, machen es überflüssig, eine eindeutige Zuordnung dieser Musik zur internen auditiven Ebene vorzunehmen.

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Von einem eindeutigen Gebrauch der Begriffe on und off kann in der Filmpraxis und Filmtheorie allerdings nicht gesprochen werden, weil häufig off(screen) auch für nicht zum Handlungsraum gehörende Klänge und Musik verwendet wird. Siehe daher hierzu den Exkurs 4 (»on und off«).

4.  Filmmusik und Analyse

4.6.3 Synchrese

»Synchrese« ist eine Wortschöpfung von Chion, zusammengesetzt aus den Wörtern »Synchronismus« (synchronisme) und »Synthese« (synthèse).263 Bereits 1927 hatte der Literaturwissenschaftler Boris Ejchenbaum ein mit diesem Wort übersetztes Phänomen beschrieben: das im zeitlichen Ablauf stattfindende Zusammenwirken von Bildkomposition, Montage und Illustrierung durch Musik. »Wenn man über das Gesagte hinaus den zwischen Film und bildenden Künsten bestehenden Zusammenhang in Erwägung zieht […], so scheint die Charakterisierung des zeitgenössischen Films als synchretistische Form gerechtfertigt.« (Ejchenbaum 1927/2003, S. 114)

Die zeitliche Koordinierung von Bild und Ton im Film ist essenziell. Das damit einhergehende Zusammenwirken lässt die »Annahme einer Kausalbeziehung zwischen optischen und akustischen Reizen« entstehen, die aber »an ihre gleichzeitige Darbietung gebunden« (Flückiger 2001/2007, S. 139) ist.264 Synchrese ist ein Effekt bei der Rezeption audiovisuellen Materials, der auf der hörpsychologischen Voraussetzung der intermodalen Assoziation beruht. Grundlage für die intermodale Assoziation sind generelle Strategien der Reizverarbeitung im Gehirn.265 Intermodale Assoziation bedeutet, dass ein hinreichendes Zeichen in nur einem Wahrnehmungsmodus (auditiv oder visuell), z. B. allein durch das Hören, gegeben werden muss, das dann zusammen mit einem mehrdeutigen Zeichen in dem anderen Wahrnehmungsmodus, z. B. Sehen, dennoch ein glaubwürdiges Ergebnis hervorbringt. Mit einem Klang assoziieren wir z. B. das Material, Größe und sonstige Eigenschaften eines Gegenstandes, ohne dass die assoziierten Eigenschaften visuell bestätigt werden müssen. Dann wird z. B. eine als Marmor bemalte Pappwand »hart« oder eine quietschende Platte zu einer »Metalltür«. Voraussetzung für die sinngebende Verknüpfung von auditiven und visuellen Reizen zu einer Einheit ist, dass ein dargebotener Klang hinreichend synchron

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Vgl. Flückiger (Flückiger 2001/2007, S. 141) und Chion (Chion 1990/dt. 2012, S. 176). Siehe dazu ausführlicher: Flückiger (2001/2007), Sound Design, S. 137–140. Flückiger weist auch darauf hin, dass »intermodale Assoziation« von Synästhesie unterschieden werden muss, mit der die Projektion einer Modalität in eine andere beschrieben wird (z. B. Farbensehen durch Hören). Obwohl die intermodale Assoziation von Flückiger als Voraussetzung für Synchrese genannt wird, ordnet sie diese – anders als in der hier vorgeschlagenen Systematik – als eigene Ton-Bild-Beziehung in ihr System ein. Auf die ästhetische Dimension dieses Phänomens wurde schon Kap. 1.2.1 (»›Absolute‹ und autonome Musik als musikalische Poesie«) hingewiesen.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

präsentiert wird. Der Begriff Synchrese soll demnach beschreiben, dass unter den genannten Voraussetzungen eine unmittelbare und notwendige Beziehung zwischen Sichtbarem und Hörbarem besteht. Der Grad der Synchronität der akustischen und optischen Reize kann Abstufungen erfahren. Chion nennt dies »lockere, mittlere und genaue Synchronität« (Chion 1990/dt. 2012, S. 59). Das Phänomen der Synchrese folgt im Film, bis auf Ausnahmen, einer Hierarchie: Dem Sichtbaren wird etwas Hörbares zugeordnet, in der Regel um das Visuelle glaubwürdig und natürlich erscheinen zu lassen. Wenn die Kopplungen von Bildern und Klängen aber zeitlich oder semantisch grenzwertig sind, also ein zeitlicher Versatz oder vordergründig nicht passende oder unerwartete bzw. unbestimmbare Klänge zum Bild zu hören sind, wird die unmittelbar und notwendig erscheinende Beziehung zwischen Sichtbarem und Hörbarem hinterfragt. Die Hierarchie, die gewöhnlich vom Bild ausgeht und durch den Effekt der Synchrese jedes halbwegs passende Geräusch als zum Gezeigten gehörend erscheinen lässt, kann dann umkippen und nun vom Klang ausgehen, der bebildert wird. Da die gewohnte, vom Bild ausgehende Hierarchie offenbar nicht vollständig vernachlässigt werden kann, entstehen so mitunter ambivalente, mehrdeutige Passagen. Beispiel: Psycho (USA 1998, R. Gus van Sant, M. Bernard Herrmann, ARR. Denny Elfman, Steve Bartek) Das Remake Psycho reproduziert – bis auf kleinste Ausnahmen – alle Einstellungen, Szenen und Dialoge von Hitchcocks Original aus dem Jahre 1960. Auch die originale Filmmusik von Bernard Herrmann wird in einer Neuaufnahme und mit nur kleinsten Änderungen im Arrangement verwendet. So lässt sich an diesem Beispiel anschaulich die Bedeutung des Sound Designs zeigen, das hier auch nicht zum Handlungsraum gehörende Elemente enthält und sich über die Erwartung hinwegsetzt, dass gleichzeitig dargebotene visuelle und auditive Reize zu einer gegenseitigen Sinnbeziehung führen. Das Sound Design in van Sants Psycho bewirkt somit eine Umwertung des ansonsten formal und bildgestalterisch exakten Remakes.

4.6.4  valeur ajoutée

Valeur ajoutée, ein hinzugefügter Wert oder Informationsgehalt, ist ebenfalls ein von Chion eigens für den Filmton definierter Begriff. Er wurde von Flückiger und anderen etwas unglücklich mit »Mehrwert« übersetzt (Flückiger 2001/2007,

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4.  Filmmusik und Analyse

S. 142). Lensing belässt es in der deutschen Ausgabe von Chions Buch AudioVision bei der französischen Form.266 Dem Bild kann durch den zugeordneten Ton ein Informationsgehalt oder ein weitreichender semantischer Gehalt hinzugefügt werden. Voraussetzung dafür (und ein wesentlicher Unterschied zur Synchrese) sind instabile oder mehrdeutige Konzepte der Kopplung von Bild und Ton, die demnach nicht prototypisch sind: »Es sind physikalische Eigenschaften, die aus der klanglichen Form induziert werden, und affektive Qualitäten, die mit der Klanglichkeit korrespondieren. Je weiter die Darstellungen sich von einer prototypischen Vereinfachung entfernen, um so größer ist der Mehrwert, der dabei entsteht.« (Flückiger 2001/2007, S. 146)

Bei Chion ist zu lesen: »Mit ›Valeur ajoutée‹ bezeichne ich den expressiven und informativen Wert, der das gegebene Bild mit einem Klang soweit bereichert, dass es in einem ersten, einprägsamen Eindruck glauben macht, diese Information oder dieser Eindruck des Gesehenen wäre natürlich und plausibel in den einzelnen Bildern vorhanden.« (Chion 1990/dt. 2012, S. 17)

Das Zitat von Chion weiter in der Übersetzung von Flückiger: »Dadurch kann sogar der offensichtlich falsche Eindruck erweckt werden, dass der Ton überflüssig sei und eine Bedeutung nur verdopple, die er in Wirklichkeit herbeiführt oder schafft, sei es von Grund auf oder über die Differenz zum Sichtbaren.« (Flückiger 2001/2007, S. 142)

Gerade dieser letzte Gedanke von Chion ist interessant und veranlasst ein intensiveres Nachdenken über Musik-Bild-Kopplungen. Doch es gehört zu Chions Vorgehensweise, zwar so weit wie möglich zu differenzieren, aber dabei gleichzeitig vage zu bleiben, sodass auch im Falle der valeur ajoutée von ihm kein Beispiel gegeben wird. Flückiger erwähnt das Sound Design für das Laserschwert aus Star Wars (USA 1977, R. George Lucas, SD. Ben Burtt) als Beispiel für einen hinzugefügten Wert,

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»Man kann ›Valeur ajoutée‹ mit ›Mehrwert‹, aber genauso gut auch mit ›hinzugefügter Wert‹ übersetzen. Da ›Mehrwert‹ im Deutschen eher kapitalistisch oder fiskalisch interpretiert wird und der ›hinzugefügte Wert‹ an die ›hinzugefügte Sexte‹  –  also die ›Sixte ajoutée‹ erinnert, belasse ich es – wie in Musikkreisen auch für die Sexte üblich – beim französischen Original des ›Valeur ajoutée‹ (A. d. Ü.).« Vgl. die Anmerkung in: Michel Chion (1990/dt. 2012), AudioVision: Ton und Bild im Kino, S. 173. Die in Chions Gedankengängen oft vage bleibenden, zahlreichen Verästelungen erschweren eine Übersetzung noch zusätzlich.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

der auch mit größter Anstrengung sich nicht allein aus dem Bild herleiten ließe (Flückiger 2001/2007, S. 144–146). Das Konzept der valeur ajoutée kann auch auf Musik und ihre Kopplung an das Filmbild angewendet werden. Schon Chion spricht im eben zitierten Abschnitt neben einem informativen auch von einem expressiven Wert, der einem Bild hinzugefügt werden kann. Der expressive Wert, den Filmmusik hinzufügen kann, wäre z. B. darin zu sehen, dass dem Handlungsraum oder den vermuteten Gedanken der Figuren durch den hinzugefügten musikalischen Ausdruck Glaubwürdigkeit und Intensität verliehen werden. Dieser Wert ist allerdings nur ein Vertrauensvorschuss, der im Verlauf des Films eingelöst werden muss. Filmmusik beteiligt sich dadurch an der notwendigen poetischen Einrichtung und Verdichtung jenes Inhalts, der zu einer Geschichte geformt werden soll und beeinflusst die Prognosen zum Verlauf. Die Gefahr bei der Analyse einer valeur ajoutée der Filmmusik besteht darin, ihre Bedeutung für den Moment zu überschätzen. Ähnlich wie es für das Phänomen der Extension gilt, wird ihr Effekt dafür eingesetzt, die Erwartung größerer narrativer Zusammenhänge zu schüren. Damit eignen sich beide Konzepte auch dafür, die dramaturgische Bedeutung eines Details für das Filmganze zu bestimmen. Beispiel: Taxi Driver (USA 1976, R. Martin Scorsese, M. Bernard Herrmann) In der Eingangssequenz von Taxi Driver treffen zwei musikalische Abschnitte mehrfach miteinander abwechselnd aufeinander: die düsteren, mit tiefen Holzund Blechbläsern instrumentierten Akkordwechsel in modaler (dorischer) Harmonik, die man eher in einem film noir aus den 50er Jahren vermuten würde, und das Saxofonthema einer eigens komponierten Jazzballade. Während das Taxi nachts durch Nebelschwaden die New Yorker Straßen entlangfährt, die Augen von Travis in Großaufnahme zu sehen sind und durch die nassen Autoscheiben verfremdende Lichteffekte entstehen, werden die Bilder durch die Musik mit einem expressiven Wert aufgeladen. Die Verbalisierung eines solchen hinzugefügten Wertes kann allerdings zur Banalisierung des Gegenstandes führen. Wenn aber der strategische Einsatz dieser Musik im Film untersucht wird, ergibt sich ein aussagekräftiges Bild, das zeigt, wie sich die Bedeutung des hinzugefügten Wertes später einlöst. Die beiden musikalischen Anteile, die in der Eröffnung zu hören sind, kehren im Film immer wieder. Doch eine Sequenz fällt heraus (1:20:40–1:28:25): Die Jazzballade kommt hier von einer Schallplatte in dem Zimmer, in dem Iris die Freier empfängt. Sport, ihr Zuhälter, startet die Platte, während er ihr einzureden versucht, weshalb sie es bei ihm so gut hätte (1:26:45). Spätestens hier ist klar, dass die Musik kein Liebesthema ist, weder für die Wahlkampfhelferin Betsy, um die sich

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4.  Filmmusik und Analyse Travis erfolglos bemüht, noch für Iris, obwohl beim Auftreten dieser beiden Figuren öfter das Thema auf der externen Ebene erklingt (allerdings auch wiederholt ohne die beiden Figuren). Dass es sich um eine falsche Beziehung und kein Rendezvous zwischen Sport und Iris handelt, zeigt uns der hier zitierte, allerdings zur Handlungszeit veraltete Jazzstil, der nur in Dienst genommen wird, aber nichts vom Wesen der Figuren erzählt, die ja die Musik »ausgewählt« haben (die Schallplatte befindet sich bei Iris, Sport stellt das Gerät an). Durch diese Szene verbindet sich die Musik mit der falschen sozialen Bindung zwischen der Zwölfjährigen und ihrem Zuhälter. Ich sehe diese Stelle als den dramaturgischen Höhepunkt des Films an, und er wäre ohne diese eigentlich schöne Musik nur halb so bedrückend. Um den Höhepunkt als solchen wirken zu lassen, braucht er eine Umgebung. Zwei Szenen davor (ab 1:20:40) verabschiedet sich Travis im selben Zimmer mit »sweet Iris«, als sie sich zum Frühstück verabreden. Er hat die Hoffnung, sie doch noch zu überzeugen, wegzugehen und die Schule zu besuchen. Die Jazzballade setzt aufs Stichwort (»sweet Iris«) ein, vermeintlich positiv konnotiert. Sogar der noch unbenutzte Plattenspieler ist schon im Bild zu sehen. Doch kaum ist Travis aus dem Zimmer, taucht aus der Dunkelheit (wie in der ersten Einstellung des Films das Taxi aus dem Nebel) einer der Bordellbetreiber (der »Ringrichter«) auf – dies gibt den Impuls für den Wechsel zu der anderen (film-noir-)Musik. Hier liegt die Quelle für die kontrastierende, montierte Reihung der beiden musikalischen Themen von Bernard Herrmann, wie sie am Anfang des Films zu hören ist. Die offensichtlich von dieser Szene beeinflusste, kontrastreiche Musikfolge des Anfangs berührt das Thema des Films, das nicht einfach in Worte zu fassen ist: Die Menschen, die Scorsese beschreibt, suchen nach Bindungen und werden immer wieder enttäuscht (auch Travis kann Iris nicht beistehen, wie sie es sich sogar von ihm wünscht, als sie zusammen frühstücken, sodass sie emotional von Sport abhängig bleibt). Warum die Figuren bindungsunfähig sind, wird nicht gesagt, nur implizit angedeutet (Travis ist ein traumarisierter Vietnam-Veteran). Was als Bindungsmittel bleibt, ist das Geld. Immer wieder geht ein Geldschein von Hand zu Hand, aber es gibt keine Bindung von Mensch zu Mensch.

Die valeur ajoutée in der Eingangssequenz von Taxi Driver beinhaltet »affektive Qualitäten«, die durch »interne Referenzen« entstehen (Flückiger 2001/2007, S. 147 f.). Die affektive Qualität kommt wahrscheinlich dadurch zustande, dass einerseits ein musikalisches Klischee bedient wird, das an den film noir erinnert (externe Referenz), andererseits aber auch dadurch, dass der in der Montage begründete Wechsel der zwei Musikteile eine Unvorhersehbarkeit, etwas Ungewisses suggeriert (interne Referenz). Die ungewöhnliche Instrumentierung, das

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

An- und Abschwellen der beiden abwechselnden Akkorde und die nicht vorhersehbaren Brüche und Wiederholungen tragen ihren speziellen Teil zum zuletzt genannten Punkt bei.267

4.6.5 Audiovisueller Kontrapunkt (»Kontrastierende Vertikal­ montage« nach Eisenstein)

Für die Untersuchungen zur Musikdramaturgie im Film kann der Begriff »Kontrapunkt« trotz oder gerade wegen seiner relativ langen Tradition nicht ohne Differenzierung verwendet werden.268 Daher wird hier eine in der Literatur bereits wiederholt vorgenommene Unterscheidung in »audiovisueller« und »dramaturgischer« Kontrapunkt aufgegriffen und für eine konsistente Verwendung im fachlichen Diskurs gegenübergestellt und differenziert.269 Zuerst taucht der eigentlich aus der Musiktheorie stammende Begriff Kontrapunkt im Zusammenhang mit der Ästhetik des Films bei Sergej Eisenstein auf. Zuvor hatten Kandinskij für die Malerei und Busoni für die Oper Ideen einer »kontrapunktischen« Ästhetik formuliert, wie Flückiger bereits zeigt. Sie weist auf die annähernd synonyme Verwendung der Begriffe »Dissonanz« und »Kontrapunkt« hin (Flückiger 2001/2007, S. 134 f.). In dieser Studie soll der Terminus in Bezug zur Dramaturgie untersucht werden. Eisenstein verwendete ihn gleichbedeutend mit »Konflikt« und meint damit zunächst – hält man sich seine Beispiele vor Augen – einen Widerspruch bzw. einen Kontrast zwischen den aneinandergeschnittenen Filmbildern, die man sich physisch in einer horizontalen Ebene zueinander, d. h. horizontal angeordnet vorstellen kann. In der Folge der Entwicklung des Tonfilms ist dann auch der Konflikt zwischen Bild und Ton gemeint, die man sich als zwei vertikal angeordnete Ebenen vorstellen kann. Daher erklärt sich die Bezeichnung kontrastierende Vertikalmontage. Aus Widersprüchen resultiert für Eisenstein ein generelles Prinzip in der Kunst und Dramaturgie:

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Siehe dazu auch den Beitrag von Eckhard Pabst (2015), »Alles in der Schwebe: Taxi Driver«, in: Guido Heldt, Tarek Krohn, Peter Moormann und Willem Strank [Hg.], Martin Scorsese: Die Musikalität der Bilder. Siehe zur Kritik des Begriffs Kontrapunkt in der Filmmusiktheorie auch: Corinna Dästner (2005), »Sprechen über Filmmusik: Der Überschuss von Bild und Musik«, in: Harro Segeberg und Frank Schätzlein [Hg.], Sound: Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Bei Barbara Flückiger werden die hier mit »audiovisueller Kontrapunkt« bezeichneten Phänomene als Kontrapunkt bezeichnet, vgl. Flückiger (2001/2007), Sound Design, S. 133–135.

4.  Filmmusik und Analyse »KONFLIKT [H. i. O.] als dem wesentlichen Grundprinzip des Bestehens eines jeden Kunstwerks und jeder Kunstgattung. DENN KUNST IST IMMER KONFLIKT [H. i. O.]: 1. ihrer sozialen Mission nach, 2. ihrem Wesen nach, 3. ihrer Methodik nach.« (Eisenstein 1929/2006, S. 88 f.)

Aus dieser Grundauffassung heraus ist auch die Einführung des Begriffs Kontrapunkt im »Manifest des Tonfilms« (Eisenstein, Pudowkin und Alexandrow 1928/2003) erklärbar. Eisenstein erweitert in der Folge das nach damaligen Überzeugungen im Stummfilm bereits zur Perfektion entwickelte Prinzip der Montage, in dem Kontrast und damit ein visualisierter Konflikt eines der zentralen Momente und Wesensmerkmale ist, von der horizontalen, d. h. Bild-an-BildMontage in eine weitere, vertikale Dimension, d. h. die vertikale Anordnung von Klang zum horizontal angeordneten Bild. Es muss  –  auch wenn darauf in ausgewählter Literatur schon hingewiesen wurde – an dieser Stelle nochmals gesagt werden, dass die musikalische Bedeutung von Kontrapunkt mit der am Konflikt orientierten Auffassung von Eisenstein, Clair, Kracauer und anderen kaum etwas zu tun hat. Der musikalische Kontrapunkt regelt das Zusammenklingen zweier oder mehrerer Stimmen und beruht keineswegs auf Widersprüchen oder Konflikten. Von einer »Klangschrittlehre« entwickelte sich Kontrapunkt zu einer Disziplin der Musiktheorie, die sich schließlich mit satztechnisch besonders anspruchsvollen Techniken oder Gattungen, z. B. Imitation und Kanon bzw. Messe, Motette, Ricercar, Madrigal, Barockfuge u. a. befasste. In bestimmten Momenten entsteht in kontrapunktisch angelegten Musikstücken der Eindruck von Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Stimmen. Aus dieser musiktheoretischen Auffassung heraus, dass ein Kontrapunkt unabhängig und komplex und damit kunstvoll sei, die auch zu Eisensteins Lebzeiten geradezu idealtypisch galt, mag der Transfer des Begriffs in die Filmtheorie erklärbar sein.270 Das, was von Eisenstein mit Kontrapunkt benannt wurde, könnte auch als Kontrast oder audiovisueller Konflikt bezeichnet werden. Im »Manifest zum Tonfilm« von 1928 ist von der »kontrapunktischen Verwendung des Tons« die

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Als Kontrapunkt wird in der Musik aber auch ein melodischer Abschnitt in einer einzelnen Stimme innerhalb von polyphonen Gattungen bezeichnet. Diese »Gegenmelodie« erklingt in der vorausgehenden Stimme (guida) in der Zeit, in der eine zweite, folgende Stimme (seguito) das von der ersten Stimme vorgestellte Soggetto bzw. Thema hat. Die erste Stimme wird also weitergeführt und stellt dem Soggetto oder Thema in der zweiten Stimme eine »Gegenmelodie« in der ersten Stimme gegenüber. Dieser Kontrapunkt oder auch Gegensatz kann sowohl abgeleitetes und daher ähnliches als auch neues, gegebenenfalls kontrastierendes motivisches Material beinhalten.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Rede, womit die (kontrastierende) »Vertikalmontage« von Bild und Ton, wie Eisenstein es erst später (Eisenstein 1940–41/2006) nennt, gemeint ist: »Der Ton wird, wenn er als neues Montage-Element verstanden wird (als ein vom visuellen Bild getrennter Faktor), zwangsläufig gewaltige Möglichkeiten zum Ausdruck und zur Lösung der kompliziertesten Aufgaben mit sich bringen, die wir jetzt, mit den Mitteln einer mangelhaften Filmmethode, nämlich der ausschließlichen Arbeit mit visuellen Bildern, nicht lösen können. Die KONTRAPUNKTISCHE METHODE [H. i. O.] für die Konstruktion des Tonfilms wird das INTERNATIONALE KINO [H. i. O.] nicht schwächen, sondern stattdessen seine Bedeutung zu unvergleichlicher Kraft und kultureller Höhe steigern.« (Eisenstein, Pudowkin und Alexandrow 1928/2003, S. 56)

Um den Intentionen Eisensteins und anderer Filmtheoretiker gerecht zu werden, wäre hierfür heute der Begriff des audiovisuellen Kontrapunkts am sinnvollsten. Mit ihm kann ausgedrückt werden, dass eine Illusionsästhetik durch Übereinstimmung zwischen Bild und Ton vermieden werden soll: »… jegliche Übereinstimmung zwischen dem Ton und einem visuellen Montage-Bestandteil schadet dem Montagestück«, die kontrapunktische Beziehung erlaube dagegen »eine Montage-Entwicklung und Montage-Perfektion« (Eisenstein, Pudowkin und Alexandrow 1928/2003, S. 55). Im Jahr 1928 verstehen die Vertreter dieser Ästhetik (und einer bestimmten kunstpolitischen Haltung) den Ton »als neues Montage-Element« und »ein[en] vom visuellen Bild getrennte[n] Faktor« (Eisenstein, Pudowkin und Alexandrow 1928/2003, S. 56). Hans-Joachim Schlegel beschreibt anhand eines sehr ausgefeilten Beispiels das Prinzip des audiovisuellen Kontrapunkts folgendermaßen: »Den Beginn der Tonfilmära begrüßt Vertov wohl auch wegen seines bereits zuvor entwickelten musikalischen Montageprinzips keinesfalls so skeptisch wie Eisenstein, Pudovkin, Aleksandrov und viele andere Avantgardisten in Ost und West. Bereits 1930 legte er den faktisch ersten sowjetischen Tonfilm vor  –  die ›audiovisuelle Donbass-Symphonie‹, in der die von der ›alten Musik‹ der Zarenhymne, Liturgien und Kirchenglocken begleiteten ›Schatten der Vergangenheit‹ in einem ›revolutionären Sprung‹ dem tonalen ›Trommelfeuer der sozialistischen Fabriken‹ weichen. Originaltöne, die Vertov  –  gegen die Vorgaben der Studioleitung – nicht im isolierten Tonstudio, sondern unmittelbar vor Ort aufzeichnet, begeistern Chaplin nicht etwa wegen ihres Naturalismus, sondern wegen deren Organisation. Nicht nur die ›überrumpelten‹ Bilder der Wirklichkeit, sondern auch die ›überrumpelten‹ Synchron-Töne der Donbass-Industrie bringt Vertov in kontrapunktisch-syntaktische Bezüge: in eine symphonische Ordnung vielfältig unterschiedlicher Rhythmen und Tempi (zuweilen auch Verdopplungen und Wiederholungen), die den Gegensatz von Produktionsstillstand und enthusiasti-

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4.  Filmmusik und Analyse scher Arbeitsaufnahme nicht nur illustrieren, sondern emotional erlebbar machen. […] Das dokumentarische Material war für Vertov Baumaterial für poetischmusikalische Strukturen, die mehr als nur Außenansichten zeigen sollten.« (Schlegel 2008, S. 524 f.)

Nicht selten gibt Musik in der gezeigten Handlung einen Anlass für den audiovisuellen Kontrapunkt. Dadurch dass Musik dann eine narrative, sujetbezogene Rechtfertigung hat, gleichen sich im Mainstreamkino die scheinbaren ästhetischen Widersprüche zwischen Bild und Musik mit diesem musikdramaturgischen Mittel massentauglich aus. Beispiel 1: Good Morning Vietnam (USA 1987, R.  Barry Levinson, M.  Alex North) In Good Morning Vietnam erklingt zur Exekution von vermeintlichen Untergrundkämpfern und zu der Bombardierung eines vietnamesischen Dorfes der Song What a wonderful world (gesungen von Louis Armstrong), den der inzwischen zweifelnde Radiomoderator Cronauer den kriegsmüden GIs auf ihrem Weg ins Kampfgebiet widmet (ab 1:12:40). Zu Beginn der Sequenz (Cronauer moderiert den Song im Studio an) und zum Abschluss (ein Radio wird in den Stellungen der GIs gezeigt) wird die Musik unmissverständlich handlungsintern verortet. Da­­ zwischen scheint aber die fast vollständige Loslösung (von einem vagen textlichen Bezug zu Cronauaers Liebesbeziehung abgesehen) und offensichtliche Distanz zu den gezeigten Vorgängen möglich. Diese Technik verwendet der Film mehrmals, z. B. mit einer Polka, Ragtime und anderen Popsongs. Die hier zitierte Stelle zeichnet sich aber durch den stärksten Kontrast aus, was der ansteigenden Verwicklung der Handlung entspricht. Beispiel 2: Match Point (USA/GB 2005, R. Woody Allen) In Match Point entsteht ein audiovisueller Kontrapunkt durch offensichtlich sich vom Vorgang distanzierende Opernmusik. Die Szene Desdemona rea! aus Otello von Giuseppe Verdi begleitet die Mordszene (ab 1:27:15). Der gesamte Soundtrack enthält Opernmusik als Teil der Handlung (Bühne und CD).271 Doch diesem Ausschnitt, in dem Jago in einem Dialog Othello zum Mord an Desdemona anstiftet, fehlt die handlungsinterne Bindung. Die Montage bewirkt, dass die Musik die Vorgänge affirmativ begleitet (bis hin zu Signalwörtern im Dialog)

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Siehe den Artikel von Marie Louise Herzfeld-Schild (2016), »›The Tragedy of Life‹: Zum Opern-Soundtrack in Woody Allens MATCH POINT«, in: Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung 12.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse und zugleich durch ihren eigentlich unpassenden Gestus das Geschehen verfremdet. Es besteht keine direkte Vergleichbarkeit zwischen den Charakteren, nur eine vage Analogie zum Mord. So entsteht eine tragikomische Wirkung: Die Musik ist ironischer Kommentar und zugleich Illustration eines Teils der Welt der Wohlhabenden, in die Chris (die Hauptfigur, die ihr neues Leben nicht für die leidenschaftliche Affäre mit Nola aufgeben will und stattdessen Nola opfert) aufgestiegen ist. Der tragische Konflikt des eigentlich »edlen« Charakters, der dennoch seinen Schwächen erliegt, wird uns durch die Kombination des darstellenden Spiels und der ergänzenden Beziehung, die durch die Musik entsteht, einfühlsamergreifend, aber zugleich mit distanzierendem Augenzwickern erzählt.

Für die Terminologie der Musikdramaturgie im Film kann der alleinstehende Begriff Kontrapunkt nicht fruchtbar werden, im Gegenteil: Er würde Dinge miteinander vermengen, die nur vom Wort, nicht vom Wesen her eine Gemeinsamkeit haben.272 Flückiger ist wie Chion der Meinung, die kontrapunktische Montage mit »Dissonanz« besser zu bezeichnen. Dramaturgische Aspekte verschwinden dann allerdings in letztlich abstrakt oder unhinterfragt bleibenden Kategorien. Viele offene Fragen bleiben dann: Was gilt als Dissonanz bzw. ist die Referenz dafür? Kann sich eine Dissonanz emanzipieren, ähnlich wie in der Musik, und wenn ja wodurch? Chion stellt selbst bereits fest, dass nicht die Art des Materials und seine Kopplung, sondern seine Bedeutung einen Kontrapunkt produziert (Chion 1990/dt. 2012, S. 41), womit er eigentlich den »dramaturgischen Kontrapunkt« beschreibt. »Kontrast« und »Dissonanz« sind Gestaltungsmittel des Films, die auch eine auditive Erscheinung haben können. Eine musikdramaturgische Bedeutung wird aus dieser Terminologie noch nicht deutlich.273

4.6.6  Sich bestätigende Beziehungen (Affirmation)

Als Affirmation können die sich bestätigenden Beziehungen zwischen Bild und Ton bzw. Musik verstanden werden, da sowohl visuelle als auch auditive Mittel zur gleichlautenden Beurteilung des Dargestellten führen. Auch die Bezeichnung 272

273

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Siehe auch die Kritik von Dästner (2005), »Sprechen über Filmmusik: Der Überschuss von Bild und Musik«. Chion warnt ebenfalls vor der Gleichsetzung der musikalischen und der audiovisuellen Bedeutung des Wortes Kontrapunkt: Chion (1990/dt. 2012), Audio-Vision: Ton und Bild im Kino, S. 40 f. Vgl. u. a. die Beiträge mehrerer Autoren, die vom »audiovisuellen Kontrapunkt« sprechen, in: Peter Schweinhardt [Hg.] (2008), Kompositionen für den Film; zudem: Hans-Joachim Schlegel (2008), »Von visuellen Tönen zu audiovisueller Kontrapunktik: Tonkonzepte und -experimente der sowjetischen Filmavantgarde«, in: Petra Maria Meyer [Hg.], Acustic Turn.

4.  Filmmusik und Analyse

»Parallelismus zwischen Bild und Ton«, die auf Kracauer zurückgeht (Kracauer 1960/dt. 1964), findet sich immer wieder für gegenseitig sich bestätigende oder unterstreichende Wirkungen. Dabei gewinnt keine der beiden Schichten etwas, das nicht schon vorher in ihr selbst erkennbar war. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Bestätigung durch den jeweils anderen Wahrnehmungsmodus unnötig wäre. Es entsteht schlicht eine als oftmals ästhetisch befriedigend empfundene Deutlichkeit der Deutung und Interpretation von Vorgängen. Bei einem Zu­­ viel an gegenseitiger Bestätigung fehlen allerdings gegebenenfalls notwendige »Lücken« und damit ein in der Erzählkunst notwendiger Deutungsspielraum. Bei zugespitzten Formen der Affirmation treten Effekte der Übertreibung, Unangemessenheit bis hin zur Verfremdung ein. Da die Bewertung affirmativer MusikBild-Kopplungen auch vom Zeitgeist beeinflusst ist, der mitbestimmt, wo die jeweils gültige ästhetische Grenze bei der Kopplung von Bild und Musik zu suchen ist, kann durch Affirmation auch der Effekt ungewollter Komik entstehen. Der Grad zwischen wirksamer Unterstreichung und Übertreibung ist oft ­schmal und an eine zeitgemäße Repräsentation der Handlung gebunden. In vielen traditionellen Animationsfilmen, im Melodram oder Actionfilm bzw. in Filmsequenzen, die von solchen Gattungsmerkmalen bestimmt sind, gehört Affirmation zum stilprägenden, bestimmenden ästhetischen Vokabular. Auf zeitgemäße und subtile Weise ausgeführt, gehört Affirmation nach wie vor zu den filmmusikalischen Standards im Kino, die auch dann gut funktionieren, wenn kein übergreifendes dramaturgisches Konzept für die Filmmusik vorliegt. Für die Musikdramaturgie im Film kann zwischen bildorientierter, affektorientierter und dialogorientierter Affirmation unterschieden werden. Die filmmusikalische Technik, die dieses Nachzeichnen der äußeren Vorgänge zum Anlass nimmt, kann allgemein auch illustrierendes underscoring genannt werden. Bei bildorientierter Affirmation unterstreicht Filmmusik die visuell sichtbaren, äußeren Vorgängen der belebten und unbelebten Natur. Sie zeichnet das Handeln der Figuren nach oder heftet sich an sonstige Bewegungsvorgänge im Bild, darunter auch »Bewegungen«, die durch die Bewegung der Kamera entstehen. Bildorientierte Affirmation illustriert musikalisch auch Semantik erster Ordnung, d. h. es erklingt das, was im Bild zu sehen ist, oder konkretisiert musikalisch etwas, das vom Bild angeregt wird.274

274

Die Unterscheidung von Semantik erster Ordnung (»see a dog – hear a dog«) und Semantik höherer Ordnung (»Signale, Symbole, Key Sounds, Stereotype, Leitmotive«) hat Flückiger für das Sound Design vorgeschlagen und erläutert, vgl. Flückiger (2001/2007), Sound Design, S. 135–137, S. 158 ff.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Als filmmusikalische Technik der hauptsächlich bildorientierten Affirmation ist das mickey mousing bekannt, das untrennbar zum Genre des klassischen, durch Disney schon früh weltweit massentauglich produzierten Animationsfilms geworden ist. Dort wird eine synchronpunktgenaue Darbietung von Musik und Bild mit lautmalerischen Anteilen der Musik kombiniert. Auch Räumlichkeit und Tonraum, große und tief klingende bzw. kleine und hoch klingende Objekte oder Figuren werden oft als identisch wahrgenommen (Flückiger 2001/2007, S. 510) oder aber durch Umkehrung dieser Annahme ins Komische verfremdet. Durch den Effekt der Synchrese werden musikalische Klänge auch als Ersatz für szenische Geräusche verstanden und umgekehrt Geräusche zu einer musikalisch anmutenden Komposition angeordnet oder zumindest mit der Musik zusammengedacht. Der Anteil an musikalisch illustrierten Affekten im mickey mousing ist dabei eine meist selbstverständliche Teilmenge, bleibt in dieser speziellen Form aber nachgeordnet. Affektorientierte Affirmation betrifft dagegen die inneren Vorgänge der belebten Natur, die mal mit den äußeren Vorgängen sichtbar assoziiert werden können, manchmal aber auch nicht. Hier ist das psychologisierende underscoring die filmmusikalische Technik, welche die affirmativen Beziehungen zur Gefühlswelt einer Figur zu unterstreichen versucht, d. h. sich an den Gedanken oder Emotionen der Figur orientiert. Dieser Vorgang haucht auch Animationen menschlich anmutendes Leben ein und lässt sich ebenso bei der Vermenschlichung von Tieren und sogar technischen Anlagen (z. B. Robotern) in einer Filmhandlung beobachten. Durch die Anwendung dieses musikdramaturgischen Mittels gewinnt dann die visuelle Darstellung etwas, das in dieser intensiven Form nicht möglich wäre oder nur rudimentär in ihr selbst angelegt ist. Die durch Filmmusik illustrierten inneren Vorgänge sind nicht selten für das Verständnis und die weitere Entwicklung der Handlung von Bedeutung. Die Gedanken und affektiven inneren Vorgänge einer Figur müssen dabei nicht im Bild sichtbar sein. Besonders wirksam ist die Technik des psychologisierenden underscoring dann, wenn Handlungen und Dialoge nur den Rahmen für die illustrierten Gedanken und Emotionen setzen, die Verdeutlichung dann aber den Mitteln und Wirkungen der Musik überlassen wird. Mit affektorientierter Affirmation als Strategie der Kopplung von Musik und Bild werden die inneren Vorgänge interpretierbar. In Szenen mit z. B. geringer Aktivität kann der so gesetzte Fokus auf eine Figur deren innere Erregung oder sonstigen Zustand zum Ausdruck bringen. An der visuellen Oberfläche kann diese Form der Affirmation daher auch zu scheinbar nicht passenden Kopplungen von Musik und Bild führen, besonders dann, wenn der Kontext einer Szene nicht klar, nicht bekannt ist oder in der Analyse außer Acht gelassen wird.

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4.  Filmmusik und Analyse

Dialogorientierte Affirmation zeigt sich darin, dass Musik auf im Dialog oder voice over geäußerte Stichworte »reagiert«. Für den Schaffensprozess des Filmemachens ist diese Art der filmmusikalischen Kopplung – ausgehend vom Dialog – die im Schaffensprozess vielleicht früheste Form, mit der sich die Musikdramaturgie im Film konkretisiert, da der Dialog meist im Drehbuch fixiert ist und somit eindeutige Anhaltspunkte für den Einsatz von Musik nachvollziehbar und bestimmbar sind. Für die Wirksamkeit der dialogorientierten Affirmation ist die Tatsache, dass Musik zeitlich zu Stichworten synchronisiert einsetzt oder endet manchmal entscheidender als die konkreten musikalischen Mittel. Erst wenn bestimmte Stichworte Teil einer übergeordneten dramaturgischen Strategie sind oder den Fabelzusammenhang einer Szene verdeutlichen, gewinnt das musikalische Material selbst eine größere Bedeutung.275

4.6.7 Sich ergänzende Beziehungen (»Dramaturgischer Kontrapunkt« nach Adorno / Eisler)

Die Idee, Filmmusik im Sinne des dramaturgischen Kontrapunkts zu erfinden bzw. einzusetzen, basiert im Kern auf einer lange geführten, sogar bis in die Antike zurückreichenden philosophischen Debatte, welche die Entkopplung von Wesen und Erscheinung thematisiert. Für Adorno und Eisler, die prominentesten Vertreter dieser Idee im Bereich Filmmusik, ist dieser Gedanke im philosophischen und im politischen Sinne essenziell. Die Idee, Filmmusik kontrapunktisch einzusetzen, rührt daher grundsätzlich an die Ästhetik des Films. Eine in der Musiktheorie geläufige Kategorie, die des »beziehungsvollen Kontrastes«, trifft ein wesentliches Merkmal auch des dramaturgischen Kontrapunkts im Film: die aufeinander bezogene Differenz der Medien, eingesetzten Mittel, Aussagen, Perspektiven usw. Als dramaturgischer Kontrapunkt kann Filmmusik dann bezeichnet werden, wenn Musik einen hinter der Szene stehenden Sinn hervorholt. Dazu ist ein gewisser Abstand zu den Vorgängen nötig. Dramaturgischer Kontrapunkt kann als Instrument der Reflexion und Erkenntnis in der Filmwahrnehmung verstanden werden. So ergeben sich durch den Einsatz von Musik nicht nur ernste hintergründige Zusammenhänge, sondern auch Wirkungen des filmischen Humors. Humor ist ein Aspekt des dramaturgischen Kontrapunkts, der häufig außer Acht gelassen wird, der allerdings nur die heitere Variante desselben Phänomens ist:

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Vgl. dazu die Analyse zu Matrix im Kap. 4.4.4 (»Heldenreise«).

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Die Erscheinung der Dinge täuscht nicht selten über ihren wahren Zustand (oder wie er sein sollte) hinweg. Kann sich das Publikum bei der Rezeption von der Offensichtlichkeit der Vorgänge und der (dramaturgisch notwendigen) Befangenheit der Figuren lösen, wird es möglich, die Hintergründe aufzudecken und in Erkenntnis zu überführen. Die dafür nötige eigene intellektuelle Aktivität gibt diesem Vorgang seine spezielle, für manche Themen und Geschichten besonders geeignete emotionale Qualität. Schon Adorno / Eisler haben sich für eine konkretere Bestimmung kontrapunktischer Prinzipien für ihre gegenüber Eisenstein (u. a.) anders gelagerten Ideen zum Kontrapunkt entschieden. Sie führten daher den Begriff dramaturgischer Kontrapunkt ein (Adorno und Eisler 1944/2006, S. 30–34), der hier näher erläutert werden soll. In ihrem Sinne verwendet auch Lissa (Lissa 1965) den Begriff Kontrapunkt. Es ist nur mit Blick auf das Manifest zum Tonfilm (Eisenstein, Pudowkin und Alexandrow 1928/2003) verständlich, warum noch Kracauer (Kracauer 1960/dt. 1964) diese Differenzierung ignoriert und den Begriff Kontrapunkt plakativ diskutiert: als Bedeutung provozierende Zuordnung von Bild und Ton. Vielfach greift die Fachliteratur zur Filmmusik dennoch auf diese Interpretation des Begriffs zurück. Es wäre jedoch vielmehr sinnvoll, den »audiovisuellen« vom »dramaturgischen« Kontrapunkt zu unterscheiden und den alleinstehenden Begriff »Kontrapunkt« nicht mehr zu verwenden. In ihrem Kapitel »Dramaturgischer Kontrapunkt« halten sich Adorno / Eisler in Komposition für den Film bei diesem Thema nicht auf mit theoretischen Erklärungen, sondern beschreiben und erläutern Beispiele. In den Überschriften dazu lässt sich erkennen, wodurch sich in ihrem Verständnis der dramaturgische Kontrapunkt prinzipiell auszeichnet: Bewegung gegen Ruhe, Ruhe gegen Bewegung, Spannung und Unterbrechung. Hierzu »verhält« sich die Musik: bewegte Musik zu ruhigen Bildern, ruhige Musik zum Aktionismus im Bild. So wird auch eine filmspezifische, jedoch schon im Musikalischen liegende Form der Spannung aus der aufeinander bezogenen Differenz heraus ermöglicht, die letztlich konventionelle Spannungsdramaturgie ersetzen könne: »Der Film kommt der spezifisch musikalischen Spannung näher als das Drama, dadurch, daß er streifenhaft von Spannung zu Spannung springt. Darum hat die herkömmliche Filmmusik vor allem an die Spannungsdramaturgie sich gehalten und diese durch Stereotype ad absurdum geführt.« (Adorno und Eisler 1944/2006, S. 33)

Wie in allen Kapiteln, wird auch hier Kritik am industriellen Mainstreamkino geübt, wo die Filmkunst nicht in der Weise als Erkenntnisinstrument verstanden wird, wie es den Autoren vorschwebt. Doch an der Klarheit der Analyse ändert

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4.  Filmmusik und Analyse

dies nichts: Die dramaturgische Form des Films legt nahe, Übergänge und Abfolgen durch musikalische Intensität zu vereinheitlichen. Doch sobald der stereotypisierte Einsatz der Filmmusik die Szene vorhersehbar werden lässt, hebt sich die Wirkung von Spannung und Intensität auf. So können nur immer dichter einsetzende Ereignisse, immer stärkere Akzente, immer intensiver wirkende Mittel die Logik konventioneller Erzählformen stützen. Ein Gegenentwurf ist der dramaturgische Kontrapunkt – und zwar in doppelter Hinsicht: Die Zuordnung von gegensätzlicher Oberflächenerscheinung von Musik und visueller Schicht erzeugt eine andere Form der Spannung, die dem Folgen der Vorgänge (Verstehen, Prognostizieren, Auflösen) etwas hinzufügt, weil eine Beziehung hinter den offensichtlichen Vorgängen gesucht wird. Zum anderen zielt der dramaturgische Kontrapunkt auf eine andere Rezeptionshaltung ab und damit auf eine andere emotionale Anteilnahme, als es Dramaturgien der Einfühlung und Immersion beabsichtigen. Die Differenzierung und Einordnung der Umstände, die für die Vorgänge prägend sind, und die eigene Position, die zu beidem zu beziehen ist, rücken damit ins Zentrum der Filmwirkung bzw. der kreativen Arbeit der Filmschaffenden. Erkennbar wird dies am Fazit aus der Beschreibung eines Beispiels – Dans les rues (F 1937, R. Victor Trivas, M. Hanns Eisler) –, das Eisler im Abschnitt »Ruhe gegen Bewegung« gibt: »Die Zartheit der Musik distanziert von der Rohheit des Vorgangs: die die Rohheit begehen, sind selber Opfer« (Adorno und Eisler 1944/2006, S. 31). Noch politischer wird es bei der Analyse von Eislers Filmmusik zu Hangmen Also Die! (Auch Henker sterben, USA 1943, R. Fritz Lang): »Der Handlungsverlauf wird gleichsam stillgelegt. […] Weder konnte es sich darum handeln, die Gefühle des Sterbenden auszudrücken, noch das sichtbare Milieu des Krankenhauses zu verdoppeln. Heydrich ist der Henker, das macht die Formulierung der Filmmusik zu einem Politikum: ein deutscher Faschist könnte durch traurig heroische Musik den Verbrecher in einen Helden zu verwandeln trachten.« (Adorno und Eisler 1944/2006, S. 32)

Zofia Lissa formuliert eine Definition zum dramaturgischen Kontrapunkt, die so in ihrer Allgemeingültigkeit nicht bei Adorno / Eisler zu finden ist: »Zur Kontrapunktik gehört die – getrennte – Repräsentation zweier verschiedener Handlungszweige, die schwieriger zu erfassen ist [als beim Asynchronismus276]. In diesem Falle informieren die auditiven und die visuellen Erscheinun276

Lissas Argumentation bezieht sich hier auf Eisenstein, Pudovkin, Alexandrow und Ruttmann sowie die von Kracauer aufgegriffene bzw. eingeführte Polarität von Synchronismus bzw. Parallelität der Vorgänge und Asynchronismus bzw. Kontrapunktik. Vgl. Lissa (1965), Ästhetik der Filmmusik, S. 104–107.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse gen über zwei verschiedene Vorgänge, die jedoch über die Fabel verbunden sind. Eisler führt dafür den Terminus des ›dramaturgischen Kontrapunktes‹ ein.« (Lissa 1965, S. 105)

Wie schon Lissa (Lissa 1965, S. 113) stellt auch Fabich (Fabich 1993, S. 68–75) fest, dass die filmmusikalischen Phänomene der Affirmation und des Kontrapunkts nicht auf die Polarität von Synchronismus und Asynchronismus reduziert werden können. Daher ist der Hinweis von Lissa so wertvoll, dass erstens die im Gegensatz stehenden Inhalte bereits im Film enthalten sein müssen und zweitens diese durch die Fabel (über die grundlegende Anlage und die Idee zur Handlungskomposition) miteinander verknüpft sind. Aus dieser Perspektive wird auch die rezeptionsästhetische Besonderheit klar, denn nun kommt es darauf an, dass das Publikum diese in der Anlage enthaltene Verknüpfung sich erschließt, verbunden mit dem emotional positiv empfundenen Erfolgserlebnis, wenn ein verborgener Sinn erfasst wird. Adorno / Eisler beschreiben auch die kontrapunktische Wirkung der Filmmusik durch szenisch bedingte, interne Musik, z. B. ein in der Handlung gesungenes Lied. Wenn ein Liebespaar außer »Ich liebe dich« nichts zu sagen habe, weil es im Gegenwärtigen völlig aufgeht, könne die Echtheit der Gefühle nicht durch Dopplung, sondern eher durch einen filmmusikalischen Kontrapunkt erzählt werden: »Konventionellerweise wird Musik zumal in allen revue- und operettenähnlichen Filmen zahllose Male episodär eingesetzt: indem man die Handlung durch Tanz und Lieder unterbricht. Hier aber erfüllt die Unterbrechung eine dramaturgische Funktion: sie hilft gleichsam von der Seite, eine Situation zu meistern, die unmittelbar als Haupthandlung gar nicht zu fassen wäre.« (Adorno und Eisler 1944/2006, S. 33)

Im Falle dieser Szene aus Dans les rues unterbricht ein von einer anderen Figur gesungenes Chanson die Handlung und kann als Ausweichung dienen, welche die »Haupthandlung« (das Eingestehen der gegenseitigen Liebe) davor bewahrt, als Banalität zu erscheinen. Solch eine eingeschobene, musikalische Episode bremst vielleicht die Einfühlung, fördert aber die Glaubwürdigkeit der erzählten Emotionen. Die Renaissance-Musik in dem in Kapitel 4.5.3 besprochenen Film The Sweet Hereafter ist zugleich ein Beispiel für den dramaturgischen Kontrapunkt. Während visuell und im Dialog der Hergang des Unfalls nacherzählt wird, informiert uns die Musik über eine andere Ebene der Geschichte: die Gründe von Nicole, sich am Vater und allen Erwachsenen moralisch zu rächen, indem sie durch eine Lüge die finanzielle Entschädigung der betroffenen Eltern verhindert und auch der Anwalt auf sein eigenes Vater-Tochter-Problem zurückgeworfen wird. Dies geschieht nicht über einen »passenden« Ausdruck oder Affekt der Musik, sondern

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4.  Filmmusik und Analyse

über deren Fabelzusammenhang, der die Aussage des Märchens vom Rattenfänger von Hameln mit der Handlungsebene der Geschehnisse zum Unfall miteinander verbindet.

