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German Pages 280 Year 2023
Dennis Henkel Hrsg.
Demenz im Film Wie das Kino vergessen lernte
Demenz im Film
Dennis Henkel Hrsg.
Demenz im Film Wie das Kino vergessen lernte
Hrsg. Dennis Henkel Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Uniklinik Köln Köln, Deutschland
ISBN 978-3-662-66388-2 ISBN 978-3-662-66389-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Katrin Lenhart Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.
Vorwort
Im Wintersemester 2022/23 boten Prof. Dr. Dr. Daniel Schäfer und meine Wenigkeit ein Seminar zum Thema „Darstellung der Demenz in Film und Literatur“ an der medizinischen Fakultät der Universität zu Köln an. Nur ein Jahr zuvor hielten wir eine identisch strukturierte Lehrveranstaltung, einziger Unterschied war das Thema „Sucht“ anstelle der „Demenz“ – die Teilnahme war lebhaft und die Resonanz positiv. Beim Topos Demenz jedoch herrschte Leere im Hörsaal und es drängte sich die Frage auf: Weshalb? Ist das Thema zu deprimierend? Gesellschaftlich zu omnipräsent? Zu hoffnungslos? Nichts davon – oder alles zugleich? All diese Attribute könnten auch auf Suchterkrankungen übertragen werden, wenngleich man nicht von genereller Unheilbarkeit – wie bei der Demenz – sprechen kann. Dennoch: Selbst in Relation zu anderen Erkrankungen mit infauster Prognose und enormer Belastung für Angehörige – wie z. B. der Sucht – wirkt die Demenz ungewöhnlich abschreckend, scheinbar sogar für angehende Mediziner. Diese Berührungsängste verdeutlichen, wie diesem, lange tabuisierten Thema noch heute mit Distanz, Ehrfurcht oder gar Verdruss begegnet wird. Doch das Bild des Tabuthemas bröckelt. Dies verdeutlicht die explosionsartig ansteigende Zahl an Filmproduktionen (Kap. 1, Abb. 1.3) der letzten knapp zwei Jahrzehnte, die erfolgreich Publikum an die Kassen lockte. Es ist allerdings nicht ausschließlich die Quantität, auch die Qualität des Demenzfilmkorpus unterliegt einem Wandel: Das Genrespektrum erweitert sich vom „Goldstandard“ des tragischen Paardramas um rasante Agententhriller, anspruchsvolle Art-House-Movies, Animationsfilme, herzerweichende Familienkomödien oder gar markerschütternde Horrorstreifen. Neben der Genrediversität erfuhren auch die Budgetierung, das Zielpublikum und die Narration eine Evolution: Waren Demenzfilme lange Zeit kleinere internationale Produktionen oder Fernsehfilme, imponieren mehr und mehr zeitgenössische Kinofilme mit hochkarätigen Starbesetzungen – wie z. B. Götz George, Julianne Moore oder Anthony Hopkins – und werden von großen Produktionsfirmen mit stattlichen Budgets finanziert. Selbst polarisierende Themen wie Homosexualität oder Sterbehilfe werden der Demenz an die Seite gestellt. Den Zuschauern wird mit filmischen Mitteln sogar immer öfter die direkte Perspektive der Erkrankten zugemutet. Summa summarum: Der demenzielle V
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Vorwort
rotagonist bzw. die Figur wird zunehmend fester Bestandteil des Repertoires namhafter P Schauspieler, etablierter Regisseure und großer Produktionsstudios. Diesem Trend der Filmgeschichte will der vorliegende Band die nötige Aufmerksamkeit zukommen lassen. Ziel ist dabei nicht nur die rein deskriptive Darstellung im Sinne eines wissenschaftlichen filmhistorischen Abrisses, sondern auch die Absicht, den Horizont der Leserschaft zu erweitern und unerwartete Wirkmöglichkeiten der Demenzfilme aufzuarbeiten: Die Erzählungen werden als emotionale Stütze – für Betroffene und deren Umfeld – aufgezeigt, die heterogene Filmauswahl ermöglicht einen Blick über den Tellerrand von Kulturen und Traditionen hinaus und die Erzählperspektive direkt wie indirekt Betroffener zwingt die Zuschauer, in die Realität der Tragödie kognitiven Verlusts einzutauchen – sie sogar hautnah mitzuerleben. Was die Rezipienten aber erleben, ist meist nicht bloße Fiktion, denn die Filmhandlungen sind oft durch Fallstudien, Angehörigengeschichten und Familiendramen, die ihren Ursprung in realen Vorbildern verorten, Autobiografien oder Biografien inspiriert. Oft findet so ein indirekter Austausch Betroffener statt, die dank des Mediums Film über Generationen, Kontinente und Jahrzehnte getrennt sein können – was dem Demenzfilm das Zeug zu einem „gruppentherapeutischen Add-on“ verleiht. Die Auswahl der Filme wurde – dem evolvierenden Charakter des Genres Rechnung tragend – möglichst heterogen zusammengestellt. So wurde besonderer Wert auf Diversität der Produktionen gerichtet und ein Abschnitt Werken gewidmet, die ungewöhnliche und wenig bekannte kulturelle Sichtweisen auf die Demenzerkrankung eröffnen – produziert in Ländern wie China, Südkorea, Japan oder der Türkei. Nicht weniger Beachtung fand die Einbeziehung genderspezifischer Aspekte. Diese Genrevielfalt wurde mittels Inklusion verschiedenster Filmtypi weitgefächert abgebildet, um ein möglichst realitätsgetreues Bild der Demenzfilmhistorie zu skizzieren. Dieser Anspruch an Repräsentativität und Vielfältigkeit wurde auch auf die Auswahl der beitragenden Wissenschaftler bzw. deren Fachbereiche ausgeweitet, sodass – neben den für die Analyse des Medizinfilms „klassischen“ Fachbereichen wie der Filmwissenschaft oder den psychiatrisch-psychotherapeutischen Feldern – auch Experten aus Gebieten der Soziologie, Bioethik, Theologie, Musikwissenschaften, Inneren Medizin, Medizingeschichte, Germanistik und der Neurologie eine spezifische Sichtweise einbringen konnten. Die einzelnen Analysen sind zumeist Filmen gewidmet, die zuvor nie detailliert hinsichtlich medizinischer Gesichtspunkte untersucht wurden. Wenn möglich – wie in Kap. 2 und 3 – wurden Autoren rekrutiert, die sich dem Thema bzw. den Werken schon in der Vergangenheit intensiv gewidmet hatten. Damit präsentiert „Demenz im Film – Wie das Kino vergessen lernte“ sowohl eine filmhistorische Bestandsaufnahme mit repräsentativem Anspruch als auch eine Melange an kulturellen Panoramen um das Thema Demenz, die aus dem Blickwinkel unterschiedlichster wissenschaftlicher Bereiche beleuchtet werden. Den Autoren war freigestellt, alle gewünschten Varianten geschlechtergerechter Formulierungen in ihre Texte einzuarbeiten. Zugunsten besserer Lesbarkeit wurde zumeist das generische Maskulinum verwendet. Gemeint sind jedoch immer alle Geschlechter.
Vorwort
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Es sei besonderer Dank an Axel Karenberg, Hans Jürgen Wulff und Martin Poltrum gerichtet, ohne deren Unterstützung eine Realisierung des Bandes unmöglich gewesen wäre. Von nicht minder unschätzbarem Wert waren die unermüdlichen Korrektur- und Verbesserungsvorschläge von Havva Özcan, Nils-Thorsten Rohrmann und Veronika Filippova, die Qualität und Stringenz der Beiträge maßgeblich bestimmten. Köln, Deutschland Juli 2023
Dennis Henkel
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung: Anfänge der Demenzdarstellung im Kino – Filme vor dem Jahr 2000�������������������������������������������������������������������� 1 Dennis Henkel Teil I Vom familiären Drama, der häuslich-familiären Pflege und der Endstation Pflegeheim 2 Vom familiären Drama in Iris������������������������������������������������������������������������������ 13 Axel Karenberg und Hans Förstl 3 Mein Vater – Ein Ich löst sich auf�������������������������������������������������������������������������� 25 Havva Özcan und Dirk Arenz 4 Wie fühlt es sich wohl an, dement zu werden? Der untypische Genre-Klassiker Still Alice������������������������������������������������������������������������������������ 39 Tobias Eichinger 5 Das Mädchen mit dem Opa, der Honig im Kopf hat������������������������������������������ 53 Hannah Poltrum 6 „Ich verliere meine Blätter“ – Vulnerabilität als Selbsterfahrung des Zuschauers in The Father�������������������������������������������������� 67 Kurt W. Schmidt 7 Je mehr der Geist verblasst, umso heller leuchtet der Hass – Falling ohne Aussicht auf Besserung�������������������������������������������������������� 85 Brigitte Sindelar Teil II Genderaspekte: Wie Regisseurinnen die Demenz inszenierten 8 Der Bär kletterte über den Berg oder „Die Hürde des Vergessens“ in An ihrer Seite������������������������������������������������������������������������ 101 Susanne Rabenstein
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Inhaltsverzeichnis
9 Die Wilden und die Traurigen – Demenz als Krise der Familie mit Die Geschwister Savage ������������������������������������������������������������������ 115 Walter Stehling 10 Der Horror des Hereditären in Relic������������������������������������������������������������������ 129 Dennis Henkel Teil III Ein Blick über den Tellerrand: Internationale Demenzfilme fernab des Eurozentrismus 11 Starke Frauen, marode Gesellschaftsstrukturen und die Flüchtigkeit des Seins in Sommerschnee���������������������������������������������� 143 Dennis Henkel 12 Das Streben nach „Ikigai“ und dessen Herausforderungen in Memories of Tomorrow������������������������������������������������������������������������������������ 157 Sezer Selamet 13 Die Büchse der Pandora und die Last des Vergessens �������������������������������������� 169 Sezer Selamet 14 Ordnung und Verlust in Memoir of a Murderer������������������������������������������������ 183 Thomas Ballhausen Teil IV Besonderes und Kontroverses: Demenz in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft, assistierter Suizid, futuristische Therapieansätze und die musikalische Begleitung des Demenzfilms 15 Demenz und Digitalisierung – Die Zukunft der Pflege mit Robot & Frank������������������������������������������������������������������������������������ 197 Dennis Henkel 16 Die Auslöschung – das Ende einer bildungsbürgerlichen Liebe���������������������� 211 Dirk Arenz und Havva Özcan 17 Historisches Vergessen und traumatisches Erinnern in Remember���������������� 223 Daniel Schäfer 18 Supernova – ein verglühender Stern������������������������������������������������������������������ 239 Felicitas Auersperg 19 Kompositionen des Vergessens – Filmmusikalische Aspekte in Spielfilmen über Alzheimer-Erkrankte �������������������������������������������������������� 251 Wolfgang Thiel 20 Demenzfilm – Eine Filmographie ���������������������������������������������������������������������� 267 Dennis Henkel
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Über die Autoren Dr. med. Dirk Arenz Studium der Medizin in Bonn. Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie 1998. Arbeitstätigkeiten in den Universitätskliniken Bonn, Halle an der Saale und Köln. Darüber hinaus ärztlich tätig in den LVR-Kliniken Bonn, Klinikum Leverkusen und der Rhein-Mosel- Fachklinik Andernach. Seit 2003 Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des Marien- Hospitals Euskirchen. Buch- und andere Fachpublikationen in verschiedenen Organen zur klinischen Psychopathologie, seltenen Syndromen in der Psychiatrie, psychiatrischen Aspekten im Film und zur Psychiatriegeschichte.
Dr. Felicitas Auersperg, Msc Studium der Psychologie in Wien; Dissertation in Psychotherapiewissenschaft zum Schwerpunkt „Konstruktion sozialer Identität“; Wissenschaftliche Mitarbeiterin der psychologischen Fakultät der Sigmund Freud Privatuniversität Wien
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Herausgeber- und Autorenverzeichnis Mag. Dr. Thomas Ballhausen Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, der Deutschen Philologie, der Philosophie und der Sprachkunst in Wien. Mitarbeiter an der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur am Literaturhaus Wien. Er lehrt u. a. an der Universität Wien und der Universität Mozarteum Salzburg. Internationale Tätigkeiten als Herausgeber, Kurator und Vortragender. Wissenschaftliche und literarische Veröffentlichungen, z. B. „Signaturen der Erinnerung“ (Wien 2015), „Gespenstersprache“ (Wien 2016), „Mit verstellter Stimme“ (Horn 2017) und „Fauna“ (gem. mit E. Peytchinska; Berlin, 2018).
Dr. phil. Tobias Eichinger Studium der Philosophie und Filmwissenschaft in Erlangen und Berlin (FU). Seit 2014 Oberassistent und Lehrkoordinator am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Ziele und Identität der Medizin, Enhancement, wunscherfüllende Medizin und Medikalisierung, Medizinethikdidaktik sowie die Darstellung von medizinethischen Themen im Film. Mitglied u. a. in der Arbeitsgruppe „Medizinethik im Film“ der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM).
Dennis Henkel Dr. med., Arzt, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität zu Köln am Institut für Geschichte und Ethik in der Medizin. Buchautor, Herausgeber von Sammelbänden und Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen in internationalen medizinischen Fachjournalen zum Thema Darstellung der Medizin im Film.
Prof. Dr. med. Axel Karenberg Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität zu Köln. Nach Weiterbildung zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie 1994 Habilitation, 2000 Ernennung zum Professor. Schönste Buch publikation: „Amor, Äskulap & Co. Klassische Mythologie in der Sprache der modernen Medizin“.
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Hans Förstl Prof. i. R., Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie, war von 1997 bis 2020 Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der TU München, hat sich schon immer auch für andere Themen interessiert und sein Studium der Psychologie, Philosophie und Kunstgeschichte noch nicht abgeschlossen.
Havva Özcan Ärztin und Autorin. Studium der Humanmedizin an der Universität zu Köln, dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Raucherentwöhnungsprogramm tätig, ärztliche Approbation 2013. Ab 2015 ärztliche Tätigkeit in der Notaufnahme des Bursa Aritmi Hastanesi, Türkei (2015–2019), ab 2017 Leitung der Notaufnahme. Zudem Initiatorin der Organtransplantationsprogramms der Klinik und Koordinatorin zahlreicher medizinisch-sozialer Projekte (Stammzellspende, Blutspende, Organtransplantation). Aktuell Stationsärztin in der neurologischen Abteilung der Vamed Klinik Hattingen.
Hannah Poltrum, M.Sc. Studium der Psychologie an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien. Seit Mai 2022 im Ausbildungsturnus zur Klinischen Psychologin am Universitätsklinikum AKH Wien.
Mag. phil. Dr. pth. Susanne Rabenstein Studium der Germanistik, Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien, Studium der Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund- Freud-Privatuniversität Wien, Psychotherapieausbildung zur individualpsychologischen Psychotherapeutin, Lehranalytikerin, Supervisorin und stellvertretende Leiterin für das Fachspezifikum Individualpsychologie an der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien, Psychotherapeutin in freier Praxis
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Herausgeber- und Autorenverzeichnis Prof. Dr. med. Dr. phil. Daniel Schäfer Studium der Humanmedizin, Germanistik und Geschichte der Medizin an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg. Habilitation in Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität zu Köln. Dort seit 2008 Akademischer Oberrat und Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin. Wissenschaftliche Schwerpunkte liegen derzeit in der Geschichte und Ethik des Alter(n)s, Sterbens und Todes sowie in den Grenzbereichen zwischen Medizin und Literatur als Teil der „Medical Humanities“.
Prof. Dr. theol. Kurt W. Schmidt Evangelischer Pfarrer und Medizinethiker. Leiter des Zentrums für Ethik in der Medizin am Agaplesion Markus Krankenhaus, Frankfurt/M. und nebenamtlicher Studienleiter an der Evangelischen Akademie Frankfurt. Verschiedene Lehraufträge an medizinischen und juristischen Fakultäten. Honorarprofessor am Fachbereich Rechtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Veröffentlichungen zu Medizin in Literatur und Film, u. a. Schwierige Entscheidungen – Krankheit, Medizin und Ethik im Film (zusammen mit G. Maio und H.-J. Wulff), Haag u. Herchen, Frankfurt/M. 2008, ‚Sterbehilfe in (Spiel)Filmen‘ In: Bundesgesundheitsblatt 2017; ‚Eine tragische Kindheit – Elternschaft und Verantwortung in Mary Shelleys „Frankenstein‘“. In: EKFul, Fokus Beratung 2018. Dr. med. Sezer Selamet Studium der Medizin und Promotion an der Universität zu Köln, seit 2019 in der Klinik für Innere Medizin am Evangelischen Krankenhaus Wesel mit den Schwerpunkten Gastroenterologie, Onkologie und Palliativmedizin, Autorenschaften im Gebiet der Hämostaseologie sowie Darstellung der Medizin im Film mit Fokus auf Japan
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Brigitte Sindelar Studium der Psychologie an der Universität Wien, Promotion 1976. Klinische Psychologin und Psychotherapeutin (Individualpsychologie) mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Habilitation für Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund-Freud-Privatuniversität (SFU), dort seit der Gründung bis Ende 2022 im akademischen Lehrbetrieb tätig, ab 2012 als Vizerektorin für Forschung. Lehrtherapeutin und Supervisorin im psychotherapeutischen Fachspezifikum Individualpsychologie der SFU. Leitung des „Sindelar Centers“, einer psychotherapeutischen und klinisch-psychologischen Praxis in Wien gemeinsam mit Mag. Christoph Sindelar. Entwicklung der „Sindelar-Methode“ zur Diagnostik und Behandlung von Teilleistungsschwächen. Trägerin des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst. Dr. med. Walter Stehling Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Allgemeinchirurgie. Stellvertretender ärztlicher Leiter der Tagesklinik Süd vom Bayerischen Roten Kreuz in München. Studium der Humanmedizin in Würzburg. Facharztausbildung für Allgemeinchirurgie an der Kreisklinik Wolfratshausen und am Klinikum der LMU München. Ausbildung zum Psychiater bei Hans Förstl am Klinikum rechts der Isar der TU München. Dissertation zum Thema „Darstellung und Funktion psychischer Erkrankungen in Spielfilmen“. Seit Jahren Script-, Story- und Character-Consulting für Film-Studierende an der Technischen Hochschule Nürnberg und an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Leitung von Supervisions-Workshops für Lehrende.
Wolfgang Thiel Studium der Musikwissenschaft und Komposition in Berlin. Zwischen 1975 und 1990 arbeitete er freiberuflich als Komponist (Orchester-, Vokal- und Kammermusik, ca. 50 Filmmusiken) sowie als Musikwissenschaftler mit den thematischen Schwerpunkten: Ästhetik und Geschichte der Filmmusik. 1981 erschien sein Buch: Filmmusik in Geschichte und Gegenwart im Ostberliner Henschel-Verlag. Des Weiteren veröffentlichte er historische und ästhetische Studien zu Problemen einer filmspezifischen Musik, zur Filmmusik im NSStaat, zur Geschichte der europäischen Filmmusik und zu Hanns Eislers Filmmusiken nach 1948. Von 1992 bis 2013 war Thiel Honorarprofessor für Filmmusik und Kompositionslehrer im Studiengang Medienmusik an der Berliner Musikhochschule „Hanns Eisler“.
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Autorenverzeichnis Dirk Arenz Euskirchen, Deutschland Felicitas Auersperg Sigmund Freud Privat Universität Wien Campus Prater, Wien, Österreich Thomas Ballhausen Universität Mozarteum Salzburg, Salzburg, Österreich Tobias Eichinger Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich, Zürich, Schweiz Hans Förstl Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, TU München, München, Deutschland Dennis Henkel Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Uniklinik Köln, Köln, Deutschland Axel Karenberg Institut für Geschichte & Ethik der Medizin, Uniklinik Köln, Köln, Deutschland Havva Özcan Hattingen, Deutschland Hannah Poltrum Wien, Österreich Susanne Rabenstein SFU (Sigmund Freud Privat Universität Wien, Österreich), Wien, Österreich Daniel Schäfer Institut für Geschichte und Ethik der Medizin., Köln, Deutschland Kurt W. Schmidt Oberursel/Ts., Deutschland Sezer Selamet Wesel, Deutschland Brigitte Sindelar Sigmund Freud Privat Universität Wien Campus Prater, Wien, Österreich Sindelar Center, Schönbrunn, Alsergrund, Wien, Österreich Walter Stehling München, Deutschland Wolfgang Thiel Potsdam, Deutschland
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Einleitung: Anfänge der Demenzdarstellung im Kino – Filme vor dem Jahr 2000 Dennis Henkel
Inhaltsverzeichnis orspann – Das Jahr 1970 V Die 1980er Die 1990er Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Literatur
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D. Henkel (*) Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Uniklinik Köln, Köln, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_1
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Filmplakat Folks!. (© VCL Communications. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Vorspann – Das Jahr 1970 Anhand zahlreicher Forschungsarbeiten kann belegt werden, dass Demenz in Filmen bis zur Jahrtausendwende ein gut erforschtes Topos ist: Sowohl filmhistorische Studien (Wulff 2008; Gerritsen et al. 2013) als auch umfassende Werkverzeichnisse (Wulff 2007) und Kongressvorträge aus medizinhistorischer Perspektive (Karenberg 2015) runden den Forschungsstand ab. Die folgenden einleitenden Worte basieren zum Großteil auf den oben genannten Vorarbeiten und subsumieren, welche dramaturgischen und stilistischen Aspekte den Demenzfilm prägen, wie sich dessen Chronologie präsentiert und welche Erkenntnisse sich daraus ableiten lassen. Die Darstellung dieser hat nicht nur rein deskriptiven Wert, sondern stellt uns auch viele typische Merkmale vor, die uns im Korpus des vorliegenden Bandes immer wieder begegnen werden – die Geburtsstunde einer Blaupause; pointierter: des Archetypus des Demenzfilms.
1 Einleitung: Anfänge der Demenzdarstellung im Kino – Filme vor dem Jahr 2000
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Stilistik und Merkmale Dem geschulten Auge fällt als erstes die Häufung eines bestimmten Genres auf: das sogenannte „Weepie“. Dieser aus dem Englischen entliehene Terminus bezeichnet jene Werke, die bewusst „auf die Tränendrüse drücken“, meist in Form des tragischen Liebesfilms. Das Leiden an Demenz wird demnach überproportional häufig als Paarerfahrung – oft gar als Antithese zur Liebe – demonstriert, was im Umkehrschluss die Liebe als kinematografisches Therapeutikum inszeniert. Dieses idealisiert-romantische Bild kumuliert 2004 höchst melodramatisch im Hollywoodkitschstreifen The Notebook. Nicht nur die romantische Liebe wird durch die Erkrankung vor eine Zerreißprobe gestellt, oft ist es auch die familiäre oder die platonische Liebe – ein generalisierter Heroismus der Liebe. Das Fortschreiten der Demenz wird als Verlust der Fähigkeit sozialer Interaktion gedeutet, der Demente entfällt als Resonanzraum für Mitmenschen. Der Verlust – ein Schlüsselbegriff – ist in vielerlei Hinsicht elementar für das Demenzkino: Der Verlust des Partners, der Kommunikation, der Würde, der Person und vor allem der (gemeinsamen) Erinnerungen. Dies leitet uns zu einem weiteren Merkmal: Die Erzählperspektive besticht meist als die der Angehörigen, Nahestehenden oder Partner. Demnach verkörpern Bezugspersonen und Angehörige zentrale Figuren und Erkrankte sind in der Regel nicht auf sich selbst gestellt; die Nebenfigur der dementen Großmutter aus My Girl (USA 1991) bietet die singuläre Ausnahme. Die schwierige Inszenierung der subjektiven Wahrnehmung des Demenzkranken selbst wird folglich vermieden. Die Erinnerung nimmt im Kino nicht ausschließlich die Funktion des Schwindenden, des wehmütig Nachzutrauernden, des Unwiederbringlichen ein. Sie wird – wie die Liebe – zugleich als Hoffnungsschimmer oder gar als Lösungsansatz aufgefasst. So werden biografische Details aus dem Leben der Kranken als Mittel genutzt, um die Erinnerungen der Betroffenen aufzufrischen, ja sogar „zurückzuholen“ – Eine erfolgreiche therapeutische Konfrontation mit der eigenen Biografie also, die leider als realitätsfern einzustufen ist. Ein weiteres zentrales Charakteristikum ist die dramaturgisch „tief“ inszenierte „Fallhöhe“. Die Fallhöhe ist ein schon aus der aristotelischen Poetik* bekanntes Prinzip, das, vereinfacht ausgedrückt, impliziert, eine Figur wirke umso tragischer, je mehr sie zu verlieren habe. Auf den Punkt gebracht, weckt eine junge, erfolgreiche Mutter, die mitten im Leben steht, mehr Mitleid beim Publikum als eine uralte Greisin, die ein erfülltes Leben genießen durfte. *Die Poetik von Aristoteles
Die Poetik ist in summa eine Abhandlung des Aristoteles über die Dichtkunst. Aristoteles exemplifiziert und definiert die Grundlagen der Dichtung anhand zweier großer Dramenformen: Tragödie und Epos. Er prägte mit der Schrift kanonische Begriffe wie die Mimesis – die Nachahmung der Wirklichkeit – oder die Katharsis (altgriechisch κάθαρσις) – die Auslösung eines emotionalen Reinigungsprozesses – die auch in der aktuellen Dramentheorie nicht an Bedeutung verloren haben.
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Dementsprechend sind die Protagonisten oft deutlich jünger als der durchschnittliche Alzheimer-Patient, genießen hohen sozialen Status und leben ein harmonisches Familienleben. Schaut man in die semantischen, symbolischen wie allegorischen Aspekte des Filmkorpus, entdeckt man weitere Couleurs des Demenzkinos: Man begegnet wiederholt dem Bild der Reise (auffällig viele Demenzfilme sind Roadmovies), dem der drohenden, ewigen Dunkelheit (oftmals bereits im Filmtitel), dem des unabwendbaren Versinkens sowie dem kunsthistorisch vielstrapazierten Symbol des auslaufenden Gefäßes – allesamt Sinnbilder der Veränderung, des Untergangs und der Auflösung.
Darstellung der Symptomatik und der Medizinwelt Die Demenz selbst wird in Filmen überwiegend mit realistischer Symptomatik dargestellt. Gröbere, oft der Kreativität geschuldete Fehldarstellungen bleiben die Ausnahme. Neben dem pathognomonischen Vergessen imponiert das „wandering“ – zielloses, desorientiertes Umherirren – als prominentestes Leinwandsymptom. Die Darstellung des klinischen Erscheinungsbilds der Demenz kann als Pseudorealismus klassifiziert werden – authentisch, aber mit kleinen künstlerischen Freiheiten. Ärzten, Pflegern, Krankenhäusern und besonders Medikamenten wird wenig Raum auf der Leinwand gewährt, und wenn, ist die dramaturgische Bedeutsamkeit gering. Im Falle des Pharmazeutikums sollte angeführt werden, dass das erste Arzneimittel zur Behandlung der Demenz von der US-Amerikanischen Lebensmittelüberwachungs- und Arzneimittelbehörde FDA erst 1993 zugelassen wurde (der Wirkstoff Tarcin, heute aufgrund von Hepatotoxizität vom Markt genommen) – wenig Zeit, dies bis zum Jahre 2000 in Filmhandlungen einzubauen. Bedenkt man ferner die selbst nach 2000 dramaturgisch marginale Rolle von Medikamenten im Demenzfilm, scheint die späte Zulassung nur zum Teil das eklatante Fehlen der Pharmakotherapie zu erklären und spiegelt vielleicht eher die limitierten Erfolge wider. Um diese eher negative Konnotation zu untermauern, sind folgende Zahlen aufschlussreich: Lediglich bei 58 % der Erkrankten konnte ein Arztbesuch eruiert werden, bei nur 43 % wurde die Diagnose direkt ausgesprochen. Medikamente werden, selbst wenn man den Zeitraum bis 2004 erweitert, nur bei 8 % der Patienten angewandt, eine explizite Nennung von Cholinesterasehemmern gibt es de facto einmal, nämlich in dem im Jahre 1998 entstandenen Safe House (USA). Dieser Umstand kann einerseits dadurch erklärt werden, dass die Filmhandlungen das Privatleben der Betroffenen fokussieren, andererseits durch die begrenzten Erfolge der therapeutischen Versuche. Werden Mediziner den Zuschauern präsentiert, personifizieren diese, oftmals im Moment der Diagnosestellung, Empathielosigkeit und emotionale Distanz. Zusammenfassend zeichnet den Alzheimer-Film ein starker therapeutisch- medizinischer Nihilismus aus, dem wir auch in den Filmen nach 2000 regelhaft begegnen werden.
1 Einleitung: Anfänge der Demenzdarstellung im Kino – Filme vor dem Jahr 2000
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Chronologie Bedenkt man, dass Alois Alzheimer die Pathologie schon 1906 definierte, wundert es, wie lange das Kino sich von einem so dramatischen wie tragischen Thema fernhielt. Mehr als ein halbes Jahrhundert machten Regisseure und Produzenten einen weiten Bogen um das Thema. Wieso? Die Antwort auf diese Frage bleibt spekulativ, doch es liegt nahe, dass hier die erst kürzlich sukzessiv steigende Prävalenz, damit auch die allgemeine Relevanz sowie das Interesse des Kinogängers, eine Rolle spielt. Zudem ist auch eine Tabuisierung der Demenz anzunehmen – Alzheimer war und bleibt ein „hässliches“ Krankheitsbild. Besonders das unwürdige Endstadium der Neurodegeneration ist selbst heute ein höchst ungern inszenierter Zustand. Das Jahr 1970 war die Geburtsstunde des Demenzkinos. Es entstanden gleich zwei Filme, die sich diesem Thema widmeten: Where’s Poppa? (USA 1970) und I Never Sang for My Father (USA 1970). Where’s Poppa? ist eine schwarze Komödie, die dem Ernst der Demenz kaum gerecht wird – ein „zu Tode Erschrecken“ der dementen Mutter mittels Gorillakostüm leitet den Film ein. Ob man dieses filmische Duo als Initialzündung deuten kann, die weitere Werke inspirierte, ist fraglich. Weitere 15 Jahre lang herrschte die bekannte Stille, die schon die ersten knapp 90 Jahre Filmhistorie kennzeichneten – keine weiteren Demenzfilme sind bis zum Jahre 1985 zu eruieren. Demnach sind Where’s Poppa? und I Never Sang for My Father eher Aberrationen oder Vorläufer denn ein Startpunkt. Die Zeit war noch nicht reif, denn Fahrt nahm das Demenzkino – jedoch gebremst – erst in den 1980ern auf.
Die 1980er In den 1980ern begann die Filmwelt langsamen Schritts, die Demenz als Sujet zu entdecken. Dies zeigte sich primär in Form von Fernsehproduktionen, die Mitte des Jahrzehnts das heimische Publikum erreichten, sowie kleinen internationalen Kinoproduktionen. Beispiele für Ersteres sind Mercy or Murder? (USA 1988), in dem das kontroverse Thema des assistierten Suizids aufgegriffen wird. Do You Remember Love (USA 1988) präsentiert die beschriebene Fallhöhe des Protagonisten an der Figur eines Englischprofessors. Auch internationale Kinoproduktionen porträtieren erkrankte Akademiker, wie die Kunstprofessorin aus Sonia (Kanada 1986), die von ihrer Tochter aufopferungsvoll gepflegt wird. Als eine weitere internationale Kinoproduktion aus den Niederlanden ist Hersenschimmen (1988) zu nennen, die den Identitätsverlust eines demenziellen Immigranten in den USA aufarbeitet. Hollywood wagt sich zum Ende des Jahrzehnts erstmals – allerdings in euphemistischer Manier – mit Driving Miss Daisy (USA 1989) (Abb. 1.1) an die Krankheit, die hier von einer liebenswerten Senilität kaum zu unterscheiden ist.
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Abb. 1.1 Driving Miss Daisy. (© Highlight Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Die 1990er Die 1990er-Jahre waren die Dekade, in der sich die Demenz einen festen Platz auf der großen Leinwand eroberte. 1991 wurde dem Publikum eine erkrankte Nebenfigur im bereits erwähnten My Girl präsentiert. Ein Jahr später folgte die Komödie Folks! (USA 1992). Folks! thematisiert die grotesken Zumutungen, die ein dementer Vater seinem Sohn auferlegt. Der derb-komische Film bietet die zuvor angesprochenen, „zurückgeholten“ Erinnerungen, die den Vater zu Suizidversuchen drängen. Eine Figur versinnbildlicht den Zustand des Vaters: cc
1943 he remembers like yesterday. It’s yesterday he can’t remember like yesterday.
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Im Jahre 1995 folgt die erste zu eruierende asiatische Produktion um die Alzheimer- Erkrankung: Sommerschnee. Das Werk ist eines der eindrucksvollsten Demenzfilme des Jahrzehnts und wird – als Ausnahme des eigentlichen Zeitfensters dieses Bandes – in Kap. 11 gesondert analysiert. Marvin’s Room (USA 1997) (Abb. 1.2) verdient besondere Achtung: einerseits stellt das Werk die erste starbesetzte Großproduktion für die Kinoleinwand dar, die das Thema ohne komödiantische Verklärung angeht, andererseits mutet es den Zuschauern das unschön anzusehende Tabuthema des Endstadiums der Demenz zu (2001 wird dieser Zustand am Ende des schwedischen En sång för Martin zum zweiten und letzten Mal aufgeführt). Im selben Jahr war in Time to say goodbye? (USA) der erste Arzt Opfer der Erkrankung. Sein Verlangen Suizid zu begehen, verwandelt den Mediziner zum sprichwörtlichen Ping-Pong-Ball der Familie, die ausschließlich Interessen egozentrischer Natur hegt. Auch hier erlebt der Zuschauer eine empathielose, emotional distanzierte Untersuchung und Beratung bei Diagnosestellung. Der deutsche Film tastete sich ebenfalls an das Thema Demenz heran, allerdings mit kleinen Fernsehproduktionen: Reise in die Dunkelheit (1997) und ein Jahr später Das vergessene Leben. Mit Safe House (USA 1998) beginnt sich der Demenzfilm langsam auf untypische Genres auszuweiten, in diesem Fall auf den Agententhriller. Der Film bewerkstelligt es, rare Symptome wie paranoiden Wahn** oder – durch Kameraeffekte geschickt illustrierte – visuokonstruktive Fehlleistungen mit filmischen Mitteln auszudrücken. **Paranoider Wahn
Paranoider Wahn oder Wahnvorstellungen sind ein klassisches Symptom der Psychose, treten aber auch bei hirnorganischen Erkrankungen wie der Demenz auf. Wahn manifestiert sich in irrationalen Gedanken und Befürchtungen, regelhaft in Form des Verfolgungswahns. Ein Patient mit paranoiden Wahnvorstellungen wähnt häufig, dass andere sich gegen ihn verschwören oder schadhafte Gerüchte verbreiten. Oft zeigen die Erkrankten Eifersuchtswahn. Kennzeichnend für den paranoiden Wahn ist das Fehlen objektiver Beweise für die Befürchtungen der Wahnhaften. Abb. 1.2 Marvin’s Room. (© Kinowelt Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Das Jahrzehnt schließt mit Speed of Life (aka Saturn, USA 1999), in dem eine als subkortikal umschriebene Demenz den Protagonisten heimsucht. Symptome wie epileptische Anfälle oder Ataxie*** lassen im Verlauf allerdings Zweifel an der Diagnose aufkommen. ***Ataxie
Ataxie – vom Griechischen ἀταξία, die Unordnung oder Unregelmäßigkeit – beschreibt eine Störung der Bewegungskoordination, die sich meist in Ungeschicklichkeit der Hände, ungenauen Zielbewegungen von Armen und Beinen, mangelhafter Augenbewegungen sowie Beeinträchtigung von Stand- und Gangfestigkeit manifestiert. Sie ist nicht durch eine Schwäche der Muskulatur bedingt und kann dem Bild des krankhaften Zitterns (Tremor) ähneln. Unterteilt wird die Ataxie gemeinhin in optische, Rumpf-Gang- und Gliedmaßenataxie, auch die Dysarthrie (unkoordiniertes Zusammenspiel der Sprachmuskulatur) kann ataktisch bedingt sein. Ursächlich sind zumeist Störungen der Kleinhirnfunktion, aber auch andere ZNS- Erkrankungen (z. B. Infektionen, multiple Sklerose), metabolische Störungen (z. B. Morbus Wilson, eine Kupferspeicherkrankheit) oder erbliche Pathologien (z. B. die Friedreich-Ataxie oder die spinozerebellären Ataxien) können Auslöser sein. Neuere Forschungen zeigen, dass bei Störungen des Immunsystems auch Nahrungsmittel, im besonderen Gluten, eine Ataxie verursachen können (Glutenataxie).
Bemerkenswert: Der sich um den kranken Vater kümmernde Sohn tötet diesen zum Ende des Films. Zuletzt sei noch ein weiteres Werk aus dem Okzident – wie auch Sommerschnee aus Hong Kong – vorgestellt: Ban zhi yan (1999): Hier ist ein an Alzheimer erkrankter Mann auf der Suche nach einer flüchtigen Liebe, deren Gesicht er erneut erblicken möchte, bevor seine Erinnerung gänzlich schwindet.
Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Die ersten Gehversuche des Demenzkinos waren zaghaft, geprägt von kleinen, vereinzelten Produktionen, die häufig ausschließlich für den Fernsehmarkt entstanden. Erst in den 1990er-Jahren, gute 80 Jahre nach der Entdeckung der Alzheimer-Erkrankung, wurde das Thema zu einem festen Sujet für Filmschaffende – woraufhin eine wahre Explosion an Demenzfilm-Produktionen folgte (Abb. 1.3). Wie exponentiell sich diese Explosion entwickelte, akzentuiert folgende Statistik: In der Zeitspanne bis 2004 können 52 Filme mit Demenzinhalt eruiert werden. Nach 1999 entstanden 28 dieser Werke – im Anbetracht der Tatsache, dass die ersten Demenzfilme 1970 entstanden, ist dies eine extraordinäre Zahl. Dieser Umstand belegt, wie bedeutsam
1 Einleitung: Anfänge der Demenzdarstellung im Kino – Filme vor dem Jahr 2000
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Abb. 1.3 Chronologie mit grafischem Anstieg der Demenzfilme 1970–2022
das Thema in den letzten knapp 20 Jahren für die Filmindustrie wurde, insbesondere unter dem Aspekt, dass sich dieser Trend bis ins Jahre 2022 fortsetzt. Sehr schleichend ging die Einführung der Demenz in die Kinolandschaft vonstatten. Von Beginn an können Merkmale herausgearbeitet werden, die den Demenzfilm bis heute auszeichnen: Oftmals sind es Liebesfilme, in denen die Liebe als Antithese zur Erkrankung stilisiert wird, die Erzählperspektive ist im Regelfall die der Angehörigen. Im Gegensatz dazu nehmen Medizin wie Ärzteschaft wenig Raum und Wirkmächtigkeit ein, sie werden gar diffamierend inszeniert. Zudem wird die dramaturgische Fallhöhe der Figuren überproportional gesteigert und sogenanntes „resurfacing“ kann degenerierte Gedächtnisinhalte dank Konfrontation mit biografischen Details zurückholen. Filmische Leitsymptome bestehen aus Gedächtnisverlust und Verirren. Realismus wird im Grunde in den meisten Fällen geboten, wenige nicht zutreffende Aspekte lassen den Demenzfilm insgesamt als Pseudorealismus erscheinen. Was uns dieser Abriss der Demenzfilmgeschichte verdeutlicht, ist, wie stark die Relevanz des Themas für Filmemacher und Publikum zunimmt. Ob dieses ein persistierender oder ein vergänglicher Trend ist, bleibt abzuwarten. In jedem Falle ist diese Entwicklung mehr als begrüßenswert, nicht nur als Bereicherung des kulturellen Erbes, sondern auch aus medizinischer Perspektive – weshalb? Hier muss ein Blick auf die Inanspruchnahme von Hilfsangeboten Betroffener geworfen werden, was ein Beispiel aus England verdeutlichen soll: Die britische Soap Opera Coronation Street (1960 bis heute) wurde zusammen mit der Rufnummer der britischen Demenzhilfe ausgestrahlt – und führte am Abend der Ausstrahlung zu nie zuvor auch nur annähernd erreichten Rekordzahlen bei den Hilfegesuchen. Fiktion kann somit die Inanspruchnahme in relevantem Maße steigern, und dies im besten Fall sogar unterhaltsam und mit künstlerisch-kulturellem Mehrwert. Vergegenwärtigt man sich diese Eigenschaften des „Kinos des Vergessens“, kann die Hoffnung nur darin liegen, dass der rapide Trend zum Demenzfilm ein langanhaltender sein wird.
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Literatur Gerritsen DL, Kuin Y, Nijboer J (2013) Dementia in the movies: the clinical picture. Aging Ment Health 18(3):276–280 Karenberg A (2015) Demenz im Spielfilm. Vortrag vom DGPPN Kongress Berlin, 26. November 2015 Wulff HJ (2007) Die Alzheimer-Erkrankung im Film: Eine Arbeitsfilmographie. Medienwissenschaft/Hamburg: Berichte und Papiere 64. http://berichte.derwulff.de/0064_06.pdf. Zugegriffen am 09.08.2022 Wulff HJ (2008) Als segelte ich in die Dunkelheit… Die ästhetische und dramatische Analyse der Alzheimer-Krankheit im Film. In: von Jagow B, Steger G (Hrsg) Jahrbuch Literatur und Medizin, Bd 2. Winter Verlag, Heidelberg, S 199–216
Teil I Vom familiären Drama, der häuslich-familiären Pflege und der Endstation Pflegeheim
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Vom familiären Drama in Iris Axel Karenberg und Hans Förstl
Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Dramaturgische Facetten Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Abspann, oder: Was nicht vergessen werden sollte Literatur
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A. Karenberg (*) Institut für Geschichte & Ethik der Medizin, Uniklinik Köln, Köln, Deutschland e-mail: [email protected] H. Förstl Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, TU München, München, Deutschland e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_2
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Filmplakat Iris.
Vorspann Schon ehe die Dreharbeiten zu Iris abgeschlossen waren, blühten die Spekulationen. Würde die 1999 im Alter von nicht ganz 80 Jahren verstorbene Schriftstellerin Iris Murdoch, in der angelsächsischen Welt eine der großen literarischen Persönlichkeiten ihrer Generation, ein wohlverdientes filmisches Denkmal erhalten? Etwa in Form des klassischen biopic, wie es auf dem Werbeplakat der nichtssagende Slogan „Leben war ihre größte Begabung“ versprach? Oder ging es vielmehr um eine szenische Fallstudie zum Verlauf der Alzheimer-Krankheit, an der die prominente Autorin und Philosophin in ihren letzten Jahren gelitten hatte? Als der Film anlief und Kinogänger wie Kritiker das Ergebnis begutachteten, stellte sich heraus, dass nichts von alledem zutraf (Wilkinson 2002). Die Leinwandstory bot weder ein opulentes Lebensbild noch eine pure Leidenschronik, sondern entpuppte sich als tragikomisches Kinomärchen über eine lange Liebe und ein langsames Sterben. Ein Kinomärchen mit einer strahlenden jugendlichen Heldin, die als reife Frau zum Opfer eines schicksalhaften Geschehens wird, und einem treusorgenden Gefährten, der ihr in der
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Stunde der Not nicht von der Seite weicht. Iris ist zuallererst eine anrührende Studie über Zeit und Vergänglichkeit, über menschliche Beziehungen, Identitäten und Verwandlungen, ohne Happy End und ohne eindeutige Moral. Dafür bringt der Film ein Thema auf die Leinwand, das praktisch jeden Zuschauer betrifft: die Macht der Erinnerung und ihr bedrohliches Gegenstück, die Ohnmacht, wenn das Gedächtnis krankheitsbedingt seinen Dienst versagt (Karenberg und Förstl 2008).
Film ab! Seine Dynamik schöpft der Film aus dem Hin-und-Her-Springen zwischen zwei kunstvoll aufeinander bezogenen Zeit- und Handlungsebenen. Die eine zeigt die Entwicklung und die Auswirkungen von Iris Murdochs psychischer Erkrankung um die Mitte der 1990er- Jahre, die andere fokussiert auf die ersten Begegnungen mit ihrem späteren Ehemann John Bayley fast vier Jahrzehnte zuvor. Alle Ereignisse zwischen Anfang und Ende der Beziehung, damit auch die kreativste Schaffensphase der Literatin Iris Murdoch und ihr dichterisches Werk, bleiben vollständig ausgespart. Einst und Jetzt werden in der Erzählung zusammengehalten durch die Einheit des Ortes – die Universitätsstadt Oxford – und die Kontinuität der Hauptrollen.
Ein Lebensbund in den Zeiten von Alzheimer … Zu Beginn der Altersepisode wird Iris Murdoch als hochgeschätzte, von der Königin in den Adelsstand erhobene Dichterin und Denkerin gezeigt. John Bayley lehrt Englisch und hat sich als Literaturkritiker ebenfalls einen Namen gemacht. Der Alltag der beiden ist geprägt von ihrer Arbeit, dem Verfassen von Texten und intellektuellem Disput. Für Anderes bleibt bei so geballter geistiger Schaffenskraft wenig Zeit, dementsprechend unordentlich sieht es im Haus des selbstvergnügten Ehepaars aus. Doch das Bild des idyllischen und erfüllten Lebensabends bekommt zunehmend Risse: Die wortgewandte Schriftstellerin ist besorgt, weil sie immer öfter Dinge vergisst, sich in ihren Argumenten wiederholt und beim Sprechen wie Schreiben den Faden verliert. Als sie im Studio der BBC bei einem Live-Interview – das nicht zufällig dem Thema „Bedeutung der Sprache“ gilt – nicht mehr weiterweiß und verstört nach Hause kommt, bemerkt auch Bayley, dass mit ihr etwas nicht stimmt: Sie ist nicht mehr die vitale und souveräne Iris Murdoch, wie er sie ein Leben lang gekannt hat. Der Hausarzt Dr. Gudgeon teilt diese Einschätzung und ordnet einige Untersuchungen an. Gleichzeitig erscheint Murdochs letzter Roman, der wie üblich begeistert a ufgenommen wird. Die Stimmung bleibt indes gedrückt, denn die Erfolgsautorin ahnt, dass sie sich gänzlich in der Welt der Schatten zu verlieren droht:
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John, ich habe Angst … Ich habe das Gefühl, als ob ich in die Dunkelheit davongleite.
Die Diagnose der fachärztlichen Experten, gestützt auf neuropsychologische Tests und bildgebende Verfahren, ist niederschmetternd und bestätigt die schlimmsten Befürchtungen: Die Dame of the British Empire leidet an der Alzheimer-Demenz und es gibt nichts, was man dagegen tun kann. Gemeinsam mit Bayley beobachtet das Publikum nun das Abdriften seiner Frau in eine andere Sphäre und erlebt die Machtlosigkeit desjenigen, der zusehen muss, wie ihm der zutiefst vertraute Mensch entgleitet. Schon kurze Zeit später nämlich ist Murdoch nicht mehr wiederzuerkennen. Sie wirkt verwirrt und hilflos, erkennt vertraute Gesichter nicht mehr und kann Türen nicht mehr allein öffnen. Zudem repetiert sie ständig wie eine hängengebliebene Schallplatte einzelne Sätze und folgt ihrem verzweifelten Mann durch das stets verwahrloste Heim. Einmal läuft sie für Stunden fort und verirrt sich in der Stadt. Bayley wird durch die mit der Betreuung verbundenen Belastungen überfordert, lehnt jedoch Hilfsangebote ab und versucht alles, um seine Gefährtin in ihre alte gemeinsame Welt zurückzuholen. Er bemüht sich sogar, ihre „neue“ Sprache zu lernen, sie aber versteht ihn immer weniger. Resigniert platziert er die einstmals hochintelligente Frau vor dem Fernsehgerät, wo sie stundenlang reglos durch die teletubbies berieselt wird – die Greisin scheint wieder zum Kind geworden.
… und die Vorgeschichte Parallel dazu entfaltet sich die Jugendepisode. Im Oxford der 1950er-Jahre begegnet die lebenshungrige Dozentin Iris dem schüchternen Kollegen John, der sich eigentlich mehr zu Büchern als zu Frauen hingezogen fühlt. Der etwas linkische Bursche ist fasziniert von der selbstbewussten Erscheinung mit der first class mind und auch sie findet den schusseligen und stotternden Typen zunehmend anziehend. Von Anfang an ist es die energiegeladene junge Frau, die in der Beziehung den Ton angibt. Verdeutlicht wird diese Rollenverteilung durch eine Szene, in der beide mit ihren Fahrrädern in stürmischer Fahrt eine abschüssige Straße hinabrollen (Abb. 2.1). Sie schießt furchtlos voraus („Fahr schneller!“), er bleibt zögernd zurück („Warte auf mich, ich kann dich nicht einholen!“). Kurz darauf springt die burschikose Akademikerin nackt in einen Fluss, während ihr prüder Begleiter, züchtig bekleidet, nur widerwillig nachkommt. Dieses ebenso ungleiche wie ungewöhnliche Paar verlebt einen sorgenfreien Sommer und genießt das Dasein auf seine ganz eigene, unschuldige Weise. Iris, die trotz ihrer Extraversion* eigentlich niemanden an sich heranlässt, vertraut ihrem naiven Verehrer nach kurzer Zeit vollständig – sie gesteht ihm sogar, einen Roman geschrieben zu haben und lässt ihn als ersten darin lesen. Wochen später kommt es nach einer feuchtfröhlichen Party, bei der sich John nicht unbedingt amüsiert hat, zum ersten Kuss.
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Abb. 2.1 Iris schießt furchtlos voraus. (© Buena Vista International. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
*Extraversion
Extraversion (auch Extroversion) = nach außen gewandt (von lateinisch extra = außen; vertere = wenden). Person mit den Eigenschaften aufgeschlossen, kontaktfreudig, gesprächig, herzlich und positiv. Extravertierte Menschen haben meist ein größeres soziales Netzwerk als introvertierte Menschen. Das Gegensatzpaar Extraversion-Introversion wurde von Carl Gustav Jung (1875–1961) beschrieben und von Hans-Jürgen Eysenck (1916–1997) aufgegriffen und als eine wichtige Dimension der Persönlichkeit statistisch abgebildet. Doch mit der Dame seines Herzens hat es der angehende Hochschullehrer alles andere als einfach. Auch wenn sie sich ihrem unerfahrenen Bewunderer gegenüber geöffnet hat, so lebt die emanzipierte Iris nach wie vor sehr freizügig und missachtet souverän die gesellschaftlichen Konventionen. Sie geht weiter ihren Affären mit Männern und Frauen nach und nutzt diese Erfahrungen als Inspiration für ihre Romane. Gerade ihre sexuelle Nonchalance droht John zu überfordern, sodass es wiederholt heftigen Streit gibt. Zu guter Letzt scheint er allerdings Iris’ Persönlichkeit in ihrer nicht zu korrigierenden Eigenart und auch die besondere Art ihrer Beziehung zu akzeptieren. Sie wiederum begreift, dass ihre Bindung an John etwas Unersetzliches darstellt („Du bist meine Welt“). Die beiden schließen den Bund fürs Leben, und damit findet eine Art campus novel-Handlung ihren Abschluss. Am Ende des Films lautet der letzte Satz, den die schwerkranke Iris Murdoch zu John Bayley sagt: „Ich liebe Dich“. Als der Taxifahrer schließlich klingelt, um sie in ein Pflegeheim zu bringen, vermag sie sogar noch einmal ihren Namen zu nennen. Wenig später stirbt sie im Beisein ihres Mannes.
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Dramaturgische Facetten Bei aller Vorhersehbarkeit des Ausgangs ist Iris ein ungemein fesselnder Film. Regisseur Richard Eyre – lange künstlerischer Leiter des Royal Theatre in London und damit eigentlich ein Mann der Bühne – bindet die Aufmerksamkeit der Zuschauer vorrangig durch das Stilmittel des Kontrasts, welches er in vielfacher Weise einsetzt. Für jeden offensichtlich sind die Gegensätze Mann-Frau, gesund-krank, frei-unfrei, jung-alt, ebenso das durch die Szenenabfolge erzeugte Wechselbad von beklemmenden und belebenden Momenten. Differenzierter sind die Charaktere der Hauptfiguren gestaltet, vor allem, wenn man ihre Entwicklung, über die im Film erzählte Geschichte hinweg, betrachtet.
Die Protagonisten: Kontraste und Komplementaritäten Die Figur der jugendlichen Sturm-und-Drang-Iris vermittelt eine fast unglaubliche Perfektion. Intellekt und Sinnlichkeit, Geist und Körper erscheinen als gleichermaßen wichtige und ausgewogen verteilte Elemente einer zwar eigenwilligen, doch völlig harmonischen Persönlichkeit. Die physische Präsenz der Schauspielerin Kate Winslet beglaubigt dieses Bild, nichtsdestoweniger ist es diese Draufgängerin, die voller Nachdenklichkeit den dramaturgisch bedeutsamen Satz ausspricht: cc
Wenn man keine Worte hat, wie soll man dann denken?
Die alternde Iris Murdoch hingegen wird, auch als noch Gesunde, anders dargestellt: Intellektuell übergroß wirkt die mehrfache Ehrendoktorin ausschließlich als Teil einer Zeit und Raum umspannenden Geisteswelt, die sie fortwährend mit geschliffenen Bemerkungen bereichert. Ihre gesamte Existenz scheint nun ausschließlich auf der Beherrschung der Sprache und des Denkens zu beruhen. Auf diese Weise wird natürlich auch eine dramaturgische Fallhöhe gewonnen, von der aus der Absturz in die Demenz umso dramatischer und drastischer geschildert werden kann. Umgekehrt verkörpert der unreife John (gespielt von Hugh Bonneville) den Prototyp des kopflastigen und linkischen Wissenschaftlers, der in seiner Verliebtheit den Boden unter den Füßen verliert und bei dem Iris trotzdem jene Ruhe und Beständigkeit findet, die sie selbst nicht gekannt hat. Genau dieser weltfremde Professor in spe ist es aber, der seine Freundin zu ihrem Erstaunen kurz nach dem Kennenlernen auf einen anderen Aspekt des menschlichen Miteinanders aufmerksam macht: cc
Die Sprache ist ja schön und gut, aber sie ist nicht die einzige Art der Verständigung untereinander. Da wäre noch das Sehen und der Geruch und das Tasten natürlich.
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Zu diesem Zeitpunkt ahnt er noch nicht – wohl aber der aufmerksame Zuschauer – wie prophetisch dieser Ausspruch ist. Verschrobenheit und Humor bleiben jedoch die konstanten Markenzeichen auch des gealterten John Bayley und dank der verblüffenden Ähnlichkeit zwischen seinen beiden Leinwand-Darstellern wird die große zeitliche Lücke zwischen den beiden Figuren nahtlos überbrückt.