4.6.8  Filmmusikalisches Leitmotiv »An die Leitmotivtechnik im Film stellen wir recht hohe Anforderungen in dramaturgischer Hinsicht; denn die Leitmotive sollen den Hauptkonflikt der Fabel ausdrücken und verdeutlichen helfen und an den Peripetien der Handlung beteiligt sein.« (Lissa 1965, S. 276)

Das Verwenden der Leitmotivtechnik bedeutet nicht, dass Filme mit diesem Merkmal dramaturgisch identisch sind. Die Bandbreite reicht von einer aus filmkompositorischer Sicht ganz pragmatischen Zuordnung von Themen, Motiven oder Instrumenten zu in der Handlung wiederkehrenden Situationen, Personen, Orten und Gegenständen bis hin zur poetisch überhöhenden Repräsentation universeller oder metaphysischer Ideen und Bedeutungen. Im einen Fall bestätigen oder verstärken musikalische Mittel die visuell und sprachlich umgesetzte Handlung. In anderen Fällen wird durch Leitmotivtechnik weniger musikalischdeskriptiv erzählt, sondern mit Musik ein Hintergrund, eine Erinnerung oder Vorahnung oder sonstige, auf größere, manchmal mythische Dimensionen hinweisende Komponenten musikalisch in der aktuellen Handlung repräsentiert. Horst Seeger findet folgende Definition für das Leitmotiv im Musiktheater: »Leitmotiv: eine musikalische Einheit (meist mehr als ein Motiv im eigentlichen Sinne, selten jedoch formal bis zum ›Thema‹ ausgeweitet), die der symbolhaften Charakterisierung einer Person, Sache oder Idee dient […]; dabei kann es sich um eine Ankündigung oder Begleitung eines Objekts, aber auch um eine Aufforderung zu gedanklicher Verbindung handeln […].« (Seeger 1978, S. 315)

Im Film wie in der Oper bzw. im Musikdrama bieten sich für die Leitmotivtechnik vergleichbare musikdramaturgische Gestaltungsmöglichkeiten an. Anders als in der Oper tendieren aber Filmkomponistinnen oder Filmregisseure dazu, auch »die gleichsam peripheren, der Alltagswelt zugekehrten Teile des Dramas« (Dahlhaus 2004b/GS7, S. 364)277, welche durch das Medium Film ästhetisch akzentuiert 277

Diese Formulierung von Dahlhaus stammt aus einer Erörterung zur Oper Der fliegende Holländer, die allerdings für die Ausnahmen von der Leitmotivtechnik gelten kann, d. h. wo kein weit verzweigtes Netz von Leitmotiven bzw. »Gewebe«, »Hauptstimmungen« und »thematischen Gestaltungen« den musikalische Zusammenhalt über die weit auseinanderliegenden

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

werden, leitmotivisch zu verarbeiten, obwohl dort nicht das eigentliche Potenzial dieser Technik liegt. Eine weiter wirkende Dimension bekommt die Anwendung von Leitmotiven durch die Bindung an eine »dramatische Konstellation« (Erdmann, Becce und Brav 1927, S. 51). Darunter ist mehr zu verstehen als eine Person, ein Ort oder Gegenstand usw., z. B. das Frageverbot im Lohengrin von Richard Wagner, das Erdmann / Becce / Brav als Beispiel in ihrem Handbuch anführen (Erdmann, Becce und Brav 1927, S. 51). Ein ganzer Komplex von miteinander verknüpften Aspekten der Geschichte drückt sich dann in einem einzigen Leitmotiv aus (die Liebe zwischen Elsa und Lohengrin, Elsas Angst wegen Ortruds Intrige, die Folgen, wenn Lohengrin als Gralshüter erkannt wird). Das Beispiel ist insofern sehr gut gewählt, da Lohengrin die erste Oper, besser: das erste »musikalische Drama« ist, in dem Wagner tatsächlich ein durchkomponiertes Gewebe von Leitmotiven zur Grundlage nimmt und das Frageverbot zum dramaturgischen Zentrum der Geschichte erhebt. Dessen Allgegenwärtigkeit in Gestalt der Präsenz eines musikalischen Motivs macht eine mögliche Dimension der Leitmotivtechnik besonders anschaulich. Leitmotive verdeutlichen eine Vorstellung von Zusammenhängen in der Geschichte, die Komponierende und Filmschaffende haben. Im Extremfall würde ohne solche Zusammenhänge, die von leitmotivisch eingesetzter Musik hervorgebracht werden, die Anlage einer Geschichte nicht funktionieren oder die Interpretation der Vorgänge in eine nicht erwünschte Richtung gehen. Im Allgemeinen Handbuch der Film-Musik heißt es daher: »leitende[r] musikalische[r] Gedanke«, vgl.: (Erdmann, Becce und Brav 1927, S. 51). Musikalische Leitmotive integrieren Aspekte des umfassenden oder eigentlichen Hintergrunds einer Geschichte in das aktuelle szenisch-dramatische Geschehen. Besonders wirkungsvoll ist der Einsatz von Leitmotiven, wenn die Bezüge ansonsten nicht aus den visuell oder sprachlich präsentierten Vorgängen hervorgehen.

Eine substanzielle Bedeutung bekommen Leitmotive zudem, wenn sie ihre Einflussmöglichkeiten auch über große Zeitspannen der Geschichte, sowohl im Rückblick als auch in der Vorausahnung sowie über mehrere parallele Erzählebenen oder viele sich miteinander kreuzende Erzählstränge hinweg ausspielen können. Komponenten der Handlung verbindet, vgl. Carl Dahlhaus (2004b/GS7), »Zur Geschichte der Leitmotivtechnik bei Wagner«, in: Hermann Danuser [Hg.], Gesammelte Schriften in 10 Bänden, S. 363 f.

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4.  Filmmusik und Analyse

Die Begriffe Leit-Thema und Leit-Motiv können auch für eine Unterscheidung der musikalischen Form genutzt werden. Eine thematische Gestalt besteht aus mehreren Motiven und Phrasen und kann für sich allein als abgerundete musikalische Einheit stehen. Motive sind dagegen musikalische »Bausteine«, kleiner als Themen und dadurch flexibler bei Anpassungen im musikalischen Verlauf, d. h. in diverse musikalische Zusammenhänge integrierbar.278 Daraus ergeben sich jeweils geeignete Positionen und Situationen im Film bzw. Anforderungen an Schnitt und Montage, damit Zeit für die größeren und formal weniger flexiblen Leit-Themen vorhanden ist. In die meist raschen Wechsel der dramatischen Handlung und die sie begleitende Filmmusik können sich eher die flexibleren LeitMotive eingliedern. Dennoch bleibt hier Spielraum bei der Analyse und bei der Entscheidung, ob es sich um ein Motiv oder um ein Thema handelt. Denn der Begriff Motiv hat in der Dramaturgie und in der Musiktheorie auch einen psychologischen Anteil als Element, das etwas »in Bewegung« bringt oder einen »Beweggrund« offenbart. Manchmal führt der einfachere Sprachgebrauch dazu, mit Leitmotiv sowohl die nicht so flexiblen Themen zu bezeichnen (welche oft die epische Dimension einer Geschichte betonen) als auch echte Motive, die als viel kleinere Bausteine in musikalische Strukturen eingearbeitet werden (und oft die szenisch-dramatische Ebene zur Geltung bringen). Leitthemen und Leitmotive können affirmativ bzw. denotativ (bestätigend, bezeichnend) und kontrapunktisch bzw. konnotativ (weitere Eigenschaften einer Szene logisch oder suggestiv charakterisierend und assoziierend279) eingesetzt werden. Die Bezeichnung »kontrapunktisch« für konnotative Leitmotive erhält dadurch Berechtigung, weil eine in Beziehung stehende, ansonsten nicht zum Ausdruck kommende Diskursebene in den Ablauf der Handlung eingebracht werden kann. Bei Zofia Lissa ist zu lesen: »Die Leitmotive können im Film natürlich sowohl synchron als auch kontrapunktisch verwendet werden, also entweder  –  in entsprechend abgewandelter

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Siehe dazu auch: Matthew Bribitzer-Stull (2015), Understanding the Leitmotif: From Wagner to Hollywood Film Music, S. 56 ff. Der Einfluss Wagners auf die Filmmusik kann wohl kaum überschätzt werden, jedoch wird in der Geschichte des Leitmotivs häufig vergessen, dass bereits Mozart (Zauberflöte: Sarastro) damit arbeitete, bevor französische Komponisten wie Grétry, Méhul und Catel die deutsche Romantik, namentlich Weber beeinflussten. Als Theorie aufgefasst wurde Leitmotivtechnik erstmals durch die Analysen von F. W. Jähns (Weber) und H. v. Wolzogen (Wagner), vgl. Horst Seeger (1978), Opernlexikon, S. 315–320. Auch in der russischen Oper ist Leitmotivtechnik anzutreffen, z. B. bei Rimskij-Korsakov und zeigt nach Ansicht von Lissa sogar eine für die russische Musik typische Charakteristik von generellen Gestalttypen bzw. der sogenannten Aktanten (z. B. für den »Herrscher und Helden«), siehe: Lissa (1965), Ästhetik der Filmmusik, S. 277. Gorbman spricht von »suggestive« und »floating« als Eigenschaften eines Leitmotivs, vgl. Gorbman (1987), Unheard melodies: Narrative film music, S. 29.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse Form – zugleich mit der Gestalt oder anstelle der Gestalt auftreten; im letzten Falle ergänzen sie nach dem Prinzip des Kontrapunktes durch die mit ihnen verbundenen Inhalte, Vorstellungen das Bild.« (Lissa 1965, S. 277).

»Synchron« eingesetzte Leitmotive können in einem dramaturgischen und filmästhetischen Kontext, der Einfühlung und Affirmation als alleinige Standards setzt, besser als Kennmotive bezeichnet werden, da sie nicht als Modell für etwas, das sie bezeichnen, stehen, sondern bloß Teil einer »Stichwort«-Dramaturgie sind, die mit Musik anzeigt, was im Dialog oder im Bild vor sich geht. Kennmotive erreichen nicht die ergänzende Bedeutung von Leitmotiven, die in die dramatische Aktion die Präsenz von Hintergründen und Zusammenhängen integrieren. Die Art der Verwendung von musikalischen Themen oder Motiven – konkret: wie sie eingeführt werden und dass sie wiederholt auftreten – macht sie zu filmmusikalischen Leitmotiven. Dafür ist sowohl komponierte oder zitierte Musik, Musik auf interner oder externer auditiver Ebene geeignet.280 Leitmotive zeigen den Hintergrund einer dramatischen Aktion durch Beziehungen zu einer dramatischen Konstellation an. Dies wird erst durch ihre Wiederholungen an Stellen, die diese Konstellation betreffen, möglich. Wiederholungen sind grundsätzlich auch großformal wirksam, sodass Leitmotive die geistige Totalität einer filmisch erzählten Geschichte, d. h. ihre epische Qualität betreffen. Nicht in jeder Szene kann der Hintergrund einer Szene explizit dramatisch erinnert werden, sodass Musik sich als Mittel anbietet, dies (mehr oder weniger) implizit zu tun. Zwar wird in der Fachliteratur immer wieder die Notwendigkeit hervorgehoben, dass Leitmotive bei ihrer Einführung gut erkennbar sein müssen, um gelernt und wiedererkannt werden zu können,281 doch dürfen Zweifel an dieser These geltend gemacht werden. Die bewussten und unbewussten Komponenten der Filmwahrnehmung wirken in so komplexer Weise zusammen, dass die Fixierung auf bewusstes Lernen und Wiederkennen von Leitmotiven einen nur sehr kleinen Teil der komplexen dramaturgischen Realität abbilden würden. Ein relativ auffälliges Einführen eines Leitmotivs als handlungsinterne Musik (z. B. gepfiffen, am Klavier oder von einem Tonträger), wonach es dann in der beigeordneten Filmmusik »weiterlebt«, ist aber in einigen Filmen zu finden und verhilft einem

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Claudia Gorbman hat dafür den Begriff »film theme« gefunden und definiert ihn – allerdings unabhängig von der Diskussion zum Leitmotiv – so: »[…] any music, melody-fragment, or distinctive harmonic progression – heard more than once during the course of film. This includes ›theme songs‹, background instrumental motifs, themes repeatedly performed by or associated with characters, and other recurring nondiegetic music.« Gorbman (1987), Unheard melodies: Narrative film music, S. 26. Schon zu lesen z. B. bei Erdmann, Becce und Brav (1927), Allgemeines Handbuch der FilmMusik, S. 51 f.

4.  Filmmusik und Analyse

Leitmotiv tatsächlich zu größerer Aufmerksamkeit.282 Die so reklamierte Aufmerksamkeit betrifft nicht jedes Leitmotiv, sondern verweist meist auf einen zentralen Konflikt. Leitthemen und Leitmotive können der Filmmusik eine filmspezifische Form geben, eine über Pausen, in denen keine Musik erklingt, hinweggehende vereinheitlichende Tendenz. Die Art und Weise, wie Filmmusik zum Einsatz kommen kann, folgt dann einem Prinzip, das auch auf den Umgang mit Dialog und Bild angewendet wird. Filmmusik geht dadurch im Gegenwärtigen der Handlung auf, ohne selbst formal vollständig sein zu müssen. Während in den meisten Opern oder im Wagner’schen Musikdrama sich die musikalischen Formen der Dramaturgie anpassen und zu durchgehender »musikalischer Prosa«283 werden, gelingt es im Film, auch fragmentiert wirkende musikalische Formen und Erscheinungen von Musik dramaturgisch als Leitmotiv wirken zu lassen. Visuelle, sprachliche und musikalische Mittel greifen dafür intensiver, spielerischer und flexibler als auf der Bühne ineinander. Die Anlässe, die die Handlung bietet, ein Stil, Genremerkmale und anderes mehr eröffnen ein breites Spektrum an Arten und Formen von Musik, das leitmotivisch wirksam werden kann. Leitmotive als musikalische Zellen, die formal flexibel sind, können sich an den Ablauf und die Entwicklung der Handlung gut anpassen und in den Ablauf eingegliedert werden. In den einflussreichen Filmkompositionen Max Steiners oder Bernard Herrmanns zeigt sich die Verbindung verschiedener, konventioneller Aufgaben in einer auf Leitmotiven beruhenden Filmmusik, die es im Rahmen einer bestimmten Dramaturgie schafft, den übergreifenden Bedeutungen von Leitmotiven und den begrenzten szenisch-dramatischen Anforderungen gleichermaßen gerecht zu werden. Die Wiedererkennbarkeit in einem solchen »Gewebe« ist nicht immer gegeben. Leitmotivtechnik wirkt dann vermutlich auch unbewusst, kann aber zugleich eine wichtige kompositorische Hilfe sein. Sogenannte modulare Kompositionstechniken, die in der Kombinierbarkeit verschiedener Motive Einheit und formale wie auch semantische Anpassung an die gezeigte Handlung ermöglichen, können  –  müssen aber nicht  –  im Sinne der Leitmotivtechnik funktionieren. Miceli hat den Begriff »Segmenttechnik« für solche Verfahren bei Ennio Morricone geprägt, die er in dessen Popmusik (Se

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So in Klassikern wie Casablanca (USA 1942, R. Michael Curtiz, M. Max Steiner) – am Klavier vorgeführt und mit der Dialogzeile »play it, Sam, play it again« unterstützt – und Laura (USA 1944, R. Otto Preminger, M. David Raksin) – vom Plattenspieler abgespielt und ebenfalls durch den darauf reagierenden Dialog hervorgehoben. Siehe: Carl Dahlhaus (2004a/GS7), »Wagners Konzeption des musikalischen Dramas«, in: Hermann Danuser [Hg.], Gesammelte Schriften in 10 Bänden, S. 82.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Telefonando) und Filmmusik (z. B. Inventione per John aus Giù la Testa und The Mission) nachweist.284 Einem Leitthema, das eine eigene, größere musikalische Form ausgebildet hat und aus mehreren Phrasen und Motiven besteht, muss in der Montage der nötige formale Raum gewährt werden, um seine Qualität zu behalten. Die großen Filmepen der älteren und jüngeren Filmgeschichte zeigen dies bzw. bewegen sich auf einem manchmal schwer zu treffenden schmalen Grat zwischen großer, epischer Geste und dramatischer Aktion mit ihrer sprunghaften Kleinteiligkeit. Daraus ergibt sich eine Tendenz: Je wichtiger die episch distanzierende Ansprache an das Publikum innerhalb des Ablaufs eines Films dramaturgisch gesehen ist, desto eigenständiger (d. h.: eigenen musikalischen Gesetzen folgend) kann die Musik sein. Carl Dahlhaus fand bei Wagner (genauer: im Ring des Nibelungen) ein Verfahren, um die Fasslichkeit des musikalischen Gewebes aus Leitmotiven zu erreichen. Die Schwierigkeit, die Menge an verschiedenen musikalischen Motiven zu komponieren, ohne die Erkennbarkeit und Übersichtlichkeit zu gefährden, wollte Wagner dadurch lösen, dass aus »plastischen Naturmotiven« (auch: Urmotive, Hauptmotive) durch individuelle Abwandlungen neue Motive entwickelt wurden. »Das Verwickelte und Verzweigte sollte dadurch, daß seine Entstehung aus dem Einfachen gleichsam auskomponiert wurde, dem Gefühl faßlich gemacht werden.« (Dahlhaus 2004b/GS7, S. 375). Die filmkompositorische Technik des underscoring und das Bestreben nach Fasslichkeit beim Kennzeichnen von Zusammenhängen, das Merkmal der Leitmotivtechnik ist, kommen sich in dieser Frage befruchtend entgegen. Ob Leitmotivtechnik dadurch substanziell wird, ist damit allerdings noch nicht untersucht. Dies hängt, wie eingangs gesagt, von der Dramaturgie des Films ab. In geschlossenen Erzählformen (zentrale/r Held/in, Disposition eines zentralen Konflikts in kausal-temporaler Übersichtlichkeit, Verfolgen des Lösungsweges in die Katastrophe oder glückliche Lösung) steht der pragmatische Aspekt der Leitmotivtechnik im Vordergrund, d. h. dass das Komponieren geleitet wird von der Idee, Personen, Orte, Gegenstände und einen Grundkonflikt bei Auftreten musikalisch zu kennzeichnen oder durch Musik auf miteinander verknüpfte Elemente zu verweisen. In offenen Erzählformen (mehrere gleichberechtigte Figuren und Handlungsorte, Zusammenhalt der Teile durch thematische oder assoziative Bezüge, Offenheit der Deutung der Vorgänge) und bei episierenden Fabeltypen erlangen Leitmotive ihre Bedeutung dadurch, dass sie das generelle,

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Sergio Miceli (1994/dt. 2000), Morricone – die Musik, das Kino, S. 316–318.

4.  Filmmusik und Analyse

verbindende Thema präsent halten bzw. die großen raumzeitlichen Entfernungen überbrücken, um die inneren Beziehungen zu akzentuieren. Für die unterschiedlichen Einsatzbereiche, die unterschiedliche musikalische Ausarbeitung und Verarbeitung und für die verschiedenartigen dramaturgischen Dimensionen stehen mehrere Begriffe für leitmotivische Zuordnungen zur Verfügung, die je nach Bedeutung im Film und für die musikalische Verarbeitung ihre Relevanz erhalten:285 – idée fixe – Erinnerungsmotiv – Ahnungsmotiv – Leitthema – Leitmotiv Der auf Hector Berlioz zurückgehende musikalische Terminus idée fixe beinhaltet eine psychologische Komponente, die im dramatischen Prinzip treffend aufgeht. Kerstin Stutterheim (Stutterheim 2015, S. 51) weist auf einen Beitrag von Reinhard Steinberg hin, der die Herkunft des Begriffs in der französischen Psychiatrie des frühen 19.  Jahrhundert belegt und an Berlioz’ Symphonie fantastique op.  14 (1830) exemplifiziert.286 So wird die Bezeichnung idée fixe für das musikalische Hauptthema verständlich: als psychologisierendes Leitmotiv, das in seinen Varianten den immer wahnhafter werdenden Zustand des Protagonisten charakterisiert und zugleich die Phasen des Ablaufs der Vorgänge illustrieren kann. Musikalisch gesehen entsteht bei konzeptionell durchdachten affirmativen Kopplungen von Leitmotiven eine einheitsstiftende Wirkung. Hieran ist auch das Verbindende zwischen den unterscheidbaren Akzenten der Begriffe idée fixe, Erinnerungs- und Ahnungsmotiv sowie Leitthema zu erkennen: Die dramaturgische Bedeutung durch ein entstehendes Netzwerk von Bedeutungen erzeugt aus der Begrenztheit eines musikalischen Abschnitts eine für die Filmmusik charakteristische Möglichkeit, um formale Ganzheit durch Bezüge und durch das »WeiterDichten« in Musik anzudeuten. Im filmmusikalischen Schrifttum wird dafür immer wieder der von Richard Wagner, Ernst Kurth und anderen verwendete 285

286

Die Begriffsgeschichte muss hier nicht reflektiert werden, da umfangreiche Literatur mit unterschiedlichen Schwerpunkten dieses Themenbereichs zur Verfügung steht. Zum denotativen und konnotativen Einsatz sowie zur Geschichte der Kritik der Leitmotivtechnik siehe: Christian Thorau (2003), Semantisierte Sinnlichkeit: Studien zu Rezeption und Zeichenstruktur der Leitmotivtechnik Richard Wagners. Reinhard Steinberg (2006), »Traum und Wahn in der Musik: Berlioz und die Folgen«, in: Michael Wiegand, Flora von Spreti und Hans Förstl [Hg.], Schlaf & Traum: Neurobiologie, Psychologie, Therapie.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Terminus der »unendlichen Melodie« zitiert.287 Unendlich bezieht sich dort allerdings auf den »unendlichen Gefühlsausdruck« (Wagner 1852/1994, S. 260), den nur eine von Sprache losgelöste »Melodie« ermöglichen könne.288 Die Erweiterung der musikalischen Form erstreckt sich durch den Einsatz von Leitmotiven über das ganze Werk – bei Zyklen, Serienfolgen und -staffeln oder (selbst-)referenziellen Erzählstilen der Postmoderne gegebenenfalls sogar über Werk- bzw. Filmgrenzen hinaus.

Leitmotivische Filmmusik dient im Besonderen in den ausufernden Umfängen epischer Erzählformen der formalen Abrundung der Vorgänge. In diesem Kontext erzeugen Leitthemen bzw. die musikalisch flexibleren Leitmotive fast immer einen Fabelzusammenhang der Filmmusik. Seine weitreichende strukturelle und wirkungsästhetische Bedeutung kann ein Leitmotiv daher in offenen Erzählformen oder bei episierenden Fabeltypen entfalten. Ist die filmische Erzählform einer Geschichte in stärkerem Maße gekennzeichnet durch – eine zeitlich, räumlich oder thematisch weitschweifige Handlung, – die Vielzahl von parallelen oder verknüpften Handlungsebenen, Episoden, Orten und Protagonisten, – thematische oder zufällige (anstatt logischer) Verknüpfung der Handlung, der Handlungszeit und -orte, dann können durch Musik die zwangsläufig entstehenden Unterbrechungen eines linearen szenisch-dramatischen Ablaufs vermittelt bzw. überbrückt werden. Die Musik erzählt dann davon, dass der Grund einer Handlung in der Vergangenheit (ggf. verborgen) liegt oder nicht zusammenhängende Handlungsstränge auf eine (ggf. noch unbekannte) zukünftige gemeinsame Erfüllung hin streben. Durch leitmotivische Musik wird ein Wechsel der Perspektive, Zeit oder des Ortes, ein Rückgriff, ein Vorausblick, eine Unterbrechung, Dehnung oder Verkürzung der Abläufe musikalisch so ergänzt, dass nicht nur syntaktisch ein Zusammenhang entsteht, sondern eine geistige Totalität erlebbar wird. Damit ist gemeint, dass die Zugehörigkeit von Ereignissen einer Szene zu einem den Figurenwillen (bestimmt oder unbestimmt) beeinflussenden Hintergrund mithilfe der

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290

Siehe dazu den Artikel von Ariane Jeßulat (2016), »›Unendliche Melodie‹: Aufbereitung einer Chiffre zu einer Kategorie der Wagner-Analyse«, in: ZGMTH Sonderausgabe (2016). Damit ist der Begriff Melodie der eigentlich zu interpretierende Terminus, wie Dahlhaus feststellt, der sich vom Themabegriff absetzt, vgl. Carl Dahlhaus (2007/GS10), »Richard Wagner: Das Werk«, in: Hermann Danuser [Hg.], Gesammelte Schriften in 10 Bänden, S. 625. Hintergründe und Aspekte der »musikalischen Poesie« wurden in Kap. 1.2 (»Musikästhetische Perspektiven auf Musik und Erzählen«) ausführlicher diskutiert.

4.  Filmmusik und Analyse

Musik übermittelt wird. So kommen das Universelle oder das Mythische im Konkreten des Moments zum Vorschein. Beispiel: C’era una Volta il West (Spiel mir das Lied vom Tod, I/USA 1968, R. Sergio Leone, M. Ennio Morricone) In dem schon in Kapitel 2.3.2 Musik (»Affekt und musikalischer Gestus«) angesprochenen Film C’era una Volta il West kann die Verwendung von Leitmotiven in Form einer affirmativen und kontrapunktischen Kopplung gezeigt werden. Affirmativ bedeutet, dass ein Leitmotiv an das Auftreten oder die Aktionen der Figuren gebunden ist, kontrapunktisch bedeutet, dass ein Leitmotiv einen dahinter stehenden Sinn hervorholt, weil es von nicht gezeigten Inhalten oder Personen »spricht«. Durch die Fabelidee mit ihrer epischen Anlage und aus dem Blickwinkel der Rachegeschichte des namenlosen Harmonica-Spielers, der der Skrupellosigkeit Franks ein Ende bereitet, kann der Film US-amerikanische Mythen zugleich vorführen und mit Blick auf universelle Themen hinterfragen. Die Filmmusik hat der Komponist – wie in vielen Fällen bei der Zusammenarbeit mit Leone und anderen Regisseuren, denen Morricone vertraut – nach Kenntnis des Drehbuchs zu großen Teilen fertig geschrieben und dann der Montage überlassen.289 Ihre musikalische Form wird daher entweder durch die Montage (im wahrsten Sinne des Wortes) beschnitten oder gibt der Montage das Timing vor. Passen sich Schnitt und Montage an die musikalische Form an, kommt der universelle oder mythische Anteil in den epischen Momenten stärker zur Geltung. Besonders gut zu erkennen ist dies im Auftreten des Frank-Themas (Come una sentenza) in der Variante b (L’uomo Dell Armonica290, siehe Abb. 16). Die zentrale filmmusikalische Idee steckt in dem sowohl musikalischen wie auch dramaturgischen Zusammenwirken von Franks Thema mit dem HarmonicaThema. Die kompositorische Ausführung ist vom Ursprung des Konfliktes her gedacht, der am Ende des Films erklärt und aufgelöst wird. Die Filmmusik ist damit in der Lage, von Beginn an und durch das wiederholte Auftreten zu verschiedenen Situationen und Figuren der Fabelidee ein musikalisches Gewand zu geben und darüber hinaus dem universellen oder mythischen Anteil der Geschichte strukturelle und ideelle Präsenz zu verleihen.

289

290

Vgl. Frayling (2000), Sergio Leone: Something to do with death, S. 196. Weitere Hinweise zur Arbeitsweise gibt auch Tim Summers (2014), »C’era una volta il West: Eine Oper über den Tod?«, in: Guido Heldt, Tarek Krohn, Peter Moormann und Willem Strank [Hg.], Ennio Morricone, S. 69 f. Track 10 auf der Soundtrack-CD: Once Upon a Time in America: Original Soundtrack from the Motion Picture, Mercury Records, [o. J.] (49 Min.).

291

Abb. 16: Leitmotive mit verschiedenen Qualitäten in C’era una Volta il West

(Symbol, isoliert)

Meeresbrandung

1. auditive Ebene (intern)

Ton

2. auditive Ebene (extern)

Grillenzirpen setzt aus

HarmonicaThema

1. auditive Ebene (intern) 2. auditive Ebene (extern)

MortonThema CheyenneThema JillThema

Leitmotive mit epischer Dimension: Glocke

Ton

1. auditive Ebene (intern)

(Symbol, isoliert)

2. auditive Ebene (extern)

HarmonicaThema

FrankThema

Atmen durch Mundharmonika

Meeresbrandung

Glocke

1. auditive Ebene (intern) 2. auditive Ebene (extern)

a1

b

Bahnhof

c

d

a2

Cheyenne und Harmonica

Jill will die Farm verlassen

Jill und Harmonica

den Jungen

0:15:00

0:30:00

0:45:00

e

a3

Harmonica zählt die Toten auf – Erkennung: Verabredung Bahnhof

1:00:00

1:15:00

1:30:00

f

Frank bietet 5001 $ Frank und Morton

1:45:00

2:00:00

g

b

b

Erinnerung + Duell

2:15:00

2:30:00

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

292

Leitmotive mit bezeichnender Funktion:

4.  Filmmusik und Analyse

Abb. 17: Kompositorische Verbindung zwischen Harmonica-Thema, FrankThema und Lamentobass

293

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse Abb. 17 zeigt Variante b des Frank-Themas zusammen mit dem HarmonicaThema (Varianten davon erklingen zusätzlich in den Hörnern). Wir hören es an dieser Stelle des Films erstmals voll entfaltet. Sichtbar wird, dass beide Themen auf dem Lamentobass basieren, der in einer späteren Szene (Variante d des FrankThemas) den Charakter der Musik dominiert. Sein Gestus kann dort mit Jills innerer Verfassung beim Verlassen der Farm in Beziehung gesetzt werden (siehe Abb. 6 in Kap. 2.3.2). Jill, Harmonica und – bei der Ermordung des Jungen – auch das Publikum teilen sich so den im Topos des Lamentobasses enthaltenen Affekt der Trauer, wobei zugleich die gemeinsame Quelle – Frank – musikalisch thematisiert werden kann. Die Kombinierbarkeit der Themen und Motive und dadurch ihre verschiedenartige Gewichtung ermöglicht die Anpassung an den Handlungsablauf und bringt gleichzeitig die übergreifende epische Dimension der Fabel musikalisch zum Ausdruck.

Ennio Morricone hat sein Konzept vom Leitmotiv selbst so beschrieben: »Die Gründe für die Anwendung von Leitmotiven sind: Die Musik sollte davon erzählen und das unterstützen, was man im Film nicht sieht und was nicht gesagt wird. Die Wiederholung eines Themas an einem bestimmten Moment lebt von dessen vorheriger Präsenz. Daher wird [in der Folge das] verstärkt, was man vorher gehört hat, und man erinnert den Zuschauer an das, was es vorher gab, was gerade [passiert], was später und auch viel später [geschieht].« (Rabenalt und Calvano 2014, S. 147)291

Das Leitmotiv fand auch über die Literatur ( Jean Paul, Laurence Sterne u. a.) seinen Weg in die Musik. Von der Musik kehrte es – neu durchdrungen mit einer metaphysischen Prägung des 19. Jahrhunderts – zurück zur Literatur und in den Film. Wie Peter Rabenalt anführt, hat Thomas Mann die Bedeutung des Leitmotivs in seinem Schaffen  –  inspiriert durch seine Leidenschaft für Wagners Musik – in diese Worte gebracht: Das Leitmotiv sei eine »vor- und zurückeilende magische Formel, die das Mittel ist, einer inneren Gesamtheit in jedem Augenblicke Präsenz zu verleihen«.292 Innere Gesamtheit, geistige Totalität, Universalität einer Geschichte sind geeignete Bezeichnungen, um den Horizont der dramaturgische Dimension von Leitmotiven zu benennen. 291

292

294

Dort ist auch der Originaltext des Interviews zu finden: »Le ragioni per il leitmotif: la musica deve raccontare ed aiutare quello che nel film non si vede e non si dice. La ripetizione di un tema in un certo momento vive della sua precedente presenza, quindi rafforza quello che si è sentito prima e ricorda allo spettatore quello che c’era prima, durante, dopo e più tardi.« Thomas Mann (1956), Zeit und Werk: Tagebücher, Reden und Schriften zum Zeitgeschehen, S. 440 f. Zitiert nach: Peter Rabenalt (2005), Filmmusik: Form und Funktion von Musik im Kino, S. 210.

4.  Filmmusik und Analyse

4.6.9 Affirmation und Kontrapunkt als dramaturgisch vermittelte Beziehungen

Affirmation (sich bestätigende Beziehungen) und Kontrapunkt (sich ergänzende Beziehungen) sind Konzepte der Kopplung von Musik an die Handlung. Die aus den Kopplungen sich ergebenden Beziehungen erwachsen aus den Wirkungsgesetzen der Montage, die nun nicht nur eindimensional in Form sukzessiver Kopplungen ist, sondern durch simultane Kopplungen eine weitere Dimension erhält. Die im Film besonders vom Bild lebende Umsetzung einer Geschichte bekommt damit ein klangliche Ergänzung. Wenn dieser Vorgang als Ergebnis der Montage beurteilt wird, wird deutlich, dass diese zusätzliche Dimension nicht bloß der kohärenten (visuell wie auditiv übereinstimmenden) Abbildung eines Inhalts dient, sondern dramaturgisch begründet ist. Affirmation und Kontrapunkt können daher als Kategorien bezeichnet werden, die in weiter zu differenzierender Form dramaturgisch vermittelte Beziehungen beschreiben können und nicht nur für bestimmte Effekte stehen. Im Koordinatensystem von Einfühlung und Distanz ist Kontrapunkt ein Mittel der Distanz, während Affirmation als ein Mittel der Einfühlung verstanden werden kann. Kontrapunkt als Mittel der Distanz kann weiter differenziert werden in entweder ein Mittel der offensichtlichen Distanz, wie sie durch den audiovisuellen Kontrapunkt erzeugt wird, und als Mittel der reflektierenden Distanz, die der dramaturgische Kontrapunkt realisiert. So erklärt sich auch, warum der dramaturgische Kontrapunkt an der Oberfläche, d. h. wenn man die hintergründige Bedeutung oder Andeutung der eigentlichen Zusammenhänge außer Acht ließe, partiell sogar affirmativ wirken kann. Der dramaturgische Kontrapunkt zeigt auch oberflächlich affirmative Effekte, da zu seinem Wesen gehört, dass nur scheinbar im Gegensatz stehenden Elemente einer Geschichte bereits in ihr selbst enthalten sind, aber von der Musik nach außen gekehrt werden. Doppeldeutige Phänomene entstehen auch bei der affektorientierten Affirmation. Zeichnet Musik lediglich die inneren Vorgänge der Figur nach, ist sie inhaltlich gesehen in höchstem Maße affirmativ, jedoch kann an der Oberfläche (oder ohne den Kontext einer Szene zu beachten) der Eindruck entstehen, dass die Musik sich vom äußeren Vorgang gelöst hat. Leitthemen und Leitmotive können ihrem Wesen nach gleichzeitig eine affirmative wie eine kontrapunktische Beziehung aufweisen: affirmativ, weil sie als musikalisches Erkennungssignal bestätigen, was in der Handlung vor sich geht; kontrapunktisch, weil sie einen tiefer bzw. weiter reichenden Sinn hervorholen können, der sich aus dem Dialog oder dem Bild allein nicht erschließt. Leitmotive können auch an im Dialog Geäußertes oder im Bild wiederkehrend Sichtbares anknüpfen.

295

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

In der folgenden Übersicht sind Musik-Bild-Kopplungen mit weiter reichender dramaturgischen Dimension angeordnet. Aus ihr geht hervor, welches Verhältnis die jeweilige Strategie zum Prinzip der Affirmation oder des Kontrapunkts hat und ob die Kopplung ein Mittel der Einfühlung oder der Distanz ist. Die fließende Trennung zwischen Affirmation und Kontrapunkt soll verdeutlichen, dass in beiden Prinzipien auch Aspekte und Eigenschaften des anderen Prinzips stecken können, mit Ausnahme der Ränder (bildorientierte Affirmation vs. audiovisueller Kontrapunkt), und dass dazwischenliegend an der »Oberfläche« nicht immer eindeutig nur das eine oder das andere Prinzip offensichtlich wird. (s. Abb. 18) Komik und Humor – sofern sie mit musikalischen oder klanglichen Mitteln unterstützt oder realisiert werden – lassen sich mit dieser Systematik als verschiedene audiovisuelle Strategien differenzieren. Auch Verfremdung taucht in dieser Systematik in zwei unterscheidbaren Formen auf: als Variante der Übertreibung bei der bildorientierten Affirmation, die durch Übertreibung Komik erzeugt (Typ  I), aber auch als Variante beim audiovisuellen Kontrapunkt, die dem Bewusstwerden der Umstände und der eigenen Haltung dient (Typ II). Erkenntnis, die durch den dramaturgischen Kontrapunkt gefördert wird, führt unter Umständen zu hintergründigem Humor, während die Übertreibung bei der bildorientierten Affirmation die Körperlichkeit der Komik illustriert oder fördert. Die doppelte Wirkung von Verfremdung kann Reflexion und Erkenntnis in eine ernste oder komische Richtung lenken. Die äußeren Ränder der in der Abb. 18 zusammengefassten Merkmale von Kontrapunkt und Affirmation liegen in dieser Frage nah beieinander, sodass die Systematik auch den Sonderstatus des komischen Erzählens am Beispiel der Filmmusik zum Ausdruck bringt. Beispiel: The Great Dictator (Der grosse Diktator, USA 1940, R.  Charles Chaplin, M. Charles Chaplin, Meredith Willson) Die berühmte Szene in The Great Dictator, in der Adenoid Hynkel mit der Weltkugel tanzt, enthält beides: Affirmative Musik begleitet Chaplin dabei, wie er überraschend den Vorhang hochklettert; beim Ballett zu Wagners LohengrinVorspiel (zum 1. Akt) liegt eine kontrapunktische Kopplung vor, weil die Musik zwar zu den Tanzbewegungen passt (oder besser umgekehrt: diese zur Musik ­passen), aber ihr erhabener Gestus im Widerspruch zu Chaplins Choreografie steht und die Kopplung dadurch den Größenwahn des Diktators entlarvt. Unabhängig davon sind im impliziten Wirkungsspektrum Anspielungen an die Verehrung der Nationalsozialisten für Wagners Musik bzw. an dessen latenten Antisemitismus mit in Betracht zu ziehen. Ich würde diesen Wirkungsbereich der Musik aber der Hauptwirkung, die auf der Verbindung von Verfremdung durch Übertreibung und auf dem kontrastierenden Gestus beruht, unterordnen.

296

bildorientierte und ­bewegungsorientierte Affirmation Mittel der Einfühlung bei Übertreibung: Mittel der komischen oder ironischen Distanz

Kontrapunkt (ergänzend)

affektorientierte ­Affirmation

dialogorientierte ­Affirmation

Mittel der Einfühlung

– an inneren Vor­ gängen orientiert – dient der Affekt­ darstellung – filmmusikalische Technik: psycho­ logisierendes underscoring

– Musik »reagiert« auf Stichworte

– – – –

Leitmotiv

dramaturgischer ­Kontrapunkt

audiovisueller ­Kontrapunkt

Mittel der geistigen ­Totalität

Mittel der ­reflektierenden Distanz

Mittel der offensicht­ lichen Distanz

Erinnerung Ahnung idée fixe Verweis/Hintergrund/meta­ physische Präsenz auseinanderliegender Zusammenhänge

– Entkopplung von ­Erscheinung und ­Wesen – dahinter stehenden Sinn hervorholen – eigenständige ­Erkenntnis – Humor mittels ­Erkennung

297

Abb. 18: Modell der dramaturgisch vermittelten Beziehungen zwischen Musik und abgebildeter Handlung

– Kontrast (vertikale Kopplung von ­Gegensätzen) – Bewusstsein für ­Umstände und ­eigene Haltung ­(Verfremdung Typ II) – Symbol, Metapher

4.  Filmmusik und Analyse

– an äußeren Vorgängen und im Bild sichtbaren Elementen orientiert (Bewegung, semantische Impli­ kationen) – Kennmotive – Genre-spezifischer Extremfall: mickey mousing – filmmusikalische Technik: illustrierendes underscoring – Komik durch Übertreibung (Verfremdung Typ I)

Affirmation (bestätigend)

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

4.7  Die auditiven Gestaltungs- und Wahrnehmungsebenen

In diesem Kapitel wird ein Modell der auditiven Gestaltungs- und Wahrnehmungsebenen entwickelt und diskutiert, das durch seinen Aufbau, seine Eigenschaften und Terminologie den dramaturgischen Aspekten des Einsatzes von Filmmusik gerecht werden soll. Die Theorien von Todorov, Genette und Deleuze schienen bisher besonders dazu zu inspirieren, auditive Ebenen im Film zu systematisieren,293 wohingegen genuin dramaturgische Fragen kaum Berücksichtigung fanden, obwohl sie in vielen Veröffentlichungen als sehr wichtig angesehen werden. Die Unterscheidung einer Gestaltungsebene und einer Wahrnehmungsebene im hier vorgestellten Modell drückt insofern die dramaturgische Perspektive auf die auditive Schicht aus, weil das Schöpferische von Seiten der Filmschaffenden (Gestaltung) immer in Bezug zum Nachschöpfenden des Publikums (Wahrnehmung und Wirkung) beurteilt wird und umgekehrt.

4.7.1  Instrumentarium zur Analyse der auditiven Schicht

Die Notwendigkeit zur Differenzierung der auditiven Schicht ist in der Filmmusikforschung unbestritten. Die dafür in unterschiedlichem Maße einbezogenen Ansätze der Filmtheorie brachten zu diesem Thema verschiedene Modelle und Terminologien hervor.294 Unterschiedliche Schwerpunkte der Filmmusikanalyse (z. B. musikalische Analyse, filmische Narration, Filmdramaturgie, Kontextualisierung) und Zielsetzungen (z. B. analytische Beschreibung, Erklärung von Wirkungsmechanismen, Komposition von Filmmusik) haben unterschiedliche Begriffsbildungen für die Analyse der auditiven Schicht zur Folge. Der Einfluss der neueren, sprachgebundenen Narratologie auf die Filmtheorie, der schon in Kapitel 1.1.3 (»Narratologie, narration und Filmdramaturgie«) eingehender diskutiert wurde, hat nicht für alle Forschenden die erhoffte Klarheit für die

293 294

298

Vgl. zu diesem Diskurs: Kuhn (2011), Filmnarratologie: Ein erzähltheoretisches Analysemodell; sowie: Iakovos Steinhauer (2018), Das Musikalische im Film, Zur Grundlegung einer Ästhetik der Filmmusik. Eine ausführliche Bewertung der dafür bekannten Klassiker Balázs, Arnheim, Kracauer und Bazin sowie Theorien von Pierre Schaeffer u. a. Pionieren der Klangforschung hat bereits Zofia Lissa vorgenommen und braucht daher hier nicht nochmals ausgeführt zu werden, vgl. Lissa (1965), Ästhetik der Filmmusik, S. 7–97 (Kap. I–III). Auch jüngere Studien referieren diesen Stand – mit unterschiedlichen Schwerpunkten und teils mit neuen Vorschlägen, z. B. Dästner (2005), »Sprechen über Filmmusik: Der Überschuss von Bild und Musik«.

4.  Filmmusik und Analyse

Differenzierung der auditiven Schicht gebracht. Das erklärt wohl auch die immer neuen Versuche.295 Die Unterscheidung in eine auditive Ebene, die den imaginativen Handlungsraum repräsentiert, und eine auditive Ebene, die davon größtenteils unabhängig existiert, ist in Film- bzw. Medien- und Musikwissenschaft Konsens. Umstritten ist allerdings die Terminologie und welche Zwischenformen oder Übergänge existieren. Besonders ambivalente Phänomene oder andere filmspezifische Varianten erzähltheoretischer Konstrukte, wie z. B. die Gedankenstimme oder aber Klänge, die weder eindeutig dem Handlungsraum noch der Ebene außerhalb des Handlungsraumes zugeordnet werden können, bereiten Schwierigkeiten beim Bestimmen und Handhaben von Begriffen. Viele Modelle suchen Entsprechungen der in der Literaturtheorie vorgenommen Abstufungen von Perspektivierung bzw. Fokalisierung und Ebenen der Narration mit den auditiven Ebenen im Film. In der Filmmusiktheorie scheint in dieser Frage eine Pfadabhängigkeit zu bestehen, von der sich Forschende nicht ohne Weiteres distanzieren können. Darauf basierende Modelle berühren allerdings Fragen der Filmdramaturgie nicht immer in ausreichendem Maße. Die Differenzierungen von u. a. narratologischen Sichtweisen und Konzepten, die in der Tabelle (Abb. 20) exemplarisch zusammengetragen wurden, bewahren nicht davor, die filmspezifischen Phänomene nicht doch nur in die schon existierenden Kategorien zu pressen. Daher soll hier die Vorgehensweise umgedreht und aus den filmspezifischen Klangphänomenen heraus und mit Blick auf ihre dramaturgische Einbindung in das filmische Erzählen eine Systematik entwickelt werden.296 Ein Vergleich bereits existierender Terminologie kann einige wesentliche Punkte der problematischen Differenzierung der auditiven Schicht zeigen. Zuvor sollen aber alle dramaturgisch zu unterscheidenden Klangphänomene, sortiert nach Musik, Ton und Stimme, aufgelistet werden. Da ihrem Wesen nach Ton und gesprochene Sprache unterschiedliche Bedeutung für das filmische Erzählen haben, muss menschliche Rede vom Ton getrennt untersucht werden.297 Im Folgenden soll eine Aufzählung die Frage beantworten, was genau im Film zu hören

295

296 297

Siehe hierzu den Artikel von Robynn J. Stilwell (2007), »The Fantastical Gap between Diegetic and Nondiegetic«, in: Daniel Goldmark, Lawrence Kramer und Richard Leppert [Hg.], Beyond the Soundtrack: Representing Music in Cinema und Neumeyer (2009), »Diegetic/nondiegetic: A Theoretical Model«, Winters (2010), »The non-diegetic fallacy: film, music, and narrative space« sowie das Buch von Heldt (2013), Music and Levels of Narration in Film, um nur einige wenige zu nennen. Siehe Kap. 4.7.4 (»Modell der auditiven Ebenen«). »Menschliche Rede« verweist in noch präziserer Weise auf etwas Bestimmtes, wodurch im Gegensatz zu Geräuschen auch »Gedanken, Urteile, Schlussfolgerungen oder auch Emotionen der Filmgestalten« bezeichnet werden; vgl. Lissa (1965), Ästhetik der Filmmusik, S. 62.

299

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

ist, bevor geklärt werden kann, ob sich diese Elemente und Phänomene der Tonspur auf unterschiedlichen Ebenen und dramaturgisch zu unterscheidenden Bereichen befinden. A. Musik – handlungsinterne Musik als expliziter und aktiver Darstellungsgegenstand mit Ursache im imaginativen Handlungsraum und mit Reaktionen der handelnden Figuren; Form der direkten Nachahmung (nach Aristoteles: mimetisch, d. h. gezeigte Musik als nachschöpfende Zeigehandlung) – Umgebungsmusik als aktiver Darstellungsgegenstand (nicht visuell erfasst, löst Handlungen aus) – Umgebungsmusik als passiver Darstellungsgegenstand (nicht visuell erfasst, bedarf keiner Erklärung und provoziert keine handlungsrelevanten Aktionen)298 – aus subjektiver Hörperspektive (als mentaler Vorgang, »im Kopf« einer Figur) – zum Handlungsraum assoziierte Musik, die logisch dort nicht in der Form erklingen würde – Musikanteile, die zum imaginativen Handlungsraum gehören, aber in die externe Musik von außerhalb des Handlungsraumes eingearbeitet sind – Musik im Musical, die zwar extern erklingt, aber von den Figuren wahrgenommen werden kann (Genre-spezifischer Modus der Rezeption von Musik, die keiner logischen Rechtfertigung bedarf, obwohl in anderen Genres die Figuren diese Musik nicht hören würden) – handlungsexterne Musik als rezeptionsästhetische Beiordnung: Musik zur Unterstützung der berichtenden Nachahmung bzw. indirekt nachschöpfenden Handlung (nach Aristoteles: diegetisch), Musik als ergänzendes Medium und Montageelement B. Ton – handlungsinterner Ton in der Szene als expliziter und aktiver Darstellungsgegenstand, Klänge der gezeigten belebten und unbelebten Natur – aktiver Umgebungston (Klänge der gezeigten belebten und unbelebten Natur, nicht visuell erfasst, löst Handlungen aus) – passiver Umgebungston (bedarf keiner Erklärung, löst keine Handlungen aus) als auditive Ausstattung einer Szene (»Atmo«)

298

300

Die Unterscheidung von aktivem und passivem Umgebungston geht auf Michel Chion zurück. Siehe dazu den Exkurs 4 (»on und off«).

4.  Filmmusik und Analyse

– Sound Design (FX, SFX), das über die sachliche Funktion eines Klanges hinausgeht (Semantik höherer Ordnung299) und das dadurch lenkende bzw. emotionalisierende Wirkung erhält – aus subjektiver Hörperspektive einer Figur (als mentaler Vorgang, »im Kopf« einer Figur) – Körper(innen)geräusche – zum Handlungsraum assoziierte Geräusche, die logisch dort nicht in der Form erklingen würden oder unbestimmbar bleiben; stilisierende (antinaturalistische) Repräsentation des Handlungsraumes (darunter auch das Isolieren bzw. Weglassen von Geräuschen) – musikalisiertes Sound Design, dessen Klänge im filmischen Diskurs bedeutungstragend sind, aber keine ontologische Funktion haben; stattdessen musikalischen Gesetzen der Abstraktion, Anordnung und Abfolge gehorchend C. Menschliche Rede/Stimme – Figurenrede, Dialog, Affektlaute – voice over (Typ I): auktoriale Erzählstimme – voice over (Typ II): Figurenerzähler/in, »über der Situation« stehend (reflektierend) – voice over (Typ III): Gedankenstimme eines/einer Figurenerzähler/in »in der Situation« (denkend, als unsichtbare Zeigehandlung) – Songtexte Wie die folgende tabellarische Anordnung als Zusammenfassung dieser Anteile der Klangschicht zeigt, ergeben sich jeweils vier zu unterscheidende Aspekte der dramaturgischen Platzierung von Musik, Ton und menschlicher Rede bzw. Stimme auf der auditiven Schicht des Films. Außen befinden sich Phänomene, die bei der Gestaltung und in der Wahrnehmung logisch und eindeutig dem imaginativen Handlungsraum zugeordnet werden bzw. kategorial von diesem getrennt werden können (erste und zweite auditive Ebene). In der Mitte der tabellarischen Anordnung befinden sich alle Phänomene, die nicht eindeutig der einen oder anderen Ebene zugeordnet werden können, und die offenbar die Mehrheit ausmachen. (s. Abb. 19)

299

Darunter können u. a. »gattungsspezifische Erscheinungen, die durch intertextuelle Wiederholungen aufgebaut werden« verstanden werden. Konkret führt Flückiger Signale, Symbole, Key Sounds, Stereotypen und Leitmotive ( jeweils mit Beispielen) an; vgl. Flückiger (2001/2007), Sound Design, S. 158 ff.

301

Musik

Ton

nicht eindeutig erste oder zweite auditive Ebene

interne Musik gezeigte Musik als Teil der nachschöpfenden Zeigehandlung (mimetisch); ­szenisch, handlungsintern; expliziter ­Darstellungsgegenstand: aktiv (löst Handlung aus) + passiv (Teil der Ausstattung)

Musik aus subjektiver Hör­ perspektive, als mentaler ­Vorgang

Musical-Technik und Musik(-anteile), die mit dem Handlungsraum assoziiert werden

externe Musik Teil der indirekt nachschöpfenden Handlung (Bericht von Hand­ lungen); handlungsextern, Teil des filmischen Diskurses

informativer Ton der Umgebung, zur klanglichen Ausstattung der Szene: aktiv (löst Handlung aus) + passiv (Teil der Ausstattung)

Sound Design aus subjektiver Hörperspektive einer Figur (mentaler, ­figurinterner Vorgang), ­Körper(innen)geräusche

Sound Design als stilisierende Repräsentation des Handlungsraumes; Klänge, die mit dem Handlungsraum assoziiert werden, aber nicht logisch oder nicht ­bestimmbar sind

musikalisiertes Sound Design (externes Sound Design ohne ­ontologische Funktion)

voice over (Typ III): Gedankenstimme (als unsichtbare Zeigehandlung einer ­Figur in der ­Situation, ­denkend), ­Songtexte

voice over (Typ II): ­Figuren­erzähler/in (über der Situation stehend, reflektierend), Songtexte

sichtbarer + nicht sichtbarer, aber zu ­vermutender Teil des Handlungsraumes: on(screen) + off(screen) Stimme

Zweite auditive Ebene filmspezifische Beiordnung

Figurenrede, Dialog, Affektlaute, ­Songtexte

Abb. 19: Auditive Gestaltungsmittel im Film

beigeordnete Klänge, die nach ­eigenen künstlerischen Gesetzen gestaltet sind voice over (Typ I): auktoriale ­Erzählstimme, Songtexte

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

302

Erste auditive Ebene expliziter Darstellungsgegenstand (aktiv oder passiv)

4.  Filmmusik und Analyse

Auditive Phänomene im Film können immer weiter differenziert und definiert werden.300 Mit dieser Übersicht soll allerdings auch das Verbindende, nicht nur das Trennende der Konzepte aufgedeckt werden. Einem Vergleich der filmmusikologischen Terminologie (siehe Abb. 20) kann entnommen werden, dass Widersprüche zwischen den verschiedenen Theorien existieren und dass teils unterschiedliche Sachverhalte mit derselben Terminologie beschrieben werden. Vier Tendenzen zeigen sich, was die Begriffe bezeichnen sollen oder warum sie eingeführt wurden. Sie spiegeln zugleich die besondere Rolle der Filmmusiktheorie zwischen Filmpraxis und Kunstwissenschaft wider: 1. technische und pragmatische Erwägungen bei der Filmherstellung 2. logische Zuordnungen zur Narration bzw. Fokalisierung bei der Analyse 3. Benennung einer dramaturgischen Bedeutung bei der Arbeit am Film oder bei der Analyse 4. Berücksichtigung der jeweiligen Spezifika von Sprache, Ton und Musik. Die Veränderungen der Terminologie spiegeln natürlich auch filmhistorische Veränderungen wider (auch jeweils innerhalb dieser vier Tendenzen), d. h. dass Filme immer neue Varianten auditiver Gestaltungsformen hervorgebracht haben und spezifische Eigenschaften des Klangmaterials nutzen, weil neue technische Optionen oder neue Dramaturgien diese ermöglichen oder erfordern. In der zwangsläufig nicht vollständigen Tabelle werden dennoch unterschiedliche Blickwinkel auf die auditiven Phänomene des Films deutlich. Ähnliche oder gleiche Begriffe beziehen sich manchmal auf anders gemeinte oder sogar unterschiedliche Aspekte oder Phänomene. Polarisierende Begriffspaare sind zwar meist systematisch gewählt, aber zu grob für die Vielfalt der dramaturgischen Einbindung von Musik und Ton. Die Tabelle suggeriert allerdings eine Eindeutigkeit eines Klanges oder einer Grenzziehung sowie Vergleichbarkeit, die mitunter nicht gegeben ist, weil die jeweilige Systematik einen anderen Ausgangspunkt oder ein anderes Beschreibungsziel hat. Doch gerade darin ist das für die Filmmusiktheorie gravierende Problem bei der Verwendung der Begriffe zu erkennen: Ohne Kenntnis der hinter einer Filmmusiktheorie stehenden Filmästhetik, ohne detailreiche und kritische Reflexion der jeweils zugehörigen Theorie und der gegebenen Beispiele301 kommt es fast zwangsläufig zu einer unzulässig

300 301

Vgl. Chions »Audio-Logo-Visuelle in einhundert Begriffen«: Chion (1990/dt. 2012), AudioVision: Ton und Bild im Kino, S. 169–204. Es widersprechen sogar die Beispiele für meta-diegetic bei Gorbman der in ihrem Text zuvor gegebenen Darlegung, vgl. Gorbman (1987), Unheard melodies: Narrative film music, S. 21–23.

303

Erste auditive Ebene expliziter Darstellungsgegenstand (aktiv oder passiv)

Ton informativer Ton der Umgebung, zur klanglichen Ausstattung der Szene: aktiv (löst Handlung aus) + passiv (Teil der Ausstattung) sichtbarer + nicht sichtbarer, aber zu vermutender Teil des Handlungsraumes: on(screen) + off(screen)

Stimme

Figurenrede, Dialog, Affektlaute, Songtexte

Zweite auditive Ebene

nicht eindeutig erste oder zweite auditive Ebene

filmspezifische Beiordnung

Musik aus subjektiver Hörperspektive, als mentaler Vorgang

Musical-Technik und Musik(-anteile), die mit dem Handlungsraum assoziiert werden

externe Musik Teil der indirekt nachschöpfenden Handlung (Bericht von Handlungen); handlungsextern, Teil des filmischen Diskurses

Sound Design aus subjektiver Hörperspektive einer Figur (mentaler, figurinterner Vorgang), Körper(innen)geräusche

Sound Design als stilisierende Repräsentation des Handlungsraumes; Klänge, die mit dem Handlungsraum assoziiert werden, aber nicht logisch oder nicht bestimmbar sind

musikalisiertes Sound Design (externes Sound Design ohne ontologische Funktion)

voice over (Typ III): Gedankenstimme (als unsichtbare Zeigehandlung einer Figur „in“ der Situation, denkend), Songtexte

voice over (Typ II): Figurenerzähler/in („über“ der Situation stehend, reflektierend), Songtexte

beigeordnete Klänge, die nach eigenen künstlerischen Gesetzen gestaltet sind voice over (Typ I): auktoriale Erzählstimme, Songtexte

Vergleich: Becce/Erdmann/Brav (1927) Balázs (1949)

Incidenz

Expression: dramatisch, lyrisch dramaturgische Musik

Musik als Gegenstand der Handlung synchron [sichtbar] + asynchron [nicht sichtbar]

Souriau (1951)

diegétique

filmophanique

Manvell/Huntley (1957)

realistic music, source music

functional music, underscoring

aktuelle Musik

kommentierende Musik: Parallelismus, Kontrapunkt

aktueller Ton mit Quelle: Synchronismus [= on] aktueller Ton ohne [sichtbare] Quelle: Asynchronismus [= off]

kommentierender Ton

Kracauer (1960)

[Gedankenstimme:] aktueller asynchroner Ton Musik in ihrer natürlichen Rolle

Lissa (1965) Genette (1972)

intra-diegétique voix-autodiégetique

Bordwell/Thompson (1979)

beigeordnete Musik meta-diegétique

extra-diegétique

voix-heterodiegétique

voix homodiégetique

diegetic external diegetic (objective)

nondiegetic internal diegetic (subjective)

Pauli (1981)

Bildton

Chion (1982–2011)

musique d’écran (Leinwand-Musik), in [= sichtbar] + hors-champ [= außerhalb des Bildausschnitts]

porosité

son ambiant (actif: son acousmatique, passif: décor sonore)

son-intérieures (objectif = körperlich, subjectif = mental)

Fremdton musique de fosse ([Orchester-]Graben-Musik) off

voix-intérieures

voix-off

Gorbman (1987)

diegetic

Altman (1987)

diegetic

supradiegetic

nondiegetic

Miceli (1994, 2009)

livello interno

livello (interno-)mediato

livello esterno: acritico, critico

Winters (2010)

fictional music

extra-fictional music: meta-diegetic [Perspektive einer Figur], intra-diegetic [affirmativ], extra-diegetic [kommentierend]

extradiegetic, nondiegetic

metadiegetic

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Abb. 20: Vergleichende Übersicht zur Terminologie der Unterscheidung auditiver Ebenen im Film

304

Musik

interne Musik gezeigte Musik als Teil der Zeigehandlung (mimetisch); szenisch, handlungsintern; expliziter Darstellungsgegenstand: aktiv (löst Handlung aus) + passiv (Teil der Ausstattung)

4.  Filmmusik und Analyse

verallgemeinernden oder verkürzenden Verwendung der Begriffe. Die Bezeichnungskraft der Begriffe verliert sich damit. Leicht kommt es auch zur Verwechslung der Begriffe dramatisch und dramaturgisch, die in der Begriffsgeschichte eine Ursache hat. Audiovisueller oder dramaturgischer Kontrapunkt und bild- oder affektorientierte Affirmation entstehen  –  anders als es die Terminologie von Kracauer oder Balázs vermuten lässt – sowohl mit Musik der ersten als auch der zweiten auditiven Ebene. Es ist z. B. eine verbreitete Praxis, mit interner Musik einen Kontrapunkt zu erzeugen, vermutlich weil so die narrative Rechtfertigung für eine Musik gegeben ist, die nach bestimmten Konventionen oberflächlich »nicht passt«, z. B. für den Hahnenkampf in Cincinnati Kid (USA 1965, R. Norman Jewison, M. Lalo Schifrin), das Deutschlandlied auf dem Schwarzmarkt in Die Ehe der Maria Braun (BRD 1978, R. Rainer Werner Fassbinder, M. Peer Raben) oder der Song What a wonderful world (gesungen von Louis Armstrong) in Good Morning Vietnam (USA 1987, R. Barry Levinson, M. Alex North) zu willkürlichen Exekutionen und zur Bombardierung vietnamesischer Dörfer. Es können vielleicht nicht alle im Film denkbaren Möglichkeiten der Präsentation, Qualität, Herkunft und Bedeutung von Geräuschen, Sprache und Musik in ein einzelnes konsistentes System gebracht werden. Die inzwischen in der filmischen Erzählkunst sowohl im Mainstream- wie im Autorenkino erreichte Vielfalt und Komplexität der Filmsprachen ist anscheinend zu groß. Auch crossmediale Rezeptionserfahrungen beeinflussen die Dramaturgie des Films.302 Die hier angestellten systematischen Überlegungen sollen dennoch die Klangphänomene aus dramaturgischer Sicht ordnen. Der Diegesebegriff nach Souriau bzw. Genette, die Adaptionen und daran gebundene Terminologie zur Analyse und Beschreibung der Klangschicht im Film sind dafür allerdings nicht geeignet – nicht nur aus den in Exkurs 2 (»diegetisch/non-diegetisch und mimesis/diegesis«) genannten Gründen, sondern auch, weil die Erzählformen im Film sich verändert haben und weiter verändern.

302

Zum Bespiel: Filme und Serien, die sowohl im Fernsehen live, in Mediatheken oder Streamingdiensten verfügbar sind und dort rezipiert werden, aber möglicherweise im Internet, auf mobilen Endgeräten, ggf. auch in Kinos, Theatern, Konzerthallen usw. weiter, auf DVDs u. Ä. erneut geschaut oder mit angrenzenden Inhalten in Verbindung gebracht werden.

305

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

4.7.2  Erste und zweite auditive Ebene als kategoriales Gerüst

Ein Lösungsansatz für die inzwischen mehrfach diskutierten Schwierigkeiten bei der Terminologie für Analyse und Beschreibung der auditiven Ebenen könnte die filmspezifischere Perspektive der Dramaturgie auf die Gestaltung von Musik im Film sein. Die für Dramaturgie charakteristische Methodik, performative Werke nicht nur herzustellen, sondern auch zu analysieren, Struktur und Wirkung in eine Relation zu setzen und das Vokabular dafür bereitzustellen, kann der hier geführten Diskussion neue Impulse geben. Die Dramaturgie eines Films übersetzt eine Geschichte mit mediumspezifischen Gestaltungsmitteln. Dazu gehört das kategoriale Gerüst aus erster und zweiter auditiver Ebene. Es stellt ein Gestaltungsmittel dar, das Fokalisierung (Erzähl- und Figurenperspektive bzw. Wissensstand) und Narration (System der Informationsvergabe) spezifisch ausformt, und ist zugleich ein Mittel zur Lenkung der Wahrnehmung, das die Verlaufswirkungen (Lernprozesse, Prognosen, Aufmerksamkeit und Timing) einkalkuliert. Dramaturgie als Methode betont nicht einen der drei genannten Bereiche, sondern setzt sie zueinander in Beziehung und stellt zudem bei der Analyse von Beschaffenheit und Bauform des Films die Wirkung auf das Publikum ins Zentrum. Im Falle der auditiven Ebenen bedeutet das zum einen, dass zwei kategorial zu trennende auditive Ebenen existieren, um zu unterscheiden, was die Figuren hören können und was nicht, mit anderen Worten: was das Publikum an exklusivem Wissen erhält. Abb. 21 zeigt daher, welche Reichweite die einzelnen Anteile der Klangschicht im Film haben. Es wird deutlich, dass das Publikum auditiv über alles informiert wird, solange alle Kanäle der auditiven Schicht »offen« sind. Pragmatisch lassen sich drei auditiv realisierte Kanäle definieren: Klänge, Sprache und Musik, die eindeutig auf der ersten oder eindeutig auf der zweiten auditiven Ebenen liegen, und Klänge, Sprache und Musik, die nicht eindeutig auditiv dort verortet werden sollen bzw. können. Damit wird auch deutlich, dass Fokus und Perspektive über die Vergabe der Klanginformationen entweder über alle drei, nur zwei oder nur einen Kanal an das Publikum klanglich realisiert werden. Während im traditionellen Theater lediglich das sogenannte Beiseite-Sprechen eine Form ist, damit eine Figur im Selbstgespräch (innerer Monolog) oder zum Publikum sprechen kann, ohne dass die anderen Figuren diese Informationen mitbekommen, bieten sich im Film viele Möglichkeiten, sprachliche Informationen exklusiv an das Publikum zu senden (voice over Typen  I–III). Zum filmischen Erzählen gehört es ganz selbstverständlich, von vornherein und umfassend über die zweite auditive Ebene auch nichtsprachliche Informationen zu erhalten. Ebenso die direkte Ansprache ans Publikum, das Durchbrechen der aus dem Thea-

306

4.  Filmmusik und Analyse

Erste auditive Ebene expliziter Darstellungsgegenstand

nicht eindeutig erste oder zweite auditive Ebene

Zweite auditive Ebene

Dialoge, Affektlaute Songtexte Musik und Ton als szenischer Vorgang aktiver und passiver Umbegungston subjektiver Ton Musik und Ton als mentaler Vorgang Sound Design

(lenkende und emotionalisierende Klanggestaltung)

(voice over Typ II) Gedankenstimme (voice over Typ III) Musik im Musical auktoriale (voice over Typ I) externes Sound Design externe Musik und Songtexte (als Beiordnung)

alle Figuren

Abb. 21: Wer hört was/reagiert worauf? Die Reichweite auditiver Gestaltungsmittel im Film

307

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

ter bekannten sogenannten »vierten Wand« ist im Film anzutreffen.303 Durch die Verabredung zur »vierten Wand« ist es den Figuren zunächst nicht möglich, direkt mit dem Publikum zu kommunizieren. Im Film gilt dies annähernd analog. Das Durchbrechen der »vierten Wand« im Film findet als vertrautes Phänomen aus dem Theater und zur Erweiterung des Wirkungsspektrums um komische, im postmodernen Kino oft ironische und in ernsten Genres ambivalente bzw. vertiefende Wirkungen Eingang. Nicht selten werden besondere Momente oder Erzählformen auf diese Weise markiert, z. B. durch Blicke oder Ansprachen der Figuren in die Kamera. Dann scheint Musik auf der zweiten auditiven Ebene unerlässlich, um eine poetische Rechtfertigung für das Durchbrechen einer Rezeptionsvereinbarung zu unterstützen und in die Kontinuität des Ablaufs einzugliedern. Beispiel: Atonement (Abbitte, GB/FR 2007 R. Joe Wright, M. Dario Marianelli) In Atonement wird eine Begebenheit multiperspektivisch erzählt, sodass im Film zwei Varianten des gleichen Vorgangs hintereinander (mit Rückwärtssprung) zu sehen sind (0:06:15–0:13:10). Die durch Montage und Perspektivierung optimal gestaltete Sicht folgt und unterscheidet sich von der Version, die zunächst aus Perspektive der beobachtenden Hauptfigur Briony, die nur Teile des Vorgangs wahrnehmen kann, gestaltet ist – eine Heranwachsende mit schriftstellerischen Ambitionen, die das Geschehen daraufhin falsch interpretiert und tragische Verwicklungen in Gang setzt. Der Film setzt das selbstreferenzielle Sujet der Romanvorlage in einer kunstvollen Montage um, in der die Filmmusik dazu dient, jenen Moment zu verstehen, der zu den weitreichenden tragischen Verwicklungen führt. Briony wird sich durch ihre Beobachtung darüber bewusst, dass in Geschichten ein Narrativ erschaffen wird, das nicht zwangsläufig der Realität entsprechen muss, dennoch als ein Mosaikbaustein unter vielen die Realität abbilden könnte. Sie zieht daraus die Idee und den Entschluss für eine unkonventionelle Schreibweise, die den Beginn ihrer Karriere als Schriftstellerin bildet. Sie opfert dafür entgegen eigener Zweifel die Wahrheit, wodurch sie in das reale Leben ihrer Schwester und deren Geliebten Robby tragisch eingreift. Um sowohl den Erkenntnismoment der Figur wie die Wiederholung der Szene aus wechselnder Perspektive als Besonderheit zu markieren, setzt die Inszenierung auf den Blick in die Kamera und durchbricht damit die »vierte Wand« (einmalig, nur in dieser Szene). Synchronisiert ist der Vorgang mit dem Einsatz eines Triolen-

303

308

Als »vierte Wand« wird im Theater die Seite der Bühne bezeichnet, die dem Zuschauerraum zugewandt ist. Zu den traditionellen Verabredungen des Theaters – zumindest in den ernsten Gattungen und jenen Genres, die einen bestimmten Grad der Illusion anstreben – gehört es, diese Wand und das Publikum zu ignorieren, obwohl es der eigentliche Adressat des Spiels ist.

4.  Filmmusik und Analyse Motivs, von Harfe gespielt, wenn Briony das Fenster, von dem aus sie ihre Schwester und Robby beobachtete, schließt. Als sich die Zeitschleife schließt (nach der zweiten Version), sehen wir Briony erneut dasselbe Fenster schließen, was die Filmmusik erneut durch Einsetzen des Triolen-Motivs, diesmal vom Klavier gespielt, markiert. Das Motiv und seine Fortspinnung sind durch die motorische Aktivität zugleich in der Lage, musikalische Kontinuität über die Diskontinuität der Montage zu legen.

Im postmodernen Erzählen ist das Durchbrechen der Verabredung zur vierten Wand substanzieller Teil des kreativen Spiels mit den Konventionen, so z. B. in High Fidelity (GB/USA 2000, R. Stephen Frears, M. Howard Shore) – ein Beispiel bei welchem Musik eine zentrale Rolle in der Geschichte und der Organisation der Handlung spielt.304 Das hier vorgestellte Modell der auditiven Ebenen verortet diese Variante der Figurenrede auf der mittelbaren Ebene bzw. im mittelbaren auditiven Darstellungs- und Wahrnehmungsraum (Kap. 4.7.3). Damit wird das Modell einem Merkmal dieser Erscheinung von Sprache im Film gerecht, nach dem auch anwesende Figuren diese Form der Ansprache einer Figur ans Publikum nicht wahrnehmen können, was nach rein logischen Erwägungen ein Paradoxon wäre, wegen der Rezeptionserfahrung aus dem Theater aber ein vertrautes Phänomen ist.305 Substanziell als Stilmittel eingesetzt ist dieses Phänomen z. B. in der Serie House of Cards (USA 2013–18, Creator: Beau Willimon, M. Jeff Beal) zu besichtigen.306 Die zwei zu unterscheidenden Ebenen sind Teil des impliziten, medienspezifischen Wissens. Sie sind als gelernte Referenz eine Voraussetzung für filmspezifische Wirkungen. An diesem Gerüst orientiert sich die Wahrnehmung, sodass vonseiten der Filmschaffenden der Informationsstand des Publikums (und damit ein wesentlicher Aspekt der Fokalisierung) zu Handlung, Figur und Konflikt mithilfe von Musik und Ton beeinflusst werden kann. Darüber hinaus sind durch das dynamische Wechselspiel der auditiven Ebenen auch Übergänge, Dominanz oder Verdrängung einer Ebene, ambivalente Zuschreibungen usw. mit ihren je-

304 305 306

Vgl. auch die Analysen zum Film in Kap. 4.4.6 (»Episierende Fabel«) und 4.7.4 (»Modell der auditiven Ebenen«) sowie die Erläuterungen zum »Beiseite-Sprechen« in Kap. 4.7.3 (»Mittelbarer auditiver Darstellungs- und Wahrnehmungsraum [mittelbare Ebenen]«). Merkmale dieses Eigenschaftsraumes werden in Kap. 4.7.3 (»Mittelbarer auditiver Darstellungsund Wahrnehmungsraum [mittelbare Ebene]«) näher erläutert. Für den Hinweis auf dieses Beispiel bedanke ich mich bei Georg Maas sehr. Obwohl Filmmusik in Serien und Seriendramaturgie nicht Teil dieser Untersuchung sind, lassen sich wichtige, hier verhandelte Prinzipien auch dort wiederfinden. In diesem Fall ist die Verwendung des Phänomens – ein Rückgriff auf die Theatertradition und zugleich Merkmal einer postmodernen Erzählweise – so essenziell, dass ein methodischer Ausblick gerechtfertigt scheint.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

weils im dramaturgischen Kontext gültigen Bedeutungen als filmspezifische Gestaltungsmittel wirksam. Die kategoriale Trennung der auditiven Ebenen ermöglicht auch eine Trennung der Affekte, die unmittelbar an den Informationsstand des Publikums gekoppelt ist, in Mitaffekt und Eigenaffekt. Der dargestellte Figurenaffekt kann sich demnach auf das Publikum übertragen – insbesondere bei affirmativen Beziehungen. Für Strategien wie suspense, Kontrapunkt, Komik und Humor im Film ist dagegen entscheidend, dass das Publikum einen Affekt erlebt, der anders als der gezeigte Figurenaffekt ist. Nur vor dem Hintergrund des kategorialen Gerüsts aus erster und zweiter auditiver Ebene funktionieren die genannten stilprägenden Strategien und Effekte. Das Gerüst als unausgesprochene Verabredung zwischen Filmschaffenden und Publikum kann in der Phase des Schaffensprozesses und bei der Filmrezeption in sehr unterschiedlicher Weise einen referenziellen Hintergrund bilden. Ganz ohne kommt ein Film, der kein Stummfilm ist, kaum aus. Sobald die kreativen Entscheidungen (vor oder bei der Produktion, bei Schnitt und Montage oder bei der auditiven Inszenierung in der Filmmischung) emotional und intellektuell ansprechende poetische Lösungen hervorgebracht haben, kann das kategoriale Gerüst aus erster und zweiter auditiver Ebene wieder »abgebaut« werden. Denn sein Sinn erfüllt sich nicht in der bewussten oder logischen Zuordnung zu einer oder der anderen auditiven Ebene, sondern in der Möglichkeit, die dramaturgische Bedeutung eines Klanges oder der Musik vor dem Hintergrund dieser kategorialen Trennung zu realisieren. Dazu kann Musik eindeutig oder uneindeutig auf der auditiven Schicht platziert werden, sie kann sich bewegen und dadurch etwas für den dramaturgischen Einzelfall Bedeutendes ausdrücken oder fühlbar werden lassen. Die naturalistische Genauigkeit von Zuordnungen zur internen Ebene bildet, wenn überhaupt, nur einen Ausgangspunkt. Das dramaturgische Ziel rechtfertigt dagegen Ungenauigkeiten, weil sie der poetischen Ausdrucksform des Films dienen und das selbstständige Auffüllen von »Lücken« anregt. Die Bedeutung von Verschiebungen zwischen den auditiven Ebenen bzw. eine Zuordnung zu ihnen sollte daher durch die Analyse der dramaturgischen Beweggründe ergänzt werden. In der Beschreibung zweier zu unterscheidenden Ebenen ist bereits das Konzept von Zofia Lissa (Lissa 1965) in der Lage, dramaturgische Anteile in ein filmspezifisches Modell der auditiven Ebenen aufzunehmen. Sie vermeidet abstrakte Begriffe für die auditiven Ebenen und differenziert sie nach ihrer grundlegenden dramaturgischen Bedeutung. Nach Lissa erklingt die eine Art von Musik im Film als Musik »in ihrer natürlichen Rolle«307, d. h. so, wie wir sie in unserer realen 307

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So bezeichnet Lissa in ihrer Ansammlung von Funktionen der Filmmusik die achte Funktion, siehe Lissa (1965), Ästhetik der Filmmusik, S. 163 ff.

4.  Filmmusik und Analyse

Erfahrungswelt auch hören würden. Auch der Musical-Modus zählt bei ihr dazu, weil diese Musik durch den Akt des Musizierens bestimmt ist. In der hier ausgebreiteten Systematik würde das aus der Erfahrung mit der Oper bekannte Phänomen wiederum zum mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraum gehören, weil die eigentliche Quelle der Musik unbestimmt bleibt, obwohl die Figuren des imaginativen Handlungsraums zeigen, dass sie diese Musik hören können und eine Bestimmung daher eigentlich möglich sein müsste. Die zweite Art Musik versteht Lissa als »Beiordnung« zur Handlung durch die Autoren (Lissa 1965, S. 56–65). Lissa begründet die elementare dramaturgische Bedeutung der Unterscheidung zweier auditiver Ebenen folgendermaßen: »Die Musik kann nämlich ein zum Bild gehörendes Objekt und ein klangliches Element sein, d. h. sie kann zur Szene gehören (spielendes Orchester, eine Sängerin, ein pfeifender Filmheld usw.) zusammen mit einer gezeigten Klangquelle, oder sie kann sich nach dem Prinzip des subjektiven Kommentars des Autors, des Kontrapunkts mit eigenen dramaturgischen Aufgaben in den bildlichen Ablauf einschalten. Wenn wir sie hören, setzen wir voraus, daß sie im ersten Falle auch für die im Bild gezeigten Helden hörbar ist, und ihr Verhalten beweist, daß diese sie perzipieren. Die zweite Form ihres Auftretens richtet sich ausschließlich an den Filmzuschauer; nur er hört sie und nur er begreift ihre Rolle in der Ganzheit des Ablaufs. Sie existiert vollkommen außerhalb der im Film gezeigten Welt, während die erste dieser Welt vollkommen angehört, zugleich aber auch der realen Welt des Kinosaals und des Filmpublikums.« (Lissa 1965, S. 57 f.)

Auf der ersten auditiven Ebene erklingen Phänomene als expliziter, aktiv oder passiv wirksamer Darstellungsgegenstand. Sie skizziert oder illustriert die unmittelbare auditive Erscheinung der Dinge. Aktiv lösen Klänge, Sprache und Musik dieser Ebene Handlungen aus, als passiver Darstellungsgegenstand bleiben sie handlungstechnisch folgenlos und dienen eher der unhinterfragten Ausstattung. In jedem Falle können Musik und Ton der ersten auditiven Ebene von den agierenden Figuren wahrgenommen werden. Sie enthält alles Klingende, das zur Erscheinung und Darstellung der belebten und unbelebten Natur gehört und Teil der gezeigten Welt ist. Im Handbuch von Becce / Erdmann / Brav findet sich für Musik dieser Ebene das Wort »Musikrequisit« (Erdmann, Becce und Brav 1927, S. 18). Musik der ersten auditiven Ebene ist durch bestimmte Vorgänge, die sie als solche akustisch erkennbar machen (Mikrofonierung, Musik- und Filmmischung), klanglich gekennzeichnet. Sie ist aber im fiktionalen Film (durch die genannten Vorgänge auch in den meisten Dokumentarfilmen) genauso ein Kunstprodukt wie die anderen filmischen Mittel. Wie Lissa für den Ton bereits feststellte, kann Musik als szenischer Vorgang ihre eigene visuelle Abbildung sowie Dialoge etc.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

ersetzen und so die Struktur eines Films beeinflussen. In Bezug auf Geräusche, die sich auf der ersten auditiven Ebene befinden, formulierte Lissa: »Die Effekte können aufgrund dessen, dass sie ein dauerhaftes Korrelat visueller Erscheinungen sind, diese ersetzen und damit ihrerseits in die Struktur der visuellen Schicht eingreifen, diese kürzen, gewisse Bilder überflüssig machen, das Ablauftempo der Ganzheit des Films beschleunigen.« (Lissa 1965, S. 61)

Musik der ersten auditiven Ebene scheint gemäß der rezeptionsästhetischen Verabredungen zur Wahrnehmung von Musik im Kino von den Protagonisten verantwortet zu sein und wird daher vom Publikum anders bewertet als externe Musik. Die Musik, die eine Figur hört, hat sie sich in der Logik der Geschichte eventuell selbst ausgesucht. Wie Figuren musizieren und die Möglichkeiten zu zeigen, wie eine Figur auf Musik reagiert, was sie in bestimmten Situationen gerne hört usw., charakterisiert auf sehr spezifische, beiläufig wirkende Weise die Figuren. Hier wären sonst viele Worte und szenische Einfälle nötig, um das auszudrücken, was wenige Sekunden Musik in der ersten auditiven Ebene erzählen können. Handlungsinterne Musik wird in der Filmmischung so in den Gesamtklang eingebunden, dass sie der Alltagserfahrung der selektiven Wahrnehmung, d. h. hörpsychologischen Erfahrungen, entspricht. Erkennbar ist diese Art der Einbettung daran, dass Hörperspektive, Frequenzband, das Verhältnis von Direktschall und Raumklang oder zu den Umgebungsgeräuschen je nach dramaturgischer Anforderung nicht naturalistisch bzw. nicht als Simulation einer vergleichbaren realen Situation erklingt. Diese Maßnahmen scheinen sogar notwendig, um einen »natürlichen« Eindruck zu vermitteln (vgl. Kap. 4.5.1 »Tonperspektive«), der nur eine ungefähre Entsprechung zu unserer Alltagserfahrung von Wirklichkeit haben muss. Es mag paradox erscheinen, dass das Gefühl von Authentizität im Film durch ein nicht-objektives Verhältnis zu Sprache und Geräuschen entsteht, aber sein Kunstcharakter wird u. a. dadurch bestimmt. Die zweite auditive Ebene ist durch Abgrenzung der Merkmale zur ersten auditiven Ebene technisch gesehen bereits hinreichend beschrieben. Sie enthält die Phänomene Musik und Ton, die als filmspezifische Beiordnung verstanden werden, d. h. nicht als zum imaginativen Handlungsraum gehörend interpretiert werden. Dramaturgisch eröffnet sich dadurch ein breites Feld an Möglichkeiten. Weil die nicht zum imaginativen Handlungsraum gehörende, darum auch extern zu bezeichnende Musik im Film – wie eine auktoriale Erzählstimme – von der gezeigten Welt getrennt eine Daseinsberechtigung hat und die Vorgänge begleitet, aber sich nicht selbst zeigt bzw. rechtfertigt, tendieren wir dazu, diese Ebene einer übergeordneten Erzählinstanz zuzuordnen. Damit verbunden ist die theo-

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4.  Filmmusik und Analyse

retisch mögliche Verfügbarkeit von weit mehr zur Geschichte gehörenden Informationen als jene, die sich im Agieren der Figuren, im Bild usw. zeigen. Dieser erzähltheoretisch übergeordnete »Raum« wird in Abgrenzung zum Handlungsraum z. B. »extra-diegetisch« oder »extra-fictional«308 genannt. Filmästhetisch entsteht so allerdings ein Paradox und ein Widerspruch zur filmmusikalischen Praxis. Im Falle von affektorientierter sowie bild- oder dialogorientierter Affirmation durch Musik auf dieser externen Ebene zeigt sich, wie Filmmusik in hohem Maß auf die visuell sichtbaren Vorgänge im Handlungsraum, die Bedeutung des Dialogs oder die Affekte der Figuren »reagiert«, d. h. sowohl in ihrem Einsatz wie in ihrer Ausarbeitung davon stark motiviert ist. Die Musik ahmt durch den mimetischen Impuls Vorgänge indirekt nach und bleibt dabei zugleich außen vor.309 Das dramaturgische Problem dieses Paradoxes (d. h. wenn man die Bezeichnung extra-diegetisch wörtlich nähme) kann durch einen Vergleich illustriert werden: Affirmative, externe Filmmusik wäre wie ein Erzähler in einer Theatervorstellung, der versucht, parallel die Figuren und Situationen vorzuspielen, obwohl die Figuren auch in der Szene agieren. Solch eine Situation würde den Eindruck vermitteln, als seien die Figuren eigentlich überflüssig und als stünden anders herum dem Erzähler die umfassenden Informationen zur Geschichte nicht mehr zur Verfügung. Der Erzähler würde dadurch seine Glaubwürdigkeit und Macht und im Gegenzug das Spiel der Figuren seine unmittelbare Intensität verlieren. Mit der Unterscheidung von direkter und indirekter Nachahmung löst sich das Problem auf und erklärt zugleich das unterschiedliche Wirkungsspektrum von Musik, die als Teil der Szene oder als Beiordnung zur Szene verstanden wird. Beigeordnete, externe Filmmusik hat einerseits die größtmögliche narrative Distanz zum Handlungsraum, sie scheint andererseits aber beim Nachzeichnen innerer und äußerer Vorgänge mit den Vorgängen im Handlungsraum gegebenenfalls sehr eng verknüpft zu sein. Sie trägt mit bei zu den Feinheiten des darstellenden Spiels und bewirkt die Intensivierung der Zeigehandlung. Beim psy-

308

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Winters Bezeichnung extra-fictional ist zu finden in: Winters (2010), »The non-diegetic fallacy: film, music, and narrative space«, S. 237 f. ist für die deutschsprachige Diskussion insofern irreführend, als im Deutschen von fiktionalen Filmen (Spielfilme) und non-fiktionalen Genres (Dokumentarfilm u. a.) zur Genreunterscheidung gesprochen wird. Winters (Winters 2010) schlägt  –  wie im Exkurs  2 (»diegetisch/non-diegetisch und mimesis/ diegesis«) bereits ausgeführt wurde  –  als Lösung vor, extra-fictional music zu differenzieren in extra-diegetic und intra-diegtic, sodass der hier beschriebene Fall von stark nachahmender, affirmativer Filmmusik als intra-diegetic music zu bezeichnen wäre. Siehe auch Abb. 20 »Vergleichende Übersicht zur Terminologie der Unterscheidung auditiver Ebenen« in Kap. 4.7.1 (»Instrumentarium zur Analyse der auditiven Schicht«).

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

chologisierenden underscoring, das die inneren Vorgänge einer Figur illustriert, verrät uns Filmmusik sogar etwas davon, was nicht im Handlungsraum sichtbar ist, aber dort stattfindet: die möglichen Gedanken oder Emotionen der Figuren bzw. was davon wir hineininterpretieren oder herauslesen können. Musik illustriert das Innenleben einer Figur, das ansonsten nur durch Mimik, Agogik oder Gesten der handelnden Figuren oder verbale Kommentare erzählt werden könnte. Filmmusik auf der zweiten auditiven Ebene gehört keineswegs zum Handlungsraum und sorgt dennoch mit dafür, diesem Anschaulichkeit und Intensität zu verleihen. Mit narratologischer Terminologie und Systematik (diegetisch vs. extra-/non-diegetisch) ist dieses musikdramaturgische Phänomen schwer greifbar, wäre darin sogar ein Paradox. Die gleichzeitige Wirkung von affirmativer Filmmusik durch die vom Handlungsraum motivierten mimetischen Impulse und durch die ergänzende dramaturgische Qualität, die aufgrund ihrer Beiordnung entsteht, d. h. dass sie als von außen kommend interpretiert wird, kennzeichnet eine spezifisch filmische Musikdramaturgie. Übertragen wir – als Alternative zu Souriau und der seit Langem geführten Diegese-Debatte  –  die Unterscheidung von direkter und indirekter Nachahmung auf das Medium Film, ist affirmative Filmmusik (mit anderen Worten: Filmmusik, wie sie in den wohl meisten Fällen narrativer, fiktionaler und dokumentarischer Filmformen vorkommt) als eine filmspezifische Variante des diegetischen (indirekt nachahmenden) Erzählmodus zu verstehen. Es liegt hier das Prinzip der Nachahmung durch Bericht (diegesis) vor, allerdings nonverbal mit musikalischen Mitteln, das im Sinne von Aristoteles vom Modus der zeigenden Nachahmung durch Schauspieler, die Figuren verkörpern (mimesis), unterschieden werden kann. Filmmusik der zweiten auditiven Ebene besitzt häufig einen merkbaren mimetischen Impuls, doch bleibt sie deutlicher als Musik der ersten auditiven Ebene ein nachweisbares, externes Gestaltungsmittel in den Händen der filmisch »dichtenden« Autoren. Sie gibt damit auch Auskunft über deren Haltung zu Thema und Geschichte und deren Wunschvorstellung, wie ein Publikum die Vorgänge interpretieren soll. Musik der zweiten auditiven Ebene ist aus dieser Sicht ein mediumspezifischer Anteil, der vor allem die imaginierende Eigenleistung des Publikums unterstützt sowie Einfühlung, Aufmerksamkeit und Deutung der Vorgänge beeinflusst. Mithilfe der zweiten auditiven Ebene ist es möglich, nicht nur eine Bedeutung der Vorgänge zu erkennen, sondern im Verlauf auch deren Umdeutung zu veranlassen. Im Unterschied zu einer externen Erzählstimme (voice over Typ I), welche die Bedeutung und Umdeutung durch sprachliche Hinweise beeinflussen kann, ist Musik der zweiten auditiven Ebene ein nicht sprachliches Mittel, das

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4.  Filmmusik und Analyse

daher in besonderem Maße ein immersives Erleben unterstützt.310 Durch die Konkretheit der Sprache wäre die kognitive Aktivität bei der Filmrezeption anders und könnte Anteilnahme und Spannung nicht in dieser speziellen Weise aufbauen. Das Vorhandensein der zweiten auditiven Ebene trägt einen nicht zu unterschätzenden Teil zum Spielcharakter des filmischen Erzählens bei.311 Sie dient der psychologischen Absicherung, die uns erlaubt, Film – wie andere Kunst auch – als modellbildendes, dem Spiel verwandtes System aufzufassen. Dies mag auch der Grund sein, warum manche dokumentarische Filmformen bzw. Schulen den Einsatz von externer Musik als unangebracht ansehen. Aspekte der Lebenswirklichkeit können in der Fiktion erzählerisch verarbeitet werden, während uns die zugeordnete Musik der zweiten auditiven Ebene an den Spielcharakter erinnert. Auch bedrohliche oder verstörende Situationen werden dadurch mit einem gewissen Genuss durchlebt, sodass man sie sich zu eigen machen kann. Die zweite auditive Ebene dient erzähltheoretisch als zusätzlicher Informationskanal, mithilfe dessen exklusive Informationen zur Geschichte an das Publikum fließen. Sprache (voice over) ist ein eindeutiges und auffälliges Mittel, das diese Bedeutung anzeigt. Musik auf dieser Ebene wirkt weniger auffällig, fördert dadurch das immersive Erleben und beeinflusst dennoch Annahmen über die dramaturgische Dimension der gezeigten Vorgänge. Die zweite auditive Ebene ist zugleich psychologische Absicherung, die sicherstellt, dass der Spielcharakter des filmischen Erzählens aufrechterhalten bleibt.

Musik der zweiten auditiven Ebene bewahrt nicht selten einen Rest von Eigenständigkeit. Doch sie steht immer in einem Verhältnis zur Handlung. Diese Bezogenheit der Filmmusik verbindet sie ästhetisch mit Programmmusik und Ideenkunstwerken vor allem des 19. Jahrhunderts.312 Programmmusik und autonome Musik zeigen verschiedene Ausprägungen eines mimetischen Impulses, der von einem konkreten, der Lebenswirklichkeit entstammenden Vorgang oder Erlebnis ausgehen kann und außermusikalische Sujets verarbeitet. Die Kommunikation, Deutung und gefühls- oder ideenmäßige Verarbeitung eines außermusikalischen Impulses mit musikalischen Mittel kann als musikalische Poesie bezeichnet werden. Die zweite auditive Ebene ist der Kommunikationskanal, über den musika-

310 311 312

Vgl. den Exkurs 3 (»Immersion«) in Kap. 2. Vgl. Kap. 2.3.3 (»›Psychische Erholung‹ durch fiktive Lösungen«). Vgl. Kap. 1.2.1 (»›Absolute‹ und ›autonome‹ Musik als musikalische Poesie«) und 1.2.2 (»Programmmusik oder Ideenkunstwerk?«).

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

lische Poesie in den filmischen Diskurs gelangt und zum Publikum »spricht«, das sich so zugleich seiner Rolle als Adressat bewusst werden kann. Damit entsteht ein breites Spektrum der musikästhetischen Beeinflussung des Films, das von Musik mit einem ganz eigenen Gestus, beinahe ohne mimetischen Impuls bis hin zu Musik reicht, die von Figuren und Vorgängen im Handlungsraum umfassend beeinflusst ist und kaum autonome Wirkung hat. Je nach Graduierung auf dieser denkbaren Skala des Mimetischen trägt Musik der zweiten auditiven Ebene im Film dazu bei, eine Aussage (der Filmschaffenden) zu stützen oder eine Annahme (des Publikums bei der Rezeption) zu entwickeln, was das Wesen hinter einer visualisierten Erscheinung sein könnte.

Exkurs 4: on und off

Mit den Bezeichnungen on und off (eigentlich: onscreen und offscreen) wird im audiovisuellen Kontext bezeichnet, ob ein Klang eine im Handlungsraum sichtbare (on) oder nicht vom Bildausschnitt erfasste, aber im Handlungsraum zu vermutende Quelle (off) hat. Der Gebrauch in der hier definierten Weise ist allerdings nicht einheitlich, denn besonders unter Filmschaffenden, aber auch in der Filmtheorie wird mit off auch der nicht zum imaginativen Handlungsraum gehörende Ton oder beigeordnete Musik charakterisiert. Daher existiert vereinzelt (besonders im nordamerikanischen Sprachgebrauch) zusätzlich die Bezeichnung real off. Dieser Begriff steht demnach für Klänge der zweiten auditiven Ebene ohne Quelle im Handlungsraum. Chion sieht on und off nicht als zusammenhängende Kategorien des Handlungsraumes, sondern verwendet alternativ dafür die französischen Begriffe in und hors-champ sowie son ambient (s. Abb. 20). So wird begrifflich in seinem System das Wort off wieder frei für eine weitere Bedeutung. Die auktoriale Erzählstimme (voice over Typ  I) auf der zweiten auditiven Ebene bezeichnet Chion daher mit voix-off. Die unterschiedliche Terminologie von sichtbaren und nicht sichtbaren Quellen einmal für Ton und einmal für Musik begründet Chion mit der unterschiedlichen Wesens- und Verbreitungsart von Tönen und von Musik. Weil on und off jedoch ein einfaches und gut funktionierendes System zur Beschreibung der sichtbaren und nicht sichtbaren Klänge innerhalb des Handlungsraumes ist und die dramaturgische Bedeutung von Ton und Musik damit gleichermaßen zum Ausdruck gebracht werden kann, sehe ich keinen Grund davon abzuweichen. Chion trifft aber eine andere wichtige Differenzierung, die auch wegen ihrer dramaturgischen Bedeutung in das Vokabular zur Analyse der auditiven Schicht

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4.  Filmmusik und Analyse

Eingang finden sollte. Wie schon Flückiger (Flückiger 2001/2007, S. 303) ausführt, unterscheidet er aktiven und passiven Umgebungston (Chion 1990/dt. 2012, S. 75 f.). Beide Arten gehören dem imaginativen Handlungsraum an und können daher aktiver und passiver off-Ton genannt werden. Aktiver off-Ton initiiert Handlungen aus dem nicht im Bildausschnitt befindlichen Bereich (z. B. ein von draußen kommendes Geräusch, das eine Figur dazu bewegt, zum Fenster zu gehen wie in der Eingangssequenz von M  –  Eine Stadt sucht einen Mörder (D 1931, R. Fritz Lang). Der passive off-Ton wäre der Umgebungston, der zum Handlungsort gehört, ohne bewusst zu werden (z. B. Vögel im Wald, das Rauschen einer erwachenden Großstadt, das Brummen eines Kühlschranks). Dass der passive off-Ton (darunter auch Musik) nicht bewusst verarbeitet wird, heißt nicht, dass er keine emotionale oder dramaturgische Bedeutung hätte, im Gegenteil. Viele beiläufig wirkende Klänge des Ausstattungstons interpretieren bereits entweder die Umgebung, die Situation oder die Verfassung der Figur(en). Flückiger nennt dieses Phänomen »Figur-Umwelt-Relation«313 (Flückiger 2001/2007, S. 314). Der passive off-Ton ist demnach solcher, der einer allgemeinen, unreflektiert wahrgenommenen Ausstattung der Umgebung dient und keine direkten Reaktionen in der dargestellten Handlung nach sich zieht. Der aktive off-Ton hingegen ist bewusst wahrgenommener Teil des dramatischen Spiels, der die Handlung nicht nur ausstattet, sondern sie auslöst oder lenkt. In manchen Fällen kann dieses Phänomen sogar als zentrales auditives Gestaltungsmittel gelten wie im Film Inception (USA/GB 2010, R. Christopher Nolan, M. Hans Zimmer). Der off-Ton ist ein wichtiges Gestaltungselement für die Fokalisierung, weil durch ihn beiläufig Perspektive und Wissensstand einer Figur erzählt werden können. Auf die visuelle Gestaltung haben die bei der Filmherstellung zu bedenkenden gestalterischen Möglichkeiten des off-Tons dann großen Einfluss. Es wird durch ihn auditiv möglich, die exklusive Vergabe von Informationen mehrfach abzustufen, auch dahingehend, dass eine Figur wissender als das Publikum wird. Dies entspricht dem Fall der externen Fokalisierung314, bei der der Erzähler weniger Informationen preisgibt, als der Einblick der Figuren reicht.

313 314

Die Figur-Umwelt-Relation ist bei Flückiger Teil einer umfassenderen Kategorie der narrativen Funktionen des Sound Designs, die sie »Orientierung, Setting, Szenographie« nennt, vgl. Flückiger (2001/2007), Sound Design, S. 314–318. Siehe Kap. 1.1.5 (»Narratologie, narration und Filmdramaturgie«).

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

4.7.3 Mittelbarer auditiver Darstellungs- und Wahrnehmungsraum (mittelbare Ebene)

Die Analyse von Filmmusik und wie sie eingesetzt wird führte viele Forschende zu der Erkenntnis, dass weitere Unterscheidungen als nur interne oder externe Musik existieren müssten. Musik, Sprache und Geräusche sind teils weder der einen noch der anderen Art eindeutig zuzuordnen und haben dann auch eine andere dramaturgische Bedeutung. Mit der Idee von einem mittelbaren auditiven Darstellungs- und Wahrnehmungsraum soll hier ein Konzept für Einsatz und Analyse der Filmmusik zur Diskussion gestellt werden, das viele Phänomene einschließt, die nicht in das bipolare System aus interner und externer Musik (ganz gleich mit welchen Vokabeln das System bezeichnet und ggf. weiter differenziert wird) passen. Folgende Definition soll einen Ausgangspunkt bilden: Der mittelbare auditive Darstellungs- und Wahrnehmungsraum kann als Eigenschaftsraum verstanden werden, der Klänge enthält, deren Wirkungen ambivalent sind. In ihm können auch Klangphänomene verortet werden, die dadurch dramaturgisch relevant werden, weil sie sich entweder von ihren möglichen Quellen im Handlungsraum gelöst haben und abstrahiert wurden oder weil auch von außen kommende Klänge, Sprache oder Musik von den Figuren im imaginativen Handlungsraum wahrgenommen werden können. Damit enthält diese auditive Ebene auch paradoxe Zuordnungen von Ton und Musik.

Im narrativen Spielfilm sind Gedankenstimme, Figurenerzähler/in-Stimme und Gedankenmusik in diesem Eigenschaftsraum zu positionieren, weil sie einen Teil der genannten Kriterien erfüllen. Gegenüber Musik und Ton der ersten auditiven Ebene sind diese Klänge und Musik nicht zwangsläufig von allen Figuren im Handlungsraum hörbar, weswegen sie dramaturgisch anders beurteilt werden müssen. Im Gegensatz zur zweiten auditiven Ebene erhalten Klänge und Musik des mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraumes (vereinfacht gesagt: auf der mittelbaren Ebene) die Eigenschaft, dass Figuren den ursprünglich externen Ton hören können. Aber auch eine filmästhetische Umgebung, die den konventionellen filmischen Diegesebegriff obsolet werden lässt, verortet Klänge, Sprache und Musik vielfach in diesem Raum mit ambivalenter Ausstrahlungskraft, weil diese mittelbare Ebene die kategoriale Trennung der ersten und zweiten auditiven Ebene partiell oder generell aufhebt. Ursprung oder Bedeutung von Musik und Ton der mittelbaren Ebene liegen zwar meist im Handlungsraum begründet, können diesem aber zum Zeitpunkt ihres Erklingens nicht immer logisch zugeordnet werden und bedienen sich daher einer poetischen Legitimation.

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4.  Filmmusik und Analyse

Der mittelbare auditive Darstellungs- und Wahrnehmungsraum vermittelt Übergänge zwischen der ersten und zweiten auditiven Ebene sowie deren Interaktionen durch eine inhaltliche Beziehung. Dies kommt nicht allein mithilfe der sensorischen Qualität (und die somit mögliche Verortung als eigentlich intern oder extern) zum Ausdruck, sondern muss vor allem durch den Zusammenhang erschlossen werden. Am offensichtlichsten wird dieser Sachverhalt im Filmmusical. Er betrifft aber auch zahllose ambivalente Klangphänomene. Flückiger schreibt zum Thema Ambivalenz: »Unscharfe Konzepte beflügeln die Phantasie, indem sie Projektionsflächen für individuelle Interpretationsstrategien bilden. Das gilt besonders für die reichhaltige, vielschichtige Tonspur, in der jedes Klangobjekt aus seinem ursprünglichen Umfeld herausgelöst […] wird […]«315 Der mittelbare Darstellungs- und Wahrnehmungsraum füllt nicht einen Zwischenbereich oder eine vermeintliche Lücke, sondern ist ein filmspezifischer Gestaltungs- und Wirkungsbereich, der die kategorialen Grenzen zwischen erster und zweiter auditiver Ebene sowie zwischen mimetischen und kommentierenden musikalischen Mitteln verdeckt und dadurch vorübergehend aufhebt, und somit funktioniert ein Film phasenweise ohne diese gedachten Grenzen. Im mittelbaren auditiven Darstellungs- und Wahrnehmungsraum erklingen Töne sowie Sprache und Musik, die schon die in Kapitel 4.7.1 (»Instrumentarium zur Analyse der auditiven Schicht«) genannten Eigenschaften haben: verdeckte, verschleierte, abstrahierte, verfälschte oder unklare Herkunft und Bedeutung von Klangobjekten oder Musik. Sie können dort platziert oder auch »geboren« werden oder von intern oder extern dort hin migrieren. Die Aufmerksamkeit des Publikums verfolgt dann diese Anteile des Soundtracks auf ihrem Weg in diesen Bereich und wird versuchen, die dramaturgischen Beweggründe dafür zu finden. Dass Klangobjekte und Musik ambivalent bleiben, nicht logisch oder nicht eindeutig bestimmbar sind, erzeugt zudem eine emotionale Spannung, die auch in der Realitätserfahrung meist dann einsetzt, wenn die Ursache eines Klanges nicht erklärbar ist. Einige Klänge und Musik in diesem mittelbaren Bereich der auditiven Ebenen können akusmatisch genannt werden. Der Begriff akusmatisch ist in diesem Zusammenhang nicht unproblematisch, aber doch gerechtfertigt, weil Herkunft oder Art der Ausbreitung der Musik oder der Klänge durch verdeckende oder

315

Flückiger (2001/2007), Sound Design, S. 375. Die Kürzungen im Zitat betreffen Geräusche und sind für die Übertragung ihres Gedankens auf die Musik nicht von Bedeutung. Der Unterschied zwischen dem Abstraktionsgrad von Musik und der Referenzialität des Tons wurde schon an anderen Stellen diskutiert, vgl. Kap. 2.1.1., 2.1.3, 2.2.2 und 4.3.1.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

abstrahierende Vorgänge nicht widerspruchsfrei beurteilt werden oder nicht mit Bestimmtheit ermittelt werden können. Laut Schaeffer (Schaeffer 1966) kann von »Akusmatik« gesprochen werden, wenn sich ein Klang von seiner Quelle losgelöst hat. Dies trifft für die elektronische und elektroakustische Musik in erster Linie in technischer Hinsicht, d. h. für die Wiedergabesituation durch ein Lautsprecherorchester zu. Bei der Übertragung auf den Film kann jedoch auch eine semantische Interpretation dieser Definition gelten. Beim Zusammenwirken von Musik mit Filmbildern und Handlung bedeutet »akusmatisch«, dass nicht mehr nachvollzogen werden kann, welche Ursache innerhalb oder außerhalb des Handlungsraumes verantwortlich ist für einen Klang, eine Musik oder bestimmte Anteile in der Musik.