Die Tragödie des Partners Ungeachtet der weitgehend wirklichkeitsnahen Symptomabfolge steht nicht die Demenz selbst im Mittelpunkt des Films, sondern ihre Auswirkungen auf das betroffene Paar. Ein über vier Jahrzehnte eingespieltes Partnerschaftsmodell – Murdoch als dominanter Fixpunkt und Bayley als abhängige Variable – wird mit Fortschreiten der Erkrankung Stück für Stück obsolet. Im gleichen Maß, wie Iris durch die Demenz schwächer wird, muss John in der „neuen Ehe“ wachsen: Während sie als führende Figur der Jugendepisode anzusehen ist, übernimmt er in der Altersgeschichte mehr und mehr den Part des Protagonisten (Bayley 2000). Wären Filmtitel mit zwei Namen nicht so abgegriffen, die Etiketten „Iris und John“ oder gar „John und Iris“ hätten diesem Rollentausch wesentlich besser Rechnung getragen. Oberflächlich betrachtet, spiegeln Johns Reaktionen das bekannte „Drama der Angehörigen“ in einem fast lehrbuchhaften Phasenschema (Wedding et al. 2005). Auf ein anfängliches Ignorieren der Symptome durch die nahestehende Bezugsperson folgen Leugnen und Bagatellisieren („Du bist nur durcheinander“), dann Verzweiflung und Wut („Nein, nein, nein, nein – das ist ganz böse“) und schließlich das Akzeptieren und Sich-Fügen ins Unvermeidliche („Sie ist in ihrer eigenen Welt“). Dass die Perspektive des indirekt Betroffenen einen solch breiten Raum einnimmt, mag nicht zuletzt den persönlichen Erfahrungen des Regisseurs zu verdanken sein: Seine Mutter erkrankte ebenfalls an einer Demenz. In jedem Fall hat er mit Jim Broadbent für die Rolle des betagten John Bayley einen idealen Schauspieler gefunden, dessen Leistung mit einem Oscar für den besten Nebendarsteller geehrt wurde. Doch am Ende des Films wollen Drehbuch und Regisseur noch auf etwas ganz anderes hinaus. Augenscheinlich demaskieren die Auswirkungen der Demenz einen latenten Konflikt, an dem John sein Leben lang, wie an einer schwelenden Wunde, gelitten hat. Immer fühlte er sich in der asymmetrischen Beziehung als nachrangig („Ich hab’ das Gefühl, ich steh’ da in einer langen Reihe von Freiern und warte auf ein freundliches Wort“, „… und mich bewahrst Du in einer Schachtel auf, oder eben gar nicht“). Erst als die Erkrankung seiner Frau dem Endstadium entgegengeht und sich das Kräfteverhältnis umgekehrt hat, besitzt er sie erstmals ganz für sich allein – allerdings um den Preis ihrer völligen Hilflosigkeit. Nach fast anderthalb Kinostunden wird der Konflikt durch Ausagieren im Ehebett endlich gelöst, als John laut schimpft:
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„Wer ist jetzt bei Dir, Iris, wer ist es?“ (schüttelt sie). „Wir sind verloren, wir sind verloren, wir sind verloren, verloren, wir sind verloren“ (sie hält ihm den Mund zu, er befreit sich). „Ich hasse Dich, Iris“ … „Verflucht, Du bist mir zuwider, jeder verdammte Zoll von Dir. All Deine Freunde haben sich verabschiedet von Dir, nur ich hab Dich jetzt. Niemand sonst gehörst Du mehr außer Deinem beschissenen Freund Dr. Scheiß-Alzheimer, mit all seinen beschissenen Gaben. Ich habe Dich jetzt, und ich will Dich nicht mehr. Ich habe nie etwas von Dir gewusst, und jetzt ist es mir egal“.
Zu diesem dramatischen Höhepunkt des Films gehört eine der bewegenden Szenen: Die hochgradig demente Iris schmiegt sich an ihren Mann und spendet ihm wortlos durch Berührung und beruhigende Laute Trost. Mit dieser Liebesgeste bewirkt sie nicht weniger als Johns Versöhnung mit seinem Leben und mit ihrer Krankheit, und es erscheint nur folgerichtig, dass er kurz darauf an ihrem Sterbebett seinen eigenen Tod herbeiwünscht.
Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis In das Miteinander dieser vielschichtigen Charaktere bricht Iris Murdochs Alzheimer- Demenz ein, deren Einsetzen schwer zu bestimmen ist. Zu Beginn der Filmhandlung stimmt sie während eines feierlichen Vortrages in ihrem ehemaligen College unvermittelt ein irisches Volkslied an: Ist dies noch Ausdruck ihrer unkonventionellen Persönlichkeit oder bereits, wie am Gesicht einiger Zuhörer abzulesen, der erste Hinweis auf einen Verlust des sozialen Takts?
Der Beginn der Symptome Kurz darauf registriert sie selbst konsistente Störungen des Neugedächtnisses („Das sagte ich doch schon mal“, „Ich vergesse andauernd Namen“). Weder diese „leichte Vergesslichkeit“ noch einzelne Wortfindungsstörungen beunruhigen den Ehemann, eher schon die Schreibhemmung seiner Frau („Ich habe viele Ideen, doch sie fügen sich nicht zusammen“). Verdichtet werden solche leichten Auffälligkeiten in Iris’ Erstaunen über die ihr zufällig begegnenden Wörter puzzle (Legespiel) und puzzled (verwirrt, ratlos). Die wortgewaltige und sprachverliebte Schriftstellerin scheint unfähig, deren übertragene Bedeutung zu erfassen. Gleichzeitig wird durch diese Anspielung für den Zuschauer ihr in Bruchstücke zerfallendes Denken und die daraus resultierende Konfusion auf den Punkt gebracht. Im gleichen Augenblick versetzt eine harmlose Auseinandersetzung zwischen zwei Tieren sie in einen völlig unangemessenen Angstzustand. Kognitive Fähigkeiten und affektive Kontrolle der klugen und furchtlosen Frau, soviel wird klar, sind massiv erschüttert. Der Übergang von der fraglichen zur leichten Demenz ist spätestens erreicht, wenn Iris sich in einer ungewohnten Situation nur noch schwer zurechtfinden kann, Gedächtnislücken durch Phrasen ausfüllen muss und vergessen hat, dass eine nahe Freundin verstorben ist.
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Mittleres und fortgeschrittenes Stadium Die unmittelbar folgenden ärztlichen Untersuchungen offenbaren bereits sehr viel deutlichere Ausfälle. Die Patientin kennt den Namen des britischen Premierministers nicht mehr (der ihr erst nach der Konsultation wieder einfällt), und bei standardisierten Tests zeigt sie deutliche Leseschwächen („god“ für „dog“) und Wortfindungsstörungen mit Paraphasien („Tennisding“ für „Tennisschläger“). Von diesem Zeitpunkt an spult der Film die weiteren Symptome im Zeitraffertempo ab, blendet allzu Drastisches freilich aus. Zur Aphasie treten eine Agrafie (Iris kann den eigenen Namen nicht mehr schreiben) und eine Apraxie** (sie kann die Türen in der Wohnung nicht mehr öffnen). Beim An- und Ausziehen wie bei der Körperhygiene ist sie auf ihren Mann angewiesen, dem sie einmal aggressiv-störrisch, dann wieder ängstlich-anhänglich begegnet. Bald ist sie aufgrund ihrer situativen und räumlichen Desorientiertheit sowie der Aphasie selbst einfachen Aufgaben wie der Entgegennahme eines Briefs nicht mehr gewachsen. Beim Versuch, noch einmal im Fluss zu schwimmen, überfallen sie die Erinnerungen an früher, die sie jedoch nicht mehr in das Zeitgitter einordnen kann, deshalb erschrickt sie und ertrinkt beinahe (vgl. Zimmermann 2017). In diesem Stadium der mittelschweren Demenz gelingt ihr ein letztes Mal die qualvolle Selbstvergegenwärtigung ihrer wichtigsten biografischen Leistung („Ich habe geschrieben“). Und als in einer Fernsehansprache ein Politiker dreimal hintereinander das Wort „education“ ausspricht, bemerkt sie noch, dass diese einfältigen Wiederholungen genauso sinn- und niveaulos sind wie die sprachlichen Perseverationen, zu denen ihre Demenz sie zwingt. Dann scheint sie, abgesehen von ihrem eigenen Namen und ihrer Zuneigung zu John, alles über ihre Person und ihr Leben vergessen zu haben: cc
„Weiß sie noch irgendetwas über ihre Vergangenheit?“ – „Es ist eher wie ein geschlossenes Buch.“
Abgesehen von wenigen lichten Momenten sind jegliche sprachliche Äußerung und jegliche Initiative erloschen: Die Alzheimer-Demenz hat ein fortgeschrittenes Stadium erreicht (Abb. 2.2). Äußeres Zeichen der inneren Unordnung in ihrem Gehirn ist das Chaos im Haushalt, welches wie eine sekundäre „Verräumlichung“ der zerebralen Pathologie wirkt. Die Heimunterbringung erscheint unausweichlich, das Ende nahe.
**Aphasie, Agnosie, Apraxie und Agrafie
Aphasie etc. (von altgriechisch aphasia = Sprachlosigkeit, Verlust der Sprache). Ursachen einer Aphasie können Schlaganfälle oder andere Läsionen im Bereich der Zentren für die Produktion (Broca-Areal) oder das Verständnis (Wernicke-Areal) von Sprache sein. Bei der Paraphasie kommt es zur Verwechslung von Wörtern und Silben. Eine Verständnisstörung, welche nicht die Sprache betrifft, sondern etwa visuelle Eindrücke, wird als Agnosie bezeichnet. Gelingt es nicht mehr eine bestimmte
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Handlung auszuführen, handelt es sich um eine Apraxie. Falls Sprachverständnis und -produktion intakt sind, aber der Sprechakt motorisch nicht mehr vollzogen werden kann, liegt eine Sprechapraxie vor. Agrafie ist der Verlust der Schreibfähigkeit bei ansonsten vorhandener intellektueller Leistungsfähigkeit und ohne Lähmung der ausführenden Muskeln. Aphasie, Agnosie, Apraxie und Agrafie werden auch als „Werkzeugstörungen“ aufgefasst, bei denen die Funktion umschriebener Hirnareale beeinträchtigt ist, die für die jeweiligen Leistungen zuständig sind.
Abb. 2.2 Die AlzheimerDemenz hat ein fortgeschrittenes Stadium erreicht. (© Buena Vista International. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Abspann, oder: Was nicht vergessen werden sollte Eines hat Iris all seinen cineastischen Vorläufern und Nachfolgern voraus: Es ist der einzige Film zum Thema Demenz, der durch die gleichgewichtige Behandlung von Rückschau und Gegenwart einen diachronen Vergleich ermöglicht, damit eine Art szenische Fremdanamnese liefert und so die Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen der intakten Persönlichkeit und den krankheitsbedingten Veränderungen aufzeigt (vgl. Wulff 2006; Wulff 2008). Kino- und Fernsehproduktionen können keine trockenen Lehrfilme sein. Ernsthafte Randinformationen über die Natur, Diagnostik und Therapie der Demenzen wird auch in seriöseren Werken kaum vermittelt (Segers 2007). Wenn derartige Details – und sei es als dramaturgische Staffage – überhaupt zur Darstellung gelangen, verrät deren Falschheit oft das weitgehende medizinische Desinteresse von Drehbuchautoren, Regisseuren und Darstellern. Auch über den Umgang mit den Patienten ist wenig zu erfahren; dabei vermittelt sich höchstens der Eindruck, dass Liebe tröstet. Insgesamt zielen die Filme – Iris mag hier eine rühmliche Ausnahme darstellen – eher auf eine demonstrative Verdunkelung menschlicher Schicksale als auf deren Erhellung. Das Sujet wird als dramatischer Vorwand benutzt für ein tragisches Schauspiel zwischen Abgrund und Rührseligkeit (Wulff 2008; Karenberg 2015). Immerhin kann man den Filmen entnehmen, dass Demenz mit Gedächtnisstörungen zu tun hat, die im Verlauf zunehmen und mit weiteren Störungen von Wahrnehmung und Verhalten assoziiert sein können. Mnestische Defizite sind deprimierend, aber die größere Belastung der Patienten und Angehörigen entsteht aus Verkennungen und der daraus resultierenden Angst, Agitation und Aggressivität, die sich bei einem Teil der Patienten entwickeln. Ein großer Teil dieser nichtkognitiven Symptome ist als Konsequenz der kognitiven Defizite zu verstehen: Wie fühlt und verhält sich ein Mensch, der nicht nachvollziehen kann, wie er in diese Situation geraten ist und der seine engsten Verwandten und am Ende sein eigenes Spiegelbild nicht mehr erkennt? Die gleichen Symptome gelten auch als diagnostisch richtungweisend für ein Demenzsyndrom (Förstl 2021). Die kognitiven Defizite müssen die gewohnte Alltagsbewältigung deutlich beeinträchtigen, um eine Demenzdiagnose zu rechtfertigen. Nach psychiatrischen Klassifikationssystemen und Lehrbuchwissen werden verschiedene andere Formen von der Alzheimer-Demenz differenziert, so zum Beispiel die vaskulären Demenzen, die Demenz bei Pick-Erkrankung, die Demenz bei Parkinson-Erkrankung usw. Grundsätzlich ist anzumerken, dass bei älteren dementen Patienten immer auch neurodegenerative Alzheimer-Veränderungen vorhanden sind, die bei vielen Menschen von zusätzlichen, andersartigen Hirnveränderungen begleitet werden (vgl. Karenberg und Förstl 2003). Entsprechend verdient die Alzheimer-Demenz auch die größtmögliche mediale Aufmerksamkeit. Hilfreich wäre es, trotz aller künstlerischen Freiheit auch ein realistisches, positives Bild von nützlichen Ansätzen in der Diagnostik, Pflege und Behandlung zu zeichnen. Zumindest für Untersuchungsmöglichkeiten im frühen und mittleren Stadium der Demenz gibt Iris hierzu einige Hinweise.
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A. Karenberg und H. Förstl
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Mein Vater – Ein Ich löst sich auf Havva Özcan und Dirk Arenz
Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Die Figuren im Zentrum der Tragik Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Literatur
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H. Özcan Vamed Klinik Hattingen, Hattingen, Deutschland D. Arenz (*) Marien-Hospital in Euskirchen, Euskirchen, Deutschland e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_3
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Filmplakat Mein Vater. (© EuroVideo. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Vorspann Alzheimer-Demenz – Die erschütternde Diagnose Kaum eine Erkrankung löst bei älteren Menschen solch ein Ausmaß von Besorgnis und Ängsten aus, wie die Alzheimer-Demenz. Die Frage: „Habe ich Alzheimer?“ begegnet Therapeuten häufig in deren Visiten und Sprechstunden. Sehr häufig sind es allerdings gesunde Menschen in schwierigen Lebenssituationen oder auch depressive Patienten, deren Denken von vielfältigen Sorgen beherrscht wird. Diejenigen Menschen, die tatsächlich an einer Demenz erkranken, thematisieren selten ihre Ängste und sind stattdessen mit anderen Aufgaben beschäftigt, nämlich damit die eigene Person und den Alltag vor dem Auseinanderfallen zu bewahren. Die Entwicklung einer Alzheimer-Demenz ist eine individuelle Tragödie sowohl für die betroffenen Menschen als auch für deren Angehörige. Oftmals entsteht das Gefühl, dass besonders nahe Angehörige unter der Erkrankung
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mindestens so sehr leiden, wie der Patient selbst, zumindest, wenn er das Stadium der Demenz erreicht hat, in dem er seine Defizite, das Nachlassen seiner geistigen Fähigkeiten nicht mehr bewusst wahrnimmt. Allerdings ist bei der Bewertung des Schweregrads von „psychischem Leid“ Vorsicht geboten: Wer von uns hat ihn schließlich schon beschritten, den Weg in die Demenz, der bis zur Auflösung des Individuums, des vermeintlich „Unteilbaren“ führt? Der Film Mein Vater mit dem 2016 verstorbenen Götz George in der Rolle des dementen Busfahrers Richard Esser führt uns auf eine beklemmende Reise in die Welt der Alzheimer-Demenz. Sowohl die Perspektive des erkrankten Vaters durch Götz George als auch diejenige der Angehörigen wird eindrucksvoll durch Klaus J. Behrend (Sohn), Ulrike Krumbiegel (Schwiegertochter) und Sergej Moya (Enkel) dargestellt. Ein Thema – und somit ein Werk – das unter die Haut geht; und, wie wir im Folgenden sehen werden, den Zuschauer nicht schont und ihn mit an den Rande des emotional Erträglichen nimmt.
Film ab! Irgendwo in der „Schimanski-Region“ Duisburg am Rhein: Die junge Familie Esser schmiedet Zukunftspläne. Jochen ist Stahlkocher im Stahlwerk, ein Arbeiter mit einem, im wahrsten Sinne des Wortes, schweißtreibenden Job. Anja, seine Frau, ist in einem Kunstmuseum angestellt. Der ca. 13-jährige Sohn geht zur Schule und der Familie geht es den Umständen entsprechend gut. Sie baut sich sogar ein Eigenheim, was Anfang der 2000er- Jahre finanziell für eine Arbeiterfamilie offenbar noch erschwinglich war. Richard, Jochens Vater und Busfahrer von Beruf, steht der Familie anpackend zur Seite. Das Haus wird schließlich fertiggestellt und nur noch letzte Arbeiten sind zu erledigen. Doch dann kündigt sich das Unheil an: Richard wird vorzeitig berentet. Richard war als Busfahrer in der letzten Zeit unkonzentriert und es unterliefen ihm häufig Fehler. So ließ er beispielsweise Bushaltestellen aus, fuhr nicht immer die vorgeschriebene Route oder er hielt die Fahrpläne nicht korrekt ein – ganz gegen seine frühere Gewohnheit. Richard ist in der Regel präzise wie ein Uhrwerk, hyperkorrekt und dominant, ein – im psychiatrischen Sinne – anankastischer* Charakter. Doch hat er eine besondere Liebe: Richard ist ein leidenschaftlicher Opernfan und strotzt zudem vor Vitalität. Bei Richards Abschied im Betrieb feiern die anwesenden Busfahrer ihn noch als ihren „besten Mann“. *Anankastische Persönlichkeitsstörung
Die anankastische (zwanghafte) Persönlichkeitsstörung wird im ICD-10 als eine Charaktereigenschaft beschrieben, die vor allem Gefühle von Zweifel, Perfektionismus, ständigen Kontrollen, Vorsicht und Starrheit beinhaltet. Im Vergleich zur Zwangsstörung sind die hier entstehenden Impulse und Verhaltensweisen milder als bei einer Zwangsstörung (WHO 2023).
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Der unaufhaltsame Beginn Die Vitalität lässt Richard nicht nur zur Freude der jungen Familie Hand am Hausbau anlegen, denn die beginnende Demenz veranlasst ihn, auch hier Fehler zu begehen: Richard tapeziert die Tapete quer statt längs. Es kommt zum Streit mit seinem Sohn, der die beginnende Demenzerkrankung seines Vaters noch nicht wahrnimmt und Richard verlässt gekränkt das Haus. Unbestimmte Zeit später – Jochen ist auf der Arbeit – erreicht ihn ein Anruf der Stadtwerke: Sein Vater Richard sei zur Arbeit erschienen, er sitze im Linienbus und wolle losfahren. Erst jetzt erfährt der Sohn von der vorzeitigen Berentung seines Vaters, der sich offenbar schämte, ihm dieses Ereignis mitzuteilen. Er, der frühere Vorzeigebusfahrer, ist orientierungslos. Erstmals scheint auch er seine Defizite zu begreifen, denn er ist ratlos, weiß nicht einmal mehr, wie er nach Hause kommen soll und hat vollständig seine Orientierung verloren. Schließlich kommt Jochen und bringt seinen Vater in dessen Wohnung. Zum Erschrecken des Sohnes ist die ehemals akkurate Wohnung Richards in einem desolaten Zustand. Ein für den Verlauf der Erkrankung aufschlussreiches Detail ist, dass Richard nun die Alltagsdinge durcheinanderbringt. So lagert er Zeitungen im Kühlschrank – ein häufig literarisches oder filmisch dargestelltes Demenzsymptom. Auch der Umstand, dass Richard dies bagatellisiert, ist ein bei der Alzheimer-Demenz bekanntes Phänomen. Dessen Begründung, er habe dies getan, „damit die Nachrichten frisch bleiben“ ist sowohl dem Amüsement des Publikums als auch einer realistischen Demenzdarstellung geschuldet, denn Betroffene versuchen lange Zeit den Schein zu erhalten. Richard bagatellisiert seinen Blackout und schildert diesen als einen „Schwächeanfall“. Es ist dann Richards Schwiegertochter Anja, die den Vorschlag hervorbringt, den Vater zur Familie zu holen. Jochen ist höchst skeptisch, da sich der dominante Richard früher immer in alle Familienangelegenheiten eingemischt habe. Richards Demenz schreitet unterdessen gnadenlos voran: In seiner Stammkneipe ist er desorientiert, er fällt und kommt nur mit Mühe nach Haus, irrt orientierungslos durch die Stadt, nimmt Gesprächsfetzen auf und die Handkameraperspektive – untermalt mit archaisch-bedrohlicher Didgeridoo-Musik – unterstreicht eindrücklich das Zerreißen der subjektiven Sinnkontinuität.
Vom Unfall zur Diagnose Es kommt zu einem Unfall, als Richard eines Tages umnachtet auf der Straße umher irrt. Er wird ins Krankenhaus gebracht, wo es zu einer beklemmenden Schlüsselszene kommt: Ein junger Assistenzarzt führt eine Demenzprüfung bei Richard durch. In einem kalt anmutenden Raum und an einem riesigen Tisch, der eine abgrundtiefe Distanz verkörpert, wird Richard in seiner Orientierungslosigkeit gnadenlos im Beisein seiner Familie „vorgeführt“. Jedem Diagnostiker geläufige Fragen aus dem „Mini-Mental-Status-Test“ führen Richard seine hoffnungslose Lage demütigend vor Augen, auch wenn er frustran versucht, sich durch bagatellisierende und witzige Antworten aus der Affäre zu ziehen.
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Distanziert teilt der junge Arzt der Familie – nicht jedoch dem Patienten Richard (Kunstfehler!) – die Diagnose der „Alzheimer-Demenz“ mit. Jochen und Anja beschließen schließlich nach langer Diskussion, Richard bei sich zu Hause aufzunehmen – ein folgenschwerer Entschluss, wie der Zuschauer angesichts der fortschreitenden Erkrankung und des sthenischen Charakters des Protagonisten bereits ahnt. Auch Richard scheint den Schweregrad und die Ernsthaftigkeit seines Zustands zu spüren: cc
„Ich kann nicht mehr allein leben?“.
Er fragt schließlich nach Inge, seiner seit Jahren verstorbenen Frau, als ob sie noch lebe. Doch es gibt im Verlauf auch lichte Momente, zum Beispiel als er mit Oliver, seinem Enkel, auf einem Motorrad durch die Gegend braust – selbstredend in selbstbewusster Manier ohne Helm und in der Haltung recht unkonventionell, wie auf dem Cover-Plakat des Films zu sehen ist. Die befreienden Momente des schieren Glücks sind jedoch seltener werdende Ausnahmen: Nachts irrt Richard durch das Haus, sucht immer häufiger sein Geld, das er selbst verlegte und er beschuldigt schließlich Anja, es gestohlen zu haben. Pathologisches Misstrauen ist ein Symptom der Demenz, welches nicht wenige Angehörige aus eigener Erfahrung kennen dürften. Eine weitere Schlüsselszene des Films stellt der Besuch der Mitarbeiterin des medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) dar, die eine Pflegeeinstufung vornimmt. Obwohl Richard versucht, sich von seiner besten Seite zu zeigen, kommt es rasch zu entwürdigenden Fragen, wie zum Beispiel: cc
„Kann er sich allein die Hose aufknöpfen und zur Toilette gehen?“.
Doch Richard klammert sich an sein Autonomiebestreben und er fügt sich nicht in die Rolle eines pflegebedürftigen Demenzkranken. Er sucht seine alte Stammkneipe auf und schenkt Karin, der Frau hinter dem Tresen, in die er sich verliebt hat, Blumen. Karin erwidert seine Sympathie, obwohl sie von Jochen über dessen Zustand aufgeklärt wurde.
Der geklaute Bus Die Dramatik der Erkrankung und der Spielfilmhandlung nehmen zu. Richard, der sich wieder im Arbeitsleben wähnt oder sich zumindest in die Strukturen seines alten Arbeitslebens zurücksehnt, entwendet im Busdepot der Stadtwerke seinen alten Linienbus und fährt damit wild durch die Stadt. Erneut wird diese Szene durch die schwankende Kameraführung und die archaische australische „Buschmusik“ untermalt – die Realität Richards verschwimmt zunehmend. In dessen Gesicht spiegelt sich Verzweiflung und er scheint entschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen, indem er den Bus dem nahen Rhein zielsicher zusteuert. Doch er scheut vor der letzten Konsequenz und stoppt den Bus wenige Meter vor den Fluten. Im weiteren Verlauf der Handlung wird Richards Verhalten zunehmend inadäquater und in der Familie dreht sich mittlerweile alles um dessen Ver-
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sorgung und Aufsicht. Anja kündigt ihre Arbeitsstelle, obwohl die Familie auf ihr verdientes Geld angewiesen ist. Richard entwickelt nun auch körperliche Symptome: Er beginnt, einzunässen und es kommt zu Konflikten mit seinem Enkel Oliver, der den „Gestank“ des Großvaters moniert. Jochen kommt in die Situation, seinen Vater baden zu müssen, was ihm schwerfällt: „Weißt du, dass ich ihn noch nie nackt gesehen habe?“ Letztendlich ist auch der Punkt erreicht, indem Richard nicht einmal mehr sein eigenes Spiegelbild erkennt.
Nachlassende Sozialkompetenz Eine tragikomische Szene beginnt, als die Schwiegermutter von Jochen zu Besuch kommt. Richard spielt zunächst ganz den Galanten und bezirzt die Dame, um ihr urplötzlich zu sagen, dass er sie für wesentlich älter gehalten habe und er sich nicht wundere, dass sie keinen Mann habe. Die Stimmung kippt abrupt und die Schwiegermutter beklagt sich bei ihrer Tochter Anja, dass sich alles in der Familie nurmehr um Richard drehe und dass sich niemand um sie kümmere. Der Druck auf die Tochter Anja nimmt zu, ein normales Familienleben scheint kaum mehr möglich. Der demente Vater kommt nachts ins Bett des jungen Ehepaars und er vereitelt somit jede Intimität zwischen den Partnern. Auch Oliver verwildert zusehends, er sitzt fast ununterbrochen vor dem PC, schwänzt die Schule, wird aggressiv und stiehlt sogar Opas Geld. Anja ist völlig überfordert, überlässt ihren Platz im Ehebett dem schutzsuchenden Richard und zieht fortan ins Zimmer von Oliver. So wird die ganze Familie in ihrer Struktur und ihrem Zusammenhalt gesprengt und alle sind hoffnungslos verloren in ihrer neuen aufgezwungenen Rolle. Der Fortgang der Katastrophe wird nur durch einen äußerst kurzen Hoffnungsschimmer unterbrochen: Karin, die Dame hinter dem Tresen, kommt zu Besuch und man wagt einen Spaziergang zu einem Lokal. Dort ist Musik von innen zu hören, Richard öffnet die Türe und durch die Musik animiert, beginnt er auf der Terrasse zu tanzen. Seine Vitalität steckt die anderen an und die Stimmung wird ausgelassen. Doch das Glück hält nur kurz: In den folgenden Tagen kümmert sich Karin rührend um Richard, während Jochen und Anja sogar kleine Freiräume finden, um miteinander nach langer Zeit zu schlafen. Die vermeintliche konspirative Stille ändert sich jedoch jäh, als das Paar wieder nach Hause kommt: Richard schlägt auf Karin ein, die er wohl zeitweise für seine verstorbene Frau gehalten und dann seinen Irrtum bemerkt hatte. Karin verlässt verletzt und deprimiert das Haus und trennt sich schweren Herzens von Richard. Denn auch sie ist einsam: cc
„Da wo er jetzt hingeht, da kann ich nicht mitgehen, das halte ich nicht aus.“
Zu allem Unglück gibt es auch noch schlechte Neuigkeiten vom MDK, der einen Antrag auf Höherstufung ablehnt. Anja ist die erste, die aus dem gescheiterten System der familiären Pflege des demenzkranken Angehörigen aussteigt, indem sie Jochen ihren Entschluss mitteilt, wieder arbeiten zu wollen. Sie teilt Jochen nun unverbunden mit, dass sie
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Richard nicht mehr pflegen werde. Eines Nachts, als Richard wieder an der verschlossenen Türe des Hauses rappelt, spricht sie aus, was womöglich schon mancher Familienangehöriger eines dementen Angehörigen mit schlechtem Gewissen dachte: cc
„Manchmal wünsche ich, er wäre tot.“
Jochen, der sich von der Arbeit unbezahlten Urlaub nahm, schließt Richard nachts trotz schlechten Gewissens nun zunehmend ein, damit dieser sich nicht gefährdet.
Paranoia und das „Ding im Kopf“ Richard spricht die traurige Wahrheit aus, indem er erkennt: cc
„Es ist das Ding in meinem Kopf. Das geht nur weg, wenn ich tot bin.“
Er wird nun zunehmend paranoid und bekommt sogar Angst vor seinem eigenen Spiegelbild. Als es erneut zu einem heftigen Streit mit seinem Enkel Oliver kommt, in dessen Verlauf Richard seinen Enkel beißt, entschließt sich Jochen, seinen Vater in ein Altenheim zu geben. Die Szene im Altenheim beinhaltet trostlose Zimmer mit dahinvegetierenden, scheinbar halbtoten alten Menschen. Die Heimleiterin gibt Jochen den herzlosen Rat, sich von seinem Vater Richard am besten gar nicht zu verabschieden. Es kommt dennoch zu einem tiefen und intensiven Blickkontakt zwischen Richard und Jochen, der die ganze Tragik der Erkrankung und Situation widerspiegelt. Zu Hause erkennt Jochen, dass die Familie sich zwischenzeitlich tief entfremdet hat und die Situation auch nach der Übersiedlung Richards ins Altenheim außer Kontrolle geraten ist. Oliver und ein Freund haben sich aus Spaß die Windeln von Richard angezogen und hüpfen zu Heavy-Metal-Musik wüst auf Matratzen herum. Jochen ist die Kontrolle über seinen Sohn völlig entglitten. Während Oliver in blinder Wut Sachen zerstört, grenzt sich Anja weiter ab, in dem Bestreben, ihre eigene Autonomie wiederzugewinnen. Nachdem Oliver sich wieder beruhigt hat, redet Jochen mit ihm und es scheint, dass der Enkel nun etwas mehr Verständnis für Richard und seine Erkrankung aufbringen könne.
Ein zweiter, letzter Versuch Jochen erkennt, dass sein Vater ihn braucht. So kann er es nicht ertragen, dass Richard ins Altenheim abgeschoben ist. Er holt ihn zum Entsetzen von Anja wieder heim. Die Situation eskaliert, als Richard in seiner nun weit fortgeschrittenen Verwirrung die Vorhänge im Haus anzündet. Zwar kann das Feuer recht rasch gelöscht werden, das Haus bietet jedoch mittlerweile ein Bild der Verwüstung. Nun ist es Anja endgültig zu viel: Sie verlässt die Familie und zieht – Ironie der Duplizität der Ereignisse – zu ihrer nun triumphierenden
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Abb. 3.1 Jochen reicht Richard Essen an. (© EuroVideo. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Mutter. Nun sind Jochen und Richard allein im Haus. Jochen füttert seinen hilflosen Vater, der mit einem Plastiküberzug vor zu viel Verschmutzung geschützt ist, sagt ihm, wann er schlucken muss (Abb. 3.1) und kümmert sich um seine basale Pflege. In der Nacht hört der schlaflose Jochen, wie sein Vater Richard immer wieder an der verschlossenen Haustür rappelt und er fasst den Entschluss, dem Willen des Vaters nachzugeben und ihm die Türe zu öffnen. Richard geht in seiner alten Busfahrerkluft und einem Aktenkoffer langsam in die Nacht. Sein Sohn Jochen lässt ihn ziehen, sieht ihm lange nach. Richard geht in die Nacht und gelangt zur Schnellstraße, wo ein gewaltiger Verkehr tost. Scheinwerfer blenden, Richard geht weiter, auf den Verkehr zu. Die archaische Musik unterstreicht die Szenerie. Hier geht es um den Menschen in seiner Ursprünglichkeit. Das Bild verschwimmt langsam, Richard geht weiter, der Verkehr scheint durch ihn hindurchzufließen, bis sich die Szenerie langsam auflöst.
Die Figuren im Zentrum der Tragik Der Erkrankte Richard erkrankt an einer Alzheimer-Demenz. In dem Film begegnet uns Richard als dominanter und sehr vitaler Mensch, der gelernt hat, wo es im Leben langgeht. Auch als Busfahrer führt er Menschen und scheut sich nicht, sich gelegentlich mit jugendlichen Flegeln im Bus anzulegen und ihnen Manieren zu vermitteln. Beim Hausbau seines Sohnes und dessen Frau legt er selbst mit Hand an. Richards Dominanz ist für seinen Sohn fast schon erdrückend, der ihn als egozentrisch und tyrannisch erlebt. So ist es aus der Beschreibung unschwer zu erkennen, dass diese Rolle dem Schauspieler Götz George wie auf den Leib
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Abb. 3.2 Richard bewundert die Schneeflocken. (© EuroVideo. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
geschnitten ist. Die Figur des Richards ist nicht geschaffen, um still und unscheinbar in der Demenz zu versinken und sich ihrem Schicksal kampflos zu ergeben. Tatsächlich sind es oft diejenigen Demenzkranken, die früh (Richard ist 62 Jahre alt) und in voller Vitalität stehend erkranken, deren Krankheitsverlauf besonders tragisch zu sein scheinen. Charakterzüge wie Rechthaberei und querulatorisches Verhalten können sich im Krankheitsverlauf verstärken. Richard ist keinesfalls eine unscheinbare Figur, sondern – ganz Götz George – ein gut gebauter Athlet, was seine Pflege als Demenzkranker natürlich erheblich erschwert. Richard hat lichte Momente, in denen er tragisch seinen eigenen Verfall erkennt. Er merkt, dass diese Erkrankung nur mit seinem Tod enden kann. Dennoch: Er lehnt sich auf, versucht sogar einen Suizid, schreckt jedoch im letzten Moment davor zurück. Ganz zum Schluss, da will er noch einmal hinaus in die Welt, die für ihn zur Wildnis, zum Dschungel geworden ist (Abb. 3.2). Er will noch einmal in die Stadt, die nicht mehr die Seinige ist. Aber da ist das Funkeln in seinen Augen, die Neugier auf diese Welt und er geht hinaus, lässt sich von ihr verschlucken und auflösen.
Die Angehörigen Genauso wichtig wie die Perspektive Richards im Film ist auch die seiner Angehörigen, die meist zwischen Fürsorge und Autonomiebestreben schwanken. Besonders für den Sohn Jochen ist die zunehmende „Auflösung“ Richards schwer zu ertragen. Er hatte seinen Vater immer als groß, stark und dominant erlebt und er ist nun Zeuge des Niedergangs dieses ehemals als zu mächtig erlebten Mannes. Diese Perspektive erinnert an Franz Kafkas Erzählung „Das Urteil“, wo das Vaterbild zwischen klein und harmlos einerseits und
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groß und übermächtig andererseits wechselt. Jochen entscheidet sich nach inneren Kämpfen für die Pflege seines Vaters, wodurch es zu einer starken emotionalen Annäherung kommt. Jochen scheint seinen Vater erstmals in seiner Demenzerkrankung zu verstehen und Empathie zu entwickeln. Der Preis hierfür aber ist die Auflösung der Restfamilie. Anja ist komplett überfordert und kehrt schließlich zu ihrer Mutter zurück. Sie erfüllt damit den Anspruch ihrer eigenen Mutter nach Zuwendung und sie „unterwirft“ sich letztlich ihrer Mutter. Während Jochen sich bewusst für die Pflege seines Vaters entscheidet, flieht Anja weg von ihrer Familie. Während Jochens Vater hilflos und auf Pflege angewiesen ist, so ist dies Anjas Mutter nicht. Richards Enkel Oliver kommt als Kind dabei völlig unter die Räder. Die Erwachsenen sind komplett mit sich beschäftigt, sodass für Oliver keine Zuwendung und Zeit mehr übrigbleibt. Die Konsequenz ist seine weitgehende „Verwilderung“. Er verbringt die meiste Zeit vor dem PC, schwänzt die Schule und klaut Opas Geld, um sich davon PC-Ballerspiele zu kaufen. Erst nachdem sein Vater ein langes Gespräch mit ihm führte, scheint sich seine Situation zu verbessern. Es scheint, als wären alle Figuren im Film Opfer: Richard wird Opfer der Demenz, die Angehörigen Opfer der Kompensationsversuche und der Unmöglichkeit dessen, was vor Jahrzehnten noch selbstverständlich und möglich war: Einen Angehörigen zu Hause zu pflegen. So sind es nicht zuletzt auch die modernen Lebensverhältnisse, die uns die Form einer aufopferungsvollen Pflege eines Angehörigen nicht mehr ermöglichen – weder die Zeit noch die Geduld sind vorhanden.
Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Eine Demenz äußert sich nach den Kriterien der ICD-10 (WHO 2005) durch eine Abnahme der intellektuellen Leistungsfähigkeit und einer Störung der persönlichen Aktivitäten und „automatisierten Fertigkeiten“ des täglichen Lebens, wie Waschen, Ankleiden, Essen, Hygiene, Toilettengänge etc. Diese und weitere Auffälligkeiten bietet auch Richard: Allem voran kommt es zu Gedächtnis- und Orientierungsstörungen. Wahnphänomene mit einer ängstlich-misstrauischen Affektlage oder Aggressivität bleiben nicht aus. In späteren Stadien der Erkrankung kommt es gelegentlich zu Personenverkennungen bis hin zu dem „Spiegelphänomen“ Richards, der sein eigenes Gesicht im Spiegel nicht mehr erkennt. Das Wiedererkennen bekannter Menschen wird immer von einem emotionalen „Vertrautheitserleben“ begleitet, was bei Demenzerkrankungen gestört ist. Fehlt dieses Vertrautheitserleben, kann es zu Personenverkennungen nach dem Muster des sog. „Capgras-Syndroms“ kommen (Arenz 2001). Die Erkrankung kündigt sich gelegentlich durch „unsinnige Handlungen“ an. In diesem Bereich fallen Aktionen Richards, in denen er zum Beispiel Zeitungen in den Kühlschrank legt oder nach seiner Berentung zur Arbeit gehen will. Auch die bei der Alzheimer-Demenz vorkommenden Charakterakzentuierungen fallen bei Georges Figur auf: Seine Vitalität und sein Bewegungsdrang sind unberührt und wirken sogar verstärkt, während die steuernden, moderierenden und hemmenden kognitiven Funktionen abnehmen. Auch die komplexen wahrgenommenen Umweltreize können in ihrer Bedeutung und hierarchi-
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schen Wertungsstruktur nicht mehr richtig eingeordnet werden und die einst gewohnte Umwelt erscheint chaotisch und bedrohlich. Wichtiges kann nicht mehr von Unwichtigen getrennt werden, was zu einer Reizüberflutung und dem Fortschreiten der Orientierungslosigkeit führt. Daraus wird deutlich, warum sich Demenzkranke oft in fremder Umgebung rapide verschlechtern (Maurer und Maurer 1998). Selbst die letzten Orientierungspunkte gehen verloren und eine Neuorientierung wird durch die Erkrankung erschwert oder verhindert. So kann sich Richard nicht in die Strukturen des Altenheims einleben und er wird von Jochen wieder nach Hause geholt. Anhand der Filmfigur werden viele Symptome der Alzheimer-Demenz dargestellt, wenn auch zum Teil abhängig von der Perspektive – der Dramaturgie geschuldet – überzeichnet.
Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Die Wirkung auf den Zuschauer Mein Vater ist ein Film, der die Zuschauer stark berührt und auf eine eindrucksvoll suggestive Art leiden lässt. Eine Besonderheit des Werks besteht im Wechsel der Perspektiven. Die Welt, wie sie der von der Demenz betroffene Richard sieht, wird dem Zuschauer durch dessen „Binnenperspektive“ genauso vor Augen geführt, wie die Sichtweise der durch die Erkrankung belasteten Angehörigen. Die Szenen, in denen Richard durch die Stadt irrt – mit schwankender Kameraführung und archaischer Musikuntermalung gefilmt – sind meisterhaft inszeniert und erlauben dem Zuschauer einen Einblick in Richards von Zerfall bedrohtes Seelenleben. „Was wäre, wenn ich die Welt derart verändert erleben würde, wie Richard“, werden sich viele Zuschauer des Films fragen. Auch die Szenen im Krankenhaus und beim Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) werden in dem für Richard entwürdigenden Charakter sehr nachvollziehbar – wenn auch dramaturgisch überzeichnet – auf die Leinwand gebannt. Der Zuschauer erfährt in diesen Momenten Mitleid und entwickelt Verständnis für Richard und gleichzeitig für die belastete Familie. Deren gemeinsamer Kampf um Integrität und gegen die Bedrohung des alle Anstrengungen absorbierenden Richards wird sehr eindrucksvoll in Szene gesetzt. Selbst die Einstellung von Richards Schwiegertochter Anja, die die Familie schließlich verlässt, kann gut nachvollzogen werden, ebenso wie die zerstörerische Rebellion des Enkels Oliver, der durch die mit sich selbst beschäftigte Familie allein gelassen wird. So kann der Zuschauer alle Familienangehörigen und ihre Positionen durch perspektivische Wechsel verstehen, gar empathisch nachempfinden.
Die Unmöglichkeit der häuslichen Pflege? Die Tragik des Films liegt in der Ausweglosigkeit der Krankheit. Trotz aller Nachvollziehbarkeit der Handlungen der Protagonisten steuert der Film auf kein Happy End zu. Eine zentrale Aussage des Films ist die Unmöglichkeit einer guten Pflege für Demenzkranke im
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häuslichen Rahmen unter den gegebenen sozialen Verhältnissen. Mögliche Antworten für diese Misere werden im Film durch die Darstellung eines kalten und distanzierten Gesundheitswesens (Krankenhaus, Medizinischer Dienst der Krankenkassen, Altenheim) angeboten. Hier bedient sich der Film einer deutlichen – wenngleich berechtigten – Polemik. Eine besondere Stärke des Films ist zweifellos Götz George in der Rolle des demenzkranken Richard, dessen Autonomiebedürfnis auch im fortschreitenden Persönlichkeitszerfall deutlich bleibt. Denn das gehört zum „Wesen“ einer Demenz: Die Persönlichkeit mit Erinnerungen, die gesamte Lebenserfahrung zerfällt und die Betroffenen kämpfen um ihre Autonomie. Richard kämpft und die Familie ist zunächst durchaus gewillt, seinen Bedürfnissen zu entsprechen.
Zwischen Autonomie und Entmündigung Es bleibt nicht aus, dass die unterschiedlichen Bedürfnisse der Familienangehörigen kollidieren, denn jeder einzelne kämpft um seine eigene Autonomie. So bedroht die Alzheimer- Demenz nicht nur die persönliche Integrität Richards, sondern sie bedroht systemisch die Bedürfnisse der Familie und deren individuelle Autonomiebestrebungen und löst grundsätzliche Strukturen auf. Auch Richards Bewegungsdrang gehört zu seiner Selbstständigkeit. Gerade dieser Drang nach Bewegung jedoch ist es, der große Probleme mit seiner Umwelt schafft, sodass die Familie seine Fluchtversuche unterbindet. Zuletzt aber ist es sein Sohn Jochen, der Richard die Tür aufschließt und ihn in der Nacht seinem Schicksal überlässt. Zwar bleibt das Ende letztlich offen, aber der Straßenverkehr, der Richard in der Schlussszene förmlich aufzusaugen scheint, legt die Vermutung nahe, dass Richard seinen letzten Ausflug nicht überlebt. In Verbindung mit einer Äußerung Richards, dass „das Ding in seinem Kopf“ erst mit seinem Tod aufhören werde, gerät das Ende des Films mit der Auflösung Richards im mörderischen Verkehr in die Nähe des Suizids.
Autonomie bei Demenz? – Ein ethisches Problemthema Folgt man dieser Interpretation, dass der sich gefährdende Demente einen Suizid begeht, dann birgt Mein Vater eine enorme Brisanz in sich und berührt ein zentrales ethisches Problem. Wie weit ist Rücksicht auf das Autonomiebestreben eines Menschen bei krankheitsbedingter Eigengefährdung zu nehmen, wo ist die Grenze? Gibt es eine Grenze? Während schon bei Gesunden diese Fragen kaum allgemeingültig zu beantworten scheinen, ist der ethische Kontext bei Patienten mit Demenz noch schwieriger zu begrenzen. Jochen nimmt im Film zu diesen Fragen eindeutig Stellung, indem er seinem an der Tür rüttelnden Vater den Willen erfüllt und ihn seinem Schicksal überlässt. Er nimmt dabei auch dessen Tod in Kauf. Darf man das? Ist das nicht Beihilfe zum Suizid eines Demenzkranken? Bis hin zur tabuisierten Euthanasie reichen die Überlegungen, die sich mit dem Ende des Films verbinden. Insofern bietet der Film nicht nur verschiedene individuelle Perspektiven, die sich
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jeweils um das Thema der Autonomie drehen, sondern er thematisiert auch den Umgang mit Demenzpatienten in der Gesellschaft. Von dem Gesundheitssystem ist im Film nichts zu erwarten, deren Protagonisten werden als kalt und zynisch dargestellt. Darüber hinaus stellt der Film die Frage nach der Beihilfe zum selbstschädigenden Verhalten bis hin zum Suizid – ohne zu urteilen! Letzteres wird freilich nur versteckt thematisiert und die implizite Schuldfrage der Gesellschaft beantwortet. Sowohl die Symptome der Demenz, ihre Reihenfolge als auch die Rolle der Gesundheitsdienste sind – wie das fachlich versierte Publikum rasch feststellen kann – gelegentlich dramaturgisch überzeichnet. Aber das ist künstlerische Freiheit und soll nicht kritisiert werden. Nach dem Film bleibt ein Gefühl der Beklemmung beim Rezipienten zurück. Die Symptome der Demenz bei Richard machen betroffen, nicht minder das Auseinanderfallen der Familie, die Überforderung, der Zynismus der Gesundheitsdienste, das Unverständnis der Arbeitskollegen und die möglichen ethischen Konsequenzen. Doch es gibt auch Hoffnung. Die Bereitschaft der Familie und der Bekannten Richards zur Hilfeleistung, deren persönliches Engagement und die Kompromisslosigkeit, mit der Richard zunächst Hilfe zuteilwird. All die Bemühungen der Familie waren letztendlich vergebens, die Krankheit schritt zu rapide voran – zu schnell für die Familie, um in Echtzeit immer die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Literatur Arenz D (2001) Eponyme und Syndrome in der Psychiatrie. Viavital-Verlag, Köln Maurer K, Maurer U (1998) Alzheimer. Das Leben eines Arztes und die Karriere einer Krankheit, Piper, München WHO (Weltgesundheitsorganisation) (2005) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10.5. Aufl. Huber, Bern WHO (Weltgesundheitsorganisation) (2023) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-F60.5. https://www.icd-code.de/icd/code/F60.5.html. Zugegriffen am 30.12.2022
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Wie fühlt es sich wohl an, dement zu werden? Der untypische Genre-Klassiker Still Alice Tobias Eichinger
Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Ein in vieler Hinsicht ungewöhnlicher Demenzfilm Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Literatur
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T. Eichinger (*) Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich, Zürich, Schweiz e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_4
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Filmplakat Still Alice. (© Polyband. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Vorspann Die promovierte Neurowissenschaftlerin Lisa Genova veröffentlichte 2007 den autobiografisch angelegten Roman Still Alice über die Erfahrungen ihrer Familie mit der Alzheimer- Erkrankung ihrer 85-jährigen Großmutter. Sie landete damit einen überraschenden Bestsellererfolg in einer Zeit, als in den USA nicht nur mögliche Reformen des Gesundheitswesens den (Vor)wahlkampf um die Präsidentschaft bestimmten, sondern in der Demenz auch mehr und mehr als relevante, schichtenübergreifende Bedrohung sichtbar wurde. 2008 starb Charlton Heston an Alzheimer; 2011 wurde bekannt, dass der frühere Präsident Ronald Reagan während seiner zweiten Amtszeit an Alzheimer gelitten hatte; 2014 nahm sich Hollywoodstar Robin Williams, der in Folge einer Demenzerkrankung depressiv geworden war, das Leben (s. Rosenthal 2018, S. 136 f.). Die Popularität des Buches verschaffte der US-amerikanischen Alzheimer-Forschung enormen Auftrieb und weckte bald das Interesse der Filmindustrie. Wurde bereits an der
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Buchvorlage die besonders authentische Wiedergabe einer Betroffenenperspektive gerühmt („from the inside looking out“), so galt auch die Verfilmung schnell als wirkmächtiges Hilfsmittel im Kampf um öffentliche Wahrnehmung (vgl. a. a. O., S. 131 ff.). Die Produzentin (und Nichte John F. Kennedys) Maria Shriver brachte die Hoffnungen auf den Punkt, das schwierige Thema der breiten Masse näher zu bringen: cc
Was Philadelphia für AIDS war, das könnte Still Alice für die Alzheimer-Krankheit sein (vgl. a. a. O., S. 134).
Ganz diesem realistisch-aufklärerischen Charakter war auch die künstlerische Herangehensweise von Hauptdarstellerin Julianne Moore verpflichtet, die für ihre Rolle monatelang recherchierte, sich mit Alzheimer-Patienten, deren Pflegepersonen, diversen Unterstützungsgruppen und Patientenorganisationen traf (s. a. a. O., S. 134). Für ihre intensive Annäherung an die Erfahrungswelt ihrer Figur wurde sie mit dem Oscar für die beste weibliche Hauptrolle belohnt.
Film ab! Der Film beginnt mit der Geburtstagsfeier seiner Protagonistin Alice Howland, die im kleinen Kreis der Familie in einem schicken Restaurant auf ihren fünften runden Geburtstag anstößt. Die erwachsenen Kinder – der etwas zu spät kommende Sohn arbeitet als Arzt in der Notaufnahme, die größere Tochter ist Anwältin, die fehlende jüngere Schwester ist Schauspielerin – begrüßen sich mit geschwisterlichen, aber liebevollen Sticheleien, die Stimmung ist vertraut und harmonisch. Der Ehemann bringt einen Toast aus auf die „intelligenteste Frau“, die er in seinem Leben getroffen hätte. Gleich in der folgenden Szene sieht man, dass dies nicht nur ein Geburtstagskompliment oder die Meinung eines liebenden Gatten ist. Alice hat einen zu dieser Charakterisierung passenden Beruf ergriffen, in dem sie es zu großem Ansehen und internationaler Anerkennung gebracht hat: Sie ist an der Columbia University in New York Professorin für Linguistik mit einem Schwerpunkt auf frühkindlichem Spracherwerb. Nun ist sie eingeladen an die University of California in Los Angeles (L.A.), wo sie voller Respekt empfangen wird und über ihre Forschung spricht. In dem kurzen Ausschnitt, den man von ihrem eloquenten und flüssigen Vortrag sieht, kommt sie plötzlich kurz ins Stocken, muss nach dem richtigen Wort suchen, ein kleiner Aussetzer, den sie aber gekonnt überspielt. Noch im Taxi auf dem Weg zu ihrer jüngsten Tochter Lydia, die in L.A. lebt und die sie besuchen will, geht die Beschäftigung mit Sprache und Wörtern weiter: Alice spielt auf ihrem Smartphone ein Scrabble-ähnliches Wortbildungsspiel. Bei der Begegnung mit Lydia wird schnell klar, dass Alice dieser nicht zum ersten Mal eine etwas solidere Ausbildung und Karriere als die Schauspielerei nahelegen möchte, die Beziehung der beiden ist nicht ohne Spannungen.
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Plötzliche Desorientierung und die erschütternde Diagnose Zurück in New York, geht Alice auf dem Campus ihrer Universität joggen. Vor einem der Hauptgebäude bleibt sie auf einmal stehen, hat offensichtlich die Orientierung verloren, steht einfach da und blickt sich verstört in alle Richtungen um, bis sie schließlich weiterläuft. Zu Hause gibt es ein kleines Missverständnis mit ihrem Mann über die Abendplanung, das harmlos erscheint, bis in der folgenden Szene ein Gespräch stattfindet, durch das alle kleinen, nebensächlichen Versprecher und Verwechslungen, die Alice bisher unterlaufen sind, übergreifenden Sinn ergeben. Sie sitzt in der Sprechstunde eines Neurologen und schildert ungewohnte Gedächtnisprobleme. Der Arzt befragt sie nach ihrer Familiengeschichte, macht mit ihr einige kleinere Erinnerungstests und ordnet zunächst eine zerebrale Magnetresonanztomografie (cMRT) an. Es folgt ein weiteres Familienzusammentreffen. Während sie in der Küche das Essen vorbereitet, macht Alice souverän selbst ausgedachte Worterinnerungsübungen, kann sich dann aber nicht mehr an ihr Lieblingsrezept erinnern und begrüßt die neue Freundin ihres Sohnes ein zweites Mal, als hätte sie das nicht bereits wenige Minuten zuvor schon getan. Eines Nachts weckt sie ihren Mann und erzählt ihm erstmals von ihrer Lage. Dieser blockt zunächst ab und versucht, sie zu beruhigen. Zum nächsten Termin beim Neurologen begleitet er Alice und erfährt nicht nur, dass sich der Alzheimer-Verdacht bestätigt hat, sondern auch, dass es sich wohl um eine seltene, vererbbare Form handelt. An ihrem Hochzeitstag, als wieder alle Kinder versammelt sind, erzählen die Eltern von der Erkrankung, deren Erblichkeit und der Möglichkeit mit genetischen Tests herauszufinden, wer von den dreien auch betroffen ist. Wie sich herausstellt, ist der Sohn negativ, doch die größere Tochter ist Trägerin der Genmutation, während Lydia sich nicht testen lassen möchte Kleinere und größere Ausfälle im häuslichen und beruflichen Alltag von Alice nehmen zu und als ihre Kursevaluationen belegen, dass sie nicht mehr ausreichend klar und kohärent unterrichten kann, muss sie an der Universität eine Auszeit nehmen. Sie besichtigt ein Pflegeheim und ist von dem Eindruck so erschüttert, dass sie unmittelbar danach eine Art Vorausverfügung in Form einer gefilmten Handlungsanweisung zum Suizid erstellt. Sie nimmt eine Videobotschaft auf, in der sie sich selbst auffordert, eine größere Menge Schlaftabletten einzunehmen, sobald sie einige wesentliche Fragen zu ihrem Leben und zu ihrer Familie nicht mehr beantworten kann, die sie in ihrem Smartphone gespeichert hat und regelmäßig beantworten soll. Dass die neurodegenerative Entwicklung unaufhaltsam fortschreitet, wird in den folgenden Sequenzen klar. Nicht nur trägt Alice nun ein Armband mit der Prägung „Gedächtnisstörung“, sie findet auch im Strandhaus, in dem sie mit ihrem Mann Abstand von der Stadt sucht, die Toilette nicht mehr. Als Lydia zu Besuch kommt, versucht sie erneut, diese zu einer seriösen Ausbildung zu bewegen, diesmal mit der Intention, ihre Tochter abgesichert zu wissen, wenn sie bald nicht mehr da wäre. Später liest sie zufällig in Lydias Tagebuch, was ihr selbst gar nicht bewusst ist, die Tochter aber zusätzlich verärgert. Am nächsten Tag kann Alice sich nur noch an einen Streit erinnern, jedoch nicht mehr an den Anlass. Nach einer
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heatervorstellung von Lydia beglückwünscht sie diese zu ihrem Auftritt, erkennt aber T nicht mehr, dass es ihre eigene Tochter ist. Die Irritation währt aber nur kurz, da Alice, darauf angesprochen, die Fehlleistung prompt und überzeugend überspielen kann. Der folgende Besuch beim Neurologen erklärt diese Zusammenhänge nun auch dem Publikum: Gerade bei Patienten mit einem hohen Bildungsniveau könne frühmanifester Alzheimer besonders schnell und heftig für das Schwinden der geistigen Kräfte sorgen, nachdem diese ihre mentale Funktionsfähigkeit vergleichsweise lange und kreativ zu erhalten wüssten. Und Alice hätte eine Menge Ressourcen. So ist sie sogar in der Lage, einen Vortrag vor der Alzheimer-Gesellschaft zu halten, in dem sie beeindruckend reflektiert und eloquent ihren Willen zur Selbstbehauptung erklärt.