Michel Chion bezeichnet als akusmatischen Ton lediglich den aktiven Umgebungston (präziser gesagt: den aktiven off-Ton).316 Thomas Görne gibt eine von Chion abweichende Interpretation des Begriffs akusmatisch für das Sound Design im Film: »In Variation Chions soll hier ein Klang, dessen Ursache innerhalb der filmischen Realität nicht sichtbar ist, akusmatisch genannt werden, insbesondere der abstrakte, ambivalente oder subjektive bzw. metadiegetische Klang. Dinghafte Offscreen-Klänge sind nach dieser pragmatischen Definition nur dann akusmatisch wenn ihre Ursache innerhalb der filmischen Realität unsichtbar oder unklar ist.« (Görne 2017, S. 183)

Für bestimmte Art und Weisen, wie Musik im Film eingesetzt wird, kann der Begriff produktiv werden, wenn Musik in Bezug auf die Bestimmbarkeit vor dem Hintergrund des kategorialen Gerüstes aus erster und zweiter auditiver Ebene ambivalent bleibt. Ein dramaturgisches Kriterium für Klänge und Musik des mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraumes ist, dass sie entweder gar nicht von den Figuren oder nur von ausgewählten Figuren wahrgenommen werden können. Typisches Beispiel dafür sind die sogenannten meta-diegetischen Klänge in der subjektiven Vorstellungswelt einer Figur, die für andere Figuren verborgen bleiben. Bis auf den filmischen Sonderfall des Musical-Modus bezieht sich die Ambivalenz, die den mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraum kennzeichnet, immer auf die Frage, ob und welche Figuren die so gestaltete Musik bzw. den so gestalteten Ton hören können oder nicht.

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Vgl. Exkurs 4 (»on und off«).

4.  Filmmusik und Analyse

Im Filmmusical können alle Figuren externe Musik hören, d. h. Musik, die nicht logisch als Teil des Handlungsraumes definiert werden muss bzw. kann. Um dem Umstand gerecht zu werden, dass es sich beim Filmmusical nur um eine in filmmusikalischen Theoriesystemen auftretende Ausnahme handelt und die Filmrezeption auch Rezeptionserfahrungen von Oper, Operette und Bühnenmusical einbezieht, kann der Begriff Musical-Technik bzw. Musical-Modus langwierige Erklärungen oder Anpassungen an narratologische Modelle ersparen.317 Gelegentlich, d. h. nicht substanziell, benutzen auch Filme, die kein Musical sind, diesen Modus, weswegen ein einfacher und anschaulicher Begriff notwendig ist, der über ein Genre oder eine Gattung hinaus geeignet ist. Musik im Filmmusical kommt von außen in den mittelbaren Eigenschaftsraum. Die Figuren können dennoch die Musical-Musik hören und interagieren synchron zu ihr. Chion versucht dieses Phänomene mit dem Wort porosité (Durchlässigkeit) zu fassen (Chion 1990/dt. 2012, S. 195 f.). Rick Altman führt dafür den Begriff supra-diegetic music ein (Altman 1987), der sich gut in das konventionelle Modell von diegetisch, meta-diegetisch und nicht-diegetisch einpasst. Das hier zur Diskussion gestellte Konzept der Erweiterung des bipolaren Modells intern–extern durch einen weiteren Eigenschaftsraum geht im Kern auf Beobachtungen von Sergio Miceli (Miceli 1994/dt. 2000) zurück. Er hat sein Konzept der mittelbaren bzw. intern-mittelbaren Ebene (so die bisherige Übersetzung von livello mediato) zunächst für Filmmusik von Ennio Morricone entwickelt (Miceli 1994/dt. 2000, S. 311 ff.), dann aber in ein umfassendes Theoriekonzept zur Filmmusik integriert (Miceli 2009). Einige musikalische Einfälle von Morricone und von Regisseuren im Umgang mit seiner Musik machten es notwendig, ein geeignetes analytisches Werkzeug zu entwickeln. Micelis Erkenntnisse münden in die Benennung dreier Ebenen: livello interno, livello mediato, livello esterno, die bislang übersetzt wurden mit interne, mittelbare und externe Ebene.318 Alle drei Ebenen haben seiner Meinung nach eine »primäre dramaturgische Funktion« im Film (Miceli 2009, S. 643–656). Da gerade Morricone und einige Regisseure, die mit ihm arbeiten, filmmusikalische Ideen in diesem mittelbar zum Handlungsraum in Beziehung stehenden Eigenschaftsraum ansiedeln, musste Miceli eine terminologische Lösung dafür finden. Die von Miceli beschriebenen Beispiele für Musik auf der mittelbaren

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Vgl. Heldt (2013), Music and Levels of Narration in Film, S. 135–170. Ennio Morricone hat die Begriffe interne, mittelbare und externe Ebene inzwischen in sein persönliches Vokabular zur Reflexion seiner Musik übernommen. Vgl. Rabenalt und Calvano (2014), »Interview mit Ennio Morricone«, S. 144 f.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Ebene würden im konventionellen Sinne der zweiten auditiven Ebene zugeordnet werden. Ich würde die Eigenschaften dieser Ebene noch ein Stück weiter fassen, damit dramaturgische Bedeutungen der Musik oder bestimmter Anteile in der Musik, die von außerhalb kommend bzw. von innerhalb kommend mit der jeweils anderen auditiven Ebene zusammenhängen, angemessen bezeichnet werden können. Nach Miceli erwecke die mittelbare Ebene, »indem sie zum ersten Mal von einer Figur des Films geschaffen wird, den Eindruck […], als gehöre sie nicht mehr dem darstellenden Willen des Regisseurs und des Komponisten an«. Das auf dieser Ebene Klingende gehöre zum Großteil »dem Erlebnis der Figuren« an. (Miceli 1994/dt. 2000, S. 312 f.).319 Morricones Filmmusik enthält nicht selten für die Dramaturgie wichtige musikalische Teilelemente, die entweder zum Handlungsraum gerechnet werden oder mit diesem eng assoziiert werden können, z. B. die Oboenmelodie und der Chorgesang in The Mission (Mission, GB/F 1986, R. Roland Joffé)320, die Panflöte in Once Upon a Time in America (Es war einmal in Amerika I/USA/CAN 1984, R. Sergio Leone) oder das Pfeifen und der Dialogsatz »Duck, you sucker!« in Giù la testa (Todesmelodie, I/SP 1971, R. Sergio Leone)321. Beispiel: The Mission (Mission, GB/F 1986, R. Roland Joffé) In The Mission ist Chorgesang als interne und als externe Musik enthalten. Während die Motette »Ave Maria« innerhalb der Szene erklingt, sind in der Filmmusik auch »Conspectus tuus« (als vierstimmige Motette) und ein von indianischen Rhythmen inspiriertes »Vita nostra« (dreistimmiger Frauenchor) nur extern zu hören, z. B. während des Abspanns. In der polymetrischen Gleichzeitigkeit des motettischen Gesangs, des »Vita nostra« und der Streicher als Symbol westeuropäischer Instrumentalmusik realisiert Morricone die utopische Koexistenz der Kulturen.322 Eine Konsequenz daraus ist, dass Morricone den Chor mit Sängerin-

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322

Miceli erklärt am Beispiel von The Mission (GB/FR 1986, R. Roland Joffé) eine Besonderheit der Musik von Ennio Morricone u. a. mit der »Koexistenz von mittelbarer und externer Ebene« Miceli (1994/dt. 2000), Morricone – die Musik, das Kino, S. 316. Die Oboenmelodie spielt der Pater zunächst in der Szene. Als das Vertrauen zu den Indios aufgebaut ist, »wandert« sie aber in die externe Filmmusik und bekommt außerdem eine musikalische Begleitung von außerhalb des Handlungsraumes, vgl. die Analyse in Kap. 2.1.2 (»Prozessualität und Räumlichkeit von Bild und Musik«). Das Pfeifen wird allerdings nie gezeigt, ist jedoch sehr eng an die Hauptfigur geknüpft, als würde sie dieses Pfeifen produzieren. Auch die Oboe des Paters, von der schon in der Analyse im Kap. 2.1.2 (»Prozessualität und Räumlichkeit von Bild und Musik«) die Rede war, nimmt diesen Weg: Die Figur erzeugt die Melodie, diese kehrt aber extern auch ohne die Figur oder in Variationen wieder. Siehe dazu auch den Partiturausschnitt bei Miceli (1994/dt. 2000), Morricone – die Musik, das Kino, S. 318.

4.  Filmmusik und Analyse nen und Sängern unterschiedlicher Muttersprachen besetzt hat. Der so umgesetzte lateinische Text kann dreierlei zum Ausdruck bringen: 1.  dass sich die Filmschaffenden des Vorgangs kolonialer Machtergreifung bewusst sind, 2. wie das Ideal einer Koexistenz unterschiedlicher Kulturen (am Beispiel ihrer Sprachen) musikalisch umgesetzt wird, und 3. dass den Indios eine Stimme gegeben wird, wenngleich dies nur zeigt, wie sie sich die aufgezwungenen Ideen zu eigen machen mussten. Wahrscheinlich nur unbewusst wirkend entsteht eine von außen kommende Musik, die so klingt, als könnte sie Teil der Szene sein. Der mittelbare auditive Darstellungs- und Wahrnehmungsraum dient hier der Umsetzung einer der zentralen Ideen hinter der Geschichte.

Oft sind Figuren die ursprüngliche Quelle der Klänge oder der Musik auf der mittelbaren Ebene, z. B. eine Gedankenstimme oder wenn sie musizieren. Aber auch andere, technische Quellen können ein Ursprung sein. Diese Anteile des Tons oder der Musik erklingen in manchen Fällen abgelöst von den Figuren oder ihrer technischen Quelle. Sie halten aber ein starkes gedankliches Band als Verbindung zum Handlungsraum. Weil solche Klänge explizit oder implizit die Frage nach ihrem Ursprung stellen, dieser Ursprung aber nicht zum Realismus des Handlungsraumes passt oder nicht genau bestimmt werden kann, entsteht eine poetische bzw. dramaturgische Bedeutung. Im Theater gibt es mit dem »Beiseite-Sprechen« und beim »inneren Monolog« bereits eine formale Lösung für das, was im Film durch den mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraum erreicht wird. Spricht eine Figur aufgrund der Regieanweisung »beiseite«, dann erhält nur das Publikum die Informationen, die im Monolog enthalten sind, denn diese Konvention legt fest, dass die anderen Figuren nichts davon hören, obwohl dies auf der Bühne praktisch der Fall ist. Dem Publikum kann hierdurch ein unter Umständen für die dramaturgische Anlage notwendiger Wissensvorsprung gegeben werden. Im Film kommen Beiseite-Sprechen und Innerer Monolog als Gedankenstimme (voice over Typ  III) bzw. als Stimme eines/einer figuralen Erzählers/in (voice over Typ  II) vor. Weil diese Phänomene exklusive Informationen für das Publikum bereitstellen, müssen sie dramaturgisch vom Handlungsraum getrennt werden, auch wenn die Figuren ein Teil der gezeigten Welt bleiben. Genauso wichtig aber ist, dass die Figur, obwohl sie sich beim Beiseite-Sprechen für das Publikum von der gezeigten Welt ein Stück abhebt, noch Teil dieser Welt ist. Ihr Status hat für einen Moment die charakteristische Ambivalenz, die zu Stimme, Ton und Musik des mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraumes auf der auditiven Schicht des Films gehört.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse Musik und Ton im mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraum haben ihren Ursprung entweder intern oder extern, verfügen aber über eine Eigenschaft der jeweils anderen auditiven Ebene. Diese ambivalenten Eigenschaften können wiederum auf eine Figur, die mit diesen Klängen oder dieser Musik verknüpft ist, abfärben. Beispiel: Yentl (GB/USA 1983, R. Barbra Streisand, M. Michel Legrand) Im Film Yentl ist für die Realisierung der Gedankenstimme der Hauptfigur Yentl (die Tochter eines Rabbiners, die sich als Mann verkleidet, um studieren zu können) die Musical-Technik eingesetzt worden. Anders als in vollständigen Musicals, die – mehr als hier – Handlung und Dialoge mit Musik transportieren, verhilft im Film Yentl die Musical-Technik dazu, die dramaturgisch besondere Disposition erlebbar werden zu lassen: Yentl darf nicht erkannt werden, muss ihre wahren Gedanken und Gefühle (so auch die Liebe zu ihrem Mitstudenten Avigdor) verheimlichen. Keine der anderen Figuren kann ihre innere (gesungene) Stimme hören. Innerer Monolog und Gedankenstimme sind in diesem Film eine tragende Strukturkomponente und zugleich Wirkungsebene der Dramaturgie, die durch Musik emotionalisiert wird. Mittels der gesungenen Gedankenstimme wird das Publikum über die Gefühls- bzw. Gedankenwelt der Protagonistin informiert (insbesondere über die Gründe, sich als Mann zu verkleiden und später einer eigentlich unmöglichen Heirat zuzustimmen, die es Yentl erlauben würde, mit Avigdor, den sie liebt, zusammenzubleiben). Oper und Musical wirken im authentisch anmutenden Film nicht selten aufgesetzt. Im Rahmen der Fabelidee von Yentl, bei der der innere Konflikt und die Verwicklungen, die auf der vorgetäuschten Identität beruhen, aus Sicht der zentralen Figur erzählt werden, können Gedanken und Gefühle in diesem Umfang mit der Musical-Technik besonders sinnfällig zum Ausdruck gebracht werden. Die intensiv eingesetzte Gedankenstimme (die unsichtbare Zeigehandlung) und die visuell und sprachlich realisierte Filmhandlung werden durch die MusicalTechnik ästhetisch vereint. Dies erlaubt zum Teil komplexe szenische und auditive Anordnungen, z. B. in der Sequenz, die die Vorbereitungen zur Hochzeit und die Hochzeit selbst zeigt (1:12:35–1:17:25) und die den zentralen Konflikt in filmischer Form dynamisch und emotional umsetzt und zuspitzt. Die Wirkung der als ein Höhepunkt und plot point zu bezeichnenden Szene verdankt sich auch der Tatsache, dass der Musical-Modus, der bisher nur die »innere« Handlung (Gedanken und Gefühle der Hauptfigur) begleitet hat, nun zugleich mit der Hochzeitsmusik in der »äußeren« Handlung verschränkt erklingt.

324

4.  Filmmusik und Analyse

Zählt man die wesentlichen Bestandteile der Tonspur eines Films zusammen, stellt sich heraus, dass sehr viele Phänomene des Tons und der Musik ihre dramaturgische Bedeutung dadurch gewinnen, dass sie bzw. wie sie im mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraum angesiedelt sind oder dorthin migrieren. Der mittelbare Darstellungs- und Wahrnehmungsraum repräsentiert die mittelbar zum Handlungsraum gehörende Musik, die von außen oder von intern kommend Bezüge herstellt. Er kann als ein Eigenschaftsraum verstanden werden, der Musik enthält, die ihre natürliche Verankerung in der ersten auditiven Ebene hat oder von extern kommende Musik, die mit den im Handlungsraum vorhandenen Mitteln erzeugt werden könnte. Die musikalische Erscheinung aber würde dort so, wie wir sie hören, nicht logisch oder nicht eindeutig als Teil der simulierten Realität des Handlungsraumes bestehen können. Das Wesen der Beziehung zwischen dem mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraum und interner oder externer Quelle berührt in der Regel einen zentralen Aspekt der erzählten Geschichte, des Genres oder der filmischen Form, in der eine Geschichte erzählt wird.

Die gemeinsame Eigenschaft der im mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraum klingenden Arten von Musik liegt darin, dass sie nach einer poetischen Logik platziert werden oder migrieren. Dass aus Realismus und Nachahmung, aus Authentie- und Anwesenheitseffekt filmische Poesie werden kann, hängt mit dieser Möglichkeit der Klanggestaltung zusammen. Das Durchqueren der auditiven Ebenen, das in der englischsprachigen Literatur mit transgressions bezeichnet wird,323 ermöglicht gegebenenfalls eine dramaturgisch begründete »Allgegenwart« (ubiquità) des Klangs (Miceli 2009, S. 657 ff.).

4.7.4  Modell der auditiven Ebenen

Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass ein Modell der auditiven Ebenen im Film mit dramaturgischer Aussagekraft nicht allein interne, externe und gegebenenfalls dazwischen liegende Ebenen abstrahieren und darstellen können muss, sondern Kombinationen aus audiovisueller Repräsentation und Tendenzen der dramaturgischen Bedeutung differenzieren sollte. Drei prinzipielle Aspekte liegen dafür dem hier vorgestellten Modell zugrunde: 323

Vgl. Heldt (2013), Music and Levels of Narration in Film. Chapter II, »Transitions, transgres­ sions, and transcendence: Displaced diegetic music, supradiegetic music and other steps across the border«.

325

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

– dramaturgische Grundlegung audiovisueller Gestaltung in Form des kategorialen Gerüstes aus erster und zweiter auditiver Ebene – Tendenz der beiden auditiven Ebenen zur Konkretisierung oder Verallgemeinerung – Tendenzen der Musik-Bild-Kopplungen in Richtung Nachahmung oder Kommentar Die erste und zweite auditive Ebene haben jeweils eine Tendenz: Die erste auditive Ebene tendiert zur Konkretisierung, die zweite zur Verallgemeinerung des Inhalts. Die Interaktionen der auditiven Ebenen beruhen auf dieser Trennung. Dabei werden aber die Grenzen für einen bestimmten Bereich oder eine bestimmte Zeit des Ablaufs manchmal aufgehoben bzw. können vernachlässigt werden. Je nach Erzählstil verdichten sich diese Momente zu Phasen oder durchgängiger Gestaltungsart. Das in das Modell integrierte Konzept vom mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraum (kurz: mittelbare Ebene) eignet sich dazu, all jene Gestaltungsmittel verorten zu können, die dramaturgisch wirksame Eigenschaften von Klängen, Sprache oder Musik aufweisen, die über die Eigenschaften von erster oder zweiter auditiver Ebene hinausgehen. Diese Klänge oder Musik entziehen sich entweder einer rein logischen Zuordnung zu einer der Ebenen oder bleiben in ihrem Wesen, ihrer Reichweite und Bedeutung ambivalent oder unbestimmbar. Es handelt sich meist um einflussreiche Gestaltungsmittel, die geeignet sind, das Genre, die narrative Anlage oder poetische Aussage zu stützen, z. B. Gedankenstimmen, Gedankenmusik, Musik im Musical, Sound Design (mit Bedeutungen, die über die Ausstattungsfunktion hinausgehen), Musikanteile, die zu beiden Ebenen gehören könnten, u. a. Die in der Montage begründeten Wirkungsmöglichkeiten der Filmmusik können aufgrund der Vielfalt in solch einem Modell nur durch Tendenzen gekennzeichnet werden. Ich habe mich bei der Differenzierung der beiden zugrunde liegenden, als kategoriales Gerüst fungierenden auditiven Ebenen (gleichsam die »x-Achse« in der folgenden Grafik) für die im Film charakteristischen Kategorien Nachahmung und Kommentar entschieden (»y-Achse« in der folgenden Grafik). Nachahmung kann – je nach Zuordnung zur ersten oder zweiten auditiven Ebene, in diesem Modell differenziert werden in zeigende und berichtende Nachahmung – mit anderer Terminologie gesprochen: mimetisch (direkt und ohne Vermittlung) sowie  –  allerdings im Gegensatz zur Terminologie anderer Modelle – diegetisch (indirekt nachahmend, weil eine Erzählinstanz vermittelt). Der mimetische Impuls »verschiebt« beigeordnete, externe Musik bei beibehaltener Distanz zum Handlungsraum auf der zweiten auditiven Ebene auf einer

326

4.  Filmmusik und Analyse

Skala zwischen Nachahmung und Kommentar weg vom Kommentar in Richtung Nachahmung. Die Qualität solcher Musik liegt darin, die Vorgänge im Handlungsraum musikalisch indirekt nachzuahmen. Neben dem mimetischen Impuls kann die filmmusikalische Gestaltung durch einen kommentierenden Impuls beeinflusst sein, der Musik des Handlungsraumes auch als Mittel sieht, mit weiteren als nur den auslösenden Vorgängen in Beziehung gesetzt zu werden. Der kommentierende Impuls »verschiebt« Musik des Handlungsraumes in einen Bereich, der eine Kommentarfunktion anzeigt, der aber der Musik ihre Glaubwürdigkeit als handlungsinterne Musik belässt. Die Bedeutung von handlungsinterner Musik tendiert dann dazu, eine Eigenschaft zu erhalten, die sonst nur der externen Musik zugeschrieben wird, im hier dargestellten Modell aber logisch im Handlungsraum verbleibt. Das hier entwickelte Modell weicht damit von der verbreiteten Annahme ab, dass Musik, die nicht Teil des imaginativen Handlungsraumes ist, automatisch kommentierende Funktion habe. Das Modell weicht ebenso von der Annahme ab, dass Musik des Handlungsraumes lediglich die fiktive musikalische Welt abbilde bzw. ausstatte und keine kommentierende Funktion habe. Allein auf Grundlage einer musikalischen Analyse lassen sich diese Unterscheidungen nicht treffen. Der Hinweis auf einen zu beachtenden Unterschied der Wertqualitäten von Musik jeweils auf der ersten und auf der zweiten auditiven Ebene und darin weiter differenziert mit jeweils nachahmender oder kommentierender Tendenz liefert einen Ansatzpunk, die dramaturgische Bedeutung und Einbindung von Musik zu hinterfragen und zu bezeichnen. Musik der ersten auditiven Ebene erklingt im Handlungsraum, kann aber auch durch den kommentierenden Impuls (Montage) vom Handlungsraum abgelöst werden. Andererseits kann externe Musik durch einen mimetischen Impuls sehr nah an die Grenze zum Handlungsraum, d. h. an die dort dargestellten Vorgänge herangeführt werden. Die Musik verbleibt auch dann, wenn sie mit den dortigen Vorgängen regelrecht zu verschmelzen scheint, auf der zweiten auditiven Ebene, ergänzt aber die Vorgänge in anderer Weise als Musik, die einen eigenen Gestus bewahrt und daher andere Wirkungen erzielt. Das hier vorgestellte Modell der auditiven Ebenen beinhaltet die genannten Tendenzen und Unterschiede im Wirkungsspektrum, die keine Ausnahmen, sondern die Regel der musikalischen Filmgestaltung sind. Die kategoriale Trennung in erste und zweite auditive Ebene bleibt bis auf die Ambivalenz oder genrebedingte Durchlässigkeit im mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraum stabil. Die Übergänge zwischen den Eigenschaftsräumen innerhalb der ersten bzw. zweiten auditiven Ebene sind dagegen fließend. Die folgende Grafik

327

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse zeigend

Nachahmung

berichtend

imaginativer Handlungsraum

intern erste auditive Ebene konkretisierend

kommentierender Impuls (Montage)

mittelbarer Darstellungs- und Wahrnehmungsraum

zweite auditive Ebene mimetischer Impuls

verallgemeinernd

extern Kommentar Legende imaginativer ­Handlungsraum = intern

Virtueller Raum, der gedanklich auf Grundlage der gegebenen visuellen und auditiven Informationen in der Fantasie entsteht; Ort für die wirklichkeitsnah abgebildeten Vorgänge mit hinreichender Bindung an raumzeitliche Gegebenheiten.

extern

Zeitlich und räumlich vom imaginativen Handlungsraum unabhängige auditive Gestaltung.

mimetischer Impuls

Verschiebt Ton und Musik in Richtung einer nachahmenden Tendenz, die eine unmittelbare Nähe zum Handlungsraum aufbaut.

kommentierender ­Impuls

Verschiebt Ton und Musik in Richtung einer kommentierenden Tendenz. Durch Montage erzielte, räumlich und zeitlich gegenüber der Logik des Handlungsraumes versetzte oder unabhängig gewordene Sprache, Klänge oder Musik mit dadurch kommentierender Wirkung.

Nachahmung

Nachahmen von charakteristischen Handlungen (Nachschöpfen von Gesten, Sprache, Eigenschaften, Vorgängen) in direkter zeigender Form oder indirekter berichtender Form (mit dramaturgischem Wahrscheinlichkeitsanspruch, Genuss am Wiedererkennen in bzw. Lernen durch Nachahmung).

Mittelbarer Dar­ stellungs- und Wahrnehmungsraum

Eigenschaftsraum, in dem verdeckte, ambivalente, akusmatische, nicht definierbare oder nicht logisch zuzuordnende Sprache, Klangobjekte oder Musik klanglich positioniert werden. Zielort migrierender Phänomene, die sich von ihren internen oder externen Quellen gelöst haben und mittelbar eine Eigenschaft der jeweils anderen Ebene besitzen (z. B.: Wer hört was? oder Tendenz zur Konkretisierung vs. Verall­ gemeinerung).

Abb. 22: Modell der auditiven Ebenen und Legende

328

4.  Filmmusik und Analyse

(Abb. 22) zeigt das Modell mit den angesprochenen Tendenzen und den entstehenden Bereichen bzw. Eigenschaftsräumen. Da Musik-Bild-Kopplungen mit der Tendenz zur Nachahmung oder zum Kommentar (in der Grafik getrennt durch die horizontale Achse) auf beiden auditiven Ebenen wirksam werden können, ergeben sich vier Bereiche mit eigenen Wert- und Wirkungsqualitäten. Hinzu kommt ein fünfter Bereich: der mittelbare Darstellungs- und Wahrnehmungsraum mit durchlässigen Grenzen, den von allen Seiten her Klänge und Musik durchdringen können. Dadurch werden partiell bzw. phasenweise die trennenden Grenzen zwischen erster und zweiter auditiver Ebene sowie zwischen Kommentar und Nachahmung dramaturgisch begründet aufgehoben. Die Wirkungen von Musik und Ton in diesem ambivalenten Bereich reichen in ganz unterschiedliche Richtungen, z. B. Subjektivierung und Desorientierung, Gedankenstimme und Gedankenmusik, MusicalModus oder ambivalente Klänge und Musik, die eine Eigenschaft eines anderen Bereiches, dem sie ursprünglich nicht angehören, angenommen haben. Zusammen mit diesem Bereich entstehen fünf Segmente, die Auskunft über die Tendenzen dramaturgischer Verwendung von Musik und Ton im Film geben können. (s. Abb. 23)

zeigend

Nachahmung

berichtend

imaginativer Handlungsraum

4 extern-nachahmend

1 intern

3 mittelbar

erste auditive Ebene (konkretisierend)

kommentierender Impuls (Montage)

zweite auditive Ebene mimetischer Impuls (verallgemeinernd)

2 intern-kommentierend

5 extern

Kommentar

Abb. 23: Fünf dramaturgisch unterscheidbare Bereiche im Modell der audi­ tiven Ebenen

329

Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Die Nummerierung, die auch der Zuordnung der im Folgenden noch zu nennenden Beispiele dienen soll, ist gleichzeitig in der Lage, die »Entfernung« vom imaginativen Handlungsraum anzugeben, dem im narrativen Film als Ort, in dem sich die dargestellten Vorgänge abspielen, eine primäre Rolle zukommt. – Erste auditive Ebene/Bereich  1/intern: Musik, die szenisch ausgeführt oder mit technischen Mitteln im Handlungsraum abgespielt wird (sichtbar im on oder nicht vom Bildausschnitt erfasst aus dem off kommend); musikalische Variante des mimetischen (zeigenden) Modus der Nachahmung. Diese Musik wird als Ausstattung wahrgenommen und bildet die Vorlage oder rückwirkende Erklärung für darauf aufbauende Bedeutungen. – Erste auditive Ebene/Bereich 2/intern-kommentierend: Musik, die zunächst oder rückwirkend eindeutig im Handlungsraum verortet werden kann, aber durch Montage bzw. einen kommentierenden Impuls, der fast immer im Vorgang der Zuordnung von Musik zum visuellen Ablauf enthalten ist, auch versetzt werden kann. Musik in diesem Bereich löst sich von ihren logischen Ursachen im Handlungsraum und erklingt zu anderen Einstellungen oder Handlungssträngen, in denen die Musik dann keine Quelle mehr hat (funktioniert auch umgekehrt). Musik in Bereich 2 hat im Vergleich zum Bereich 1 eine lockerere raumzeitliche Fixierung an die Abläufe im Handlungsraum und wirkt dadurch auch syntaktisch auf den Ablauf ein (erzeugt neue Sinneinheiten oder Bedeutungsebenen). Die Wirkung von Musik in diesem Bereich beeinflusst durch den spürbaren kommentierenden Impuls die Interpretation der Vorgänge stärker als in Bereich 1. – Zweite auditive Ebene/Bereich  5/extern: Externe Musik, die vollständig raumzeitlich vom Handlungsraum gelöst ist. Musik und Ton dieser Ebene sind – semantisch und im Gestus – freie Komponenten der filmischen Montage mit einer deutlichen Tendenz zum Kommentar zu dem im Handlungsraum sich abspielenden Geschehen. – Zweite auditive Ebene/Bereich 4/extern-nachahmend: Filmmusik, die durch ihren erkennbaren mimetischen Impuls von externer Musik (Bereich 5) unterschieden werden kann. Sie hat im Gestus, in der Tonsprache, durch die Instrumentation bzw. den Stil eine spürbare Tendenz zur Nachahmung und dient der von außen beeinflussten Intensivierung der Zeigehandlung. Die affirmative Beziehung kann sich auf äußere, sichtbare oder innere, nicht sichtbare Vorgänge beziehen und in beiden Fällen das Generelle bzw. Universelle der konkreten Vorgänge ausdrücken. Bereich 4 und 5 haben die für die zweite auditive Ebene charakteristische Tendenz zur Verallgemeinerung der Vorgänge. Im Bereich 4 scheinen aber notwendig auseinander hervorgehende Be-

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4.  Filmmusik und Analyse

ziehungen zwischen konkreter Darstellung und Begleitung durch Musik von außerhalb des Handlungsraumes zu bestehen. – Bereich 3/mittelbar: Musik als mentaler Vorgang oder aus subjektiver Hörperspektive; Musik im Musical; Musik, die sich von ihrer internen oder externen dramaturgischen Begründung gelöst hat und eine Eigenschaft der jeweils anderen Ebene erhält (Wer hört was/reagiert worauf?); ambivalente bzw. akusmatische Klänge, die den Ursprung oder das Wesen ihrer Herkunft nicht offenbaren oder davon abstrahiert sind. Oft bilden einzelne Anteile der Filmmusik (menschliches Pfeifen, Summen, Atmen usw., ein in der Handlung existierendes Instrument, Lachen, eine Erinnerung, Sounds unbekannter Objekte324, rhythmische Geräusche u. Ä.) eine Brücke in diesen Bereich bzw. zum Handlungsraum, z. B. wenn sie als Teil des Handlungsraumes verstanden werden, auch wenn nicht klar ist, ob sie wirklich dort so erklingen können bzw. eine logische Zuordnung nicht möglich ist.325 Die Zuordnung zu diesen fünf Bereichen oder das Nachverfolgen von Migrationsbewegungen von Musik und Ton im Prozess der Wahrnehmung hängt einerseits ab von der sensorischen Qualität, die in der Filmmischung bestimmt und fixiert wird. Sie wird aber andererseits auch durch den dramaturgischen Sinn aus dem Kontext erschlossen. Das bedeutet, dass allein am Klang oder in zu eng gefassten Ausschnitten eines Films Zuordnungen zu diesen dramaturgisch zu differenzierenden Bereichen nicht sinnvoll vorgenommen oder beurteilt werden können. Die Tendenz zur Nachahmung (Bereich 1 und 4) bedeutet nicht, dass Realität nachgeahmt wird, auch wenn die fotografische Abbildung und die semantische Qualität einiger Sounds oder von Musik mit lautmalerischen Anteilen dies nahezulegen scheint. Nachahmung ist vielmehr ein schöpferischer Vorgang, der mithilfe von Gesten und dargestellten Handlungen, die für Figuren charakteristisch sind, geeignet ist, sich Realität modellhaft anzueignen bzw. in der Rezeption von Nachahmung Dinge zu erkennen und daraus einen Genuss zu ziehen. Nachahmung zeigt offensichtliche oder verborgene Ähnlichkeiten innerer oder äußerer, physischer oder sozialer Beziehungen auf und strukturiert die Komplexität der realen Welt in überschaubare Einheiten bzw. Dispositionen. Gerade diese Tendenz macht sich der narrative Film zunutze. Die Tendenz zur Nachahmung im 324 325

Barbara Flückiger hat hierfür den Begriff des unidentifizierbaren Klangobjektes (UKO) eingeführt, vgl. Flückiger (2001/2007), Sound Design, S. 126 ff. Im Modell von Winters wäre der Bereich 1 = fictional music, Bereich 4 = intra-diegetic music und Bereich 5 = extra-diegetic music, einige der genannten Aspekte von Bereich 3 (Musik aus Figurenperspektive) = meta-diegetic music; vgl. Winters (2010), »The non-diegetic fallacy: film, music, and narrative space«.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

hier vorgestellten Modell weist auf die genannten Wirkungen durch filmmusikalischen Gestaltung hin und kann sie in Kombination mit Eigenschaften der ersten oder zweiten auditiven Ebene weiter differenzieren. Das Modell gewinnt an Aussagekraft, wenn die akustische Balance zwischen erster und zweiter auditiver Ebene mit in Betracht gezogen wird. So ist es nicht nur narrativ, sondern auch wirkungsästhetisch ein großer Unterschied, ob der imaginative Handlungsraum auditiv repräsentiert und durch externe Musik ergänzt wird oder ob der Handlungsraum »stumm« bleibt, sodass sich das in den meisten Fällen vorausgesetzte Gleichgewicht von Handlungsraum und Beiordnung spürbar verändert hat. Im zweiten Falle wird die Tendenz zur Verallgemeinerung durch klangliche Dominanz der zweiten auditiven Ebene gegenüber der Konkretisierung der internen ersten auditiven Ebene verstärkt. Die Tendenz der Konkretisierung, die ihrem Wesen nach von der visuellen Schicht, dazugehörigem Ton und von handlungsinterner Musik verstärkt wird, wird durch allein externe Musik umgelenkt in Richtung der Tendenz zur Verallgemeinerung des Inhalts. Beispiel: Platoon (USA 1986, R.  Oliver Stone, M.  Samuel Barber, Georges Delerue) Die Art, wie das Adagio von Samuel Barber in Platoon eingesetzt ist, gibt ein eindrückliches Beispiel für die verallgemeinernde Tendenz der zweiten auditiven Ebene, die gesteigert wird, wenn die erste auditive Ebene fast vollständig verstummt. So kann auch eine für die implizite Dramaturgie charakteristische Wirkungsweise erklärt werden. Der für US-Bürger offensichtliche Bezug dieser Musik, die wegen ihrer Verwendung bei der Ankündigung des Todes von Roosevelt, Kennedy u. a. Persönlichkeiten zur nationalen Trauermusik wurde, verallgemeinert den dargestellten Vorgang. Die Soldaten, die ihr Leben im Vietnamkrieg verloren haben, werden durch die Filmmusik diesen in der Öffentlichkeit stehenden Männern gleichgestellt.326 Der Affekt der Trauer, der an der Musik haftet, bezieht sich nicht auf die Empfindungen der Figur und wird dem Illustrativen entzogen, indem die auditive Ebene, die den Handlungsraum abbildet, schweigt.

Die nun folgenden Beispiele für Zuordnungen zu den fünf im Modell unterschiedenen Bereichen (Nummerierung siehe Abb. 23) sollen die Anwendbarkeit des Modells illustrieren und zu weiteren Überlegungen anregen. Die Liste der Beispiele kann nur andeuten, wie das weitgefächerte Wirkungsspektrum der Film-

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Vgl. Heldt (2013), Music and Levels of Narration in Film, S. 64; sowie Strank (2017), »Überlegungen zur Intertextualität von Filmmusik«, S. 73–75.

4.  Filmmusik und Analyse

musik vom Umgang mit den auditiven Ebenen bestimmt wird. Der Fokus ist dabei auf Sachverhalte gerichtet, die vermeintlich zwischen den auditiven Ebenen verortet werden müssen, ambivalent sind oder in diesem Modell mit anderer Terminologie beschrieben werden als sonst in der Fachliteratur üblich. Das Modell kann die dramaturgischen Grundrichtungen des Einflusses der Filmdramaturgie – umgesetzt im Umgang mit den auditiven Ebenen – einordnen und damit vieles, das in anderen Theoriesystemen als vermeintliche Ausnahme behandelt werden muss, als filmästhetisches Spezifikum benennen. Erste auditive Ebene/Bewegung Bereich 1 → 2 → 1: Beispiel: Vals Im Bashir (Waltz with Bashir, ISR/F/D 2008, R.  Ari Folman, M. Max Richter) Der Song This is not a Love Song (von Public Image Ltd, einer britischen PostPunk-Band, erschienen 1983) erklingt hier im Handlungsraum (angeregt durch ein TV-Gerät: Bereich  1), danach als kommentierende Musik (Bereich  2) und schließlich unmissverständlich szenisch (Bereich  1). Die Hauptfigur Ari erhält nach sechs Wochen traumatisierenden Kriegserlebnissen in Beirut Urlaub und kehrt nach Israel zurück. Ari versucht, die sich ihm zeigende scheinbare Normalität im Alltag der Zivilisten einzuordnen. Die Differenz ist jedoch zu groß. Die Musik ist der gesamten Urlaub-Sequenz unterlegt (0:44:20–0:46:20). Sie löst sich von der Szene, in der im Fernsehen der Sänger zu sehen und zu hören ist, und begleitet dann Ari durch die Straßen, bis er schließlich in einer Diskothek anlangt, in der er seine ehemalige Freundin treffen möchte. Hier ist der Song visuell und klanglich eindeutig im Handlungsraum verankert. Obwohl der Song erst ein Jahr nach der Handlungszeit entstanden ist und der Inhalt (sarkastischer Protest gegen den neoliberalen Finanzkapitalismus der frühen 1980er Jahre) keine enge thematische Verbindung zeigt, ließe sich aus seinem subversiven Gestus und einigen visuellen Anspielungen (z. B. die Punkerin) jedoch zumindest eine Nähe zur ablehnenden Haltung junger Menschen in Israel dem Krieg gegenüber ausmachen. Vielleicht entstammt er aber auch nur der persönlichen Erfahrung der Filmemacher. Die Möglichkeit, dass der Song vom TV (Bereich 1) durch die Montage auch den Straßenszenen unterlegt ist (Bereich 2), bewirkt so oder so, dass die Ereignisse in besonderer, erweiternder Weise interpretiert werden, z. B. wie die Figur die scheinbare Normalität und den Widerspruch zwischen Krieg und Heimat erlebt. Im Modell verbleibt die Musik auf der ersten auditiven Ebene. Es zeigt aber die dramaturgische Bedeutung: Durch die Migration in Bereich  2 (d. h. durch die Montage entstehende neue Sinnzusammenhänge, sobald die Musik räumlich von der Quelle in der Szene entfernt erklingt) wird die Musik über die Ausstattungs-

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse funktion, die kennzeichnend für Bereich 1 ist, hinaus erweitert. So werden die Deutungen der gesellschaftlichen und die Figur betreffenden Umstände sowie der Informationen der Erzählerstimme beeinflusst und Subtexte in die Handlung eingeflochten. Erste auditive Ebene/Bereich 2/intern-kommentierend: – Le Cinquième Élément – Gegen die Wand – Alki Alki – Fitzcarraldo In diesen Filmen ist Musik im Handlungsraum zu hören und durch die sie ausführenden Musiker/innen oder Geräte auch zu sehen. Die musikalische Darbietung kann aber von den auslösenden bzw. sichtbaren Vorgängen gelöst werden und eine erweiterte Sinnbeziehung (formal oder inhaltlich) aufbauen. Im Kino kann in diesen Fällen keine akustische Unterscheidung zu externer Musik (Bereich 5) getroffen werden. Im hier verwendeten Modell wäre die Musik im Bereich 2 aufgrund ihres dramaturgischen Wirkungsbereiches durch die Tendenz zum Kommentar, der in den Beispielen ganz unterschiedlicher Art ist, aber auch von interner Musik (Bereich 1) zu trennen. Die Beispiele zeigen einerseits wie die Montage dramaturgische Wirkungen erzeugt, die allein mit Musik im Handlungsraum oder von außerhalb (Bereich 1 oder 5) nicht erfasst werden können. Andererseits ergeben sich Möglichkeiten, auch im Film eine mit dem Theater verwandte Brechung der Illusion vorzunehmen. Beispiel: Le Cinquième Élément (Das Fünfte Element, F 1997, R.  Luc Besson, M. Eric Serra) In Le Cinquième Élément ist der Auftritt der Diva Plavalaguna als Parallelmontage arrangiert, die drei Handlungsstränge verbindet: 1. Der eigentliche Auftritt mit Rezitativ und Arie Il dolce suono aus Donizettis Oper Lucia di Lammermoor (1835) und die anschließende musikalisch-futuristische Fortsetzung, 2. der von Zorg geplante Anschlag und 3. der Kampf Leloos um die Steine. Hier zeigt sich die in Filmen vorhandene Möglichkeit, durch die Montage eine im Handlungsraum motivierte Musik auch für die inhaltliche und formale Einbindung in den Kontext einer ganzen Sequenz herzustellen. Die Musik wird nicht nur als Ausstattung oder Inzidenzmusik verstanden, sondern ist ein dramaturgisch verknüpfender Teil der Montage. In dieser Sequenz des postmodernen SciencefictionMärchens (1:24:00–1:28:30) treffen »Das Gute« und »Das Böse« durch ihre jeweiligen Vertreter erstmals direkt aufeinander. Arrangiert, choreografiert und interpretiert wird dieser wichtige Moment auf Grundlage der Musik als Darbie-

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4.  Filmmusik und Analyse tung im Handlungsraum. Durch die Montage bekommt die Musik ein erweitertes Wirkungsspektrum, das deutlich über die Ausstattungsfunktion (Auftritt der Diva) hinausgeht. Verantwortlich ist der kommentierende Impuls, der die handlungsbedingte Musik überträgt auf Leloos Kampf parallel an einem anderen Ort des Raumschiffes und der nun wie auf diese Musik choreografiert erscheint. Die geheimnisvolle Verbindung zwischen der Diva und Leloo, die am Beginn der Sequenz schon angedeutet wurde, wird hier verstärkt und durch Musik erzählt, die vordergründig lediglich Teil der Aufführung ist. Wir verstehen nach und nach, wie Leloo zu ihren besonderen Fähigkeiten kommt, aber auch wo ihre Grenzen liegen. Viel später zeigt sich demnach, dass sie nur gemeinsam mit dem Taxifahrer Korben Dallas das Böse bekämpfen kann. Beispiel: Gegen die Wand (D/TK/I 2004, R. Fatih Akin) In Gegen die Wand ist die Musik, die in einem gewissermaßen ungenutzten Teil des Handlungsraumes in einer dafür gestellten Situation wie in einer (Theateroder Konzert-)Aufführung gespielt wird, ein Mittel, um eine Unterbrechung und damit Gliederung des Films vorzunehmen  –  von Musikern, die nicht zur Handlung gehören. Mit narrativen Ebenen und dem Diegesebegriff als Analysewerkzeug entsteht hier das »diegesetheoretische Paradoxon«,327 das im Exkurs 2 (»diegetisch/non-diegetisch und mimesis/diegesis«) schon thematisiert wurde. Wenn im Film das Aufführen von Musik ähnlich wie im Theater inszeniert wird, zeigen sich die historischen Quellen des Mediums. Ein Modell der auditiven Ebenen muss daher in der Lage sein, diese Art von Musik zu erfassen. Sie ist im Bereich  2 der ersten auditiven Ebene angesiedelt, da sie konkret gezeigt wird. Jedoch ist die Trennung zur dargestellten Handlung deutlich, wodurch die Musik eine kommentierende Wirkung bekommt. Beispiel: Alki Alki (D 2015, R. Axel Ranisch, M. Die Tentakel von Delphi) In Alki Alki tritt Robert Gwisdek als Sänger mit Gitarre mehrfach inmitten der Handlung auf, unterbricht sie – wie im epischen Theater – und bringt mit den Songtexten eine inhaltliche Konkretisierung hinein. Der Bereich 2 des Modells kennzeichnet auch diese dedramatisierende Musik, weil sie auf der ersten auditiven Ebene stattfindet, jedoch den Handlungsraum ergänzt um die Wirkung eines sonst von außen kommenden Elementes.

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Vgl. Merlin, der das Phänomen anhand dieses Films diskutiert: Merlin (2012), »Diegetic Sound: Zur Konstituierung figureninterner und -externer Realitäten im Spielfilm«, S. 125.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse Beispiel: Fitzcarraldo (BRD/SP/I 1982, R. Werner Herzog) In Fitzcarraldo versucht die Hauptfigur, im Amazonasgebiet einen Dampfer über einen Berg ziehen zu lassen, damit ein Wasserfall umgangen werden kann. Dies ist Teil eines Planes, um inmitten des Urwaldes ein Opernhaus aufzubauen. Ein Grammofon und Aufnahmen von Enrico Caruso sind bei dem Projekt ständiger Begleiter. Fitzcarraldo stellt die Musik z. B. dann an, wenn die Mission moralisch zu scheitern droht oder um die Indianer zu beschwichtigen. Als endlich das Schiff mithilfe der eigenen Dampfmaschine, einer aufwendigen Windenkonstruktion und zahllosen Helfern aus den Reihen der Indios über den Berg gezogen werden kann, folgt eine Totale, die den zwar realistisch inszenierten, aber dennoch surreal wirkenden Vorgang von Weitem zeigt (ab 1:59:50). Nun schaltet Fitzcarraldo wieder einmal das auf dem Schiff stehende Grammofon ein. Es klingt im Widerspruch zum Bild aber so nah, als wären wir direkt an Deck, jedoch ohne die anderen dortigen Geräusche zu hören, sodass die Musik als extern interpretierbar wird. Die auditive Schicht, die eben noch sehr realistisch das Knarren der Balken und Taue abgebildet hat, löst sich vom Bild und verstärkt durch die Platzierung der Grammofonmusik im intern-kommentierenden Bereich den surrealen Anteil der Erzählform. Die Musik vom Grammofon hebt dadurch den Vorgang vom Deskriptiven ins Poetische und lässt uns einen langen Moment lang mit Caruso und der Deutung der Vorgänge allein. Die Intensität erwächst gerade daraus, dass die Musik zwar wie auf der zweiten auditiven Ebene wirkt, aber eng und logisch mit dem Handlungsraum und der Hauptfigur verknüpft bleibt. Mittelbarer Darstellungs- und Wahrnehmungsraum/Bereich 3: a) Musik als mentaler Vorgang: – High Fidelity – Amadeus – Jakob der Lügner Beispiel: High Fidelity (GB/USA 2000, R. Stephen Frears, M. Howard Shore) In High Fidelity tritt Bruce Springsteen auf ein Stichwort als er selbst auf. Die Hauptfigur Rob sucht nach einem Rat und will mit ihren Ex-Freundinnen reden »wie in einem Bruce-Springsteen-Song« (0:41:40). Bruce Springsteen erscheint auf das Stichwort im Zimmer und flüstert ihm ein, was zu tun sei. Der Auftritt des Musikers, Stimme und Gitarrenspiel finden im Kopf der Figur statt, d. h. klingen mental. Wie in der Analyse in Kapitel 4.4.6 (»Episierende Fabel«) schon gezeigt wurde, wird hier die Filmform durch das aus dem Theater bekannte, aber im Film eigentlich überflüssige Beiseite-Sprechen ergänzt. Es wird aber dadurch

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4.  Filmmusik und Analyse auch möglich, eine weitere Abstufung des inneren Monologs bzw. der Gedankenstimme zu erzeugen und durch diese musikalische Form der ironischen Brechung die Sentimentalität der Geschichte aufzufangen. Beispiel: Amadeus (USA/F/CZ 1984, R.  Miloš Forman, M.  Wolfgang Amadé Mozart) In Amadeus ist der Topos der Komponierszene idealtypisch realisiert. Ohne dass andere Figuren hören können, was im Kopf der Hauptfigur klingt, werden wir über diese in Bereich 3 anzusiedelnde, von der Figur verantwortete Musik informiert. Wir erleben in filmischer Umsetzung, wie es sich anfühlen könnte, diese Musik zu kreieren. Schon im Dialog wird hierauf hingewiesen, wenn Mozart dem drängenden Kaiser zu verstehen gibt, es sei alles schon »im Kopf« fertig und müsse nur noch aufgeschrieben werden. Gesteigert wird dieses Kunstmittel in Amadeus dadurch, dass Salieri am Ende des Films die Musik, die Mozart ihm Schicht für Schicht und Abschnitt für Abschnitt diktiert, ebenfalls innerlich hört. Die Fabelidee des Stückes von Peter Shaffer, der auch das Drehbuch schrieb, wird durch diese mittelbare Musik exemplifiziert: Der größte Verehrer ist der größte Feind Mozarts. Er ist ihm nahe wie kein anderer, leidet aber bis zum Wahnsinn am Gefühl der Minderwertigkeit. Aus dieser Anlage heraus entfaltet sich die Handlung im Film und findet im Umgang mit den auditiven Ebenen eine mögliche Konkretisierung. Beispiel: Jakob der Lügner (DDR 1974, R.  Frank Beyer, M.  Iosif Ivanovich, Joachim Werzlau) In Jakob der Lügner möchte das Mädchen Lina endlich das Radio hören, das Jakob angeblich im Getto versteckt. Jakob kann sich dem Bitten des Kindes nicht verweigern und improvisiert eine Radioübertragung: Interview, Märchenerzähler und Musik (ab 1:00:00). Die Musik klingt nur in seinem Kopf, die Mittel, mit denen er sie erzeugt, weichen offensichtlich davon ab. Lina hält den Schwindel aufrecht, auch als sie entdeckt, dass es kein Radio gibt, und Jakob in Gedanken versunken (von vergangenen, glücklichen Tagen) träumt. Die mittelbare Musik in Bereich 3 ist hier durch entscheidende Merkmale charakterisiert, die für die Dramaturgie des Films wichtig sind: Nur die erzeugende Figur hört die Musik, wie wir sie hören. Die Wahrheit, dass Jakob gar kein Radio besitzt, erscheint für Lina wie ein Spiel. Das Mädchen weiß nun, dass es kein Radio gibt, erhält das »Spiel« aber aufrecht, während die Erwachsenen Jakob nicht glauben und er sie deshalb weiter mit Lügengeschichten zum Vormarsch der Roten Armee versorgen muss. Während daraufhin die anderen voller Hoffnung von der Zukunft

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse träumen, kann sich Jakob nur in die Vergangenheit flüchten. So musiziert er einen Walzer,328 zu dem er früher mit seiner Geliebten Josefa tanzte. b) Musical-Modus: – Yentl – The Great Dictator Beispiel: Yentl (GB/USA 1983, R. Barbra Streisand, M. Michel Legrand) In Yentl zeigt sich eine mögliche, die Einfühlung erhaltende Form, wie im Film der Musical-Modus zur Anwendung kommt. Filmmusik im Musical-Modus befindet sich in Bereich  3, da die kategoriale Trennung der auditiven Ebenen genrebedingt aufgehoben wird. So dringt Musik der zweiten auditiven Ebene in einer Weise, wie es laut der Rezeptionserfahrungen aus Oper, Operette und Bühnenmusical bekannt ist, in den imaginativen Handlungsraum des Films vor. In Yentl dient – wie in Kapitel 4.7.3 (»Mittelbarer auditiver Darstellungs- und Wahrnehmungsraum [mittelbare Ebene]«) schon dargelegt wurde – dieses Mittel dazu, die in der Fabel begründete Sonderrolle der Gedankenstimme zu installieren und zu intensivieren sowie durch Text (Dialog, Gedankenstimme) und Musik (Musical-Songs und Inzidenzmusik) virtuos verknüpfte Montagesequenzen zu arrangierten. Beispiel: The Great Dictator (Der grosse Diktator, USA 1940, R.  Charles Chaplin, M. Charles Chaplin, Meredith Willson) In The Great Dictator wird der Musical-Modus nicht als Intensivierung einer inneren Stimme, sondern entgegen der Einfühlung als ironischer Kommentar eingesetzt. Wie in Kapitel 4.6.9 (»Affirmation und Kontrapunkt als dramaturgisch vermittelte Beziehungen«) schon mit diesem Beispiel gezeigt wurde, führt hier die Technik, die uns aus Musicals bekannt ist, zu einem Verfremdungseffekt, da die Ballett-Bewegungen in Widerspruch stehen zum erhabenen, mystisch-versponnenen Gestus der Musik Wagners. c) Aufhebung des kategorialen Gerüstes: – The Mission – Pride & Prejudice – Interstellar

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Es erklingt der Donauwellenwalzer von Iosif Ivanovich (1845–1902) in einem Arrangement von Werzlau.