Rapider Regress Doch schon bald verschlechtert sich ihr Zustand weiter. Sie weiß nicht mehr, wie man sich die Schuhe zubindet, deponiert das Shampoo und ihr Telefon im Kühlschrank, sitzt immer öfter apathisch auf dem Sofa. Durch Zufall stößt sie auf die Videobotschaft, in der sie sich selbst zum Tablettensuizid auffordert. Fast kindlich erfreut erkennt sie ihr eigenes Gesicht auf dem Bildschirm und lauscht zutraulich ihren eigenen Anweisungen, deren Umsetzung ihr allerdings Probleme bereitet. Die Überdosis bereits in der offenen Hand, wird sie jedoch gestört und die Absicht, das zunehmend demente Leben zu beenden, scheitert. Währenddessen geht das Leben der anderen Familienmitglieder weiter. Die ältere Tochter hat Zwillinge zur Welt gebracht, die – dank Präimplantationsdiagnostik – frei von der mütterlichen und großmütterlichen genetischen Veranlagung zur Alzheimer-Erkrankung sind, und ihr Mann ist in eine andere Stadt weggezogen, um ein Jobangebot anzunehmen. Nur Lydia, die Schauspielerin und jüngste Tochter, hat ihre eigenen Karrierepläne aufgegeben, ihr Leben einschneidend geändert und wohnt nun bei Alice. Sie hat sich bedingungslos auf eine basale, emotionale Beziehung zu ihrer Mutter eingelassen und kümmert sich aufopferungsvoll um sie.
Ein in vieler Hinsicht ungewöhnlicher Demenzfilm Filme zu produzieren ist teuer, aber auch die Zeit eines Kinofilms ist begrenzt, und so ist jede Filmminute nicht nur ökonomisch, sondern auch dramaturgisch wertvoll. Offenbar haben die Macher von Still Alice dieses Prinzip besonders beherzigt. Der Film beginnt mit einer Familienfeier, bei der die engsten Beziehungen der Hauptfigur etabliert werden, geht gleich über in eine knappe, doch dichte Skizze ihrer beruflichen Situation, um in der zweiten kurzen Sequenz direkt zur Sache zu kommen. Alice Howland ist eine anerkannte Linguistikprofessorin und Expertin für frühkindlichen Spracherwerb, die bei einem Vortrag auf der Suche nach einem für ihr Thema mehr als geläufigen Wort kaum merklich ins Stocken gerät: ausgerechnet die Vokabel „Wortschatz“ fällt ihr erst nach einigen Sekunden des
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Haderns und vergeblichen Ansetzens wieder ein. Reflexartig macht sie eine launig-selbstironische Bemerkung und das Vortragspublikum hat die Irritation im nächsten Moment wieder vergessen. Doch das Publikum im Kino hat genau verstanden, was diese Szene einläutet. Der Film ist keine fünf Minuten alt und schon sind die zentralen Motivkreise, in denen sich das äußere und innere Drama vollziehen werden, klar gesetzt: das Einbrechen einer frühen Alzheimer-Demenz in das beruflich wie familiär ausgefüllte Leben seiner auf sehr hohem geistigen und sprachlichen Niveau agierenden Protagonistin.
Verzicht auf biografische Rückschau Still Alice ist ein Demenzfilm, dem es also weniger darum geht, die Vorgeschichte der Erkrankung zu entfalten oder dem Leben und den Beziehungen seiner Hauptfigur vor dem Einsetzen der ersten Symptome Raum zu geben. Nach zwölf Minuten Filmzeit sitzt Alice bereits in der Sprechstunde beim Neurologen und der Fokus der Erzählung ist ganz auf den unaufhaltsamen degenerativen Verlauf mitsamt seiner Auswirkungen gerichtet. Insofern handelt es sich um einen untypischen Demenzfilm, der ein unverzichtbares Element des Genres (bzw. Subgenres) links liegen lässt: Den Rückblick auf die Hauptfigur vor der Krankheit, die doch „zum Programm aller Filme des Stoffkreises“ (Wulff 2008, S. 248) gehört. Es gibt nur ein paar wenige, kurze Sequenzen alter Familienvideos, in denen die junge Alice zu sehen ist und die unvermittelt auftauchen, doch weniger, um einen kontrastierenden Rückblick, sondern vielmehr, um kurze Erinnerungsblitze des verblassenden Gedächtnisses von Alice zu markieren.
Fallhöhe statt Symbolik Auch motivisch geht der Film eigene Wege und verzichtet auf ein Stilmittel, das viele Demenzfilme vor ihm in vielfältigen Variationen durchgespielt haben, indem diese auf eine Versinnbildlichung der demenziellen Entwicklung setzen (a. a. O., S. 231 f.). Überhaupt ist die Darstellung weniger poetisch als realistisch, was die Eindringlichkeit des Films aber in keiner Weise schmälert. Das Setting von Handlung und Figuren ist besonders darauf angelegt, die Drastik und Verstörung, die eine Alzheimer-Diagnose auszulösen vermag, plastisch vor Augen zu führen. Der Verlust von Kontrolle und Orientierung, der allmähliche Zusammenbruch einer selbstständigen und sozial lebendigen Lebensführung wird eindringlich spürbar. Zur Wirkungskraft des Films gehört aber vor allem, dass Alice mit ihren gerade 50 Jahren nicht nur eine besonders junge Patientin ist, sondern darüber hinaus eine Figur darstellt, die sich explizit über ihre intellektuellen und artikulatorischen Fähigkeiten definiert. So ist die Fallhöhe* gewaltig, als sie erfährt, dass sie in ihren besten Jahren unaufhaltsam dem geistigen Verfall geweiht ist.
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*Dramaturgische Fallhöhe
Die dramaturgische Fallhöhe ist ein auf die Regelpoetik von Aristoteles zurückgehendes Strukturelement der klassischen Tragödie, das zur Erreichung der kathartischen Effekte von Furcht und Mitleid den Untergang der Hauptfigur umso eindrücklicher ausfallen lässt, je höher diese gestellt ist bzw. sich über andere erhebt. War in der Tradition dieses wirkungsästhetische Prinzip im Rahmen der sog. „Ständeklausel“ vor allem sozial oder moralisch konzipiert, lässt es sich heute im Zusammenhang des Demenzfilms auf die intellektuelle Dimension übertragen, um den Kontrast zwischen den geistigen Fähigkeiten des Protagonisten vor der Demenzerkrankung und dem degenerativen Zustand im Verlauf (bzw. zum Ende) der Erkrankung zu fassen.
Demenz als Anstoß zu familiärer Annäherung? Ein weiteres Kernelement filmischer Demenzdarstellungen ist das Narrativ der durch die Erkrankung angestoßenen Familienzusammenführung (vgl. Herwig 2016, S. 143). Hier folgt Still Alice zunächst ganz der Tradition. Denn Alice hat nicht nur einen liebenden Mann, der zu ihr steht und drei erwachsene Kinder, die sich mehrmals um sie versammeln und Anteil nehmen, sie hat auch einen besonders seltenen Alzheimer-Typ, der erblich bedingt und somit potenziell bereits an ihre Kinder weitergegeben worden ist. Damit eröffnet sich ein zusätzliches familiäres Drama, die Betroffenheit weitet sich aus und greift auf die Kinder über, die bislang schon mit der Rolle der Angehörigen genug zu kämpfen hatten. Hier geschieht allerdings etwas Merkwürdiges, wenn mit dieser genetischen Vervielfachung und Intensivierung des Leidens die Familie mehr und mehr zerfällt, statt zusammenzuwachsen. Der Sohn spielt in der zweiten Hälfte des Films keine nennenswerte Rolle mehr und auch die größere Tochter, die gerade eine Kinderwunschbehandlung durchläuft, taucht nurmehr kurz auf. Vor allem aber die Darstellung des Ehemanns ist es, die eine gängige Formel des Genres unterläuft. So sind es in den allermeisten Filmen, die ihre Hauptfigur an Demenz erkranken und in ihrer früheren Persönlichkeit verfallen lassen, die Paarbeziehung und die romantische Liebe zu einem Ehepartner, die der Krise und Katastrophe der Krankheit trotzen (s. Wulff 2008, S. 241; s. Seidler 2011, S. 107 ff.). Dieser häufig anzutreffende Topos eines „Heroismus der Liebe“ (Wulff 2008, S. 241) wird in Still Alice nicht bedient. Bald schon nach der Diagnosestellung fragt Alice ihren ebenfalls an der Universität tätigen Mann, ob er nicht ein Semester frei nehmen wolle, doch der Gatte entscheidet sich für die Karriere.
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Die verlorene Tochter Die jüngere Tochter Lydia ist im Gegensatz zu ihren Geschwistern und ihrem Vater bereit, ihr Leben für die demente Mutter zu ändern. Sie, die bislang die größten Konflikte mit ihrer Mutter hatte, die am wenigsten deren Vorstellungen entsprach, ist nun dasjenige Kind, das sich, stark emotional und intuitiv geleitet, ohne Rücksicht auf eigene Interessen der Pflege und Beziehung widmet. Sie hat ihre eigenen schauspielerischen Ambitionen in L.A. aufgegeben, um sich ganz um ihre Mutter zu kümmern, ist die Einzige in der Familie, die sich für ihre Mutter als Mensch interessiert, die sie auch im geistigen Schwinden als ganzheitliches Gefühlswesen begreift. Lydia ist die verlorene Tochter, die nun zurückkehrt, als die anderen Familienmitglieder verschwinden und versagen (Abb. 4.1).
Eine bedenkenswerte Rede Am weitesten von den gängigen Erzählmustern und narrativen Motiven des Demenzfilms entfernt sich Still Alice aber wohl mit einer der exponiertesten Sequenzen des Films. Als Alice bereits immer stärker durch ihre Erkrankung eingeschränkt ist, entschließt sie sich, bei einer öffentlichen Tagung der Alzheimer-Gesellschaft aufzutreten und eine Rede zu halten. Alice versteht es rhetorisch eindrucksvoll, einerseits als Betroffene von ihrer eigenen Situation zu abstrahieren, die individuelle Sicht eines unter Alzheimer leidenden Menschen aber andererseits unverblümt ins Zentrum zu stellen: cc
Ich bin jemand, der mit frühmanifestem Alzheimer lebt. Und dadurch erlerne ich die Kunst des Verlierens jeden Tag aufs Neue. Ich verliere die Orientierung, Gegenstände, meinen Schlaf, aber hauptsächlich Erinnerungen. […] Alles, was ich im Leben angesammelt habe, alles wofür ich so hart gearbeitet habe, all das wird mir jetzt entrissen. Wie Sie sich vorstellen können, oder aus eigener Erfahrung wissen, ist das grauenvoll. Aber es wird noch schlimmer. Wer kann uns
Abb. 4.1 Die jüngste Tochter Lydia kümmert sich einfühlsam um ihre Mutter Alice. (© Polyband. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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ernst nehmen, wenn wir nicht mehr die sind, die wir mal waren? Unser seltsames Verhalten und unsere wirren Sätze verändern, wie andere uns wahrnehmen. Und wie wir uns selbst wahrnehmen. Wir wirken lächerlich. Unfähig. Komisch. Aber das sind wir nicht. Unsere Krankheit ist schuld daran. Und wie jede Krankheit hat sie eine Ursache, einen Verlauf und vielleicht ist sie sogar heilbar. […] Bitte denken Sie nicht, dass ich leide. Ich leide nicht. Ich kämpfe. Ich kämpfe darum, am Alltagsleben teilzunehmen und den Menschen nicht zu vergessen, der ich einmal war. Ich sage mir: ‚Lebe im Hier und Jetzt‘. Etwas anderes bleibt mir nicht übrig, als im Hier und Jetzt zu leben. Und nicht zu hart zu mir selbst zu sein, weil ich eine Expertin in der Kunst des Verlierens werde.
Diese Rede fungiert als allgemeines Plädoyer zum besseren Verständnis, zu mehr Empathie und Respekt gegenüber dementen Menschen trotz drastischer Persönlichkeitsveränderungen, die viele Momente des Films zusammenfasst und kommentiert. Diese Form einer Erklärsequenz, in der nicht eine die medizinische Expertise vertretende Nebenfigur, sondern die betroffene Protagonistin selbst vor Publikum ihre Situation einordnet und Forderungen an ihr Umfeld aufstellt, ist auffällig untypisch für einen Krankheitsfilm. Dieser Auftritt kann als Höhepunkt des emotionalen Spannungsbogens des Films bezeichnet werden, muss sich aber auch die kritische Nachfrage gefallen lassen, inwieweit er als realistisch gelten kann. Dass eine unter Alzheimer leidende Patientin, die in ihrem Alltag bereits mit schwereren Symptomen konfrontiert wird, die zuhause die Toilette nicht mehr finden kann und ihre eigene Tochter nicht mehr erkennt, eine anspruchsvolle, selbstreflexive und in Ansätzen politische Ansprache nicht nur konzipiert, recherchiert und schreibt, sondern diese auch gekonnt und bewegend vorträgt, spiegelt wohl kaum die triste Realität neurodegenerativen Verfalls wider. Hier wird doch eher ein Hollywoodschema abgerufen: Die gegen Widerstände organisierte, mitreißende Rede vor einem Stellvertreterpublikum, das am Ende zu Tränen gerührt mit Standing Ovations dem vorher unbekannten oder angezweifelten Standpunkt der redenden Figur die Absolution erteilt.
Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Still Alice ist in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Demenzfilm. Nicht nur stellt er mit einer 50-jährigen Linguistin eine relativ junge Betroffene mit enormer Fallhöhe ins Zentrum, der Film bemüht sich auch, vor allem die anfänglichen Stadien der Erkrankung und ihren allmählichen Verlauf aus der Perspektive der Betroffenen lebensnah zu zeigen.
Eindrucksvoll einfühlsam So gibt es gleich in der Eröffnungsszene ein minimales Missverständnis von Alice in einem oberflächlichen Dialog, das bereits als allererste Vorahnung und Startsignal für das Einbrechen der demenziell bedingten Störungen in Alice’ Berufs- und Privatleben ver-
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standen werden muss. Auf die Frage des Schwiegersohns nach dem Verhältnis der drei Geschwister im Kindesalter antwortet Alice mit einer Bemerkung zu ihrer eigenen Schwester. Als die Verwechslung aufgeklärt ist, lacht sie nur kurz: cc
Du liebe Zeit! Warum habe ich das gerade gesagt?
Nicht weiter der Rede wert, so etwas passiert dauernd in schnellem Small Talk. Der Aussetzer an der Universität, der wenig später folgt, lässt Alice dann aber schon nicht mehr kalt. Nach dem kurzen Moment, in dem sie während des Vortrags um die richtige Vokabel ringt, ist sie sichtlich irritiert (Abb. 4.2). Nun werden die kognitiven Störungen immer auffälliger und intensiver. Bisher hat Alice niemandem gegenüber ihre Symptome und die eigene Beunruhigung erwähnt, geschweige denn den Besuch beim Neurologen. Sie hat, so ist anzunehmen und aus dem Gesehenen zu schließen, alle anfänglichen Anzeichen, alle kleineren Wortfindungsstörungen, Verwechslungen und Erinnerungslücken intuitiv kompensiert und gekonnt überspielt – was, wie ihr Neurologe akkurat erklärt, besonders bei Menschen mit hoher Intelligenz und Sprachkompetenz sehr lange gelingen kann (vgl. Rosenthal 2018, S. 140). Doch Alice ist eine sensible und reflektierende Frau, für die die mentale Belastung und Ungewissheit ihrer Situation, die sie sehr bewusst verfolgt, immer mehr zu einer dauernden Last wird. cc
Es fühlt sich an, als würde mein Gehirn absterben, verdammt!
wirft sie ihrem Mann entgegen, als sie sich ihm eines Nachts offenbart. Nun ist die versteckte Alzheimer-Bedrohung benannt und verbreitet sich im sozialen Umfeld. Erst ist es der Mann, dann die Kinder, schließlich ihr Studiengangsleiter an der Universität, die von ihrer Erkrankung erfahren. Auf typische und vermeintlich harmlose Fehler folgen schwerwiegendere und beschämende Ereignisse, die Alice’ Selbstverständnis vollends erschüttern. So schafft der Film eine durch und durch realitätsgetreue Darstellung der klinischen Symptome einer früh einsetzenden, jedoch spät diagnostizierten Alzheimer-DeAbb. 4.2 Auch Alice’ Tätigkeit als Professorin an der Universität wird durch die Erkrankung immer mehr beeinträchtigt. (© Polyband. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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menz sowie der Gespräche und kognitiven Tests beim Neurologen: „a realistic clinical picture of Alzheimer’s disease patients and patient encounters for a neurology audience“ (a. a. O., S. 149).
Tabuthema Spätstadium der Demenz Vor allem gelingt es Still Alice, die Auswirkungen der fortschreitenden Demenz auf das direkte soziale Umfeld sowie auf die Selbstwahrnehmung und Gestimmtheit seiner Protagonistin eindrücklich nachzuzeichnen. Dabei legt der Film allerdings sein Hauptaugenmerk auf die früheren Phasen der Alzheimer-Erkrankung, es gibt „Brüche in der filmischen Darstellung der Progredienz der Erkrankung“ (Wilz und Auclair 2017, S. 317) und der Verlauf der Degeneration im mittleren bis späten Stadium wird lediglich gerafft gezeigt. Erst in den letzten wenigen Minuten des Films sieht man Alice in einem weit fortgeschrittenen Zustand des Verfalls. Auch wenn die Konzentration auf die frühen bis mittleren Krankheitsphasen auf Kosten einer ausgiebigeren Darstellung der Spätphase nicht die Interessen jedes fachkundigen Publikums treffen mag, kann man diese künstlerische Entscheidung den Verantwortlichen kaum vorwerfen. Ein Effekt dieser weitgehenden Ausblendung lässt sich allerdings als problematisch, weil wirklichkeitsfremd, kritisieren. So sieht die Medien- und Filmwissenschaftlerin Robin Curtis die schon im Filmtitel enthaltene These von der Wahrung der Identität trotz fortschreitender Erkrankung mitsamt gravierenden Persönlichkeitsveränderungen als fragwürdig an. Für sie handelt es sich dabei jedoch weniger um eine primär inhaltlich bedingte Ungenauigkeit, als vielmehr um einen Effekt des im US-Kino dominanten filmischen Erzählmodus der „Classical Narration“, dem zufolge entsprechende Filme stark durch ihre Figuren und deren Motivation strukturiert sind (Curtis 2016, S. 184).
Tabuthema Suizid bei Demenz Die Kontinuität, von der im Titel die Rede ist, findet sich somit höchstens im bloß existenziellen bzw. körperlich-emotionalen Sinne im Film selbst wieder. Dies betrifft ein anderes Seitenthema des Films, welches diesen einmal mehr zu einem außergewöhnlichen Vertreter seines Genres macht: Mit der an sich selbst gerichteten Anweisung zum Tablettensuizid hat Alice die Entscheidung über ein Weiterleben eindeutig getroffen, wie es scheint. Doch eine kurze Szene, die dem Thema eine unerwartete Wendung zu geben vermag, folgt: Sie sitzt mit ihrem Mann in einer Eisdiele gegenüber ihrer alten Wirkungsstätte, die sie nicht mehr erkennt. Daraufhin hängt der Mann kurz der Vergangenheit nach, als Alice noch „der klügste Mensch [war], der [ihm] je begegnet ist“, bevor er sie direkt fragt, ob sie „noch hierbleiben“ möchte. Alice versteht die Frage ganz wörtlich und antwortet, sie hätte noch nicht aufgegessen und fragt, ob sie denn schon gehen müssten – ein vermeintlich belangloser Dialog. Doch stellt man die Szene in unmittelbaren Zusammenhang mit der vor-
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hergehenden Sequenz, in der Alice vergeblich versucht hatte, ihren eigenen Suizidbefehl auszuführen, wird eine tiefere und dunklere Bedeutungsebene unübersehbar. Nachdem ihre Ehe „an einem rationalistisch verkürzten Begriff des Selbst“ (Herwig 2016, S. 157) gescheitert ist, fragt der Ehemann nach dem Lebenswillen seiner Frau, die vor ihm sitzt, nun aber nicht mehr die Frau ist, die er geheiratet hatte. Indem Alice nur an die Verweildauer in der Eisdiele denkt und den existenziellen Inhalt der Frage nicht mehr erfassen kann, schwenkt der Film um auf eine Positionierung, die die Kontinuität von Alzheimer-Betroffenen über den Krankheitsverlauf und Verfall hinweg in der reinen Form des (Über)lebens betont, dies jedoch nicht im identitätsbildenden Sinne versteht. Ein Plädoyer gegen jede Art Vorausplanung eines geistig gesunden Selbst, das prädemenziell festlegen möchte, in welchem postdemenziellen Stadium das eigene Leben nicht mehr lebenswert und zu beenden ist (vgl. Rosenthal 2018, S. 146).
Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Still Alice ist ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswerter Demenzfilm. Da wäre zum einen die enorme Wirkung, die sich nicht nur in künstlerischen Auszeichnungen – allen voran für die Hauptdarstellerin Moore – zeigt, sondern die auch die öffentliche Wahrnehmung von Alzheimer-Demenz als gesellschaftlich relevante Bedrohung geprägt hat, was wiederum der medizinischen Forschung und Entwicklung Auftrieb sowie den Betroffenen Aufmerksamkeit verschafft hat. Zum anderen zeichnet sich der Film durch vier inhaltlich-narrative Elemente aus, die besonders sind. Die gezeigte Alzheimer-Demenz ist eine Form des frühmanifesten Typs, sodass die Betroffene untypisch jung ihren Leidensweg beginnen muss. Zudem ist Alice eine erfolgreiche Linguistikprofessorin, was zusammengenommen mit ihrem Alter die Fallhöhe besonders hoch werden lässt. Dazu kommt, dass die Erkrankung vererbbar ist, wodurch die ohnehin virulente soziale Dimension von Demenz an Brisanz und Intensität gewinnt. Und schließlich steht noch das Thema des durch die unaufhaltsame Degeneration bedingten Suizidvorhabens im Raum. Somit kann Still Alice als vielschichtiger Klassiker des noch relativ jungen, doch beständig wachsenden Genres gelten. Dabei muss zuletzt hervorgehoben werden, wie sehr es dem Film gelingt, sich einer möglichst realistischen Darstellung des Innenlebens und der Erfahrungswelt einer Alzheimer-Patientin anzunähern. cc
Näher ist man der Erfahrung dieser Krankheitsbilder als Gesunder noch nie zuvor gekommen (Sterneborg 2015),
wie eine von vielen Reaktionen und Rezensionen zum Filmstart 2015 diese Qualität hervorhob. Die einfühlende Herangehensweise wird im Film sogar in einem Dialog explizit gemacht, als die jüngste Tochter Lydia ihre Mutter nach einer Auseinandersetzung, die auf deren Erkrankung zurückzuführen war, unumwunden fragt, wie die Demenzerfahrung denn für sie, die Erkrankte, ist:
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Lydia: Wie fühlt es sich an? Wie fühlt es sich wirklich an?
Alice: Na ja. Es ist nicht immer gleich. Es gibt gute und schlechte Tage. An guten Tagen gehe ich fast als normaler Mensch durch. Aber an schlechten Tagen fühlt es sich an, als wäre ich nicht ich selbst. Ich habe mich immer so sehr über meinen Verstand, meine Sprache und Wortgewandtheit definiert. Aber jetzt sehe ich manchmal ein Wort vor mir, aber ich komme nicht dran, und ich weiß nicht, wer ich bin oder was ich als Nächstes verliere. Lydia: Das klingt schrecklich. Alice: Danke, dass Du gefragt hast.
Literatur Curtis R (2016) Demenz im Dokumentarfilm. In: Herwig H, von Hülsen-Esch A (Hrsg) Alte im Film und auf der Bühne. Neue Altersbilder und Altersrollen in den darstellenden Künsten. transcript, Bielefeld, S 177–192 Herwig H (2016) Demenz im Spielfilm. In: Herwig H, von Hülsen-Esch A (Hrsg) Alte im Film und auf der Bühne. Neue Altersbilder und Altersrollen in den darstellenden Künsten. transcript, Bielefeld, S 139–176 Rosenthal MS (2018) Dementia and capacity: still alice. In: Clinical ethics on film. A guide for medical educators. Springer, Cham, S 131–152 Seidler M (2011) Wieso haben Sie Schatz zu mir gesagt?“ Liebe und Demenz im Film. In: Hartung A (Hrsg) Lieben und Altern. Die Konstitution von Alter(n)swirklichkeiten im Film. kopaed, München, S 93–112 Sterneborg A (2015) Still Alice – Mein Leben ohne Gestern. https://www.epd-film.de/filmkritiken/ still-alice-mein-leben-ohne-gestern. Zugegriffen am 12.09.2022 Wilz G, Auclair U (2017) Mein Leben ohne Gestern – Still Alice. In: Strauss B, Philipp S (Hrsg) Wilde Erdbeeren auf Wolke Neun. Springer, Berlin, S 309–318 Wulff HJ (2008) Vom Vergessen, vom Verlust, vom Terror: Gerontopsychiatrische Themen im Spielfilm. Am Beispiel der Alzheimer-Demenz. In: Schmidt KW, Maio G, Wulff HJ (Hrsg) Schwierige Entscheidungen – Krankheit, Medizin und Ethik im Film. Haag + Herchen Verlag, Frankfurt, S 229–259
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Das Mädchen mit dem Opa, der Honig im Kopf hat Hannah Poltrum
Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Demenz in der Praxis versus Demenz im Film Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Literatur
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H. Poltrum (*) Wien, Österreich © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_5
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Filmplakat Honig im Kopf. (© Warner Bros. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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„Alles, was ich über die Krankheit meines Opas weiß, weiß ich von meinem Kinderarzt Dr. Ehlers. Mein Opa hat Alzheimer. […] Meine Eltern wollten ihn deshalb in ein Heim stecken und eigentlich ist das der Grund, weshalb ich die Sache in die Hand nehmen musste.“
Diese kindlichen Worte Tilda Rosenbachs leiten Honig im Kopf ein. Die Rolle der Tilda wird von der damals 12-jährigen Emma Schweiger gespielt. Emma ist die jüngste Tochter von Til Schweiger, die im Kielwasser des berühmten Vaters schon im zarten Alter von 3 Jahren das Schauspielern begann. Die Verkörperung der kleinen Tilda war für sie der Durchbruch und bei Publikum wie Kritik erntete sie Anerkennung. Ihr Vater, Til Schweiger, ist durch seine schauspielerische Leistung seit den 1990er- Jahre bekannt und in Deutschland ein Star. Seit Ende der 1990er-Jahre wirkte er bei unterschiedlichen Filmen als Produzent mit, führte Regie und schrieb Drehbücher. Sein Erfolg
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machte ihn auch in Übersee bekannt und er konnte an der Seite von Hollywoodgrößen wie Sylvester Stallone, Brad Pitt und Angelina Jolie spielen. Sein Durchbruch als Regisseur gelang ihm 2007 mit Keinohrhasen, welcher bis heute einer seiner erfolgreichsten Filme ist. Mit Honig im Kopf widmete sich Schweiger erstmals einer ernsteren Thematik und unternahm dabei den Versuch, die erschütternde Tragik der Demenz in einer Komödie aufzuarbeiten. Demenz und Humor, kann das gut gehen?
Film ab! Die Rosenbachs Honig im Kopf erzählt die Geschichte der 11-jährigen Tilda und ihres an Alzheimer erkrankten Großvaters Amandus Rosenbach (Dieter Hallervorden). Opa Rosenbach ist der Familie bereits mit Vergesslichkeit aufgefallen, so möchte er sich weiterhin um seine verstorbene Gattin kümmern und lehnt deshalb ein Zusammenziehen mit der Familie kategorisch ab. Deshalb besucht sein Sohn Niko (Til Schweiger) den kranken Vater in Begleitung seiner Tochter Tilda regelmäßig. Tilda berichtet gleich zu Beginn, dass es zuhause viel Streit gebe, da ihr Vater eine Affäre hatte, woraufhin ihre Mutter Sarah mit ihrem Chef geschlafen habe, was die Stimmung in der Familie drücke. Das Mädchen beschreibt sich selbst als „Schlüsselkind“, das viel allein ist und gerne Zeit mit dem geliebten Opa verbringt. Als Amandus eines Tages Unterstützung beim Aufsuchen eines schon oft besuchten Friedhofs benötigt, eilen Niko und Tilda zu Amandus, von dem aber jede Spur fehlt. Wie Niko kurz darauf erfährt, versuchte Amandus eine Vermisstenanzeige für seine verstorbene Frau aufzugeben – dafür hatte er sogar ein Schwarzweißfoto aus Jugendjahren vorgezeigt. Die Wohnung des Großvaters, der in der Zwischenzeit von der Polizei nach Hause gefahren wurde, versinkt im Chaos. Der Demente hat beispielsweise Lebensmittel im Bücherregal verstaut, da sie laut ihm keinen Platz mehr in der Spülmaschine hätten. Eigentlich hatte Amandus eine Putzfrau, welche er aufgrund vermeintlichen Diebstahls des Schmuckes seiner Tochter feuerte – vergessend, dass Niko Einzelkind ist. Auch seinen Polizeibesuch hat Amandus mittlerweile vergessen. Zur Rede gestellt, erklärt er verlegen, er habe das Foto seiner Frau nur gezeigt, um anzugeben. Als Niko den Raum kurz verlässt, zeigt Amandus Tilda eine Pistole, die er von der Polizei gestohlen hat. Tilda will nicht glauben, dass die Waffe echt ist und die Situation eskaliert: Amandus schießt mehrmals – lachend und sich keiner Gefahr bewusst – ziellos in den Raum. Niko hört erschrocken die Schüsse und fasst in diesem Moment den folgenreichen Entschluss: Amandus kann und darf nicht mehr allein leben. Er überredet ihn, zur Familie zu ziehen.
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Amandus’ neues Domizil Amandus stellt die Bedingung, seine Möbel mitzunehmen, weshalb die aufgebrachte Schwiegertochter Niko Vorwürfe macht. Während Sarah wenig Geduld für Amandus aufbringt, gelingt es Tilda problemlos, mit ihrem verwirrten Opa Zeit zu verbringen und dabei sogar eine Menge Spaß zu haben. Der Verlust sozialer Kompetenzen, wie zum Beispiel die Etikette bei Tisch, erschwert den Umgang mit ihm – vor allem für Sarah. Schlimmer: Sich des brenzligen Themas nicht mehr bewusst, spricht er offen über ihre Affäre, welches die ohnehin angespannten Familienverhältnisse strapaziert. Das Verhältnis zwischen Sarah und Amandus erreicht ein neues Tief, als er den Fahrer des Lieferwagens, beladen mit seinen Möbeln, zum Haus lotsen will. Der Lieferant fährt – vom Dementen fehlgeleitet – in den kostbaren Mercedes der Familie. Die Tatsache, dass er Sarah regelmäßig Sandra nennt – obwohl er sich die meisten anderen Namen problemlos merken kann – verdüstert die Beziehung der beiden zusätzlich.
Der Versuch, Amandus ins Familienleben zu integrieren Tilda hingegen macht sich zur Aufgabe, ihren Opa bei alltäglichen Aufgaben zu unterstützen. Sie erklärt ihm, wie er Kaffee zubereitet, erinnert an Termine und lässt ihn seine Defizite nicht spüren. Unterdessen versucht Niko, seinen Vater in das Familienleben zu integrieren, indem er ihn bittet, Tilda zum Kinderarzt zu bringen. Als Erinnerungsstütze hängt er ihm ein Mäppchen um den Hals, auf dem „Tilda von der Schule abholen“ steht. Trotz Erinnerungshilfe vergisst er sie abzuholen, was Tilda jedoch liebevoll kaschiert. Da das Mädchen bereits sehr selbstständig ist, findet sie ohne Unterstützung den Weg zum Kinderarzt. Diesen Besuch nutzt sie, um sich bei Dr. Ehlers über die Erkrankung ihres Opas zu informieren: cc
„Jetzt stell dir mal vor, alle die Bücher hier sind das Gehirn von deinem Opa. Und da fällt jetzt, bedingt durch die Krankheit, immer wieder mal ein Buch um. In dem Moment hat dein Opa vergessen, was in dem Buch steht. Je nach Tagesform stellt sich aber das eine oder andere Buch auch wieder auf. Dafür fallen dann andere um. Ja, und im Verlauf der Krankheit werden es immer mehr. Und zuletzt, da kippen die Bücher ganz aus dem Regal.“
Während Tilda ärztlich beraten wird, versucht Amandus zuhause einen Kuchen zu backen und steckt dabei die Küche in Brand. Sarah kommt in letzter Sekunde nach Hause und kann eben noch größeren Schaden verhindern. Dieser Zwischenfall führt erneut zu Streitereien zwischen den Ehepartnern, die unterbrochen werden, als Amandus wie selbstverständlich vor den Augen der Streithähne in den Kühlschrank uriniert. In den Sommerferien verbringt Tilda viel Zeit mit ihrem Opa: Sie sehen sich oft Amandus’ altes Fotoalbum aus Venedig an und sie beginnt ihren Opa zu filmen, um ihm diese
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Videos eines Tages zeigen zu können. Doch Amandus’ Zustand verschlechtert sich rapide, bis er auch mit Problemen der Feinmotorik zu kämpfen hat. Er bittet sie, einen Brief zu verfassen, wobei er ihr das Schriftstück (unter deutlichen Wortfindungsstörungen) lediglich diktiert – der Brief ist an Tilda adressiert. Während der Ferien veranstaltet die Familie ein Gartenfest, bei dem geplant war, dass Amandus auf seinem Zimmer bleibt. Er verlässt dennoch sein Zimmer und entdeckt in einem unbeobachteten Moment die Elektrik des (für später geplanten) Feuerwerks. Er spielt ahnungslos mit den Knöpfen und stiftet so ein Feuerwerkschaos: Die Raketen fliegen quer durch die Festivitäten, verwüsten den hergerichteten Garten und jagen die geladenen Gäste in panische Flucht. Sarah ist daraufhin derart erbost und enttäuscht von ihrem Gatten, dass sie im Affekt für mehrere Tage zu ihrer Mutter zieht.
Tilda nimmt die Sache in die Hand Infolgedessen holt sich Niko die Meinung eines Arztes ein, der Amandus untersucht hatte. Auf Anraten des Mediziners beschließt er, für seinen Vater einen Pflegeheimplatz zu suchen. Tilda erfährt zufällig von dem Plan und reagiert wütend, desillusioniert wie verständnislos. Als Amandus ihr eines Tages erzählt, dass er gerade an Venedig denkt, beschließt das waghalsige Mädchen mit ihrem Opa nach Italien auszubüxen. Sie recherchiert selbstständig eine Reiseverbindung und packt Jause und Proviant ein. Auf Reisen sendet Tilda ein Handyvideo an ihre Eltern, die das Verschwinden der beiden bereits mitbekommen und sogar eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatten. In dem Video berichtet sie über die gemeinsame Zugfahrt und dass kein Grund zur Sorge bestünde. Während Tilda das Video aufnimmt und der Zug langsam wieder anfährt, sieht sie, wie Amandus unverhofft auf dem Bahnsteig herumirrt. Er wollte eigentlich auf die Toilette und verließ dabei unabsichtlich den Zug. Tilda packt blitzartig ihre Sachen und zieht, ohne zu zögern, die Notbremse. Die beiden flüchten ins Bahnhofsgebäude, verfolgt von einer Horde Bahnhofspolizisten, die ihnen die Notbremsung übelnehmen. Die beiden verstecken sich in einer Toilettenkabine und harren aus, bis sie vor Erschöpfung einschlafen. Sie werden von der Reinigungskraft Erdal geweckt. Da dieser ebenfalls aus Hamburg stammt, verspürt er Sympathie für die beiden und schmuggelt sie vom Bahnhofsgelände. Erdal und Tilda nehmen ein weiteres Video für ihre Eltern auf. Er schickt dieses übereilt ab und verrät im Video unabsichtlich die „Stadt der Liebe“ als Ziel der Flüchtigen – Sarah und Niko brechen nun unverzüglich nach Venedig auf. Nach verschiedenen Abenteuern gelangen Tilda und ihr Opa schließlich in die „Stadt der Liebe“ und steigen in einem Hotel ab. In der Nacht wird Amandus wach, er geht desorientiert in die Hotellobby und erkundigt sich nach dem Weg zum Strand. Der Portier erklärt ihm, wo er den Strand findet, ergänzt jedoch vergeblich, dass er dort nicht hinkönne, da es tiefste Nacht sei. Morgens wacht Tilda auf und erkennt, dass ihr Opa verschwunden ist. Sie eilt in die Hotellobby, um zu erfragen, ob ihn jemand gesehen habe, hört das Wort „Lido“ und beginnt loszulaufen. Sie begibt sich bei der Suche auf ein Wassertaxi und ent-
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Abb. 5.1 Tilda hilft ihrem Opa Amandus beim Zähneputzen in Venedig. (© Warner Bros. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
deckt ihren Opa auf einer Hafenbank sitzend. Sie springt unbedacht aus dem Boot und schwimmt zu ihm. Doch der befürchtete Moment ist eingetroffen: Amandus erkennt Tilda, seine „Prinzessin“, nicht wieder. Er hat keine Erinnerung mehr an sie. Tilda zieht den nassen Brief, der seitens Amandus diktiert worden war, aus ihrer Hosentasche und liest in Tränen aufgelöst vor: cc
„An Tilda, meine geliebte Enkelin. Es wird der Tag kommen, an dem ich nicht mehr weiß, dass du DU bist. Auf jeden Fall musst du dir eins immer merken. Ich liebe dich und du bist die beste Prinzessin, die ich mir je wünschen konnte.“
Das unvermeidbare Schicksal Die Handlung springt in die Zukunft. Tilda erzählt, dass sie neun Monate später einen Bruder bekommen hat, der nach Amandus benannt wurde. Amandus lebte noch eine Zeit bei der Familie, bevor er in einer Pflegeeinrichtung untergebracht wurde. Zum Schluss des Films verstirbt er im Beisein seiner Enkeltochter, die trotz des schmerzhaften Verlusts für diesen letzten gemeinsamen Augenblick dankbar ist (Abb. 5.1).
Demenz in der Praxis versus Demenz im Film Die Alzheimer-Erkrankung wird in Honig im Kopf unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet; medizinische Fakten werden sowohl realitätsnah als auch zugespitzt- komödiantisch inszeniert.
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Kinematografische Ferndiagnose? Martin Poltrum und Kollegen (Poltrum et al. 2020) argumentieren, dass es für eine psychologisch-psychotherapeutische Diagnostik unerlässlich sei, mit dem Gegenüber in Interaktion treten zu können. Bei Filmfiguren ist dies naturgemäß nicht möglich, weshalb davon abgeraten wird, Ferndiagnosen zu stellen. Dementsprechend soll der folgende Abschnitt keine Beurteilung über die Richtigkeit der Diagnose im Film darstellen.
Demenz in der ICD 10 In der ICD 10* wird die Demenz als eine chronische, meist fortschreitende Erkrankung des Gehirns beschrieben, welche mit „einer Störung von Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen“ einhergeht. Diese Beeinträchtigungen können von Veränderungen der emotionalen Kontrolle begleitet werden. Die eben beschriebenen Symptome entwickeln sich schleichend und verschlechtern sich in der Regel im Verlauf stetig (ICD 10 2015, S. 72 ff). *ICD 10
Die ICD 10 ist die Abkürzung für die internationale statistische Klassifikation von Krankheiten und verwandten Gesundheitsproblemen der WHO. In der ICD 10 befindet sich die Demenz in der Diagnosekategorie F00-F09. In dieser Kategorie sind mehrere Arten der Demenz beschrieben, zum Beispiel die vaskuläre Demenz, Demenz bei anderorts klassifizierten Krankheiten oder andere nicht näher bezeichnete Demenz. Unter dem Code F00* findet sich die Unterkategorie „Demenz bei Alzheimer-Krankheit“.
„Alles verklebt, als hätte man Honig im Kopf“ Amandus’ Leiden wird erstmals während seiner Beerdigungsrede über die verstorbene Ehefrau augenscheinlich: Er verwechselt den Namen seiner verstorbenen Gattin, berichtet Wirres und Unpassendes, wie seine Kuchenliebe. Der exakte Zeitpunkt des Krankheitsbeginns bleibt allerdings nebulös. Im Verlauf des Films zeigt Amandus Tilda ein von seiner Ehefrau angefertigtes Buch. Dieses ist bestückt mit Fotos von Familienmitgliedern samt Kurzbeschreibungen, zum Beispiel „Margarete, meine Frau“ oder „Niko, mein Sohn“. Hieraus geht für den Rezipienten hervor, dass sich seine Erkrankung bereits früher manifestiert haben muss – das Buch war als Gedächtnisstütze gedacht. Diese Szene illustriert eindrücklich, dass die Erkrankung meist schleichend über Jahre voranschreitet und die Fassade der Normalität lange Zeit erhalten bleiben kann.
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Honig im Kopf stellt Amandus’ Erkrankung primär durch Orientierungsstörungen, Namensverwechslungen, Wortfindungsstörungen und Verwahrlosung seiner selbst wie seines Domizils dar (Herwig 2022, S. 53). Auch sein sexuelles Begehren hat er kaum unter Kontrolle und wird als ein „Lustgreis“ charakterisiert (ebd.): Er flirtet mit Bildern und Fernsehausschnitten von Frauen, schickt ohne Unterlass Luftküsse und belästigt seine Pflegerin, indem er ihr an die Brüste fasst. Im Handlungsverlauf weist Amandus immer mehr Defizite in Alltagskompetenz und Selbstständigkeit auf, bis er Alltägliches nicht mehr allein bewältigen kann und in einem Pflegeheim untergebracht wird. Er wird sich seines Zustands tragischerweise situativ bewusst und nennt sich selbst resignierend einen „Idioten“. Er erklärt, dass es sich cc
„schleckli.. schrecklich … scheußlich schlimm“ anfühlt, „wenn man einfach gar nichts mehr weiß; Alles leer“. In einer anderen Situation beschreibt er dieses Gefühl bildlich, es fühle sich an als hätte man „Honig im Kopf – so verklebt“.
Tragik und Humor: Kann das gut gehen? Honig im Kopf fällt in die Kategorie der Tragikomödie. Dementsprechend wird die Darstellung der Alzheimer-Erkrankung zumeist unterhaltsam inszeniert, um den Genremaßstäben gerecht zu werden. So wird die berüchtigte Szene, in der Amandus in den Kühlschrank uriniert, auffällig grotesk gefilmt, um Lacher zu provozieren. Es ist fragwürdig, dass Amandus regelmäßig gebeten wird, wichtige Aufgaben für die Familie zu erledigen, obwohl diese seinen kognitiven Zustand kennt – vermutlich ein Kniff des Regisseurs, um möglichst viele absurde Situationen zu generieren. Auch die überspitzt dargestellte Feuerwerksszene scheint primär der heiteren Unterhaltung zu dienen. Eine solche Melange zwischen einem ernsthaften Thema wie der Demenz und der komödiantischen Darstellung ihrer Symptome ist heikel, denn die Gefahr der Beschönigung und Relativierung der Erkrankung ist allgegenwärtig (Abb. 5.2).
Abb. 5.2 Amandus beim Arzt. (© Warner Bros. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Die Darstellung der Demenz in Honig im Kopf ist bis ins Groteske überspitzt. Als positiv ist jedoch hervorzuheben, dass der Film mehrere Aspekte thematisiert, welche besonders im hohen Alter an Relevanz gewinnen und die gesellschaftlich einer gewissen Tabuisierung unterliegen.
Tabuthema Sexualität im Alter Eines dieser Tabuthemen ist die Sexualität im Alter. Sexualität und sexuelles Begehren werden gesellschaftlich hauptsächlich mit jungen und gesunden Menschen assoziiert. Sexualität ist jedoch ein basales Bedürfnis jeden Alters, welches sich im Laufe der Lebensspanne zwar verändert, jedoch nicht erlischt (Richter et al. 2012, S. 271 ff). Honig im Kopf thematisiert diese Veränderung als sexuelle Enthemmung im Zuge der Alzheimer- Degeneration – als Impulskontrollstörung – und Amandus’ sexuelles Verlangen wird als gesteigert und dessen Auslebung als grenzüberschreitend inszeniert.
Sinnfrage im Angesicht der eigenen Vergänglichkeit Im höheren Alter findet oft eine reflexive Beschäftigung mit dem Leben und dem Dasein statt, denn man wird zunehmend mit der Begrenztheit der eigenen Lebensspanne konfrontiert. Eine akzeptierende Haltung in Bezug auf den bisherigen Verlauf des eigenen Lebens kann dabei ein Gefühl von Integrität – und in weiterer Folge eine angstfreie Begegnung mit dem Tod – schaffen. Im Gegensatz dazu führt eine fehlende Akzeptanz möglicherweise zu Enttäuschung, Trauer und Verzweiflung; denn das Gefühl, das eigene Leben „verschwendet“ zu haben, kann zu tiefster Agonie und Todesangst führen (Wong et al. 1994, S. 123). Um diesen Herausforderungen gerecht zu werden, wird sinnstiftendes Engagement im Alter als ein zentraler Aspekt gesunden Alterns gesehen (Schneider und Lindenberger 2012, S. 53). Im Film finden sich entsprechende sinnstiftende Ansätze wieder: Man erinnere sich an Tildas Vorhaben, ihrem Opa eine letzte Aufgabe und somit einen Sinn im Leben zu geben. In Tildas Tagebuch ist hierzu folgender Eintrag zu finden: cc
„Als Oma dann gestorben ist, hat Opa seine allerletzte Aufgabe verloren. Aber, wenn es mir gelingt, Opa eine Aufgabe zu geben und er das Gefühl hat, dass ich ihn ganz doll dafür brauche, dann wird er vielleicht wieder gesund. Ich weiß nur noch nicht welche.“
Es wurde die Reise nach Venedig.
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Religion als Ressource Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit nimmt in der Tragikomödie einen hohen Stellenwert ein. Während der religiöse Amandus keine Angst vor dem Sterben zu haben scheint, fürchtet sich Tilda vor dem Ableben ihres Opas. Er erklärt ihr: cc
Das brauchst du nicht. Dann werde ich mit Oma von da oben auf dich aufpassen. Aufpassen. Wir werden so stolz auf dich sein. Und, wenn du mich vermisst, dann schaust du einfach zu mir hoch und dann bin ich bei dir.
Tildas neugieriges Naturell treibt sie dazu, auch mit einer der Nonnen über das Sterben zu philosophieren: cc
Tilda: „Glaubst du, mein Opa kommt in den Himmel?“ Nonne (schmunzelt): „Bei all dem, was du mir über deinen Opa erzählt hast, bin ich mir da ganz sicher.“
Glaube und Religion kann bei der Bewältigung von Todesangst als psychische Stütze fungieren (Malinowski 1925; zitiert nach Ochsmann 1993, S. 87). Sie kann eine trostspendende Wirkung haben, weil der Gläubige ein (paradiesisches) Jenseits erwartet (Wittwer et al. 2011, S. 188 ff). Der klinische Psychologe Paul Wong und seine Kollegen beschreiben, dass eine akzeptierende Haltung zum Tod mit der Hoffnung auf ein glückliches Leben nach dem Tod zusammenhängt (Wong et al. 1994, S. 126). Auch Amandus schöpft Kraft aus dem Glauben, Margarete im Jenseits wiederzusehen. Ebenso Tilda: Die Hoffnung, dass ein erfülltes Dasein im Jenseits auf ihn wartet und er dennoch im Diesseits letzte Aufgaben meistern kann, erleichtert ihr die Trennung vom geliebten Opa.
Resonanz, Rezeption und die ambivalente Natur der Komik Honig im Kopf war einer der meistgesehenen Filme im Jahr 2014 und lockte Millionen Zuschauer an die Kinokassen (Herwig 2022, S. 52 ff). Der Film lenkte damit die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums auf das Schicksal Demenzkranker. Aufgrund des Potenzials der medizinisch-faktischen Wissensvermittlung kann der Streifen dem Entertainment- Education (E-E)-Format zugerechnet werden (Link et al. 2016, S. 184 f). Was die Rezeption des Films anbelangt, war diese teilweise sehr kritisch. Joachim Kurz, der Redaktionsleiter der Kino-Zeit beschreibt in einer Kolumne zum Film, dass dieser die Realität von Angehörigen ignoriere und rät Betroffenen sogar davon ab, den Film zu sehen. Kurz, selbst Angehöriger eines an Alzheimer erkrankten F amilienmitglieds, kritisiert die euphemistische Darstellung der Familiensituation vehement. So vermisst er die realitätsgetreue Darstellung von alltäglichen Schwierigkeiten und Nöten, die man als Angehöriger mit aller Härte zu spüren bekommt. Vermeintliche Banalitäten wie der oft frustrane Kampf mit Krankenkassen um Pflegestufen oder die Konfrontation mit der eigenen
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Hilflosigkeit sind für Betroffene wie Joachim Kurz bittere Realität. Dennoch finden diese Aspekte in Til Schweigers’ Film kaum Beachtung. Auch die Gewissensbisse bei der unvermeidlichen Unterbringung in einem Heim oder die Sorge, wie man sich teure Pflegeheimplätze überhaupt leisten soll, werden weitestgehend ausgespart (Kurz 2015). Die Psychologen Nils F. Töpfer und Gabriele Wilz merken des Weiteren an, dass „extreme Begleitumstände des Leidens“ – wie die letzten Lebensmonate oder die Aggressivität von Erkrankten – von Schweiger ebenfalls nicht thematisiert werden (Töpfer und Wilz 2017, S. 323). Elena Link, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Journalistik der HMTM Hannover, beschäftigte sich mit der Frage, welche Empfindungen der Film bei Angehörigen auslöst. Sie stellte fest, dass die Authentizität des Werks von Angehörigen als eingeschränkt oder verzerrt bewertet werde, da sich die humorvolle Darstellung kaum mit der Realität decke. Auch hier wurde kritisch angemerkt, dass die psychischen und finanziellen Sorgen Angehöriger unzureichend abgebildet und zu wenig medizinisches Hintergrundwissen präsentiert würden (Link et al. 2016, S. 189 f). In der medizinischen Praxis wird bei Demenzverdacht ein leitliniengerechtes Diagnostikschema angewandt, das neben umfassender körperlicher Untersuchung und apparativer Diagnostik auch Fragentestbatterien – wie die des „Mini Mental Tests“ – beinhaltet (Frölich et al. 2016, S. 250 u. Schneider et al. 2016, S. 52 f). Auch in dieser Hinsicht bietet Honig im Kopf wenig, selbst die Arztkonsultation überschreitet kaum eine orientierende Anamnese.
Doch nicht nur Verharmlosung und Schönmalerei? Die humoristische Darstellung der Demenz löst aber auch ambivalente Reaktionen beim Publikum aus, wie weitere Studien zeigen konnten: Während dieser Inszenierungsstil bei vielen Betroffenen zu Wut und Unverständnis führte, wurde die humorvolle Aufarbeitung von einigen Angehörigen auch positiv beurteilt (Link et al. 2016, S. 192). Auch Link und Kollegen drängte sich die ethische Frage auf, ob und inwiefern sich Humor und ernste, krankheitsbezogene Themen vereinbaren lassen (ebd.). Die Antwort bleibt unscharf: Humor ist vielfältig und dadurch gekennzeichnet, dass er Grenzen überschreiten darf, sogar soll. Zu Honig im Kopf ertönen neben den zahlreichen Kritikpunkten auch vereinzelt positive Stimmen aus der Fachwelt. Töpfer und Wilz merkten an, dass der Film für einen offenen und natürlichen Umgang mit Demenzkranken plädiere und eine „integrative Botschaft“ beinhalte (Töpfer und Wilz 2017, S. 327). Schweiger ließ sich im Vorfeld auch vom Hirnforscher Gerald Hüther beraten, was dazu beigetragen haben könnte, dass Vertreter der „Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. Selbsthilfe Demenz“ den Film als authentisch einstuften (ebd.). Des Weiteren ist zu erwähnen, dass sowohl Regisseur Til Schweiger als auch Drehbuchautorin Hilly Martinek Familienmitglieder hatten, die an Alzheimer erkrankt waren. Daher kann angenommen werden, dass manche der Szenerien auf eigenen Erfahrungen fußen (Herwig 2022 S. 52).
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Genderaspekte, oder: Ist Pflege Frauensache? Die Germanistin Henriette Herwig führt weitere Kritikpunkte an: Die prekären Arbeitsverhältnisse von Pflegekräften würden unzureichend thematisiert (Herwig 2022 S. 55) und die konservative Darstellung der weiblichen Figuren sei nicht zeitgerecht. Die Figur Tildas nimmt im Film die kaum altersgerechte Funktion einer Mutterrolle ein, sie schenkt ihm Liebe, Zuneigung und Aufmerksamkeit. Dafür vernachlässigt das Mädchen sogar eigene Interessen und Aktivitäten mit Gleichaltrigen, die für ihre Entwicklung wichtig wären. Auch der Umstand, dass Sarah ihren Job kündigt, um für ihren Schwiegervater da zu sein, bezeichnet Herwig als eine „wertkonservative Lösung“. Subsumierend urteilt sie, der Film vermittele indirekt, dass Pflege am Ende Frauensache sei (ebd.).
Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Der demenzkranke Amandus wird in Honig im Kopf im Grunde wie ein Kind dargestellt. Er wird von seiner Enkelin wie ein Kleinkind an der Hand geführt, umgezogen und gewaschen –das Mädchen nahm wie angekündigt „die Sache in die Hand“. Auf dem Filmplakat trägt Amandus passend zu diesem infantilisierten Bild sogar ein Kuscheltier unter dem Arm. Selbst die Unterbringung in einem Pflegeheim wird mit dem ersten Tag im Kindergarten verglichen (Töpfer und Wilz 2017 S. 327). Was unter infantilem Regress – also pathologischem Rückschritt in kindliche Verhaltensweisen – als Teilaspekt der Demenz bekannt ist, wirkt in seiner Reduktion auf diese jedoch wie eine Verharmlosung. An dieser Stelle stellt sich die Frage, ob die humoristisch-euphemistische Darstellung von Amandus nicht auch mit Schweigers Zielpublikum – nämlich Familien mit Kindern – zusammenhängt. Eventuell dient die geschönte Darstellung hierzu, mögliche Kinder im Publikum vor der traumatisierenden Realität einer solchen Erkrankung zu schützen. Diesbezüglich lässt sich diskutieren, ob es überhaupt sinnvoll ist, die Gesellschaft – erwachsen oder nicht – hier zu schonen. Gerade wenn das edukative Format des Films bedacht wird, scheint durch diesen Euphemismus viel Aufklärungspotenzial verloren zu gehen. Für den Regisseur, selbst Vater, wog ersteres Argument scheinbar schwerer, denn er entschied sich für die Beschönigung. Til Schweiger versucht die Demenz amüsant darzustellen und der Tragik gleichzeitig – wenn auch vielleicht einen zu geringen – Raum zu geben. Aber muss man gleich lachen, um nicht schockiert zu werden? Böse Zungen könnten behaupten, Schweiger instrumentalisiere das Leid, um Lacher zu ernten, denn Lachen zieht zahlende Zuschauer an. Dies wirft unweigerlich die Frage auf, ob Komik und Demenz überhaupt kompatibel sind, ohne jemanden zu brüskieren. Diese ethische Frage lässt sich am Ende des Tages nicht objektiv beantworten. Die Frage, ob Humor Grenzen haben sollte und ob die humoristische Darstellung von Demenz diese überschreitet, muss jeder für sich selbst beantworten. Trotz aller Kritik und so mancher Versäumnisse ist Til Schweigers Honig im Kopf als Erfolg zu werten und brachte mehrere Millionen Euro Gewinn ein. Dies bewegte Schwei-
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ger dazu ein Remake unter dem Titel Head full of Honey (USA 2018) zu produzieren. Dieses Remake gilt als Tiefpunkt seiner Karriere. Der Film wurde bereits nach wenigen Tagen aus den Kinos genommen, brachte nur knappe 12.000 $ ein und wurde zu seinem Unverständnis von den amerikanischen Kritiken geradezu vernichtet. In Anbetracht der unterschiedlichen Reaktionen auf die Geschichte der Familie Rosenbach stellt sich die Frage, wieso Schweigers Experiment in Deutschland scheinbar geglückt ist, in Amerika aber nicht? Deutsche Gelassenheit und amerikanische Überempfindlichkeit? Fest steht: Humor und Demenz sind eine explosive Mischung und allein dieser Aspekt macht Honig im Kopf zu einem interessanten Film, unabhängig davon, ob er berührt, amüsiert oder irritiert.
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„Ich verliere meine Blätter“ – Vulnerabilität als Selbsterfahrung des Zuschauers in The Father Kurt W. Schmidt
Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Verloren in Raum und Zeit: Die Vulnerabilität des Menschen Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Literatur
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K. W. Schmidt (*) Zentrum für Ethik in der Medizin am Agaplesion Markus Krankenhaus, Frankfurt/M., Deutschland e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_6
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Filmplakat The Father. (© TOBIS Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Vorspann Er gilt vielen als einer der besten, wenn nicht derzeit der beste Spielfilm über Demenz. Mit The Father hat der französische Autor Florian Zeller (* 1979 in Paris) im Jahr 2020 sein eigenes preisgekröntes Bühnenstück (Zeller 2015) auf die Leinwand gebracht und gemeinsam mit Christopher Hampton den Oscar für das beste adaptierte Drehbuch eines Theaterstücks gewonnen. Ein zweiter Oscar ging an den 83-jährigen Sir Anthony Hopkins für seine Darstellung des an Demenz erkrankten Mannes, der im Bühnenstück noch den Namen André trug, im Film aber interessanterweise – ebenfalls wie Hopkins – Anthony heißt und dort auf Fragen der Ärztin sogar sein persönliches Geburtsdatum für die Filmfigur angibt: 31.12.1937. In seiner Rede bei der Oscarverleihung hatte der Regisseur ausdrücklich Anthony Hopkins für die Zusammenarbeit gedankt und vor allem ihn für den Erfolg des Films verantwortlich gemacht. Er habe Hopkins bereits in dieser Rolle gesehen, als er das Drehbuch geschrieben habe, so Zeller, und man kann es durchaus einen Glücksfall nennen, dass
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Hopkins diese Rolle übernommen hat. „Verwirrung, Angst und Unsicherheit wechseln sich mit lichten Momenten übersprühenden Charmes ab, die schnell aber auch den Despoten durchscheinen lassen.“ (Wiesner 2021). Was aber hebt diesen Film, der von der Jury der Evangelischen Filmarbeit als Film des Monats August 2021 (Jury 2021) empfohlen wurde, aus der Vielzahl anderer Demenzfilme heraus (Frebel 2021)? Was lässt diesen Film für viele so einzigartig erscheinen?
Film ab! An einem sonnigen Tag in London folgt die Kamera einer Frau in mittlerem Alter, die zielstrebig auf ein stilvolles Wohnhaus zuläuft. Statt Straßenlärm hören wir Opernmusik als Ouvertüre zu einem Drama, auf das wir uns nun einzustellen haben. In der Wohnung im oberen Stockwerk angekommen, findet sie ihren Vater im Sessel sitzend vor. „Was tust Du hier?“ fragt der Vater überrascht. Mit unterdrückter Aufregung will jedoch Anne (Olivia Colman), die Tochter, von ihrem Vater Anthony (Anthony Hopkins) wissen, was passiert sei, woraufhin der Vater unwirsch und verärgert reagiert, da doch „nichts“ passiert sei. Oh doch, so die Tochter, die Pflegekraft Angela habe sich beschwert, weil er ihr gegenüber verbal ausfallend geworden sei, sogar handgreiflich. Der Vater widerspricht energisch. Handgreiflich, er? Derartiges sei nie geschehen, die Frau sei völlig verrückt, vor allem weil Angela ihn bestohlen habe: seine Uhr habe sie ihm gestohlen. Das könne nicht sein, so die Tochter, sicherlich habe er seine Uhr selbst an einen sicheren Platz gelegt und habe dies nur vergessen – und Angela sei gekommen, weil er nicht allein bleiben könne und jemanden brauche. Aufgebracht läuft der Vater durch die Wohnung. cc
„Ich brauche niemanden!“. Die Tochter lässt sich erschöpft und verzweifelt auf dem Stuhl nieder: „Ich weiß nicht, was ich machen soll …. Papa, wir müssen reden!“
Nachdem Anne ihrem Vater gesagt hat, wo er suchen soll, findet Anthony seine Uhr und kommt wieder zur Ruhe – Vater und Tochter sitzen sich gegenüber (Abb. 6.1). cc
„Du bist schon immer so eine gewesen, eine Besorgte“ sagt Anthony in geradezu vorwurfsvollem Ton. „Deine Schwester hingegen …. (lacht) Wo ist sie eigentlich?“
Anne antwortet nicht, doch in ihrem kummervollen Gesicht können wir sehen, dass die Schwester, die ihr wohl stets vorgezogen wurde, bereits (früh?) verstorben sein muss. Anne muss wohl schon viele Male dieses Gespräch geführt haben und erneut versucht sie, ihrem Vater zu vermitteln, dass sie einen Mann kennengelernt habe und mit ihm nach Paris ziehen werde. Sie könne dann nicht jeden Tag nach ihm sehen und deshalb benötige er eine Pflegekraft, weil er nicht allein bleiben könne.
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Abb. 6.1 Vater und Tochter sitzen sich gegenüber. (© TOBIS Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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„Also, wenn ich das richtig verstehe, verlässt Du mich. Du lässt mich im Stich!“
Der Vater ist ganz bei sich. Kein freundliches Wort für seine Tochter, kein Ausdruck der Freude über ihre neue Beziehung, sondern vielmehr eine Reihe schmerzhafter Demütigungen, die die Tochter sich (wiederholt?) anhören muss: Sie habe einen Mann kennengelernt? Sie? Das könne nicht sein. Und nach Paris wolle sie? Da sprächen doch alle Französisch – was er ihr nicht zutraue. Dieses mangelnde Zutrauen scheint ein lebenslanges, schmerzhaftes Thema dieser Vater-Tochter-Beziehung zu sein. „Was soll aus mir werden?“ fragt Anthony ängstlich mit Tränen in den Augen. Und auch wenn es Anne nicht leicht fällt, spricht sie die Konsequenzen an, denn ihre eigene Entscheidung, aus London wegzugehen, ist gefallen. cc
„Ich kann Dich hier nicht allein lassen. Das geht nicht. Und deshalb, … wenn Du keine Pflegerin hier haben willst, dann muss ich ….“ Anthony (aggressiv): „Was denn? ….Musst Du was?“
Anne spricht es nicht aus.
Der fremde Mann, die fremde Frau Anthony räumt in der Küche die Einkaufstüten aus, da hört er, wie die Wohnungstür ins Schloss fällt. „Anne? Ist da jemand? Hallo?“ Da niemand antwortet, vermutet er Einbrecher, bewaffnet sich mit einer Gabel und tastet sich vorsichtig durch die Wohnung.
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Innerlich angespannt trifft er im Wohnzimmer auf einen fremden Mann, der im Sessel sitzt und liest. cc
Die Spirale der Unsicherheit „Wer sind Sie? Was tun Sie hier? Was tun Sie in mei-
ner Wohnung?“ „Ich wohne hier“, entgegnet der Fremde gelassen. „Sie leben hier in meiner Wohnung?“ fragt Anthony entrüstet. „Das wird ja immer schöner!“ Der Fremde, der sich als „Paul“ vorstellt, will zur Klärung der Sachlage beitragen und mit seinem Handy seine Frau Anne anrufen. Anthony ist völlig verwirrt. „Wie? Sie kennen Anne?“ Natürlich, entgegnet Paul, denn er sei doch seit bald 10 Jahren mit ihr verheiratet. Anthony tut so, als würde er sich erinnern und lenkt ein. „Ach ja, ja, natürlich, selbstverständlich …. Aber ich dachte …. Seid ihr nicht getrennt?“ – „Wer? Anne und ich? Nein.“ entgegnet Paul. Anthony fährt fort, dass Anne neulich einen Franzosen kennengelernt habe und mit ihm nach Paris ziehen wolle. Als Paul widerspricht, hält Anthony dagegen. „Doch, doch … hat sie mir erzählt. Ich bin doch kein Idiot ….“
Paul hatte Anne auf dem Handy erreicht, als diese gerade Einkäufe erledigte. Jetzt hören wir den Schlüssel in der Tür und Anne betritt die Wohnung. Doch die Person, die nun plötzlich im Zimmer steht, haben wir vorher noch nie gesehen. Wer auch immer das ist, es ist nicht jene Frau, die wir zu Beginn des Films als seine Tochter Anne kennengelernt haben. Erschrocken weicht Anthony vor dieser Frau zurück und lässt sich erschöpft auf einem Stuhl nieder. Als die Frau ihn fragt, warum er so besorgt sei, berichtet Anthony von seiner Begegnung mit ihrem Ehemann im Wohnzimmer. Und der Zuschauer merkt an der Reaktion der Frau, die ihm gegenübersitzt und darauf keine Antwort gibt, dass es nicht seine Wohnung sein kann.
Die neue Betreuerin Ist es ein neuer Tag? In der Wohnung ist plötzlich wieder jene Frau, die wir zu Beginn des Films als seine Tochter Anne kennengelernt hatten, und kündigt ihrem Vater an, dass sich heute eine neue Pflegerin vorstellen wird. Während sich Anthony in seinem Zimmer noch
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zurecht macht, bereitet Anne die neue Pflegerin Laura (Imogen Poots) auf die erste Begegnung mit ihrem Vater vor: Bisher habe ihr Vater allein gelebt in einer Wohnung ganz in der Nähe und sie habe jeden Tag nach ihm sehen können. Er habe bereits verschiedene Pflegekräfte gehabt, mit denen er nicht klargekommen sei, deshalb habe sie ihren Vater zu sich in die Wohnung genommen, aber das sei für sie allein zu viel. Anthony erscheint gut gelaunt und charmant: „Kennen wir uns?“ fragt er nachdenklich und glaubt schließlich in Laura eine verblüffende Ähnlichkeit zu seiner jüngeren Tochter Lucy zu erkennen, die ihm „die Liebste“ sei, die aber nur selten von sich hören lasse. Er selbst sei Stepptänzer gewesen, was Anne sogleich korrigiert, da er doch Ingenieur gewesen sei. Anthony fährt ihr verärgert über den Mund „Was weißt Du schon …“ und wendet sich wieder Laura zu, um ihr die wahren Hintergründe darzulegen: Dies hier sei seine Wohnung, an der nun seine herzlose Tochter interessiert sei, aber er lasse sich nicht aus seiner Wohnung werfen. Er brauche niemand, der ihm helfe. Anne ist entsetzt und fassungslos, weiß kaum, was sie sagen soll, und entschuldigt sich vielmals bei Laura für das Verhalten ihres Vaters.
Annes neuer (wahrer?) Partner Ein anderer Tag? Anne ist nicht da, Laura ist nicht da, stattdessen ist ein Fremder namens Paul im Wohnzimmer. Aber dieser Paul ist nicht jener Paul, den wir vor kurzem noch kennengelernt hatten. Anthony will sich nicht die Blöße geben offenzulegen, dass er nicht weiß, wer dieser Paul ist. Deshalb verhält er sich betont zurückhaltend und verbirgt seine Unsicherheit. Für Anthony erscheint Paul zunehmend als feindlich gesinnte Gestalt, die plötzlich in der Tür steht und ihn dadurch erschreckt, dass er ihn ohne Umschweife aggressiv mit der Frage angeht, wie lange er noch vorhabe, allen „auf den Sack zu gehen“, da es doch besser sei, ihn endlich „in ein Heim zu stecken“. Die Anspannung wächst und wird unerträglich, da Anthony immer häufiger mitbekommt, wie Paul mit Anne hinter seinem Rücken über die Notwendigkeit seiner Unterbringung in einem Pflegeheim spricht. Sobald die Beiden seine Anwesenheit bemerken, brechen sie das Gespräch abrupt ab. Anthony ist verstört und übergeht die Situation; Anne schämt sich.
Tragisches Finale Anthony ist in seinem Zimmer in einem Pflegeheim und steht am Fenster. Die Krankenschwester Catherine kommt herein und macht sein Bett. Anthony versucht sich zu orientieren: Diese Frau hatte er doch schon gesehen, bei sich zu Hause in der Wohnung und sie
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hatte sich als seine Tochter Anne ausgegeben. Da betritt ein Mann den Raum. „Was tut der hier?“ fragt Anthony verwirrt. Aber das sei doch Bill, der Pfleger, der sich schon die ganze Zeit um ihn kümmere, wird Anthony entgegnet, doch er erkennt in ihm jenen unangenehmen Menschen Paul, der sich in seiner Wohnung als sein Schwiegersohn ausgegeben hatte und sich so hart und abweisend ihm gegenüber verhalten hatte. Und zu Cathrine: cc
„Und wer sind Sie? …. Entschuldigen Sie die Frage…. Was ist mit mir? …. Wer bin ich eigentlich?“ „Sie sind Anthony“ erwidert Catherine ruhig. Anthony weint. Er will, dass seine Mutter ihn abholt. Unter Tränen bricht es aus ihm heraus: „Ich fühle mich, als ob ich alle meine Blätter verlieren würde. Die Äste und der Wind und der Regen. Ich weiß einfach nicht mehr, was hier vorgeht …. Wissen Sie, was vorgeht? Diese ganze Sache mit der Wohnung… Es gibt keinen Ort mehr, an dem ich mich geborgen fühle.“
Catherine reicht ihm die Hand, setzt sich mit ihm zusammen auf die Bettkante. Er weint und wie ein Kind lehnt er seinen Kopf an ihre Schulter. Sie lässt es geschehen. Ruhig erzählt sie ihm, was sie heute noch vorhaben. cc
„Es wird Ihnen gleich wieder besser gehen, das verspreche ich Ihnen. Es wird alles wieder gut.“
Verloren in Raum und Zeit: Die Vulnerabilität des Menschen Nachdem die ersten Minuten des Films mit den Außenaufnahmen vorbei sind und Anne die Wohnung betreten hat, versucht der Film überhaupt nicht erst, seine Herkunft als Theaterstück zu verbergen. Nach wenigen Minuten ist die Kamera von innen auf die Wohnungstür gerichtet und diesen Blick der Innenperspektive behält der Film auch größtenteils bei, was zur außergewöhnlichen Erzählstruktur des Films führt: Er nimmt die Sichtweise von Anthony ein und zwingt uns als Zuschauer daran teilzunehmen, wie sich das Fortschreiten einer Demenz wohl anfühlt. Dabei ist es weder die reine Innenperspektive, dann dürfte die Kamera nur genau das zeigen, was Anthony mit seinen eigenen Augen sieht, noch eine reine Außenperspektive. Vielmehr handelt es sich bei The Father um eine geschickte Mischung, die dem Zuschauer das Erleben von Anthony nahebringt, ohne ihm dabei eine Orientierung zu geben, wann es sich um einen Traum, eine Vision, eine Verzerrung der Realität handelt. Filmtechnisch gäbe es zahlreiche Möglichkeiten, um dem Zuschauer zu signalisieren, dass jetzt „die Realität“ verlassen und ein subjektives Erleben vermittelt wird. Diese Orientierungshilfe wird dem Zuschauer jedoch verwehrt, sodass er selbst in das individu-
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elle Erleben des an einer Demenz erkrankten Person mit hineingenommen wird. Unsicherheit, Verwirrung, Orientierungslosigkeit, Angst und Trauer werden direkt erlebbar und der Zuschauer muss ähnliche kognitive Leistungen wie Anthony verbringen, bei dem Versuch Stimmen, Gesichter, Personen und Orte einzuordnen. Dadurch öffnen sich für den Zuschauer verschiedene Lesarten des Films: von einer tragischen Liebesgeschichte (Wie kann ich meinem kranken Vater Gutes tun?), zum Kriminalstück (Will meine Tochter/ mein Schwiegersohn mir Böses?), über eine Krankengeschichte (Werde ich allmählich verrückt?) bis zu Ansätzen eines Horrorfilms (Was wird aus mir, wenn ich meine Autonomie und Selbstbestimmung verloren habe?).
Die Musik Filmmusik* dient der Verständnislenkung. Als nonverbales Ausdrucksmittel ruft sie im Zuschauer Emotionen hervor und ordnet dessen Affekte angesichts des Geschehens auf der Leinwand (Gerigk und Redepenning 2005). In der Regel geht es um eine „Synchronisation der Sinne“ wie der sowjetische Filmregisseur und -theoretiker Sergei Eisenstein formulierte (Bordwell und Thompson 1997, S 316), doch der Beginn von The Father mag auch als musikalische Irritation erlebt werden, da Annes Weg durch die sommerlichen (!) Straßen Londons mit der berühmten „Frost(!)szene“ aus dem 3. Akt der englischen Barockoper King Arthur von Henry Purcell aus dem 17. Jahrhundert unterlegt ist. Inhaltlich wird in dieser Arie die Macht der Liebe betont, die imstande ist, jedes noch so kalte Herz „aufzutauen“ („What power are you“ – Was für eine Macht bist Du?). Der Film beginnt somit mit einer Verheißung und die Musik bringt den Glauben von Anne zum Ausdruck, dass ihre Liebe es schaffen wird, die mit der Erkrankung ihres Vaters verbundene emotionale Erkaltung und Verhärtung als liebende Tochter aufzuweichen und zu ihm durchzudringen.
*Filmmusik
War es im Hollywoodfilm bis in die 1950er-Jahre üblich, mit einer eigens komponierten Filmmusik wie in der Oper zu beginnen (zum Beispiel die Ouvertüre in Vom Winde verweht), so beginnt beispielsweise High Noon für damalige Zeiten neuartig mit einem Titellied. The Father unterlegt die ersten Bilder mit der bekannten Arie des Cold Genius aus der Oper King Arthur und lenkt damit unsere Aufmerksamkeit auf die Macht der Liebe. Entgegen dem Dictum des Komponisten Aaron Copland, dass die beste Filmmusik jene sei, die man nicht wahrnehme, ist die eingespielte Opernarie derart gewaltig, dass wir „mit den Ohren“ darauf gestoßen werden, dass uns nun eine tragische (Liebes)geschichte erwartet.
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Neben der „Frostszene“ aus King Arthur ist mehrfach auch der Beginn der Arie „Je crois entendre encore“ aus Die Perlenfischer (Les Pêcheurs de Perles) von Georges Bizet (Bizet 1863) zu hören, die ebenfalls den Hinweis gibt, dass die Geschichte tragisch enden wird. Doch versteht auch Anthony, der im Film der eigentliche Rezipient der Musik ist, diese inhaltlichen Verweise (noch)? Auf jeden Fall kommt ein weiterer Aspekt hinzu, wenn er sich durch den Wohlklang der Musik und gegebenenfalls durch die damit verbundenen Erinnerungen emotional aufgehoben fühlt. Indem er der Musik lauscht, wird Anthony der konkreten Situation entrückt, denn wo sind wir eigentlich, wenn wir Musik hören und in ihr völlig versinken? „Die Ortsangabe bleibt vage – sicher ist nur, dass man beim Musikhören nie ganz in der Welt sein kann. Denn Hören im musikalischen Sinn heißt immer schon: Entweder auf die Welt zugehen oder sie fliehen.“ (Sloterdijk 1993, S 307). Wenn wir ganz in der Musik aufgehen, verlassen wir die Bewusstseinsebene des Alltags, den direkten Bezug zur Gegenwart, das Gefühl für Raum und Zeit, leben nur in dem Moment. Was im Prozess der Demenz mit uns geschieht (als „Existenz der Selbstvergessenheit“), ist uns also durchaus als Phänomen auch durch andere Erfahrungen bereits stückweise vertraut (Josuttis 2011).
Die Räume Kammerspiele leben von der Begrenzung des Raums. Der Zuschauer wird unweigerlich in das „Kaninchenloch“ hineingezogen, in dem Anthony lebt. Seine Verwirrung wird nicht nur über Dialoge transportiert, sondern auch über die Veränderung der Räume, die am Anfang fast unmerklich geschieht, dann jedoch immer deutlicher wird: Möbel verschwinden oder sind umarrangiert, haben eine andere Farbe und ein anders Design – oder bildet man sich das als Zuschauer alles nur ein und der Eindruck täuscht? (Dunkel 2021) Bei wiederholter Betrachtung bestätigt sich: Hatte die Küche vorher noch dunkle Holzverkleidung, so steht Anthony plötzlich in einer modern eingerichteten hellbraunen Küche.
Die Uhr Der Film wird durchzogen von Anthonys ständiger Suche nach seiner Uhr. Mal trägt er sie am Handgelenk und zeigt sie stolz vor, dann vermisst er sie wieder und hält sie für gestohlen. Doch die Uhr ist für ihn nicht nur ein Gegenstand, sondern eine Art Lebensanker. Ohne Uhr ist er orientierungslos aus der Zeit gefallen. So ist auch in der gesamten Wohnung keine Uhr und kein Kalender zu sehen. Er weiß nicht, wo genau er sich innerhalb des Tages befindet.
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Das Erschrecken In der Küche erzählt Anne ihrem Ehemann Paul, wie schlimm es für sie war, als ihr eigener Vater sie nicht erkannt hatte. cc
„Ich konnte es in seinen Augen sehen. Er wusste nicht, wer ich bin. Es war, als wäre ich für ihn eine Fremde.“ Paul: „Daran musst Du Dich gewöhnen“. Anne: „Das schaffe ich nicht!“ Paul: „Oh doch, ich finde, das machst Du ganz gut.“ Er nimmt sie in den Arm.
Der Film zeigt hier eindrücklich, dass der Schrecken, der durch die Begegnung mit einer als fremd wahrgenommenen Person ausgelöst wird, nicht nur für den an Demenz erkrankten Anthony eine Belastung darstellt, sondern auch für die Bezugspersonen.
Die Unauflöslichkeit der Beziehung Die Zerrissenheit der Tochter zwischen der Beziehung zu ihrem Vater, dem Partner und den eigenen Lebenswünschen wird uns auch deshalb so eindrücklich vor Augen geführt, weil die Dramaturgie bewusst keine weiteren Personen eingeführt hat, die Anne unterstützen könnten. Alles, so die Folge der dramaturgischen Entscheidung, lastet somit auf Annes Schultern. Während Menschen untereinander Beziehungen eingehen und diese meist auch wieder lösen können, bleibt ein besonderes Band zwischen Eltern und Kindern bestehen. Der verstorbene amerikanische Schriftsteller Philip Roth berichtet in seinem autobiografischen Roman „Mein Leben als Sohn“ vom Verhältnis zu seinem sterbenden Vater, dass er – zumindest in seinen Träumen – „ewig als sein kleiner Sohn leben würde …“ (Roth 1992, S 209).
Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Jeder Zuschauer, der einen Spielfilm sieht, in dem eine Figur mit einer bestimmten Erkrankung dargestellt wird, steht vor dem Problem der Realitätseinordnung. Liegt keinerlei berufliche oder private Erfahrung mit der Erkrankung oder sonstig vermitteltes Wissen vor, muss der Zuschauer der cineastischen Darstellung vertrauen. Drehbuchautoren und Regisseure haben grundsätzlich die Möglichkeit, im Film selbst Fachleute einzuführen und diese mit fachkundigen Erläuterungen zu Wort kommen zu lassen. So gibt es auch in The Father Besuche bei einer Ärztin, die diagnostiziert, dass Anthony an Demenz leidet. Zugleich ist The Father kein Dokumentar- oder Lehrfilm über den Verlauf einer demenziellen Erkrankung, sondern ein Spielfilm. Der Spielfilm muss in diesem Sinne also etwas anderes leisten als eine Dokumentation, denn er muss auch jenem Zuschauer, der sich
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nicht für das Krankheitsbild Demenz interessiert, eine Form der „Unterhaltung“ bieten. Und da es im Kino primär um die Evokation von Gefühlen geht, sind Geschichten, in denen Patienten mit ihrem Krankheitsschicksal im Mittelpunkt stehen, seit jeher Geschichten des Kinos. Patienten mit HIV-Erkrankung, im Koma, mit einem Schlaganfall und vor allem mit Krebserkrankungen bestimmten das Genre des Melodrams über viele Jahrzehnte, zunehmend wurden neurokognitive Störungen aufgenommen, die vielfach als „Demenz“ bezeichnet werden, auch wenn sich die Definitionen beider Begriffe geringfügig unterscheiden (Püllen 2019, S 34 ff.). Für die Qualität des Spielfilms ist dabei weniger die Frage der realitätsgetreuen Darstellung der Erkrankung entscheidend, sondern die durch die Darstellung beim Zuschauer hervorgerufenen Gefühle, denn das Kino ist eine „Affektmaschine im Angesicht der Vergänglichkeit“ (Schneider-Quindeau 2015). Demenz ist eine Erkrankung, die auf das Sterben zuläuft und nach dem berühmten Worten des Dichters und Filmemachers Jean Cocteau heißt Filmen: Dem Tod bei der Arbeit zuzuschauen. Anhand welcher Bilder und Szenen der demenziellen Erkrankung gelingt dies diesem Film?
Wahrung des Scheins Im Film wird Anthony oft gefragt, ob alles in Ordnung sei. Menschen mit Demenz sind häufig der festen Überzeugung, dass mit ihnen alles „in Ordnung“ ist. Sie können nicht verstehen, was die Menschen um sie herum eigentlich wollen (Diekämper 2010, S 104). Als Anne nach der Hälfte des Films mit ihrem Vater die Praxis der Ärztin aufsucht, die merkwürdigerweise den gleichen Grundriss zu haben scheint, wie die eigene Wohnung (Seidl 2021), sind seine krankheitsbedingten Einschränkungen nicht zu erkennen. Die Ursache der Probleme sieht er bei seiner Tochter, die – wie er der Ärztin mitteilt – so oft ihre Meinung ändere, dass man nicht mehr hinterherkomme.
Fürsorge versus Selbstbestimmung Der amerikanische Chirurg Atul Gawande hat seine klinischen Erfahrungen im Umgang mit älteren (nicht an Demenz erkrankten) Patienten und deren Angehörigen wie folgt zusammengefasst: Älteren Menschen ist es in der Regel wichtig, ihre Selbstständigkeit zu behalten, ihr trautes Heim nicht zu verlassen und sie beharren häufig darauf, dass sie zum aktuellen Zeitpunkt weder Hilfe noch Unterstützung benötigen; Angehörige hingegen schätzen die Situation häufig anders ein und machen sich Sorgen, weil sie den Eindruck haben, dass der ältere Mensch allein nicht mehr zurechtkommt. Sie wollen für ihren Angehörigen in erster Linie „Sicherheit“, für den älteren Menschen hat hingegen die „Selbstständigkeit“ höchste Priorität (Gawande 2017). Dass im Film mit dem Fortschreiten der Erkrankung eine Zunahme an notwendiger Hilfeleistung einhergeht, entspricht der Realität, ebenso wie die Schwierigkeit einer rea-
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listischen Einschätzung, was die Tochter als Angehörige selbst noch zu leisten im Stande ist und ab wann beziehungsweise zu welchen Handlungen sie sich professionelle Hilfe suchen sollte (Diekämper 2010). Anthony Hopkins hat in einem Interview zum Film von Erlebnissen mit seinem eigenen Vater berichtet, der im letzten Jahr seines Lebens an einer schweren Herzkrankheit litt und dadurch depressiv und streitsüchtig wurde. Heute wisse er, dass die Tatsache, dass er so „herumkommandiert“ habe, damit zu erklären ist, dass er tief verängstigt war (Schaghaghi 2021).
Wohnraum Nicht erst seit der Coronapandemie wissen wir: Die eigene Wohnung ist ein Refugium, ein Rückzugsort, der Sicherheit bietet (Dunkel 2021). Wird diese Sicherheitszone verletzt und dringen unerwünschte Besucher oder gar Fremde ein, gerät das eigene Sicherheitsgefühl aus dem Lot. cc
„Es gibt keinen Ort mehr, an dem ich mich geborgen fühle“.
Ist das schmerzliche Fazit, das Anthony zieht, als er am Ende seiner (Lebens)reise im Pflegeheim angekommen ist. (Zum Einfluss der Umgebung und Architektur auf das Empfinden von Unsicherheit: Feddersen 2019).
Umherirren Anthony liegt im Bett und schläft. Da wird er plötzlich von seiner (verstorbenen?) Tochter Lucy gerufen. Er steht auf, geht im Schlafanzug über den Flur, öffnet eine Tür und befindet sich in einem kahlen Gang. Ein Pflegeheim? Ein Krankenhaus? Er folgt der Stimme, öffnet eine Tür und sieht seine Tochter Lucy schwerstverletzt im Bett auf einer Intensivstation. Wortlos wendet Lucy ihm den Kopf zu – und wir erkennen das Gesicht der jungen Pflegekraft Laura, die Anthony bei ihrem ersten Besuch bereits an seine Tochter Lucy erinnert hatte. Während es für Anthony klar war, dass er der Stimme seiner Tochter zu folgen hatte, würde es sich für Außenstehende als zielloses Umherirren darstellen – was trefflich illustriert, weshalb der Fachterminus von „Weglauftendenz“ zu „Hinlauftendenz“ umbenannt wurde. Und auch wenn Anthony nicht wissen sollte, wo er genau ist, so weiß sein Körper, sein Leibgedächtnis, wie man einen Fuß vor den anderen setzt. Anthony selbst muss nicht „wissen“, wie man geht, sein somatisches Gedächtnis erinnert dies für lange Zeit (Josuttis 2011).
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Trauma Anthonys (Wieder)erleben der Krankenhausszene legt nahe, dass zum einen seine jüngere Tochter Lucy mit etwa 30 Jahren an den Folgen eines schweren Unfalls gestorben ist und zum anderen, dass hier auf filmische Weise versucht wird, das Typische einer traumatischen Erfahrung und die Auswirkungen auf den Betroffenen anklingen zu lassen: In der traumatischen Erfahrung kommt es zu einem vitalen „Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (Fischer und Riedesser 2020, S 88). Dass traumatische Erlebnisse im Zuge einer fortschreitenden Demenzerkrankung (wieder) verstärkt an die Oberfläche treten, wird in der Fachliteratur ebenso beschrieben wie das deutlich erhöhte Risiko, nach einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) an einer Demenz zu erkranken (Günak et al. 2020). Verwiesen sei an dieser Stelle auf Kap. 17, in dem die komplexe Beziehung zwischen Demenz, Verdrängung und Trauma in Remember aufgearbeitet wird. Auch die im Rahmen des Fortschreitens der Demenzerkrankung gemachten Verlusterfahrungen können für die Betroffenen ein traumatisches Ereignis darstellen. So schildert Diana Friel McGowin bereits Anfang der 1990er-Jahre die Diagnosemitteilung als traumatische Erfahrung, wobei ihre Freunde und Bekannten zuerst keine Ahnung davon hatten „welches Trauma ich durchmachte oder welche Veränderungen mit mir vor sich gingen“ (McGowin 1994, S 138). Das Fazit lautet: „Es ist eine traumatische Erfahrung zu wissen, daß der Körper den Geist überleben wird.“ (McGowin 1994, Coverrückseite).
Verlust von Raum und Zeit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen behalten die einzelnen Ereignisse des Tages nicht mehr im Gedächtnis. Für sie ergibt sich kein Fluss der Ereignisse, aus denen sie die Tageszeit ableiten könnten. So fragt Anthony häufig: „Wie spät ist es?“. Menschen mit einer weit fortgeschrittenen Demenz leben zunehmend nur noch im gegenwärtigen Moment. Das Kurzzeitgedächtnis ist häufig die erste Gedächtnisleistung, die im Rahmen einer Demenz schwindet. Im Film steht Anthony mehrfach am Fenster (Abb. 6.2), das klassische Symbol für die Trennung von Innen und Außen. Kulturgeschichtlich haben Fenster die Funktion, das eigene Wahrnehmungsfeld auf einen Ausschnitt zu reduzieren und dadurch den Blick zu konzentrieren (Selbmann 2010, S 11).
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Abb. 6.2 Anthony steht mehrfach am Fenster. (© TOBIS Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Diebstahl Anthony ist mehrfach überzeugt, dass er bestohlen wurde. Als dies (von der Tochter) in Zweifel gezogen wird, reagiert er zunehmend aggressiv, weil ihm nicht geglaubt wird – für ihn ist der Diebstahl Realität. Und während das soziale Umfeld mit Relativierungen reagiert, muss Anthony es ernst nehmen, denn für ihn bedeutet es den Anfang vom Ende. Dass sich hier jeder „bedient“, ist für ihn ärgerlich, denn wenn das so weitergehe, stehe er am Ende noch „splitternackt“ da! Es ist also nicht nur der Diebstahl selbst, sondern auch die katastrophalen Folgen, die Anthony so stark ängstigen. Es ist ein häufiges Phänomen, dass Menschen mit Demenz einzelne Gegenstände nicht wiederfinden, denn sie verlieren die Erinnerung daran, dass sie etwas weggelegt, liegen gelassen oder versteckt haben (Diekämper 2010, S 103). Ihr intaktes Langzeitgedächtnis sagt ihnen z. B., dass doch stets eine Armbanduhr an ihrem Handgelenk war. Jetzt ist dort keine mehr. Wo ist sie nur? Ich kann mich nicht erinnern, sie weggelegt zu haben – Sie muss also gestohlen sein!
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Korrekturen War Anthony nun Stepptänzer oder Ingenieur? Und hat er jemals im Zirkus gearbeitet? An vielen Stellen korrigiert Anne die Aussagen ihres Vaters. In anderen Situationen, etwa wenn er von seiner gestorbenen Tochter Lucy so spricht, als sei sie noch am Leben, interveniert sie nicht. Der Film führt die Konsequenzen beider Verhaltensweisen vor Augen und macht deutlich, dass eine Korrektur der Fakten, ein Pochen auf „die Wahrheit“ für den Demenzkranken nicht hilfreich ist, sondern ihn im Gegenteil in Verwirrung stürzt und er mit Ärger und Angst reagiert (König und Zemlin 2011, S 51 f). Hopkins selbst dazu im Interview: „Das Liebevollste, was man im Umgang mit Demenzkranken tun kann, ist kein Besserwisser zu sein, der diese Menschen mit der harten Wahrheit konfrontiert“ (Schaghaghi 2021).
Demütigung Im Film muss Anne zahlreiche Demütigungen ihres Vaters ertragen. Dass Patienten mit Demenz ihre Sensitivität und Sensibilität für angemessenes Verhalten im Umgang mit anderen Personen verlieren und soziale Standards nicht einhalten, sind typische Zeichen einer krankheitsbedingten Störung sozialer Kognition (Püllen 2019, S 32). In der Demenz verliert die Person die Kontrolle über ihre Selbstdarstellung (Josuttis 2011).
Ungerechtigkeit gegenüber den eigenen Kindern Dass Vater und/oder Mutter eines ihrer Kinder gegenüber ihren anderen Kindern bevorzugen und ihre Liebe und Zuwendung dadurch ungerecht verteilen, wird sich wohl auch dort nie völlig auflösen lassen, wo Eltern dies bewusst ist und sie stets darum bemüht sind, ihre Zuwendung gleich verteilen zu wollen. Doch was heißt „gleiche Zuteilung“? Müsste eine „gerechte“ Zuteilung nicht bedeuten, dass das Kind, das mehr Zuwendung bedarf, auch mehr Zuwendung erhält? Der Film tippt diese ethischen Fragen nur an, lässt aber durchblicken, dass der Vater stets die jüngere Tochter Lucy bevorzugt und Anne zurückgesetzt, ja zurückgestoßen hat.
Überforderung der Angehörigen In einer Szene sitzt Anne am Bett ihres schlafenden Vaters. Langsam ergreift sie ein Kissen, presst es auf das Gesicht des Schlafenden und wird ihn ersticken – Schnitt. Die kurze Szene löst sich sofort auf als (Wach)traum von Anne. Durchaus typisch, da von pflegenden Angehörigen derartige Fantasien als erschreckende Zeichen völliger Überforderung beschrieben werden (vgl. Rosenberg 2014).
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Lichte Momente In einer Szene sieht Anne, wie ihr Vater in seinem Zimmer steht und versucht, seinen Pullover anzuziehen. Anne hilft ihm liebevoll und verströmt dabei Ruhe und Zuversicht. Anthony hält inne: „Anne – Danke für alles!“ Anne hat Tränen in den Augen. Eine emotional starke Szene. Ob es wirklich der Dank des Vaters ist, ruhig und liebevoll, und von Anthony auf das ganze Leben bezogen gemeint war oder nur die Interpretation von Anne ist, bleibt dahingestellt. Auf jeden Fall gibt es sie, diese (scheinbar) lichten Momente im Verlauf einer fortschreitenden demenziellen Erkrankung.
Berührung In einer Szene setzt sich Anne an das Bett ihres Vaters und streicht ihm über das Gesicht, summt ihm etwas vor. Die Rollen Eltern – Kind beginnen sich zu vertauschen. Dabei spielt die Berührung eine wichtige Rolle. So gelingt es der Krankenschwester am Ende des Films, den weinenden und nach seiner Mutter verlangenden Anthony zu beruhigen, indem sie ihn in den Arm nimmt (vgl. hierzu das Foto der Umarmung des älteren COVID-Patienten durch dessen Arzt in Schutzkleidung, Villegas 2020). Lebensgeschichtlich wird in diesem Ritual wahrscheinlich an frühe Erfahrungen wohltuender Pflege erinnert. „Da ist eine sanfte Stimme, eine zarte Berührung, ein Geruch, der belebt.“ (Josuttis 2011)
Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Dem Schauspieler Robert Henderson zufolge sind Dramen und Literatur Fenster zum Verständnis existenzieller Erfahrung. In unserer Kultur sind Selbstbestimmung, Rationalität und Selbstkontrolle unverzichtbare Voraussetzungen für eine eigenständige Lebensführung. Sowohl aus ethischer wie auch aus rechtlicher Sicht sind in den letzten 75 Jahren zahlreiche bedeutende Schritte unternommen worden, Menschen zu ermöglichen, jenes Leben zu führen, das sie sich nach ihren eigenen Wertvorstellungen wünschen. Autonomie und Selbstbestimmung haben sich in unserer westlichen Kultur zu sehr hohen, geradezu höchsten Werten entwickelt. Eng verknüpft damit ist die Gefahr, dass das soziale Ansehen, die Achtung und die Wertschätzung der einzelnen Person in der Gefahr steht, nur an deren geistigen und sozialen Fähigkeiten festgemacht zu werden. Unter diesem Blickwinkel macht eine Demenz als Erkrankung Angst und die – grundsätzlich mit jedem Prozess des Alterns – verbundene Phase des „negativen Wachstums“ (Josuttis 2011) kann als existenzielle Bedrohung empfunden werden (Diekämper 2010, S 15). Im Film sieht Anthony nicht nur einen Teilaspekt seines Lebens bedroht, sondern seine gesamte Existenz: cc
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Die Bedrohungen und Ängste, die von einer Demenz ausgehen, werden in der Gesellschaft oft verdrängt. Der Film öffnet auf schmerzhafte Weise diese Tür und mutet dem Zuschauer einiges zu, indem er nicht nur Einblick in die Sorgen und Ängste eines Menschen mit Demenz gibt, sondern auch den Zuschauer die gewohnte Orientierung verlieren lässt, da er das durch die Demenz veränderte Erleben mit filmischen Mitteln erfahrbar werden lässt. Das ist ebenso verwirrend wie unangenehm und für die Demenzfilme ein Novum. Wer sich darauf einlässt, erfährt, dass mit dem Leben mit einer Demenzerkrankung viele schmerzliche und leidvolle Erfahrungen verbunden sind. Es gibt kein Happy End; der Film löst die leidvollen Erfahrungen nicht mit filmischen Mitteln auf (z. B. als Traum eines alternden Mannes, der am Ende aus einem (Alb)traum erwacht), sondern bleibt bei der harten Botschaft einer unaufhaltsam fortschreitenden Erkrankung mit Verlusterfahrungen. Zugleich schlägt er im ethischen Sinne eine wichtige Brücke, das Verhalten des demenziell Erkrankten nicht als „schwierig und störend“ wegzuschieben, sondern Interesse dafür zu wecken, wie das „herausfordernde Verhalten“ zu verstehen sein könnte. Die Grundannahme dabei ist, dass der Erkrankte etwas Sinnvolles mitteilen möchte, was von den Außenstehenden (noch) nicht verstanden wird (Schmidt 2019, S 342 f.). Anhand von Anthonys fortschreitender Erkrankung erleben wir die menschliche Sehnsucht nach Schutz und Zuwendung und gleichzeitig, wie schwierig und herausfordernd es ist, Menschen mit Demenz ein angemessenes Lebensumfeld zu schaffen und mit welchen Lasten und Zerreißproben dies für Angehörige verbunden sein kann. Danksagung Mein besonderer Dank gilt Frau PD Dr. med. Sandra Schütze für ihre hilfreichen Anmerkungen.
Literatur Bizet G (1863) Les pêcheurs de perles. https://opera-guide.ch/operas/les+pecheurs+de+perles/libretto/de/. Zugegriffen am 16.10.2022 Bordwell D, Thompson K (1997) Film art. An introduction, 5. Aufl. McGraw-Hill, New York Diekämper W (2010) Menschen mit Demenz begleiten und pflegen für die Aus-, Fort- und Weiterbildung. Pflegiothek. Cornelsen Verlag, Berlin, Dunkel B (2021) Gefangen in der Demenz. BR Kulturbühne. 23.08. https://www.br.de/kultur/film/ anthony-hopkins-the-father-florian-zeller-film-demenz-100.html. Zugegriffen am 16.10.2022 Feddersen E (2019) Orientierungslos? Architektur und Raumgestaltung. In: Horneber M, Püllen R (Hrsg) Das demenzsensible Krankenhaus. Kohlhammer, Stuttgart, S 41–58 Fischer G, Riedesser P (2020) Lehrbuch der Psychotraumatologie, 5. Aufl. Ernst Reinhardt Verlag, München Frebel LM (2021) Ethische Konflikte bei Demenz im Spielfilm. Dissertation. Göttingen. https:// ediss.uni-goettingen.de/handle/21.11130/00-1735-0000-0008-57CD-0. Zugegriffen am 22.10.2022 Gawande A (2017) Sterblich sein, 3. Aufl. Fischer Verlag, Frankfurt/M.
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Je mehr der Geist verblasst, umso heller leuchtet der Hass – Falling ohne Aussicht auf Besserung Brigitte Sindelar
Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Der Vater, der Sohn und die Demenz Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Literatur
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B. Sindelar (*) Sigmund Freud Privat Universität Wien Campus Prater, Wien, Österreich Sindelar Center, Schönbrunn, Alsergrund, Wien, Österreich e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_7
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Filmplakat Falling. (© Prokino Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Vorspann Falling ist das Regiedebüt des 1958 in Manhattan, New York, geborenen US-amerikanischen Schauspielers mit dänischen Wurzeln Viggo Mortensen. Er schrieb auch das Drehbuch, die Filmmusik und spielt eine der beiden Hauptrollen. Der Film feierte im Januar 2020 am Sundance Film Festival in Utah Premiere und kam im Juni 2021 synchronisiert nach Österreich, im August 2021 in die deutschen Kinos. Die im Abspann zu lesende Widmung des Filmes an Mortensens Brüder Charles und Walter verweist auf einen autobiografischen Zusammenhang des Inhalts, den Viggo Mortensen in einem Interview bestätigt: „[…] es stecken einige Details und Gespräche darin, auch wenn die Geschichte Fiktion ist. Die Rückblenden und die Dynamik zwischen den Eltern sind ihnen vertraut. Auch die Demenz meiner Mutter, bevor sie starb, und die meines Vaters, meines Stiefvaters oder meiner Großeltern – diese Krankheit war auf beiden Seiten meiner Familie stets sehr präsent“ (Mortensen im Interview mit Marian Wilhelm, 13.06.2021).
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Der Filmtitel stellt die Demenz metaphorisch in den Mittelpunkt. Aber geht es im Film nur oder auch nur vor allem um diese neurologische Erkrankung des alternden Menschen? Nicht ganz: Auf der Projektionsfläche der Demenzerkrankung von Willis Peterson (Lance Henriksen) eröffnet sich die Beziehung zwischen ihm als Vater und seinem Sohn John (Viggo Mortensen), zugleich die eheliche Beziehung zwischen Willis und seiner Frau Gwen (Hannah Gross). Willis vertritt – durch die Demenz scharf gezeichnete – Werte, die konträr zu denen des Sohnes sind: Er ist homophob, rassistisch und sexistisch, antiliberal. John ist Pilot und lebt in einer Regenbogenfamilie mit Eric (Terry Chen), einem Krankenpfleger, dessen Vater aus Korea und dessen Mutter aus Hawaii stammt. Die beiden haben eine Adoptivtochter, Monica (Gabby Velis), mit der John auch spanisch spricht. Schon diese Eckdaten lassen erahnen, dass das Drehbuch weit mehr als die Problematik der Demenzerkrankung eines Familienmitglieds aufgreift.
Film ab! Die Filmhandlung spannt sich zwischen der aktuellen Thematik des dementen Willis, um den sich John zu kümmern versucht, und Rückblenden in Johns Kindheit und Jugend – gespeist aus den Erinnerungen von John und Willis.
Vom Aufeinanderprallen der Wertewelten im Schlaglicht der Demenz Der junge Willis ist Farmer im Mittelwesten der USA. Er hat Pferde und geht gerne auf die Jagd. Bier und Zigaretten unterstreichen seine klischeehafte Identität des patriarchalischen Familienoberhaupts. Seine Ehefrau Gwen ist ebenso klischeehaft Hausfrau und Mutter, die sich ihrem Mann unterordnet und an seine Wünsche anpasst. Ihr Widerspruch gegen den autoritären Ehemann beschränkt sich auf die Aufforderung, er möge die Stiefel ausziehen, bevor er durchs Haus gehe – was er konsequent ignoriert. John ist ihr erstgeborener Sohn, die Tochter Sarah vier Jahre jünger. Gwen beendet diese Ehe, als John etwa zehn Jahre alt ist. Sie heiratet Michael, Willis heiratet die jüngere Jill. Gwen behält das Sorgerecht für die Kinder, die Wochenenden und Urlaube mit dem Vater und seiner neuen Frau verbringen. Auch Willis’ Ehe mit Jill zerbricht und sie heiratet einen Mann aus der Nachbarschaft – Willis überlebt beide Frauen. Nun ist Willis ein alter Mann, der durch eine Demenzerkrankung in der Bewältigung seines Lebensalltags zunehmend eingeschränkt ist. John, der in Kalifornien lebt, fühlt sich für seinen mittlerweile hilfsbedürftigen Vater verantwortlich und möchte sich um ihn kümmern. Der Film beginnt mit einer Rückblende: Willis und Gwen kommen mit Baby John nach Hause. Willis ist angeekelt vom Geruch der vollen Windel, Gwen entschuldigt das Baby: „Er kann ja nichts dafür!“. Gwen bittet Willis, einen Moment bei seinem Sohn zu bleiben, während sie eine frische Windel holt. Während ihrer Abwesenheit entschuldigt sich Willis bei
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seinem Kind, seine Einstellung zum Leben preisgebend: „Tut mir leid, ich hab dich in die Welt gebracht, nur damit du dann stirbst“. Das Baby antwortet mit verzweifeltem Schreien. Der Film wechselt in die Gegenwart: John ist mit seinem Vater auf dem Flug nach Kalifornien. Der Flug gestaltet sich schwierig, da Willis verwirrt und orientierungslos wird, im Flugzeug nicht zur Toilette findet, den für ihn ungewohnten Öffnungsmechanismus der Toilettentür nicht bedienen kann und sich dann auf der Toilette eine Zigarette anzündet. Verdeutlicht wird die Demenzerkrankung des Vaters, als er im Flugzeug nach seiner lange verstorbenen Frau Gwen ruft, die er oben im Flugzeug vermutet – Gegenwart und Vergangenheit vermischen sich in seinen Gedanken, Orientierung und die Bewusstheit der aktuellen Realität entgleiten ihm. Willis ist starrköpfig und aggressiv, seine Sprache unflätig. Sätze ohne Wörter aus der Fäkalsprache und ohne sexualisierte Schimpfwörter sind den gesamten Film hindurch kaum von ihm zu hören. In dieser Szene im Flugzeug blitzt kurz ein Anflug einer freundlichen Haltung von Willis gegenüber Gwen auf, als er John auffordert: „Lass deine Mutter noch ein bisschen schlafen, es ist noch sehr früh“. Je mehr im Laufe des Films über Willis’ Verhalten gegenüber Gwen zu erfahren ist, umso besonderer erscheint diese fürsorgliche Bemerkung.
Von der Kontinuität der Persönlichkeit Willis macht es seinem Sohn und dessen Ehemann denkbar schwer, sich um ihn zu kümmern. Das Zusammenleben ist eine geballte Abfolge von Beleidigungen und Kränkungen, die Willis seinem Sohn und dessen Ehemann entgegenschleudert. Er ergeht sich rechthaberisch in Fäkal- und vulgärer Sexualsprache, in homophoben, sexistischen und rassistischen Ergüssen. Auch beim Besuch seiner Tochter Sarah mit ihren beiden Kindern zeigt er sich von seiner widerlichsten Seite: Wüste Beschimpfungen seiner beiden bereits verstorbenen Ehefrauen und deren zweiten Ehemännern, wobei er die Personen dabei permanent verwechselt, sind seine Beiträge zum Gespräch. Und so sehr sich Sarah auch um Harmonie bei diesem Familientreffen bemüht – Willis bringt sie zum Weinen. Auch Sarahs Kinder werden von Willis verbal heftig attackiert: sein Enkelsohn wegen seiner blau gefärbten Haare, die Willis dazu veranlassen, ihn als „Schwuchtel“ zu beschimpfen, seine Enkeltochter wegen eines Nasenpiercings. Sein Enkelsohn lässt sich zu einem Streit mit dem Großvater provozieren, aus dem er sich schließlich wütend zurückzieht. Seine Enkeltochter bringt der Großvater allerdings nicht aus der Ruhe: cc
Ich habe keine Angst vor Opa.
Johns Erinnerungsrückblenden zeigen auf, dass Willis nicht erst durch die Demenz zum aggressiven und selbstbezogenen Mann ohne Empathie wurde: Auf der Geburtstagsfeier seines kleinen Sohnes taucht er kurz an der Tür mit Zigarette und Bierflasche in der Hand auf und beschimpft Gwen vor den Kindern und deren Müttern, die zu Gast sind. Der kleine John lässt traurig den Kopf hängen.
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Abb. 7.1 Nur Monica darf des Großvaters Herz hören (© Prokino Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Zu einem Menschen aber ist Willis anders: Monica, die Adoptivtochter von John und Eric, spricht eine Seite in Willis’ Persönlichkeit an, die John und Sarah in ihrer Kindheit kaum erfahren durften: Er versucht sie zu trösten, als sie nachts das Bett genässt hat. Er ergreift für sie Partei, als sie im Restaurant eine allzu umfangreiche Essensbestellung abgeben will und ihre Väter ihr dies untersagen – ein anderer Willis als der in Johns Erinnerung an einen Urlaub mit seiner Schwester, seinem Vater und Jill: Da gab es keine Widerrede bei der Essensbestellung, Willis entschied, was in der Imbissstube zu essen bestellt wurde, egal, was die Kinder wollten. Die Kinder übernachteten im schäbigen Wohnwagen auf dem Parkplatz, während er und Jill im Hotel Quartier bezogen. Aber mit Monica liegt Willis gemütlich auf der Couch, er hält sie im Arm und sie kuschelt sich an den Großvater. Dennoch verrät eine Bemerkung, dass er ihr weniger nahe ist als angesichts dieser innigen Szene zu erwarten wäre (Abb. 7.1): cc
Hörst du’s? Zwei Herzen, meins und meine Uhr.
Vom langsamen Fallen zum Absturz Willis wird wegen eines Rezidivs eines Darmkarzinoms operiert. Eine Szene im Krankenhaus nach der Operation zeigt den fortschreitenden Übergriff der Demenz auf die Realitätskontrolle: Als er den behandelnden Arzt fragt, ob er aus eigener Erfahrung wisse, ob die jüngeren Krankenschwestern neben ihrer Arbeit im Krankenhaus als Prostituierte tätig seien, versteckt John resigniert sein Gesicht hinter vorgehaltener Hand. Er hat sich damit abgefunden, dass sein Vater ihm immer öfter Fremdschämen beschert. Willis kehrt auf seine Farm zurück. John bleibt einige Wochen bei ihm, um ihn in der Rekonvaleszenz zu unterstützen und zu organisieren, dass Willis, der auf der Farm bleiben will, Hilfe bei der Bewältigung des Alltags bekommt. John passiert ein Missgeschick, das eigentlich vom Dementen zu erwarten wäre: Er vergisst das Badewasser abzudrehen, sodass es vom oberen Stockwerk in die Küche tropft. Erstaunlich gelassen nimmt Willis dies zur Kenntnis und übt sogar Selbstkritik, meinend, das sei ihm auch schon oft passiert und er hätte schon längst einen Überlauf bei der Badewanne einbauen sollen.