4.  Filmmusik und Analyse Beispiel: The Mission (Mission, GB/F 1986, R. Roland Joffé, M. Ennio Morricone) In The Mission sind mehrere Instrumente und der Chorgesang in der Filmmusik der zweiten auditiven Ebene zu hören, die ursprünglich aber im Handlungsraum auf der ersten auditiven Ebene anzusiedeln sind. Wie in der Analyse zum Film in Kapitel 4.7.3 (»Mittelbarer auditiver Darstellungs- und Wahrnehmungsraum [mittelbare Ebene]«) schon gezeigt wurde, wird musikalisch zum Ausdruck gebracht, wie die utopische Koexistenz der Kulturen aussehen könnte. Die Oboe von Pater Gabriel, der religiöse Gesang der missionierten Indios sowie der Klang von Flöten und Percussion sind einerseits fest in der dargestellten Handlung verankert, erklingen aber auch als Musik auf der zweiten auditiven Ebene. Die Musik (z. B. bei der Besichtigung der Mission 1:11:40–1:14:10 oder zum Abspann ab 1:54:40) klingt dann so, als wäre sie Teil der dargestellten Handlung, wird dort aber offensichtlich nicht produziert. Für diese Fälle, in denen die Filmmusik die kategoriale Trennung aufhebt, d. h. wenn die Filmmusik durch musikalische Bezüge (Instrumentation, Stimmen Motive bzw. Themen) die Abgrenzung von Handlungsraum und Beiordnung auflöst, ist der Bereich 3 ein notwendigerweise dramaturgisch zu differenzierender Raum. Die Wirkungsabsicht der Filmmusik kann hier in der Weise konkretisiert werden, dass vor dem Hintergrund der klanglichen Vereinigung der auditiven Ebenen das dargestellte Scheitern der Koexistenz der Kulturen in der Geschichte besonders intensiv wirken lässt. Beispiel: Pride & Prejudice (Stolz & Vorurteil, F/GB/USA 2005, R. Joe Wright, M. Dario Marianelli) In Pride & Prejudice markiert die Filmmusik einen wichtigen Punkt im Verlauf der Handlung:329 Während Elisabeth und Mr. Darcy auf der Ebene des Dialogs noch über ihre unüberwindbaren gegensätzlichen Meinungen streiten, vermittelt die Ebene der Filmmusik, dass sich beide schon ineinander verliebt haben (0:37:25–0:39:50). Damit ist eine der Grundlagen für die folgenden Verwicklungen gelegt. Als Tanzmusik zum Ball hören wir eine Zwischenaktmusik zu Abdilazar von Henry Purcell (bzw. das Rondeau aus der Suite Abdilazar für Streicher). Gespielt wird nur die Melodie solistisch von dem auch im Bild sichtbar agierenden Geiger des Streicherensembles im Tanzsaal. In drei Anläufen mischen sich während des Tanzes Begleitstimmen von Streichinstrumenten aus der externen Filmmusik dazu. Die verschiedenen musikalischen Ebenen verbinden sich zu einem Musikstück. Die Grenze zwischen den beiden auditiven Ebenen wird hier

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Für den Hinweis auf dieses Beispiel danke ich Maria Kwaschik sehr.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse klanglich und durch die enge musikalische Verbindung aufgelöst. Dieses für Bereich  3 geltende Merkmal kann die Magie des Moments ausdrücken. Auch visuell wird die besondere Situation nun untermauert, indem beide plötzlich allein im Saal tanzen. Erst am Ende des Tanzes kehrt die »Realität« in Form der übrigen Tanzpaare und des Musikers zurück. Beispiel: Interstellar (USA/GB 2014, R. Christopher Nolan, M. Hans Zimmer) In Interstellar wird die kurzzeitige Aufhebung der Trennung der beiden auditiven Ebenen dafür genutzt, um die emotionale Erschütterung einer Figur zu verdeutlichen.330 Wie bei einem Kurzschluss, der entgegengesetzte Pole zusammenbringt und dabei zu einer Entladung führt, wird die Musik der zweiten auditiven Ebene für einen kurzen Moment mit der ersten auditiven Ebene gleichgesetzt. Der Vorgang kann als Entsprechung für den emotionalen Schlag verstanden werden, den die Hauptfigur in diesem Moment erlebt. Während sich Cooper die Videobotschaften seines Sohnes anschaut  –  die Berichte aus einer Zeitspanne von 23 Jahren, die für ihn auf dem fremden Planeten nur wenige Minuten betrug  –,  begleitet Musik der zweiten auditiven Ebene die Szene (ca.  1:15:30–1:18:10). Als sein Sohn plötzlich das Video beendet (aus Enttäuschung, dass Cooper nicht zurückgekehrt ist), endet auch die Filmmusik ohne Rücksicht auf ihre eigene musikalische Gestalt, so als sei sie physisch an die Videobotschaft gekoppelt gewesen und nicht ein dem Vorgang beigeordnetes Mittel. Hier beruht das Ergreifende der Filmmusik nicht allein auf ihrer musikalischen Ausarbeitung, die für sich genommen einen gelungenen Fabelzusammenhang zum Ausdruck bringt, sondern in der geschickten Handhabung der auditiven Ebenen und der an sie gebundenen Verabredungen. Teil dieser Verabredungen ist, dass Musik der zweiten auditiven Ebene mit einer Szene synchronisiert ist, aber nicht logisch mit den im Handlungsraum abgebildeten Geräten zusammenhängt. Daher muss hier auch zum Bereich  2 unterschieden werden, der durch Montagetechniken Musik aus dem Handlungsraum emanzipiert wirken lässt. Der Vorgang findet für einen Moment im mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraum statt, der zugunsten der poetischen Äußerung die Grenze zwischen erster und zweiter auditiver Ebene aufhebt und dadurch die poetische Bedeutung des Vorgangs für das Publikum direkt erlebbar macht.

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Für den Hinweis auf dieses Beispiel danke ich Markus Zierhofer sehr.

4.  Filmmusik und Analyse Zweite auditive Ebene/Bereich 4: Beispiel: High Noon (Zwölf Uhr Mittags, USA 1952, R.  Fred Zinnemann, M. Dmitri Tjomkin) In diesem Klassiker ist mit der filmmusikalischen Technik des underscoring über weite Teile des Films eine bild- und affektorientierte Affirmation realisiert worden. Damit wird einer Konvention des klassischen Hollywood-Kinos der 1930er und 1940er Jahre entsprochen. Doch zugleich ist die Genese und Verarbeitung des musikalischen Materials raffiniert, wie S­ chmidt bereits darlegt (­Schmidt 1982, S. 77 f.), und zudem damals ein Novum. Eigens komponierte Songs sollten dem Kinofilm gegenüber dem schon 1952 in den USA vorhandenen Millionenpublikum beim Fernsehen eine neue Qualität geben, das Publikum binden und ergänzende Vermarktungsbereiche erschließen. Der zum Film gedichtete Text des auch von Tjomkin komponierten Songs Do not forsake me, oh my Darlin’ erzählt die Grundzüge der im Film dargestellten Geschichte und Konflikte mit Nennung der Protagonisten innerhalb weniger Minuten zu den Vorspanntiteln. Das musikalische Material der Filmmusik für Sheriff Kane ist dem A-Teil des Liedes entnommen. Die auf Rache bedachten Ganoven werden auf Grundlage des Materials vom B-Teil vertont (­Schmidt 1982, S. 78). So entsteht in der Vielfalt der szenischdramatischen Untermalung eine Einheit der musikalischen Erfindungen. Die Filmmusik verschmilzt regelrecht unter der Vorgabe der Affirmation mit den Vorgängen der Handlung. Die ersten 16 Minuten der auf Illustration ausgerichteten Musikdramaturgie sind bestimmt von bild- und affektorientierter Affirmation mit folgenden Elementen: Bewegung (Reiten, Laufen, u. a.), Geräusche (Ticken der Uhr), Erschrecken über die Ganoven und Aufbrausen der Pferde, der Klang von Instrumenten, die in der Szene vermutet werden können oder genutzt werden, um Protagonisten zu charakterisieren (Harmonium bei der Heirat, spanische Gitarre für die Mexikanerin), und erneut der gesungene und mit Gitarre begleitete Song. Es kann nicht – und braucht auch nicht – innerhalb dieser musikdramaturgischen Orientierung entschieden werden, ob einige der genannten Musikanteile nicht doch im Handlungsraum erklingen (dann als passiver Darstellungsgegenstand). Die enge Verbindung zum Handlungsraum, die deutliche, auf Nachahmung der im Handlungsraum gezeigten Vorgänge ausgerichtete Musik ist ein Charakteristikum eines innerhalb der zweiten auditiven Ebene abzugrenzenden Eigenschaftsraumes dieser Ebene (Bereich 4). Die Musik mit den genannten charakteristischen Merkmalen (und gegebenenfalls Songtexte) verallgemeinern entsprechend der Eigenschaften der zweiten auditiven Ebene das Geschehen, gehen aber vollständig in der dargestellten Aktion auf. Im gerechten Kampf gegen die Ganoven wird Sheriff Kane von der Gemeinschaft alleingelassen, sodass

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse ihm schließlich nur seine Frau zur Seite steht, die dafür aber von ihrer gewaltfreien Grundhaltung abrücken muss. Im Einklang mit der gewählten Dramaturgie für die Geschichte, die einen gesellschaftlichen und einen privaten Konflikt kombiniert, kommt die kommentierende Tendenz der zweiten auditiven Ebene kaum zur Wirkung, sondern zeigt ein hohes Maß an Affirmation, die nah am Handlungsraum ist, aber im musikalisch »berichtenden« Modus der Nachahmung verbleibt.

4.8  Zusammenfassung Kapitel 4

In diesem Kapitel wurden die Grundlagen der musikdramaturgischen Analyse von Filmmusik konkretisiert. Ausgangspunkt ist eine Kritik bestehender Systeme und Kataloge von Funktionen der Filmmusik. Aus mehreren Gründen ist die Aussagekraft solcher Auflistungen geringer, als ihre Popularität suggeriert. Das Zusammenwirken von Musik im Film mit dem, was von der Geschichte, ihrer Bauform, ihren Figuren und Konflikten verlangt wird, die Frage, wie psychologische und emotive Prozesse in der Filmwahrnehmung ablaufen und was die Deutung der Vorgänge beeinflusst, kann allenfalls aufgelistet, vielleicht sogar nur behauptet werden. Eine Erklärung, die meist im Zusammenwirken mehrerer Faktoren liegt, geben diese Listen nicht. Kataloge und Systeme der Funktionen von Filmmusik suggerieren, dass Musik im Film gerichtet statt in viele Richtungen wirkt. Sie können die mehrfache Wirksamkeit der Musik meist nicht näher beleuchten, obwohl darin eine der entscheidenden Qualitäten von Musik im Film liegt. Mit den Katalogen zeigt sich ein methodisches Problem: Sie sind entweder oberflächlich, damit sie systematisch und übersichtlich bleiben, oder neigen zu ausdifferenzierten und doch unvollständig oder unsystematisch gestalteten Kategorien. Viele sogenannte Funktionen der Filmmusik sind ein essenzieller Teil der Filmästhetik und einer spezifischen Filmsprache. Daher können viele Aufgaben und Wirkungsweisen von Musik im Film von einer Systematik der Musik-BildKopplungen erklärt werden, die umfassend bisher nur für den Filmton und das Sound Design entwickelt wurde. Das Entstehen dieser Wirkungsweisen kann somit in Zusammenhang mit den vielfältigen Gestaltungsweisen der Montage gebracht werden. Eine solche Systematik könnte auch die daraus sich ergebenden Auswirkungen auf die Filmsyntax reflektieren, d. h. wenn Gliederung und Sinnbeziehungen auditiv bestimmt werden. Ein weiterer Lösungsansatz, um ohne Funktionskataloge der Wirkungsweise von Filmmusik näherzukommen, ist die Untersuchung des Zusammenhangs von Filmmusik mit Fabel und Sujet. Im Sujetbezug und Fabelzusammenhang sowie den Wechselbeziehungen zeigen sich

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4.  Filmmusik und Analyse

weitergehende dramaturgische Bedeutungen und dass Filmmusik netzartig statt zielgerichtet wirkt. Die musikalische Analyse kann eine dramaturgische Analyse untermauern, z. B. durch die musikalische Konkretisierung eines Fabelzusammenhangs, des Sujetbezugs oder um Leitmotive und musikalische Topoi offenzulegen. Im Falle eines zitierten Musikstücks zeigt sich jedoch auch die Begrenzung der musikalischen Analyse im Film, denn die Wirkung eines Zitats beruht auf der Erkennung eines früheren bzw. außerfilmischen Zusammenhangs des Stücks und weniger auf seiner konkreten musikalischen Gestaltung. Mit der These vom Fabelzusammenhang der Filmmusik wird ein zentraler Punkt der Musikdramaturgie im Film thematisiert. Das Grundlegende der Fabel (story) ist als Disposition für die Wirkung der Geschichte und die Einbindung von Musik in das filmische Erzählen essenziell und stellt eine Voraussetzung für viele Wirkungen und Teilaspekte der Gestaltung und Wirkung von Filmmusik dar. Die Frage nach dem Fabeltypus, der einer Geschichte zugrunde liegt, bzw. dem Fabelzusammenhang der Filmmusik lenkt die Analyse von Filmmusik in einen sonst kaum systematisch zu untersuchenden Bereich. Mit der Untersuchung des Fabelzusammenhangs als methodisches Hilfsmittel wird es möglich, an unterschiedlichen Stellen eines Films  –  auch da, wo sich die konkrete Handlung in kleinste Details auffächert – die Teilmotive einer Handlung mit der grundlegenden Konstellationen der Geschichte (Figur/Konflikt, Anordnung der Handlungen, Blickwinkel) in Beziehung zu setzen. Ihre Bedeutung bekommt die Fabel dadurch, dass sie im Verlauf der Rezeption einzelne Elemente der Geschichte zum generellen Thema in Beziehung setzt, den bestimmenden Konflikt und den besonderen Blickwinkel darauf festlegt. Der Fabelzusammenhang der Filmmusik entsteht, wenn Musik diese Zusammenhänge berührt. Mit dem Fabelzusammenhang der Filmmusik kann der Anteil bestimmt werden, den Filmmusik daran hat, den inneren Zusammenhang der Handlungsteile und die Disposition von Figuren und Konflikten wirkungsvoll und plausibel im Erlebnis der Filmwahrnehmung hervortreten zu lassen. Er bezeichnet damit die musikalischen Strukturen, die eine gewählte Form stützen, in der sich ein Thema oder ein erzählerischer Stoff nach den jeweils gewählten Gesetzen der Entfaltung konkretisiert. Eigenart und Entfaltungsformen einer Filmfabel sind mediumspezifisch, weil sie durch Zusammenwirken visueller und auditiver Mittel mitbestimmt werden und im Falle offener Fabeltypen auch inhomogene Anteile einschließen. Der Fabelzusammenhang der Filmmusik ergibt sich aus dem in der Musik liegenden Potenzial, die in einem Film nötige innere Verbundenheit der Vorgänge in musikalischen Strukturen (d. h. nonverbal und nicht sichtbar) auszudrücken. Die für Filmfabeln typischen Überlagerungen bzw.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Kombinationen von Struktur- oder Fabeltypen können insbesondere durch Musik plausibel werden. Der Sujetbezug der Filmmusik zeigt sich einerseits direkt durch in der Handlung bzw. als Ausstattung einer Szene erklingende Musik. Andererseits ist auch Musik der zweiten auditiven Ebene für den Sujetbezug verantwortlich. Durch eine gestische Verwandtschaft der von außerhalb des Handlungsraums kommenden Filmmusik mit den konkreten Vorgängen im Handlungsraum, z. B. mit den Aktionen und Affekten der Figuren, entsteht eine Vorstellung zu den für die konkrete Entfaltung der Geschichte geltenden Umständen. Das Sujet und Geflecht der konkreten Handlungen (plot) visualisieren und konkretisieren das Thema einer Geschichte und setzen den Handlungen und Interessen der Figuren konkrete Grenzen, an denen sich ein Konflikt entzünden kann. Hierin liegt die elementare Bedeutung eines Sujets und des Sujetbezugs der Filmmusik, sowohl wenn es sich um Musik handelt, die scheinbar nur zur Ausstattung einer Szene dient, als auch bei zugeordneter Musik, die sich aber aufgrund affirmativer Beziehungen den raumzeitlichen Setzungen des Handlungsraumes anpasst und seine Eigenschaften kennzeichnet. Durch den Sujetbezug der Filmmusik kann eine Orientierung im Handlungsverlauf, für Handlungsorte sowie für die Logik von Szenen und Sequenzen vermittelt werden. Der Sujetbezug der Filmmusik erklärt auch, warum Musik des Handlungsraumes nicht unbedingt naturalistisch erklingen muss. Das Wirkungsspektrum der Filmmusik, das durch ihren Sujetbezug gegeben ist, kann als narrative Funktion von Filmmusik bezeichnet und weiter differenziert werden. Der Sujetbezug der Filmmusik ergänzt auf der ersten oder zweiten auditiven Ebene von musikalischer Seite her die Wirkungsbereiche des Sound Designs. Denn Filmmusik erzählt auf ihre Art von den konkreten Merkmalen und Eigenheiten, die zur Charakterisierung von Orten und Figuren wichtig sind und markiert praktische Grenzlinien sowie Hierarchien, ohne die vor allem eine auf Konflikten beruhende Handlung sich nicht entwickeln könnte. Wenn diese Wirkungsbereiche mit Sujetbezug bezeichnet werden, wird deutlich, dass ein bedeutender Wirkungsbereich der Filmmusik im dialektischen Zusammenspiel von Fabel und Sujet liegt. Insbesondere Schlüsselmomente und Wendepunkte in der Handlung zeigen, wie sich die konkrete Handlung und das Prinzip der Handlungsorganisation treffen und gegenseitig stützen. Filmmusik vereinigt nicht selten Anteile, die als Sujetbezug bezeichnet werden können mit Anteilen, welche die grundlegende Ausrichtung der Fabel betreffen, in ein und demselben Musikstück. Die dramaturgische Bedeutung von Musik-Bild-Kopplungen reicht von grundlegender Geltung wie Abbild und Intensivierung bis zu übergeordneten

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4.  Filmmusik und Analyse

dramaturgischen Strategien. Musik-Bild-Kopplungen können auf einer basalen Ebene der audiovisuellen Filmsprache angesiedelt sein (Klangperspektive, Extension, Synchrese und valeur ajoutée) oder in der Differenzierung von affirmativen und kontrapunktischen Beziehungen sowie als Leitmotive zur Geltung kommen. Affirmative Beziehungen der Filmmusik resultieren aus einer bestätigenden, unmittelbaren Verbindung zu den visuell abgebildeten Vorgängen. Musik hebt dabei etwas hervor, das in der Darstellung bereits vorhanden ist, aber aus dramaturgischen Gründen intensiviert werden soll. Affirmative Beziehungen zwischen Musik und Darstellung können in affektorientiert, bildorientiert und dialogorientiert unterschieden werden. Kontrapunktische Beziehungen ergeben sich aus der Ergänzung zum Dargestellten und können in dramaturgischen und audiovisuellen Kontrapunkt unterschieden werden. Während der audiovisuelle Kontrapunkt auf kontrastierende Wirkungen aus ist und seiner Wirksamkeit die Idee zugrunde liegt, dass aus der Kollision heraus ein neuer Sinn entsteht, kann mit dem dramaturgischen Kontrapunkt ein sonst nicht offensichtlicher Sinn hervorgehoben werden. Kontrapunktisch eingesetzte Musik ist dann nicht unbedingt ein Mittel der Kollision, sondern verknüpft sich mit Ideen oder Vorgängen, die nicht im momentanen Oberflächengeschehen deutlich werden. Das filmmusikalische Leitmotiv kann ebenfalls zu den Musik-Bild-Kopplungen gerechnet werden, weil seine Wirksamkeit aus dem Sinn erwächst, der durch eine Zuordnung von Musik zu Teilaspekten der Handlung entsteht. Leitmotive lassen raumzeitlich auseinanderliegende Aspekte der Handlung erinnern oder erahnen und tragen auf einer abstrakten Ebene zur Einheit der Handlungen und zur Strukturierung bei. Auf einer konkreten Ebene wird die durch Leitmotive hergestellte Präsenz momentan abwesender oder hintergründiger Aspekte der Geschichte möglich. Die Systematisierung der Musik-Bild-Kopplungen und insbesondere die Differenzierung von bild-, affekt- und dialogorientierter Affirmation sowie audiovisuellem und dramaturgischem Kontrapunkt ermöglichen es nicht nur, Filmmusik zu analysieren. Es können auch film- oder musikästhetische Präferenzen der Filmschaffenden benannt werden, die konkrete Entscheidungen zum Einsatz von Filmmusik bewusst oder unreflektiert lenken. Für die dramaturgische Analyse von Filmmusik ist ein Instrumentarium zur Analyse der Tonspur unerlässlich. Konzepte hierzu wurden und werden in der Filmmusiktheorie und Medienwissenschaft vielfach diskutiert. Für den Fokus auf die Dramaturgie der Filmmusik lagen dennoch keine überzeugenden Modelle vor. Aus Gründen, die in Kapitel 1 ausführlich diskutiert wurden, ist in diesem Kapitel ein Modell der auditiven Gestaltungs- und Wahrnehmungsebenen

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

entwickelt worden, das den derzeit in der Filmmusiktheorie gebräuchlichen Diegesebegriff fallen lässt. Die Grundlage des Modells, das auch mit Blick auf die spezifische Ästhetik des Films hergeleitet wurde, bildet die kategoriale Trennung in zwei auditive Ebenen und ihre entweder konkretisierende oder verallgemeinernde Tendenz als eine Dimension in Kombination mit der Tendenz zur Nachahmung bzw. zum Kommentar als zweiter Dimension. Die Merkmale der ersten auditiven Ebene sind: – konkretisierende Tendenz (Präsentation des expliziten Darstellungsgegenstandes) – Erzeugung oder Rezeption der klingenden Musik durch die Figuren – Wirkung der Musik beruht auf dem ursächlichen Zusammenhang mit dem Handlungsraum oder den Figuren. Die Merkmale der zweiten auditiven Ebene sind: – verallgemeinernde Tendenz (Hinweise auf Zusammenhänge, Gültigkeitsbereiche des Dargestellten oder Deutungsmöglichkeiten oder einen impliziten Darstellungsgegenstand) – nur das Publikum hört Musik und Ton der zweiten auditiven Ebene – Wirkung der Musik beruht auf der Verantwortung einer externen Erzählinstanz (psychologische Absicherung, Spielcharakter der Kunst). Die Bezeichnung »kategoriale Trennung« ist deshalb notwendig, weil sie verdeutlicht, dass viele Techniken und Wirkungen der Filmmusik nur vor diesem Hintergrund funktionieren, die Trennung aber genrebedingt oder aus dramaturgischen Gründen phasenweise aufgehoben werden kann. Es gehört zu den in einem dialektischen Spannungsverhältnis stehenden Eigenschaften des Mediums, dass filmische Poesie auf einer Trennung der Ebenen beruht, aber im inspirierenden Zusammenspiel der beiden Ebenen die eindeutige Zuordnung zu einer der Ebenen überflüssig wird. Durch die hinzutretende Dimension Nachahmung vs. Kommentar kann auf beiden Ebenen ein erweitertes Wirkungsspektrum für Musik und Ton unter Einbeziehung der charakteristischen Eigenschaften der ersten bzw. zweiten auditiven Ebene differenziert und benannt werden. Die beibehaltenen Eigenschaften erlauben zugleich die Zuordnung zu einer der Ebenen, und zwar sowohl aus Perspektive der Gestaltung durch die Filmschaffenden, die sich im Herstellungsprozess für die dann unterschiedlichen Wirkungen entscheiden müssen, als auch bei der Rezeption durch das Publikum, dessen Deutung der Vorgänge davon bestimmt wird, welche »Reichweite« Musik und Ton im Film haben. So erhält interne und externe Musik jeweils einen von »intern« bzw. »extern« noch weiter zu differenzierenden Bereich. Ausgelöst wird dies einerseits durch den kommen-

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4.  Filmmusik und Analyse

tierenden Impuls, der im Wesen der Montage liegt, sodass sich der interne Bereich in Richtung Kommentar erweitert. Andererseits löst der mimetische Impuls, der meist auch in eigengesetzlich funktionierender Musik enthalten ist, eine Differenzierung des externen Wirkungsbereiches der Filmmusik in Richtung Nachahmung aus. Das Konzept des mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraumes basiert auf Micelis Idee der »mittelbaren Ebene«. Sie wurde insofern erweitert, als dass nicht nur externe Musik in diesem Bereich zu verorten ist, die Anteile von aus dem Handlungsraum stammender Musik enthält, sondern dass dort auch alle ambivalenten und akusmatischen Phänomene, figurale Erzählstimmen sowie Musik und Ton als mentaler Vorgang angesiedelt sind. Der Grund dafür, diese Phänomene in einem eigenen Eigenschaftsraum zu vereinen, liegt darin, dass diese Ereignisse eine Eigenschaft erhalten, die der Ebene zugehört, der sie nicht entstammen oder von vornherein ubiquitär (Grenzen durchdringend oder allgegenwärtig) sind. So können z. B. die Gedankenstimme oder Musik als mentaler Vorgang nicht von allen Figuren im Handlungsraum vernommen werden und haben damit ein vergleichbares dramaturgisches Potenzial wie Ton und Musik von außerhalb des Handlungsraumes. Musik im Musical dagegen erhält die Eigenschaft, dass Figuren sie wahrnehmen können, auch wenn sie extern ist. Ambivalente und unbestimmbare Phänomene sind in diesem Eigenschaftsraum angesiedelt, weil sie offen für Eigenschaften sowohl der ersten wie zweiten auditiven Ebene sind, sich aber nicht auf einen dieser Bereiche festlegen lassen. Die Ambivalenz oder Unbestimmtheit von Klängen und Musik im mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraum beruhen  –  mit Ausnahme der figuralen Erzählstimme  –  entweder auf der fehlenden oder unklaren Semantik oder der nicht logischen Zuordnung zum Handlungsraum, z. B. wenn Musik, Ton oder Sprache als Teil des Handlungsraumes erkannt oder eng assoziiert werden, jedoch dort laut der im Handlungsraum geltenden Gesetze nicht »natürlich« oder »realistisch« erklingen können. Auch Sound Design, das inzwischen häufig die illustrierenden Aufgaben konventioneller Filmmusik übernimmt, ist in diesem Bereich angesiedelt, da oft nicht genau bestimmt werden kann, ob es sich um Ausstattungston oder geräuschhafte musikalische Strukturen handelt. Damit erhält diese Art des Sound Designs ambivalente Eigenschaften und hebt ebenfalls die kategoriale Trennung der auditiven Ebenen auf. Wenn keine Erklärung mehr in den Klängen dazu enthalten ist, welche Instanz die musikalischen oder klanglichen Informationen verantwortet, entfällt die psychologische Absicherung über Vertrautheit und Bedeutung des Materials. Typisch ist diese Art der Gestaltung für psychisch-mentale Ausnahmesituationen von Figuren oder extreme und extraterrestrische Milieus, lyrisch-assoziative Ausdrucksformen bzw. Metaphern und

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

generell für Dramaturgien des postmodernen oder komischen Erzählens, die teils auf Brechungen der rezeptionsästhetischen Verabredungen beruhen. Das so entwickelte Modell spiegelt demnach nicht narrative Ebenen wider und kommt damit der Filmpraxis und den in der Filmform spezifisch vorliegenden Kommunikationsebenen (Relationen und Abgrenzung zwischen Erzählinstanzen/Autoren, imaginierter Welt, Figuren und Rezipienten) entgegen. Um den Unterschied sichtbar zu machen, sei an die in Kapitel 1 abgebildete Systematik zu den filmästhetisch, dramaturgisch und narratologisch abgrenzbaren Räumen erinnert, die nun mit den im Film klingenden Ereignissen (Sprache, Musik, Geräusch) bzw. filmästhetischen Kriterien zur Abgrenzung von Erzählinstanzen, Darstellungsmitteln und Darstellungsgegenständen ergänzt werden kann. (s. Abb. 24) Auswahl | Geschichte | Komposition (Fabel, mythos, story) Exposé/ Drehbuch | Filmmischung | vorliegender Film

visuelle, klangliche und sprachliche Konkretisierung (Text) | Präsentation der Handlung (Sujet, plot) szenische Einrichtung (mise en scène), Inszenierung (ópsis) | optische Kadrierung | Montage | Sound Design | 2. auditive Ebene/ externe Musik

belebte Natur (Sprache, Affektlaute, Körpergeräusche, Bewegung) Figur(en) Figurenerzähler/in Tiere, Pflanzen 1. auditive Ebene/ interne Musik musizierende Figur(en) technische Wiedergabe

unbelebte Natur Materie: Luft, Wasser, Sand … bewegliche Gegenstände technische Geräusche Kleidung u. Ä. Fahrzeuge

Zitierte Welt

von Figuren entworfene/erzählte Welt Gedankenstimme mentale Klänge/Musik Erinnerungen

Gezeigte Welt (imaginativer Handlungsraum) Mimetischer Erzählmodus (direkt Nachahmen) = Zeigen Diegetischer Erzählmodus (indirekt Nachahmen) = Berichten

Filmsprachlich dargestellte Welt Filmisches Werk Vorfilmische Welt Abb. 24: Filmästhetische Kriterien zur Abgrenzung von Erzählinstanzen, Darstellungsmitteln und Darstellungsgegenständen und die dazugehörigem Klangphänomene

Die Darstellung kann mit dem Modell der auditiven Darstellungs- und Wahrnehmungsebenen aus einer anderen Perspektive ergänzt werden. Der imaginative Handlungsraum und der Bereich für externe Musik sind dabei die Anknüpfungspunkte. Exemplarisch sind hier einige dramaturgisch zu differenzierende Arten von Musik und Ton und filmmusikalische Techniken zugeordnet. (s. Abb. 25)

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Nachahmung

zeigend

mickey mousing underscoring

Musik als mentaler Vorgang (im Kopf einer Figur), Gedankenstimme erste auditive Ebene (konkretisierend)

Klänge des Handlungsraumes, Instrumente, Rhythmen, musikalische Motive (etc.) in ansonsten externer Musik oder welche die logischen Grenzen der imaginierten Welt in Frage stellen Sound Design, akusmatische Phänomene und Grenzbereiche zwischen Musik und Geräusch figurale Erzählstimme

Musik und Songtexte aus dem Handlungsraum als organisierendes Mittel der Montage

auktoriale

zweite auditive Ebene Songtexte

Musik im Filmmusical Externe Musik, externes Sound Design ohne raumzeitliche Bindung an den imaginativen Handlungsraum

Kommentar

(verallgemeinernd)

4.  Filmmusik und Analyse

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Abb. 25: Musik in den Eigenschaftsräumen des Modells der auditiven Gestaltungs- und Wahrnehmungsebenen

Musik, Ton und Songtexte im imaginativen Handlungsraum

berichtend

5.  Zusammenfassung und Ausblick Um Musikdramaturgie im Film systematisch zu beschreiben und zu analysieren, hat sich die interdisziplinär angelegte Reflexion der Grundlagen für den Einfluss von Filmmusik auf Erzählform und Filmwirkung als erkenntnisreicher Weg erwiesen. Bei der Entstehung, Deutung und Bedeutung von Begriffen und Forschungstraditionen zur Filmmusik, Dramaturgie, Filmästhetik und Narratologie zeigten sich elementare Unterschiede, die für eine schlüssige Argumentation zumindest diskutiert und teilweise durch neue Vorschläge und Modelle ersetzt werden mussten. Durch die Verwendung einer Terminologie von so unterschiedlicher Herkunft und Bedeutung für das komplexe Zusammenwirken von Musik mit einer filmisch erzählten Geschichte verbleiben dennoch Schwierigkeiten, die aber durch den hier offerierten und auf Dramaturgie fokussierten Ansatz eingegrenzt werden konnten. Die gewonnenen Erkenntnisse zum Thema zeigen, dass mit Dramaturgie als Wissenschaft und Methode viel diskutierte Fragen der Filmmusikforschung filmspezifisch beantwortet werden konnten, was mit zahlreichen Beispielen veranschaulicht wurde. Einige Erkenntnisse sind in neue Thesen, Systematiken, Analyseansätze und Modelle eingeflossen. Zusammen mit den Beispielen offerieren sie einen alternativen, systematischen Zugang zur Filmmusik, der es ermöglicht, grundlegende Wirkungen der Filmmusik, Strategien der Filmmusikkomposition und des Einsatzes von Musik im Film differenziert zu beschreiben bzw. zu erklären. In einem nächsten Schritt ließen sich anhand noch detaillierterer dramaturgischer Ansatzpunkte und Analysen die Konzepte und Modelle ausbauen und ihre Wirksamkeit belegen. *** Für den Forschungsbereich der künstlerisch-wissenschaftlichen Disziplin Dramaturgie, der diesen Betrachtungen zugrunde liegt, stellte sich heraus, dass folgende Begriffe und Konzepte unterschiedlich bewertet oder für Filmdramaturgie sehr unterschiedlich adaptiert wurden: 1. Dramaturgie 2. Fabel und Sujet 3. Nachahmung 4. Diegese Um diese Konzepte konsistent in eine Theorie der Musikdramaturgie im Film integrieren und um für Analysen eine systematisch und kreativ einsetzbare Methodik bereitstellen zu können, wurden Definitionen konkretisiert, teils neue Gewichtungen vorgeschlagen und der Begriff der Diegese für die Beschreibung und Analyse von Filmmusik aufgegeben.

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5.  Zusammenfassung und Ausblick

(1) Dramaturgie ist eine Praxis und zugleich Wissenschaft, die Regeln und Modelle zur Herstellung und Aufführung performativer Werke reflektiert und systematisiert und dabei alle filmischen Gestaltungsmittel einbezieht. Erzählformen, Performativität und Wirkungskalkulation lassen sich im Film auf unterschiedliche Art und Weise verwirklichen, die dem Theater, Musiktheater und teils der Literatur verwandt sind, aber letztlich eigene filmische Formen ausprägen. Mit der Unterscheidung epischer, dramatischer und lyrischer Merkmale der Poesie lässt sich eine Charakteristik des filmischen Erzählens bestimmen, die diese Modi in ständiger Abwechslung anwendet. Eine zentrale dramaturgische Rechtfertigung für die Beiordnung von Musik zur Filmhandlung besteht daher darin, dass Musik die unterschiedlichen Grade von Intensität, die diesen Modi eigen ist, mit eigenen, musikalischen Mitteln einander anpassen kann und die Interpretation der Vorgänge jeweils im Sinne einer dieser Modi lenkt und teilweise die an sie gebundenen Strukturen erst ermöglicht. Die Bedeutung des Wortes dramaturgisch liegt nicht darin, dass nur die Handlung betreffende Aspekte gemeint sind. Dies wäre eine unzureichende Definition, welche die Gleichsetzung der Begriffe dramaturgisch und dramatisch nach sich zieht. Aristoteles unterschied den Aufbau der Handlung (mythos), Handlungen (pragmata) und das Geflecht aus Handlungen (praxeis), während der Begriff »Drama« die Bühnenaktion bzw. Umsetzung durch Darsteller meinte. Der Begriff Dramaturgie schließt inzwischen alle genannten Aspekte mit ein und wird auf viele Medien und Gattungen angewendet. Dramatisch, episch und lyrisch sind hingegen Erzählmodi, die zur poetischen Umsetzung einer Geschichte dienen. Im Film greifen diese drei Modi in einer für diese Gattung eigenen Flexibilität und Intensität ineinander und können dabei von unterschiedlichen filmischen Mitteln realisiert werden. Filmmusik beeinflusst diese Prozesse, sei es um den Bruch zwischen epischen und dramatischen Anteilen zu überbrücken oder um lyrische Anteile als solche zu interpretieren. Im Schrifttum zur Filmmusik tritt häufig der Begriff Narration an die Stelle des Begriffs Dramaturgie. Da mit Narration zwar die strategisch organisierte Informationsvergabe gut erfasst werden kann, aber nicht die darüber hinausgehenden, im Film (wie in anderen Künsten, die ihre Wirkung im Verlauf entfalten) auf Tempo, Rhythmus und Timing beruhenden Wirkungen zum Ausdruck kommen, wird der Begriff Dramaturgie bevorzugt. Zwar drohen dabei durch die Doppelbedeutung dieser Disziplin als Theoriesystem und Praxis einige Unschärfen. Diese können jedoch durch bestimmte Konkretisierungen vermieden werden. Zu diesen Konkretisierungen gehört die Unterscheidung von expliziter und impliziter Dramaturgie, die Systematisierung von unterschiedlichen Arten von Filmfabeln und die kategoriale Trennung der auditiven Ebenen im Film. Film-

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

spezifische Anteile der Dramaturgie sind auch die sich in den verschiedenen Arten der Montage zeigenden filmischen Formen, darunter Formen audiovisueller Abbildung mit basaler dramaturgischer Bedeutung und Kopplungen mit einer weiter reichenden dramaturgischen Dimension. Die Bedeutung der expliziten Dramaturgie liegt in der Erschaffung und Analyse der offensichtlichen Strukturen, die sich in Modellen und Strukturtypen gut differenzieren und systematisieren lassen. Die Bedeutung der impliziten Dramaturgie liegt dagegen in der Einbettung versteckt eingeschriebener Anteile im Werk, die nicht die Struktur, sondern die Deutung und den inhaltlichen Reichtum einer filmisch erzählten Geschichte betreffen. Durch implizite Dramaturgie werden der Geschichte zusätzliche Bedeutungsebenen gegeben, ohne die eine Geschichte zwar funktionieren kann, aber an Reichhaltigkeit einbüßen würde. Dies geschieht durch Anspielungen, z. B. auf die Lebenswelt des anvisierten Publikums (bzw. von Publikumsschichten) oder der Filmschaffenden und deren Biografien und Werke. Auch gesellschaftspolitische oder wissenschaftlich-technische Zusammenhänge und vieles mehr dienen der Dramaturgie als Leitfaden für versteckt eingeschriebene Strukturen oder nicht näher thematisierte, aber dennoch wirksame Grundlagen eines Konfliktes. Mit den Mitteln der impliziten Dramaturgie werden Informationen zur Deutung des Dargebotenen gegeben, ohne die eine Wirkung nicht oder in nicht erwünschter Weise eintritt. Auch Humor wird – im Gegensatz zur expliziten Komik – erst möglich, wenn indirekt Zusammenhänge nahegelegt und Subtexte offeriert werden. Mit impliziter Dramaturgie wird der strategische Gebrauch dieser Mittel geregelt, die unterhalb der Ebene der offensichtlichen, explizit dargestellten Vorgänge in das Gesamtwerk einfließen. Zur Dramaturgie generell gehört es, komplexe Strukturangebote bereitzustellen, sodass auch ein heterogenes Publikum angesprochen werden kann, dessen einer Teil möglicherweise bereits eine der Ebenen als spannend und interessant empfindet, ein anderer Teil aber andere oder mehrere Ebenen zugleich »lesen« wird und dadurch sich unterhalten fühlt. Eigenschaften der Musik als strukturell eigenständig wirkende Kunst, ihre schwer zu verbalisierende komplexe Wirkung, ihr Zeitbezug, ihre kulturellen und sozialen Verweise sowie ihre meist umfassende künstlerische Vernetzung zeichnet sie im Film als besonders geeignetes, unterschwellig wirkendes Mittel der expliziten und – vielleicht noch mehr – der impliziten Dramaturgie aus, wie mit Beispielen belegt werden konnte. (2)  Die Reflexion des Fabelbegriffs zeigte, dass für die Untersuchung einiger der grundlegenden Wirkungsweisen der Filmmusik eine modernisierte, filmspezifische und nicht-formalistische Interpretation gefunden werden muss. Das Universelle des Fabelbegriffs, das ihn für Filmfabeln geeignet werden lässt, liegt in der

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5.  Zusammenfassung und Ausblick

Möglichkeit, darunter ganz unterschiedliche Bindungsgesetze, Strukturtypen und Wechselbeziehungen zwischen Figur, Konflikt und Handlung zu verstehen. Als Konsequenz dieser Überlegungen wurden Thesen 1.  zum Fabelzusammenhang der Filmmusik und 2. Sujetbezug der Filmmusik entwickelt. Die Fabel wird als eine den Zusammenhang herstellende Anlage einer Geschichte verstanden, die den Grundkonflikt bzw. das Thema, Vorgänge, Blickwinkel, Ausgangspunkt, Abfolge und Abschluss der Handlungen grundlegend disponiert und organisiert. Die durch jeweils eigens definierte, qualitative Merkmale gekennzeichneten Bindungsgesetze und Gestaltungsmittel, die sich in einer Fabel manifestieren, erzeugen eine Einheit der Erfindungen, Handlungen, Orte und des Ablaufs. Der Fabelzusammenhang der Filmmusik berührt dieses Gefüge oder mindestens eine der zwischen diesen Anteilen bestehenden Beziehungen. Der Abstraktionsgrad der Musik korrespondiert nicht selten mit dem abstrakten Charakter der Fabel, die sich nur in wenigen entscheidenden Momenten der konkreten Handlung offen zeigt wie z. B. in richtungsweisenden Erlebnissen und Entscheidungen einer Figur. Die Vielzahl der narrativen Details bekommt durch Musik eine gemeinsame Grundrichtung, indem sie Zusammenhänge und damit einen Zusammenhalt der Ereignisse erzeugt oder zumindest suggeriert. Mit diesem Konzept lassen sich nicht nur Wirkungen der Filmmusik, sondern auch intuitiv getroffene Entscheidungen der Filmschaffenden zum Einsatz der Filmmusik erklären, denen – bewusst oder unreflektiert – die Filmfabel als dramaturgische Referenz dient. Filmfabeln bestehen manchmal aus Überlagerungen verschiedener Fabelkonzepte. Filmmusik hat einen erheblichen Anteil daran, wie die Fabel auf eine für den Film typische Weise dynamisiert werden kann. Dieser Wirkungsbereich der Filmmusik berührt zugleich einen Aspekt der impliziten Dramaturgie, da durch Musik erzeugte Andeutungen, Verweise und hinzutretendes Kontextwissen besonders kunstvolle Fabelkonstruktionen erlaubt. Für die Filmmusikforschung eröffnet sich hier ein großes, die expliziten Wirkungsbereiche ergänzendes Teilgebiet. Der Sujetbezug der Filmmusik ergibt sich aus den musikalisch repräsentierten Ereignissen in der Handlung oder betrifft die mit von außen kommender Musik unterstützen Handlungsabläufe. Typische, zum Sujet zu rechnende Facetten wie Umfeld und Milieu, handlungsrelevante Charakteristika der gezeigten Welt (Orte, Figuren, Hierarchien und Begrenzung der Handlungsoptionen der Figuren) werden auch durch interne und externe Musik kommuniziert. Mithilfe der in der Handlung erklingenden Musik oder mit externer, insbesondere affirmativer Filmmusik werden zudem Affekte oder Aktionen der agierenden Figuren untermalt, Schlagworte im Dialog hervorgehoben, Herkunft oder Eigenheiten der Figuren usw. näher beschrieben. Viele sogenannte narrative Funktionen der

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Filmmusik sind Teilaspekte des Sujetbezuges, die aber mit der hier aufgearbeiteten Terminologie in Relation zur Filmfabel gesetzt werden können. Auch wenn das Begriffspaar Fabel und Sujet durch die Begriffsgeschichte nicht unbelastet geblieben ist, wird mit ihm  –  kritisch reflektiert und den heutigen Erzählformen angepasst – die Idee vom Zusammenwirken dieser beiden Konzepte greifbar. Damit eignet sich das Begriffspaar auch, um die Komplexität der Wirkung von Filmmusik, mit der es Filmschaffende und Forschende beim Zusammentreffen von filmisch präsentierter Handlung und Musik fast immer zu tun haben, zu untersuchen. Eine Analyse von Filmmusik, die den Zusammenhang von Fabel und Sujet thematisiert, ist dramaturgisch umfassend und kann sich dem Untersuchungsgegenstand methodisch von unterschiedlichen Seiten her nähern: vom Detail auf das Ganze schließend oder umgekehrt vom Ganzen ins Detail vordringend. Durch die Berücksichtigung von Fabelzusammenhang und Sujetbezug kommt die Analyse von Filmmusik auch der mehrfachen Wirkungsweise von Musik und ihrem gegenüber dem Bild abstrakteren Wesen entgegen. (3) Die Bedeutung der Nachahmung für die Dramaturgie der Filmmusik musste diskutiert werden, da Musik im Film in das komplexe Wirken von visueller und auditiver Abbildung und damit in die zeigenden und sprachlichen Formen der Nachahmung eingreift. Nachahmung kann seit der Poetik von Aristoteles als nachschöpfender Vorgang verstanden werden, der zur Aneignung der Welt mit künstlerischen Mitteln dient. Seit Aristoteles (und in Unterscheidung zu Platon) ist an mimesis kein Wahrheitsanspruch mehr gebunden, sondern vielmehr ein Wahrscheinlichkeitsanspruch. Wahrscheinlich ist zunächst, was für eine Figur charakteristisch ist zu tun. Die Anordnung der Handlung lotet diese Grenze aus und zeigt auch außergewöhnliche Handlungen als Konsequenz einer Anlage, wodurch die Nachahmung der Vorgänge wahrscheinlich und damit überzeugend wirkt. Die Ähnlichkeit von Gesten, deren physischer oder sozialer Bezug zeigen in unterschiedlichen Modi der Darstellung (Zeigehandlung oder Bericht) das Bekannte oder offenbaren verborgene Zusammenhänge. Konzepte und Denken über die Welt, ihre Wahrnehmung, Gliederung und Aneignung werden nicht zuletzt durch Film als Gattung, die sich zwischen Kunst, Massentauglichkeit und ökonomischer Verwertung behauptet, stark beeinflusst. Im Film, der in besonderem Maße als mimetische Kunst angesehen werden kann, verbinden sich die darstellenden bzw. zeigenden Formen des Theaters (direkte Nachahmung) sowie die berichtenden bzw. erzählenden Formen der Literatur (indirekte Nachahmung, Tendenz zum Kommentar) spezifisch und auf eine dem Film eigene, dynamische Weise. Die dramaturgische Bedeutung von Filmmusik beruht auch auf diesen unterscheidbaren Aspekten des Mimetischen im Film. In Filmmusik selbst kann meist ein mimetischer Impuls nachgewiesen

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5.  Zusammenfassung und Ausblick

werden, der Ergebnis subjektiver Verarbeitung außermusikalischer Erfahrungen, Beobachtungen oder der in der Handlung sichtbaren Vorgänge ist und in Beziehung zu ihr gesetzt wird. (4)  Der Begriff der Diegese wirft für die Filmmusiktheorie zahlreiche, offenbar kaum zu lösende Schwierigkeiten auf. Die zwei im Film zu unterscheidenden Arten der Nachahmung – direkte Nachahmung durch zeigende Mittel (mimesis) und indirekte Nachahmung durch erzählende, berichtende bzw. kommentierende Mittel (diegesis) – werden durch den Begriff Diegese nicht mehr deutlich unterscheidbar. Wird Diegese mit »erzählter Welt« gleichgesetzt, bleibt unberücksichtigt, dass »Erzählen« im Film sowohl mit zeigenden Mitteln (mimesis, show­ing) als auch berichtenden Mitteln (diegesis, telling) umgesetzt wird. Hieraus resultierten narrative Modelle für den Film, die der Dynamik und Vielfalt des filmischen Erzählens nicht entsprechen und für die Musikdramaturgie im Film nicht die nötige Aussagekraft besitzen. Die gezeigte Welt ist nur ein Teil des Erzählens mit filmischen Mitteln und sollte den Begriff Diegese daher nicht für sich allein beanspruchen, wie es bei der Übertragung auf die Terminologie der Filmmusik geschieht. Nach ausgiebiger Diskussion der Hintergründe und Anwendbarkeit kann festgestellt werden, dass die dramaturgische Einbindung von Musik im Film mit der auf dem heutigen Diegesebegriff aufbauenden Terminologie nicht dem Film angemessen und Erkenntnis bringend zum Ausdruck kommt. Insbesondere das für die Filmmusik aufschlussreiche Konzept des Fabelzusammenhangs kann nicht konsistent mit dem Diegesebegriff vereint werden, weil beide Begriffe zu mechanisch interpretiert werden müssten, um miteinander kompatibel zu sein. Bisherige Versuche, den Fabelbegriff zusammen mit dem durch Souriau geprägten Diegesebegriff in eine konsistente Film(musik)theorie zu bringen (Bordwell und Thompson 1979, Bordwell 1985, Gorbman 1987) und die Schriften von Forschenden, die darauf aufbauen, führten dazu, dass die Fabel eingegrenzt wurde auf eine Konstruktion von kausal verknüpften, zentralen Teilhandlungen. Weil die dennoch reklamierte Abstraktheit der Fabel dazu führt, dass Schnittmengen entstehen mit der Diegese bzw. »erzählten Welt«, die größer als die dargestellte Handlung ist, ergibt sich das Problem, dass nun auch die Begriffe Fabel und Diegese eine Schnittmenge haben. Die sogenannte diegetische Musik beschreibt aber nicht das Abstrakte (die Kriterien für die Auswahl von Motiven, Blickwinkel und Organisation), sondern genau umgekehrt die im imaginativen Handlungsraum erklingende Musik, also das musikalisch Konkrete bei der Präsentation der Handlung. Als Folge dieser Überlegungen ergab sich die Erkenntnis, dass im Gebrauch des konventionellen Begriffspaares diegetisch/nicht-diegetisch eine irreführende Konsequenz enthalten ist: Die narrativen Ebenen (Erzählinstanzen, imaginativer