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Willis muss nach seiner Operation seine Ernährung umstellen und John kocht für ihn. Diese Frustration, nicht das Essen zu bekommen, das er begehrt, löst einen Aggressionsdurchbruch bei Willis aus. Als Kontrapunkt zu dieser eskalierenden Aggression erzählt eine Rückblende von einem Jagdausflug des jugendlichen John mit Willis: Nebeneinander auf dem Hochstand sitzend beobachten sie einen Hirsch. Willis gibt John das Gewehr, er schenkt ihm den Schuss. John, der inzwischen in einem Alter ist, das den Todesbegriff kennt, zielt, ist aber nicht imstande abzudrücken und der Hirsch entschwindet. Willis reagiert anders als all die vorigen Rückblenden erwarten lassen: Er klopft seinem Sohn tröstend auf die Schulter: „Ist o.k.“. Als der Witwer von Willis zweiter Frau Jill vorbeifährt – was Willis durch das Fenster beobachtet –, fragt John, was Willis diesem Mann, der für ihn schwere Arbeiten erledigt, bezahle. Johns Frage bringt Willis in Rage und offenbart seine paranoiden Gedanken: Er meint, dass der Ehemann seiner zweiten Frau es auf Willis’ Farm abgesehen habe und mit Jill zu ihm ins Haus kommen wolle. Bezahlen würde er dem Mann nichts, seine Hilfestellung sei eine Wiedergutmachung dafür, dass jener ihm die Frau gestohlen habe. Dass Jill längst verstorben ist, weiß Willis in diesem Moment nicht. Nun ist auch John am Ende seiner Geduld angelangt: Es kommt zu einem heftigen Streit zwischen den beiden, der in einer körperlichen Auseinandersetzung kulminiert. John wirft dabei seinem Vater alles vor, worunter er, seine Mutter und seine Schwester seit seiner Kindheit durch ihn zu leiden hatten und er und seine Schwester jetzt noch erleiden. Willis gerät bei dem Gerangel mit John offensichtlich in überflutende Angst und ruft laut nach Gwen (Abb. 7.2). Das Ringen endet damit, dass Willis und John einander in den Armen liegen. So laut und heftig diese kathartische Szene ist, so subtil und leise ist die darauffolgende, in der Willis seinem Sohn nach all den Felsbrocken der Herabwürdigung, Beleidigung und Verletzung einen Krümel von Akzeptanz und Anerkennung schenkt: Willis, der sich doch konsequent und vehement gegen jede Hilfe wehrt, fragt seinen Sohn um Hilfe bei der Lösung eines Kreuzworträtsels. John nennt ihm den korrekten Begriff, und Willis ist mit seinem Sohn zufrieden: „Das passt“. Das Wort, das Willis sucht, ist die Abkürzung für eine Abb. 7.2 Der Streit zwischen Vater und Sohn eskaliert. (© Prokino Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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psychische Störung. Ob die Wahl eines Begriffs aus der Psychiatrie und nicht aus irgendeinem anderen Gebiet eine zarte Metapher dafür ist, dass Willis die Psychiatrie fremd, seinem Sohn aber geläufig ist? Zurück bei seiner Familie in Kalifornien findet John die Uhr seines Vaters vor, die diesem besonders wertvoll ist. John meint, Willis hätte die Uhr vergessen. Monica klärt ihn auf: „Er hat sie mir geschenkt“, worauf John antwortet: „Das war echt nett von ihm“. Monica bringt auf den Punkt, dass ihre Beziehung zu ihrem Großvater so ganz anders ist als die ihres Vaters zu ihm: „Wir sind Freunde“. Aus dem Lauf der Jahreszeiten ist zu erkennen, dass Willis noch ein weiteres Jahr auf seiner Farm lebt. Die letzte Szene zeigt ihn vor seinem Haus im Schnee auf dem Rücken liegend, in den Himmel blickend. Eine Liebesszene mit Gwen mutet als seine Erinnerung an, nicht als Rückblende. Die Kamera distanziert sich sanft und langsam vom ruhig mit weit offenen Augen im Schnee liegenden Willis – er hat seine Ruhe gefunden.
Der Vater, der Sohn und die Demenz Ein guter Sohn eines bösen Vaters, ein Enkel eines bösen Großvaters Was treibt John an, sich so um seinen dementen Vater zu bemühen? Sein Vater ist offenbar im Alter und in der Demenz derselbe, der er immer war – aggressiv, starrköpfig und borniert. Sein größtes Vergnügen scheint zu sein, die Menschen, die sich um ihn kümmern wollen, zu kränken und zu beschämen. Die Erinnerungsrückblenden präsentieren nur ganz wenige Szenen, in der Willis seinen Sohn liebevoll und wertschätzend behandelt. Am ausführlichsten erzählt wird die Szene, in der Willis seinen damals vierjährigen Sohn auf die Entenjagd mitnimmt und ihm den ersten Schuss aus dem Gewehr erlaubt. Als es dem Kleinen tatsächlich gelingt, eine Ente abzuschießen, ist sein Vater stolz auf ihn – als erfolgreicher Jäger kann der kleine Junge seinem Vater gefallen. Der kleine John nimmt die tote Ente mit in die Badewanne, trocknet sie nach dem Bad liebevoll ab und nimmt sie wie ein Kuscheltier mit ins Bett. Mehrmals betont er, dass das seine Ente ist. Nun hat er jemanden, der zu ihm gehört, der ihm gehört. Einen Todesbegriff hat er in diesem Alter noch nicht. Er möchte die Ente auch selbst rupfen – seine Form, sich um seine Ente zu kümmern; und er möchte eine Feder der Ente behalten – eine Erinnerung daran, einmal nicht allein gewesen zu sein. Er beobachtet ausdauernd, wie die Ente im Backofen bereit wird für das Familienessen, für das er gesorgt hat – ein merkwürdig anmutender Moment der Einigkeit und Harmonie – er bleibt der einzige dieser Art. Eine solche Erfahrung hinterlässt tiefe Spuren in der Seele eines Kindes. Als der Junge die Ente erschoss, erlebte er, dass sein Vater imstande ist, auf ihn stolz zu sein und liebevoll mit ihm umzugehen. Vermutlich, um dies nochmals erfahren zu dürfen, kämpft er nun noch ein letztes Mal mit seinem Einsatz für den dementen Vater, unterstützt durch sein Verantwortungsbewusstsein.
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Das Bedürfnis nach liebevoller Zuwendung, nach Geborgenheit, das Gefühl, für die Eltern wichtig zu sein, bringt ein jedes Kind in sein Leben mit. Kinder beziehen ihren Selbstwert daraus, dass ihre signifikanten Bezugspersonen sie wertschätzen und auf sie stolz sind. Alfred Adler (1870–1937), der Begründer der psychotherapeutischen Schule der Individualpsychologie, nannte es das „Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes“ (Adler 1908d). Die Befriedigung dieses Zärtlichkeitsbedürfnisses ist die Basis einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung, die sich im Erwachsenenalter im „Gemeinschaftsgefühl“ ausdrückt, einer sozialen Haltung der konstruktiven reziproken Beziehung zwischen dem Individuum und dessen Mitmenschen: Der Einzelne trägt zum Fortschritt und Wohl der Gemeinschaft bei, die Gemeinschaft tut dasselbe mit ihm (Adler 1912a). Eine Parallele dazu findet sich in der Bindungstheorie von John Bowlby (1907–1990) (1953, 2005): Eine sichere Bindung, die sich in den frühen Jahren der Kindheit aufgrund positiver Beziehungserfahrungen des Kindes entwickelt, lässt in der Folge prosoziales Verhalten als maßgebliche Persönlichkeitseigenschaft wachsen. Seine Mitarbeiterin Mary Ainsworth (1913–1999) definierte dann anhand der Verhaltensbeobachtungen von Kindern in einer standardisiert ablaufenden Trennungssituation („Strange Situation“)* die unterschiedlichen Bindungsstile (Ainsworth et al. 1978). *Strange Situation
Die „Strange Situation“ ist der Begriff für das Untersuchungsdesign, das Mary Ainsworth et al zur Untersuchung des Bindungsmusters verwendeten. Ainsworth beobachtete systematisch, wie Kinder im Alter von 18 Monaten darauf reagierten, wenn ihre Mutter für drei Minuten den Untersuchungsraum verließ und das Kind mit der Untersucherin im Raum alleine blieb, und wie es sich der Mutter gegenüber verhielt, wenn die Mutter wiederkehrte. Sie definierte anhand der Beobachtungen vier unterschiedliche Bindungsstile: den sicheren, den unsicher-vermeidenden, den unsicher-ambivalenten und den desorganisierten Bindungsstil. Dieser Bindungsstil prägt in der Folge auch die zwischenmenschlichen Bindungen im Erwachsenenalter. Schon dem jungen Willis fehlt es völlig an Empathie und Gemeinschaftsgefühl, wie sich in der Erinnerungsszene an eine Geburtstagsfeier des kleinen John verdichtet (siehe „Film ab“). Dafür hat er ein unerschöpflich erscheinendes Repertoire an Vorurteilen, das er im Zustand des dementen alten Mannes in skrupelloser Überheblichkeit präsentiert: Er blickt geringschätzig auf Frauen herab, er hasst Menschen, deren Hautfarbe nicht weiß ist, er verachtet Homosexuelle, er schmäht liberale Werte – und er bewundert die US-Army. Eine Erinnerung an seinen Vater lässt einen Blick in die Kindheit des Jungen Willis zu: cc
Mein Vater sagte zu mir: Fick dich selbst mit einer zerbrochenen Bierflasche! Da war ich sieben Jahre alt.
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Es fällt nicht schwer zu erahnen, wie Willis zu dem Erwachsenen werden konnte, der er vor seiner Demenzerkrankung war – und die Demenz lässt jede „herausragende“ Eigenschaft seiner Persönlichkeit nur noch stärker zum Vorschein treten.
Das Heimweh des Vaters und die Sehnsucht des Sohnes Ein durchgehendes Phänomen bei dementen Menschen ist, dass sie sich immer wieder auf enge Bezugspersonen aus ihrer Biografie, die schon lange verstorben sind, beziehen, so als wären diese noch am Leben. So auch Willis, der schon auf dem Flug nach Kalifornien seine verstorbene erste Ehefrau und die Mutter seines Sohnes „oben“ suchen will. Uneinsichtig und nur widerwillig fügt er sich, als John ihm erklärt, dass es im Flugzeug kein „Oben“ gibt. Der niederländische Psychiater und Psychotherapeut Bére Miesen fand in empirischen Studien mit Patient:innen, die an Alzheimer-Demenz erkrankt waren, einen Zusammenhang zwischen dem Status des kognitiven Abbaus und der Fixierung auf die Eltern. Er zieht daraus den Vergleich zur „Strange Situation“: Die Fixierung der dementen Patient:innen auf die Eltern versteht er als eine Aktivierung des Bindungsverhaltens in einer Situation, die als unsicher und beängstigend erlebt wird (1993). Für Willis sind es nicht die Eltern, auf die er sich in seiner zunehmenden Demenz fixiert, was der kurze Blick in seine Kindheit anhand des Ausspruchs seines Vaters nachvollziehbar macht. Er sucht vor allem nach Gwen, der Mutter seiner Kinder, und ruft nach ihr in der Not. Mit Gwen erlebte er Phasen der sicheren und harmonischen Bindung, auch wenn seine Aggressivität diese Beziehung zerstörte. Sein Ruf nach Gwen ist eine Form von Heimweh nach dieser Zeit, in der er sich bei seiner Familie „zu Hause“ fühlte. John ist ein beziehungsfähiger Mensch geworden, der sein Leben nicht nach den Vorurteilen des Vaters ausrichtet, sondern seinen eigenen Weg geht, seine persönliche Moral und Ethik entwickelt und nach dieser lebt. Er hat sich von seinem Vater gelöst, sein Verantwortungsgefühl aber bindet den erwachsenen John an den Vater. Anerkennung für seinen Einsatz, für seine Geduld, für seine Leidensfähigkeit in dieser Beziehung erntet er nicht – diese kindliche Sehnsucht bleibt ungestillt. Offensichtlich ist die Tatsache seiner Hilfsbedürftigkeit für Willis unerträglich und beängstigend. Die Anstrengungen seines Sohnes, ihm zu helfen, stellen eine Kränkung dar, weil sie seine Ohnmacht belegen. Und für diese implizite Beweisführung für die eigene Abhängigkeit und Hilflosigkeit rächt sich Willis an seinem Sohn durch Herabwürdigung – John kleinzukriegen gibt ihm die Illusion, seinem Sohn überlegen zu sein. Einen Moment der Anerkennung schenkt Willis seinem Sohn überraschend, als John das richtige Wort für das Kreuzworträtsel nennen kann – wohl deswegen, weil der Vater seine mangelnden Psychiatriekenntnisse nicht als Schwäche sieht.
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Der schleichende Abschied des Geistes Die Demenz bricht nicht über Nacht über einen Menschen herein, sie ist ein schleichender Prozess, der zuerst einmal im Verborgenen wächst. Üblicherweise wird sie zuallererst vom betroffenen Menschen selbst bemerkt, aber möglichst lange verheimlicht. Es ist aber nicht nur Vergesslichkeit, mit der die Demenz anklopft, es ist auch das Erleben, dass automatisierte Handlungsabläufe des Alltags, die bisher keine Aufmerksamkeit gebraucht haben, um zu gelingen, ihre verlässliche Selbstverständlichkeit einbüßen. Die Folge ist ein aufkeimendes Gefühl, sich nicht mehr in dem Ausmaß wie bisher auf sich selbst verlassen zu können. Sobald der Mensch das Nachlassen seiner Geisteskraft bemerkt, versucht er anfangs, dem entgegenzuwirken, indem er seine Aufmerksamkeit gezielt auf einzelne Tätigkeiten richtet, also sich selbst zu kontrollieren versucht. Das Gewahr Werden der Abnahme der kognitiven Fähigkeiten wird zumeist als peinlich und beschämend erlebt und daher möglichst verheimlicht und zu überspielen versucht – man spricht hier von der „Fassade“ Demenzkranker –, bis sie mit Fortschreiten der Krankheit auch für das Umfeld evident wird – die Fassade bröckelt. Die Folge ist Angst: Angst, die Orientierung zu verlieren, verwirrt zu sein, keinen Handlungsplan zu haben, sich in sich selbst und im nächsten Umfeld nicht mehr auszukennen, Gegenwart und Vergangenheit nicht trennen zu können, und dadurch die Vertrautheit und das Vertrauen in sich selbst immer mehr zu verlieren. Die Abhängigkeit, die mit dem wachsenden Unvermögen einhergeht, erstreckt sich auf weit mehr als auf die praktische Bewältigung des Alltags. An Demenz Erkrankte sind auch emotional auf ihr Umfeld angewiesen, was allerdings ihre Bezugspersonen in das Gefühl der Überforderung bringt. Arno Geiger erzählt dazu seine Lernerfahrung mit seinem an Demenz erkrankten Vater: „Bestätigende Antworten, die dem Vater das Gefühl geben, alles sei in Ordnung, [sind] besser als das Nachfragen von früher, das ihn nur beschämte und verunsicherte“ (Geiger 2011, S. 10). Emotionale Unterstützung hat das Ziel, die Angst zu mindern, und das erfordert, nicht die Unzulänglichkeiten des dementen Denkens aufzudecken und zu korrigieren, sondern „die durcheinander geratene Wirklichkeit des Kranken gelten“ zu lassen (ebd., S. 11). Willis ist die Angst kaum anzumerken – er versteckt sie hinter seiner Aggression. Und er macht es seinem Sohn nicht leicht zu unterscheiden, wann seine wiederholten Fragen nach Erics Herkunft und seiner Rolle in Johns Leben provokativ gemeint sind oder dem Vergessen geschuldet.
Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Eine Schätzung der Entwicklung der Prävalenz von Demenzerkrankungen in ausgewählten OECD-Ländern gibt die höchste Prävalenzrate für Japan an mit 26,7 pro 1000 Einwohner im Jahr 2021 und die Prognose von 44,7 im Jahr 2050. Deutschland liegt mit 21,8 für 2021
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derzeit an fünfter Stelle, Österreich mit 18,5 für 2021 an elfter Stelle. Deutschland wird für 2050 ein Zuwachs auf 35,9 prognostiziert, was der sechsten Stelle entspräche, Österreich ein Zuwachs auf 33,4, was dem achten Platz gleichkäme (Radtke 2022). Angesichts dieser Prognosen erscheint die „Nonnenstudie“** des Epidemiologen David Snowdon und seines Forschungsteams besonders beachtenswert, in der sich eine Diskrepanz zwischen dem morphologischen Befund des Gehirns und der Stärke der Demenzsymptome zeigte: Auch Nonnen, bei denen die Sektion stark veränderte Gehirnbefunde feststellen ließ, konnten bis zu ihrem Tod weiterhin geistig anspruchsvolle Aufgaben ausführen (Snowdon 1997; Tyas et al. 2007). Die Studie zeigte außerdem auf, dass das kognitive Niveau vor Ausbruch der Krankheit über die Symptomstärke im Verlauf der Erkrankung wesentlich mitentscheidet (Greiner et al. 1996; Snowdon 1997). **Nonnenstudie
Diese Längsschnittstudie wurde an 674 US-amerikanischen Ordensschwestern im Alter zwischen 76 und 107 Jahren durchgeführt. Dabei wurden Laboruntersuchungen und psychologische Parameter analysiert. Bei 118 Nonnen, die während der Studie verstarben und ihre Gehirne der Studie vermacht hatten, wurden auch histologische Untersuchungen des Gehirns angefertigt. Durch die Homogenität der Lebensführung der Ordensschwestern war der Einfluss von intervenierenden Parametern – wie zum Beispiel der Ernährung, der Wohnsituation, des sozialen Umfeldes – kontrollierbar. Die Archive der Klöster gaben Einblicke in die Lebensläufe und die Tätigkeiten, denen die Nonnen nachgingen. Der symptomatische Verlauf einer Demenzerkrankung ist also so unterschiedlich wie die Menschen, die davon betroffen sind. Willis ist kein zu verallgemeinerndes Beispiel für einen dementen Menschen. Er ist in der Demenz kein grundlegend anderer als er vorher war. Nicht die Demenz macht ihn zum Widerling, sondern seine Lebensgeschichte. Die Demenz verstärkt, was vorher schon da war. In der ORF-Reportage Ohne Worte von Tiba Marchetti (ausgestrahlt am 18.08.2022) kommen ganz andere Persönlichkeiten als Willis, die aber wie er an Demenz erkrankt sind, zu Wort und ins Bild. Sie sind sich ihres kognitiven Abbaus bewusst und können ihn zum Teil auch noch in Worte fassen, traurig, aber nicht verzweifelt, ärgerlich, aber nicht zornig und wütend, und fähig, Freude zu empfinden, solange sie in ihrem vertrauten Umfeld mit vertrauten Menschen geborgen sind. Allerdings ist eine unbeherrschte und aggressive prämorbide Persönlichkeit keine Voraussetzung dafür, dass dieser Mensch im Zuge der Demenzerkrankung sozial unverträglich wird. Auch Menschen, die vor ihrer Demenzerkrankung ein sozial gut integriertes Leben mit befriedigenden zwischenmenschlichen Beziehungen geführt haben, sind von einer Wesensveränderung betroffen, sobald der Abbau die Funktionen der Hirnregionen, die für die Impuls- und Affektkontrolle zuständig sind, beeinträchtigt. Die unterschied-
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lichen Formen der Demenz lassen auch unterschiedliche Symptome in den Vordergrund treten. So belastend für die Betroffenen und ihre Angehörigen die defizitär werdenden Gedächtnisleistungen sind, so sind es dennoch die Symptome der Wesensveränderung, die für die Bezugspersonen die größten emotionalen Herausforderungen mit sich bringen. Demente Menschen, die zunehmend die Kontrolle über ihre Impulse und ihre Affekte verlieren, denen ihre Empathie abhanden kommt, „entwickeln eine zunehmende Taktlosigkeit im Umgang mit Mitmenschen, sind leicht reizbar und manchmal aggressiv. Infolge der Enthemmung kommt es nicht selten dazu, dass sie soziale Normen verletzen oder sogar Delikte begehen“ (Bopp-Kistler 2022, S. 156). Oft führt auch die mangelnde Triebkontrolle zu einer Übersexualisierung, die gesellschaftliche Normen außer Kraft setzt. Verwandte und Freunde finden sich dann in dem Gefühl wieder, dass der einst vertraute und nahestehende Mensch zunehmend verschwindet, der Beziehung entgleitet, obwohl er physisch anwesend ist. Es ist eine besondere Form des Verlust und der Trauer, wenn der Mensch sichtbar noch der gleiche ist und dennoch ein ganz anderer, ein Fremder, oft Feindlicher, dem man ebenso fremd ist. Der Ärger und die Wut der Bezugspersonen, die durch das aggressive, abwertende und verletzende Verhalten der an Demenz Erkrankten ausgelöst werden, richten sich dann gegen jemanden, der nicht mehr da ist. Diese intensiven Gefühle sind oft ein verzweifelter unbewusster Versuch, die ehemals vertraute oder sogar geliebte Person festzuhalten.
Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Der Film verflicht zwei Stränge ineinander: Der eine ist die Beziehung zwischen Vater und Sohn: Willis ist folgsam. Er folgt dem, was ihm sein Vater vorgelebt hat, und wird ein herrischer, unbeherrschter und aggressiver Mann, außerstande, befriedigende Beziehungen zu führen. John dagegen ist unfolgsam, er folgt dem Vater nicht und wird ein beziehungsfähiger Mann. Sein Leben ist ein Plädoyer für ethnische und sexuelle Diversität und für alternative Familienstrukturen. Diese innere Ablösung vom Vater wird auch in der Metapher der Wohnorte dargestellt: Der Vater lebt im rauen Klima des mittleren Westens, der Sohn mit seiner Familie im milden Klima Kaliforniens. Fazit: Auch bei hochgradig traumatisierenden Kindheitserfahrungen besteht eine Chance auf ein zufriedenes Beziehungsleben im Erwachsenenalter. Der zweite Strang ist der Verfall eines Mannes durch die Demenzerkrankung, die ihn schwach und hilflos, abhängig von der Fürsorge seines Sohnes macht, aber nicht sanfter und liebevoller. Ohne zu beschönigen, stellt der Film die agitiert aggressiven, starrsinnigen, distanzlosen und verletzenden Facetten einer durch die Demenzerkrankung vergröberten Persönlichkeit dar, zeigt aber auch deren liebevollen Anteile, die bei Willis weitgehend dem Enkelkind vorbehalten sind. John meinte es gut mit seinem Vater, als er dessen Übersiedlung aus dem rauen Klima in das milde Klima, aus der sozialen Isolierung in die Nähe seiner eigenen Familie plante. Doch Willis verweigert die Annahme dieser Hilfe: Seine bestmögliche Lebensform in der Krankheit ist der Verbleib im Vertrauten. Die Hilfs-
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bedürftigkeit des dementen Menschen wahrzunehmen und wohlmeinend Hilfestellung geben zu wollen, aber schroff zurückgewiesen zu werden, ist eine der vielen Enttäuschungen, die die Hilfsbereiten zu ertragen haben. In der Verflechtung verdichtet der Film Vorurteile und Intoleranz versus Diversität und Toleranz in einem weit über die familiären Beziehungen und über die Genderproblematik hinausreichenden Spektrum, in dem sexuelle Orientierung, Rassismus, ethnische Vielfalt und Migration und auch psychische Störungen bei Kindern – angesprochen durch die Enuresis nocturna (umgangssprachlich: „Bettnässen“), unter der Monica leidet – thematisiert werden. Die Grundaussage des Films lässt sich in einer Polarisierung zusammenfassen: Vorurteile und Intoleranz sind krank und „schwachen Geistes“, sie machen unglücklich. Toleranz und Respekt gegenüber der Individualität sind gesund und „starken Geistes“, sie machen glücklich.
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Teil II Genderaspekte: Wie Regisseurinnen die Demenz inszenierten
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Der Bär kletterte über den Berg oder „Die Hürde des Vergessens“ in An ihrer Seite Susanne Rabenstein
Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Eine Liebesgeschichte mutiert zur Angehörigengeschichte Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Literatur
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S. Rabenstein (*) SFU (Sigmund Freud Privat Universität Wien, Österreich), Wien, Österreich © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_8
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Filmplakat Away From Her. (© Majestic Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Vorspann Der 2006 entstandene und preisgekrönte Film An ihrer Seite ist der Erzählung „Der Bär kletterte über den Berg“ (im Original „The Bear Came Over The Mountain“) der Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro nachempfunden und beschreibt in eindrücklichen Szenen die (Liebes)geschichte eines lang verheirateten Paares, das im Alter mit einer erschütternden Veränderung konfrontiert wird. Fiona, die Ehefrau, erkrankt an Demenz und muss sodann in einem Heim betreut werden. Sie und ihr Mann Grant erleben eine ungewohnte Trennung, da in den ersten vier Wochen zur Eingewöhnung kein Besuch erlaubt ist. Das hat Unvorhersehbares zur Folge und trifft Grant wie den Zuschauer völlig unvorbereitet im Spannungsfeld der Alzheimer-Erkrankung. Die herausragende Produktion der damals erst 28-jährigen kanadischen Regisseurin Sarah Polley ist von der Kritik entsprechend gewürdigt worden: „Eine Liebesgeschichte, die über Bande spielt. Und eine Studie allmählichen Verfalls. Allein wie es Julie Christie gelingt, ihrer Fiona noch im Status der Auflösung Würde, Charme und Schönheit zu be-
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wahren, das ist die vielleicht größte Leistung dieses bei aller Tragik hoffnungsvollen Debüts“ (Tilmann 2007). Christie und Polley sind beide für den Oscar nominiert worden, erstere als Hauptdarstellerin, letztere für das Drehbuch. Ob das Werk diese Laudatio verdient bzw. wie es sich diese gewann und mit welchen Mitteln es ein solch sensibles Thema auf die Leinwand bannte, wird im Folgenden näher betrachtet.
Film ab! Passend zur Handlung beginnt der Film mit einem Close Up des Protagonisten Grant, gespielt von dem kanadischen Schauspieler Gordon Pinsent. Er mimt einen Mann in seinen 70ern, der im Auto fahrend eingeführt wird, in der Hand am Lenkrad einen Zettel samt Adresse eingeklemmt, die er ansteuert. Als passend erweist sich der Filmauftakt deshalb, weil Grant – entsprechend der anfänglichen Nahaufnahme so allein wie im Bild – „zurückgeblieben“ ist und wie die Adresse den Anschluss an die einstige Verbindung zu seiner geliebten Frau sucht. Denn er muss Fiona – dargestellt von Julie Christie, die dafür den Golden Globe Award erhalten hat –, seine an Alzheimer-Demenz erkrankte Frau, nach 45 Ehejahren im Heim unterbringen: „Christie gibt der Alzheimer-Krankheit – darf man das sagen? – Grazie, mit leiser Ironie, aber ohne einen Hauch von falschem Kitsch“ (Bühler 2007). Wulff attestiert außerdem, „dass An ihrer Seite eine Angehörigengeschichte ist“ (Wulff 2008, S. 262). Diese wird anhand der Figur Grant entrollt: Im Zentrum – mit vielen Rückblenden arrangiert – steht das (Liebes)drama eines Mannes, der sich wortkarg und emotional starr erscheinend mit dem tiefgreifenden Thema des Verlusts auseinandersetzen muss – er wird vom Partner zum begleitenden Beobachter degradiert. Als solchen sieht man ihn oft im Heim abseits auf einem Sofa sitzen, die Heimbewohner währenddessen teils in Licht erhellt. Sie werden zur Chiffre der in Wahrheit dunklen Verklärung der geheimnisvollen Welt, in welche an Demenz Erkrankte entschwinden und zu der Grant keinen Zugang hat. Ebenso imponiert der Film mit der Veränderung der Protagonistin durch die Alzheimer-Demenz: „Die filmische Darstellung der Figur von Fiona arbeitet vor allem mit einem alternden Gesicht und Licht-und-Schatten-Inszenierungen in Nahaufnahmen sowie langen Einstellungen, die teils bedrückend wirken“, konstatiert Tanzer (2017, S. 59). Sie in Licht und Schatten zu setzen, stimmt mit den klaren und dementen Momenten Fionas überein, mit dem Antagonismus zwischen ihrer aufrechten Präsenz und ihrem gleichzeitigen Abtauchen in die Krankheit. Zu guter Letzt muss Grant mitansehen, wie sich Fiona mit Aubrey (Michael Murphy), einem Heimbewohner anfreundet und sich um diesen liebevoll kümmert, während sie Grant als störenden Besucher verkennt. In diesem realistisch inszenierten Spannungsfeld kämpft der Protagonist „knöchern-zärtlich“ um die vom (Gedächtnis)verlust bedrohte Liebe mit Fiona: „An ihrer Seite ist eine verdrehte Liebesgeschichte, kein Dokumentarfilm über die Alzheimer-Demenz. Der vielfach ausgezeichnete Film ist einer der Versuche, die Liebe ‚vom Ende her‘ zu erzählen“ (Wulff 2008, Internet).
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Grants Liebeskampf wird durch einen Prozess markiert: Er entwickelt sich von einem Mann, der zunächst „beharrlich“ an der alten Beziehung festhält, zu einem Mann, der seine Frau loslässt, freigibt und alles bereit ist zu tun, damit es ihr besser geht. Zur Veranschaulichung wird der zentrale Handlungsstrang mit einer bedeutsamen Nebengeschichte verwoben: Grant sucht Marian auf, die Frau Aubreys (Olympia Dukakis), um sie dazu zu bewegen, diesen wieder ins Heim zurückzubringen (sie hatte ihn aus finanziellen Gründen nach Hause geholt). Grant hegt die Hoffnung, dass Aubreys Anwesenheit Fiona aus ihrem immer depressiver werdenden Zustand befreit. Es ist Marians Adresse, wie sich herausstellt, die der Protagonist in der Anfangssequenz auf einem Zettel notiert, zwischen den Fingern eingeklemmt, am Lenkrad gehalten hat. Obwohl der Betrachter erst über viele Rückblenden über Fiona, Grant und die Erkrankung genauer in Kenntnis gesetzt wird, montiert der Film schon in den ersten Ausschnitt den „Anfang des Endes“ hinein. Als Marian schließlich ihre Zustimmung gibt, sieht man den Protagonisten – akustisch untermalt von Klaviermusik – Aubrey im Rollstuhl bis vor Fionas Zimmer schieben, bevor er den Raum zunächst allein betritt. Nach dem Öffnen der Türe erwartet ihn eine Überraschung: Er findet Fiona noch einmal klar vor. Wie der Titel der Literaturvorlage metaphorisch ausdrückt, kommt die Hauptdarstellerin einmal noch wie ein Bär bzw. eine Bärin über den Berg der Erinnerung hervor, hinter dem sie schon fast verschwunden war. Man könnte aber auch Grant in dem Bild vom Bären ausmachen, der „über den Berg klettert“, indem er sich überwindet und die Hürde zu einer neuen Art der Liebe nimmt. Fiona erkennt und anerkennt nun Grant, indem sie sich erinnert, dass dieser „wunderbare Mann“ nichts unversucht hat lassen, sie zu trösten. „Die Ebene der Emotionen bleibt bis ganz zum Schluss“, betont der Pflegewissenschaftler Rüsing im Interview (Koch 2010, S. 128). Fiona bekräftigt liebevoll: cc
„Ich bin glücklich, dich zu sehen. Du hättest einfach davonfahren können (…) und hättest mich vergassen, hättest mich vergossen, vergessen“. Darauf er: „Keine Chance!“.
Sie umarmen sich innig, während der Schnitt ihre Langlaufspuren im Schnee – Symbol der vielen gemeinsamen Jahre – freigibt, um gleich darauf Fiona ein letztes Mal im Close-Up – grobkörnig im 8 mm-Stil als junge Frau – ins Bild zu rücken. Damit wird unterstrichen, dass die Erinnerung bleibt. Denn es ist – emotional dicht gestaltet – nur vordergründig ein romantisches Ende. Es ist unmissverständlich, dass es nur einer der letzten Momente der Verständigung der Liebenden gewesen sein kann.
Eine Liebesgeschichte mutiert zur Angehörigengeschichte Fiona und Grant – „Ich wollte für immer an ihrer Seite bleiben.“ Der Film entwirft gleichermaßen eine Angehörigen- wie eine Liebesgeschichte. Nach der Eingangsszene wird mit einer Blende vom Close-Up Grants, der im Auto fährt, zu einem Close-Up von Fiona in jungen Jahren übergeleitet. Letztere wird aber nicht wie Grant von
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der Seite präsentiert, den der Zuschauer dadurch beobachtet, sondern sie lächelt den Rezipienten wie Grant in seiner Erinnerung aus einer 8 mm-Filmaufnahme direkt an, wodurch eine emotionale Verbindung entsteht. Es ist Grants Erinnerung und seine Liebe zu ihr, die dadurch vermittelt werden. Die Schnitttechnik symbolisiert seinen Übergang zum begleitenden Beobachter, je mehr Fionas Krankheit fortschreitet. Parallel dazu hört man den Protagonisten jemandem die Geschichte erzählen, wie alles mit ihr begonnen hat: „Sie hat gesagt, denkst du, es wäre lustig, wenn wir heiraten würden?“. Man hört eine zunächst anonyme Zuhörerin, die im Bild nicht gezeigt wird, interessiert fragen, was Grant darauf gesagt habe. cc
„Ich habe sie beim Wort genommen. Ich wollte für immer an ihrer Seite bleiben. Sie steckte so voller Leben“.
bekundet er, während die junge Fiona im 8 mm-Streifen wie zum Beweis den Mund öffnet und lächelt. Das Motiv wird später im Film erneut aufgegriffen: Nun sieht man auch die zu Beginn interessiert fragende Zuhörerin. Es ist Kristy (Kristen Thomson), die Pflegerin, der sich Grant anvertraut, nachdem Fiona längst im Heim aufgenommen worden ist. Leicht abweichend von der Anfangsszene – wie bei einer musikalischen Variation – beglaubigt Grant noch einmal: „Ganz laut schrie ich JA, ich wollte für immer an ihrer Seite bleiben, sie steckte so voller Leben!“. Er würdigt sodann, was sie bis zum Schluss gemeinsam hatten. Der Film belegt dies mit Szenen, in welchen das langjährig miteinander vertraute Ehepaar im Alltag zu sehen ist: Sie langlaufen, essen und erledigen den Abwasch gemeinsam, sie witzeln immer wieder, und bei all dem ist spürbar, dass da immer noch Zuneigung ist (Abb. 8.1). In diese Idylle, in welcher Grant und Fiona in einem Haus am Land ihren Lebensabend teilen, bricht Alzheimer herein. Noch ist sie in Resonanz zu ihrem Mann und versucht ihn liebevoll zu beruhigen, indem sie seine Hand nimmt und humorvoll sagt: cc
„Hab keine Angst, Schatz! Ich glaube, ich verliere nur meinen Verstand“.
Aber die tragischen Umstände verlangen nach einer neuen Form und Sprache der Liebe, darin liegt die Schnittstelle zur Angehörigengeschichte. Grant steht vor der Herausforderung, den Verlust seiner Frau, wie er sie 45 Jahre lang gekannt hat, zu bewältigen und zugleich einen Weg zu finden, die Verbindung zu Fiona aufrechtzuerhalten. Der Pflegewissenschaftler Rüsing sieht die Angehörigen unter anderem vor die Schwierigkeit eines immer wiederkehrenden Trauererlebnisses gestellt, weil der Erkrankte oft völlig hinter der Demenz verschwindet (Koch 2010, S. 125). Dieser Aspekt wird in An ihrer Seite bravourös nachgezeichnet, wobei der Film Grant dabei als „hölzern wirkenden Mann, dessen innere Energie so gar nicht nach außen dringen mag“, kennzeichnet (Wulff 2008, S. 262). „Sein Schmerz, ja seine Verzweiflung ist hinter einem unbeweglichen Gesicht verborgen (…), das wie eine leere und offene Fläche für die Projektionen des Zuschauers wirkt“ (a. a. O.).
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Abb. 8.1 Fiona umarmt Grant wie in jungen Jahren zärtlich von hinten, bevor sie ihn nicht mehr erkennt. (© Majestic Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Und so bleibt es Letzterem überlassen, die Gefühlsreaktionen des Protagonisten wie auch seine eigenen in der Identifikation zu ergründen. Der Individualpsychologe Wahl erläutert zur Identifikation mit Filmhelden: „Worin die genauen Berührungspunkte einer Filmgeschichte zum Leben der den Film rezipierenden Menschen liegen, können diese nur für sich selber (er)spüren. Es ist davon auszugehen, dass auf einer unbewussten Ebene eigene psychische Erfahrungen aktualisiert werden“ (Wahl und Fuchs-Brüninghoff 2015, S. 364). Das stößt der Film über existenzielle Themen des Menschseins wie Liebe, Trennung, Krankheit, Verlust und Trauer an. Gleichzeitig beeinflusst auch die Gestaltung die Identifikation, denn indem der Betrachter gemeinsam mit Grant Fionas Verfall begleitet, fühlt er sich diesem näher als der Protagonistin. Die Figur des Mannes erfährt die affektive Aufladung, indem ihre Erlebnisse in der Außenwelt dicht abgebildet werden und auf diese Weise eine Vorstellung von seiner psychischen Innenwelt entsteht. Sein karger Gefühlsausdruck bekommt zudem einen personi-
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fizierten Kommentar zur Seite gestellt. Ein ehemaliger, nun auch dementer Sportkommentator, moderiert sich schnell registrierend am Gang an Grant vorbei, der sich aufgrund von Fionas Verschlechterung verzweifelt gegen den Aufzug stützt: „(…) und während wir den Flur hinuntergehen, steht dort ein Mann mit gebrochenem Herzen, zersprungen in tausend Stücke“. Grants äußere Erstarrung spiegelt aber auch die Gefühlsverarmung wider, die er in der Beziehung mit Fiona krankheitsbedingt erdulden muss. Letztere skizziert der Film „ironisch, distanziert, selbst dann überlegen, wenn sie die Orientierung und die Kontrolle verloren hat“ (Wulff 2008, S. 262). Wulff schreibt der weiblichen Hauptfigur zu, dass sie sich dem Zuschauer verweigern würde, indem sie das Leiden am Zerfall nicht demonstriert (a. a. O.). Dennoch präsentiert sich die Protagonistin immer wieder emotional, beispielsweise bei Aubreys bevorstehenden Abschied im Heim, den sie weinend betrauert und danach in einen depressiven Zustand verfällt. Man bleibt wie Grant in einem (emotionalen) Unverständnis zurück, was Fionas innere Verfassung betrifft.
Aubrey, der demente Nebenbuhler Bei seinem ersten Besuch im Heim blickt man mit Grant gemeinsam in einen alten Spiegel, in welchem er als junger Mann von seiner Frau zärtlich umfasst wird. Es ist seine Erinnerung, an die er trotz der veränderten Umstände anzuschließen versucht. Aber schon im nächsten Schnitt sieht man ihn auf der Suche nach Fiona durch das Heim irren, bis er sie mit Aubrey beim Bridge entdeckt und von ihr förmlich gesiezt wird. Grant fragt, ob Fiona überhaupt wisse, wer er sei. Darauf kontert Pflegerin Kristy: cc
„Möglicherweise nicht, heute nicht, morgen ja (…). Sie müssen lernen, das nicht persönlich zu nehmen!“.
Mit steinerner Miene kann Grant nun Fiona nur noch als Beobachter begleiten und muss miterleben, wie sie Aubrey fürsorglich im Rollstuhl durch den Gang chauffiert. Aus einem psychoanalytischen Blickwinkel erscheint Aubrey dabei wie Fionas Übergangsobjekt (Winnicott 2006). Ein Übergangsobjekt ist ein selbst gewähltes Objekt, das (ursprünglich dem Kleinkind) den Übergang im Sinn einer Entwicklung und Ablösung von der Bezugsperson erleichtern soll. Auch Fiona muss sich von Grant ablösen und hat in den vier Wochen der Trennung auf einmal keine Möglichkeit mehr, sich an ihn als ihre nahe Bezugsperson zu wenden. Die selbstbewusste Frau muss mit dem Schwächerwerden, mit der Irritation durch die Demenz wie auch dem Umzug zurechtkommen und sucht sich mit Aubrey jemanden, der mit ihr das alles teilt. Hinzu kommt, dass Fiona immer eine selbstbestimmte Frau war und mit Aubrey unbewusst jemanden wählt, der sich in einem schlechteren Zustand als sie selbst befindet, wohingegen sie Grant gegenüber immer mehr den abhängigeren Part einnehmen muss. Ihr so gearteter Versuch sich über den Mitbewohner in der Ausnahmesituation psychisch zu stabilisieren, stimmt mit dem individualpsychologischen Konzept des Machtstrebens überein, das der Tiefenpsychologe Alfred
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Adler formuliert hat. Er sieht den Menschen von Beginn des Lebens an aufgrund seiner Kleinheit und des Angewiesenseins auf andere mit Minderwertigkeitsgefühlen konfrontiert (Adler 2007, S. 72). Als Kompensation setzt das Individuum das Geltungsstreben ein (ebd., S. 73), welches in einer Überkompensation in ein Machtstreben münden kann (ebd., S. 76). Fiona kann in ihrem zunehmenden Angewiesensein im psychischen Kräfteverhältnis ihrer Partnerschaft keine Gleichwertigkeit mehr erreichen. Durch den schwächeren Aubrey kann sie zumindest fiktiv in dieser Beziehung weiter die Souveräne bleiben, die den anderen betreut und nicht selbst versorgt werden muss. Die Kamera zeichnet die Entfremdung der Eheleute nach, indem sie beispielsweise über die Tische der Heimbewohner schwenkt, die wie eine einheitliche Masse wirken, darunter Aubrey und Fiona, bevor der Schnitt wieder Grant, von den anderen getrennt, allein am Sofa zeigt. Dort erinnert seine Position an jene des Zuschauers, der das Geschehen auf dem Kinositz oder dem Sofa zu Hause aus der Entfernung verfolgt. Da Grant vom Schmerz des Verlusts und von Schuldgefühlen aus jener Zeit geplagt wird, in welcher er seine Frau betrogen hat, fantasiert er, dass Fiona ihn mit diesem „Theater“ bestrafen würde und wird wütend. Es ist einer der seltenen Augenblicke, in welchen ihn der Film emotional präsentiert. Grob greift er nach ihren Händen, um sie wachzurütteln: cc
„Fiona, ich bin’s, Grant! Wir sind seit 45 Jahren verheiratet. Das ist nicht deine Jacke, wir beide hatten ein gutes Leben, das sind deine Worte, Fiona, nicht meine, und das da ist nicht deine Jacke!“.
Daraufhin reißt sich Fiona erschrocken los und flüchtet sich weinend zu Aubrey. Grant erreicht sie nicht mehr, der Psychiater Payk resümiert: „Da der Verständigungsfluss zu einem spärlichen kommunikativen Rinnsal verödet, lässt sich aus den vereinfachten sprachlichen Mitteilungen bzw. aus Mimik und Gestik eines Demenzkranken immer weniger herausfinden, was in ihm vorgeht (…). Später können seine innerseelischen Vorgänge nur noch erahnt, schließlich kaum mehr entschlüsselt werden“ (Payk 2010, S. 24). Die Jacke, auf die sich Grants Wut ebenfalls bezieht, ist ein Symbol der Entfremdung, denn seine Frau trägt nicht ihre eigene Jacke.
Grants Prozess – Veränderung durch Liebe Grant durchläuft in weiterer Folge eine Wandlung, illustriert wird der Vollzug in einer berührenden Szene: Eine jugendliche Punkerin mit lila Haarsträhnen und löchrigen Strumpfhosen – der Kontrast zu dem alten Mann könnte größer nicht sein – setzt sich zu ihm auf die Couch, und Grant beginnt ein Gespräch mit ihr: „Kein amüsanter Ort für einen Besuch“. Darauf sie: „Scheiß deprimierend!“. Sie glaubt zunächst mitleidig, er wäre ein Heimbewohner ohne Besuch, bevor er sie aufklärt, dass er selbst der Besuch ist und „diese wunderschöne Frau mit dem vollen Haar“ seine Ehefrau – auch wenn es den Eindruck erweckt, dass sie mit einem anderen Mann innig sei. Das irritiert die Punkerin und der Protagonist erläutert ihr:
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„Ich habe gelernt, ihr Freiraum zu geben. Sie ist in den Mann verliebt, neben dem sie sitzt. Ich möchte sie nicht stören, ich möchte sie nur sehen, mich vergewissern, dass es ihr gut geht“.
Er äußert, dass es in den Augen der Punkerin lächerlich klingen muss, aber diese reagiert gefühlvoll: „Ich beneide ihre Frau!“, dann fordert sie Grant mit einer Geste dazu auf, in ihre Hand einzuschlagen. Die Bilder berühren, denn zwei, denen man keine Verbindung zugetraut hätte, führen genau diese vor. Man kann den Filmausschnitt als voraussagendes Stilelement identifizieren, denn nachfolgend wird die kurz wiedererwachende Verbindung zwischen Fiona und Grant erzählt.
Die Allegorie als Sprache des Existenziellen Der Individualpsychologe Wahl verweist darauf, dass existenzielle Lebensthemen – wie Tod und Verlust – in der Kunst häufig mit dem Stilmittel der Allegorie versinnbildlicht werden. Es „werden dabei oft Bilder verwendet, die mit natürlichen Abläufen zu tun haben, zum Beispiel mit der Veränderung des Lichts beim Wechsel der Tageszeiten oder mit der Abfolge der Jahreszeiten. Auch menschliche Emotionen, Befindlichkeiten oder innere Konflikte lassen sich durch Naturdarstellungen bzw. -metaphern emotional berührend vermitteln“ (Wahl und Fuchs-Brüninghoff 2015, S. 362). An ihrer Seite greift neben dem authentischen In-Szene-Setzen der Krankheitsrealität zu – regelrecht poetisch anmutenden – Natur- und Landschaftsaufnahmen, wobei vor allem das wiederholte Motiv der Schneelandschaft auffällt. Ein Wechsel der Jahreszeiten bleibt dabei ausgespart, das Verbleiben im Winterlichen gleicht der Irreversibilität der Demenzerkrankung. Eine Tiefenmontage, welche einen Zweig mit gefrorenen Knospen im Vordergrund sehen lässt, während Fiona im verschneiten Hintergrund unscharf wird, verweist auf den Prozess ihres (geistigen) Verblassens. Zu Beginn des Films ist in einer Nahaufnahme der Ausschnitt von Spuren in einer Langlaufloipe zu sehen. Indem die Kamera langsam nach oben schwenkt, werden ein Mann und eine Frau von hinten ins Bild geschoben. Es sind Fiona und Grant: Wortlos hört man nur das Schleifen ihrer Ski auf dem Schnee, während sie einmal in der Totalen gemeinsam nebeneinander herfahren, dann wieder getrennt; Grant zieht dabei im Hintergrund nur klein in seiner Spur vorbei, während Fiona im Vordergrund davonfährt. Die Einstellung wirkt ebenfalls wie eine Vorwegnahme, denn die Frau wird sich durch die Demenz immer mehr von ihrem Mann entfernen, auch wenn sie anfänglich noch den Eindruck von zwei Individuen erwecken, „die sich ein Leben lang synchronisiert haben, so gleichmäßig ist ihr Gang“ (Wulff 2008, S. 261).
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Der Rezipient kann des Öfteren Fiona über die Kamera allein im Schnee herumirrend „verfolgen“, mit verwirrtem, erschrockenem Blick räumt sie ein, „dass ich die Hälfte der Zeit unterwegs bin auf der Suche nach etwas, von dem ich weiß, dass es sehr wichtig ist, doch ich kann mich nicht erinnern, was es ist“. Dabei dreht sie sich zum Haus um, dem Symbol der Verbindung mit Grant und ihrer gemeinsamen Erinnerungen. Durch ihren verlorenen Blick auf das Gebäude wird erneut das Vergessen ihrer Beziehung angekündigt. Grant ist genauso allein und winzig im Schnee zu sehen, nachdem er Fiona im Heim abgeliefert hat. Seine Kleinheit in der Landschaft zeichnet seine – wie auch jene des Menschen angesichts der überwältigenden Natur – Ohnmacht gegenüber dem Lauf der Dinge nach.
Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis In einer Rückblende liest Fiona zu Hause aus einem Sachbuch vor, dass die Pflege oft von Angehörigen übernommen wird. cc
„Wer diese Aufgabe übernimmt, wird Zeuge der Degeneration von jemandem, den er sehr liebt, ein Prozess, der Jahre dauern kann, wobei sich der Zustand immer mehr verschlechtern wird, nicht verbessern. Er muss darauf gefasst sein, wirre und teils sehr persönliche Beleidigungen zu erdulden und muss lernen, dies lächelnd zu ertragen. Klingt nach einer ganz normalen Ehe“.
interpretiert Fiona mit Humor, um das bedrohlich Bevorstehende auf Distanz zu halten, wohingegen Grant den Abstand herstellt, indem er der Krankheit seiner Frau zunächst mit Skepsis begegnet und deren Tragweite in Zweifel zieht. Vom psychoanalytischen Standpunkt aus schützen sich die beiden mithilfe von psychischen Abwehrmechanismen (Freud 1984): Fiona mittels Humor und Grant über Verdrängung bzw. Verleugnung. Während der Rezipient Fionas lesende Stimme hört, erfolgt ein Schnitt vom Paar zur Nahaufnahme des am Herd vor sich hin brodelnden Wassers; es ist ein Sinnbild für das Unvermeidliche, denn das Vorgelesene wird schon bald zur bedrückenden Wirklichkeit – die Sequenz des Vorlesens ist bereits eine Rückblende. Denn Grants Kränkung sowie Fionas inzwischen fortgeschrittene Degeneration sind im Film längst illustriert worden. Der Film thematisiert die Problematik der Angehörigen bei Demenz zwar zärtlich, aber realistisch. Abgesehen von den zu ertragenden Kränkungen stellt sich das Werk eindringlich die Frage der Pflege bzw. des Abwägens, wann eine Pflege zu Hause über den Partner nicht mehr möglich ist – eine schwierige Entscheidung. Grant fällt sie derart schwer, dass ihm die selbstbestimmte Fiona diese abnehmen muss. Zuvor präsentiert der Film bereits eine ganze Ansammlung an Alzheimer-Symptomen. Erste Anzeichen sind „Zerstreutheit und Vergesslichkeit“, Auffassungsmängel und Verständnisschwierigkeiten (Payk 2010, S. 21). So kann Fiona beim psychologischen Test nicht die Frage beantworten, was sie bei einem Brand im Kino machen würde. Sie über-
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spielt die Unfähigkeit – was für den Beginn der Erkrankung typisch ist – und erklärt, dass sie in die modernen Megaplexe in ihrem Alter nicht mehr gehen würde. Unmittelbar darauf meint sie laut beim Rausgehen zu ihrem Mann, wie hässlich das Baby im Wartezimmer sei. Auch das Herabsetzen der Hemmschwellen gehört zur Symptomatik: „Die Fähigkeiten zu emotionaler Kontrolle, Sozialverhalten und Kooperation verschlechtern sich“ (ebd., S. 22). „Ganz schwierig für die Angehörigen ist alles, was Fachleute als ‚Herausforderndes Verhalten‘ bezeichnen“ (Koch 2010, S. 125). Eine andere Szene offenbart an den Schubladen angebrachte Zettel, die Fiona als Gedächtnisstütze dienen sollen und „Alltagsfehler“, wie die Pfanne im Gefrierfach statt im Küchenkasten zu verstauen. Wieder in einem anderen Ausschnitt bietet Fiona ihrem Besuch in einem Moment noch freundlich an, Wein nachzuschenken, um Sekunden später ratlos mit der Weinflasche in der Hand dazustehen, worauf sich peinliche Betroffenheit bei den schweigenden Gästen einstellt. Der Psychiater Payk beschreibt die Demenzsymptomatik: „[E]s entfallen dem Betroffenen bei fortschreitender Krankheit Sinn und Zweck seiner eigenen Absichten und Intentionen. So wird ihm die Welt zunehmend unverständlich und auf verwirrende Weise fremd, da Personen, Geschehnisse und Örtlichkeiten nicht mehr in eine plausible Beziehung zueinander gesetzt werden können“ (Payk 2010, S. 24–25). Die Protagonistin kommentiert immer wieder, wie sie ihren Gedächtnisabbau subjektiv erlebt: cc
„Wenn ich nicht hinsehe, vergesse ich, was gelb bedeutet, aber dann kann ich wieder hinsehen. Im Vergessen liegt manchmal etwas Zauberhaftes.“
Dabei fasst sie die gelbe Blüte einer Kaiserkrone neugierig an, als würde sie diese sinnliche Erfahrung durch das Vergessen wieder klarer machen. Ihre poetisch anheimelnde Aussage zielt allerdings genauso auf das Dramatische der Erkrankung ab, dass sie mit dem Fortschreiten der Demenz* den eigenen Verfall irgendwann nicht mehr bewusst mitbekommt. *Die drei Stadien der Demenz
Im ersten Stadium (leichte Demenz) ist die Vergesslichkeit das deutlichste Symptom, vergessen werden Termine, Namen und Ereignisse; und immer wieder wird etwas verlegt. Auch bei der örtlichen und zeitlichen Orientierung treten Defizite auf. Im zweiten Stadium (mittelgradige Demenz) häufen sich Gedächtnisaussetzer und motorische Schwächen. Ankleiden, Nahrungsaufnahme und -zubereitung oder Körperpflege werden problematisch. Im dritten Stadium (schwere Demenz) ist der Patient allein nicht mehr überlebensfähig. Es treten Schluckstörungen, Inkontinenz oder Sinnestäuschungen auf und Gehen und Sitzen ist nicht mehr möglich.
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Die Fachliteratur bestätigt, dass der an Demenz Erkrankte sein schweres Schicksal im Verlauf nicht mehr begreifen kann. Denn entgegen anderer (psychischer) Erkrankungen ist der Prozess nicht reversibel (ebd., S. 12). Gleichzeitig eröffnet Fiona, dass es auch Dinge gibt, die sie gerne vergessen würde. Der Zuschauer assoziiert Grants Affären und kann schlussfolgern, dass auch sie ihre Kränkungen zu erdulden hatte wie nun umgekehrt Grant ihre Kränkungen durch die Krankheit erdulden muss.