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Handlungsraum) werden mit auditiven Ebenen gleichgesetzt, ohne weitere Kriterien zu beachten, die für die Filmdramaturgie aber von Bedeutung sind. Fabel und Sujet können hingegen als in Wechselbeziehung stehendes, das auch Verbindende zwischen den Begriffen veranschaulichende Paar sowohl abstrakte als auch konkrete Bezüge der Filmmusik zur Dramaturgie offenlegen. Dabei zeigt sich, dass es nachrangig ist, ob diese mit interner oder externer Musik realisiert werden. Um die dramaturgische Anlage und Wirkungsweise von Filmmusik näher zu beleuchten, müssen diverse Eigenschaften von im Film eingesetzter Musik berücksichtigt werden, die im Konstrukt der Diegese nur umständlich (z. B. in Kombination mit den drei Arten der Fokalisierung und der sogenannten Aurikularisierung) zum Ausdruck gebracht werden können. Komplexität, Vielfalt und Ambivalenz filmischer Integration von Musik in den Ablauf können mit dem Konzept der Diegese nur unzureichend erklärt werden. Die Bezeichnungen diegetische oder nicht-diegetische Filmmusik und darauf aufbauende Begriffe wie supradiegtisch, metadiegtisch, ambidiegtisch usw. geben aus der hier eingenommenen Perspektive keine ausreichende Auskunft über die dramaturgische Bedeutung von Filmmusik. Aus Sicht der Narratologie mag eine Konstruktion, die auf dem Diegesebegriff aufbaut, hinreichend sein. Filmästhetisch bleiben viele grundlegende und eigentlich im Medium Film selbstverständlich wirkende Phänomene schwer erklärbar. Das dynamische Fabel-Sujet-Begriffspaar funktioniert mit dem Diegesebegriff nicht mehr widerspruchsfrei. Der Diegesebegriff kann außerdem nicht auf die filmspezifische Umsetzung von Fabel und Sujet und deren Zusammenwirken eingehen. Um zu verdeutlichen, welche dramaturgische Dimension die kategoriale Trennung der auditiven Ebenen hat, wurde schließlich ein eigenes Modell entwickelt, das ohne den Diegesebegriff auskommt. Um den modernisierten Begriff der Fabel bzw. Filmfabel für dramaturgische Bedeutungen der Filmmusik einsetzen und um die beiden Modi der Nachahmung berücksichtigen zu können, wird konsequenterweise auch die Bezeichnung »erzählte Welt« ersetzt durch »gezeigte Welt«. Noch präziser ist die Bezeichnung »imaginativer Handlungsraum« anstelle von diegetisch, weil er zum Ausdruck bringt, dass der zentrale Bezugspunkt für die sich konkret entfaltende Handlung ein virtueller, nur in der Imagination des Publikums existierender Ort mit hinreichender Konsistenz ist. Die dramaturgische Logik einer Geschichte ist aber nicht nur an die gezeigte Welt gebunden, sondern auch daran, was im Rahmen der Erfindung der Geschichte als charakteristische Handlung oder äußerste Grenze des Wahrscheinlichen und damit als glaubwürdig angesehen wird. Das Zusammenwirken von Fabel und Sujet ist an der Bewertung von Notwendigkeit und Glaubwürdigkeit einzelner

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5.  Zusammenfassung und Ausblick

Bestandteile des Films beteiligt. Es wird sowohl durch interne als auch externe Musik bestimmt und kollidiert – nun auch terminologisch – nicht mehr mit diesem imaginativen Handlungsraum. Im ersten Teil der Arbeit, der sich mit dem interdisziplinären Umfeld befasste, wurden weitere, für die Musikdramaturgie im Film wichtige Aspekte aufgearbeitet. Dazu zählen: 5. musikästhetische Grundlagen und narrative Implikationen von »autonomer« Musik 6. Montage als filmisches Stilmittel 7. emotive Wirkungen 8. Unterschiede zwischen Musikdramaturgie im Film und im (traditionellen) Musiktheater (5)  Der Einfluss der Dramentheorie auf die Musiktheorie zeigte einige Anknüpfungspunkte, verdeutlicht aber auch, dass jede Theorie auf ihre Bezogenheit zur künstlerischen Realität überprüft werden muss, d. h. inwieweit die adaptierten Begriffe wirklich das Werk erklären helfen oder diesem nur aufgestülpt werden. So ist die vermutete Nähe solcher Theorieansätze zur Wirkungsweise von Filmmusik am Ende weniger aufschlussreich als zunächst gedacht. Begriffe wie Thema, Melodie und Motiv können jedoch nach der hier vollzogenen Reflexion differenziert und gegebenenfalls auf filmmusikalische Analyse angewendet werden. Während im Melodiebegriff der Aspekt des Lyrisch-Verweilenden enthalten ist, steht die Bezeichnung Thema für musikalische Prosa bzw. Entwicklung und Abwandlung analog zur dramatischen Prozessualität. Der Begriff Motiv steht für die gegenüber Themen flexiblere musikalisch-formale Kontextualisierung, sodass auf die für Filmmusik geltenden formalen Besonderheiten (Timing und Anpassung an die visuell realisierten Abläufe) eingegangen werden kann. Der Begriff Motiv hat sowohl im Kontext der Dramaturgie als auch der Musiktheorie auch einen psychologischen Anteil: als Element, das etwas »in Bewegung« bringt oder einen »Beweggrund« offenbart, so bei motivisch-thematischer Arbeit (z. B. in Durchführungen im Sonatenhauptsatz) oder als filmmusikalisches Leitmotiv. Über diese Beobachtungen hinaus könnte die Frage interessant sein, ob Filmtheorie und Filmmusiktheorie helfen, musikalische Werke des 20. und 21. Jahrhunderts zu erklären, die zweifellos auf unterschiedliche Weise durch das Medium Film und daran gebundene Rezeptionserfahrungen, Hörgewohnheiten und technische Errungenschaften des Kinotons geprägt sein können.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Narrative Implikationen von Musik können sich darin niederschlagen, dass ein außermusikalisches Sujet nicht im literarischen Sinne, sondern  –  genauso wie andere musikalische Parameter – als kompositorisches Material verarbeitet wird. Dies kann sich in offensichtlichen semantischen Zusammenhängen (z. B. die Verwendung soziokulturell definierter Instrumente oder musikalischer Zitate) oder – künstlerisch weiter überformt – in musikalischen Topoi zeigen, bei denen historisch gewachsene Bedeutungen mit musikalischen Strukturen verbunden sind. An sowohl musikalischer Illustration als auch dem musikalischen Ausdruck von Empfindungen haftet nicht selten der Gestus eines musikalisch »sprechenden« Subjektes. Im Film kommen – wie in Konzertmusik auch – Abstufungen narrativer Implikationen von Musik zur Geltung. Sie reichen von musikalischer Illustration und Zitat über musikalischen Ausdruck von Innerlichkeit bis hin zur Realisierung eines Ideenkunstwerkes, das einen gesellschaftlichen oder philosophischen Diskurs weiterführt. Aus der Reflexion der Ansichten zur Musikästhetik des 19.  Jahrhunderts konnte der Begriff der Poesie für den dramaturgischen Einsatz von Musik im Film aufgegriffen werden. Unter Poesie kann demnach nicht nur das literarische Dichten, sondern das Weiterdichten in Musik, d. h. in einem Bereich von sonst schwer zu erreichender gedanklicher Freiheit verstanden werden. Die Suche nach Ausdrucksformen für das unsagbare Innerliche oder Komplexe macht in der Filmkunst nicht halt. Im Film befindet sich diese Suche aber in einem spannungsvollen Verhältnis zum visuellen Wirklichkeitsanspruch und dem sogenannten Authentieeffekt, der vom Bild ausgeht. Die Rolle der Musik im filmischen Erzählen bereichert auch von daher die Vielschichtigkeit von Poesie im Film. Die Untersuchungen zur Musikästhetik legen darüber hinaus nahe, dass die Bedeutung, die Film zum Erfassen der Lebenswirklichkeit heute hat, vergleichbar ist mit der der Literatur im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Der poetischen Verarbeitung kam dort (und kommt heute beim Film) die annähernd gleiche Bedeutung zu, wie dem thematisierten Phänomen selbst. (6) Das Stilmittel Montage lässt sich in ein differenziertes Spektrum auffächern, z. B. linear-narrative und metaphorische Montage, Parallelmontage und anachrone Varianten (Vor- und Rückblenden). Gemeinsam ist diesen Phänomenen die Idee der sinngebenden Gliederung äußerer Vorgänge, Auswahl und Kollision bzw. Kopplung. Unterschiede zwischen den Formen der filmischen Montage liegen im Grad der Illusionsbildung (Anwesenheitseffekt, Einfühlung und Distanz) und ob sie den dramatischen, epischen oder lyrischen Anteilen der Filmdramaturgie dient. Montage ist nicht nur syntaktisch wirksam, sondern auch in dem Sinne, dass ein Standpunkt, eine Emotion, ein Sachverhalt, eine Wertung und Interpretation der Vorgänge zum Ausdruck gebracht werden kann. Die

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5.  Zusammenfassung und Ausblick

Kopplung von Objektivität der visuellen Abbildung und verallgemeinernder Wirkung der Musik stellt das große Spannungsfeld dar, innerhalb dessen sich musikdramaturgische Strategien entfalten. Montage wird entweder durch sukzessive oder simultane Kopplungen und deren Kombinationen realisiert, d. h. durch Bilder, die aufeinander bezogen werden (Horizontalmontage), oder durch Musik und Ton, die auf Bilder bzw. bereits montierte Bildsequenzen bezogen werden (Vertikalmontage). Der Kontinuitätsübertrag der Musik führt dabei zu einer Freiheit und Flexibilität der filmischen Montage, die stark durch Rhythmus, Timing und musikalische Kontinuität geprägt wird. Im Ablauf des audiovisuellen Materials können sowohl musikalische als auch visuelle Impulse diese Parameter beeinflussen und gegebenenfalls die Hierarchie, die gewöhnlich vom Bild bzw. der Sprache ausgeht, aufheben. Als interessant stellten sich Zusammenhänge heraus zwischen »Lücken«, die durch Schnitt und Montage entstehen, und der aktivierenden Bedeutung von Musik, um diese Lücken zu schließen. Zur Ästhetik und Dramaturgie des Films gehört seit Anbeginn das Ziel, durch die fantasievolle Eigenbeteiligung des Publikums Lücken oder Zwischenbereiche (zeitlich, räumlich, in der Bedeutung), die zwangsläufig durch Montage entstehen, mit einem kontinuierlichen Sinnzusammenhang (mit »innerer Rede«) zu füllen. Damit ist Filmmusik ein anregendes, ergänzendes Gestaltungsmittel, um die durch Montage erzeugten Kollisionen, daraus resultierende Emotionen und das Lückenhafte der Montage als sich öffnenden poetischen Raum zu begreifen und auch aufseiten des Publikums schöpferisch aktiv zu werden. (7)  Die Suche nach Modellen, die den Anteil der emotiven Wirkungen von Filmmusik als einen Aspekt der Musikdramaturgie erfassen können, zeigte besondere Zusammenhänge auf, die von Filmmusik beeinflusst bzw. bestimmt werden. Zunächst kann auch im Film die Unterscheidung von sogenanntem Mitaffekt und Eigenaffekt festgestellt werden. So ist es von grundlegender dramaturgischer Bedeutung, ob der erzählte Affekt der Figur vom Publikum nicht nur erfasst, sondern im Rahmen des Modellcharakters der Kunst »mit«-erlebt wird oder aber ob die Wirkung der Darstellung darauf beruht, dass ein von der Figur losgelöster »eigener« Affekt beim Publikum entsteht. Filmmusik etabliert ganz grundlegend den Modellcharakter, der diesen Vorgängen zugrunde liegt. Sie fängt zudem ein Defizit auf, das entsteht, wenn die bei der Filmrezeption entstehenden Affekte nur begrenzt ausagiert werden können. Sie setzt durch ihre eigene Intensität der Kurzlebigkeit der Affekte etwas entgegen und fördert Resonanzen mit der Innerlichkeit und Erfahrung der Rezipierenden. Der Affektbegriff ist allerdings historisch dadurch belastet, dass er eng an die musikalische Illustration von Vorgängen gekoppelt ist. Für Dramaturgien und

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

filmmusikalische Techniken, die Emotionen in eine anti-illusionistische Ästhetik einbeziehen, wäre anstelle des Affektbegriffs der Begriff des musikalischen Gestus angebracht. Mit ihm können musikalischer Ausdruck, der Charakter von Musik und die Haltung der Kunstschaffenden zu den Vorgängen kommuniziert werden. Musikalischer Gestus wird damit ein Ausdrucksmittel, das wie Bild und Sprache in Beziehung zur Handlung gesetzt werden kann. Der Modellcharakter der Kunst (Lotman 1981) ermöglicht das positive Erleben bei der Filmrezeption unabhängig vom positiven oder negativen Inhalt oder Ausgang einer Geschichte. Im reglementierten Modell, das eine Geschichte entwirft, tritt eine psychische Erholung durch fiktive Lösungen ein, weil ein psychologischer Konflikt in einem dramaturgischen Konflikt bzw. in einer psychologisch oder emotional analogen Situation gespiegelt und spielartig gelöst wird. Filmmusik befindet sich hier in einem komplexen Wirkungsfeld, da sie an der Darstellung von Affekten beteiligt ist, an der Lenkung von Affekten (eigene oder mit den Affekten der Figuren vergleichbare Affekte) und weil sie den Spielcharakter der Kunst und den Modellcharakter des Kunstwerkes aufrechterhält. Allein aus dem Vorhandensein von Filmmusik erwächst daher eine nicht zu unterschätzende psychologische Absicherung. Filmmusik beeinflusst das spannungsvolle Verhältnis zwischen fehlendem Einfluss auf die Filmhandlung und der Aktivität, die aus dem psychologisch begründeten Kontrollbedürfnis über eine Situation herrührt. Dieses Verhältnis ist für den emotionalen Haushalt von großer Bedeutung. Dramaturgische und psychologische Strategien sind demnach zwei Seiten desselben Vorgangs. Die Kontrolle über die Verwicklung der Vorgänge wird durch Dramaturgie strategisch verweigert bzw. gewährt. Die daraus resultierenden psychologischen Prozesse werden kalkuliert und liefern dramaturgischen Strategien die weitere Basis für Verweigerung oder Vergabe von (zumindest passiver) Kontrolle des Handlungsablaufes durch Prognosen. Hinzu kommen emotive Wirkungsbereiche der Filmmusik, die denen autonomer Musik entsprechen. Musik erzeugt Resonanzen zwischen äußerer Welt und Innerlichkeit. Komplexe und nachhaltige Gefühle sind das Ergebnis innerer Prozesse, für die die filmische Rezeptionsvorgabe nur der Auslöser ist. Bei der Filmwahrnehmung hängt die von Dramaturgie einkalkulierte Eigenbeteiligung mit dieser durch Musik angeregten, emotionalen Anteilnahme zusammen. Filmmusik ist auf Grundlage dieser Zusammenhänge in der Lage, den Eindruck von Fülle und Komplexität zu vermitteln. Musikdramaturgische Wirkungen beruhen darauf, Fülle, Interesse, Abwechslung und Zusammenhalt der Ereignisse im Zusammenspiel mit den anderen filmischen Mitteln zu erzeugen bzw. zu suggerieren. Im Umkehrschluss erklärt dies, warum manche Filme ohne Musik auf der zweiten auditiven Ebene auskommen, über die in dieser Studie wenig gesprochen

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5.  Zusammenfassung und Ausblick

wurde, obwohl sie ein Umkehrbild liefern können, worin die dramaturgische Bedeutung von Filmmusik liegen kann:331 Die Geschichte, ihre Form und Präsentation liefern mehrere, parallel funktionierende inhaltliche und strukturelle Angebote, von denen Musik möglicherweise ablenken würde; sie zeichnen sich bereits durch Fülle und Komplexität aus oder verweigern Einheitlichkeit, indem sie die Offenheit der Vorgänge (offen im Sinne der Deutung) thematisieren. (8)  Auf Grundlage der bisherigen und weiterer Gedanken sind Unterschiede zwischen Musikdramaturgie im Film und im traditionellen Musiktheater insbesondere durch folgende Punkte gekennzeichnet: – die in der Filmmischung inszenierte Gestaltung von Musik, Ausstattungston und Sound Design – dramaturgisches Zusammenspiel der auditiven Ebenen – Montage und Timing – Flexibilität der Erzählmodi und Erzählinstanzen Auf Grundlage dieser und anderer Punkte wurde die Struktur des letzten Kapitels festgelegt, in dem Fabelzusammenhang und Sujetbezug der Filmmusik mit Bespielen erläutert und Methodik und Instrumentarium zur Analyse von Filmmusik entwickelt und diskutiert wurden. Zur methodischen Diskussion sowie für die Bereitstellung einer musikdramaturgisch geeigneten Terminologie und eines Modells der auditiven Ebenen sind für den II. Teil der Studie unter anderem folgende Punkte eingehend untersucht bzw. entwickelt worden: 9. Kritik der Funktionsmodelle der Filmmusik 10. Bedeutung der musikalischen Analyse von Filmmusik 11. Musik-Bild-Kopplungen 12. Modell der auditiven Darstellungs- und Wahrnehmungsebenen (9)  Der Einfluss von Filmmusik auf die Dramaturgie eines Films ist so komplex, dass Kataloge und Systematiken der sogenannten Funktion der Filmmusik entweder zu vereinfachend oder trotz meist zahlreich genannter Aufgabenbereiche unvollständig wirken. Funktionen suggerieren, dass Aufgaben der Filmmusik klar abgegrenzt werden und eine zielgerichtete Wirkungsweise von Musik im

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Z. B.: Spur der Steine (DDR 1966, R. Frank Beyer), Die Polizistin (D 2000, R. Andreas Dresen), Caché (F/AT/D/I 2005, R.  Michael Haneke), Das Weisse Band (D/AT/F/I/CA 2005, R. Michael Haneke), Toni Erdmann (D/AT/RO/F 2016, R. Maren Ade), Western (D/BUL/ AT 2017, R. Valeska Grisebach).

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

Film unterstellt werden könnten. Sowohl dem Wesen von (Film-)Dramaturgie als auch von Musik widerspricht diese These nach genauerem Hinschauen. Stattdessen besteht ein Charakteristikum von Filmmusik in der vielseitigen Richtung (das gleichzeitige Erfüllen mehrerer Aufgaben oder Bedeutungen) und in der gleichzeitigen Wirkung unterschiedlicher, musikalisch miteinander funktionierender Anteile. Die poetische Bedeutung von Filmmusik wiegt nach den hier erfolgten Untersuchungen weit schwerer als die stellenweise zu ermittelnde Funktionalität von Filmmusik. Da viele sogenannte Funktionen der Filmmusik in einer Theorie zur Musikdramaturgie des Films und durch ihren Fokus auf das Zusammenwirken der Gestaltungsmittel mit der Geschichte erfasst werden, kann die Problematik, die in der mechanischen Anwendung von Funktionskatalogen steckt, umgangen werden. (10)  Musikalische Analyse kann die musikdramaturgische Analyse z. B. im Falle der Leitmotivtechnik maßgeblich bereichern. Die Unterscheidung zwischen beschreibenden Leitmotiven und Leitmotiven mit episierender Dimension zeigt einen musikalischen Zusammenhang mit gleichbleibenden thematischen Gestalten (deskriptiv) und sich anpassenden thematischen Gestalten (episierende Dimension). Die musiktheoretische Reflexion des Melodie- und Thema-Begriffs erbrachte, dass entweder eine Akzentuierung des Lyrischen und Momenthaften oder des Dynamischen und Prozessualen möglich wird. Der Begriff des Motivs kann gegenüber Thema und Melodie dadurch abgegrenzt werden, dass Motive sich flexibler in den Ablauf integrieren lassen. Der Motiv-Begriff hat sowohl eine filmdramaturgische wie eine musikdramaturgische Bedeutung, wenn mit ihm Bewegung (movere) oder ein Beweggrund assoziiert werden. So konkretisiert sich Leitmotivtechnik durch musikdramaturgisch differenzierte Terminologie, z. B. Leitthema, Leitmelodie, Leitmotiv sowie Erinnerungsmotiv, Ahnungsmotiv und idée fixe. In Kontexten von dramaturgischen Standardsituationen, wie sie sich z. B. in der geschlossenen Form zeigen, kann musikalische Analyse filmmusikalische Topoi, den musikalischen Gestus oder Verfremdungstechniken erfassen. Mit musikalischer Analyse kann nachgewiesen werden, wie (film-)musikalische Klischees modernisiert oder in anderer Weise an Ästhetik und Dramaturgie eines Films angepasst werden. Wenn Musik als Mittel der impliziten Dramaturgie und Kontextualisierung eingesetzt wird, rückt die Bedeutung der musikalischen Mittel in den Hintergrund und der kommunikative Aspekt von Musik in den Vordergrund. Musikdramaturgische Analyse ist dann auf musikalische Analyse kaum angewiesen, sondern bedient sich anderer Zugänge zur Musik, z. B. der Popmusik- oder Genderforschung, Musiksoziologie bzw. -ethnologie oder medienwissenschaftlicher Methoden, z. B. der Kontextualisierung.

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5.  Zusammenfassung und Ausblick

(11)  Die systematische Beschreibung von Musik-Bild-Kopplungen konnte auf Basis existierender Systematiken zum Sound Design entwickelt werden. Aufgrund der unterschiedlich starken Verweisfunktion und semantischen Stabilität von Ton und Musik sind aber insbesondere die Differenzierungen affirmativer und kontrapunktischer Phänomene der Filmmusik von denen des Tons zu unterscheiden und daher von musikdramaturgischer Bedeutung. Insbesondere für den Terminus Kontrapunkt gilt dabei, dass plakative Bedeutungen durch eine Differenzierung in dramaturgischen und audiovisuellen Kontrapunkt vermieden werden können. Affirmation (sich bestätigende Beziehungen zwischen Geschichte und im Film verwendeter Musik) und Kontrapunkt (sich ergänzende Beziehungen zwischen Geschichte und im Film verwendeter Musik) bilden im hier vorgestellten Modell der Beziehungen zwischen Musik und Handlung sich gegenüberliegende, aber in Teilen dabei überschneidende Phänomene bei der Abstufung von Einfühlung und Distanz. Filmmusikalische Affirmation lässt sich differenzieren in affektorientiert, bildorientiert und dialogorientiert. Filmmusik wird hierdurch in vielen Fällen ein Mittel der Einfühlung. Filmmusikalischer Kontrapunkt lässt sich differenzieren in dramaturgischen und audiovisuellen Kontrapunkt. Filmmusik kann hier ein Mittel der reflektierenden oder offensichtlichen Distanz sein und damit andere filmische Formen erzeugen bzw. andere Arten emotiver Wirkungen erreichen. Das filmmusikalische Leitmotiv kann gut in diesem Modell abgebildet werden. Es steht in dieser Systematik zwischen Affirmation und Kontrapunkt, da durch beide Arten der Kopplung leitmotivische Bezüge hergestellt werden können. Bezeichnende Leitmotive tendieren dabei zur Affirmation, aber ohne ein Mittel der Einfühlung zu sein. Leitmotive mit epischer Dimension tendieren zum dramaturgischen Kontrapunkt, da sie einen hinter der Szene stehenden Sinn verdeutlichen. Leitmotivtechnik dient der geistigen Totalität bzw. dem umfassenden Hintergrund einer Geschichte. Durch Verweise und Bezüge, die leitmotivisch eingesetzte Filmmusik schafft, werden auch in Teilmomenten der Handlung sonst nicht präsente Anteile und damit die Hauptrichtung einer Geschichte in weitschweifig angelegten Formen gegenwärtig. (12)  Aus den in dieser Untersuchung angestellten Überlegungen resultierte die Entwicklung eines alternativen Modells der auditiven Darstellungs- und Wahrnehmungsebenen. Es vereint fünf wesentliche Merkmale: – Das Modell beruht auf der kategorialen Trennung zweier Arten von Musik im Film und erkennt die dramaturgisch begründete, phasenweise Überschneidung oder Aufhebung der Trennung als Merkmal filmischer Poesie und filmspezifischer Formen der Darbietung an. – Das Modell berücksichtigt den Schaffungsprozess ebenso wie den Wahrnehmungsprozess.

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

– Das Modell kombiniert die kategoriale Trennung in zwei auditive Ebenen und deren konkretisierende und verallgemeinernde Wirkungen von Musik im Film mit einer weiteren Dimension, die zum filmischen Erzählen gehört: die Tendenz zur Nachahmung bzw. zum Kommentar. – Das Modell kommt ohne die problematische Terminologie aus, die auf dem Diegesebegriff aufbaut. – Das Modell eignet sich, die in der Filmmischung geregelten Wirkungen von Filmmusik im Wesentlichen nachzuvollziehen. Ideen und Prozesse bei einer Filmmischung richten sich nach der Dramaturgie des Films, sodass ein musikdramaturgisches Modell der auditiven Ebenen diese Phase der Filmherstellung berücksichtigen muss. Das Anlegen und Mischen von Musik und Ton in der Filmmischung kann als auditive Inszenierung bezeichnet werden und muss als dramaturgisch besonders relevanter Vorgang gewertet werden. Die Filmmischung nimmt die logische, kategoriale Trennung zweier auditiver Ebenen als Ausgangspunkt und bestimmt die Einbettung, Dynamik und sensorische Qualität der Musik im Verhältnis zum Gesamtklang der Tonspur. Sie ist ein Gestaltungsbereich dramaturgischer Strategien, der filmästhetische Eigenheiten und eine Reihe weiterer zentraler Fragen berücksichtigen muss bzw. beeinflussen kann: – Fokalisierung: Wer kann Musik und Ton hören, wer reagiert → alle Figuren, ausgewählte Figuren, das Publikum? – Gibt es akustisch unterscheidbare Merkmale von Musik in den unterschiedlichen auditiven Ebenen und weiter zu differenzierenden Bereichen? – Hat die Musik eine konkretisierende oder verallgemeinernde Tendenz gegenüber der Handlung? – Hat Musik eine Tendenz zu Nachahmung oder Kommentar? – Soll der Ursprung eines Klanges eindeutig nachvollziehbar, mehrdeutig oder unbestimmbar sein? Mit Beispielen wurde gezeigt, wie die differenzierte Beschreibung von Eigenschaften und Bedeutung der Filmmusik für die Dramaturgie möglich wird. Das Modell der auditiven Darstellungs- und Wahrnehmungsebenen berücksichtigt die dramaturgischen Hintergründe bzw. Beweggründe und rezeptionsästhetische Vereinbarungen für Musik und Ton. Dramaturgische Anforderungen im Verlauf eines Films können durch Platzierung und Verschiebungen im Modell sichtbar gemacht werden. Bei Analysen unterstützt das Modell das kreative Durchdenken filmmusikalischer Phänomene. Die definierten Grenzen der Eigenschaftsräume im Modell werden als dynamische Grenzen verstehbar, die eine gesetzte Voraussetzung sind, sich aber der Dra-

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5.  Zusammenfassung und Ausblick

maturgie eines Films anpassen. Genrebedingte Aufhebungen des kategorialen Gerüstes, ambivalente Zuordnungen zu Eigenschaftsräumen oder das phasenweise Durchdringen von Grenzen erscheint somit nicht als methodisches, theoretisches oder terminologisches Problem, sondern als Charakteristikum der Filmform. Mit einem solchen Modell kann berücksichtigt werden, dass auditive Zuordnungen und gestaltete Ambivalenzen zum einen Teil filmische Mittel des Erzählens in den Händen der Filmautoren sind und zum anderen Teil durch wahrnehmungspsychologische Phänomene und mediumspezifische Verabredungen die Rezeption (Wahrnehmung und Interpretation) beeinflussen. Damit entsteht ein dramaturgisch verwendbares System, das Inhalt, Struktur und Wirkung vernetzt. Die auditiven Ebenen im Film sind in diesem Modell nicht als auditive Entsprechungen narrativer Ebenen zu verstehen, sondern als Gestaltungs- und Wahrnehmungsebenen, die eine latent ablaufende, differenzierte Kommunikation zwischen realen bzw. idealen (impliziten) Filmautoren und dem realen bzw. idealen Publikum ermöglichen. Thema dieser latenten Kommunikation, die auch durch den Umgang mit den auditiven Ebenen möglich wird, sind Fragen der Fokalisierung (Wer hört was und reagiert worauf ?), aber auch generelle Aspekte wie Glaubwürdigkeit, Kommentar, Stil u. a., wodurch die kognitive und intuitive Interpretation des Geschehens beeinflusst werden. Musik im imaginativen Handlungsraum ist in diesem Modell nicht gleichzusetzen mit einer auditiven Ebene (konventionell die sogenannte diegetische Musik), sondern nur einer von fünf Eigenschaftsräumen. Seine Eigenschaften, insbesondere die Bindung an die in ihm geltenden raumzeitliche Bedingungen, werden durch den kommentierenden Impuls erweitert, der durch Schnitt und Montage eine von außen wirkende Erzählinstanz spürbar werden lässt, die Zugriff auf die interne Musik hat. So entsteht ein zweiter Eigenschaftsraum, der gemeinsam mit dem imaginativen Handlungsraum Teil der ersten auditiven Ebene ist und deren konkretisierende Tendenz untermauert. Musik in diesem zweiten Bereich ist durch ihren Ursprung im imaginativen Handlungsraum, dessen Verantwortlichkeit und Glaubwürdigkeit gekennzeichnet, hat aber durch den kommentierenden Impuls, der charakteristisch für die Montagetechnik ist, nicht zwingend dessen raumzeitliche Abhängigkeiten (und darüber hinaus auch nicht mehr dessen akustische Eigenschaften) an sich. Einen passenden Begriff gibt es im konventionellen System der Fokalisierung und bei der Unterscheidung von diegetischer und nicht-diegetischer Musik und darauf aufbauenden Abstufungen nicht, obwohl Musik im Film auf diese Weise einzusetzen, sehr verbreitet ist. Dem internen Bereich (genauer: dem imaginativen Handlungsraum) auf der ersten auditiven Ebene diametral entgegensetzt angesiedelt ist im Modell der auditiven Darstellungs- und Wahrnehmungsebenen der Eigenschaftsraum mit

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

externer Musik. Musik dieses Bereichs ist durch ihre vollständige raumzeitliche Unabhängigkeit vom imaginativen Handlungsraum und durch ihre verallgemeinernde Wirkung gekennzeichnet. Ein mimetischer Impuls, der in der kompositorischen Ausarbeitung oder dem Einsatz von Filmmusik häufig erkennbar ist, eröffnet darüber hinaus einen weiteren, abgrenzbaren Eigenschaftsraum auf der zweiten auditiven Ebene. Merkmal dieses Bereiches ist eine nachahmende Tendenz. So entsteht ein zweiter Eigenschaftsraum der zweiten auditiven Ebene, der zwar deren wesentlichen Merkmale behält (verallgemeinernde Wirkung, Musik kann nicht von den Figuren wahrgenommen werden), jedoch eng an die gezeigten Vorgänge im Handlungsraum gebunden ist und im Timing auch davon bestimmt wird (dialogorientierte, bildorientierte oder affektorientierte Affirmation). Die Musik in diesem Bereich der zweiten auditiven Ebene bleibt als von außen kommendes Mittel erkennbar, erhält den Spielcharakter aufrecht und hat kaum kommentierende Wirkung. Einige filmmusikalische Phänomene und viele Anteile des Sound Designs gehören zum mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraum (kurz: mittelbare Ebene). Hier sind von vornherein ambivalente und akusmatische Phänomene zu verorten, so z. B. musikalisiertes Sound Design oder undefinierbare Klangobjekte, die als stilisierender Ausstattungston oder als ein sonstiges ergänzendes auditives Mittel dienen können. Aber auch Musik im Filmmusical, die Eigenschaften der internen und externen Musik vereint, ist Teil und Merkmal für den mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraum. Daraus lässt sich dessen Eigenschaft ableiten, dass eigentlich getrennte Eigenschaften in ein und derselben Musik stecken (ursprüngliche Eigenschaften und jene aus dem jeweils gegenüberliegenden Eigenschaftsraum). Dies trifft z. B. auf Musik oder Anteile einer musikalischen Komposition zu, die ursprünglich aus dem Handlungsraum stammen, dort aber so wie wir sie hören nicht »realistisch« wären. Die daraus resultierende Aufhebung der kategorialen Trennung konnte in ausgewählten Beispielen als dramaturgisch begründet dargestellt werden. Diese Beispiele zeigen zugleich das dialektische Wirken der auditiven Ebenen, da ohne die Trennung der Ebenen kein poetischer Gewinn aus der vorübergehenden oder genrebedingten Aufhebung der Trennung gezogen werden könnte. Die Zuschreibung zu den auditiven Ebenen und Eigenschaftsräumen ist je nach Genre, Stil und Dramaturgie unterschiedlich verbindlich. Eine eindeutige Zuordnung zu der einen oder anderen auditiven Ebene ist nach zahlreichen Analysen zu urteilen in weit weniger Fällen von besonderer Bedeutung als umgekehrt die Bestimmung der Ambivalenzen. Der musikdramaturgische Fokus richtet sich dann auf die Interaktionen der auditiven Ebenen. Ambivalenzen, die nur vor dem Hintergrund eines einfachen kategorialen Gerüstes funktionieren, das »abgebaut«

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5.  Zusammenfassung und Ausblick

werden kann, sobald die poetischen Interaktionen stattfinden, kennzeichnen verschiedene Dramaturgien und Stile, die sich somit auch am unterschiedlichen Umgang mit den auditiven Ebenen beschreiben lassen. Viele der untersuchten Aspekte zur Musikdramaturgie im Film eröffnen weitere, tiefergehende Fragestellungen, z. B. wie Filmmusik die Relation von Handlungskurve und Spannungskurve, Wirkmomente, Topik-Reihen oder Rahmungen beeinflusst. Auch spezielle Erzählformen wie das komische oder tragikomische Erzählen, Differenzierungen von Multiperspektivität, Musik im Dokumentarfilm oder als handlungstragender Teil der Geschichte und die verschiedenen Merkmale des impliziten Wirkungsspektrums der Filmmusik können auf Grundlage der hier erarbeiteten Kriterien und Konzepte näher untersucht werden. Musikalische Analysen können darüber hinaus weitere filmmusikalische Topologien untersuchen und deren musikdramaturgische Bedeutung offenlegen. Die Ergebnisse der Studie, die offerierten Diskussionsbeiträge für den Diskurs innerhalb und außerhalb der Filmmusiktheorie, Beispielanalysen und darauf aufbauende Fragestellungen zeigen das breite Spektrum von Musikdramaturgie im Film. Konkret beschäftigt sich Musikdramaturgie im Film mit den unterscheidbaren Arten von Musik im Film und ihrer Lokalisierung auf der Tonspur. Sie analysiert, beschreibt und systematisiert den dramaturgischen Einsatz von Musik im Film und den Einfluss auf die Filmwirkung. Musikdramaturgie im Film basiert auf filmästhetischen Vorgaben, diversen Rezeptionserfahrungen sowie Erzählformen und -traditionen und rückt die Frage ins Zentrum, wie Struktur, Inhalt, Präsentation und Deutung einer Geschichte durch Filmmusik beeinflusst werden. Mit einer Musikdramaturgie im Film kann der Beitrag von Filmmusik als poetisches Gestaltungsmittel erfasst werden. Im Wesentlichen ist sie durch folgende Besonderheiten gekennzeichnet: a) dramaturgisch: – Unterscheidung von Musik als Darstellungsgegenstand oder als Beiordnung – Flexibilität der Erzählmodi, Erzählinstanzen und Fokalisierung – Intensivierung der oberflächlichen Handlungsabläufe und Stabilisierung von Tiefenstrukturen – Fabelzusammenhang und Sujetbezug der Filmmusik b) filmästhetisch: – Unterscheidung und Interaktion der auditiven Ebenen – Filmmusik als Element der Montage und Faktor für Kontinuität – Verallgemeinerung des Inhalts (Relativierung des Authentieeffektes und des Mimetischen im Film)

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Teil II: Methoden und Anwendung der musikdramaturgischen Analyse

c) musikästhetisch: – emotive und psychologische Wirkungen (Aktivierung von Fantasie, Eigenbeteiligung und Prognosen, Absicherung des Modellcharakters, Unterscheidung der Affekttypen) – Mehrdeutigkeit von Musik und mehrfache Funktionalität Von diesen Punkten ausgehend lassen sich zahlreiche weitere musikdramaturgische Fragen stellen oder die hier thematisierten Punkte konkretisieren, z. B. wie Filmmusik den Handlungsaufbau, die Charakterisierung der Figuren, die Vertiefung der Konflikte oder das Verhältnis von Einfühlung, Mimesis, Verfremdung und Distanz beeinflusst u. v. a. Das Thema dieser Studie kann eine Bedeutung für empirische Forschung haben, da andere Thesen, als bisher in diesem Forschungsbereich zu finden waren, aus den hier angestellten Untersuchen abgeleitet werden können. Auch die Reflexion crossmedialer Kunst oder von Werken des Neuen Musiktheaters, das vermehrt Wesensmerkmale des audiovisuellen Erzählens aufnimmt, könnte von hier gewonnenen Erkenntnissen profitieren.

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6. Anhang 6.1  Verzeichnis der Filme

Zu den hier aufgelisteten, in der Arbeit erwähnten Filmen ist nur dann eine Quelle (DVD) angegeben, wenn sie als Analysebeispiel verwendet wurden und im Text eine Zeitangabe (h:mm.ss) zum Verständnis nötig war. 2001: A Space Odyssee (GB/USA 1968, R. Stanley Kubrick, M. Aram Chatschaturjan, György Ligeti, Johann Strauß, Richard Strauss) A Beautiful Mind (USA 2001, R. Ron Howard, M. James Horner) Alki Alki (D 2015, R. Axel Ranisch, M. Die Tentakel von Delphi) Amadeus (USA/F/CZ 1984, R. Milos Forman, M. Wolfgang Amadé Mozart) Apocalypse Now (USA 1976–79 R. Francis Ford Coppola) Atonement (Abbitte, GB/FR 2007 R. Joe Wright, M. Dario Marianelli) • DVD Atone­ ment, Universal Pictures 2008 Au revoir les Enfants (Auf Wiedersehen Kinder, F/D/I 1987, R.  Louis Malle, M. Franz Schubert, Camille Saint-Saëns) • DVD (100 Min.) Optimum, 2006 Being There (USA 1979, R. Hal Ashby, M. Johnny Mandel) Blood Diamond (D/USA 2006, R. Edward Zwick, M. James Newton Howard) Brassed Off (Brassed Off  –  Mit Pauken und Trompeten, GB/USA 1996, R.  Marc Herman, M. Trevor Jones) Breaking Bad (USA 2008–2013, TV: Vince Gilligan) C’era una Volta il West (Spiel mir das Lied vom Tod, I/USA 1968, R. Sergio Leone) • 2 DVD (159 Min.) Paramount Pictures, Frankfurt/M., 2003 Casablanca (USA 1942, R. Michael Curtiz, M. Max Steiner) Carnival of Souls (USA 1962, R. Herk Harvey, M. Gene Moore) Caché (F/AT/D/I 2005, R. Michael Haneke) Calendar (ARM/CA/D 1993, R. Atom Egoyan) Casino (USA 1995, R.  Martin Scorsese, M.  Georges Delerue, Johann Sebastian Bach u. v. a.) Cincinnati Kid (USA 1965, R. Norman Jewison, M. Lalo Schifrin) Cloud Atlas (D/USA/HK/SG 2012, R.  Tom Tykwer. Lana und Lilly Wachowski, M. Reinhold Heil, Johnny Klimek, Tom Tykwer)

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6. Anhang Das Parfüm – Die Geschichte eines Mörders (D/F/SP/USA 2006, R. Tom Tykwer, M. Reinhold Heil, Johnny Klimek, Tom Tykwer) Das Weisse Band (D/AT/F/I 2009, R. Michael Haneke) Death and the Maiden (Der Tod und das Mädchen, USA/F/GB 1994 R.  Roman Polanski, M. Franz Schubert) Der Untergang (D/AT/I 2004, R. Oliver Hirschbiegel, M. Stephan Zacharias, Henry Purcell) Die Ehe der Maria Braun (BRD 1978, R. Rainer Werner Fassbinder, M. Peer Raben) Die Flucht (D 2007, R. Kai Wessel, M. Enjott Schneider) Die Polizistin (D 2000, R. Andreas Dresen) Elephant (USA 2003, R. Gus van Sant, M. Hildegard Westerkamp, SD. Leslie Shatz) • DVD (78 Min.) Arthaus, Leipzig, 2007 Fitzcarraldo (BRD/SP/I/PER 1982, R.  Werner Herzog, M.  Popol Vuh) • DVD (151 Min.) Arthaus, Leipzig, 2006 Gegen die Wand (D, TK, I 2004, R. Fatih Akin, M. …) Giù la testa (Todesmelodie, I/SP 1971, R. Sergio Leone, M. Ennio Morricone) Gladiator (USA/GB 2000, R. Ridley Scott, M. Hans Zimmer, Lisa Gerrard) • 2 DVD (149 Min.) DreamWorks, 2000 Good Morning Vietnam (USA 1987, R.  Barry Levinson, M.  Alex North) • DVD Touchstone Pictures, 2001 Harry Potter I–VII (GB/USA 2002–2011, R. Chris Columbus, Alfonso Cuarón, Mike Newell, David Yates, M. John Williams, Patrick Doyle, Nicholas Hooper, Alexandre Desplat) High Fidelity (GB/USA 2000, R. Stephen Frears, M. Howard Shore) • DVD (109 Min.) Buena Vista, München [o. J.] High Noon (Zwölf Uhr Mittags, USA 1952, R.  Fred Zinnemann, M.  Dmitri Tjomkin) Höstsonaten (Herbstsonate, S 1978 R. Ingmar Bergman) Il Mercenario (I/SP 1968, R. Sergio Corbucci, M. Ennio Moricone) Inception (USA/GB 2010, R. Christopher Nolan, M. Hans Zimmer) Interstellar (USA/GB 2014, R.  Christopher Nolan, M.  Hans Zimmer) • DVD (162 Min.) Warner, Hamburg, 2015 Intolerance – Love’s Struggle Throughout the Ages (Intoleranz – Die Tragödie der Menschheit, USA 1916, R. David Wark Griffith)

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6. Anhang In the Mood for Love (HK/F 2000, R.  Wong Kar-Wai, M.  Shigeru Umebayashi, ­M ichael Galasso) • 2 DVD (94 Min.) Universal Pictures, Hamburg, 2001 Jakob der Lügner (DDR 1974, R. Frank Beyer, M. Iosif Ivanovich, Joachim Werzlau) • DVD (97 Min.) Icestorm, Berlin, 2015 Kill Bill Vol. 2 (USA 2004, R. Quentin Tarantino, M. Ennio Morricone u. v. a.) • DVD (131 Min.) Buena Vista, München, 2004 La Strada (Das Lied der Strasse, I 1954 R. Federico Fellini, M. Nino Rota) Laura (USA 1944, R. Otto Preminger, M. David Raksin) Le Cinquième Élément (Das Fünfte Element, F 1997, R. Luc Besson, M. Eric Serra) • DVD (121 Min.) Universum Film, München, 2009 Le Violon Rouge (Die rote Violine, CAN/USA/I/GB/AT 1998, R. François Girard, M. John Corigliano) • DVD (125 Min.) Concorde, München, 1999 Le Mépris (Die Verachtung, F 1963, R. Jean-Luc Godard, M. Georges Delerue) Match Point (USA/GB 2005 R. Woody Allen, M. Giuseppe Verdi, Gaetano Donizetti, Antônio Carlos C. Gomes, George Bizet, Gioacchino Rossini, Andrew Lloyd Webber) • 2 DVD (119 Min.) Paramount Pictures, Unterföhring, 2006 M – Eine Stadt sucht einen Mörder (D 1931, R. Fritz Lang) Matrix (AUS/USA 1999, R.  The Wachowskis, M.  Don Davis) • 2 DVD (131 Min.) ­Warner, Hamburg, 2004 Memento (USA 2000, R. Christopher Nolan, M. David Julyan) • Monsieur Hire (Die Verlobung des Monsieur Hire, F 1989, R.  Patrice Leconte, M. ­Johannes Brahms, Michael Nyman) Mulholland Drive (F/USA 2001, R. David Lynch, M. Angelo Badalamenti) Nachtgestalten (D 1999, R. Andreas Dresen, M. Cathrin Pfeifer, Rainer Rohloff) Night On Earth (USA 1991, R. Jim Jarmusch, M. Tom Waits) Oh Boy (D 2012, R. Jan Ole Gerster, M. The Major Minors, Cherilyn MacNeil) • DVD (83 Min.) Warner, Hamburg, 2013 Once Upon a Time in America (Es war einmal in Amerika, I/USA/CAN 1984, R. ­Sergio Leone, M. Ennio Morricone) Onegin (Onegin  –  Eine Liebe in Sankt Petersburg, GB 1999 R.  Martha Fiennes, M. Magnus Fiennes) Orlando (GB/RUS/I/NL 1992, R. Sally Potter, M. David Motion, Sally Potter)

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6. Anhang Per un Pugno di Dollari (Für eine Handvoll Dollar, D/SP/I 1964, R. Sergio Leone, M. Ennio Morricone) Platoon (USA 1986, R. Oliver Stone, M. Samuel Barber, Georges Delerue) Pride  &  Prejudice (Stolz  &  Vorurteil, F/GB/USA 2005, R.  Joe Wright, M.  Dario ­Marianelli) • DVD (121 Min.) Universal Pictures, Hamburg, 2006 Psycho (USA 1960, R. Alfred Hitchkock, M. Bernard Herrmann) Psycho (USA 1998, R.  Gus van Sant, M.  Bernard Herrmann, ARR.  Denny Elfman, Steve Bartek) Ronin (FR/USA/GB 1998, R. John Frankenheimer, M. Elia Cmiral) • 2 DVD (116 Min.), Twentieth Century Fox, Frankfurt/M. 2006. Short Cuts (USA 1993, R. Robert Altman, M. Marc Isham) Sostiene Pereira (Erklärt Pereira, I/F/P 1995 R. Roberto Faenza, M. Ennio Morricone) Spur der Steine (DDR 1966, R. Frank Beyer, M. Wolfram Heicking) Syriana (USA 2005, R. Steven Gaghan, M. Alexandre Desplat) Star Wars (USA 1977, R. George Lucas, SD. Ben Burtt) Stay (USA 2005, R. Marc Forster) Taxi Driver (USA 1976, R. Martin Scorsese, M. Bernard Herrmann) DVD (110 Min.) Columbia Tristar, München, 1999 The Fifth Element (Das fünfte Element, F 1997, R. Luc Besson, M. Eric Serra) The Godfather I  +  II (Der Pate I  +  II, USA 1972  + 1974, R.  Francis Ford Coppola, M. Nino Rota) The Great Dictator (Der grosse Diktator, USA 1940, R. Charles Chaplin, M. Charles Chaplin, Meredith Willson) The Hours (The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit, USA/GB 2002, Stephen Daldry, M. Philipp Glass) The Lord of the Rings I–III (NZ/USA 2001–2003, R. Peter Jackson, M. Howard ­Shore) The Mission (GB/F 1986, R. Roland Joffé, M. Ennio Morricone) The Piano (Das Piano, NZ/AUS/F 1992, R. Jane Campion, M. Michael Nyman) The Sweet Hereafter (Das süsse Jenseits, CA 1997, R.  Atom Egoyan, M.  Michael Danna) • DVD (107 Min.) Arthaus, Leipzig 2007 The Truman Show (USA 1998, R. Peter Weir, M. Burkhard Dallwitz, Philip Glass) Toni Erdmann (D/AT/RO/F 2016, R. Maren Ade, M. George Benson)

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6. Anhang Vals Im Bashir (Waltz with Bashir, ISR/F/D 2008, R. Ari Folman, M. Max Richter) • DVD (87 Min.) Pandora, Köln, 2009 Wall•E (USA 2008, R. Andrew Stanton, M. Thomas Newman) Western (D/BUL/AT 2017, R. Valeska Grisebach) Yella (D 2007, R. Christian Petzold, M. Stefan Will) Yentl (GB/USA 1983, R.  Barbara Streisand, M.  Michel Legrand) • DVD (128 Min.) Twentieth Century Fox, 2009 Yôjinbô (J 1961, R. Akira Kurosawa, M. ) Zabriskie Point (USA 1968, R. Michelangelo Antonioni, M. Jerry Garcia, Pink Floyd)

6.2  Verzeichnis der Abbildungen und Noten Abb. 1: Vergleichbarkeit der dramaturgischen Strukturmodelle (nach Campbell, Aristoteles, Freytag, Field und Vogler) → Kap. 1.1.2 »Filmdramaturgie« Abb. 2: Zentrale Aspekte im Modell der geschlossenen und offenen Form im Drama nach Klotz → Exkurs 1: »Geschlossene und offene Form«

Abb. 3: Narrative Ebenen und Instanzen und ihre Kommunikation → Exkurs 2: »diegetisch/non-diegetisch und mimesis/diegesis« Abb. 4: Zusammenwirken von Fabel und Sujet im Prozess von Auswahl, Komposition und Verbalisierung → Exkurs 2: »diegetisch/non-diegetisch und mimesis/diegesis«

Abb. 5: Begriffsvarianten für Fabel und Sujet →  Kap. 1.1.7 »Das Fabel-Sujet-Begriffspaar«

Abb. 6: Filmästhetisch, dramaturgisch und narratologisch abgrenzbare Räume → Kap. 1.3 »Zusammenfassung Kap. 1« Abb. 7: Notenbeispiel Jill will die Farm verlassen aus C’era una Volta il West → Kap. 2.3.2 »Musik, Affekt und musikalischer Gestus«

Abb. 8: Grafik Fabelzusammenhang der Filmmusik →  Kap. 4.4.1 »Definition Fabel­ zusammenhang der Filmmusik«

Abb. 9: Anreicherung und Dynamisierung der Filmfabel in Kill Bill Vol. 2 durch z­ itierte Filmmusik → Kap. 4.4.2 »Thesen zum Fabelzusammenhang der Filmmusik«

Abb. 10: Position der gewählten Beispiele in Matrix im Strukturmodell → Kap. 4.4.4 »Heldenreise«

Abb. 11: Notenbeispiel »Matrix-Akkord« als Ausgangsmaterial →  Kap. 4.4.4 »Heldenreise«

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6. Anhang Abb. 12a-f: Matrix, Notenbeispiel a-f → Kap. 4.4.4 »Heldenreise«

Abb. 13: Anordnung der verschachtelten Episoden in Le Violon Rouge →  Kap. 4.4.6 »Episierende Fabel«

Abb. 14: Multiperspektivische Anlage in Elephant → Kap. 4.4.7 »Offene (dedramatisierte, sujetlose) Fabeltypen« Abb. 15: Systematik der Musik-Bild-Kopplungen →  Kap. 4.6 »Die dramaturgische ­Dimension von Musik-Bild-Kopplungen«

Abb. 16: Leitmotive mit verschiedenen Qualitäten in C’era una Volta il West → Kap. 4.6.8 »Filmmusikalisches Leitmotiv« Abb. 17: Kompositorische Verbindung zwischen Harmonica-Thema, Frank-Thema und Lamentobass → Kap. 4.6.8 »Filmmusikalisches Leitmotiv« Abb. 18: Modell der dramaturgisch vermittelten Beziehungen zwischen Musik und abgebildeter Handlung → Kap. 4.6.9 »Affirmation und Kontrapunkt als dramaturgisch vermittelte Beziehungen«

Abb. 19: Auditive Gestaltungsmittel im Film → Kap. 4.7.1 »Instrumentarium zur Analyse der auditiven Schicht« Abb. 20: Vergleichende Übersicht zur Terminologie der Unterscheidung auditiver Ebenen im Film → Kap. 4.7.1 »Instrumentarium zur Analyse der auditiven Schicht«

Abb. 21: Wer hört was/reagiert worauf? Die Reichweite auditiver Gestaltungsmittel im Film → Kap. 4.7.2 »Erste und zweite auditive Ebene als kategoriales Gerüst« Abb. 22: Modell der auditiven Ebenen → Kap. 4.7.4 »Modell der auditiven Ebenen«

Abb. 23: Fünf dramaturgisch unterscheidbare Bereiche im Modell der auditiven Ebenen → Kap. 4.7.4 »Modell der auditiven Ebenen«

Abb. 24: Filmästhetische Kriterien zur Abgrenzung von Erzählinstanzen, Darstellungsmitteln und Darstellungsgegenstand und die darin erklingenden Phänomene → Kap. 4.8 »Zusammenfassung Kap. 4« Abb. 25: Musik in den Eigenschaftsräumen des Modells der auditiven Gestaltungs- und Wahrnehmungsebenen → Kap. 4.8 »Zusammenfassung Kap. 4«

6.3  Verzeichnis der Personen

In dieser Liste sind nur die Personen aufgeführt, die wegen eines künstlerischen oder wissenschaftlichen Beitrages ein Teil der dargelegten Argumentation oder einer Analyse sind. Sie sind zum Teil zugleich in der Literaturliste, Filmliste oder Liste der erwähnten Musikstücke bzw. literarischen Werke zu finden. Dort werden auch alle anderen im Buch als Autorinnen und Autoren erwähnten, hier nicht aufgelisteten Personen genannt.