Das Auftreten unbewältigter Konflikte in der Demenz Grant ist bewusst, wie er sie früher behandelt hat und überlegt, ob die Verbindung zwischen Aubrey und Fiona ihre so inszenierte Rache an ihm sein könnte (Abb. 8.2). Die Experten würden die Symptomatik Fionas dem Verkennen von Personen im Zuge der De-
Abb. 8.2 Grant muss schmerzlich mitansehen, wie sich Fiona um Aubrey annimmt, als wenn er ihr Mann wäre. (© Majestic Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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menz zurechnen, überdies dem (Wieder)auftreten eigener nicht bewältigter Konflikte im Zusammenhang mit einer reaktiven Depression, die ebenfalls mit demenziellen Symptomen einhergehen kann (Radisch et al. 2015, S. 68). Fiona entwickelt eine depressive Episode, als Aubrey aus dem Heim ausziehen muss. Denn im Glauben, dass Aubrey ihr Mann wäre, tritt mit seinem Verlust das in der Vergangenheit Gefürchtete ein: Sie wird von ihrem „Mann“ verlassen, was dem alten unbewältigten Konflikt entspricht. Das gefühlvolle Ende, in welchem Fiona noch einmal zu klarem Bewusstsein kommt und mit ihrem wirklichen Mann wieder die alte Nähe spürbar wird, birgt die Auflösung des inneren, psychodynamischen Konflikts der weiblichen Hauptfigur zwischen Autonomie und Abhängigkeit. Denn Fiona repräsentiert einerseits eine selbstständige und selbstbewusste Frau, andererseits thematisiert der Film ihre Verlustängste in der emotionalen Abhängigkeit von ihrem Mann. Sie ist von diesen Ängsten geplagt worden, als Grant in früheren Jahren mit seinen Studentinnen Affären hatte und erneut, als sie die unaufhaltbare Krankheit ereilt, was sie zum Schluss auch aussprechen kann. Die Aussprache zwischen den Eheleuten erscheint gleichermaßen wie ein Nachholen aus der Vergangenheit, in der es eine solche vielleicht nie gegeben hat (vgl. Tanzer 2017, S. 60). Analog zu ihrem innerseelischen Konflikt findet im Außen genauso der bislang unbearbeitete Konflikt zwischen Fiona und Grant seinen Abschluss. Es ist Kristy, die Pflegerin, die Grant auf seinem Weg transparent macht, dass es nicht um Schuld geht, sondern dass die Krankheit eben auf diese Weise verläuft. Sie durchschaut, dass Grant von der Vergangenheit eingeholt wird: cc
„Wissen Sie, wir kriegen hier so einiges mit. Den ganzen Tag sehen wir das Ende der Dinge. Und meiner Erfahrung nach sind es fast immer die Männer, die glauben, es wäre nicht allzu viel schiefgelaufen. Wäre interessant, ob Ihre Frau das genauso sieht“.
Grant räumt ein, dass er sich das auch fragt. So avanciert Kristy als Nebenfigur im Film zur psychologischen Ratgeberin wie auch zur Mittlerin zwischen der schwer verständlichen Krankheitswelt und dem Angehörigen. Sie erklärt Alzheimer mit einer Metapher, „vergleichbar ist es mit einer Reihe von Sicherungen in einem großen Haus, die eine nach der anderen rausspringen“. Des Weiteren erläutert sie die Schwankungen der Erinnerungsfunktion der Betroffenen als Kriterium, das auch ihren Beziehungen eine Instabilität verleiht. Sie tröstet Grant aber auch über den Verlust seiner Frau hinweg, die durch die Demenz nie wieder so sein wird, wie er sie gekannt hat, auch wenn sie weiterlebt: cc
„Nichts kann Ihnen das wegnehmen, was einmal war, davon bin ich jedenfalls überzeugt, selbst wenn es irgendwie verlorengeht, die Erinnerung ist immer noch da. Das ist das, was einen Menschen ausmacht“.
Während ihrer ermutigenden Worte lächelt im Close-Up wieder Fiona als junge Frau und voller Leben in die Kamera, erneut in 8 mm-Filmart.
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S. Rabenstein
Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte An ihrer Seite ist kein Film, der sich zentral über den Impetus einer Gesellschaftskritik im Umgang mit Demenz definieren würde, sie aber dennoch miterzählt. Allem voran bildet er eine berührende und gleichermaßen realistisch-unsentimentale Liebesgeschichte nach, in deren Rahmen die Herausforderung eines Paares, vor die es durch die Alzheimer-Demenz gestellt wird, gekonnt in Szene gesetzt wird. Der Film kann somit als Plädoyer für die Liebe unter schwierigen Bedingungen, bzw. wenn einer der Partner schwer erkrankt, verstanden werden. Im Zuge dessen leistet er auch Bewusstseinsarbeit, denn die Liebesgeschichte ist ebenso eine Angehörigengeschichte, wodurch eindrücklich auf die Belastungen und das (emotionale) Leid des Angehörigen bei Demenz hingewiesen wird. Mit diesem Aspekt legt der Film den Finger auf einen in der medizinischen und pflegerischen Realität tatsächlich immer noch viel zu wenig beachteten Punkt (vgl. Radisch et al. 2015). Die Regisseurin Polley hat dabei eine ausdrucksvolle Erzählform für jene existenziellen Themen gefunden, die im (Pflege)alltag wenig Platz finden, obwohl sie unvermeidbar wie die Krankheit selbst sind. Wulff analysiert dahingehend: „Vielmehr ist er [der Film, d. Verf.] gebaut wie eine Allegorie, in der es um Vergänglichkeit und Würde, um Trauer und die Unerklärbarkeit der menschlichen Fähigkeit zur Bindung geht. Gerade das macht ihn zu einem der bemerkenswertesten Filme“ (Wulff 2008, S. 264) des Jahres 2006.
Literatur Adler A (2007) Menschenkenntnis. Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 5 (Rüedi J, Hrsg). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen Bühler P (2007) „Away from her“. Filmkritik, Berliner Zeitung vom 14.2.2007. http://www.film- zeit.de/home.php?action=result&sub=film&info=cinema&film_id=18454. Zugegriffen am 26.8.2022 Freud A (1984) Das Ich und die Abwehrmechanismen. Fischer, Frankfurt am Main Koch J (2010) „Demenz ist wie Sippenhaft“. Gespräch mit dem Wittener Pflegewissenschaftler Detlef Rüsing über die Nöte in den Familien. In: Bruhns A, Lakotta B, Pieper D (Hrsg) Demenz. Was wir darüber wissen, wie wir damit leben. Deutsche Verlags-Anstalt, München, S 125–130 Payk TR (2010) Demenz. UTB Profile. Ernst Reinhardt Verlag, München Radisch J, Baumgardt J, Touil E, Moock J, Kawohl W, Rössler W (2015) Demenz. Kohlhammer, Stuttgart Tanzer S (2017) Demenz im Spielfilm. Eine soziologische Filmanalyse zur Darstellung von Demenz in neun Spielfilmen aus dem europäischen und nordamerikanischen Produktionszeitraum 2002–2014. Masterarbeit, Univ. Wien Tilmann C (2007) Vergiss mich nicht: „Away From Her“ von Sarah Polley. Filmkritik, Der Tagesspiegel vom 15.02.2007. https://www.tagesspiegel.de/kultur/kurz-und-kritisch/811298.html. Zugegriffen am 26.08.2022. Wahl P, Fuchs-Brüninghoff E (2015) Das filmische Narrativ – Filmgeschichten als Fallgeschichten. Zeitschrift für Individualpsychologie 4: 336–367 Winnicott DW (2006) Vom Spiel zur Kreativität. Klett-Cotta, Stuttgart Wulff HJ (2008) Die Bärin, die den Berg bestieg. Alzheimer im Film An Ihrer Seite. In: Schmidt KW, Maio G, Wulff HJ (Hrsg) Schwierige Entscheidungen – Krankheit, Medizin und Ethik im Film. Haag + Herchen Verlag, Frankfurt am Main, S 261–265
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Die Wilden und die Traurigen – Demenz als Krise der Familie mit Die Geschwister Savage Walter Stehling
Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Heilbare Krise trotz unheilbarer Krankheit Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Abspann, oder: Was man nicht vergessen solltev Literatur
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W. Stehling (*) München, Deutschland Psychiatrische Tagesklinik Süd, Bayerisches Rotes Kreuz - Kreisverband München, München, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_9
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Filmplakat The Savages. (© Twentieth Century Fox. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Vorspann Familie ist ein System, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Dessen Tektonik bei inneren oder äußeren Störungen ins Wanken gerät und elementare Krisen zutage treten lässt. Die Störung hier ist die Demenzerkrankung des Vaters. Dieses Schicksal nämlich ereilt die „wilde“ Familie in dem 2007 entstandenen US-Spielfilm Die Geschwister Savage (Originaltitel: The Savages). Dabei sind wir sofort mit einem Problem der deutschen Titelübersetzung konfrontiert: Sie muss notgedrungen auf das englischsprachige Wortspiel verzichten, bei dem der Nachname der Protagonisten gleichbedeutend ist mit dem Begriff für Wilde. „Wild“ kann vieles sein – ungeordnet, ungezähmt oder emotional verwildert. Vieles davon trifft auf die Mitglieder der titelgebenden Familie zu, deren Kinder sich sowohl von ihren Eltern als auch untereinander entfremdet haben. Klarheit und Ordnung gehen verloren – nicht nur in der veränderten Gedanken- und Gedächtniswelt von Lenny Savage, sondern auch im Leben seiner beiden Kinder. Unversehens legt das Schicksal den Finger
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in die Wunde, als die Lebensgefährtin des kranken Vaters unerwartet stirbt und schlagartig alles „anders“ wird. Alte Probleme und neue Herausforderungen rücken für Lenny (Philip Bosco), Wendy (Laura Linney) und Jon (Philip Seymour Hoffman) in den Lebensmittelpunkt. Autorin und Regisseurin Tamara Jenkins entwirft mit The Savages eine Geschichte, in der die Demenz des Vaters die Familie wie ein Schlag trifft. Für uns ist dabei die filmische Darstellung der Krankheit von Interesse, der systemische Aspekt, aber auch, welche Bedeutung es hat, dass die Erzählerin eine Frau ist. Existiert also ein „weiblicher Blick“ im Kino und, verbunden damit, gesonderte Ausdrucksformen oder eine spezifische Dramaturgie? Wenn Frauen Filme drehen, denken wir rasch an deren jahrzehntelange Benachteiligung innerhalb der Branche. Ökonomische, politische und künstlerische Strukturen – zumindest der westlichen – Filmindustrien waren im 20. Jahrhundert männlich geprägt. Noch 1974 stellte das Magazin Der Spiegel fest, dass es unter 5.000 Filmregisseurinnen und -regisseuren nur 150 Frauen gegeben habe (Besonderer Blick 1974). Dabei bildete sich die patriarchische Dominanz auch inhaltlich in den Filmen ab und prägte das Frauenbild des Kinos nachhaltig (Monaco 2009). Spielen Genderaspekte also auch bei Die Geschwister Savage eine Rolle? Ist das Kino im Zeitalter der Gleichberechtigung angekommen, oder bleiben verkrustete Geschlechterstereotypen der Kunstform auch im neuen Jahrtausend verhaftet?
Film ab! Lenny Savage und Doris Metzger sind ein hochbetagtes, unverheiratetes Paar, das im eintönigen, sonnendurchfluteten Rentnerparadies Sun City in Arizona lebt. Blank gefegte Straßen und abgezirkeltes Buschwerk rahmen eine sterile „Idyllenhölle“ ein. Ob da noch Leben möglich ist? Und ob die älteren Herrschaften, die während des Vorspanns geordnet an der Wassergymnastik teilnehmen, wirklich noch Freude empfinden? Diese Fragen, die der Film in der Anfangssequenz im größeren gesellschaftlichen Kontext stellt, wiederholt er im privaten Mikrokosmos des Paares. Doris wirkt stumm und antriebslos. Sie lässt sich vom eigenen Pfleger umsorgen, mit dem der mürrische Lenny wegen einer Bagatelle in Streit gerät. Die Situation eskaliert, als der Pfleger die Toilettentür öffnet und der alte Herr mit verdreckten Fingern vor einer kotbeschmierten Wand steht, wo das Wort Prick zu lesen ist – ein englischer Kraftausdruck. Der offenkundig verwirrte und verhaltensauffällige Lenny wird in eine Klinik gebracht und seine Kinder Wendy und Jon – die getrennt voneinander an der Ostküste leben – werden von Doris’ Tochter telefonisch verständigt. Doch was eigentlich nur ein kurzer Trip zum kranken Vater werden sollte, erweist sich für die Geschwister bald als Kondolenzbesuch: unerwartet ist Doris am plötzlichen Herztod verstorben. Die Hinterbliebenen verwehren Lenny das weitere Wohnrecht im Haus und Wendy und Jon haben kurzerhand den Auftrag, für ihren Vater eine neue Bleibe zu finden – Jahrzehnte nach ihrer Kindheit kehren sich die Fürsorgeverhältnisse plötzlich um.
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Gegenwärtiges und vergangenes Leid Anfangs ist noch nicht eindeutig geklärt, ob der Vater „nur“ unter einem Delir leidet. Doch der behandelnde Arzt im Krankenhaus diagnostiziert schließlich eine Demenzerkrankung infolge eines Morbus Parkinson*. Neben den aktuellen Aufgaben werden vertraute emotionale Konflikte erneut zum Thema. Dabei scheint das Gefühl der Entwurzelung ein zentrales Problem für Wendy und Jon zu sein. Wendy schlägt sich mit Bürojobs durch, ihre wahre Liebe gehört aber der Literatur: sie schreibt Theaterstücke und bewirbt sich um ein begehrtes Autorenstipendium. Privat führt sie eine sexuell dominierte Daueraffäre mit dem deutlich älteren und verheirateten Larry – glücklich ist sie nicht. Außerdem gibt es bei ihr Hinweise auf Depression und Medikamentenmissbrauch. Jon wirkt ebenfalls traurig und desillusioniert. Er arbeitet als Literaturdozent und steckt in einer komplizierten Beziehung mit der Polin Kasia fest, die behördliche Problemen mit ihrem Visum am Hals hat. Zu einer Heirat kann sich der Zauderer Jon aber nicht durchringen. Indirekt erfahren wir anhand Wendys literarischem Schaffen, dass es durch den Vater Formen von Gewalt und Vernachlässigung gegeben haben muss. Darauf verweist in ihrem Theaterstück eine Szene, in der ein Vater seinen Sohn verprügelt. Zudem wird die Mutter der beiden als depressiv beschrieben. Sie sonderte sich offenbar schon früh von der Familie ab. Wo sie sich heute befindet – oder wie es ihr geht – bleibt offen. *Demenz bei Morbus Parkinson
Kognitive Störungen sind häufig bei Patienten mit einem Morbus Parkinson. Es liegt ein bis zu sechsfach erhöhtes Demenzrisiko vor, das mit zunehmender Krankheitsdauer steigt. Somit ist die Demenz eher als Spätsymptom bei Morbus Parkinson zu werten. Das hier zugrunde liegende kognitive Profil unterscheidet sich wiederum von der Demenz vom Alzheimer-Typ. Beim Morbus Parkinson typisch sind Störungen der Aufmerksamkeit, Schwankungen des Leistungsvermögens und visuelle Halluzinationen. Letztgenanntes Symptom tritt gehäuft bei einer mit der Parkinson- Demenz verwandten Erkrankung auf, der sogenannten Lewy-Körperchen-Demenz. Allerdings können auch unerwünschte psychische Arzneimittelwirkungen der neurologischen Medikamente das jeweilige klinische Bild überlagern. (Leucht und Förstl 2012; Timmermann et al. 2010).
Suche nach Heimat Wendy und Jon gelingt es nach anfänglicher Uneinigkeit, für Lenny ein Pflegeheim zu finden, wobei sich vor allem bei Wendy Ernüchterung einstellt (Abb. 9.1). Für sie gleicht der Umzug ihres Vaters einer Abschiebung in eine trostlose letzte Lebensstätte, Jon hingegen geht auf den ersten Blick rationaler mit der gemeinsam getroffenen Entscheidung um. Fortan beginnt eine Phase, in der Wendy und Jon eine notgedrungene Allianz schmieden,
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Abb. 9.1 Die Tochter küsst den dementen Vater auf die Stirn. (von links: Laura Linney, Philip Bosco). (© Twentieth Century Fox. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
um ihrem Vater Fürsorge zukommen zu lassen. Dabei überwiegt bei Wendy anfangs das schlechte Gewissen: cc
Er hat nicht einmal mitbekommen, wo wir ihn hingebracht haben.
Jon tut sich vor allem schwer damit, über seine alte Verbitterung hinwegzusehen: cc
Wir kümmern uns liebevoller um den Alten als er je um uns.
Dennoch verbringen beide viel Zeit im Pflegeheim, machen sogar kleine Ausflüge mit Lenny und nehmen an einer Selbsthilfegruppe für Angehörige von Demenz-Patienten teil. Gleichzeitig ringen die Geschwister mit den jeweils eigenen Beziehungsproblemen: Bei einem erneuten Sex-Date mit dem Geliebten wird Wendy klar, dass sie sich mit ihrem Bindungsstil dauerhaft schadet. Jon wiederum verdrängt seine Trauer über die Abreise seiner Freundin Kasia, deren Visum trotz aller Bemühungen nicht verlängert wird.
Heimkehr Emotionale Ambivalenz zwischen Wendy und Jon bestimmt auch das letzte Drittel des Films. Zentral ist der gemeinsame Wunsch nach Harmonie und familiärer Annäherung, was sich in einer innigeren Beziehungsgestaltung zum Vater bemerkbar macht. So bemüht sich Wendy um eine individuelle Einrichtung von Lennys Zimmer im Pflegeheim, außerdem sorgt sie dafür, dass ihre Katze beim Vater einziehen darf. Gleichzeitig brechen jedoch alte Rivalitäten auf: Jon konfrontiert Wendy damit, dass sie überhaupt kein Literaturstipendium bekommen habe, was sie fälschlicherweise behauptet hat. Wendy wirft wiederum Jon vor, die heimliche Recherche zu ihren Stipendiumsangaben nur aus Neid und Missgunst vor-
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genommen zu haben. Vereint werden die beiden allerdings zum traurigen Höhepunkt des Films: Man bestellt die Geschwister Savage ins Heim, da sich Lennys Zustand dramatisch verschlechtert hat. Sie verbringen die Nacht am Sterbebett und erwachen morgens neben ihrem mittlerweile verstorbenen Vater. Dennoch scheint Lennys Tod für Wendy und Jon ein Impuls zur Versöhnung zu sein – miteinander und mit sich selbst. Wendy trennt sich endgültig von Larry, adoptiert dessen kranke Hündin Marley und kann ihr Bühnenstück zur Aufführung zu bringen. Jon bemüht sich um die Fortsetzung seiner Beziehung zu Kasia. Gemessen an der Geschichte der Familie Savage erscheint dies beinahe als Happy End.
Heilbare Krise trotz unheilbarer Krankheit Schon mit dem fulminanten Einstieg umreißt der Film seine zentralen Themen: Wie sich Demenz auf die Persönlichkeit und Verhaltensweisen eines Patientenund auf den Kontakt zu seiner Umgebung auswirkt. Ebenso wie Autonomie und Leben eines Menschen und das Gefüge seiner Familie schlagartig einschneidende Veränderung erfahren. Dabei wirft die Regisseurin und Autorin Tamara Jenkins einen ehrlichen und sanftmütigen Blick auf ihre Figuren. Stilistisch handelt es sich bei dem Werk um ein ruhiges und streckenweise fast dokumentarisch anmutendes Melodram mit tragikomischen Zügen. Die Figurenzeichnung ist realistisch, die Bildsprache schlicht und schnörkellos, die Kamera steht auf Augenhöhe. Diese Bescheidenheit spiegeln auch die Produktionsbedingungen wider. Gedreht wurde an nur 30 Tagen mit einem Budget von ca. 8 Mio. $ – einer für Hollywood-Verhältnisse vergleichsweise geringen Summe (Lim 2007). Der Film ist der sog. Arthouse-Gattung zuzurechnen und musste sich nicht an den wirtschaftlichen Maßstäben eines Hollywood-Blockbusters messen. Vielleicht begründen sich auch gerade darin Qualität und Charme der Produktion, bei der persönliche Bezüge der Regisseurin ohne gravierende Restriktionen von Seiten großer Produktionsstudios einfließen konnten. Die internationale Filmkritik hatte viel Lob übrig für die Die Geschwister Savage. So erkannte Anke Sterneborg von der Süddeutschen Zeitung, dass Tamara Jenkins mit Philip Seymour Hoffman und Laura Linney „wunderbare Verbündete für die Entfaltung ihrer ganz und gar unsentimentalen Geschichte gefunden habe“. Die Darsteller würden „nicht um Aufmerksamkeit buhlen, sondern ganz beiläufig das Interesse auf sich ziehen“ (Sterneborg 2010). Auch von filmhistorischer Seite fügt sich die Produktion in eine lange Tradition ein: Spätestens seit den 1980er-Jahren gehört die melodramatische Erkundung dysfunktionaler Familienstrukturen zum festen Kanon des amerikanischen Kinos. Auch wenn sich Filme wie Kramer gegen Kramer (USA 1979), Eine ganz normale Familie (USA 1980), American Beauty (USA 1999) oder Million Dollar Baby (USA 2004) hinsichtlich erzählerischer Schwerpunkte und „production value“ von Jenkins’ Film unterscheiden, so ähneln sie sich thematisch. Auch das Debüt der Regisseurin Hauptsache Beverly Hills (USA 1998) war bereits eine – wenn auch stärker komödiantisch akzentuierte – Familiengeschichte. Schon früh schien sich Tamara Jenkins in besonderer Weise für das „System Familie“ zu interessieren.
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Wer sind die Savages? In der systemischen Psychotherapie gibt es den Begriff des sog. „Indexpatienten“, dabei handelt es sich um die erste Person innerhalb eines gestörten Familiengefüges, die reaktive psychische Symptome entwickelt (Von Sydow und Borst 2018). Man könnte für The Savages den Begriff einer „Indexkrankheit“ postulieren, die das strukturelle Problem der Protagonisten metaphorisch widerspiegelt. Die Demenz passt auf tragische Weise gut zu jener Familie, denn Vergessen und Verdrängen spielen eine große Rolle bei den Savages – vieles bleibt auch dem Zuschauer verborgen. Was ging vor sich in der Kindheit von Wendy und Jon? Verschwand ihre Mutter tatsächlich von einem Tag auf den anderen, wie es Wendy in ihrem semiautobiografischen Theaterstück andeutet? Worin bestand missbräuchliches bzw. übergriffiges Verhalten von Lenny im Detail? Wendy als Zeugin der Fakten scheint dabei nicht immer zuverlässig, denn wenn es ihrem Selbstwert und der emotionalen Regulation nützlich erscheint, verdreht sie gelegentlich die Wahrheit. In jedem Fall kann man Wendy und Jon zumindest als „Indexpersonen“ bezeichnen. Sie gehören einer „Lost Generation“ an, die von Glück und Zufriedenheit weit entfernt sind. Beide führen ein unbehaustes Dasein, praktizieren einen unsicher-vermeidenden Bindungsstil und verstricken sich kommunikativ in alten Ressentiments. Bei Wendy wird sogar eine echte psychische Erkrankung angedeutet: In einem Dialog spottet Jon über ihre Therapiegespräche und Wendy flüchtet sich mit Oxycodon in einen ihr vertraut wirkenden, euphorischen Dämmerzustand. Und dann wäre da ja noch Lenny selbst. Auch wenn seine Erkrankung als Folge eines neurodegenerativen Geschehens dargestellt wird, bekommt er einen Moment biografischer Wahrheit innerhalb seiner Pathologie zugesprochen. Während eines Videoabends im Pflegeheim deutet er an, selbst als Kind von seinem Vater verprügelt worden zu sein. Spätestens jetzt ahnen wir, dass die Krise der Savages transgenerationaler Natur ist. Wendy, Jon und Lenny ringen um Identität und Integrität, letztlich auch um ihre Freiheit. Sie kämpfen – ohne es vielleicht bewusst zu verstehen – gegen das Vergessen und Verdrängen, sowohl ihrer eigenen Bedürfnisse als auch des Leids ihrer Familie. Und am Ende, nachdem sich Wendy und Jon sowohl der Erkrankung ihres Vaters als auch ihrer eigenen Geschichte gestellt haben, besteht tatsächlich Aussicht auf Heilung und Versöhnung.
Wie feministisch erzählt Tamara Jenkins? Die weibliche Filmarbeit im 20. Jahrhundert war sowohl in den USA als auch in Europa vom mühsamen Kampf um Gleichberechtigung geprägt. Das „Golden Age“ des US-Kinos ließ nur wenige Regisseurinnen in Erscheinung treten, eine prägende Gestalt war Dorothy Arzner. Ihr Film Dance, Girl, Dance (USA 1940) darf als früher feministischer Kinoklassiker gelten, in dem Maureen O’Hara die Showtänzerin Judy O’Brien verkörpert. Ihre Brandrede im Film gegen ein voyeuristisches, überwiegend männliches Varieté-Publikum kommt einem revolutionären Aufschrei gleich: „Go ahead and stare. I’m not ashamed. Go
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on, laugh, get your money’s worth. Nobody’s going to hurt you. I know you want me to tear my clothes off so you can look your fifty cents’ worth. Fifty cents for the privilege of staring at a girl the way your wives won’t let you“ (Dance Girl Dance 1940). Auch das europäische Kino brauchte lange, um Frauen im Zuge des Autorenkinos den Regiestuhl für eine breitere gesellschaftliche Wirkung freizumachen. In Belgien für Chantal Akerman, in Frankreich für Agnès Varda und in Italien für Lina Wertmüller. Die deutsche Filmemacherin Margarethe von Trotta war die erste Regisseurin, die bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig mit Die bleierne Zeit (BRD 1981) den renommierten Goldenen Löwen gewann. Im Kielwasser der sozialen und politischen Protestbewegungen jener Jahre entwickelte sich eine feministische Filmkultur, die nicht nur eine eigenständige Filmtheorie etablieren wollte, sondern auch die paritätische berufliche Beteiligung von Frauen und die Eliminierung eines diskriminierenden Frauenbilds im Kino als Ziele verfolgte (Klippel 2021). Dabei war der Diskurs von internen Kontroversen geprägt, denn einige Cineastinnen stellten die feministische Intention von frühen Regisseurinnen wie Dorothy Arzner in Frage. Hierzu entgegnete die Journalistin und Filmemacherin Helke Sander im Jahr 1975: „Für uns ist Arzner eine der Frauen, die uns die Wege geebnet haben. Sie mussten noch beweisen, dass sie es überhaupt ‚können‘. Wir müssen ‚nur‘ unsere Themen durchsetzen.“ (Sander 1975) So blieben im Spannungsfeld des Diskurses stets strittige Punkte offen, unter anderem die Frage nach der Notwendigkeit einer neuen cineastischen Avantgarde oder nach einer weiblichen Ästhetik und Erzählhaltung. Hier legten Christine Noll Brinckmann und Silvia Bovenschen in den 1980er-Jahren programmatische Texte vor, in denen nach spezifisch weiblichen Ausdrucksformen gefahndet wurde. Noll Brinckmann hatte hierzu die „Konzentration auf Dinge, Oberflächen, Farben und einen flachen taktilen Raum als ‚weibliche Sicht‘ beschrieben“ (Zechner 2019). Sie postulierte zudem, dass „die Ablehnung, der Misserfolg weiblicher Kunst in einem gewissen Zusammenhang stehen mit dem Grad ihrer formalen Andersartigkeit“ (Noll Brinckmann 1989). Einen breiten Konsens fanden diese Ideen aber bis heute nicht, das Konzept einer spezifisch weiblichen Ästhetik wird von vielen Filmemacherinnen nicht geteilt (Zechner 2019). Und Tamara Jenkins? Setzt sie andere Schwerpunkte als ein Mann? Geht sie mit ihren Figuren differenzierter oder empathischer um? Widmen wir uns deshalb Tamaras Perspektive etwas eingehender: Sie erzählt von Wendy als einer alleinstehenden Frau, die auch im Verlauf des Films Single bleibt. Dies war über viele Jahrzehnte tatsächlich eine Seltenheit im kommerziellen Kino, wo der Handlungsspielraum weiblicher Charaktere den Rahmen romantischer Paarbeziehungen nur selten überschritt. Insofern entzieht sich die Figur gängigen Geschlechterklischees. Wenn es um das aktive Agieren in der Geschichte geht, ist dies aber anders – da hat Jon anfangs die Oberhand. Er klärt juristische Probleme für seinen Vater, entwirft den weiteren Zeitplan und trifft die Entscheidungen zur Wahl des Pflegeheims und zu Lennys Umzug an die Ostküste. Der Mann als Macher und Entscheider! Doch ist es so? Oder legt Tamara Jenkins nicht vielmehr den Schwerpunkt auf die emotionale Entwicklung der kleinen Familie? Soll Jon dabei nicht eher als Mensch dargestellt werden, der seinen notwendigen inneren Prozess mithilfe äußerer Schritte zunächst abwehrt? Der Mann als rationalisieren-
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der Verdränger also? Wir sehen betroffen, dass man bei dieser Art Filmanalyse schnell ins wildwuchernde Spekulieren über die Intentionen einer Filmemacherin und damit ins subjektive wie fehleranfällige Bewerten gelangt. Auch Noll Brinckmann hatte bereits die Idee verworfen, dass bestimmte ästhetische Tendenzen nur bei einem Geschlecht zu finden seien. „Die Verschiedenheit der Geschlechter ist dafür nicht ausgeprägt genug, weder psychisch noch biologisch, und daher kann es hier nur um Gewichtungen gehen, nicht um die Exklusivität von Merkmalen“ (Noll Brinckmann 1989). Somit bleiben trotz oder vielleicht gerade wegen der Berücksichtigung zahlreicher Konzepte der feministischen Filmtheorie auch bei Die Geschwister Savage zentrale Fragen offen. Wie so oft stehen Thesen, Kunstwerke, politische Ziele und Biografien von Künstlerinnen zunächst lose nebeneinander und stringente Strömungen können erst im Nachhinein postuliert werden. Und selbst dann bleibt die Belegbarkeit eines weiblichen Blicks** beim einzelnen Film höchst schwierig. Vielleicht ist es gerade deshalb wichtig, an das Motto der Retrospektive des weiblichen deutschen Nachkriegskinos anlässlich der 69. Berlinale 2019 zu erinnern: Selbstbestimmt. Denn schließlich sollte für Frauen genau jenes Ziel gelten, das viele Filmemacherinnen wie Doris Dörrie, Caroline Link, Natja Brunckhorst, Sonja Heiss oder Maren Ade auch in Deutschland schon lange erreicht haben: Dass sie nicht erst im Rückgriff auf eine programmatische Debatte Präsenz zeigen, sondern schlicht durch die selbstbestimmte Normalität ihrer Tätigkeit und die Qualität ihrer Filme. **Laura Mulvey
Die amerikanische Film- und Medienwissenschaftlerin ist eine Pionierin der feministischen Filmtheorie, ihr Artikel „Visual pleasure and narrative cinema“ von 1975 gilt als Meilenstein. Mulvey selbst verstand ihren Text als programmatisch ausgerichtetes Grundlagenwerk und als radikale Kritik an Ästhetik und Erzählhaltung des modernen Films. Unter Verweis auf Konzepte von Freud und Lacan wollte sie darlegen, dass der „männliche Blick“ – und eine daraus zwangsläufig resultierende Reduktion der Frau zum Seh- und Lustobjekt – zu den Grundbedingungen des zeitgenössischen Kinos gehört. Dieser stark psychoanalytisch ausgerichtete Ansatz stieß aber auf Widerstand in den eigenen Reihen. So wies die Filmwissenschaftlerin Christine Gledhill darauf hin, dass die Frau in diesem Konzept primär gar nicht vorkomme und dass die Fokussierung auf eine „männlich-ödipale“ Sichtweise der feministischen Idee sogar schaden könne (Mulvey 1975; Biem et al. 1989).
Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Wenn es bei dem Werk um die Bewertung der Wirklichkeits- und Faktentreue der filmischen Darstellung einer Demenz geht, sind zwei Aspekte voranzustellen. Weder ist die Krankheit Hauptthema des Films noch ist der Patient die Hauptfigur. Anders als zum
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Beispiel bei The Father (UK 2020) mit Anthony Hopkins: Dort wird die Krankheit selbst unmittelbar mit der Ästhetik und Erzählstruktur des Films verflochten, was bei Die Geschwister Savage nicht der Fall ist. Zentrales Thema ist hier die familiäre Dynamik, die von der Erkrankung in Gang gebracht wird. Als Hauptfiguren fungieren Lennys Kinder, nicht der Patient selbst. Zudem wird Vater Savage vor allem in der zweiten Hälfte des Films eher passiv in Szene gesetzt, er befindet sich häufig im Rollstuhl oder liegt im Bett. Der Film vermeidet es somit, stigmatisierende Symptome beständig zur Schau zu stellen. Dies hat zur Folge, dass die Filmemacherin Tamara Jenkins das klinische Bild der Krankheit nur in einer Handvoll Szenen schlaglichtartig beleuchtet – dies gelingt ihr aber in angemessener Weise.
Krankheitsgeschichte und Symptome Regisseurinnen und Regisseure haben in der Regel die Aufgabe, ökonomisch zu erzählen. Um in 100 min. ein halbes Leben unterzubringen, braucht es Mut zur Lücke. Deshalb erfahren wir anfangs nicht viel über den bisherigen Erkrankungsverlauf von Lenny. Der wichtigste Hinweis kommt von der Tochter seiner Lebenspartnerin, die Wendy auf den Anrufbeantworter spricht: cc
Lenny ist in letzter Zeit nicht mehr der, der er einmal war. Er vergisst alles Mögliche.
Diese Informationen deuten sowohl auf einen schleichenden Prozess der Persönlichkeitsänderung als auch auf eine Gedächtnisstörung hin. Die Zunahme der Erkrankungsschwere wird auch durch eine Fotografie von Doris und Lenny illustriert, die das Paar bereits im Rentenalter zeigt, als es noch vital und glücklich auf einem Golfplatz posierte. Die ersten Symptome, die wir als Zuschauer direkt miterleben, sind eine Impulskontrollstörung und aversives Sozialverhalten. Lenny reagiert zunächst mürrisch auf die Kritik des häuslichen Pflegers, der ihn darauf hinweist, die Toilettenspülung vergessen zu haben und Lenny mit dem Konfiszieren seines Morgenmüslis erpresst. Gewissermaßen als Racheaktion schreibt Lenny daraufhin mit seinem Kot einen ordinären Kraftausdruck an die Toilettenwand, aber aufbrausendes Verhalten zeigt sich auch in anderen Szenen. Des Weiteren liegen handlungspraktische Defizite vor: Lenny gelingt es nicht, im Flugzeug seinen Sicherheitsgurt zu öffnen und das spontane Herabgleiten der Hose deutet auf Schwierigkeiten bei der alltäglichen Ankleidepraxis hin. Die Störung des Langzeitgedächtnisses zeigt sich darin, dass er den Beruf seines Sohnes vergessen hat. Orientierungsstörungen machen sich bei einer neuropsychologischen Testung durch eine Heimmitarbeiterin bemerkbar. Sie führt einen sog. Mini-Mental-Test durch, bei dem auch die zeitliche Orientierung abgefragt wird. Hier versucht Lenny vergeblich, seine Defizite – ähnlich wie an Alzheimer-Demenz erkrankte Patienten – mit Hilfsformulierungen zu kompensieren. Vermutlich sollen damit auch Wortfindungsstörungen illustriert werden. Ein be-
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sonderes Symptom bricht während eines Videoabends im Pflegeheim durch: Während der Betrachtung eines alten Stummfilms gemeinsam mit anderen Heimbewohnern wird Lenny mit einem Mal wieder aufbrausend. Er springt auf, gestikuliert und deutet auf die Leinwand, so als würde er dort Personen wieder erkennen: cc
Das ist sie, siehst Du sie, sie kocht mir gerade das Mittagessen. […] Das ist doch dieser verdammte Schweinehund. […] Er hat mich immer geprügelt.
Hier liegt möglicherweise die modifizierte Form eines sog. Misidentifikationssyndroms vor. Es handelt sich dabei um eine Gruppe von Krankheitszeichen, bei denen die Betroffenen im Sinne einer pathologischen Verkennung Personen für andere Menschen halten. Lenny scheint auf der Leinwand eine Familienszene aus seiner Kindheit und zugleich seine Eltern wiederzuerkennen (Abb. 9.2). Ohnehin gehören visuelle Halluzinationen zu häufigen Symptomen bei mit der Parkinson-Krankheit vergesellschafteten Demenzformen. Über Dauer und zeitlichen Verlauf von Lennys klinischem Bild gibt es nur sporadische Informationen, ebenso über das Ausmaß der beim Morbus Parkinson auftretenden motorischen Störungen. Dass er unter Gangstörungen, Zittern (Tremor) und Muskelsteifigkeit (Rigor) leidet, erfahren wir als Zuschauer nur indirekt über Dialoge anderer Figuren, da Vater Savage fast ausschließlich im Sitzen oder Liegen gezeigt wird. Lediglich während des Flugs an die Ostküste gibt es einen Moment, bei dem Wendy ihren kleinschrittigen und gangunsicheren Vater zur Flugzeugtoilette begleiten muss.
Diagnostisches Als Wendy und Jon ihren Vater in der Klinik besuchen, sind sie geschockt von dessen Zustand. Er liegt im Bett, ist mit Gurten fixiert, bekommt eine Infusion und hat einen Blasenkatheter. Die Krankenpflegerin berichtet von Schwindel und Gangunsicherheit, weshalb Abb. 9.2 Aufruhr beim Videoabend (von links: Laura Linney, Philip Bosco, Philip Seymour Hoffman). (© Twentieth Century Fox. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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die Fixierung ihn vor Stürzen schütze. Ein Arzt klärt die Geschwister wortkarg über die medizinische Konstellation und die Verdachtsdiagnose auf. Zunächst thematisiert der Mediziner die sogenannte vaskuläre bzw. Multiinfarkt-Demenz: Es wird erläutert, dass zur Diagnosestellung unter anderem das Vorhandensein von zumindest kleineren Schlaganfällen nötig sei. Mit Verweis auf Tomografiebilder (cMRT) fährt der Arzt fort, dass diese Befunde bei Lenny Savage nicht vorlägen, weshalb man diese Demenzform weitgehend ausschließen könne. Danach bringt er den Morbus Parkinson ins Spiel, der auch für eine demenzielle Entwicklung verantwortlich sein könne. Offenkundig liegen typische – oben genannte – Parkinsonsymptome laut Aussagen des Arztes beim Patienten bereits vor. Deshalb müsse man von einer Demenz im Rahmen dieser chronischen neurologischen Krankheit ausgehen.
Empathie und Wirklichkeit Kino und psychische Erkrankungen gehen seit über hundert Jahren eine schwierige Liaison ein. Blindwütige Serienkiller werden als Psychopathen dargestellt, Krankheiten dienen häufig nur als Vorwand für die Eskalation einer Filmfigur und Stigmatisierung lauert in allen Ecken (Hyler et al. 1991). Tamara Jenkins macht es erfreulicherweise anders. Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie primär eine liebenswerte und glaubwürdige Geschichte über Menschen und Familie erzählt. Lennys Erkrankung ist zwar „nur“ Katalysator für den Fortgang der Handlung, dennoch wirkt Jenkins’ Thematisierung der Demenz empathisch – sowohl bei ihrer eigenen Erzählhaltung als auch beim Umgang der anderen Charaktere mit Lenny und seiner Krankheit. Dabei umschifft Jenkins Klischees und versucht die dargestellten Probleme nicht zu romantisieren. Sie lässt Lenny bis zuletzt eine mürrische und anstrengende Seite, das Pflegeheim wird nicht als ein idealisierter Ort dargestellt, dennoch kümmern sich die Pflegekräfte engagiert um Lenny. Auch in der Klinikszene drückt sich der Film nicht um die Fixierungsthematik, bemüht sich aber ebenfalls um eine ausgewogene Darstellung. Der Arzt hingegen hat es zwar sichtlich eilig und informiert die Angehörigen eher nüchtern, dennoch verortet Jenkins diese Nebenfigur in wohltuender Weise abseits eines Halbgotts in Weiß oder eines technokratischen Mediziners. Darüber hinaus nimmt sie sich Zeit für eine kurze Sequenz mit einer Selbsthilfegruppe. Insgesamt hat sich die Autorin und Regisseurin fachlich gut informiert und baut Sachwissen über Demenz behutsam und wirklichkeitsnah in ihre Geschichte ein.
Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte In Die Geschwister Savage wirft Tamara Jenkins einen sanftmütigen Blick in eine konfliktbehaftete Lebenswelt. Der Demenzerkrankung des Vaters kommt die Funktion einer Metapher innerhalb der Geschichte und eine systemische Dimension innerhalb der Familie
9 Die Wilden und die Traurigen – Demenz als Krise der Familie mit Die Geschwister…
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zu. Weder verklärt Jenkins ihre Themen noch erklärt sie dem Publikum zu viele Details zur Interpretation des Films. Vielmehr überlässt sie uns selbst die Aufgabe der Analyse und Bewertung. Am Ende joggt Wendy mit der mittlerweile von ihr adoptierten Hündin Marley am East River entlang. Marley ist – wie alle Mitglieder der Familie Savage – ein waidwundes Opfer des Daseinskampfs, aber Hoffnung prägt den Schluss. Die Hündin sollte gemäß Larrys Wunsch wegen eines schweren Gelenkschadens eigentlich eingeschläfert werden, doch Wendy rettet Marley, verpasst ihr ein Rollgestell und so kann das Leben weitergehen. Vielleicht sind für Tamara Jenkins Aufbruch und Versöhnung deshalb so wichtig, weil ihr Film autobiografische Züge trägt. Offenbar musste sie in ihrem eigenen Leben ähnliche Herausforderungen bewältigen wie Wendy und Jon (Lim 2007). Und vielleicht ist es gerade jene Authentizität, die den Film so packend und gleichzeitig unterhaltsam macht. Im Kino darf man sich jedenfalls freuen, das Schicksal der Savages miterleben zu dürfen. Und sollten wir Wendy und Marley jemals beim Joggen treffen, laufen wir gern ein paar Meter mit.
Literatur “Dance, Girl, Dance” (Spielfilm, USA 1940; Regie: Dorothy Arzner), BluRay Criterion Collection 2020, 01:17:48 Besonderer Blick (1974) In: Der Spiegel, 22.04.1974, S. 186, Spiegel-Gruppe, Hamburg. https:// www.spiegel.de/kultur/besonderer-blick-a-57f06b11-0002-0001-0000-000041726456. Zugegriffen am 15.08.2022 Biem R, Blum S, Holtgreve U, Simeth U (1989) Zum Stand der feministischen Filmtheorie. In: Frauenfilmgruppe Marburg (Hrsg) Augen-Blick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft. Heft 7: Feminismus und Film, S 8 Hyler SE, Gabbard GO, Schneider I (1991) Homicidal maniacs and narcisstic parasites: stigmatization of mentally ill persons in the movies. Hosp Community Psychiatry 42(1991):1044–1048 Klippel H (2021) Feministische Filmtheorie und Genderforschung. In: Groß B, Morsch T (Hrsg) Handbuch Filmtheorie. Springer, Berlin, S 101–118 Leucht S, Förstl H (2012) Kurzlehrbuch Psychiatrie und Psychotherapie. Thieme, Stuttgart, S 48 Lim D (2007) Unblinking look at death without nobility. The New York Times, 04.11.2007, New York City. https://www.nytimes.com/2007/11/04/movies/moviesspecial/04lim.html. Zugegriffen am 15.08.2022 Monaco J (2009) Film verstehen – Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Neuen Medien. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, S 294 Mulvey L (1975) Visual pleasure and narrative cinema. Screen 16(3):6–18 Noll Brinckmann C (1989) Die weibliche Sicht. In: Petzke I (Hrsg) Das Experimentalfilm-Handbuch, Schriftenreihe des Deutschen Filmmuseums, Frankfurt, S 171–190 Sander H (1975) Femmes/Films in Paris vom 23.–29. April 1975. In: Frauen und Film, Nr. 5, S 48 ff Sterneborg A (2010) Gar nicht mal so wild. In: Süddeutsche Zeitung, 17.05.2010, München. https:// www.sueddeutsche.de/kultur/neu-i m-k ino-d ie-g eschwister-s avage-g ar-n icht-m al-s o- wild-1.208591. Zugegriffen am 15.08.2022 Timmermann L, Maier F et al (2010) Demenz bei Morbus Parkinson: Sinnvolle Diagnostik und rationale Therapie. Fortschr Neurol Psychiatr 78(9):513–518
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Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Der Weg zur Akzeptanz Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Literatur
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D. Henkel (*) Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Uniklinik Köln, Köln, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_10
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Filmplakat Relic. (© Leonine Distribution. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Vorspann Die Gattung des Horrorfilms wird bei den Lesern unterschiedliche Assoziationen wecken: blutsaugende Vampire, hirnhungrige Zombies, rasende Werwölfe, meuchelnde Massenmörder oder grausame Folterszenen mit Unmengen von Blut, Gore und Splatter – allem voran aber die fast obligatorischen, Herzfrequenz treibenden Schockmomente, die das Publikum im Kinosessel aufschrecken lassen. Dieser Filmtypus soll mit Grusel und Angst erfüllen, schreckhafte Reaktionen, die evolutionär für Gefahr von Leib und Leben stehen, provozieren. Fällt allerdings der sprichwörtliche Vorhang, schwindet auch die Illusion der Bedrohung. Ein intendiertes Spielen mit den basalsten Emotionen menschlichen Daseins also – der Todesangst –, ausgetragen in den sicheren Grenzen des Kinosaals und der Fiktion. Passt in dieses Genre-Bild ein tragisches Krankheitsbild wie die Demenz oder ein generationenübergreifendes Familiendrama um existenzielle Angst, Schuld und Beistand in schwerster Stunde? Zunächst mag man diesen Fragen mit berechtigter Skepsis be-
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gegnen, doch wie sich zeigen wird, bewerkstelligt die Regiedebütantin Natalie Erika James diese Themen-Genre-Mixtur meisterhaft – und dies völlig ohne Blutfontänen oder jener fabelhaften Monster, die Horrorfilmen ihren teils effekthascherischen Ruf verleihen.
Biografische Inspirationen, Schuldgefühle und Kindheitstraumata Schon im heiter-melancholischen Sci-Fi-Drama Robert & Frank (siehe Kap. 15) war die persönliche Erfahrung mit Demenzkranken die entscheidende Triebfeder, weshalb Filmemacher einen derart komplexen wie anspruchsvollen Topos für ihr Erstlingswerk wählten. Genauso war es bei Natalie Erika James, deren Großmutter im entfernten Japan an der neurodegenerativen Erkrankung litt und letztendlich daran verstarb. Die Regisseurin schilderte in Interviews eindringlich, wie traumatisch der Moment war, als ihre Oma sie nicht mehr erkannte. Insbesondere drängten James die heftigen Gewissensbisse, die sie aufgrund ihrer berufsbedingt spärlichen Besuche tormentierten, zur künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema. Weitere Inspiration zog die Filmemacherin aus den Erinnerungen an das Domizil der Großmutter: Diese lebte in einem 150 Jahre alten, japanischen Haus, dessen gruselige Aura die Enkelin schon im Kindesalter verängstigte (vgl. Zhou 2020). In Relic fließen demnach frühste Kindheitsängste mit dramatischen Umwälzungen des Erwachsenenalters zusammen und geben dem Werk auf diese Art einen Hauch von Autobiografie, wodurch der Film als persönliches Manifest einer talentierten Nachwuchsregisseurin imponiert.
Film ab! Kay (Emily Mortimer) ist eine unabhängige Frau und lebt mit ihrer jugendlichen Tochter Sam (Bella Heathcote) im australischen Melbourne. Plötzlich erreicht sie eine schockierende Nachricht: Kays Mutter Edna (Robyn Nevin) sei spurlos verschwunden. Die verwitwete Matriarchin der Familie lebt allein im abgelegenen, von dichtem Wald umringten Haus der Familie. Das letzte gemeinsame Telefonat beunruhigte die Tochter, da Edna recht wirr von unerwünschten Besuchern in ihrem Heim berichtete, die Möbel verschieben oder das Licht anlassen würden. Höchst besorgt machen sich Kay und Sam unverzüglich auf den Weg zum Anwesen, die Hoffnung hegend, die Verschwundene dort anzufinden – doch beim Eintreffen fehlt von Edna jede Spur.
Spuren des Verfalls Bereits bei der Ankunft sind die Umstände um Ednas Entschwinden mysteriös umnebelt, denn das Haus wurde auf unerklärliche Weise von innen verschlossen. Nachdem sich Zugang durch die Hundeklappe der Eingangstüre verschafft wird, bietet das Interieur ver-
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störende Details: Decken und Wände des oberen Geschosses sind mit Schimmel übersäht, die in unheilvollem Grauschwarz die Atmosphäre des Wohnsitzes verdüstern – eine Aura des Verfalls. Während der weiteren Erkundung des Domizils entdeckt das Mutter-Tochter- Gespann handschriftliche Zettel, die an unterschiedlichsten Orten hinterlegt worden sind. Einige erinnern an Routinen des Alltags – ein „take pills“ am Nachttisch oder ein „turn off tap“ an der Badewanne –, andere irritieren jedoch durch kryptische Befehle wie „don’t follow it“ oder „get rid of them“. Die Erinnerungshilfen sind deutliche Hinweise, dass der Verfall nicht nur das Haus, sondern auch die Kognition Ednas ereilt und deuten die Ursache für ihr Verschwinden an. Gespräche mit der Nachbarschaft verdichten den Verdacht, dass die Verschwundene nicht mehr die ihnen Vertraute sei: Früher sei ein geistig behinderter Junge, Jamie, oft bei Enda zu Besuch gewesen – was seine Eltern nun verboten haben. Der erschreckende Grund hat fast sadistische Züge, denn Edna soll ihn quälend lange im Wandschrank eingesperrt haben. All diesen beunruhigenden Aspekten zum Trotz bleiben Mutter und Tochter vorerst im Haus der Familie. Die erste Nacht wird dominiert von gespenstigem Knarren des alten Gebälks und unheilvollen Alpträumen um eine Gestalt – einer verkohlten oder mumifizierten Leiche ähnelnd – die angsteinflößend in einer Waldhütte verharrt.
Die Rückkehr Eine von der Polizei dirigierte Suche nach Edna erbrachte keinen Erfolg, doch drei Tage später steht die Entlaufene plötzlich wieder in der heimischen Küche – als wenn nichts gewesen wäre, barfuß und im Nachthemd, die nackten Füße mit Dreck und blauen Flecken übersäht. An ihr Verschwinden scheint die alte Frau sich nicht zu erinnern und gezielten Nachfragen weicht sie gekonnt aus. Kay erkennt den Ernst der Lage und besichtigt ein nahgelegenes Altersheim. Sie kann sich zu dem drastischen Schritt aber nicht durchringen, insbesondere nachdem ein ärztlicher Hausbesuch keine besorgniserregenden Ausfälligkeiten ergibt – von einem seltsamen dunklen Fleck auf Ednas Brust abgesehen, den die Medizinerin als Hämatom interpretierte.
Geistige Zersetzung und „der Andere“ Von nun an überschlagen sich die Vorfälle, die Edna in einem fremdartigen, beinahe monströsen Licht erscheinen lassen: Sie vergisst gemachte Geschenke, um diese dann mit Gewalt wieder zu entreißen, berichtet weiter vom seltsamen Eindringling, nässt ein, v ersucht gar Familienfotos zu verspeisen, wird inadäquat misstrauisch und letztendlich sogar gewalttätig (Abb. 10.1). Jener vermeintliche Eindringling erscheint Edna nun regelmäßig und ist der Alptraumgestalt aus Kays Traum wie aus dem Gesicht geschnitten. Nun wird es für die Protagonisten (und die Zuschauer) immer schwieriger zu differenzieren, wo Wahnvorstellungen einer
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Abb. 10.1 Edna wird gewalttätig. (© Leonine Distribution. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
kranken, alten Frau beginnen und wo reale Gefahren lauern. Dieser Eindruck intensiviert sich, als sich zunächst Sam, dann die gesamte Familie in einem surrealen, labyrinthartigen endlosen Gang- bzw. Schachtsystem verirren. Sam entdeckte die hasenbauartigen Gänge, während sie eine Zimmerecke inspizierte und Edna Selbstgespräche führend beobachtete. Schnell werden Sam und Kay in den Irrwegen zu Gejagten, denn die aggressiver werdende, rasende Edna wähnt in den Nachkommen nun Feinde. Die rasante Verfolgungsjagd kulminiert in einer Transformation der Jägerin: Sie scheint zur mumifizierten Alptraumleiche zu werden – zum vermeintlichen Eindringling – da der mysteriöse Fleck auf ihrer Brust sie nun gänzlich bedeckt und verunstaltet. Zuletzt kriecht sie auf allen Vieren, ihre Knochen bersten spontan, ihr Gesicht unkenntlich, einem wilden Wesen gleichend, alles verloren, was sie als Person ausmachte. Zum Entsetzen der Flüchtigen beginnt sie zudem, sich mit einem Messer ins kaum noch erkennbare Gesicht zu stechen – doch in letzter Sekunde kann das, was von Edna übrig ist, mit einem gezielten Hieb außer Gefecht gesetzt werden. Die Tochter flieht samt Enkeltochter unversehrt zur rettenden Haustür.
Drei Generationen – Ein Schicksal Als das Entkommen in greifbarer Nähe ist, hält Kay inne. Sie betrachtet das Haus und fasst einen Entschluss: Sie stößt Sam ins Freie und geht zurück zur rasenden Mutter. Diese liegt nun verletzt – fast einem Embryo gleich – erbärmlich jammernd auf dem Boden. Kay trägt sie liebevoll ins Bett, legt sich zu ihr und schält zärtlich die spärlichen Hautreste samt Haaren von ihrem Körper. Nun ist Edna optisch identisch mit der mumifizierten schwarzen Leiche, dem Eindringling, dem Trauminhalt, und wird von der Tochter gestreichelt und umsorgt. Überraschend legt sich auch Sam zu den beiden, direkt hinter ihre Mutter, was die drei Generationen in Innigkeit und Harmonie alle Schrecken der letzten Tage vergessen lässt. Der Film endet mit einer unheilvollen Entdeckung: Sam sieht auch bei ihrer Mutter einen schwarzen Fleck am Rücken, der dem der Großmutter erschreckend ähnelt.
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Der Weg zur Akzeptanz Relic macht filmhistorisch etwas Ungewöhnliches, man kann sogar behaupten, etwas Neuartiges: Er interpretiert den Verlauf der schweren Neurodegeneration als Horrorgeschichte, aus Perspektive der Angehörigen, die zu allem Übel auch zukünftige Betroffene sind. Eine Allegorie, wenn man so will, die treffender kaum sein könnte, bedenkt man die unvorstellbaren Schrecken des Miterlebens einer Demenzerkrankung – der Terminus „Horror“ ist hier nicht weit von der Realität entfernt. Schaut man auf die jüngere Filmgeschichte, ist Relic eine Kumulation eines aktuellen Trends, der das Horrorgenre seit ungefähr 20 Jahren beschäftigt: die Thematisierung von Alter, Senilität und Demenz als Schreckensszenario. Die bis dato produzierten Werke thematisieren die Krankheit entweder nicht als Fokus des Horrors oder waren kleine, internationale Independentproduktionen, die kaum Beachtung fanden; nennenswert sind hier Bubba Ho-Tep (2002), Going Stiff (2011), Dementia (2014), Late Phases (2014), Dementia (2015), Dementia Part II (2018), Sator (2019) oder Sanzaru (2020) [vgl. Bitel 2020]. Selbst der vielbeachtete „Found-footage“-Horrorstreifen The Taking of Deborah Logan (2014), der die fiktionale Entstehung einer Dokumentation über an Alzheimer Erkrankte als Setting abbildet (und eine Demente gar als „Besessene“ inszeniert), behandelt das Thema schwerlich als Krankheitsallegorie und macht die Demenz eher zum MacGuffin*. Relic ist demnach schwerlich der erste Horrorfilm, der sich an das Thema Demenz wagt, imponiert aber als erstes Lichtspiel, welches die Pathologie zum Zentrum und Initiator des Schreckens hervorhebt. *MacGuffin
Ein „MacGuffin“ ist ein von Regiemeister Alfred Hitchcock und dem Drehbuchautor Angus MacPhail definiertes und benanntes Handlungselement, das im Film dazu dient, die Haupthandlung zu initiieren oder anzutreiben, ohne in dieser selbst eine weitere Funktion einzunehmen – demnach austauschbar, und meist mit wenigen Details bzw. Inhalt ausgeschmückt. Hitchcock entwarf den Begriff „MacGuffin“ durch Rudyard Kipling inspiriert: Dort war er eine Umschreibung für den Raub von wichtigen Papieren oder Dokumenten.
Realer Schrecken als verstörende Metapher Natalie Erika James inszenierte mit Relic einen sogenannten „slow burner“, ein Werk mit langsam-hypnotischem Erzähltempo, das neben vielen metaphorischen Aspekten zugleich eine wichtige Botschaft übermitteln will – einem Art-House-Horrorfilm entsprechend. Auf die erwähnten, horrorfilmtypischen Schockmomente verzichtet der Film fast gänzlich, die ersten Minuten scheint man sogar eher einen „Missing-person“-Thriller vor sich zu haben, der in ein klaustrophobisches Kammerspiel um drei Frauen übergeht. Doch bereits das Haus der Familie hat Symbolcharakter und deutet auf Schreckliches unter der Oberfläche hin: Verrottetes Obst umgarnt von Fruchtfliegen, unheilvoll dunkler
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Schimmel, beängstigende Notizen und Boxen voller Memorabilien, die den verzweifelten Versuch des Bewahrens von Erinnerungen suggerieren – das Bauwerk steht sinnbildlich für den Zustand der Großmutter und das Schicksal der Familie. Die surreal anmutenden, scheinbar endlosen Irrgänge, die urplötzlich im Hause auftauchen, symbolisieren die zunehmende Entfremdung und Desorientierung im eigentlich vertraut-heimischen Umfeld. Ednas Metamorphose ins Monströse oder Besessene spiegelt ebenfalls eine Entfremdung wider, nämlich aus Perspektive der Tochter/Enkeltochter, die ihre Liebste nicht mehr wiedererkennen: Zunächst misstrauisch und aggressiv, später paranoid und gefährlich, besticht die Verwandlung in eine Art „lebende Leiche“ als Metapher für die Auslöschung der Person durch die Demenz. Dieser optische Wandel ist durch den erwähnten, sich gnadenlos ausbreitenden Fleck auf Ednas Brust bedingt – ein eindeutiges Symbol für die fortschreitende Demenz. Zuletzt pellt selbst die Tochter die letzten, noch „die alte Edna“ repräsentierenden Hautfetzen vom Leib – wieso diese plötzliche Hilfestellung? Die finale Sequenz gibt uns lediglich den Schlüssel zur Interpretation des Werkes, zur Deutung der Gesamtaussage. Das Werk will keineswegs Demente als Monster stilisieren, sondern die Versinnbildlichung eines Prozesses sein, der mit der Akzeptanz eines grauenhaften wie unabwendbaren Schicksals endet. Diesen Interpretationsansatz stützte die Filmemacherin mehrfach in Interviews: cc
Personally, I feel like it would be heartbreaking to depict Alzheimer’s or the person suffering from Alzheimer’s as this evil force that needs to be vanquished. […] It was never about casting off the ugly parts of life and rejecting our inevitable decline. It’s very much about the horrors of it, but also the acceptance (Delgadillo 2021).
oder cc
For us, it was [about] embracing a loved one’s true form or acknowledging the state that they are in, coming to terms with their mortality (Yapp 2020).
Die Intention beschränkt sich nicht nur auf die symbolhafte Darstellung des schwierigen Prozesses, eine Demenzerkrankung im direkten Umfeld zu akzeptieren bzw. zu verarbeiten. Relic versucht in diesem Zuge ebenfalls, Hilfe und Beistand für Betroffene zu spenden (Kelley 2020): cc
I really want the audience to have somewhat of a cathartic experience […] and […] help[s] them conquer that fear, that would be pretty amazing.
Wie realitätsnah diese Hoffnung der Regisseurin sein könnte, wurde vor Kurzem in einer Studie untersucht, deren Ergebnisse einen emotional stabilisierenden Effekt beim Publikum nach Horrorfilmkonsum nahelegen (Scrivner et al. 2021).
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Demzufolge liegt uns ein bemerkenswertes, anspruchsvolles, ambitioniertes und neuartiges Werk vor – woher entknospet diese Inspiration? An unterschiedlichen Stellen verrät Natalie Erika James den Einfluss einer ganzen Palette von kinematografischen Klassikern auf ihre Stilistik: Die surrealen Momente erinnern nicht zufällig an David Lynch und sein Debut Eraserhead, die Elemente von „body-horror“ sind von David Cronenberg, besonders Videodrome (vgl. Kermode 2020), inspiriert, das Erzähltempo und die Atmosphäre erwecken Reminiszenzen an den asiatischen Horrorfilm (Yapp 2020) oder Stanley Kubricks The Shining (Ewing 2020). Literarische Werke wie Mark Z. Danielewskis House of Leaves oder J. A. Bayonas The Orphanage hinterließen gleichermaßen prägenden Eindruck auf James (Delgadillo 2021). Ein wahres Potpourri an hochkarätigen Vorbildern, deren gekonnt umgesetzter Einfluss auf Relic sicherlich einen Teil der wohlwollenden Bewertung der Kritiker bedingt.
Rezeption Der erste einschneidende Erfolg für James war gewiss die Annahme für das Sundance Film Festival, dem wahrscheinlich wichtigsten Festival für Independent-Filme und ein wirkmächtiges Sprungbrett für Nachwuchsregisseure. Hier feierte das Werk seine Weltpremiere und wurde wohlwollend aufgenommen. Es folgte das internationale Kinorelease und das Echo der Filmkritik fiel überwiegend positiv aus. Dieses kann man nicht nur an der Gesamtbewertung des Filmkritikaggregators „Rotten Tomatos“ (Rotten Tomatoes 2022) ablesen, denn auch an einer Kritikerumfrage des Filmmagazins „IndieWire“ landete Relic auf Platz 5 der besten Erstlingswerke (Kohn und Blauvelt 2020). Auf welche Resonanz stieß der Film beim Publikum? Einspielergebnisse können, wenn sie nicht nur das Produkt einer aufwändigen Werbekampagne darstellen, als Parameter für das Urteil der Zuschauer eingesetzt werden. Bei erfolgreichen Independent-Filmen – die meist kaum Werbemittel zur Verfügung haben – wie Relic, können Erfolge an den Kinokassen durchaus als Publikumszuspruch interpretiert werden. Beachtung seitens der Medizinwelt bzw. Medizinhistorikern bekam das Werk bis dato marginal, vereinzelte Stimmen urteilten hier allerdings wenig wohlwollend (Wijdicks 2022).
Genderaspekte Schaut man nur auf die harten Fakten, kann Relic durchaus als „Genderkino“ gelten, ein Werk, das durch seine bloße Existenz die heteronormativen Paradigmata mancher Hollywoodstudios herausfordert. Die Gründe sind naheliegend: Die drei Protagonistinnen sind Frauen, die aller Strapazen zum Trotz die schreckliche Situation meistern. Realisiert wurde das Werk aus weiblicher Regiefeder, die sich als unbeschriebenes Blatt mit einem
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Erstlingswerk behaupten musste. Die einzige bedeutsame männliche Figur ist die kadaverhafte Gestalt, die Inhalt von Ednas Paranoia ist bzw. die Alpträume der Tochter bevölkert. Wie der Film impliziert, ist diese gespenstige Erscheinung ein Vorfahre Ednas, der – interpretiert man die Symbolik stringent weiter – der erste im Stammbaum war, der den erblichen, kognitiven Verfall in die Familie brachte. Der Ursprung allen Übels ist demnach männlicher, die nachfolgenden „Opfer“ ausschließlich weiblicher Natur. Ob man diesen Umstand genderspezifisch interpretieren will, ist diskutabel, bedenkt man, dass die weibliche Demenzkranke im Demenzfilm die tatsächlichen epidemiologischen Zahlen mit höherer Quote unter den Frauen widerspiegelt. Kontextuell fügt sich Relic wunderbar in genderspezifische Strömungen ein, denn seit ca. 2010 erreichen immer mehr weibliche Regisseure durch ihr Regiedebüt Erfolg im Horrorgenre – man denke an Der Babadook (2014), Saint Maud (2019) oder Hereditary – Das Vermächtnis (2018). Demnach kann man zweifelsfrei behaupten, Relic sei ein Werk des gendersensiblen Kinos. Es wäre aber ein interpretatorisch weiter Wurf, zu behaupten, James habe hier primär einen filmischen Kommentar zur Genderdebatte abgeben wollen. Relic bleibt in erst Linie ein Horrorfilm über die Demenzerkrankung und Genderbezug allenfalls ein – zufällig oder intentionell – gestreifter Nebenaspekt.
Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Akkuratesse in genrespezifischer Verfremdung Medizinische Fakten, Behandlungen, Institutionen oder Mediziner haben wenig Raum in Relic. Die ärztliche Konsultation ist kurz und wenig ergiebig, das Fehlen von Demenztestung (z. B. mit der Mini Mental Testbatterie) oder die Verkennung des vermeintlichen Hämatoms auf Ednas Brust impliziert sogar Nachlässigkeit und Inkompetenz der Profession. Die Ärztin prüft während des Hausbesuches grob die zeitliche Orientierung sowie das Gangbild – eine lege artis Demenzabklärung nach mehrtägigem „Verlaufen“ sieht aber ohne Frage anders aus. Akzeptiert man allerdings die symbolhafte Verfremdung der Demenzsymptome, haben wir eine erstaunlich akkurate Wiedergabe der typischen Klinik: Desorientierung, Vernachlässigung des Haushalts und der Aufgaben des täglichen Lebens, Vergesslichkeit, Hinlauftendenz, schwindendes Erkennen ehemals vertrauter Personen, pathologisches Misstrauen, Inkontinenz, Fremd- wie Autoaggressivität und letztendlich die Regression in einen fast vegetativen Status – eine stimmige Auswahl, die das demenzielle Syndrom ausgezeichnet skizziert. Im Abgleich der Leinwandsymptome mit den ICD-10-Kriterien der WHO sind im Grunde selbst alle fakultativen Kriterien erfüllt (mit Ausnahme des Verlusts der Rechenfähigkeit). Sogar die zur Definition der Demenz erforderliche Erkrankungsdauer von 6 Monaten erfüllt Edna, wenn das bei der Polizei angebrachte „Unterwassersetzen des Hauses“ vor einem Jahr als erstes Symptom gedeutet wird.
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Schreckliche Gewissheit Wie schon mehrfach skizziert, zeigt uns Relic die vererbliche – hereditäre – Form der Demenz**, die neben der eigentlichen Pathologie noch ein erdrückend hohes Erkrankungsrisiko für die Nachkommen birgt. Das grauenvolle Los der Gewissheit, eine unheilbare sowie todbringende Krankheit zu erben, wird im Film – wenn überhaupt – grob angerissen. Die sonstige Darstellung ist reine Fiktion: Ein schwarzes, sich ausbreitendes Mal, was die Früherkennung zu einer Blickdiagnose machen würde, existiert in der Realität (leider) nicht. Auch die deutlich früher einsetzende Symptomatik der hereditären Form deckt sich kaum mit Ednas betagtem Alter (Abb. 10.2). Die Frage, warum James eine erbliche Variante für den Film wählte, bleibt nebulös: Zur bloßen Intensivierung des Dramas? Oder litt die Großmutter vielleicht sogar an jener seltenen Form? Erstaunlicherweise wurde dies in den zahlreichen Interviews mit der Regisseurin nie thematisiert und so bleibt die Antwort auf die Frage, ob ein Verarbeitungsprozess der quälenden Gewissheit der bevorstehenden Erkrankung durch kreatives Schaffen vorliegt, vorerst spekulativ.
**Hereditäre Alzheimer-Varianten
Ungefähr 1 % aller Alzheimer-Erkrankungen sind vererblich und werden daher hereditär genannt. Diese bedeutet für die Betroffenen wie deren Nachkommen eine – in Relation zur sporadischen Demenz – außerordentliche Belastung. Diese ist zum einen begründet durch das deutlich frühere Manifestationsalter von 30–65 Jahren, zum anderen durch die autosomal-dominante Vererbung, die eine vollständige Penetranz zeigt. Ursächlich sind Mutationen in den Genen APP (Chromosom 21), Presenilin-1 (Chromosom 14) und Presenilin-2 (Chromosom 1). An Gentherapien wird derzeit geforscht, eine Aussicht auf zeitnahe Erfolge gibt es allerdings nicht.
Abb. 10.2 Edna am Esstisch. (© Leonine Distribution. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Relic, das Regiedebüt von Natalie Erika James, wurde wohlwollend vom Publikum, wie auch von der Kritik aufgenommen. Mit ruhigem Duktus, metaphorischer Bildsprache, bedeutungsschwerer Aussage, raren Schreckmomenten, wenig Blut und überzeugenden Darstellungen ist der Film eher „Art-House“ – was weder den Unterhaltungsfaktor noch die düstere Atmosphäre mindert. Ein ambitioniertes Werk, das zum ersten Mal wagt, die Demenz ins Zentrum einer metaphorisch zu verstehenden Handlung zu setzen und die Krankheit als Leitmotiv eines Horrorfilms zu nutzen. Eine relevante Darstellung der Medizin fernab der metaphergebenden Pathologie bietet das Regiedebüt nicht, was auch kaum zielführend wäre, denn: Relic ist kein Film über die Krankheit Demenz an sich, sondern die versinnbildlichte Darstellung des zehrenden Prozesses, den es braucht, das Schicksal Erkrankter bzw. die Erkrankung selbst zu akzeptieren und verarbeiten. Zugleich ist der Film eine Laudatio an die Familienbande, mit einer mutmachenden, positiven Aussage konnotiert, die Hoffnung machen will. Glaubt man, dass sich die Hoffnungen der Regisseurin erfüllen, kann das Werk sogar als emotionale, kathartische Stütze für Betroffene fungieren. Ein mutiger, „kleiner“ Independentfilm, der Neugierde auf die weiteren Regiearbeiten von Natalie Erika James weckt. Fazit: Die filmische Horrormetapher einer schrecklichen, gnadenlosen Krankheit, die in dieser Form erstmalig die Kinosäle erreicht, überzeugt in Bildsprache, Regie und schauspielerischer Darstellung. Gekonnt den Schrecken geistigen Verfalls visualisierend, vermeidet Relic Demenzkranke zu instrumentalisieren oder bagatellisieren. Im Gegenteil: Er bricht die Lanze für die Akzeptanz der Erkrankung und des Zustands, den die Betroffenen unweigerlich erreichen werden – ein Plädoyer für familiären Zusammenhalt in dunkelster Stunde. Pointiert: Eine eindringliche Allegorie auf den schweren Prozess der Akzeptanz von (geistigem) Verfall und letztlich Tod.
Literatur Bitel A (2020) Relic finds fear in a labyrinthine house of horrors – and in intergenerational illness. British Film Institute. https://www.bfi.org.uk/sight-and-sound/reviews/relic-natalie-erika-james- house-horrors-old-age-illness. Zugegriffen am 09.08.2022 Delgadillo N (2021) Natalie Erika James on the inspirations and timely release of ‘Relic’ – exclusive interview. Discussingfilm. https://discussingfilm.net/2020/07/13/natalie-erika-james-on-the- inspirations-and-timely-release-of-relic-exclusive-interview/. Zugegriffen am 09.08.2022 Ewing J (2020) Interview: Natalie Erika James discusses the inspirations behind ‘Relic’, one of the year’s best horror films. Forbes. https://www.forbes.com/sites/jeffewing/2020/08/13/interview- natalie-e rika-j ames-d iscusses-t he-i nspirations-b ehind-r elic-o ne-o f-t he-y ears-b est-h orror- films/?sh=12962bb83eac. Zugegriffen am 09.08.2022
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Teil III Ein Blick über den Tellerrand: Internationale Demenzfilme fernab des Eurozentrismus
Starke Frauen, marode Gesellschaftsstrukturen und die Flüchtigkeit des Seins in Sommerschnee
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Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Filmgeschichte Hongkongs, die Regisseurin Ann Hui und Schnee im Sommer Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Literatur
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D. Henkel (*) Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Uniklinik Köln, Köln, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_11
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Filmplakat Nu ren si shi. (© Miramax. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Vorspann cc
Lyrisches Vorwort Do not shed tears, spare your grief / Life is over in the
twinkling of an eye.
Diese lyrische Strophe läutet den Abspann des Hongkonger Lichtspiels Sommerschnee ein. Die Worte des ersten Verses scheinen Trost spenden zu wollen, denn das preisgekrönte Drama bietet dem Zuschauer schwerlich ein klassisches Happy End. Der zweite Vers erfüllt diese Erwartung nur bedingt, denn so manchem wird die postulierte Kürze des menschlichen Lebens wahrscheinlich eher melancholisch stimmen. Wird an dieser Stelle eine stoische Geisteshaltung in Anbetracht der Tragödie mentalen Verfalls propagiert? Ein einleuchtender Interpretationsansatz, doch wie wir sehen werden, ist die Demenz in Sommerschnee zwar zentraler Topos, aber bei weitem nicht der einzige, der die Stimmung des Publikums zu trüben vermag. Es wird sich zeigen, wie die Verse an eine allgemeine Geisteshaltung appellieren und den Umgang mit der Tragik des menschlichen Daseins ins rechte Licht rücken sollen.
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Die Regisseurin Ann Hui scheint in Sommerschnee die Absicht zu verfolgen, ein multifaktorielles sowie emotionales Chaos zu beschwören, das die Zuschauer mit einem Potpourri an bedrückenden wie kontroversen Themen in Atem hält – ohne sie zu deprimieren. Aus den vielfältigen Emotionen evolviert eine gemeinsame Erkenntnis: Verzage nicht, genieße dein Dasein – solange du kannst!
Gesellschaftskritik im Dickicht der heiteren Tragödie Der Leser mag sich wundern: Eine heitere Tragödie? Geht das überhaupt? Die Tragik der Demenz mit heiterem Duktus auf die Leinwand zu bannen war ungewöhnlich für das Entstehungsjahr 1995, und auch spätere Demenzfilme wagten sich nur selten in die Gefilde der Komödie vor (vgl. Honig im Kopf, Kap. 5). Der Grund scheint naheliegend: Mit einem solch ernsten Thema das Lachen des Publikums provozieren zu wollen, birgt die Gefahr der Verharmlosung oder gar euphemistischer Verklärung. Ein Spagat über diametral entgegengesetzte Genres also, der herausfordernder kaum sein könnte. Dieser problematische Eindruck, den eine solch heikle Genremixtur hinterlässt, wird durch die Brandbreite von kontroversen Unterthemen nur verschärft: Von der Bedeutung der Rolle der Frau – wie es schon im Originaltitel Nu ren si shi (frei übersetzt: Eine Frau mit 40) angedeutet wird – bis hin zu sozialkritischen Themen wie eingefahrene Gesellschaftsstrukturen, Hinterfragung kultureller Normen oder Analogien zu politischen Freiheitsbegehren – sie alle werden von der Regisseurin in dem facettenreichen Opus gekonnt thematisiert. Doch wie bewerkstelligte die Filmemacherin diesen Drahtseilakt? Die Antwort auf diese und weitere Fragen erhalten wir im Folgenden.
Film ab! Die Familie Sun lebt in der ephemeren Metropole Hongkong das Leben einer modernen Arbeiterfamilie. Ihr sinnbildliches Herz ist May (Josephine Siao), die einem stressigen Job in einer Importfirma nachgeht. Zusammen mit ihrem Gatten Bing (Kar-Ying Law), der in einer Fahrschule arbeitet, zieht sie ihren jugendlichen und schulpflichtigen Sohn Allen (Allen Ting) groß. May bekleidet eine wichtige Funktion in dem Unternehmen, was der hart arbeitenden Frau stressige Momente beschert. Bing legt seiner Frau gegenüber einen oft drakonischen Ton an den Tag, sei es, wenn ihn die Essenszubereitung verstimmt oder May auf dem Fischmarkt übers Ohr gehauen wird. Diesen Stressfaktoren und patriarchischen Zügen zum Trotz leben die Suns ein normales Dasein mit all seinen Höhen und Tiefen – wäre da nicht das Damoklesschwert der schwerkranken Großeltern.
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Der Tod der Großmutter Der Trubel des Alltags wird harsch durchbrochen, als Bings Mutter Ying (Sin Hung Tam) bewusstlos auf dem Boden aufgefunden wird. Die Ursache bleibt zunächst unklar, doch die folgenden Ereignisse lassen weitere Schicksalsschläge erahnen: Lin (Roy Chiao) – Ehemann von Ying und Großvater der Suns – scheint den Ernst der Lage zu verkennen. Lin ist ein Patriarch, ein Prototyp des familiären Oberhaupts, der heldenhaft höchste Ehren als Leutnant der chinesischen Luftwaffe erlangte. Die Tage des Ruhms sind aber vorbei und der verbittert-misslaunige alte Mann verbringt die meiste Zeit wie hypnotisiert vor dem Fernseher – dabei jedoch keine Gelegenheit verpassend, seiner Umgebung das Leben zu erschweren. Diese querulantischen Charakterzüge erklären aber kaum, weshalb die Nachricht über den Zusammenbruch seiner Frau keine adäquate emotionale Reaktion hervorruft: Er starrt weiter in die heimische Flimmerkiste, lauthals lachend über die dargebotene Komik. Die apathische Reaktion Lins hält die Familie aber nicht davon ab, in das nächstgelegene Krankenhaus zu eilen, wo ein wenig empathischer Mediziner die verheerende Diagnose stellt: Ying erlitt einen schweren Schlaganfall, den sie nicht überlebt hat. May bricht in theatralische, ja fast hysterische Trauerbekundungen aus, wohingegen der nun Verwitwete weiter emotionale Kälte an den Tag legt. Als Lin dann allerdings die eigene Tochter genauso wenig erkennt – sie sei ja eine alte Frau – wie seine verblichene Ehefrau auf einem Foto, wird ein besorgniserregendes Gedächtnisproblem mehr als augenscheinlich.
Der steinige Weg zur Diagnose Nachdem Lins Fassade im Krankenhaus zu bröckeln beginnt, folgt eine mehr als rasante Lawine an Ereignissen, die den obsoleten kognitiven Zustand des Großvaters auf dramatischste Weise exponieren: Er stiehlt unbewusst Gegenstände, läuft unachtsam in den Straßenverkehr oder versucht sogar, ein zwischen zwei Toastscheiben arrangiertes Stück Kernseife zu degustieren. May dämmert es: cc
I’m so tired, I can’t take it anymore. What is wrong with your brain?
Es folgt der unausweichliche Besuch bei einem Neurologen, dessen Testbatterie eine eklatante Störung seines Kurzzeitgedächtnisses feststellt – die Diagnose: Morbus Alzheimer. Nach dieser erschütternden Erkenntnis beginnen sich die dramatischen Ereignisse zu überschlagen: Die Desorientierung des Kriegsveteranen wird immer schlimmer, er pinkelt in den heimischen Buddha-Schrein und kann sich nur noch mit Hilfe zahlreicher Zettel, die in der Wohnung als Orientierungshilfe angebracht sind, zurechtfinden. Die Situation scheint nicht tragbar für die Suns: May wird immer stärker von der Pflege des Schwiegervaters eingenommen, was ihr Probleme im Privat- sowie im Berufsleben be-
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schert. Hilfe von anderen Verwandten kann die Familie nicht erwarten, selbst der eigene Sohn konstatiert angesichts der desolaten Lebenssituation zynisch: cc
I hope you do not get old.
Pflegeplätze sind schwer zu ergattern und die Wartelisten lang, doch es erscheint Licht am Ende des Tunnels, als May erfährt, dass Lins verstorbene Gattin in weiser Voraussicht längst einen Pflegeplatz für den Dementen reserviert hat – in einer Einrichtung zur Tagespflege.
Endstation Pflegeheim? Jenes Licht am Ende des Tunnels verdüstert ebenso rasant, wie der kognitive Zustand des Kranken abbaut (Abb. 11.1). Die Nächte im Hause Sun werden immer beängstigender: Eines Nachts wähnt der rüstige Lin sogar seinen eigenen Sohn einen Einbrecher und es kommt zu Handgreiflichkeiten. Auch in der Tagespflege bereitet der unbequeme Patient immer mehr Scherereien, bis er eines Tages aus der Pflegestätte flieht und kurzerhand aus dem Programm geworfen wird. Die Familie versucht nun erneut, den Großvater im heimischen Rahmen zu pflegen – vergeblich. Schon bald stürzt der Demente vom Dach des Hauses, glücklicherweise ohne sich ernsthaft zu verletzen. Die Familie berät sich in einem kurzen aber hitzigen Disput über das weitere Vorgehen, doch es bleibt keine Alternative: Sie bringen ihn in eine Vollzeitpflege. Die Autofahrt zur Einrichtung ist von emotionaler Spannung geprägt: May schlägt ihren Ehemann verzweifelt auf die Schulter – sie fühlt sich alleingelassen, machtlos und schuldig. Wie wenig tauglich die vermeintlich einzige Lösung der Pflegestätte ist, verdeutlicht der erste Besuch in der Institution: Geschunden ist Lins Gesicht, blutige Verletzungen lasAbb. 11.1 Der Zustand des Großvaters verschlechtert sich. (© Miramax. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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sen Schlimmes erahnen. Das Personal beteuert, er habe sich die Verletzungen selbst zugefügt, doch alles spricht für eine Misshandlung des „Insassen“. Herzerweichend stammelt er ängstlich: cc
I want to go home.
Ihr Mitleid siegt und May holt ihren Schwiegervater erneut nach Hause. Das Thema Pflegeheim ist nun endgültig vom Tisch und der vermeintliche Lichtblick als finsteres Schreckenskabinett exponiert.
Im Strudel eines melancholisch-optimistischen Finales Beim Verlassen des Pflegeheims weht der Wind den Beiden die Blüten eines Kirschbaums entgegen, die der Befreite als Schnee fehlinterpretiert und fröhlich um die vermeintlich rein-weißen Flocken tänzelt (Abb. 11.2). Ein Moment der Harmonie, der in den folgenden Szenen harsch kontrastiert wird: Der derangierte Vater ertrinkt in der Wanne beinahe, nachdem er eingenässt hat. Er wird ins Krankenhaus gebracht, in dem auch seine leibliche Tochter zum seltenen Besuch erscheint. Diese lässt zynisch die Anmerkung fallen, Euthanasie sei manchmal die bessere Lösung – doch der Vater überlebt. Kurz darauf trifft sich die Familie zu einer Feier. Während der Festivitäten wandert Lin fröhlich im Garten umher, pflückt Blumen und schenkt sie gutmütig seinen Angehörigen. Eine letzte Weisheit kann der Demente noch kundtun, bevor er sich an die Brust greift und sterbend zusammenbricht: cc
You know what life is all about? Life is about fun.
Abb. 11.2 Blüten eines Kirschbaums werden vom Großvater als Schnee fehlinterpretiert. (© Miramax. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Am Ende sehen wir May auf ihrer Terrasse Tauben füttern, die der Großvater immer umsorgte. Mit diesen bedeutungsschweren Bildern und den eingangs zitierten Versen fällt der Vorhang.
ilmgeschichte Hongkongs, die Regisseurin Ann Hui und Schnee F im Sommer Die Filmgeschichte Hongkongs reicht bis in die Stummfilmzeit zurück, fand international jedoch lange kaum Beachtung. In den 1970er Jahren änderte sich dies schlagartig, als Filme der Shaw Brothers oder Golden Harvest Studios im Fahrtwind von Superstar Bruce Lee wortwörtlich eine Kung-Fu-Manie lostraten. Wie jede stilistische „Welle“ setzte bald eine Sättigung beim Publikum ein, jedoch ohne, dass die Produktionen völlig abebbten. Die 1980er Jahre belebten das „Prügel-Genre“ wieder, besonders dank der Popularität von schlagfertigen Sternchen wie Jackie Chan. Neben diesen Unterhaltungsfilmen wird filmhistorisch auch eine „Hong Kong New Wave“* beschrieben, die gelegentlich in eine erste und zweite Welle unterteilt wird und sich ernsteren Themen widmete. Prominente Mitglieder der zweiten Welle sind unter anderem Filmemacher wie John Woo oder Tsui Hark, die oft historische Settings der Martial-Arts-Streifen in moderne Szenarien einbetteten. Das Image des Hongkong-Kinos blieb ein actiongeladenes, von akrobatischen Fußtritten und Pistolenschusssalven geprägt. Schaut man allerdings genauer hin, wird dieses Klischee der Realität kaum gerecht, denn es finden sich durchaus anspruchsvolle Filmemacher zwischen den Hieben und Schlägen, so z. B. Wong Kar-Wai oder eben Ann Hui (vgl. Fu und Dresser 2008, S. 1–11). *Hong Kong New Wave
Als Hong Kong New Wave wird eine filmhistorische Strömung umschrieben, die sich von den späten 1970er Jahren bis in die frühen 2000er erstreckt. Die behandelten Themen und die stilistischen Eigenarten standen oft im Kontrast zum populären Actionkino, für das Hong Kong bekannt war. Beispiele für solche revolutionären Topoi sind die Aufarbeitung kultureller Ost-West-Konflikte, der Kolonialpolitik, der Rolle der Frau, der wachsenden Kluft zwischen arm und reich oder der Identitätskrise Hong Kongs. Wichtige Filmemacher dieser Bewegung sind unter anderem Peter Chan, Stanley Kwan, John Woo, Tsui Hark, Wong Kar-Wai, Fruit Chan und Ann Hui. Ann Hui ist – besonders in der Sinosphäre – schon lange in den Olymp der Regisseure aufgenommen (Liu 2021). Sie gewann zahlreiche Preise, zuletzt auch höchste Ehren auf Filmfestivals der westlichen Welt, wie den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk beim Filmfestival in Venedig (Bordwell und Thompson 2021). Doch in die Schublade des rasant kloppenden Actionvehicle will die Regisseurin so gar nicht passen. Sie
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gilt gemeinhin als politische (Yau 2007) und allegorische (Yeung 2018) Filmemacherin, die vor unbequemen und kontroversen Themen nicht zurückschreckt. Offenbar wird dies schon in ihren frühen Werken wie der Vietnam-Trilogie – The Boy from Vietnam (1978), The Story of Woo Viet (1981) and The Boat People (1982) –, in der sie ein eklatantes Versagen der Hongkonger Regierung während der vietnamesischen Flüchtlingskrise anprangert. Welche dieser stilistischen Aspekte Huis sehen wir in Sommerschnee? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, sei zuerst der eingangs angesprochene Spagat zwischen Komik und Tragik beleuchtet, der durchaus als kontrovers tituliert werden kann.
Von komischer Tragik und tragischer Komik Wenn tragische Inhalte komödiantisch aufgearbeitet werden, ist die Gefahr der Verharmlosung groß. Sind diese Inhalte individuelle Schicksale, ist sogar die menschliche Würde des porträtierten Individuums im Schussfeld. Um zu klären, welche Art der komischen Tragik dargestellt wird, muss die Intention der Filmemacher genauer eruiert werden: Wird das tragische Geschehen instrumentalisiert und ist lediglich inszeniert, um die Zuschauer mittels Lacher an die Kinokassen zu locken? Eine rein ökonomische Vermarktungsstrategie also? Oder gibt es auch Momente der aufrichtigen Dramatisierung? Selbst hier muss unterschieden werden, ob jenes Drama als „Absicherung“ gegen potenzielle Vorwürfe der Bagatellisierung eingebaut wurde oder ehrliche, tiefergehende Aspekte einbringt. Ebenso bleibt zu klären, ob die Komik einen Mehrwert hat oder reiner Selbstzweck ist. Wie man spätestens an dieser Stelle bemerkt, bleibt die Klärung der Frage, wann Komik banalisierend wirkt, stets eine Einzelfallentscheidung. Ein hermeneutisches Allgemeinrezept gibt es hierfür nicht. Sommerschnee macht dies besonders deutlich, denn Ann Hui baut Momente der Komik in ihr Werk ein, um die Botschaft des Films auf unterschiedlichen Erfahrungsebenen zu kommunizieren. Die amüsanten Momente betreffen selten die Figur des Erkrankten selbst, und selbst wenn sie es tun, erscheinen diese eher heiter denn als Kanonenfutter für frenetisches Gelächter. Wenn der Film uns tatsächlich zum Schmunzeln bringt, passiert dies meist in Sequenzen um das heimische Gezanke zwischen May und Bing, die das Groteske sowie Redundante an langjährigen Beziehungen aufzeigt. Doch was genau bewerkstelligen diese Szenenfolgen? Ann Hui transformiert hier geschickt die Grundstimmung des Films, um dem Publikum die Botschaft nicht nur als Strophe zeigen zu können, sondern sie diese auch fühlen zu lassen. Anders ausgedrückt: Was die Rezipienten am Ende des Werks in poetischem Duktus präsentiert bekommen, fühlen sie schon vorher. Sie verlassen das Kino, nicht schwer erdrückt von negativen Gefühlen, und verstehen instinktiv, was die Lyrik ihnen sagen möchte. Sie durchdringt die stoische, lebensbejahende Aussage des Films, nicht nur auf kognitiver, sondern auch auf emotionaler Ebene: Verzaget nicht, trotz der scheinbaren Absurdität des Lebens.
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Diese Art der auf mehreren Ebenen transportierten Aussage nutzt die Filmemacherin später erneut in dem „Companion-Film“ zu Sommerschnee, July Rhapsody (2002, Originaltitel wörtlich übersetzt: Mann, 40). Mehr noch: Was diese beiden Werke charakterisiert, wurde von der Filmgeschichtsschreibung sogar als zentraler Aspekt von Huis Filmsprache aufgezeigt: „The pursuit of a perfect synthesis of form and content has obviously become the mission of her film-making career“ (zit. n. Cheuk 2008, S. 79). Eine Symbiose aus Inszenierungsstil und Handlungsinhalten ist demnach ein wiederkehrendes Element im Œuvre Huis und macht Sommerschnee zu einem repräsentativen, ja fast prototypischen Film für den künstlerischen Duktus der Filmemacherin.
Eine Ode an die Frau Ann Hui selbst sieht sich selbst nicht als feministische Filmemacherin, obwohl nicht wenige ihrer Werke – z. B. auch Song of the Exile (1990) oder Ah Kam (1996) – Frauen als zentrale Figur haben. Sommerschnee ist hier keine Ausnahme. Über diesen Aspekt ihres Werks wurden gar Dissertationen geschrieben (Chen 2015). In China ist die Perzeption von Gender grob in „maoistisch“ und „postmaoistisch“ zu unterscheiden. Während zu Zeiten der Kulturrevolution Mao Zedongs eine vollkommende Gleichheit von Mann und Frau propagiert wurde, schlug dies ab ca. 1976 ins postrevolutionäre Gegenteil um und brachte das Patriarchat wieder auf die Bildfläche. Sommerschnee nimmt hier keine Partei für eine Seite ein, sondern interpretiert die Rolle der Frau auf eigene Weise, irgendwo zwischen diesen historischen Extrempolen. Aber Hui distanziert sich nicht nur von diesen historischen Modellen, sie kritisiert beide und entwirft so eine Laudatio, die eine ganz eigene Interpretation der Frauenrolle beschwört. May ist nicht nur das Rückgrat der Familie, das mit unendlicher Geduld und unglaublichem Durchhaltevermögen alles vor dem Implodieren bewahrt. Sie ist zugleich eine selbstständige Frau, die patriarchisches Gehabe bis zu einem gewissen Grad erduldet und sich ihrer essenziellen Rolle bewusst ist, ohne dafür Anerkennung erwarten zu können – eine moderne Heroine also. May ist obendrein berufstätig und macht ihren Job ausgesprochen gut. So gut, dass die Firma fast handlungsunfähig wird, als May beginnt wegen des erkrankten Schwiegervaters zu fehlen. Doch auch in dieser Funktion kann man keine klischeehafte Rolle erkennen. May ist ebenso wenig eine „typische“ moderne Frau, die für ihre Karriere lebt und alle Aspekte des herkömmlichen Frauseins ablehnt, wie sie Traditionalistin ist. Wie an anderer Stelle herausgearbeitet, lehnt sie eine zwanghafte Modernisierung sogar ab. Dies wird deutlich, wenn man die Beziehung zu einer jüngeren Kollegin analysiert: May erledigt die Dinge eher altmodisch, sie benötigt nicht für alles einen Computer und steht der „Digitalisierung um jeden Preis“ eher kritisch gegenüber. Anders die junge Kollegin, die mit ihrem IT-Wissen glänzt und May die Stellung streitig machen will. Diese Rivalität verdeutlicht das facettenreiche, höchst individuelle und von jeder präformierten Rolle befreite Bild der Frau, das Hui kreiert (Lin Ho 1999, S. 179).
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May erfüllt demnach mehrere Rollen und Funktionen: Sie gibt den familiären Zusammenhalt und ist gleichzeitig eine selbstständige Frau, die beruflich erfolgreich und unabhängig ist. Ein herkulischer Kraftakt, der sie manchmal an die Grenzen ihrer Kräfte bringt. Genau hier liegt die Stärke des Werks: Keine Pauschalisierung, keine sprichwörtlichen Schubladen, nur eine Frau, die ein schweres Leben bravourös meistert, ohne sich Gedanken über gesellschaftliche Rollen zu machen – ein höchst respektvolles, bewundernswertes Bild der modernen Frau, das zugleich Kritik an den zwanghaft erscheinenden Rollendefinitionen des modernen Hongkongs übt.
Analogie zur politischen Unabhängigkeit Hongkongs Weitaus weniger zentral und offensichtlich ist die politische Analogie zum Freiheitsbegehren Hongkongs im Film eingebettet. Schon früh geriet Hui durch ihre politisch kontroversen Themen in Ungnaden der Zensur, so wurde ihr Werk Boat People trotz internationaler Aufmerksamkeit in China verboten (Foster 1997, S. 142) – und 23 Jahre später zum achtbesten chinesischsprachigen Film des letzten Jahrhunderts gewählt (Stiglegger und Ritzer 2015, S. 169). Will man Sommerschnee politisch interpretieren, imponiert zunächst die ungeschönte Darstellung der politischen und sozialen Situation in Hongkong, welche als eine Inszenierung im chinesischen Kino vor 1997 beschrieben wurde (Mennel 2008 S. 88), die am nächsten an der Realität anlehnte. Im Jahre 1997 wurde Hongkong Verwaltungszone Chinas, und schon Jahre davor verbreiteten sich die Befürchtungen, Hongkong würde seine Identität durch die Machtübergabe verlieren. Ann Hui hat in vielen ihrer Filme das Thema „Gedächtnis“ thematisiert. Akzeptiert man die Interpretation von Patricia Brett Erens (Erens 2000, S 189 f), kann die Darstellung des Gedächtnisverlustes als Analogie zur Angst der Bevölkerung, die Identität Hongkongs zu verlieren, gedeutet werden. In dieser Sichtweise nimmt das Symbol der Tauben eine besondere Rolle ein: Lin fütterte regelmäßig eine Gruppe von Tauben, die analog zu seinen Erinnerungen im Verlauf des Films verschwinden. Der Vogel gilt in vielen Kulturen als Symbol für Freiheit, so z. B. in alten christlichen und babylonischen Kulturen. Spätestens seit Picassos Lithografie der Friedenstaube für den Weltfriedenskongress 1949 erhielt sie auch wieder Einzug in die moderne Ikonografie. Versteht man den dementen Schwiegervater als Symbol für den Verfall von Erinnerung und Identität, scheint nun klar, wieso die Tauben (und somit die symbolische Freiheit) in dem Moment zurückkehren, als der „Vergessende“ verstirbt. Aus dieser Perspektive kann Sommerschnee auch als ein Plädoyer für den Erhalt der Hongkonger Identität und als Warnung vor der drohenden Machtübernahme Chinas gesehen werden. Ein Umstand, der akzentuiert, wieso Hui als politische und allegorische Filmemacherin bekannt ist.
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Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Die Medizin spielt in Sommerschnee eine marginale und nicht gerade schmeichelhaft inszenierte Rolle. Die wenigen Momente, in denen Ärzte oder Pflegeinstitutionen in Szene gesetzt sind, erscheinen kühl oder gar unmenschlich. Dies bezieht sich, soweit beurteilbar, auf die moderne Medizin. Die vom westlichen Zuschauer vielleicht erwartete traditionelle chinesische Medizin** wird nicht thematisiert und ein Vergleich der Präsentation von Tradition und Moderne orientalischer und okzidentalischer Medizin scheint in diesem Fall wenig zielführend. Doch bevor die Darstellung der Medizin genauer betrachtet wird, folgt ein kurzer Einblick über die Epidemiologie der Demenz in China bzw. Hongkong. **Traditionelle chinesische Medizin
Die traditionelle chinesische Medizin (TCM) ist eine mehr als 2000 Jahre alte, heilkundliche Praxis, die sich besonders in Asien bis in die Gegenwart großer Beliebtheit erfreut. Grundsäulen der TCM ist das dem Daoismus entliehene „Qi“, die fließende Lebenskraft, in der die gegensätzlichen, sich aber ergänzenden Energien Yin und Yang walten. Ziele der TCM ist es, das Yin und das Yang in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen. Die wichtigsten Methoden zur Verwirklichung dieses Vorhabens sind die häufig kräuterbasierte chinesische Arzneimitteltherapie, die Akupunktur, die Massagetechnik Tuina, die chinesische Diätetik und Bewegungstherapien wie Qigong oder Taiji Quan. Die wissenschaftliche Evidenz dieser Verfahren gilt als schwach und die Arzneimitteltherapie steht z. B. wegen illegalen Wildtierhandels in harscher Kritik. Anwendungen wie die Akupunktur genießen dennoch auch in westlichen Ländern große Beliebtheit und gehören mittlerweile zum festen medizinischen Repertoire.
Demenz im fernen China – Zahlen, Fakten und Kontext China ist mit knapp 10 Mio. Erkrankten im Jahre 2017 der Spitzenreiter im internationalen Ländervergleich, was per se schon ein Problem darstellt. Doch bedenkt man die sowohl bei der Bevölkerung als auch bei Medizinern (!) mangelnde Kenntnis der Erkrankung bzw. Versorgung der Betroffenen, wundert es wenig, dass China kaum Strategien gegen die immensen Kosten hat, die durch die Demenz für die Gesellschaft verursacht werden (Cheng et al. 2017). Dies sind Umstände, die sich in den ländlichen Regionen noch dramatischer auswirken (Jia et al. 2019). Die Risikofaktoren – familiäre Disposition, weibliches Geschlecht und hohes Alter – decken sich mit denen anderer Länder (Jia et al. 2020). Doch wie wird dieses dringende nationale Problem in der Gesellschaft gesehen? Hierzu gibt es leider keine belastbaren Daten. Will man aber Erhebungen an asiatischstämmigen
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Nordamerikanern als repräsentativ erachten, scheint die asiatische Kultur die Erkrankung eines Angehörigen primär mit Scham aufzunehmen (Jang et al. 2018).
Von fehlender Empathie und dem Grauen des Pflegeheims Wie bereits erwähnt, sind die wenigen Momente, in denen Ärzte in Sommerschnee erscheinen, von bedrückender Empathielosigkeit und empörender Kälte geprägt. Schon als Lins Ehefrau im Krankenhaus verstirbt, zeigt der Arzt wenig Verständnis für die Gefühlsausbrüche, die May aufgrund der Hiobsbotschaft ereilen: cc
You sound like a squealing pig.
kommentiert ein Mediziner herablassend. Als später die Diagnose anhand eines Fragenkatalogs gestellt wird – alles in allem sehr authentisch inszeniert – scheint der Arzt die erschütternde Diagnose zu bagatellisieren: cc
… look after him, he won’t deteriorate fast. He will have a long life. There is no cure.
„Kein rascher geistiger Verfall“ wird anhand eines kurzen Eindrucks prognostiziert und das Problem postwendend ohne Rat oder Hilfe an die Familie zurückgegeben. Wenn diese Szenen der Realität entlehnt sind, liegt es auf der Hand, wieso China ein ungelöstes Problem mit der Behandlung und Versorgung demenzkranker Menschen hat. Diese Darbietung stümperhafter Patientenbehandlung wird noch übertroffen, wie uns die Darstellung der Pflegeinstitutionen aufzeigt. Die Tagespflege wirkt kühl, distanziert und wenig an den Menschen interessiert. Prinzipiell zu bewältigende Probleme führen zum sofortigen Rauswurf und weitere Lösungsvorschläge oder Hilfestellungen werden nicht angeboten. Das Vollzeitpflegeheim setzt dem Ganzen die Krone auf: Einem Horrorkabinett gleich, erscheinen die Kranken wie „Insassen“, die Erinnerungen an die Gräuel der Anstaltspsychatrie aufkommen lassen. Die körperliche Misshandlung scheint kaum für Empörung zu sorgen, das Leugnen dieser ist dafür erschreckend routiniert. Will man eine Quintessenz der Medizininszenierung herausarbeiten, fällt diese katastrophal aus: Der Besuch beim Arzt bzw. im Krankenhaus bringt keinen Mehrwert – höchstens Hohn, Erniedrigung und Zurückweisung. Wenn man das Pech hat, auf ein Pflegeheim angewiesen zu sein, sind brutale Misshandlungen ein zu erwartendes Übel – von Hilfe keine Spur. Die Last bleibt bei der Familie – bei May – hängen. Auf Unterstützung braucht sie vom Gesundheitssystem nicht zu hoffen – das Urteil: überflüssig, zu vermeiden und bösartig.
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Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Sommerschnee war ein künstlerisches wie finanzielles Comeback Ann Huis, die zuvor kurzzeitig dem Kinofilm zugunsten von TV-Produktionen den Rücken gekehrt hatte. Doch fernab des Erfolgs bei Kritik und an den Kinokassen bietet das Werk einen eindringlichen Einblick in das Leben von chinesischen Familien, die mit der Versorgung Demenzkranker fertig werden müssen. Dieser Einblick in eine entfernte Kultur und deren Umgang mit einer der dringlichsten gesundheitlichen Probleme unserer Zeit rundet die Regisseurin mit einem Panorama an soziopolitischen Kommentaren ab, die zum Teil in scharfe wie mutige Kritik münden. Allegorisch arbeitet sie eine der Gesellschaft inhärente Angst vor Identitätsverlust auf und bettet so eine subtile Kritik an dem chinesischen Machtbegehren gegenüber Hongkong in den Plot ein – und nutzt dabei das pathologische Vergessen geschickt als Metapher. Das Gesundheitssystem wird auf das Schärfste angeprangert; seien es die handlungsunwilligen und empathielosen Ärzte oder die unmenschlichen Bedingungen in Pflegeheimen. Ebenfalls entwirft Hui ein Bild der modernen Frau, das keinen Stereotypen, Vorbildern oder Rollenschemata mehr entspricht. May ist stark, emotional, hält die Familie zusammen, bewältigt Alltag und Haushalt und ist dennoch berufstätig, erfolgreich und selbstständig. Eine Kritik an unipolaren Rollenbildern also, sowohl an dem Traditionellen als auch dem forciert Fortschrittlichen – und wenn man so will, an Rollenschemata im Allgemeinen. Summa summarum besticht Sommerschnee mit einem Gerne-Mix aus Komödie und Tragödie, der es schafft, weder zu verharmlosen noch zu entwürdigen. Am Ende entsteht durch diesen Kniff ein Kunstwerk der Leichtigkeit – all dem Ernst dieser Themen zum Trotz –, das die Zuschauer auffordert, das Leben zu nehmen, wie es kommt. Eine Leichtigkeit, die das Publikum spürt, wenn es den Kinosaal verlässt. Große Filmkunst aus Hongkong, die nicht vergessen werden sollte!
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Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Beruf, Berufung, Leidenschaft und eine Mission – die Suche nach Ikigai im Prozess des Vergessens Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Literatur
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S. Selamet (*) Wesel, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_12
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Filmplakat Ashita no kioku. (© TA Entertainment. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Vorspann Was ist der Sinn des Lebens? Eine Frage, welche die Menschheit seit der Antike beschäftigt und auf die wir bis dato keinerlei universelle Antwort liefern können. Zur Klärung dieser Frage hat sich innerhalb der japanischen Gesellschaft der Begriff des Ikigai (frei übersetzt: Lebensziel) etabliert. Ikigai beinhaltet zwei verschiedene Dimensionen: Zum einen Ikigai taishō, worunter die individuellen Lebensumstände, Interessen und Eigenschaften fallen, zum anderen Ikigai ken, welches als ein emotionaler Zustand der inneren Zufriedenheit und Lebensfreude zu verstehen ist (Mathews und Izquierdo 2008). Obwohl die Ursprünge dieses Begriffs bis in die Nanboku-chō-Zeit (datiert auf 1336–1392) reichen, verbrachte es erst der berühmte japanische Schriftsteller Sōseki Natsume mit seinem Werk Der Wanderer (Originaltitel: Kōjin, 1912) das Konzept des Ikigai der breiten Masse geläufig zu machen (Mathews 1996). Knapp 100 Jahre später greift der japanische Autor Hiroshi Ogiwara das Ikigai-Konzept in seinem Roman Memories of Tomorrow (2004, Originaltitel: Ashita no Kioku) auf und
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setzt ihm mit der Demenz einen destruierenden Antagonisten zur Seite. Unter der Regie von Tsutsumi Yukihiko wagte sich 2006 das Kino an die Adaption des Werks. In Kontrast zu anderen japanischen Demenzfilmen – wie beispielsweise Twilight Years (Orginaltitel: Kôkotsu no hito) – schafft es der Regisseur das Publikum emotional zu fangen und das Leid des Protagonisten miterleben zu lassen. Das Werk brilliert dabei insbesondere in der Vermischung von Realität und Wahn, zwingt so den Zuschauer sich aktiv mit den Ereignissen zu beschäftigen und erschafft durch seine besondere visuelle Inszenierung eine emotionale Achterbahnfahrt.
Ken Watanabe und das Stanislawski-System In der westlichen Welt verbindet man mit Hauptdarsteller Ken Watanabe am ehesten heroische Rollen, wie die des Samurai Moritsugu Katsumoto (The Last Samurai, 2003) oder des eleganten Direktors in Memoirs of a Geisha (2005). Daher mag es zunächst befremdlich wirken, ihn in der Rolle eines einfachen Mannes zu sehen, der sich seinem gnadenlosen Schicksal ausgeliefert sieht. Diesen verkörpert Watanabe in Memories of Tomorrow – in dem er ebenfalls als leitender Produzent mitwirkte – überzeugend. Seine Zielsetzung ist gradlinig und klar: Er möchte das Publikum bewegen, aufrütteln und aufklären. Watanabe greift dabei auf persönliche Erfahrungen sowie Rückschläge zurück und füllt seine Rolle auf diese Weise mit Leben. In seiner Autobiografie „Dare = Who am I?“ (Tōkyō, Bukkumansha, 2006) beschreibt der Schauspieler eindrucksvoll seinen Kampf mit einer Krebsdiagnose, wie er sich anschließend über eine Bluttransfusion mit Hepatitis C infizierte und den prägenden Einfluss dieser Schicksalsschläge auf seine Schauspielkunst. Für die Figur in Memories of Tomorrow nutzt Watanabe das sogenannte „Stanislawski- System“* und kreiert so eine Harmonie aus Fiktion und eigenen Erfahrungen. Mit dieser Symbiose schafft das Werk es, gesellschaftskritische Themen in Szene zu setzen, Denkanreize zu geben und fundamentale Probleme der Aufklärung in Bezug auf die Demenz aufzuzeigen. *Das Stanislawski-System
Das Stanislawski-System beruht auf einer zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandenen theaterpädagogischen Theorie des russischen Regisseurs und Schauspiellehrers Konstantin Sergejewitsch Stanislawski. Die Essenz dahinter ist eine Vereinigung des Schauspielers mit seiner Rolle durch Nutzung persönlicher Erfahrungen und Emotionen, wodurch ein lebendiges wie auch natürliches Schauspiel geschaffen werden soll. Hierfür ist eine komplexe und zeitintensive Auseinandersetzung des Schauspielers mit seiner Rolle als auch die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion ausschlaggebend. Diese Methode gilt als Vorläufer des nach Lee Strasberg entwickelten „Method Acting“, das Schauspielgrößen wie Marlon Brando, Daniel Day-Lewis oder Robert De Niro in Hollywood kultivierten.
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Film ab! Die Handlung beginnt im Herbst des Jahres 2010. Wir sehen einen apathischen und hilflosen Herrn im Rollstuhl, ihm gegenüber Bilder aus seiner Vergangenheit, in der er glücklich und aktiv im Leben stand. Szenenwechsel: Wir springen in den Frühling des Jahres 2004. Masayuki Saeki (Ken Watanabe) geht mit seinen 49 Jahren einer aufstrebenden Karriere nach und bekleidet eine Führungsposition in einem Werbeunternehmen. Er verkörpert mit seinem autoritären Führungsstil das Idealbild des tugendhaften und hart arbeitenden Japaners, der von seinen Kollegen wie Auftraggebern respektiert und geachtet wird. Peu à peu fängt dieses Image an zu bröckeln und Masayukis Welt wird auf den Kopf gestellt.