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6. Anhang A Antonioni, Michelangelo 68, 82, 177, 181 Adorno, Theodor W. 31, 86, 97 f., 107 f., 119 f., 157, 167, 169, 261, 279–282. Aristoteles 19–36, 43 f., 55–60, 66, 68, 71–75, 84, 92, 105, 110, 128, 148, 222, 249, 314, 351, 354 B Bach, Johann Sebastian 202 Bach, Carl Philipp Emmanuel 108 Bachtin, Michail 98, 134 Balázs, Béla 167 f., 298, 305 Barber, Samuel 332 Barthes, Roland 253 Becce, Giuseppe 116, 162–169, 174, 262, 284, 286, 311 Beethoven, Ludwig van 86–92, 101 f., 107 f., 245 Bergman, Ingmar 68, 168, 177 Berlioz, Hector 108, 289 Bierce, Ambrose 74 Bordwell, David 38, 50–58, 61–64, 66, 69, 73, 75, 79–82, 84, 212, 355 Brecht, Bertolt 20, 68, 71, 127–136, 145, 215 Brown, Royal S. 82–84, 167, 253 Bullerjahn, Claudia 52, 153, 167, 169, 176, 212, Buñuel, Luis 68 Busoni, Ferruccio 180 f., 171 f., 272 C Carrière, Jean-Claude 18 f. Catel, Charles-Simon 285 Chaplin, Charles Spencer 44, 137, 158 f., 274, 296, 338 Chatschaturjan, Aram 208 f. Chatman, Seymour Benjamin 57 f., 79, 84 Chion, Michel 265–270, 276, 316 f., 320 f. Clair, René 122, 273 Cole, Nat »King« (Nathaniel Adams Coles) 243

Coppola, Francis Ford 168, 215 f. Corbucci, Sergio 74, 218 Cornelius, Peter 89 Czerny, Carl 101 f., 105 f. D Dahlhaus, Carl 19, 26, 38, 44, 48, 84 Debussy, Claude 95 Delerue, Georges 217, 332 Deleuze, Gilles 52, 153, 298 E Eco, Umberto 42, 66, 70, 73, 76 f., 80, 211 Eisenstein, Sergej M. 66, 115,119–122, 134, 183, 263 f., 272–274, 280 f. Eisler, Hanns 31, 119 f., 157, 167, 169, 171, 261, 263, 264, 279–282 Ejchenbaum, Boris 122, 186, 218, 267 Erdmann, Hans 116, 164–169, 174, 262, 284, 286, 304, 311 F Flückiger, Barbara 22, 51, 53, 77, 89, 131, 253, 262–272, 276–278, 301, 317, 319, 331 Freytag, Gustav 21, 34, 37, 71, 105, 180, 222, 241 G Galasso, Michael 242 f. Garcia, Jerry 181 Gasparyan, Djivan 256–258 Genette, Gérard 52–57, 60, 62, 67, 79, 81, 84, 212, 298, 304 f. Gerrard, Lisa 204, 255 f. Grétry, André-Ernest-Modeste 285 Godard, Jean-Luc 166, 217 Goldoni, Carlo 74, 218 Goldsmith, Jerry 208 Gorbman, Claudia 51–64, 81, 84, 87, 167, 195, 201, 285 f., 303 f., 355

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6. Anhang H Hanslick, Eduard 86, 93 Harnoncourt, Nikolaus 103 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 32, 34, 45 f., 87, 92, 143 f., 180 Herrmann, Bernard 268, 271, 287 Hitchcock, Alfred 125, 153, 156 f., 167, 268 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 89, 108 Horner, James 74, 206, I J Jähns, Friedrich Wilhelm 285 Jean Paul (Richter, Jean Paul Friedrich) 87, 89 f, 108, 294 Josquin Desprez 202 K Kandinskij, Vassilij 272 Koch, Heinrich Christoph 89, 100 f., 103 Kracauer, Siegfried 62, 172, 196, 273, 277, 208 f., 298, 304 f. Kurth, Ernst 289 L Lang, Fritz 122, 125, 281, 317 Legrand, Michel 324, 338 Lessing, Gotthold Ephraim 19 f., 34, 68, 71, 73, 75, 105 Leone, Sergio 74, 146, 218 f., 291, 322 Ligeti, György 208 f. Lissa, Zofia 82, 84, 87, 114, 142, 166–170, 174, 196, 212, 217, 228, 262, 280–286, 298 f., 304, 310–312 Lotman, Jurij M. 72, 78, 80, 83, 148–152, 360 M Mann, Thomas 294 Mahler, Gustav 94, 96–98, 108 Majakowskij, Wladimir 134

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Méhul, Étienne-Nicolas 91, 285 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 208 Miceli, Sergio 287 f., 304, 321, 325, 347 Monteverdi, Claudio 202 Morricone, Ennio 117, 136, 146, 168, 218 f., 235, 287, 291, 294, 321 f., 339 Mozart, Wolgang Amadé 145, 285, 337 Münsterberg, Hugo 138 Murch, Walter 122, 141, 216, N North, Alex 208 f., 275, 305 Nyman, Michael 136 O P Piscator, Erwin 129 Platon 33, 36, 55–59, 110, 354, Propp, Vladimir 35, 225 Q R Rabenalt, Peter 32, 34, 76, 82, 166 f., 174 f., 177, 212, 233, 294, Raksin, David 125, 287 Reicha, Antonín 104–106 Rimskij-Korsakov, Nikolaj Andreevič 285 Rota, Nino 168, 215–217 S Sant, Gus van 245, 248, 268 Scorsese, Martin 136, 168, 217, 257, 270–272 Schklowskij, Viktor B. 135 ­Schmid, Wolf 30, 52, 58, 60, 63–66, 73, 79, 80, 63 f. ­Schmidt, Hans-Christian 123, 125, 174, 199, 341 Schmitt, Arbogast 19–24, 42, 55, 59 f., 70–73, Schneider, Norbert Jürgen 167, 172–174, 195 f., 258

6. Anhang Steiner, Max 51, 94, 168, 195, 287 Schumann, Robert 89 f., 108 Sophokles 21, 24, 30, 71, 232 f. 235 Souriau, Anne 53–56, 60, 63, 67, 81, 304 f., 314, 355 Souriau, Étienne 53–56, 60, 63, 67, 81, 304 f., 314, 355 Sterne, Laurence 108, 294 Strauß, Johann 208, Strauss, Richard 44, 94, 97, 208–210 Suckfüll, Monika 28, 142–144, 155, 176 T Tarkovskij, Andreij A. 28, 33 f., 68, 70, 76, 161, 209, 218 Thompson, Kristin 38, 48, 50, 53–55, 61–64, 75, 80, 355 Tjomkin, Dmitri 123, 341 Todorov, Zwetan 52, 84, 298 Tomaševskij, Boris W. 79, 81, 84, 212, 298 Truffaut, François 156–158

U Umebayashi, Shigeru 242 f. V Vogler, Christopher 35, 37 W Wagner, Richard 38, 86, 89, 93 f., 98, 159, 180 f., 284 f. 287–290, 296, 338 Weber, Carl Maria von 285 Wolzogen, Hans Paul Freiherr von 285 Wong, Kar-Wai 76, 242 f. Weill, Kurt 117, 127, 129, 145, 170–172, 179, 213 Westerkamp, Hildegard 245–248 Woolf, Virginia 206, 249 f. X Y Z

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6. Anhang

6.4  Verzeichnis der Musikstücke und literarischen Werke Arlecchino servitore di due padroni (1746, Theaterstück), Carlo Goldoni Adagio for strings, op. 11 (1938), Samuel Barber An der schönen blauen Donau (1867), Johann Strauß An Occurrence at Owl Creek Bridge (1890, Kurzgeschichte), Ambrose Bierce Also sprach Zarathustra, op. 30 (1896), Richard Strauss Atonement (2001, Roman), Ian McEwan Careful with That Axe, Eugene (1968), Pink Floyd Ciaccona für Violine solo aus der Partita d-Moll, BWV 1004 (1717/20), Johann Sebastian Bach Crucifuxus, Messe h-Moll BWV 232 (1748/19), Johann Sebastian Bach Donauwellenwalzer (1880), Iosif Ivanovich Der fliegende Holländer (1841), Richard Wagner Der Ring des Nibelungen (1848–76, Musikdramatischer Zyklus), Richard Wagner Die Zauberflöte (1791, Oper), Wolfgang Amadé Mozart Ein Kind (1982, Roman), Thomas Bernhard Ein Sommernachtstraum (op. 61), Scherzo (1826), Felix Mendelssohn-Bartholdy Für Elise (Bagatelle für Klavier Nr. 25, WoO 59) (1810), Ludwig van Beethoven Greatest Love of All (1977), George Benson, gesungen von Sandra Hüller Hit the Road Jack (1961), Percy Mayfield, gesungen von Ray Charles und Margie ­Hendricks King Lear (1606, Drama), William Shakespeare King of Sorrow, Sade (Album Lover’s Rock, 2000) Lohengrin (1850, Oper), Richard Wagner Heart Beat, Pig Meat (1968), Pink Floyd High Fidelity (1995, Roman), Nick Hornby Ilias (8. Jahrhundert v. d. Z., Epos), Homer Klaviersonate Nr. 14, op. 27, Nr. 2 (1801, sog. Mondscheinsonate), Ludwig van Beethoven Klaviersonate Nr. 17, op. 31, Nr. 2 (1802, sog. Sturmsonate), Ludwig van Beethoven

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6. Anhang Lamento d’Arianna (1608), Claudio Monteverdi Mille regretz (gedruckt 1549, Chansonmotette), Josquin Després Mrs. Dalloway (1925, Roman), Virginia Woolf Moment musical Nr. 2 As-Dur für Klavier, D 780 (op. 94) (1828), Franz Schubert, Oidípous Týrannos (ca. 425 v. d. Z., Tragödie), Sophokles Orlando (1828, Roman), Virginia Woolf Otello (Oper, 1887), Giuseppe Verdi Plusieurs regtetz (gedruckt 1545, Chansonmotette), Josquin Després Préludes für Klavier (1910–1913), Claude Debussy Quizás, quizás, quizás (1947), Osvaldo Farrés, gesungen von Nat King Cole Rondo capriccioso (op. 28) (1863), Camille Saint-Saëns Se telefonando (1966), Ennio Morricone, Ghigo De Chiara / Maurizio Costanzo (gesungen von Mina) Sinfonie Nr. 3, Es-Dur op. 55 (sog. Eroica, 1803), Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr. 5, c-Moll op. 67 (1808), Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr. 6, F-Dur op. 68, (sog. Pastorale, 1808), Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr. 7, A-Dur op. 92 (1812), Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr. 9, e-Moll op. 95 (B 178, sog. Aus der Neuen Welt, 1892–1895), Antonin Dvořák Sinfonie op. 14 (Épisode de la vie d’un artiste, symphonie fantastique en cinq parties, 1829, sog. Symphonie fantastique, op. 14), Hector Berlioz Türen der Wahrnehmung (1995, Klangkomposition), Hildegard Westerkamp The Hours (1998, Roman), Michael Cunningham The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman (1759/67, Roman), Laurence Sternes Tristan-Vorspiel zum 1. Akt (1865), Richard Wagner What a wonderful world (1960), George David Weiss / Bob Thiele (gesungen von Louis Armstrong) When I’m laid in earth (Arie aus: Dido and Aeneas, 1689), Henry Purcell Die Zauberflöte KV 620 (1791, Oper), Wolfgang Amadé Mozart Zeit und Werk. Tagebücher, Reden und Schriften zum Zeitgeschehen (1956), Thomas Mann

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6. Anhang

6.5 Internetquellen

Artikel aus Online-Zeitschriften sind ausschließlich in der Literaturliste aufgeführt. Arbeitsgruppe »Dramaturgie«: http://www.theater-wissenschaft.de/forschung/­ arbeitsgruppen/#dramaturgie [letzter Zugriff: 22.10.2019] Forum 2: Discourses on Diegesis: On the Relevance of Terminology: http://offscreen. com/view/soundforum_2 [letzter Zugriff: 28.10.2019] Wiki von Dramaqueen: http://dramaqueen.info/wiki/was-ist-dramawiki/ [letzter Zugriff: 22.10.2019] sowie: http://dramaqueen.info/wiki/film-und-dramatur gie/#Filmdramaturgie [letzter Zugriff: 22.10.2019] Jivan Gasparyan (Duduk), Filmliste: http://www.imdb.com/name/nm0309222/? ref_=ttfc_fc_cr704 [letzter Zugriff: 22.11.2018] Interview mit Gus van Sant: www.geraldpeary.com/interviews/stuv/van-sant-ele phant.html [letzter Zugriff: 3.12.2019] Cristina Nord, »Verdammt zu ewiger Bewegung« – Christian Petzolds Film »Yella«: http:// www.taz.de/?id=archivseite&dig=2007/02/15/a0326 [letzter Zugriff: 28.10.2019] Arbogast Schmitt, »Aristoteles’ Poetik. Grundlegung einer Theorie der Literatur in Europa« in der Veranstaltungsreihe des SFB 980 »Episteme in Bewegung«: http://www.sf bepisteme.de/Listen_Read_Watch/Audiomitschnitte/RV_Aristotelismen/ 1_vortrag_schmitt/index.html [letzter Zugriff: 23.10.2019] Andrea Seier, The greatest Schnuck of all. Über Väter und Töchter im Film Toni Erdmann: https://www.zfmedienwissenschaft.de/online/blog/greatest-schnuckall [letzter Zugriff: 3.12.2019] Lexikon der Filmbegriffe, Art. mise-en-scène, http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php? action=lexikon&tag=det&id=4741 [letzter Zugriff: 15.11.2019]

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6. Anhang

6.6 Literaturverzeichnis Abbate, Carolyn (1991), »What the Sorcerer Said«, in: Unsung voices: Opera and musical narrative in the nineteenth century, Princeton, N. J.: Princeton University Press. S. 31–60. Adorno, Theodor W. (1960/1969), Mahler: Eine musikalische Physiognomik, Bibliothek Suhrkamp / Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. und Eisler, Hanns (1944/2006), Komposition für den Film, hg. v. ­Johannes Gall, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Aerts, Hans (2007), »›Modell‹ und ›Topos‹ in der deutschsprachigen Musiktheorie seit Riemann«, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie ZGMTH, 4/1-2 (2007), Hildesheim [u. a.]: Olms. S. 143–158. Almén, Byron (2008), A Theory of Musical Narrative, Musical Meaning and Interpretation, Indiana: Indiana University Press. Altman, Rick (1987), The American Film Musical, Bloomington [u. a.]: Indiana University Press. Aristoteles (ca. 335 v. Chr./2008), Poetik, hg. v. Schmitt, Berlin: Akademie Verlag Berlin. Asmuth, Bernhard (2004), Einführung in die Dramenanalyse, Sammlung Metzler, Stuttgart u. a.: Metzler. Bachtin, Michael (1929/dt. 1985), Probleme der Poetik Dostojewskis, Frankfurt/M.: Ullstein. Bandur, Markus (2002), »Plot und Rekurs – ›eine gantz neue besondere art‹?: Analytische Überlegungen zum Kopfsatz von Joseph Haydns Streichquartett op. 33,1«, in: Haydns Streichquartette: Eine moderne Gattung, Musik-Konzepte 116, München: edition text+kritik. S. 62–84. Barba, Eugenio und Savarese, Nicola (1991), The secret art of the performer: a dictionary of theatre anthropology, London; New York: Published for the Centre for Performance Research by Routledge. Bazin, André (1958/2009), Was ist Film?, Berlin: Alexander Verlag. Becker, Jens (2012), Figuren und Charaktere: Das Enneagramm als Werkzeug für Drehbuchautoren und andere Kreative, Berlin: Vistas.  Becker, Jens (2014), Das Drehbuch-Tool: Eneagramm 2.0, e-book: https://drehbuch-tool.de/ eBook.html: Jens Becker. Beil, Benjamin, Kühnel, Jürgen und Neuhaus, Christian (2012), Studienhandbuch Film­ analyse: Ästhetik und Dramaturgie des Spielfilms, UTB, München: Wilhelm Fink. Benjamin, Walter (1935/1963) Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Drei Studien zur Kunstsoziologie, Edition Suhrkamp: Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bernhard, Thomas (1982/2012), Ein Kind, München: dtv.

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6. Anhang

6.7 Glossar psychologischen Seite verstanden werden. »absolute« Musik Bezeichnung aus dem 19. Jahrhundert, um Der filmmusikalische Affektbegriff ist mit Musik als höchste, dem göttlichen Prinzip der musikalischen Illustration von simplifiam nächsten stehende Kunst zu bezeichnen, zierenden, kategorisierten Gemütsregunda sie durch ihren Abstraktionsgrad, losge- gen verknüpft oder steht für meist kurzlelöst vom prosaischen und pragmatischen bige emotive Reaktionen in konventionelAlltag, die ideelle und emotionale Welt des len dramaturgischen Kontexten. Hier wäre Menschen am universellsten ausdrücken die Unterscheidung von → Mitaffekt und könne. Derselbe Begriff wurde auch zur Eigenaffekt zu berücksichtigen. Vor allem Abwertung benutzt, da nach Ansicht von außerhalb konventioneller Dramaturgien R. Wagner und seiner Anhänger die künst- kann der Affektbegriff durch den Begriff lerische Vollendung im »Gesamtkunst- des →  Gestus ersetzt werden, der soziale werk« (→ musikalisches Drama) läge, was Konnotationen berücksichtigt. mit »absoluter« Musik nicht möglich sei. Für den heutigen Gebrauch ist zur Vermei- Affirmation dung einer ideologischen Debatte die Be- Mit Affirmation kann eine Beziehung zwizeichnung »autonome Musik« geeignet, schen Musik und Handlung zum Ausdruck um zum Ausdruck zu bringen, dass die gebracht werden, die darauf hinausläuft, meiste Musik durch ihren gegenüber ande- dass Filmmusik die gezeigten Vorgänge beren Künsten höheren Abstraktionsgrad stätigt. Affirmation lässt sich insbesondere weitgehend losgelöst von der Konkretheit bei weitgehend konventioneller Dramaturder Lebenswirklichkeit existieren kann, gie differenzieren in affektorientierte, begänzlich nach innen gerichtet ist, um ihrer wegungsorientierte und dialogorientierte selbst willen besteht und ggf. eine transzen­ Affirmation. Affirmative Kompositionstechdentale Dimension hat. niken bzw. An­­wendungen von Musik sind z. B. psychologisierendes underscoring (unterAffekt streicht innere Vorgänge in der GefühlsBegriff für die Darstellung oder Erzeu- welt der Figuren), bewegungsorientiertes gung von Gefühlen in der Kunst und Rhe- underscoring (unterstreicht äußere Vorgänge torik. Affektsysteme versuchen, über die der belebten und unbelebten Natur) und individuelle Wirkung eines Affektes hinaus mickey mousing (synchronpunktgenaue mudie Gemeinsamkeit von emotiven Wirkun- sikalische Entsprechung von Bewegung, gen bei einer großen Gruppe von Men- Geräusch oder Tonraum). schen und vergleichbaren Kunstgattungen als überindividuelle Affekte zu kategorisie- Ahnungsmotiv ren. Affekte können nicht mit Emotionen → Leitmotiv/Leitthema gleichgesetzt werden, da Emotionen als prozessuale, komplexe Phänomene beste- Aktanten → Heldenreise hend aus Rückkopplungen und Bewertungen mit einer physiologischen und einer

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6. Anhang aktiver/passiver Darstellungs­ gegenstand Begriffe für die unterschiedliche narrative Wirksamkeit von Klängen (Geräuschen oder Musik) innerhalb des imaginativen → Handlungsraums. Mit ihnen kann ausgedrückt werden, ob Geräusche und Musik daran beteiligt sind, eine Handlung zu erzählen (durch Zeigen oder durch Auslösen von Handlungen) oder ob sie der Ausstattung dienen, d. h. ohne konkrete Folgen für die Handlung bleiben aber den Handlungsraum hinreichend glaubwürdig auditiv repräsentieren. In Abhängigkeit zu diesen Bedeutungen ändert sich das konkrete auditive Design zum Erreichen einer passenden → sensorischen Qualität, die in der → Mischung festgelegt wird. Aktstruktur Mit dem Begriff Aktstruktur kann die strategische Gliederung eines Dramas differenziert und bezeichnet werden. Ein Akt vereint zusammengehörige Szenen, die in der Regel zu einem Handlungsort gehören, an dem sich Figuren und Vorgänge kreuzen. Aktübergänge erlauben somit Ortswechsel. Damit geht das Bühnendrama auf die reglementierten Bedingungen im Theater ein. Szenen gehören aber auch inhaltlich zusammen, z. B. wenn bestimmte Phasen der Handlung (Exposition, Intrige und Gegenintrige, Beschleunigung, Verlangsamung, Höhepunkt, ausklingender Akkord) zusammengefasst werden. Aus diesem Grund lässt sich das Prinzip der Aktstruktur auch auf den Film anwenden. Grob lassen sich zunächst zwei Phasen ausmachen, die G. Freytag (Freytag 1863) als steigende und fallende Handlung, Aristoteles (Aristoteles ca. 335 v. d. Z.) als Verwicklung (auch mit Verknotung oder Schürzung des Knotens

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übersetzt) und Lösung bezeichneten und die ungefähr in der Mitte ihren Umkehrpunkt (Peripetie) haben. Dieser als Wendepunkt (midpoint) bezeichnete Umschlag der Handlung bzw. sog. Glücksumschlag (Scheitern einer ersten Lösung, Gefahrenpunkt) beruht dem aristotelischen Ideal nach auf einer wesentlichen, bis dahin unbekannten Information oder Entdeckung, die aber das gesamte folgende Geschehen beeinflusst und bei den Figuren zur Erkennung von Zusammenhängen und Hintergründen (anagnō´risis) führt. Die aus steigender und fallender Handlung bestehende Handlungskurve darf nicht mit der Spannungskurve verwechselt werden. Die sog. fallende Handlung, bei der sich alles zuspitzt, beschleunigt und auf die Lösung zueilt, sorgt für steigende Spannung. Es gibt meist mehrere, aufeinander aufbauende Wendepunkte (plot points), die der Handlung eine unumkehrbare Richtung geben, damit die Spannungskurve bis zum Ende steigt. Aus dieser Grundform ergibt sich naheliegend das häufig anzutreffende 3-Akt- bzw. 5-Akt-Schema. Im 3-AktSchema dient der 1. Akt der Exposition, der 2. Akt enthält das erregende Moment und den Höhepunkt, der 3. Akte die Lösung. Im 5-Akt-Schema widmet sich der 3. Akt der Vorbereitung und Gestaltung des Höhepunkts, während der 2. und 4. Akt bestimmte Stationen der Verwicklung bzw. Lösung ausdifferenzieren (2. Akt: erregendes Moment, Nebenfiguren und -handlung, 4. Akt: retardierendes Moment zur Steigerung der Spannung, Aufgreifen von im 2. Akt angelegten Nebenhandlungen). Tendenziell sind aber auch vier-, zwei- oder sogar einaktige Anlagen denkbar, je nach dem wie stark konventionelle Dramaturgien (→  aristotelische Dramaturgie) berücksich-

6. Anhang tigt werden. Bei mehr als fünf Akten verwendet die Filmdramaturgie und Filmanalyse Phasenmodelle (6–12 Phasen), die damit zugleich den romanhaften, in Kapiteln geordneten Anteilen des Films gerecht werden. Damit entstehen ggf. Überlappungen mit weiteren Modellen, z. B. der →  Heldenreise. akusmatisch Bezeichnung für Phänomene, deren Ursprung oder Bedeutung verdeckt, verfremdet oder verfälscht werden bzw. ambivalent sind und daher nicht mehr auf ihre ursprüngliche Erzeugung und Bedeutung (Instrument, Material, Kontext usw.) verweisen. Besonders in der Theorie zur elektronischen Musik verbreiteter Begriff, da erst in der Aufführung dieser Musik durch ein Lautsprecherorchester der Klang real wird, seine Entstehung aber immateriell bleibt. Im Film können alle nicht-referenziellen Klänge im Sound Design und unbestimmbare musikalische Anteile, die im Grenzbereich zum Geräusch liegen, sowie Musik, die zum imaginativen →  Handlungsraum assoziiert werden kann, dort aber nicht nachgewiesen wird, als akusmatisch bezeichnet werden. Da ihre Verortung im imaginativen Handlungsraum kaum möglich ist und solche Klänge auch nicht eindeutig der externen Musik zugerechnet werden, können sie dem → mittelbaren auditiven Darstellungs- und Wahrnehmungsraum (der mittelbaren Ebene) zugerechnet werden. Anachronie → Montage anagnṓrisis → Aktstruktur

analytische Fabel Bezeichnung für eine Fabelidee, die darauf basiert, dass das auslösende Ereignis für Konflikte und Verwicklung nicht Teil der gezeigten Handlung ist, sondern vor Beginn der eigentlichen Handlung liegt. Der dramaturgische Fokus liegt demnach auf der »Analyse« der zu Beginn der Handlung noch unbekannten Auslöser und Vorgänge. Urbild der analytischen Fabel und damit für ein ganzes Genre, den Kriminalfilm, ist die bei Sophokles zu findende Idee, die ohnehin bekannte Sage des Ödipus so zu erzählen, dass die Spannung dadurch entsteht, dass Ödipus bereits König ist und in der Vergangenheit nach den Ursachen für den Fluch über seine Stadt forscht, bis er sich selbst als Verursacher ermittelt – eine spezielle Pointe, die durch diesen Fabeltypus möglich wird. (siehe auch → Fabel)

aristotelische Dramaturgie Bezeichnung für Merkmale zur Konzeption und Umsetzung eines Dramas, die laut den Beobachtungen von Aristoteles (ca. 335 v. d. Z.) gute und schlechte Dramen (genauer: Mythostragödien) sowie Epen unterscheiden. Ideale Dramen haben eine besonders schlüssige und wirkungsvolle Fabelidee (→  Fabel). Anfang, Mitte und Ende sind logisch entwickelt und im Drama ebenso wie Anzahl der Figuren, Zeiträume und Orte auf ein überschaubares Maß begrenzt (später verdichtet zum Gebot der Einheit von Handlung, Zeit und Ort). Jeder Teil des Ganzen erfüllt eine spezifische Funktion an seiner Position im Ablauf. Ein Vorgang oder entwickelter Konflikt findet dabei seine folgerichtige Fortsetzung und Lösung (im Drama: die Kausalkette), sodass nur die

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6. Anhang tatsächlich notwendigen Teile und Mittel im ganz offensichtlich daran orientierten der Umsetzung Verwendung finden. Beim Hollywoodkino. Alternative Konzepte zur Wegfall oder Umsetzen eines Teils des aristotelischen Dramaturgie finden sich Ganzen würde die Gesamtarchitektur in u. a. in den Dramen von Büchner und sich zusammenfallen (Unverrückbarkeit Strindberg, in den Schriften von Brecht der Teile). Die Vorgänge entwickeln sich (1964a) und Tarkovskij (1985) oder lassen nach den Gesetzen der inneren Notwen- sich z. B. aus Filmen von Buñuel, Antodigkeit und äußeren Wahrscheinlichkeit nioni, Bergman oder Kaurismäki ableiten. und sind um einen zentralen Helden (selten Einige davon können zur offenen Form eine zentrale Heldin) herum organisiert (→ geschlossene und offene Form) gerech(→ geschlossene und offene Form). Aristo- net werden. telische Dramaturgie rückt erstmals das Publikum ins Zentrum der theoretischen audiovisueller Kontrapunkt und praktischen Überlegungen zum → Kontrapunkt Drama und zielt in der Umsetzung auf →  Einfühlung. Die Eigenschaften einer auditive Ebenen zentralen Figur, von der es nach aristoteli- Bezeichnung für die Unterscheidung von scher Theorie zu erzählen lohnt (später Musik und Ton, die entweder als Teil der aufgegriffen als sog. Ständeklausel), ste- Szene und gezeigten Handlung (→  handchen aus den allgemeinen Eigenschaften lungsbedingte Musik) intern auf der ersten der Menschen heraus. Einfühlung kann aus auditiven Ebene oder als von außen komzweierlei erwachsen: Zum einen zwingen mende Zuordnung bzw. extern auf der Fehler, die dem edlen Charakter trotz sei- zweiten auditiven Ebene verstanden wird. ner herausstechenden Eigenschaften unter- Die zweite auditive Ebene kann als psycholaufen und die einfache Menschen (das Pu- logische Absicherung verstanden werden, blikum) auch kennen, zu Verwicklungen. die den Spielcharakter der Kunstform aufZum anderen widerfährt der Hauptfigur rechterhält. Die Unterscheidbarkeit der unverdient Leid. Darauf basierend empfin- beiden auditiven Ebenen ist dabei nicht det das Publikum umso mehr mit der Figur zwingend akustisch gegeben, sondern be(→ Mitaffekt und Eigenaffekt). Im Konzept ruht auf Rezeptionsvereinbarungen, woder aristotelischen Dramaturgie ist Kathar- nach Musik ohne Quelle im →  imaginatisis das folgerichtige Auflösen von Affekten, ven Handlungsraum von den Autoren des die auf Grundlage der Einfühlung beim Films verantwortet wird, source music bzw. Publikum entstanden sind, weil ein Kon- handlungsbedingte Musk hingegen zur flikt durch Zurückführung auf seine Ur- Ausstattung der Szene und Verantwortung sprünge aufgelöst und die schicksalhafte der Figuren gehört. Damit das dramaturgiErfüllung der in Gang gesetzten Ereignisse sche Wirkungsspektrum von Musik erfasst vollzogen wurde. Somit führt selbst eine werden kann, ist ein Modell der auditiven tragisch endende Handlung zur morali- Ebenen nötig, das deutlich werden lässt, schen Erbauung und Unterhaltung. Im Ki- wie Filmschaffende durch Zuordnung von nofilm sind die Gebote der aristotelischen Musik und durch die Montage auf beiden Dramaturgie vielfach zu finden, nicht nur Ebenen Inhalt und Wirkung beeinflussen.

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6. Anhang Dazu müssen beide Ebenen noch einmal differenziert werden in intern-kommentierend und extern-nachahmend. So kann in der Montage und einem dadurch zum Ausdruck kommenden kommentierenden Impuls interne Musik eine ähnlich kommentierende Wirkung bekommen wie Musik der zweiten auditiven Ebene. Sie behält aber ihre besondere Glaubwürdigkeit aus der konkreten Handlung und dem Handlungsraum bei. Externe Musik kann wiederum durch ein hohes Maß an →  Affirmation und ihren →  mimetischen Impuls nahezu mit den Vorgängen der konkreten Handlungen verschmelzen. Dennoch zeigt sie die ordnende, kommentierende und ggf. manipulativ wirkende Hand einer externen Erzählinstanz an, weswegen sie Teil der zweiten auditive Ebene bleibt. Da viele Klänge und Musikanteile ambivalent bleiben (darunter die →  Gedankenstimme, Musikanteile des Handlungsraums in externer Musik) oder nach logischen Erwägungen sogar paradox in der Zuordnung sind (Musik im Musical, Figurenrede, die die → »vierte Wand durchbricht«), können solche Eigenschaften dem →  mittelbaren auditiven Darstellungs- und Wahrnehmungsraum (der mittelbaren Ebene) zugeordnet werden. Dieser Bereich der auditiven Schicht hebt das kategoriale Gerüst aus zwei auditiven Ebenen, vor dem sich die grundlegenden dramaturgischen Wirkungen von Musik und Ton entfalten, vorübergehend, genrebedingt oder als Stilmittel fast vollständig auf. Dann erschließt sich das Publikum eine poetische Legitimation für Ton und Musik. Stabilität bzw. Instabilität und das Zusammenspiel der auditiven Ebenen spiegeln nicht selten ein Wesensmerkmal der im Film verhandelten Geschichte, ihrer Teilmomente oder der hier-

für als am geeignetsten angesehenen Form wider, die den erzählerischen Tonfall, aber auch die Deutung der Vorgänge beeinflusst. auktoriale Erzählstimme → ­Diegese/diegetisch/diegesis Aurikularisierung → Fokalisierung autonome Musik → »absolute« Musik beigeordnete Musik → auditive Ebenen Beiseite-Sprechen Eine im Theater verbreitete Rezeptionsvereinbarung, wonach es möglich ist, dass eine Figur zum Publikum (→  »vierte Wand«) oder mit sich selbst spricht (innerer Monolog), ohne dass die anderen anwesenden Figuren auf der Bühne dies bemerken. So können im →  dramatischen Erzählmodus exklusive Informationen auch ohne →  epischen Erzähler an das Publikum gelangen. Die filmischen Entsprechungen für das Beiseite-Sprechen sind im → voice over einer Figurenerzählerin/eines Figurenerzählers (voice over Typ II) oder in der inneren Stimme einer Figur (voice over Typ III → Gedankenstimme) zu finden (siehe auch → auditive Ebenen).

cue Bezeichnung aus dem Jargon der Filmpraxis, für festgelegte Musikeinsätze und ggf. das genaue Timing der Musik. Die musikalische Ausarbeitung muss dabei noch nicht feststehen. Oftmals simulieren sogenannte temp(orary) tracks oder →  präexistente Musik als Platzhalter die Wirkung einer einsetzenden (oder endenden) Musik.

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6. Anhang dedramatisierte Fabel Bezeichnung für eine Fabel, die nicht den Geboten der →  aristotelischen Dramaturgie oder der → geschlossenen Form folgt. Die Bindungsgesetze liegen ganz ähnlich zur → offenen Form hier nicht (oder nicht ausschließlich) in kausalen Bezügen. Vielmehr reihen sich Ereignisse aneinander, die durch ein Thema zusammengehalten werden oder nur einen bestimmten Ausschnitt des behandelten Themas zeigen. Der Ablauf der Handlung kann durch Bildtafeln, Musiknummern, Berichte, metaphorische Einschübe, fremde Szenen, nicht-chronologischen Ablauf, Wiederholungen usw. unterbrochen werden. Konflikte, die nahliegend erscheinen oder entwickelt wurden, werden nicht wieder aufgegriffen oder weiterentwickelt, damit Hintergründe reflektiert werden können. Der Begriff wird insbesondere plausibel im Nachgang zum epischen Theater, das sich gegen Einfühlung wendet, weil diese nach B. Brecht (1964a) die Änderbarkeit der realen Lebensumstände verschleiere, in dem Vorgänge als schicksalhaft erscheinen (vgl. →  aristotelische Dramaturgie). Die Erzählmodi → dramatisch und → episch werden hierbei als Gegenpole verstanden, die einmal auf Einfühlung, Affekt und Spannungsaufbau abzielen, beim Epischen dagegen auf die Möglichkeit, hinter der Schilderung der Ereignisse tiefere Zusammenhänge und andere Arten emotionaler Beteiligung zu erschließen. Diegese/diegetisch/diegesis Seit Souriau (1951) für den Film verwendeter Begriff, um das bloße Medium Film (Bewegtbild mit dazugehörigem Ton) abzugrenzen von der Vorstellung eines virtuellen Raumes im Film, der nur in der Fan-

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tasie des Publikums entsteht (→  Handlungsraum). In dieser Deutung des antiken Begriffs kann damit die erzählte bzw. gezeigte fiktive Welt bezeichnet werden, in der sich eine Geschichte abspielt (oft auch filmische Realität genannt, obwohl dies dem Souriau’schen Modell der »filmischen Realitäten« widerspricht, in dem die Diegese nur eine von sieben Ebenen bildet). Diegetische Musik wäre demnach die Musik, die intern, d. h. als Teil der aktiven, gezeigten Handlung der Figuren erklingt (→  handlungsbedingte Musik). Sie wird klanglich in der →  Filmmischung den simulierten Gegebenheiten des virtuellen Raumes angepasst und kann von den Figuren wahrgenommen werden – im Gegensatz zur beigeordneten, externen, d.h. außerhalb des Handlungsraums befindlichen und von Film- und Filmmusiktheorie demnach meist non-diegetisch oder extradiegetisch genannten Musik. Unabhängig davon, dass die Bezeichnung non-diegetisch in der Wortbedeutung unklar bleibt, resultieren aus dem Begriffspaar diegetisch/ non-diegetisch eine Reihe von Schwierigkeiten, weil viele filmästhetische Eigenheiten, insbesondere Phänomene als Ergebnis der filmischen Montage, unbeachtet bleiben. Diegesis in seiner auf den griechischen Ursprung verweisenden Schreibweise kann für die schon bei Platon zu findende Abgrenzung von der mimetischen Form des Erzählens verwendet werden (vgl. → Nachahmung/mimesis). Der Begriff diegesis bezeichnet dann einen Modus des Erzählens, der aber nach Aristoteles ebenfalls – wenngleich indirekt – nachahmt, da Handlungen nicht vorgeführt werden, sondern von ihnen nur mündlich oder schriftlich (im Film auch bildlich) berichtet wird. Eine Erzählinstanz (figural oder auktorial) spricht

6. Anhang von den vergangenen Vorgängen und kann dabei die Abfolge (im Vergleich zum mimetischen Modus und dessen Gegenwärtigkeit) anders und in größerer Formenvielfalt strukturieren. Für die konventionelle Terminologie der Filmmusik würde das allerdings eine entgegengesetzte Bedeutung zum derzeitigen Gebrauch des Begriffes nach sich ziehen, da dann die Musik auf der zweiten →  auditiven Ebene, die diese Erzählinstanz repräsentieren kann, als diegetische Musik oder Sprache und in der Folge die Musik oder Sprache in der Handlung als mimetisch anstatt diegetisch bezeichnet werden müsste (vgl. auch → fictional/extra-fictional music)

dramatisch Wichtigstes Merkmal des dramatischen Erzählmodus und Unterschied zum →  epischen ist die durch Figuren aktiv und in wirklichkeitsnaher Präsenz gezeigte Handlung, in der sich Konflikte als treibende Kraft für die Entwicklung der Vorgänge zeigen. Diese werden in chronologisch ablaufender Form durchgeführt und als kausaler Zusammenhang präsentiert. Besondere Mittel sind der Dialog, Überschaubarkeit von Raum, Zeit und Figuren(ensemble) und die Gliederung in Szenen und Akte. Das dramatische Prinzip der Entwicklung der Handlung aus den Triebkräften äußerer und innerer Konflikte, die in ein sichtbares Handeln der Protagonisten führen und das nach dramaturgischen Gesetzen Aufschub oder Beschleunigung der Lösung erfährt, bedarf im Film nicht zwingend der substanziellen Ergänzung durch Musik. Dennoch ist es für viele Gattungen des Films obligatorisch, mit Musik die dramatischen Anteile zu untermauern und dadurch ihre Glaubwürdigkeit sowie emotive Wirkungen (z. B. → Einfühlung) zu verstärken.

Dokumentarfilmmusik Die Verwendung von Filmmusik im Dokumentarfilm unterliegt dramaturgisch gesehen mehrheitlich den gleichen Bedingungen wie in fiktionalen Genres. Diese Beobachtung bezieht sich auf diverse Parameter: generelle Entscheidung für oder gegen Musik, Abstufungen von Authentizität, Illustration, Hintergrundinformationen, Kommentar, Musik als strukturelles Element, für individuelles In-Beziehung-Setzen, Gestal- dramaturgischer Kontrapunkt tung in der →  Mischung (v. a. das Zusam- → Kontrapunkt menwirken der → auditiven Ebenen) u. v. m. Filmmusik verhilft dem Dokumentarfilm Eigenaffekt → Mitaffekt/Eigenaffekt zu einer oft angestrebten Verdichtung oder wird – offensichtlich oder verdeckt – zur Einfühlung Dramatisierung der meist sich prosaisch Bezeichnung für ein in der Dramaturgie zeigenden Wirklichkeit eingesetzt. Unter- wichtiges Phänomen, wonach sich ein Pubschiede zu fiktionalen Genres ergeben sich likum unter bestimmten Voraussetzungen v. a. bei der Generierung des musikalischen in eine Figur, einen Konflikt oder eine SituMaterials, das nicht selten aus real vorgefun- ation einfühlen kann. Einfühlung im dradenen Quellen und Situationen genommen maturgischen Kontext muss nicht zwangsoder entwickelt und in die → Montage inte- läufig mit Empathie zusammenhängen, da griert wird. eine dramaturgische Konstellation auch bewirken kann, dass sich ein Publikum in die

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6. Anhang Situation eines unsympathischen Charakters einfühlen kann. Einfühlung ist essenzieller Teil der →  Spannungsdramaturgie und der →  aristotelischen Dramaturgie, nach der das Publikum am meisten gerührt ist, wenn dem »edlen Helden« unverschuldetes Leid widerfährt. Brecht (1964a) kritisierte die Einfühlung, da sie die äußeren Umstände als schicksalhaft und gegeben hinstellt, wohingegen ein gesellschaftspolitisch engagiertes Theater die Änderbarkeit der Umstände aufzeigen solle. Einfühlung als dramaturgische Kategorie kann von → Immersion als mediales Wahrnehmungsphänomen zwar unterschieden, aber nicht trennscharf differenziert werden. emotive Wirkungen der Filmmusik Emotive Wirkungen der Filmmusik betreffen vor allem vier Aspekte des filmischen Erzählens: a) die psychologische Absicherung bei der Filmrezeption, b) die grundlegende Aktivierung der Anteilnahme, c) die dargestellten, erzählten Emotionen und d) die Lenkung der Affekte bei den Rezipierenden. a) Allein das Vorhandensein von Musik im Film ist emotiv wirksam, da sich Rezipierende durch sie des →  Modellcharakters der Kunst versichern können. Musik verhilft dann konkret dazu, emotional analoge Situationen in den dargebotenen Ereignissen zu entdecken oder im Ablauf zu verstetigen. Zur psychologischen Absicherung gehört auch, dass das Publikum in seinem Bedürfnis nach Kontrolle des Ablaufs durch Prognosen über den weiteren Verlauf mit Hilfe von Musik unterstützt wird. b) Die Aktivierung von Anteilnahme, das Einbringen eigener Erfahrungen und Empfindungen in den Kontext der erzählten Geschichte kann durch Resonanzen mit der eigenen Innerlichkeit erzeugt werden. Das

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gegenstandslose Wesen der Musik eignet sich insbesondere dafür, weil es an den eigenen Empfindungen rührt aber zugleich offen für andere konkrete Ausformungen bleibt. Die bei den Rezipierenden entstehenden Emotionen können dramaturgisch aus mehreren Dingen erwachsen: aus der Disposition eines Konflikts (Interessen einer Figur werden von entgegensetzten Interessen durchkreuzt) oder aus der Erinnerung an eine so entstandene Grundspannung der Geschichte – oft auch an Stellen ohne konfliktreiche Handlung und ohne dass Musik selbst affektgeladen sein muss. c) Die dargestellten, erzählten Emotionen gehören zu den Figuren. Je nach Stil, Genre oder dramaturgischer Bedeutung im Film wird es – oft mit Unterstützung der Musik – notwendig, die → Einfühlung in eine Figur zu befördern und ihre Ansichten (ethos), Gefühle und Affekte (pathos) als Grundlage ihrer Handlungen für glaubwürdig zu halten. d) Mit Musik werden auch Affekte gelenkt, zunächst durch Trennung der Affekte (z. B. durch Wissensvorsprung, vgl. →  Fokalisierung) für suspense oder Komik und in der Folge auch durch das Übergehen eines »Eigenaffekts« in den → »Mitaffekt« bzw. ein aufeinander aufbauendes Wechselspiel der Affekte (→ Spannungsdramaturgie). Somit entsteht ein breites emotives Wirkungsfeld von Musik im Film, bei welchem Filmmusik fehlende Emotionalität in der Geschichte durch Aktivität und musikalisch erzeugten Pathos ersetzten kann, entstehende, tendenziell kurzlebige Affekte stützt, Affekte für eine stärkere Anteilnahme oder Komik trennt, Spiel- und Modellcharakter für lustvolles Erleben und Erkenntnisgewinn untermauert sowie die Bereitschaft erzeugt, dass Rezipierende ihre eigenen Emotionen mit den erzählten Ereignissen in

6. Anhang Beziehung setzen und Filmmusik dadurch weitergehende und ggf. länger anhaltende Emotionalität erzeugt (vgl. auch →  Rezeptionsmodalitäten). episch Charakteristisch für den Modus des epischen Erzählens ist der objektivierte Bericht mit Überblick über die Totalität der Ereignisse. Die Handlung wird nicht wie im →  dramatischen Modus gezeigt, sondern erzählt bzw. berichtet. Dabei zeigt sich mehr oder weniger deutlich eine ordnende Erzählinstanz (auktorial oder figural), die den Ablauf gliedert. Das epische Erzählen erlaubt weitschweifende Formen mit Sprüngen in Raum und Zeit. Die Verknüpfung der Teile erfolgt durch Reihung mit Gliederung in Kapiteln (vgl. → dramatisch, → lyrisch). Filmmusik ist in starkem Maße daran beteiligt, die epischen, dramatischen und lyrischen Anteile der Filmerzählung zu markieren, zu unterstützen und miteinander zu verbinden, sodass der Wechsel vom einen Modus in den anderen nicht als Spannungsabfall oder Bruch empfunden wird. Das Komponieren mit →  Leitmotiven zeigt anschaulich, wie Aspekte des umfassenden oder eigentlichen Hintergrunds einer Geschichte (»epische Totalität«, Hegel 1818–29) in das aktuelle, szenisch-dramatische Geschehen integriert werden kann. episches Theater → dedramatisierte Fabel episodisches Erzählen → geschlossene und offene Form Erinnerungsmotiv → Leitmotiv/ Leitthema

Erkennung → Aktstruktur erregendes Moment → Aktstruktur explizite und implizite Dramaturgie Unterscheidung für die offensichtlichen (expliziten) Dramaturgieanteile wie Struktur, Sprache, Spannungsaufbau usw. und den versteckt eingeschriebenen (impliziten) Dramaturgieanteilen, mit denen Anspielungen auf das persönliche oder künstlerische Umfeld der Kunstschaffenden, auf gesellschaftliche Umstände oder sonstiges Weltwissen in eine Geschichte eingeflochten werden können. Die Wirkung impliziter Dramaturgieanteile (umsetzbar mit allen zur Verfügung stehenden künstlerischen Mitteln, darunter Filmmusik) ist meist unterschwellig, aber für das Gefühl von Authentizität, Glaubwürdigkeit und Aktualitätsbezug essenziell. In der Medien- bzw. Filmwissenschaft werden implizite Dramaturgieanteile auch mit einer Reihe anderer Begriffe bezeichnet, z. B. Kontextualisierung, synergy oder cinematic excess. Komik als expliziter (z. B. durch Verwechslung, Unangemessenheit oder Körperlichkeit erzeugt) und Humor als impliziter Wirkungsbereich (durch hintergründige Anspielungen erzeugt) sind ein weiterer Bereich, für den die Bedeutung der Unterscheidung ersichtlich wird. Filmmusik bedient beide Bereiche  –  nicht selten gleichzeitig: Einerseits werden Ablauf, Konflikte, Zusammenhänge oder →  suspense durch Musik strukturell wirksam unterstützt. Andererseits und zugleich gehören Sound und musikalischer Stil, musikalische Zitate oder andere, über Filmgrenzen hinausgehende und durch Musik hergestellte Beziehungen zum impliziten dramaturgischen Wirkungsspektrum der Filmmusik, das im Zu-

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6. Anhang sammenspiel mit den expliziten Anteilen v. a. die umfassendere Deutung eines Werkes beeinflussen. externe Musik → auditive Ebenen extra-diegetic → Diegese extra-diegetisches Sound Design Ein Begriff, der die Tongestaltung bezeichnet, welche mit Geräuschen arbeitet, die zwar referenziell sind, dennoch nicht dem imaginativen →  Handlungsraum zugeordnet werden können (siehe auch → auditive Ebenen). Fabel (fabula, mythos, story) Aus Übersetzungen der Poetik des Aristoteles entstandener Begriff, der die Anlage und den Handlungszusammenhang (Bindungsgesetze) eines Dramas oder eines Epos bezeichnet. Als Fabel (story) gilt das abstrakte, einheitsstiftende Prinzip zur raumzeitlichen Handlungsorganisation. Mit Fabel ist demnach nicht die literarische Gattung und nicht die konkrete Handlung (plot) eines Epos, Dramas oder Films gemeint, der ein Publikum folgt, sondern die generelle Konzeption einer Geschichte und das organisierendes Prinzip, welches sich in verschiedene Fabeltypen (Filmfabeln) differenzieren lässt. Die Fabel erschließt sich rückwirkend dadurch, dass das Publikum bewusst oder unbewusst Bindungsgesetze, die sich aus der grundlegenden Disposition und aus dem Ablauf der Ereignisse heraus ergeben, herausfiltert. Die Fabel manifestiert sich nur manchmal in besonders wichtigen konkreten Teilhandlungen. Ihre Bedeutung bekommt sie auch dadurch, dass sie qualitative Merkmale (Eigenschaften und Gründe für die Auswahl bestimmter

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Geschehnisse) bestimmt, um eine generelle Beziehung der Teilhandlungen, Figuren und Konflikte herzustellen. In kunstvollen Ausprägungen gibt die Fabel einen Rahmen für besonders wirkungsvolle Konstellationen, Verwicklungen und Lösungen (vgl. auch → Sujet).

Fabelzusammenhang Von Fabelzusammenhang der Filmmusik kann gesprochen werden, wenn Musik im Film das Prinzip der Handlungskomposition und -organisation und innere, bindende Zusammenhänge zwischen Figur, Handlung und Konflikt betrifft oder verdeutlicht. Der Begriff bezeichnet die mit Musik hergestellten Strukturen, die eine gewählte Filmform, den Grundkonflikt und die Perspektive auf das Geschehen stützen. Konkret entsteht ein Fabelzusammenhang, wenn Filmmusik das Zusammenwirken zwischen dem Ausgangspunkt einer Handlung, dem eingenommenen Blickwinkel und dem Grundkonflikt der Figuren verdeutlicht oder einen inneren Höhepunkt spürbar werden lässt. Der Fabelzusammenhang erschließt sich wie die Fabel selbst erst nach und nach im Ablauf eines Films. fallende Handlung → Aktstruktur fictional/extra-fictional music Terminologie von Winters (2010) als Alternative zum Begriffspaar diegetisch/non-diegetisch für die Unterscheidung von Musik auf der ersten auditiven Ebene (fictional music, d. h. eine die Fiktion abbildende Musik) und auf der zweiten oder mittelbaren auditiven Ebenen (extra-fictional). Da bei der weiteren Differenzierung der extra-fictional music der Begriff diegetic hinzugezogen wird

6. Anhang und dabei in Widerspruch steht zu dessen ren ist. Die Wiederkehr des film theme kann Gegenpol non-diegetic (bei Winters die spe- an eine Figur gebunden sein, die selbst muzifizierten Varianten der fictional music: siziert oder der diese Musik zugeordnet ist meta-diegetic, intra-diegetic und extra-diegetic (→ Leitmotiv/Leitthema). als Varianten der extra-fictional music), werden die Probleme des für den Film umstrit- figuraler Erzähler tenen Diegesebegriffs nicht gelöst (siehe → Diegese/diegetisch/diegesis → Diegese, → auditive Ebenen). Fokalisierung System zur Differenzierung der Erzählperfantasy Für Filmmusik zu Filmen mit mythologi- spektive und Bestimmung des Verhältnisschen oder fantastischen Geschichten be- ses zwischen Wissensstand des Publikums, steht eine spezielle Aufgabe darin, gleichzei- Erzählerebene und Figur, das auf Pouillon, tig den → dramatischen und den → epischen Todorov und insbesondere Genette (GeAnteilen gerecht zu werden und ein aus- nette 1972) zurückgeht (vgl. ­Schmid 2014, uferndes Universum, in dem sich die Ge- S. 110). Es unterscheidet drei Arten: 1. exschichte abspielt, abbilden bzw. zusammen- terne Fokalisierung: Der Erzähler gibt wehalten zu können. → Leitmotive, die zwar niger Informationen preis als der Einblick den epischen Anteilen einer Geschichte ge- der Figuren ist, 2. Null-Fokalisierung oder recht werden, können die situative Span- »auktorial«: Der Erzähler gibt die Informanung in konfliktreichen Situationen oder tionen, die auch die Figuren haben, sorgt bei Actionszenen nicht genretypisch un- für den »optimalen« Überblick und nimmt terstützen. So entstehen Soundtracks, die dafür keine bestimmte Perspektive ein, sehr viel Musik enthalten, weil unentwegt 3.  interne Fokalisierung: Der Erzähler wechselnde Anforderungen für die sze- nimmt eine bestimmte Figurenperspektive nisch-dramatische Abfolge einerseits und ein und lässt dafür weg, was diese Figur die Schaffung der Handlungseinheit (→ Fa- nicht wissen kann. In der Filmnarratologie wurde das Konzept erweitert auf die Hörbel) andererseits gestellt werden. perspektive und den Informationsstand durch zu hörende Anteile der Darstellung Filmmischung → Mischung bzw. Repräsentation (Aurikularisierung). filmmusikalische Topologien → Topos Gedankenstimme, Gedankenmusik film theme Die innere Stimme oder Musik in der VorEin von Gorbman (1987, S. 26) vorgeschla- stellung einer Figur, die dramaturgisch von gener Begriff, der für jede Art von drama- großer Bedeutung ist, weil sie in der Art eiturgisch eingesetzter Musik steht, sei es nes »inneren Monologs« das Publikum nicht eine Melodie, ein (→  präexistenter) Song, nur über den Zustand der Figur aus ihrer ein melodisches Fragment oder eine be- subjektiven Sicht aufklärt, sondern diese stimmte harmonische Progression, die sprachlichen oder musikalischen Informatimehrfach im Film als Musik der ersten onen für andere Figuren nicht hörbar sind. oder der zweiten → auditiven Ebene zu hö- Diese Eigenschaft teilt sie mit Sprache, Mu-

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6. Anhang sik und Ton der zweiten auditiven Ebene, obwohl die Gedankenstimme/-musik logisch dem → Handlungsraum und damit der ersten → auditiven Ebene zugehört. Die daraus resultierende Ambivalenz der Gedankenstimme wie auch von Gedankenmusik in der mentalen Vorstellung einer Figur ist Merkmal von Musik und Ton der → mittelbaren auditiven Ebene. geschlossene und offene Form Ein auf V. Klotz (1960) zurückgehendes Modell, das überhistorische Stiltendenzen von Dramen aufzeigen soll. Es kann prinzipielle Unterschiede auf den verschiedenen Ebenen Handlung, Zeit, Ort, Figuren, Komposition und Sprache verdeutlichen. Als geschlossene Form werden Aufbau und Ausformung von Dramen bezeichnet, die eine in Struktur und Deutung vollständige, lineare Erzählung ausformen. Struktur und Deutung in der offenen Form bleiben dagegen lückenhaft, die Struktur ist eher episodisch. Die Erzählung in geschlossener Form zeigt einen beispielhaften Ausschnitt, der für »das Ganze« steht, d. h. in Form einer Geschichte ein in sich geschlossenes Modell zum verhandelten Thema bietet. Jede Szene erfüllt an einer bestimmten Stelle im Ablauf eine Funktion für die Wirkung des Ganzen. Die geschlossene Form hält sich damit und mit weiteren Details an das Gebot der Unverrückbarkeit der Teile und einige andere Anforderungen der →  aristotelischen Dramaturgie. Konkrete Merkmale der geschlossenen Form sind eine zentrale Figur, eine Haupthandlung mit untergeordneten Nebenhandlungen und ggf. Ständeklausel (siehe »edler Charakter« in der → aristotelischen Dramaturgie). Die offene Form präsentiert dagegen »das Ganze in Ausschnitten«

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(Klotz 1960/1999, S. 217) und erzählt vom Thema in lückenhafter Weise, scheinbar willkürlich beginnend und endend. Die offene Form ist gekennzeichnet durch mehrere Hauptfiguren bzw. ein Figurenensemble, Vielfalt der Ausdrucksformen, Orte usw. Eine Szene steht im Ablauf für sich selbst und kann in der Reihung als Variante, abgeleitetes Motiv oder als Kontrast zu anderen Szenen gesehen werden, um das eigentliche Thema, das von einer Geschichte nur eingekreist wird, ansatzweise zu erschließen. Die Handlung der offenen Form kann assoziativ anstatt logisch angeordnet oder gereiht werden und muss nicht zwingend in sich abgerundet sein. Ein Thema muss hinter der Handlung erst herausgelesen werden, wobei die offene Form mehrere Deutungen der Geschichte nicht nur zulässt, sondern geradezu provoziert. Für die Komposition und den Einsatz von Filmmusik und → präexistenter Musik ist das Bewusstsein über die Anlage eines Films in der offenen oder geschlossenen Form essenziell, da Rezeptionserfahrungen und Konventionen der Filmmusik möglicherweise falsche Erwartungen zu Struktur und Deutung des Inhalts wecken. Filmmusik beeinflusst insbesondere in der Exposition eines Films die Wahrnehmung dahingehend, ob die präsentierten Bilder und (Teil-)Handlungen als Mittel der geschlossenen oder offenen Form gelesen werden müssen. Gestus Der Begriff Gestus verknüpft Emotionen mit dem Bewusstsein der Umstände. Er richtet sich gegen die Gleichheit des Fühlens zwischen Figur und Darsteller/Darstellerin. Im Gestus einer künstlerischen Äußerung oder Darstellung stecken Kom-

6. Anhang binationen von Empfindung, innerer Haltung, Erfahrung und sozialer Verknüpfung. (vgl. → Verfremdung)

Glücksumschlag → Aktstruktur

handlungsbedingte Musik Musik, die Teil der gezeigten Handlung ist. In der Operntradition auch als Inzidenzmusik (Musik in der Szene bzw. Bühnenhandlung) bezeichnet. Sie erklingt im Film entsprechend den akustischen Ge­ setzen des imaginativen → Handlungsraumes und kann von den Figuren wahrgenommen werden  –  im Gegensatz zur beigeordneten, externen (außerhalb des Handlungsraumes befindlichen) Musik. Weitere Bezeichnungen für handlungsbedingte Musik sind interne Musik oder Quellenmusik (source music), da sie eine erkennbare oder zu vermutende Quelle bzw. Ursache im imaginativen Handlungsraum hat. Handlungsbedingte Musik kann ein bloßer Teil der akustischen Ausstattung oder aber dramaturgisch weitreichendes Mittel sein, indem sie mit ihren unterschiedlichen Parametern (Instrumentation, Melodie, Rhythmus, Harmonik, Text) Konflikte symbolisiert, kennzeichnet bzw. vertritt oder aktive Handlungen auslöst, die den weiteren Verlauf der Geschehnisse beeinflussen. Handlungsraum Imaginativer, virtueller Raum, der  –  angeregt durch Techniken der filmischen Montage  –  aus der Vorstellungskraft heraus als mögliche Wirklichkeit und raumzeitlich kohärent wahrgenommen wird. In ihm bewegen sich die handelnden Figuren und befindet sich sonstige belebte und unbelebte Natur (storyworld). Der imaginative

Handlungsraum ist gekennzeichnet durch Zusammenhänge von Kausalität, Raum und Zeit, die aus der realen Lebenswirklichkeit bekannt sind oder von einer Geschichte selbst definiert werden. Art und Umfang der visuellen und auditiven Ausgestaltung richten sich kaum nach naturalistischen Vorgaben, sondern stellen eine hinreichende Simulation der selektiven Wahrnehmung von Klängen, des Blickfeldes bzw. Perspektive dar und benötigen, je nach ästhetischer Präferenz, einen individuell zu bestimmenden Grad an Illusion und → Immersion. Die Trennung von Medium (Bewegtbild auf einer Leinwand mit dazugehörigem Ton) und Phänomen der Wahrnehmung (in der Vorstellung des Publikums) ist für den Film seit Souriau (1951) in den wissenschaftlichen Diskurs gelangt und wird in dessen Tradition als diegetischer Raum oder → Diegese bezeichnet. Wird Film als dramaturgisches Gebilde verstanden, das sowohl Elemente des Dramas als auch des Romans enthält, kollidiert dieser Diegesebegriff allerdings mit der Unterscheidung von direkter → Nachahmung (durch Zeigen wie im Drama) und indirekter Nachahmung (durch Berichten wie im Roman). Handlungsumschlag → Aktstruktur Heldenreise Modell für einen Strukturtypus und zugleich Fabeltypus, das Figurenensemble, Konfliktdisposition und Ablauf grundlegend und typisiert festlegt. Basierend auf Propp (1928) und dessen aus russischen Märchen abstrahierter Struktur und dort auftretendem Personal (sog. Aktanten, z. B. Held, Gegenspieler, Helfer, falscher Held, Mentor, geliebtes Wesen als Opfer)

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6. Anhang sowie auf einer von der Tiefenpsychologie beeinflussten Erzähltheorie formten Campbell und Frye (1949) zwölf Stationen, die geringfügig variierend bezeichnet werden: 1. die gewohnte Welt, 2. Ruf des Abenteuers, 3. Weigerung, 4. Begegnung mit dem Mentor, 5. Überschreiten der ersten Schwelle, 6. Bewährungsprobe, Feinde, Verbündete, 7. Vordringen zum größten Gefahrenpunkt, 8. Entscheidung und Prüfung (Übertreten der zweiten Schwelle) 9. Belohnung, Kontakt mit weiteren Hilfsmitteln (Elixier, geweihte Waffe o.  Ä.), 10. Beginn des Rückwegs, 11. Rettung oder Auferstehung, 12. Rückkehr. Vogler (1998) kombiniert in seinem Drehbuchratgeber das Modell der Heldenreise mit der klassischen 3-Akt-Struktur (→  Aktstruktur) und bringt damit ein Wesensmerkmal der Filmdramaturgie zum Ausdruck, das im massenwirksamen Mainstreamkino noch immer funktioniert. idée fixe → Leitmotiv/Leitthema Illustration/Illustrationsmusik In Konzertmusik ebenso wie in Filmmusik anzutreffendes Phänomen, das mit musikalischen Mitteln versucht, außermusikalische Vorgänge mit Kunstmitteln zu reproduzieren. Die Nähe zur → Programmmusik liegt auf der Hand, jedoch reflektiert diese die innere Bewegtheit (emotionale Reaktionen auf Realitätserfahrungen oder außermusikalische Inhalte), anstatt sie zu reproduzieren (siehe auch → Affirmation).

imaginativer Handlungsraum → Handlungsraum

Immersion Effekt des unhinterfragt Sich-eins-Fühlens mit einer virtuellen »Als-Ob-Situation«, die durch die absorbierende Kraft meist audiovisueller Mittel erzeugt wird und bei der sich ein Publikum einem hohen Maß an Illusion hingibt. implizite Dramaturgie → explizite und implizite Dramaturgie innere Rede Ein von Ejchenbaum (1927) gewählter Begriff, um die Eigenbeteiligung des Publikums zu betonen, die zur inhaltlichen, verstandesmäßigen und emotionalen Verknüpfung der Teile einer Sequenz bei filmischer →  Montage nötig ist. Die zwischen den Bildschnitten liegenden Lücken (Raum, Zeit, Bedeutung) müssen durch Zusammenhänge gefüllt werden. »Damit aber die innere Rede sich einstellt und dem Zuschauer den Eindruck von Fülle und Logik vermittelt, müssen die Sprünge in irgendeinem bestimmten Zusammenhang stehen und die Übergänge hinlänglich motiviert sein« (Ejchenbaum 1927, S. 128). interne Musik → handlungsbedingte Musik, → auditive Ebenen intra-diegetic → Diegese, auditive Ebenen → fictional/extra-fictional music Inzidenzmusik → handlungsbedingte Musik Katharsis → aristotelische Dramaturgie kommentierender Impuls → mimetischer Impuls

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6. Anhang Kontextualisierung → explizite und implizite Dramaturgie Kontinuitätsübertrag Phänomen bei der Zuordnung von Musik und Ton zur visuellen Schicht, die durch Schnitt und Montage fragmentiert bleibt und sich als Reihung von Versatzstücken zeigt. Die der Musik eigene Kontinuität der musikalischen Abläufe überträgt sich in der Wahrnehmung auf die Bildfolge und erlaubt weit über logisch-kausale Beziehungen hinausgehende Verknüpfungen zwischen den aneinander gekoppelten Bildern. Kontrapunkt Aus der Musiktheorie stammender Begriff, der zunächst als filmästhetischer Gegenpol zur Synchronität von Bild und Ton bei Aufkommen des Tonfilms verwendet wurde und bis heute als Schlagwort dient. Dagegen kann als ton- oder musikdramaturgische Strategie der audiovisuelle vom dramaturgischen Kontrapunkt unterschieden werden. Der audiovisuelle Kontrapunkt bietet zum im Bild sichtbaren Vorgang oder Abbild keine Entsprechung, sondern eine zusätzliche Kollision (siehe →  Montage). Der dramaturgische Kontrapunkt ist eine Strategie, die eine hinter dem Vorgang verborgene, mit diesem aber über die →  Fabel verbundene Bedeutung oder einen dahinter stehenden Sinn hervorholt. Beide Strategien sind mit Musik und Ton der ersten →  auditiven Ebene (durch asynchrone Versetzung interner Töne oder Musik) oder auf der zweiten auditiven Ebene (nicht →  affirmative, sondern sich ergänzende Beiordnung) realisierbar.

Leitmotiv/Leitthema Ein die Komposition und die Wahrnehmung des Publikums leitender musikalischer Gedanke, der durch Zuordnung von Themen, Motiven oder Instrumenten zu in der Handlung wiederkehrenden Situationen, Personen, Orten und Gegenständen diese zeitgleich (denotativ) oder ersatzweise (konnotativ) repräsentieren kann. Leitmotive können auch als poetisch überhöhende Repräsentation universeller oder metaphysischer Ideen und Bedeutungen musikdramaturgisch wichtig werden. Sie repräsentieren eine Vorstellung vom Zusammenhang der Dinge oder fordern zu einer gedanklichen Verbindung auf. Musikalische Leitmotive integrieren Aspekte des umfassenden oder eigentlichen Hintergrunds einer Geschichte in das aktuelle szenisch-dramatische Geschehen und berühren damit einen Aspekt der →  Fabel und erzeugen einen →  Fabelzusammenhang der Filmmusik. Der affirmative bzw. denotative Gebrauch von Leitmotiven markiert das Auftreten der zugehörigen Figur, des Gegenstandes usw. Besonders wirkungsvoll oder weitreichend ist der Einsatz von Leitmotiven dann, wenn solche Bezüge nicht aus den ansonsten visuell oder sprachlich präsentierten Vorgängen hervorgehen, d. h. wenn Musik ihre Bezugspunkte immateriell ersetzt. Eine substanzielle Bedeutung bekommen Leitmotive im Film zudem, wenn sie ihren Einfluss auch über große Zeitspannen der Geschichte, sowohl im Rückblick als auch in der Vorausahnung sowie über mehrere parallele Erzählebenen oder viele sich miteinander kreuzende Erzählstränge hinweg ausüben können. Leitthemen und Leitmotive können der Filmmusik eine filmspezifische Form geben, eine über Pausen, in

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6. Anhang denen keine Musik erklingt, hinweg ge- Verarbeitung und Komposition für die hende vereinheitlichende Tendenz. Meist künstlerische Äußerung zusammenwirken. ist ein Film dann auch durch visuelle Auf den Film übertragen ergibt sich ein er→ Motive oder im Dialog leitmotivisch an- weitertes Konzept, das Filmmusik in einer gelegt. Je nach Bedeutung, Verwendung ähnlichen Beziehung zur Handlung sieht: oder musikalischer Ausarbeitung stehen Filmschaffende verwenden oder kompounterschiedliche Begriffe zur Verfügung: nieren Musik, die sich als Reflex auf den idée fixe, Erinnerungsmotiv, Ahnungsmo- außermusikalischen Inhalt oder Vorgänge erweist. Durch unterschiedliche musikalitiv, Leitthema und Leitmotiv. sche und filmische Verfahren (insbesondere Montagetechniken) zeigt sich eine Lösung (des Knotens) → Aktstruktur verschieden intensive Nähe zur gezeigten Handlung oder zu den thematisierten Inlyrisch Beim lyrischen Erzählmodus liegt der Fo- halten. In der Balance zwischen dem spürkus auf einer Grundstimmung oder Emp- baren mimetischen Impuls und einem entfindung. Merkmale sind die subjektive gegenwirkenden kommentierenden ImSicht (»Lyrisches Ich«), (Selbst-)Reflexion, puls, der bereits im Wesen der filmischen im Moment verhaftete Beschreibungen, → Montage liegt und ebenfalls durch Musik die wie zeitlos und ohne Bindung an äu- zum Ausdruck kommen kann, zeigen Filmßere Umstände für sich stehen. Besondere schaffende mit dem Einsatz von Filmmusik Mittel sind Analogien, Metaphern und filmästhetische, ein konkretes Thema beeine sprachliche Bindung durch Versmaß treffende oder generelle gesellschaftspolitiund Reim. Charakteristisch sind kurze sche Ansichten. Mimetischer und komFormen, formale Korrespondenzen und mentierender Impuls sind Triebkräfte, die symmetrische Beziehungen sowie Gliede- außerdem zur Differenzierung der → audirung in Strophen sowie die assoziative tiven Ebenen führen und zur Analyse geVerknüpfung der Teile (vgl. →  episch, nutzt werden können. → dramatisch). Mischung mickey mousing → Affirmation Die Mischung (oder Filmmischung) ist der letzte dramaturgisch einflussnehmende Arbeitsschritt der Filmherstellung und dient mimesis → Nachahmung der Entscheidung und Festlegung dazu, wie Ton und Musik »inszeniert« werden. mimetischer Impuls Ein auf Adorno (Adorno 1960) zurückge- Durch sie kann eine dem Medium Film hender Begriff für die Erkennbarkeit eines ganz eigene Flexibilität bei der Verortung außermusikalischen Einflusses auf die Aus- und Gewichtung alles Klingenden realisiert arbeitung von Musik. Die außermusikali- werden. Dadurch und weil diese Gestalsche, subjektive Erfahrung oder Beobach- tungsmittel in aller Regel in der Rezeption tung wird mit Mitteln der Musik verar- unbewusst bleiben, ist die Filmmischung beitet, sodass ein intuitiver Reflex mit für die Dramaturgie von großer Bedeutung. rationalen Strategien der musikalischen Filmmischung und →  Montage hängen

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6. Anhang technisch und ästhetisch eng miteinander zusammen. Die Mischung unterstützt die mentale Vorstellung eines dreidimensionalen imaginativen → Handlungsraums, z. B. durch Simulation von auditivem Vorderund Hintergrund, drinnen/draußen und die Art der Klangentfaltung. Sie bindet das Klingende so in einen Gesamtklang ein, dass es der Alltagserfahrung von selektiver Wahrnehmung, d.  h. hörpsychologischen Gegebenheiten, entspricht. Ton und Musik unterscheiden sich in der Regel darin, wie hoch ihr Grad der Referenzialität ist, d. h. wie sehr sie auf in der Wirklichkeit existierende Dinge verweisen. Musik tendiert viel stärker als der Ausstattungston und oft deutlicher als das Sound Design zur Verallgemeinerung und Ansprache an das innere Empfinden. Bei der Mischung liegt es daher in den Händen der Filmschaffenden, dieses Verhältnis auszubalancieren. Es kann nicht nur über die Lautstärke, sondern auch durch viele weitere Parameter erzeugt werden. Diese in der Mischung festgelegten Komponenten geben Ton und Musik auch eine →  sensorische Qualität, die für unbewusste Prozesse bei der Filmrezeption von großer Bedeutung sind. Das Hinzufügen einer auditiven Schicht zu einer visuellen Schicht und die Gewichtung von Musik, Geräuschen und Sprache innerhalb der auditiven Schicht (mit darin noch weiter zu unterscheidenden Teilebenen, siehe →  Gedankenstimme) in einer Filmmischung erlauben äußerst differenzierte Abstufungen der Informationsvergabe sowie der Angebote zur Deutung der Vorgänge. Die dramaturgische Bedeutung von Musik und Ton wird in der Mischung nicht selten über das Verhältnis der → auditiven Ebenen zueinander realisiert. Dieses Verhältnis ist dramaturgisch ebenso wichtig wie die eigent-

lichen musikalischen Mittel der Filmmusikkomposition oder des Sound Designs an sich. Aus allen genannten Gründen ist die Filmmischung für Narration, Dramaturgie und Erlebnisqualität von kaum zu überschätzender Bedeutung. Mitaffekt/Eigenaffekt Eine auf R.  Müller-Freienfels (1922) zurückgehende Unterscheidung der Affekte, die verdeutlichen soll, wie in der Erzählkunst differenziert wird zwischen Affekten, die das Publikum mit den Figuren teilt (Mitaffekt), weil es in deren Perspektive und Wissenstand geführt wurde, und andererseits Affekten, die nur durch einen Wissensvorsprung gegenüber der Figur entstehen, wohingegen die Figur noch ahnungslos ist (Eigenaffekt). In der Dramaturgie kann im Übergang von einem zum anderen Affekttyp das Verhältnis von Aufmerksamkeit, Informationsdistribution und Spannung (→  suspense) reguliert werden. Darin unterscheidet sich diese Systematik auch von der Theorie der →  Fokalisierung, mit der Erzählinstanz, Perspektive und Wissenstand differenziert werden können. mittelbarer auditiver Darstellungsund Wahrnehmungsraum (mittelbare Ebene) Eigenschaftsraum der Tonspur, der ambivalente, →  akusmatische Klänge und Musik oder paradoxe Zuordnungen von Musik und Ton zum Handlungsraum enthält. Dieser Eigenschaftsraum enthält Klänge und Musik mit einer dort realisierten Ambivalenz, die auf das Wesen eines im Film verhandelten Konflikts oder Themas verweist. Das Wesen dieser Beziehung zwischen mittelbarer Ebene und ggf. ursprünglich interner oder externer Quelle

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6. Anhang berührt in der Regel einen zentralen Aspekt der erzählten Geschichte, des Genres oder der filmischen Form, in der eine Geschichte erzählt wird. Trotz eines ggf. nachvollziehbaren Ursprungs in der ersten oder zweiten auditiven Ebene verfügen Musik und Ton im mittelbaren Darstellungs- und Wahrnehmungsraum Eigenschaften der jeweils anderen auditiven Ebene (siehe auch → auditive Ebenen).

Modellcharakter der Kunst → Spielcharakter

Montage Handwerklich-praktischer Vorgang und zugleich ein filmästhetisches Phänomen, das die Entstehung einer Bedeutung beschreibt, die aus der Konfrontation aneinandergefügter Bilder bzw. von Bildern, denen Musik und Ton hinzugefügt werden, erwächst. Montage »verkoppelt Prozesse des Verstehens und der Wahrnehmung [...] mit Fantasie und Emotion« und verbindet die »optimale Geschehenswahrnehmung von Handlung mit der Lenkung von Aufmerksamkeit« (Wuss 1993, 260f.). Diese Prinzipien bilden die praktische und ästhetische Grundlage für die Umsetzung dramaturgischer Wirkungen der Filmmusik. Je nach Sprachgebrauch ist mit dem Begriff Montage der Schnitt (editing) oder aber das filmästhetische Mittel (montage) gemeint. Für das grundlegende Verständnis der raumzeitlichen und inhaltlichen Vorgänge ist die linear-narrative Montage das charakteristische Gestaltungsmittel, ergänzt durch Anachronien: Retrospektive (Analepse, Rückwendung, flash back) und Prolepse (Vorausnahme, flash forward). Die Parallelmontage erzeugt die Vorstellung von zwei oder mehr zeitgleich

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ablaufenden oder von inhaltlich in Beziehung stehenden Vorgängen durch Hinund-her-Springen zwischen Versatzstücken des einen und des anderen Vorgangs. Sie geht über das cross cutting hinaus, das zwischen verschiedenen Elementen innerhalb einer plot line hin- und herschneidet, und ist ein geläufiger Teil der Filmsprache, bei dem Filmmusik ganz unterschiedlichen Anteil nimmt. So illustriert Filmmusik mal die unterschiedlichen parallel ablaufenden Vorgänge, repräsentiert mal das sie verbindende Thema oder bildet ein strukturelles Rückgrat, entlang dessen die Montage den Eindruck mehrerer parallel ablaufender oder zusammenhängender Vorgänge erzeugen kann. Für Introspektiven (Bilder oder Klänge aus der Gedankenwelt einer Figur) werden das visuelle und auditive Material so montiert, dass Bedeutungszusammenhänge mit lyrischen Mittel (Subjektivierung, Allegorie) entstehen (»metaphorische Montage«). Hier gibt Filmmusik meist unverzichtbare Hinweise dazu, dass das Gezeigte entsprechend zu interpretieren ist. Motiv Ein musikalisch, dramaturgisch und psychologisch deutbarer Begriff, der für einen kleinstmöglichen, hinreichend ausdrucksstarken Baustein im Ganzen steht. In seiner psychologischen Bedeutung als Beweggrund für das Handeln von Menschen ist der Begriff (vergleichbar mit der Parallelität von psychologischem und dramaturgischem Konflikt) ein zu beachtender Teil der Filmdramaturgie und Filmmusik. Musikalische Motive können rein strukturell oder semantisiert als →  Leitmotiv die Form, Entwicklung und Deutung eines Films bestimmen.

6. Anhang Musical-Modus/-technik Genre-spezifische Technik, mit der externe Musik den Aktionen der Figuren im →  Handlungsraum zugeordnet wird und zugleich eine Rezeptionsvereinbarung für externe Musik, die intern von den Figuren ohne logische Rechtfertigung rezipiert wird. Solche Musik wird im Musical-Modus auch ohne Nachweis im Handlungsraum als ein selbstverständlicher Teil der Welt der Figuren verstanden, weil oder damit sie synchron zur Musik von außerhalb des imaginativen Handlungsraums agieren können. In Filmmusicals ist die MusicalTechnik in diversen Abstufungen anzutreffen: quasi abgefilmtes Bühnenmusical, das auch Tanz als vertraute Kunstform einschließt, Film mit Musical-Einlagen, die die Handlung unterbrechen (lyrisches Mittel zur Intensivierung und Reflexion innerer Vorgänge) oder seltener mit teils gesungener aktiver, dramatischer Handlung. Auch als filmspezifisches Mittel eingesetzt, um »äußere« und »innere« Handlung zu unterscheiden (z. B. Aktionen der Figuren: ohne Musik, Gedanken und Gefühle der Figuren: mit Musik), für Handlungshöhepunkte oder um Zeitsprünge zu vermitteln.

musikalisches Drama Begriff aus dem 19. Jahrhundert, der präziser als der auch allgemeingültige Begriff Musikdrama beschreiben sollte, wie in R.  Wagners späteren Opern die unterschiedlichen Künste (Drama bzw. Dichtung, Musik, Tanz) verschmelzen und zur vollendetsten künstlerischen Ausdrucksform kämen.

Nachahmung (mimesis) Schon in der Antike aufkommendes Konzept zur basalen Erklärung künstlerischer Äußerungen in den bildenden und darstellenden Künsten. Danach bilden Menschen andere Menschen und ihre Umwelt im Kunstwerk nach, überformen und interpretieren aber dabei zugleich Personen und Vorgänge. Seit Aristoteles gewinnt das Mimetische eine positive Konnotation, wonach das Erkennen von Eigenschaften der nachgeahmten Personen oder Vorgänge dem Erkenntnisdrang folgend Genuss bereitet und der Wirklichkeitsanspruch (noch bei Platon) durch einen Wahrscheinlichkeitsanspruch ersetzt wird. Nachahmung ist daher weder Kopie noch Parodie der Wirklichkeit, sondern wird als nachschöpfendes Handeln verstanden. Nachahmung musikalische Poesie ist demnach ein kreativer, schöpferischer Begriff des frühen 19.  Jahrhunderts, der Prozess, der nicht zur Abbildung, sondern für das Nicht-Lehrbare, kein Regelwerk Aneignung der Wirklichkeit dient und mit benötigende Komponieren steht und in dem im Menschen angelegten Vergnügen diesem Sinne das »Dichten« mit Musik be- am Begreifen seiner Umwelt und seiner schreiben sollte. Beinhaltet Kommunika- selbst verknüpft ist. Nachahmung bzw. tion, Deutung und gefühls- oder ideenmä- Nachahmen ist im Kontext des darstellenßige Verarbeitung eines außermusikalischen den Erzählens ein Vorgang, der konkret Impulses mit musikalischen Mitteln (vgl. durch das Nachschöpfen von Vorgängen, → Programmmusik). Gesten, Eigenschaften und Handlungen dazu in der Lage ist, sich Realität modellhaft anzueignen. Nachahmung zeigt im Offensichtlichen den physischen und sozia-

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6. Anhang len Kontext und ist für die Dramaturgie gerade dadurch von Bedeutung, weil sie auch das Verborgene im Offensichtlichen offenbart. Dramaturgie regelt zudem die Beziehung zwischen idealisierter Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit. Laut Aristoteles ahmen Dichter eine idealisierte Wirklichkeit nach, indem die entworfenen Figuren aktiv Handlungen zeigen oder selbst davon erzählen (figuraler Erzähler). Der mimetische Erzählmodus lebt von der Gegenwärtigkeit der gezeigten Handlung. Insbesondere Film wird als mimetische Kunst verstanden, weil mit der Nachahmung von Handlungen eine Strukturierung der komplexen Umwelt in überschaubare Einheiten einhergeht und Film mit immersiven (vgl. → Immersion) visuellen und auditiven Mitteln das nachahmende Spiel der Schauspielerinnen und Darsteller und damit Gegenwärtigkeit und Wirklichkeitsbezug der Handlungen, Orte und Personen betont (vgl. → Diegese/diegetisch/diegesis).

Narration Im Film mit dessen visuellen und auditiven Mitteln gezeigte und perspektivierte konkrete Anordnung von (Teil-)Handlungen einer Geschichte. Vorgang zur strategisch dosierten Vergabe von Informationen für Ablauf, Verstehen, Bewerten und Prognostizieren der Geschichte durch ein ideales Publikum.

Narrativ (narrative) Grob skizzierte oder ggf. weiter ausgearbeitete Anlage der erzählten Welt (vgl. → Fabel), die explizite und nur implizit gedachte Voraussetzungen einschließt und damit außerhalb einer bestimmten Perspektive oder Sichtweise liegende Anteile (vgl. →  Narration) zugunsten einer bestimmten

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Konstellation und Wirkung auslässt oder neu ordnet. Anders als die Narration setzt ein Narrativ nur den Rahmen und bezeichnet nicht die Anordnung der (Teil-)Handlungen. Kann auch als Begriff für die geformte Sicht auf die reale Welt und ihre Deutung angewendet werden, mit der eine in Wirklichkeit komplexere Realität erfassbar werden soll. Naturmotiv → Leitmotiv/Leitthema offene Form → geschlossene und offene Form Parallelmontage → Montage Peripetie → Aktstruktur Plot → Sujet plot points → Aktstruktur→ Wendepunkte präexistente (vorbestehende) Musik Begriff für Filmmusik, die schon vor Herstellung eines Filmes existierte, die aber ganz unterschiedliche dramaturgische Bedeutung haben kann. So ist präexistente Musik manchmal die auslösende Idee für einen Film, Begleitung beim Arbeitsprozess als Inspirationsquelle oder Arbeitsmittel (→  temporary track) und kann mit oder ohne den Hinblick auf ihr außenfilmisches Wirkungsspektrum eingesetzt werden. Der außerfilmische Kontext präexistenter Musik kann der Authentifizierung des Hintergrunds der Handlung dienen oder persönliche Erfahrungen und Meinungen der Filmschaffenden mit in den Film einbringen (→ implizite Dramaturgie). Von einem Zitat mit präexistenter Musik kann dann

6. Anhang gesprochen werden, wenn Musik (oder dazugehöriger Text) vom Publikum bewusst erkannt wird. Auch das postmoderne Kino, das durch ein Netz von Verweisen und Anspielungen lebt, nutzt vielfach präexistente Musik oder musikalische Versatzstücke, um einem Film Fülle, Humor, Ambivalenz, zusätzliche Bedeutungen, Zeitbezug usw. zu verleihen. Programmmusik Begriff für das Weiter-Denken oder Weiter-Dichten (→  musikalische Poesie) von außermusikalischen Inhalten in Musik, das nicht mit der Literarisierung von Musik verwechselt werden darf. Ein mögliches Programm bezieht sich auf die innere Bewegtheit des künstlerisch sich äußernden Subjekts, seine Emotionalität und ideellen Ansichten bzw. auf die durch Musik zum Ausdruck kommende Resonanzen zwischen Lebenswirklichkeit und subjektiver Innerlichkeit. Der Begriff umfasst daher ein Spektrum an Musik mit außermusikalischen Anspielungen, das von →  Illustrationsmusik bis zum Ideenkunstwerk reicht. Ein verbales Programm kann Vorlage oder nachgereichter Text zur Erläuterung von sonst schwer erfassbaren, nicht selten von die Einheit des Werkes betreffenden Aspekten sein. Von Narrativität in Programmmusik kann nur indirekt gesprochen werden, da der konkrete Inhalt einer »musikalischen Erzählung« in unzählige individuelle Deutungen zerfällt und im Verständnis der Musikästhetik des 19.  Jahrhunderts vage bleiben soll. retardierendes Moment → Aktstruktur

Rezeptionsmodalitäten Ein von Monika Suckfüll (Suckfüll, 2004) eingeführter Begriff, der auf Aspekte der Interaktion von Medienangebot und Rezipierenden abzielt. Das Modell der Rezeptionsmodalitäten ist mit Hinblick auf die empirische Filmwirkungsforschung entworfen worden, eignet sich aber auch zur interdisziplinär ausgerichteten Theoriebildung in der Medien-, Film- und Musikwissenschaft. Mit der Dramaturgie ergeben sich insofern wichtige Gemeinsamkeiten, als dass es zu deren Strategien gehört, das Wissen des Publikums, die spezifischen Rezeptionssituationen, Erwartungshaltungen in Bezug auf Genre und die ablaufende Geschichte sowie die Bereitschaft zur aktiven Anteilnahme zu berücksichtigen und gezielt zu beeinflussen. Das Konzept der Rezeptionsmodalitäten berücksichtigt diese und weitere relevante Aspekte und eignet sich zur Beschreibung ihres interaktiven Zusammenwirkens. Das Modell differenziert Arten und Grade der kognitiven und emotionalen Beteiligung während der Medienrezeption, berücksichtigt gewachsene Rezeptionserfahrungen und eignet sich auch zur Beschreibung von Modalitätswechseln, wenn diese während der Filmrezeption aus persönlichen oder dramaturgischen Gründen nötig werden. Dramaturgie und Rezeptionsmodalitäten benennen hierbei die qualitativen Unterschiede. Die mit den Rezeptionsmodalitäten zu beschreibenden Grundlagen haben auf die emotionale Wirkung eines Films, z. B. der Grad des Involviert-Seins in das Thema, Identitätsbildung der Rezipierenden und vieles mehr, Einfluss. Bedeutung und Wirkung von Filmmusik sind den Rezeptionsmodalitäten unterworfen. Andersherum kann Filmmusik das Abrufen geeigneter

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6. Anhang Modalitäten bei der Filmrezeption gezielt beeinflussen. Mit dem Modell lassen sich einige zur Basis und Entstehung der → emotiven Wirkungen gehörenden Faktoren von Filmmusik beschreiben, da Filmmusik einen entscheidenden Anteil daran zu haben scheint, dass persönliche Hintergründe mit der Geschichte, den Figuren und den erzählten Emotionen in Beziehung gesetzt werden. Die Bedeutung der Filmmusik für einen Teil der »emotionalen Modalitäten« (vgl. Suckfüll, 2007) kann grundsätzlich auch damit erklärt werden, dass Filmmusik den → Spielcharakter und Modellcharakter der Kunst symbolisiert bzw. aufrechterhält. road movie Auf der → Heldenreise basierendes, in der filmischen Form meist »offenes« Genre, das durch eine zentrale Figur auf Reisen, ständige Ortswechsel mit dort jeweils charakteristischen Aufgaben und Figuren sowie den Moment des Zufalls geprägt ist, dabei aber doch einem allgemeinen Thema folgt (z. B. Suche nach sich selbst, kaleidoskopartiges Abbild einer Gesellschaft usw., vgl. →  offene Form). Die zurückgelegten (Um-) Wege, Stationen und Begegnungen stehen nicht selten metaphorisch für einen Weg der inneren Entwicklung. Das road movie strebt oftmals eine größere Realismuswirkung an als die Vorbilder in den antiken und mittelalterlichen Epen. Aus diesen Gründen ergibt sich in diesem Genre für die Filmmusik ihre jeweils geeignete Beschaffenheit und besondere dramaturgische Aufgabe (z. B. Strukturbildung, Differenzierung des Hintergrunds der Vorgänge, metaphorischer Verweis auf Innerlichkeit, Aktualitätsbezug). Schürzung des Knotens → Aktstruktur

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sensorische Qualität Eine im Film speziell an das Hören gekoppelte Dimension, in der sich Qualitäten durch unbewusst ablaufende Verarbeitungsstrategien entwicklen, die dem bloßen Informationswert eines Klanges bezogen auf Struktur, Emotion und Sinnhaftigkeit eine größere Bedeutung geben. Diese Qualitäten werden z. B. durch Lautstärke oder das Klangspektrum beeinflusst (Flückiger 2001/2007, S. 345, 252, 289) und v. a. dem Sound Design zugeschrieben. Auch zur Filmmusik gehört es, mit einer sensorischen Qualität ausgestattet zu werden, da ihre musikalische Wirkung nicht nur auf den Parametern Rhythmus, Motivik, Harmonik und Auswahl der Instrumente basiert. source music → handlungsbedingte Musik Spannungsdramaturgie Ein Schlagwort, das einen Aspekt der Dramaturgie hervorhebt, der oft mit Dramaturgie gleichgesetzt wird. Es kann zwischen disponierter Spannung (tension), die aus einer spezifischen Konstellation heraus entsteht (Eigenschaften und Interessen von zueinander in Beziehung stehenden Figuren kreuzen bzw. widersprechen sich), unterschieden werden von psychologischer Spannung (suspense), die daraus erwächst, wie sich ein Konflikt zuspitzt und löst (siehe auch → Aktstruktur). Die Effektivität des suspense wird oft auch für kleinteilige, untergeordnete Handlungslinien genutzt welche den Hauptplot begleiten und ihn dadurch dynamisch wirken lassen. Die Rolle der Filmmusik rührt für die disponierte Spannung an der →  Fabel, mit der die Anlage der Figurendisposition, des Konflikts und der eigentlichen, konkreten

6. Anhang Handlung umrissen wird (→  Fabelzusammenhang der Filmmusik). Im Falle der psychologischen Spannung zielt die dramaturgische Strategie auf einen →  Eigenaffekt des Publikums, wobei die Filmmusik der zweiten → auditiven Ebene einen Wissensvorsprung erzeugt, indem sie das Publikum B. über drohende Gefahr informiert, z.  während die betroffene Figur, in deren Konflikt sich das Publikum eingefühlt hat, noch ahnungslos ist. Dieser suspense mündet aufgrund seiner relativ kurzlebigen Wirkung und im Gegensatz zur disponierten, in der Fabel angelegten Spannung, die über einen ganzen Film anhalten kann, nicht selten in eine Verdichtung und Beschleunigung der Ereignisse, an deren Ende der Eigenaffekt in einen → Mitaffekt mündet. Spielcharakter und Modellcharakter der Kunst Ein insbesondere von Lotman (1977, 1981) theoretisch fundiertes Konzept zur Ästhetik und Psychologie der Kunst, nach dem Kunst zum einen aufgrund der ihr zugrunde liegenden Regeln mit dem Spiel vergleichbar ist  –  ein durch Regeln geschützter Raum, der es ermöglicht, Verhalten auszuagieren, ohne die Konsequenzen der realen Welt zu fürchten, zugleich aber hinreichenden Ersatz bietet, um Emotionen zu bewältigen und psychologische Mechanismen zu erkennen. Zum anderen besitzt Kunst nach Lotman einen Modellcharakter, der zur Aneignung der Welt dient und »psychische Erholung durch fiktive Lösungen« (Lotman 1981, S. 83) ermöglicht. Filmmusik kann in dieser Theorie als bedeutsames Mittel verstanden werden, das ganz grundsätzlich durch ihr bloßes Vorhandensein den Spiel- bzw. Modellcharakter des Films aufrechterhält und damit der psychologi-

schen Absicherung dient. Dadurch wird auch ein Aspekt der emotiven Wirkung von Filmmusik erklärbar. steigende Handlung → Aktstruktur story → Fabel (fabula, mythos, story) Sujet Ein durch die russischen Formalisten geprägter Begriff, der im dialektischen Zusammenwirken mit der →  Fabel die konkrete Seite bzw. Präsentation einer in der Fabel nur abstrakt angelegten Handlung bezeichnet. Das Sujet ist nicht nur in einem allgemeinen Sinne das visuelle »Gewand« einer Geschichte, sondern ordnet im Sinne der Erzähltheorie die getroffene Auswahl möglicher Motive und ihre konkrete Ausgestaltung unter den äußeren und medialen (z. B. filmischen) Bedingungen und setzt dabei dramaturgisch relevante Grenzoder Verbotslinien, an denen sich grundsätzlich in der Fabel angelegte Konflikte konkret entzünden. supra-diegetic music Ein von Rick Altman (Altman 1987) eingeführter Begriff für Musik im Filmmusical (vgl. Heldt 2013). Siehe auch →  MusicalModus. suspense → Spannungsdramaturgie tension → Spannungsdramaturgie Topik-Reihe Ein von P. Wuss (1992) geprägter Begriff, der auf U. Eco (1979) zurückgeht und die »ständige Wiederkehr analoger Reizmuster komplexer Art innerhalb einer Filmhandlung« (Wuss 1992, S. 29) bezeichnet. Damit

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6. Anhang wird es möglich, narrativ wirksame Tiefenstrukturen ausfindig zu machen und zu benennen, ohne die eine Geschichte oder Handlung oberflächlich wirken würde. Topik-Reihen bieten auch jenseits konventioneller Dramaturgien (→ aristotelische Dramaturgie) tragfähige Strukturen und ein weiteres Wirkungsspektrum. Filmmusik sensibilisiert durch ihre oft untergründig wirkende Art für Topik-Reihen und stützt diese (bzw. deren Verdichtung und Rhythmisierung) konkret durch die Verknüpfung von narrativen Motiven. Topos, filmmusikalische Topologien Von einem Topos bzw. von filmmusikalischen Topologien kann gesprochen werden, wenn musikalische Strukturen an geschichtlich gewachsene Bedeutungen gekoppelt sind. Filmmusikalische Topologien sind häufig schon durch die Instrumentierung (Instrumentenwahl, Klangfarben und -kombinationen, Register, Spieltechniken usw.) abrufbar. Sie können auch durch Rhythmus Harmonik und Melodie angeregt bzw. weiter konkretisiert werden. In einem geeigneten Kontext kann durch sie ein überindividuell wirksames Themenfeld oder sogar eine konkrete Bedeutung wach gerufen werden (z. B. Einsamkeit, Erhabenheit, Erwartung [positiv/negativ], Exotismus, Geborgenheit, Naivität, psychopathologische Befunde, Primitivismus, Religion, Trauer, Überwältigung, un-/erfüllte Liebe, Verlust u. v. a.). Um dramaturgisch wirksam zu werden, muss für filmmusikalische Topologien, die meist als implizites Wissen in Herstellungsprozess und Filmrezeption einfließen, eine manchmal schwer zu erreichende Balance zwischen Stabilisierung durch Wiederholung (über viele Filme hinweg oder werkintern) und neuartiger, Inte-

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resse weckender kompositorischer Ausarbeitung gefunden werden. Filmmusikalische Topoi bewegen sich damit in einem dynamischen Bereich des filmischen Erzählens, der von Bekanntheit und Erneuerung gleichermaßen lebt. Sie durchziehen gut nachweisbar die Geschichte der Komposition und Rezeption von Oper, Liedkunst, klassischromantischer Kammer- und Konzertmusik sowie Pop-Musik. Die »Lesbarkeit« oder Zuordnungen von musikalischen Strukturen, an die sich Bedeutungen geheftet haben, ist nur in geeigneten Kontexten gegeben, die ganz besonders durch Film herzustellen sind. Je nach Genre, Thema, Narration und Zielgruppe sind filmmusikalische Topologien sehr verschieden einsetzbar und wirksam. Außerhalb dieser Kontexte ist ein musikalischer Topos offen für weitere Abstufungen, funktioniert gegebenenfalls dramaturgisch nicht oder erscheint wieder von Semantik befreit. tragisches Moment → Aktstruktur underscoring → Affirmation valeur ajoutée Ein von M. Chion (1990) geprägter Begriff (ins Deutsche oft mit Mehrwert übersetzt), der den durch Ton hinzugefügten expressiven und informativen Wert bezeichnet, der »das gegebene Bild mit einem Klang soweit bereichert, dass es in einem ersten, einprägsamen Eindruck glauben macht, diese Information oder dieser Eindruck des Gesehenen wäre natürlich und plausibel in den einzelnen Bildern vorhanden« (Chion 1990/2012, S. 17). Der expressive Wert, den der musikalische Ausdruck der Filmmusik einem Bild hinzufügen kann, zeigt sich z. B. darin, dass dem →  Handlungsraum oder den ver-

6. Anhang muteten Gedanken der Figuren Glaubwürdigkeit und Intensität verliehen werden. Dieser hinzugefügte Wert ist allerdings nur ein Vertrauensvorschuss, der im Verlauf eines Films eingelöst werden muss. Verfremdung Hier in seiner dramaturgischen Bedeutung verstandener Begriff, der einen Qualitätssprung beschreibt: den »Übergang von Quantität in Qualität« (Brecht 1964a, S. 195). B. Brecht war zwar nicht der Erfinder, hat Verfremdung aber konsequent für eine veränderte Ästhetik des darstellenden Erzählens thematisiert und umgesetzt, die sich gegen → Einfühlung wendet und eine politische Seite der Erzählkunst hervorhebt. Verfremdung erzeugt Staunen und Neugierde und ermöglicht damit einen Zugriff, um die Umstände ändern zu können. Mit Verfremdung ist auch der Begriff des (musikalischen) Gestus eng verbunden, der anzeigt statt illustriert und auch als Ersatz für den → Affektbegriff dienen kann. Durch Verfremdung kann Vorgängen das scheinbar Einleuchtende genommen werden, was folglich eine andere Art Emotionalität erzeugt und das Verhältnis von Einfühlung und Distanz beeinflusst. Verfremdung kann neben den ernsten auch komische Effekte erzeugen.

lungsraums. Die »vierte Wand« zum Publikum wird hingegen von den Figuren meistens ignoriert, ebenso wie das »dahinter« anwesende Publikum, obwohl dieses der einzige Zweck und Adressat des Spiels (→ Spielcharakter der Kunst) ist. In der comedia dell’arte, im Kasperletheater und im postmodernen Theater und im Film ist hingegen die Ansprache an das Publikum stilprägend und wird meist als Durchbrechen der vierten Wand bezeichnet. Die Erhabenheit der Kunstform wird dann zugunsten eines erweiterten Wirkungsspektrums (bzw. um dem kindlichen Abstraktionsvermögen entgegenzukommen) aufgegeben und v. a. um komische Aspekte erweitert. Vom → Beiseite-Sprechen, bei dem das Publikum durch einen inneren Monolog informiert wird, während die anderen Figuren ausgeschlossen bleiben, unterscheidet sich das Durchbrechen der vierten Wand dadurch, dass die Figur für einen Moment aus der Rolle springt und das Publikum als Verbündeten, der aber nicht eingreifen kann (Ausnahme: Kasperletheater), direkt anspricht. Im Film tritt das Phänomen auch in ernsten Genres auf und zeigt Vielfalt und manchmal Ambivalenz filmischer Erzählinstanzen. Filmmusik markiert und rechtfertigt nicht selten solche Momente im Film und gliedert sie ins Kontinuum des Ablaufs ein (→ Kontinuitätsübertrag).

Verwicklung → Aktstruktur Wendepunkte der Handlung Als Wendepunkte oder plot points in der Vierte Wand Ein Begriff, der zu den rezeptionsästheti- Handlung werden dramaturgisch besonschen Verabredungen des Theaters gehört ders relevante Momente im Ablauf einer und auf den Film übertragen werden kann. Handlung bezeichnet, die sich durch eine Stellt man sich die Bühne als durch vier unumkehrbare Richtungsänderung der Wände begrenzten Raum vor, sind die drei Vorgänge auszeichnen und für den weiteSeiten hinter und neben der Bühne imagi- ren Verlauf der Handlung eine neue und nierte oder reale Grenzen des →  Hand- als folgerichtig empfundene Entwicklung

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6. Anhang vorgeben. Schon in der →  aristotelischen dere Merkmale oder schlicht durch das Dramaturgie werden Kriterien für beson- Einsetzen oder  – wenn bereits sehr viel ders wirkungsvolle Mittel an Wendepunk- Musik im Film erklingt – durch Aussetzen ten genannt (z. B. das Zusammenfallen ei- von Musik. Aber auch durch das Verhältnis nes Wendepunktes mit dem Moment der zwischen erster und zweiter →  auditiver »Erkennung«). Ihre Anzahl, Platzierung Ebene, das in der →  Mischung festgelegt und Herbeiführung sind im Film weit wird, sowie durch das Sound Design (das weniger zu standardisieren, als in der Rat- eine größere Bedeutung für diese Effekte geberliteratur mitunter behauptet wird. bekommt, je mehr Musik in einem Film Beim Setzen von →  cues wird der Anteil enthalten ist) werden Wendepunkte in der der Filmmusik an der Wirkung von Wen- Handlung klanglich markiert (vgl. auch depunkten verhältnismäßig früh mitbe- → Aktstruktur). dacht. Filmmusik kennzeichnet Wendepunkte in der Handlung z. B. durch beson- Zitat → präexistente Musik

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