Die ersten Anzeichen Masayuki steht kurz davor, einen renommierten Werbedeal an Land zu ziehen, jedoch entfallen ihm zunehmend Namen wichtiger Werbepartner, er vergisst Meetings und leidet immer wieder unter Kopfschmerzen, Seh- sowie Konzentrationsstörungen. Auch im Alltag kommt der Geschäftsmann zunehmend ins Straucheln: Er zeigt eine Wesensveränderung, ihn quälen Wortfindungsstörungen und situative Desorientierung. Durch gekonnte Point-of-View-Shots erlebt der Zuschauer Masayukis tragischen Wandel hautnah voranschreiten. Seinen Höhenpunkt findet dieser in einem Fauxpas während eines Essens mit seiner schwangeren Tochter Rie (Kazue Fukiishi), die er entgegen jeder Norm der japanischen Gesellschaft plump bloßstellt. Die initialen Symptome werden von ihm zunächst nicht ernst genommen und heruntergespielt. Auch seine liebevolle Ehefrau Emiko (Kanako Higuchi) schiebt das Verhalten ihres Mannes zunächst auf beruflichen Stress. Einer Verzweiflungstat gleichend stürzt sich Masayuki mehr und mehr in seine Arbeit. Diese Kanalisierung fruchtet nicht, da seine zunehmende Vergesslichkeit keinen geregelten Arbeitsprozess mehr erlaubt – selbst Gesichter langjähriger Mitarbeiter vergisst er. Fatalerweise greift er daher vermehrt zum Alkohol und versucht auf diese Weise dem Alltag zu entfliehen. Erst nachdem Masayuki täglich mit identischen Einkäufen nach Hause kommt, kann Emiko nicht mehr abstreiten, dass etwas mit ihrem Mann nicht stimmt – sie bewegt ihn zu einem Arztbesuch. Durch Literaturrecherchen vermuten beide zunächst eine depressive Episode als Auslöser des kognitiven Abbauprozesses.
Depression? Schnell werden die beiden an den Neurologen Takehiro Yoshida (Mitsuhiro Oikawa) verwiesen. Dieser führt einen einfachen kognitiven Test durch, um Masayukis Orientierungs-
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und Gedächtnisfähigkeiten zu überprüfen. Dabei bröckelt die von Masayuki aufgebaute Fassade der Normalität immer mehr und bricht schließlich zusammen. Er schafft es kaum, ohne Hilfestellungen auf die Fragen einzugehen, reagiert auf eigene Fehler gereizt und aggressiv – er fühlt sich zum Narren gehalten und ist gänzlich überfordert mit der Situation. Hierzu entwirft der Regisseur eine düstere Szenerie, die musikalisch durch tieftönende Blasinstrumente intensiviert wird. Bevor Masayuki fluchtartig das Büro des Arztes verlässt, empfiehlt dieser eine MRT- Untersuchung. Ein erneutes Treffen mit dem Mediziner enthüllt die Ergebnisse, Emiko spürt die zunehmend angespannte Situation und fragt: cc
Is it…serious ? Is it depression?
Yoshida verneint dies und unterrichtet beide über Masayukis Verdachtsdiagnose: Er leide höchstwahrscheinlich an einer frühen Form der Alzheimer-Demenz. Nach einer längeren Pause unterbricht Masayuki ungläubig die Stille: cc
Ridiculous! It’s an old person’s disease.
Doch die Testergebnisse bestätigen die fatale Diagnose. Es folgt ein weiterer Wutausbruch des Erkrankten, der lauthals die Qualifikation des Arztes in Frage stellt und auf das Dach des Krankenhauses flieht – vermutlich um Selbstmord zu begehen. Bevor die Situation eskaliert, gelingt es Emiko und Yoshida ihn zu beruhigen. Dabei erfährt man, dass Yoshidas Vater ebenfalls an Alzheimer erkrankt war und der Arzt verspricht, seinem Patienten stets mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
Mit aller Kraft funktionieren! Mit der Unterstützung seiner Ehefrau nimmt Masayuki den aussichtslosen Kampf gegen die Erkrankung auf. Er beginnt ein Tagebuch zu führen und besucht gemeinsam mit Emiko einen Töpferkurs, wodurch Erinnerungen an die gemeinsame Jugend geweckt werden. Beruflich geht es weiter bergab. Er wandert desorientiert im Bahnhofsbezirk von Shibuya umher (Abb. 12.1) und ist auf Hilfe seiner Mitarbeiterin Ikuno angewiesen, die ihn übers Telefon durch den Stadtbezirk leitet. Es ist so weit: Er kann seine Erkrankung nicht länger verheimlichen, sodass ihm von seinem Vorgesetzten nahegelegt wird zurückzutreten. Masayuki lehnt dies zunächst ab, wird daraufhin jedoch versetzt und degradiert. Auch sein ehemaliger Mitarbeiter Sonoda wendet sich gegen ihn und nach 26 Jahren reicht Masayuki seine Kündigung ein. Emiko bemüht sich daraufhin eine Arbeit zu finden und bewältigt im Alleingang den Alltag des Paares. Die Zukunft erscheint düster, doch in den Worten eines ehemaligen Klienten findet Masayuki neue Kraft:
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Abb. 12.1 Masayuki ziellos im Getümmel von Shibuya. (© TA Entertainment. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
cc
Even if you’re ill, you can still function. You’re not going to be in a hospital bed. Positive thinking!
Heiwa no Aki (Herbst des Friedens) Die Zeit schreitet weiter voran und so auch die Alzheimer-Erkrankung von Masayuki. Es folgen prägende Ereignisse wie die Hochzeit seiner Tochter Rie, die Geburt seiner Enkelin Mebuki sowie ihr erster Geburtstag. In diesen Momenten scheint Masayuki wieder zu sich zu finden und kann seinen Emotionen geordnet Ausdruck verleihen. Im Alltag wird er hingegen immer eingeschränkter. Die gesamte Wohnung ist mit Gedächtnisstützen und Zetteln beklebt, die Emiko für ihren Mann angefertigt hat, während sie sich selbst beruflich und privat vollkommen für ihren Mann aufopfert. Eine Freundin legt ihr eine Heimunterbringung nahe, was von Emiko vehement abgelehnt wird. Die Symptome werden zunehmend belastender für das Paar, als er immer öfter in Zustände der Paranoia und des Wahns verfällt. Als er Pflegeheimunterlagen findet, kommt es zum Streit, wobei Masayuki fatalerweise handgreiflich wird. Die Gewalt wird nur vage inszeniert und stellt den dramaturgischen Abschluss des Zusammenlebens dar: Nach dieser Eruption physischer Gewalt besucht Masayuki das Asunaro-Pflegeheim und entschließt dort einzuziehen. Auf dem Rückweg verirrt er sich in einem Wald und trifft seinen alten Lehrmeister, der ebenfalls an Demenz zu leiden scheint. Im Kontrast zu unserem Protagonisten lebt dieser einsam und zurückgezogen in seiner eigenen Welt, da er sich in den Pflegeeinrichtungen seiner Freiheit beraubt fühlt. Am nächsten Morgen findet Emiko nach langer Suche ihren Mann im Wald. Mittlerweile ist das eingetroffen, wovor sich Emiko stets gefürchtet hat: Er kann sich nicht mehr an seine Frau erinnern. Dennoch sind beide untrennbar verbunden, wie eine bedeutungsschwere Szene beim Verlassen des Waldes symbolisiert: Die Panoramaaufnahme zeigt, wie das Paar eine Brücke im Wald überquert; zunächst weit separiert voneinander, kommen beide am Ende des langen Wegs gemeinsam am Ziel an – eine lyrische Metapher für den steinigen Weg der Paarerfahrung bei Demenz.
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Der Film knüpft zum Ende zirkulär an die Anfangsszene im Rollstuhl an: Emiko und ihr Mann schauen sich gemeinsam Bilder aus ihrem Leben an – auf dem Tisch der Trinkbecher, den Masayuki einst als Symbol ihrer Liebe für seine Frau getöpfert hat.
eruf, Berufung, Leidenschaft und eine Mission – die Suche nach B Ikigai im Prozess des Vergessens Das Streben nach Ikigai zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Zunächst scheint es, dass Masayuki Erfüllung in seinem Beruf gefunden hat. Er als Paradebeispiel des hart arbeitenden Japaners hat für seinen beruflichen Aufstieg viele Opfer gebracht, ja selbst seine Familie vernachlässigt. Der dadurch entstandene Bruch mit seiner Tochter stellt wohl die folgenschwerste Konsequenz seiner unnachgiebigen Arbeitsmoral dar. Wie Masayuki suchen viele Japaner ihre Berufung und ihren Lebenssinn in ihrem Job. Bereits unter Kaiser Hirohito (1901–1989) wurde diese Denkweise gefördert und aus dem Begriff Ikigai wurde Shinigai (frei übersetzt: wofür es sich zu sterben lohnt) (Lichtenberg 2020). Die strenge Arbeitsmoral der Japaner reicht so weit, dass sich der Begriff Karōshi (übersetzt: Tod durch Überarbeiten) innerhalb der Gesellschaft etabliert hat. Einen Gegenstrom zu diesem leistungsorientierten Prinzip stellen die Interpretationen des Psychiaters Tsukasa Kobayashi dar. Er vertrat die Ansicht, dass man in der Arbeitswelt stets ersetzbar sei und beim Wegfall der Arbeit (oder materiellen Dingen), die man als eigenes Ikigai empfand, eine große Identitätskrise unausweichlich sei (Kobayashi 1989). Dieses Schicksal ereilte auch Masayaki. Zunächst wurde er degradiert und auf eine Ebene mit skandalträchtig-strafversetzten Kollegen gestellt, wodurch sein innerbetriebliches Image weiter litt, zuletzt wurde er ausgerechnet durch seinen ehemaligen Schüler Sonoda ersetzt. Wie aus der Poetik (ποιητική, um 335 v. Chr) des Aristoteles zu entnehmen, erleben wir den steilen Fall des erfolgreichen Arbeiters Masaysuki, der nach seiner Kündigung an seinem Tiefpunkt angekommen ist – der Regisseur nutzt hier die klassische dramaturgische „Fallhöhe“. Im Verlauf werden seine Symptome beängstigender: In einer Szene verlässt er den Bürokomplex, während sich zunehmend Wahn und Realität vermischen, als eine Gruppe identischer Menschen ihm entgegen schreitet und sich ihm „Flashbacks“ aus der Vergangenheit aufdrängen – hinzu kommt ein zunehmender Eifersuchtswahn und ein Regress ins Infantile. Masayuki plagen Schuldgefühle und Reue gegenüber seiner Familie, da er einsehen muss, dass die Opfer, die er erbracht hat, nun alle ohne Bedeutung sind. Für Masayuki steht nun die Familie im Vordergrund, sie ist sein neues Ikigai. Während einer emotionalen Rede am Tag der Hochzeit seiner Tochter oder beim gemeinsamen Spielen mit seiner Enkelin scheint die Demenz nebensächlich. Ohne eine Verharmlosung der Demenz und ihrer Folgen zu erzeugen, schafft dieser Shift eine Palliation der Seele beim Protagonisten – vielleicht auch bei manchem Zuschauer – herbeizuführen (Abb. 12.2).
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Abb. 12.2 Ohne Gedächtnis und ohne Lebenssinn – Masayuki am Tiefpunkt. (© TA Entertainment. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Zwischen Tradition und Moderne Der Konflikt zwischen Tradition und Moderne nimmt eine zentrale Rolle im Werk ein. Auf der einen Seite haben wir traditionsbewusste Figuren wie Masayuki oder Emiko, ihnen gegenüber stehen moderne Charaktere wie Rie oder der Neurologe Yoshida. Eine der wichtigsten Sequenzen zu diesem Konflikt stellt die schon erwähnte Hochzeitsszene von Rie dar. Masayuki hat stets versucht, die Erkrankung bis zur Hochzeit seiner Tochter zu verheimlichen, doch er verliert eine von ihm vorbereitete Rede und muss improvisieren. Die Tradition der väterlichen Ansprache in Gefahr, gelingt ihm mit Unterstützung seiner Frau eine emotionale Rede, die wie eine Spannungsentladung wirkt und die Tradition wahrt. In Memories of Tomorrow wird das Gebilde der Tradition als Kompensationsmechanismus für den Verlust der geistigen Funktion genutzt – als Camouflage. Wie eine Rückbesinnung auf die Urinstinkte wird sie immer dann in den Vordergrund gestellt, wenn es gilt, die Fassade aufrechtzuerhalten oder Rückschläge zu kaschieren. Masayukis dementer Lehrmeister bestätigt dieses in einem eindrucksvollen Monolog im Wald: Während er und Masayuki am Lagerfeuer verweilen, gibt er seinem ehemaligen Schüler die letzte Lehrstunde: cc
People in town say I’m senile, that I should be put in a home. Im not senile, that’s for me to decide, we are alive, that’s all that matters.
Abschließend singt er inbrünstig das Lied Tokyo Rhapsody (東京ラプソディー) von Ichirō Fujiyama aus dem Jahr 1936. Das Lied dient dabei als Laudatio auf das „glorreiche“ Vorkriegsjapan – einer unbeschwerten Zeit für Traditionalisten. Ein visuelles Gegenstück zu diesem Traditionalismus bilden die idyllisch, gar paradiesisch inszenierten Pflegeheime, die eine Alternative zur – traditionell erwarteten – Aufopferungsbereitschaft in der familiären Pflege anbietet und diese damit kritisch hinterfragt.
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Yamato Nadeshiko? – Die Rolle der Frau in Memories of Tomorrow Der Begriff der „Yamato Nadeshiko“ beschreibt das Idealbild der Frau innerhalb der japanischen Gesellschaft. Neben bestimmten Eigenschaften wie Intelligenz, Willensstärke und Bescheidenheit, zeichnet eine wahre Yamato Nadeshiko die bedingungslose Aufopferung für ihre Familie aus (Garcia 2021). Eine derartige Rolle nimmt Emiko wie maßgeschneidert ein. Der Zuschauer bekommt schon früh vorgeführt, dass sie stets der Dreh- und Angelpunkt der Familie war. Wegen der beruflichen Auslastung ihres Mannes hat sie die gemeinsame Tochter im Alleingang großgezogen, ohne ihrem Ehemann vorwurfsvoll zu begegnen. Auch nach der Diagnose ihres Mannes ist sie diejenige, die einen klaren Kopf bewahrt und ihn leitet, ohne dabei seinen Stolz oder seine Autonomie zu verletzten. Ihre eigenen Bedürfnisse stellt sie dabei stets in den Hintergrund. So bereitet sie ihm Zettel als Gedächtnisstützen vor, kümmert sich um den Haushalt und beginnt eine Arbeit bei einer guten Freundin, um den Verdienstausfall ihres Mannes zu kompensieren. Auf die Vorwürfe ihres Mannes, dass sie eine Affäre habe und ihn vernachlässige, begegnet sie mit liebevollen Worten. Als Kontrast zu ihr stellt sich die Freundin dar: Konträr zu Emiko entschied sie sich für ein Leben als ambitionierte und unabhängige Karrierefrau. Zunächst belächelt sie Emikos Wunsch zu arbeiten und unterstellt, dies aus bloßer Langeweile zu wollen. Nachdem sie jedoch den Ernst der Lage realisiert, bietet sie Emiko einen Job als Verkäuferin an. Die beiden Ideale und Frauenrollen prallen aufeinander, als die Freundin vorschlägt, über eine Heimunterbringung Masayukis nachzudenken. Emiko, die uns als herzlicher und liebevoller Charakter vorgestellt wurde, zeigt in dieser Szene eine untypische Kälte und Distanz. Sie als Verfechterin der klassischen Frauenrolle lehnt den Gedanken ab, nimmt aber zur Wahrung der Etikette die Unterlagen mit. Selbst nachdem Masayuki übergriffig wird, kümmert sie sich um ihren Mann, anstatt ihre blutende Wunde zu versorgen. Nur in wenigen Momenten kann sie ihrem unterdrückten Frust und ihrer Wut freien Lauf lassen. Sie ist die Figur, die am meisten unter der Erkrankung ihres Mannes leidet.
Der Arzt: hilfloser Zuschauer oder tragischer Held? Die sachlich-belehrende Figur des Mediziners wird vom Neurologen Yoshida verkörpert. Während der Testung sowie der Diagnoseverkündung werden Masayuki und Emiko von einem emotionalen Chaos überwältigt, wohingegen der Arzt in der Rolle des emotional neutralen, gar unberührten „Lehrers“, der mit Distanz und Faktenwissen aufwartet, eingeführt wird. Zunächst wirkt es, als fehle von Seiten des Arztes jegliche Empathie, er scheint die Demenz gar zu verharmlosen – auf emotionaler Ebene wird das Ehepaar so völlig alleingelassen. Sie scheinen den fachlichen Ausführungen des Arztes kaum folgen zu können, wodurch Konfliktsituationen entstehen, die zu den Wutausbrüchen Masayukis führen.
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Durch die holprige Arzt-Patienten-Beziehung bleiben Yoshidas Worte ungehört, bis er sich seinem Patienten auf emotionaler Ebene öffnet und ihm mit einem herzerweichenden Monolog auf Augenhöhe begegnet. Die pathetische Rede lässt ihn schlagartig die Rolle eines aufopferungsvollen „Arzt-Heros“ einnehmen, der sich auf Grundlage der Demenzerkrankung des eigenen Vaters dem Kampf gegen diese verschrieben hat. Nach dieser Rede fügt sich Masayuki den Ratschlägen des in neuem Glanz erstrahlenden Mediziners: Er vermeidet Alkohol, nimmt die vom Arzt verschriebenen schulmedizinischen Medikamente und fasst neuen Mut. Mit Voranschreiten der Alzheimer-Demenz wird die Arztrolle jedoch immer irrelevanter, verschwindet sogar und spiegelt auf diese Weise die Hilflosigkeit der modernen Medizin hinsichtlich neurodegenerativer Erkrankungen wider. Alternativ werden phytotherapeutische Maßnahmen ausprobiert – wie Ginkgo oder Acerola – die keinerlei Erfolg mit sich bringen.
Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Die Rolle von Medizin und Pflege in Memories of Tomorrow ist untergeordneter Natur. Sie wird hauptsächlich durch Yoshida – einem Vertreter der Schulmedizin – repräsentiert, der eine aufklärende Rolle innehat, dennoch für einen Moment lang erfolgreich Empathie, Patientennähe und eine mutmachende Wirkung ausübt. Die Symptome der Demenz sind allesamt realitätsnah inszeniert, wobei kurze Szenen des nahezu vegetativen Endstadiums gezeigt werden – was die meisten Demenzfilme meiden –, jedoch ohne das gesamte Ausmaß dieses Schreckens den Zuschauern zuzumuten. Alternative Ansätze wie die Naturheilkunde oder Life-Style-Änderungen werden nur kurz angeschnitten und schnell wieder verworfen.
Demenz im Land der aufgehenden Sonne Wie viele Länder kämpft auch Japan mit dem demografischen Wandel. Im Jahr 2020 waren etwa 29,2 % der Bevölkerung (ca. 36 Mio.) 65 Jahre oder älter und etwa 3,5 Mio. Demenzkranke leben in Japan (Kasajima et al. 2022). Japan hat auf diesen Wandel reagiert und 2013 den „New Orange Plan“ ausgerufen. Dabei handelt es sich um einen nationalen Maßnahmenkatalog zur Prävention, Schulung und Erforschung der Demenz (Japan Health Policy NOW 2015). Ihr Ziel: Die japanische Gesellschaft und die medizinische Infrastruktur auf die drohende Demenzkrise vorzubereiten. Um die Pflege Demenzkranker zu erleichtern, gibt es eine Reihe weiterer Strategien, die sich bereits weiträumig etabliert haben. So werden Demenzerkrankte z. B. mit QR-Codes versehen, um sie leichter wiederzufinden oder freiwillige Helfer ausgebildet, die bei der Versorgung und Betreuung assistieren (McCurry 2018).
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Memories of Tomorrow greift viele der oben genannten Punkte auf und illustriert so deren Relevanz innerhalb der multimodalen Demenzversorgung. Besonders was ihr Fehlen für die Erkrankten und deren Angehörige bedeuten kann, wird uns im Film eindrücklich vor Augen geführt.
Therapie der Alzheimer-Demenz – Zwischen Tradition und Moderne Medikamentöse Therapieansätze werden im Verlauf der Handlung kaum thematisiert. Neben dem vom Arzt verschriebenen – vermutlich schulmedizinischen – Medikament handelt es sich hauptsächlich um Vertreter aus dem Bereich der Phytotherapie oder der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), welche von Emiko in ihrer Verzweiflung gekauft werden. Es werden unter anderem Acerola, Sesam, Reistee oder Ginkgo als Therapieoptionen erwähnt, ohne merklichen Erfolg. Betrachtet man die Studienlage zur Wirksamkeit dieser Präparate, scheint diese Darstellung realitätskonform (Xie et al. 2022). Viel besser sieht die Datenlage auch für klassische Antidementiva wie Rivastigmin nicht aus, für die bestenfalls eine Verzögerung des Krankheitsprogresses um einige Monate nachweisbar ist (Birks und Grimley 2015). Neue oder anderweitige Therapieansätze werden im Film nicht thematisiert. Zwar wird betont, dass es viele Forschungsansätze gebe, allerdings wird dieser Gedankengang nicht vertieft. Inzwischen werden im asiatischen Raum vielversprechende Optionen getestet, wie das in China 2019 zugelassene Oligomannat (Xiao et al. 2021).
Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Memories of Tomorrow lässt den Zuschauer auf eindrucksvolle Art das Leid eines Demenzkranken und seinen Kampf gegen sein schwindendes Gedächtnis miterleben. Dabei kommt dem Film eine aufklärende und warnende Funktion zu, die dem Zuschauer mit einem Fingerzeig die eigene Vergänglichkeit vor Augen führt. Was den Film besonders auszeichnet, ist die (punktuelle) Darstellung demenzieller Symptome aus der Perspektive des Erkrankten, illustriert mit filmischen Mitteln, wie z. B. die Nutzung von optischen Verzerrungen zur Inszenierung von Sehstörungen. Dadurch schafft es Ken Watanabe, ähnlich wie in The Father (vgl. Kap. 6) – wenn auch deutlich sporadischer – dem Publikum die Wahrnehmung eines Demenzkranken erlebbar zu machen. Regisseur Tsutsumi spielt mit den Elementen von Vergangenheit, Tradition und Moderne, womit eine breite Masse der japanischen Gesellschaft adressiert wird. Der Umgang mit Demenzkranken in der japanischen Arbeitskultur sowie das falsche Leitbild der Selbstfindung (der „Workaholic“) sind zentrale Punkte, die das Werk gegenüber anderen japanischen Dramen auszeichnet.
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Das Zusammenspiel aus eindrucksvollen Bildkompositionen mit eindringlicher musikalischer Untermalung lassen Emotionen statt Worte sprechen. Wie im fortgeschrittenen Stadium der Demenz benötigt das Lichtspiel in einschneidenden Momenten keine Sprache, um Emotionen zu vermitteln. Will man ein abschließendes Urteil fällen, ermöglicht Memories of Tomorrow dem Zuschauer wertvolle Einblicke in die japanischen Gesellschaft und lässt ihn in diesem Kontext hautnah die Schrecken der Demenz erleben.
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Die Büchse der Pandora und die Last des Vergessens
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Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Pandora’s Box: Tradition und der Kontrast zum türkischen Mainstreamfilm Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Abspann, oder: Was nicht vergessen werden sollte Literatur
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Filmplakat Pandora’nin Kutusu. (© Kairos Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Ich erinnere mich nicht. Erinnere dich nicht, vergiss es – so ist es besser.
Möchte man Pandora’s Box (Originaltitel: Pandora’nin Kutusu) in wenigen Worten zusammenfassen, spiegelt obiger Dialog die Quintessenz dieses unorthodoxen türkischen Lichtspiels wieder. Die türkische Regisseurin Yeşim Ustaoğlu, die bereits in den späten 1990er Jahren nationalen Ruhm erlangte, schaffte es mit Pandora’s Box (2008) auch international Aufmerksamkeit zu erregen. Ihr Opus gewann den Preis für den besten Film bei den Filmfestspielen in San Sebastián (Gönül 2016) und wurde von der internationalen Filmkritik wohlwollend aufgenommen. Ustaoğlu setzt damit den Siegeszug aufstrebender türkischen Filmemacherinnen, der mit Größen wie Biket Ilhan (Sokaktaki Adam, 1995) oder Handan Ipekçi (Babam Askerde, 1995) in der Filmgeschichte begann, fort.
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Wie viele türkische Filmschaffende bringt Ustaoğlu Elemente ihrer Heimatregion (Kars sowie des pontischen Gebirges) in die Szenerie des Films ein, wodurch ihr Werk eine pittoreske wie persönliche Note enthält. Auch wenn es zunächst scheint, die Fülle an zwischenmenschlichen Konflikten verdränge das Demenzthema in den Hintergrund des Dramas, meistert Ustaoğlu den Spagat zwischen konfliktinduzierter Tragikomödie und erschütterndem Demenzverfall bravourös.
Die Sprache der Demenz – Tsilla Chelton in der Hauptrolle Was Pandora’s Box von den meisten türkischen Filmen unterscheidet, ist die ungewöhnliche Besetzung der Hauptrolle: Die 89-jährige Französin Tsilla Chelton – das Kern- und Herzstück des Films – gibt die erkrankte Protagonistin. Obwohl es nichttürkischstämmige Schauspielerinnen – wie die Schwedin Eva Bender in der Filmserie Tarkan (Mehmet Aslan, 1969–1973) – schafften, in der türkischen Filmindustrie Fuß zu fassen, blieben diese stets Ausnahmen. Chelton, die gleichzeitig wenige Berührungspunkte mit der türkischen Sprache vorzuweisen hatte, imponiert demnach als eine außergewöhnlich mutige Besetzung. Das Wagnis zahlte sich aus: Dieser Widrigkeiten zum Trotz gelingt der betagten Darstellerin eine höchst überzeugende Darbietung und die „Sprachbarriere“ wird gekonnt durch die Nutzung eines Schwarzmeerdialekts* kaschiert. Dadurch ist selbst der geübte türkische Zuschauer gezwungen, genauer hinzuhören, um die sprachliche Diskrepanz zu detektieren. *Türkische Dialekte
Die türkische Sprache zeichnet sich durch ein Potpourri von Dialekten aus. Zwar gilt der Istanbuler Dialekt heutzutage als der Vertreter des Hochtürkisch, dieser wird jedoch je nach Region durch kleinere Dialekte in den Hintergrund gedrängt. Man unterscheidet zwischen dem Schwarzmeerdialekt, den verschiedenen anatolischen Dialekten sowie dem Dialekt der Ägäis-Region. Dabei spielen die Mundarten für die Identifikation und Tradition eine zentrale Rolle innerhalb der türkischen Gesellschaft. Sie wird mit Stolz nach außen getragen und gilt gesellschaftlich als einer der wichtigsten traditionellen Güter, die es zu erhalten gilt.
Film ab! Der Film beginnt mit lebhaften Szenen eines verträumten Dorfes der Schwarzmeerregion, kontrastiert mit Bildern der Metropole Istanbul. Nesrin (Derya Alabora) erfährt durch einen Anruf, dass ihre Mutter Nusret (Tsilla Chelton) verschwunden ist. Gemeinsam mit ihrer Schwester Güzin (Övül Avkıran) und ihrem Bruder Mehmet (Osman Sonant) macht sie sich auf den Weg in ihr Heimatdorf, um die verschollene Mutter zu suchen.
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Der Schleier lüftet sich – Im Nebel der Konflikte In dichtem Nebel beginnt die Reise der drei Geschwister. Während sich in eindrucksvollen Landschaftsszenen der Dunstschleier langsam lichtet, treten innere wie äußere Konflikte der Geschwister zum Vorschein: Die verheiratete Nesrin kämpft sowohl um ihre dysfunktionale Ehe als auch um die Beziehung zu ihrem rebellischen Sohn, Güzin hat eine von Scham und Eifersucht dominierte Affäre mit einem verheirateten Mann und Mehmet gilt als Taugenichts der Familie, der seine Erfolglosigkeit mit Alkohol und Zigaretten kompensiert. Während der langen Autofahrt müssen die Geschwister mehrere Hindernisse überwinden. So unterbricht ein umgefallener Baum die Weiterfahrt, woraufhin ihnen auch noch das Benzin ausgeht. In diesen Situationen kippt die Stimmung der Geschwister und es treten Konflikte aus der titelgebenden „Büchse der Pandora“ an die Oberfläche. Nach einem besonders aufwühlenden Streit wendet sich Mehmet sogar von seinen Geschwistern ab und verschwindet im Nebel, woraufhin die Schwestern allein weiterreisen.
Erinnerungen an die Vergangenheit und ein neues Leben Im Haus der Mutter angekommen, entdecken die Schwestern Erinnerungsstücke an ihren Vater, der die Familie vor langer Zeit verlassen hat. Im Verlauf stößt Mehmet dazu und es kommt zur Versöhnung. Gemeinsam mit der türkischen Gendarmerie sowie den restlichen Dorfbewohnern macht man sich auf die Suche nach Nusret, die schlussendlich in den Bergen umherirrend aufgefunden wird – sie wird unverzüglich in ein Krankenhaus gebracht. Die Ärzte im Krankenhaus vermuten eine neurologische Erkrankung und verschreiben Medikamente. Daraufhin entschließen sich die Geschwister, ihre Mutter mit nach Istanbul zu nehmen und der ältesten Tochter Nesrin in Obhut zu geben. Das Arrangement wird zur Zerreißprobe für alle Beteiligten: Nusret ist im neuen Umfeld komplett überfordert, kann keinerlei Aufforderungen umsetzen und lässt sich weder waschen noch anderweitig pflegen. Selbst einfache Tätigkeiten wie das Anziehen von Schuhen wird zur unüberwindbaren Hürde. Höhepunkt dieses Trauerspiels bildet eine Szene, in der Nusret unbefangen auf den heimischen Teppich urinieren will. Die Reaktionen der Geschwister sind überraschend und diametral entgegengesetzt: Während Nesrin entsetzt ist, amüsieren sich Mehmet und Güzin über den Verfall der eigenen Mutter und sie brechen in unpassendes Gelächter aus. Adäquate Reaktionen zeigt Nusret erst wieder, als sie ein altes Foto ihres Enkels Murat (Onur Ünsal) sieht. Sie echauffiert sich darüber, dass ihr Enkel sie nicht gemäß türkischer Tradition besucht: Sie erwartet einen Handkuss, ein Zeichen des Respekts. Diese kurzen Momente der Normalität sind leider nicht von Dauer. Murat versucht sich in den Straßen Istanbuls zurechtzufinden, da er aus dem konfliktdurchsetzten Elternhaus entlaufen ist. Als er aber von einem Kleinkriminellen mit einem Messer bedroht und ausgeraubt wird, sucht er Zuflucht bei seinem Onkel Mehmet.
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Die endgültige Diagnose und eine Familie in Scherben Der geistige Verfall Nusrets nimmt im Dickicht der Großstadt rasant zu. In einem unachtsamen Moment entflieht sie der töchterlichen Obhut und spielt ausgelassen mit den Straßenkindern Istanbuls, im nächsten Moment findet sie sich in einem dunklen Aufzug wieder, erschreckt sich vor ihrem eigenen Spiegelbild und schreit lauthals: cc
Holt mich hier raus!
Nach Konsultation eines Neurologen wird schlussendlich die erschütternde Diagnose Alzheimer-Demenz gestellt. Konfrontiert mit den Ausführungen der Ärzte bezüglich des hohen Pflegeaufwands und der intensiver werdenden, emotionalen Ausbrüche der Mutter, entsteht erneut Streit. Streitpunkt: der weitere Verbleib der kranken Mutter. Während Güzin vorschlägt, sie in ein Krankenhaus einzuliefern, ist Nesrin strikt dagegen und der Disput spitzt sich weiter zu, als Nusret ihren Wunsch äußert, wieder in ihr Dorf zurückzukehren. Das Wortgefecht endet, nachdem die Demente Nesrin im Affekt ohrfeigt: Es kommt zum Bruch zwischen den Geschwistern und Güzin übernimmt die Pflege der Mutter. Unterwegs erhält Güzin einen dringenden Anruf von ihrem Geliebten und entschließt sich, die Mutter bei Mehmet abzuliefern. Dort trifft sie nur Murat an, was sie dennoch nicht davon abhält, die Verantwortung für die demente Mutter an den Minderjährigen abzugeben. Murat, der bis dato noch nie das Wort Alzheimer gehört hatte, scheint zunächst überfordert mit der Situation. Dennoch kümmert er sich warmherzig und empathisch um seine Großmutter und schafft es, brenzlige Situationen souverän zu meistern. Tagsüber schlendern sie harmonisch durch Istanbul und kehren am Abend zu Mehmets Wohnung zurück, wo sie auf Nesrin und ihren Mann treffen. Es kommt zum Streit zwischen Murat und seinem Vater, was den Jungen erneut in die Flucht treibt.
Zwischenstation Pflegeheim und der Frieden in den Bergen Die Ereignisse überfordern das Geschwistertrio und es wird der Entschluss gefasst, Nusret in eine Pflegeeinrichtung einzuliefern. Dort wird sie nur von ihrem Enkel besucht, der die Entscheidung zur Heimunterbringung kritisch, ja als fast unmenschlich wahrnimmt. Nachdem er seine Großmutter dort ziel- und glücklos umherwandern sieht, fasst sich Murat ein Herz: Er nimmt seine kranke Oma mit und kehrt ins Dorf zurück. Dort kümmert sich Murat rührend und fürsorglich um seine Großmutter: Er selber blüht förmlich auf, wächst sogar an der ehrenvollen Aufgabe und kümmert sich um den Haushalt wie Wäsche, während Nusrets geistiger Zerfall gnadenlos voranschreitet. Die alte Frau wünscht sich nichts mehr, als „ihre Berge“ wiederzusehen, bevor sie auch diese noch vergesse. Am nächsten Morgen verschwindet Nusret – gefilmt in einer bedeutungsschweren Weitwinkelaufnahme – in die Berge. Eine vielsagende Szene: Vom Moloch Istanbul, über das idyllische Dorf zurück in die unberührte Flora und Fauna der Berge – eine Rückkehr zur Natur.
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Abb. 13.1 Zurück zum Ursprung – Wenn alle Kraft schwindet. (© Kairos Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Murat respektiert ihren Wunsch und schaut ihr wehmütig, unter Tränen, nach. Ihm ist bewusst, dass er seine Großmutter nie wiedersehen wird (Abb. 13.1).
andora’s Box: Tradition und der Kontrast zum P türkischen Mainstreamfilm Pandora’s Box thematisiert eine Reihe von Tabuthemen der türkischen Gesellschaft. Hierzu zunächst ein Rückblick in die türkische Filmgeschichte: Die goldene Ära des türkischen Films erstreckt sich ungefähr von 1950–1990. Diese Epoche wird mit den sogenannten „Yeşilçam-Filmen“, benannt nach der Yeşilçam-Straße in Istanbul, welche lange Zeit als das Herzstück des türkischen Schauspiel und Theaters galt, assoziiert. Die Hauptthematik dieser Filme beruhte stets auf Werten wie Ehrgefühl, Respekt und Heroismus sowie die Wahrung und Propagation des türkischen Traditionalismus (Öz und Özkaracalar 2017). In Pandora’s Box wird auf avantgardistische Weise mit dieser traditionellen Art des türkischen Films gebrochen und der Zuschauer mit Lastern wie Sucht, Ehebruch sowie der Vergänglichkeit des Menschen konfrontiert. In diesem Gefühls- und Konfliktchaos ist die Demenz als Bindeglied zwischen Konfliktentstehung und -auflösung zu interpretieren. Uncharakteristisch für den Demenzfilm wird dieser Konfliktlösung durch die Krankheit ein positiver Aspekt zugesprochen. Nicht nur die familiären Differenzen lösen sich auf, auch der Gegensatz Gesundheit versus Krankheit sowie Abhängigkeit und Autonomie. Es kommt zu einer Symbiose mit der Natur und dem Austreten aus dem Kreislauf des Lebens, hinein in das Nirwana – das Nichts. Somit finden sich in dieser „Auflösung“ zentrale Elemente des Buddhismus und Pantheismus.
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Ungleiche Geschwister und das Tabu Pflegeheim Die drei Geschwister könnten unterschiedlicher kaum sein. Während Nesrin eine autoritär- konservative Persönlichkeit an den Tag legt, sind die anderen Geschwister deutlich liberaler und unbeschwerter inszeniert. Nesrin ist auch diejenige, die sich – entsprechend der gesellschaftlichen Normen und Traditionen – der demenzkranken Mutter annimmt und sie bei sich aufnimmt. Selbst als die Pflege der Mutter immer unzumutbarer wird, will sie nicht von einer häuslichen Versorgung absehen. Dem Vorschlag ihrer Schwester, die Mutter „einliefern“ zu lassen, entgegnet sie schockiert. Nesrin symbolisiert somit das klassische Bild des traditionsbewussten türkischen Kindes, dem ein „Abschieben“ der Mutter in „solch eine Einrichtung“ als Schande erscheint. Schattenseiten ihres Traditionalismus offenbaren sich im Umgang mit ihrem Sohn Murat. Im Kontrollwahn überprüft sie unter anderem seine Chatverläufe und schränkt seine Freiheit übermäßig ein, was den Sohn auf Distanz zwingt. Auch die Ehe zu ihrem Mann ist distanziert und von lähmenden Verlustängsten geprägt – von allen Geschwistern ähnelt Nesrin der kranken Mutter am meisten. Die Beziehung zu Güzin ist die wohl schwierigste unter den Mutter-Kind-Verbindungen: Sie fühlte sich stets vernachlässigt und ungeliebt, wohl einer der Hauptgründe, warum sie eine Liebelei mit einem verheirateten Mann eingeht. Doch auch in der Beziehung zum Geliebten findet sie nicht die Liebe und Anerkennung, die sie braucht. Obwohl sie von ihm mehrmals abgewiesen wird und im Grunde nur auf Abruf zur Verfügung zu stehen hat, zögert sie keine Sekunde, die eigene Mutter bei ihrem Neffen Murat abzugeben, um dem Ruf des Liebhabers zu folgen. Die Affäre endet jedoch schlagartig, da es wiederholt zu heftigen Streitereien kommt. Desillusioniert wandert sie daraufhin – wie die demenzkranke Nusret – ziellos durch die nebeldurchfluteten Straßen Istanbuls. Diese Szenerie spiegelt symbolhaft viele Symptome der Demenz wider, die sich nun sinnbildlich auf die Tochter übertragen lassen. Mehmet wiederum lebt nach seinen eigenen Regeln. In seiner heruntergekommenen Wohnung stapeln sich bereits die leeren Alkoholflaschen und oftmals trifft er als verantwortungslose Figur auf, der vieles gleichgültig scheint. So nimmt er seinen Neffen Murat zwar bei sich auf, informiert dessen Mutter jedoch nicht, obwohl er um ihre Sorge weiß. Auch er spiegelt mit seinem Verhalten viele Symptome der Demenz wider: Sein leichtsinniges, gar kindliches Verhalten, die häufigen emotionalen Ausbrüche, die Neigung, in Konfliktsituationen wegzurennen oder die Tendenz, sich hinter Wutausbrüchen zu verstecken. Nusret sieht das Verhalten ihres Sohnes mehr als kritisch. Als Murat fragt, was aus seinem Großvater geworden ist, antwortet Mehmet: „Er ist in den Bergen gestorben“. Dies wird rasch von Nusret mit harschen Worten revidiert: „Er ist nicht in den Bergen verstorben. Er hat dich verlassen und ist gegangen. Er hat gelebt, wie er es wollte. Genau wie du, nachdem du mir und dem Leben den Rücken gekehrt hast, was macht es noch für einen Unterschied“. Man erlebt Nusret hier in einem ihrer wenigen klaren Momente, die klassischer Weise in Situationen mit starken emotionalen Verbindungen zur Vergangenheit aufflackern.
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Nachdem Nusret in ein Pflegeheim eingeliefert wird, bekommt der Zuschauer ein detailliertes Bild vom Leben der Heimbewohner. Sie werden als völlig hilflos und ängstlich- verwirrt dargestellt, was dem Zuschauer die verheerenden Auswirkungen der Demenz in seiner vollen Brutalität näherbringt. Murat vergleicht die Verhältnisse dort indirekt mit einer Strafanstalt: cc
Wie konnte man sie nur dort einsperren.
Im Heim baut Nusrets geistiger Zustand weiter rapide ab, im Dorf hingegen blühte sie in gewisser Hinsicht wieder auf. Ihr half es, kleinere Arbeiten verrichten zu können. Sie registriert die liebevolle Zuwendung ihres Enkels und bewahrt sogar ihre Autonomie, indem sie ihm ihren letzten Wunsch äußert: cc
Lass mich zu meinen Bergen, bevor ich diese auch vergesse.
Der Verlust der höheren kognitiven Funktionen wird mit einer Rückbesinnung auf die Natur euphemistisch dargestellt – gar einem unerwarteten „Happy End“ gleichend. Gleichzeitig übt die Regisseurin Kritik an der Urbanisierung und idealisiert die Natur, die frei von gesellschaftlichen Normen, Verpflichtungen und Geboten ist. Diese Sehnsucht nach dem Idyllischen, Träumerischen und Unberührten – zentrale Elemente der kunsthistorischen Epoche der Romantik des 19. Jahrhunderts – lässt der Demenz hier sogar eine befreiende Rolle zukommen.
kzeptanz der Demenz und ihre kulturellen Charakteristika in PanA dora’s Box Die Demenz wird von den Protagonisten unterschiedlich aufgefasst und verarbeitet. Während Nesrin sich sorgt und mit der Diagnose überfordert ist, sieht Güzin die Erkrankung als „gerechte Strafe“ für die drakonische Mutter an. Paradoxerweise verspürt sie sogar für einen kurzen Moment Erleichterung: Sie kann sich nun ihrer Mutter ohne Angst emotional öffnen, all den unterdrückten Gefühlen und Konflikten Luft machen, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Diese Erleichterung ist jedoch nur von kurzer Dauer, denn Mitleid und Reue drängen sich schnell in den Vordergrund: cc
Ich habe mich immer gefragt, ob du mich geliebt hast – schau dich jetzt nur an, du bist leer.
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In dieser Szene wandelt sich Güzins initial spöttische Lache in ein Meer von Tränen, als sie realisiert, dass ihre Frage, ob ihre Mutter sie je aufrichtig geliebt habe, unbeantwortet bleiben wird. Mit ihren ungelösten Konflikten und Ängsten alleingelassen ist sie schlussendlich die einzige Figur, um die jener symbolische Nebelschleier verbleibt. Untermalt wird dieses durch ihre eigenen Worte zur Mutter: cc
Jetzt sind du und ich gleich.
Andere Charaktere wie Mehmet zeigen sich unbeeindruckt und teilnahmslos. Nur Murat scheint die Großmutter trotz ihrer Demenz nicht zu reglementieren, sondern zu akzeptieren. Er ist auch der Einzige, der ihr noch ein autonomes und lebenswertes Leben zutraut. Die gemeinsamen Spaziergänge am Bosporus oder das liebevoll-harmonische Verpflegen der Großmutter erwecken gar den Anschein einer Romantisierung der Demenz. Die Figur des Enkels imponiert somit insgesamt als Kontrapunkt zu seiner Mutter und bekommt fast eine therapeutische Wirkung zugeschrieben. Aus kultureller Sicht wird die Demenzerkrankung jedoch als destruktiv inszeniert. Lange Jahre war die Mutter das Oberhaupt der Familie und eine Respektsperson. Doch ihr zunehmender Verfall lässt die Familie orientierungslos wirken. Zwar versucht Nesrin dieser Rolle Herrin zu werden, stößt dabei jedoch immer wieder auf Widerstand und taube Ohren. Sie wird von ihren Geschwistern in keiner Weise ernst genommen und hat bisweilen nicht mal ihre eigene Kernfamilie im Griff, weshalb sie schnell an ihre Grenzen stößt. Demenz zerstört also die Funktionalität und das gesellschaftliche Bild einer Familie und wird so trotz positiver Konnotation als destruktive Kraft in Szene gesetzt – ein höchst ambivalentes Bild der neurodegenerativen Erkrankung (Abb. 13.2). Abb. 13.2 Der Enkel als letzter Anker – Leben und Vergessen Schulter an Schulter. (© Kairos Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Demenz unter dem Halbmond Der demografische Wandel macht auch vor der Türkei nicht halt, allerdings finden sich keine präzisen Angaben zur Prävalenz von demenziellen Erkrankungen in der Türkei. Es liegen lediglich einzelne Studien zu verschiedenen Provinzen vor, hochgerechnete Zahlen ähneln jedoch denen anderer Industrieländer (Şentürk et al. 2021). Ein großer Anteil der Demenzerkrankten in der Türkei werden aufgrund von traditionellen und kulturellen Motiven von Angehörigen gepflegt. Es wird oftmals als Undankbarkeit oder gar Schande angesehen, wenn Familienangehörige die Kranken in Pflegeheimen unterbringen. Diese familiäre Aufopferung ist nicht ohne Schattenseiten, denn Studien konnten Hinweise liefern, dass Angehörige, die sich um Demenzkranke kümmern, eine signifikant schlechtere Lebensqualität aufweisen. Das betrifft vor allem – wie in Pandora’s Box – Frauen im fortgeschrittenen Alter mit limitiertem Wohnraum (Tulek et al. 2020). Gleichzeitig zeigen pflegende Personen ein erhöhtes Risiko, Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Depressionen zu entwickeln (Adana et al. 2022). Dennoch gibt es Anlaufstellen wie die ambulanten Pflegedienste der Krankenhäuser und Gemeinden. Diese werden vom türkischen Gesundheitsministerium koordiniert und stehen chronisch Kranken kostenlos zur Verfügung (Özdemir und Taşcı 2013). Die mit stationären Pflegeinstitutionen verbundenen Kosten stellen viele Angehörige jedoch vor Schwierigkeiten. Ein weiteres Problem stellt die Infrastruktur dar: Insbesondere Demenzkranke in den dörflichen Regionen haben keinen Zugang zu derartigen Angeboten, sodass sie in weit entfernte Heime mit erschwerten Anreise- bzw. Besuchsbedingungen gebracht werden, was sich negativ auf den Krankheitsprozess auswirkt (Lök et al. 2017).
Prozess des Vergessens – Eine Sicht vom Standpunkt des Islams Das Vergessen im Alter wird im Islam an mehreren Stellen thematisiert: In der 16. Sure An-Nahl, Vers 70 des Korans steht folgendes: cc
Und Allah hat euch erschaffen, dann lässt Er euch sterben; und es gibt manche unter euch, die ins hinfällige Greisenalter getrieben werden, sodass sie nichts wissen, nachdem (sie) doch Wissen (besessen haben). Wahrlich, Allah ist Allwissend, Allmächtig.
Die Formulierung „…nichts wissen…“ scheint auf eine vollständige Auslöschung des Wissens zu verweisen, was an das Endstadium der Demenz erinnert. Akzeptiert man diese Interpretation, wird Demenz im Koran als göttlicher und somit natürlicher Prozess des hohen Alters verstanden.
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Nicht jeder Muslime folgt dieser Interpretation, daher werden auch im Islam Therapieansätze mit Schwarzkümmel (Nigella sativa) und Honig beschrieben. Auch heute noch finden diese beiden Mittel breite Verwendung in den islamischen Ländern zur Therapie und Prophylaxe der Demenz. Studienergebnisse hierzu finden sich lediglich einige wenige aus islamischen Ländern, die jedoch statistisch einen geringen positiven Nutzen zeigen (Kamarulzaidi et al. 2016; Sahak et al. 2013). Für viele wird die Erkrankung weiterhin als himmlische Strafe oder als Folge des „Bösen Blickes“** angesehen, wodurch zunächst oft spirituelle Heiler aufgesucht werden. Die Betroffenen erfahren dadurch nicht nur zunehmende Diskriminierung innerhalb der Gesellschaft, sondern es kommt in vielen Fällen zu einer verzögerten Diagnosestellung (Ghuloum et al. 2010). Gleichzeitig stellt die Religion eine wertvolle Ressource und Bewältigungsstrategie dar, die durch ihre Gesamtheit positiv auf den Krankheitsprozess wirken kann (Daher-Nashif et al. 2021). **Der böse Blick
Der „Böse Blick“ (Arabisch: Nazar) beschreibt in verschiedenen Kulturen die Annahme, dass negative Zustände und Ereignisse auf den neidvollen Blick eines anderen Menschen zurückzuführen sind. Der griechische Schriftsteller Plutarch (um 45–125 n. Chr.) vertrat die These, dass sündhafte Empfindungen wie Neid bestimmte Emissionen über das Auge austreten lassen, die andere Menschen „befallen“ können. Als Schutz vor dem folgenschweren „Blick“ hat in vielen Ländern das Nazar- Amulett Eingang in die Kultur gefunden.
Darstellung der Demenz im Film In Pandora’s Box lernt der Zuschauer einen anderen kulturellen Blickwinkel auf die Demenz kennen. Die Darstellung der Symptome folgt einem relativ euphemistischen Muster, selbst beängstigenden Zuständen wie dem Verlust von Kognition und Autonomie wird etwas Beschönigendes abgewonnen, indem eine idealisierte „Rückkehr zur Natur“ impliziert wird. Das Lichtspiel gewährt einen kurzen Einblick in den Alltag türkischer Pflegeheime und ihrer Bewohner. Diese werden entgegen der traditionellen Auffassung dem Zuschauer als elysischer Ort vorgestellt. Einem Werbefilm gleichend steht dieses Bild im Kontrast zur allgemeinen Haltung innerhalb der türkischen Kultur, die eine Unterbringung mit Schande und Versagen gleichsetzt. Gar ironisch wirkt es, dass ausgerechnet Murat als progressivste Figur das Konzept der Pflegeheime ablehnt und die kulturell-traditionelle Norm wahrt, indem er die häusliche Pflege der dementen Großmutter übernimmt. Besonders der Kampf in der häuslichen Pflege und im Alltag wird realitätsnah inszeniert und drohende Probleme der gesundheitlichen Infrastruktur angezeigt.
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Auch wenn medizinische Aspekte dem Zuschauer nähergebracht werden, verzichtet Ustaoğlu auf kulturspezifische alternative Behandlungsstrategien. Die Rolle des Arztes gleicht dem eines Nebendarstellers, dessen einzige Funktion aufklärender Natur ist – nach Diagnosestellung ist sie kaum noch relevant. Eine nennenswerte Arzt-Patienten-Beziehung besteht ebenfalls zu keinem Zeitpunkt.
Abspann, oder: Was nicht vergessen werden sollte Pandora’s Box macht seinem Titel alle Ehre. Erscheint der Titel zunächst eindeutig, lädt er die Zuschauer bei genauer Betrachtung zum Spekulieren ein. Zu Beginn des Films wirkt es, als öffne die Demenz selbst die Büchse der Pandora. Eine unerwartete Last in Form der Demenz, öffnet somit eine Box an Problemen, die sonst nicht zum Vorschein getreten wären. Die Demenz kann jedoch auch als Katalysator wahrgenommen werden, der zunächst unterdrückte Konfliktsituationen entfesselt und so eine Lösung ermöglicht. Wie der sich lichtende Nebel der Szenerie lösen sich einige von ihnen auf, während andere wie ein weißer Schleier bestehen bleiben. Yeşim Ustaoğlu stellt uns hier die traditionsbewusste, konservative türkische Gesellschaft im Wandel der Zeit vor. Der Blick in die Moderne wird am Ende durch eine Rückkehr zum Ursprung relativiert oder gar verworfen. Gleichzeitig werden die Probleme des gängigen autoritären Erziehungsstils sowie der hierarchischen Familienstrukturen aufgezeigt, denn nach dem Ausscheiden der Mutter als Familienoberhaupt wirkt die Familie wie eine Herde ohne Hirten. In Pandora’s Box werden Elemente des Traditionalismus modernen Gesichtspunkten gegenübergestellt. Zwar wird der Modernität eine positive Rolle zugesprochen, wie am Beispiel der idyllisch inszenierten Pflegeheime, nichtsdestotrotz enden Konfliktsituationen zwischen Tradition und Moderne oftmals zugunsten des traditionellen Aspektes. So wird das gemeinsame Leben mit dem Enkel abrupt zugunsten einer Rückkehr zur Natur und einer Besinnung auf den natürlichen Ursprung der Dinge beendet. Ein Finale mit klassischer Naturromantik, die Reminiszenzen an die gesellschafts- wie zivilisationskritische Philosophie eines Jean-Jacques Rousseau wecken. Nun wird deutlich, weshalb das eingangs vorgestellte Zitat den Film passend subsumiert: Es ist besser sich nicht zu erinnern und zu vergessen – Vergessen als Befreiungsschlag von zivilisatorischen Zwängen also, womit das Bild der Demenz als Wegbereiter zur Vereinigung mit der Natur vollkommen scheint. Alzheimer imponiert so auf eine facettenreiche Art und Weise als zentrales Element des Films, der von Gegensätzen nur so strotzt. Ihre dramaturgische Funktion kann je nach Betrachtungsweise als Konfliktinitiator oder Konfliktkatalysator interpretiert werden. Ähnlich gestaltet sich die Rolle der Patientin, die uns als lieblose Mutter vorgestellt wird, jedoch zugleich eine Opferrolle einnimmt, sobald sie erkrankt. Der Ärzteschaft kommt eher eine beratende Rolle zuteil, die nach Diagnosestellung völlig ins Abseits rückt.
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Bei Pandora’s Box handelt es sich nicht um den klassischen türkischen Mainstreamfilm. Die minimalistische, fast meditative Inszenierung des Lichtspiels punktet mit langen Kameraeinstellungen, wenig Dialog und Schnitt und einer lyrischen Bildsprache. Die Verbindung aus Tradition und Moderne erreicht eine breite Masse und geht so einer aufklärenden wie auch warnenden Rolle nach. Das Werk nimmt den Zuschauer mit auf eine Reise der Selbsterkenntnis, lädt ihn ein, sich aktiv mit dem Gewittersturm der Konflikte und der Natur des Vergessens auseinanderzusetzen. Demenz tritt demnach als zweischneidiges Schwert auf: Als Katastrophe, wenn sie in gesellschaftliche Strukturen einfällt, als Erlösung, wenn man sie als natürlichen Verlauf akzeptiert. Ob man die Metapher der Vereinigung mit der Natur als Erlösung teilt oder nicht, eines bleibt Pandora’s Box in jedem Fall: Ein Plädoyer für Akzeptanz schwerkranker Menschen, die in der Gesellschaft keinen Platz mehr haben!
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Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Trügerische Zeichen: Medien, Einsatz, Archiv Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Literatur
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T. Ballhausen (*) Universität Mozarteum Salzburg, Salzburg, Österreich © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_14
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Filmplakat Memoir of a Murderer. (© Busch Media Group. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Vorspann Mit Memoir of a Murderer (ROK 2017) legt der südkoreanische Regisseur Won Shin-yun eine international erfolgreiche Literaturverfilmung nach dem Roman von Kim Young-ha vor. In diesem Thriller, der auch innerhalb dieses an bedeutenden Titeln nicht armen Genres aus einer Vielzahl von Gründen eine Sonderposition einnimmt, setzt der Regisseur auf ein vorsätzliches Operieren mit Momenten von Offenheit und Uneindeutigkeit sowie auf die permanente Verunsicherung des Publikums. Erzielt wird der erfolgreiche Einsatz dieses ästhetischen Strategiebündels durch die prinzipielle Anlage seines Spielfilms: Eben die Konfrontation eines an vaskulärer Demenz leidenden Serienmörders, dem Tierarzt Byeong-soo, der angesichts einer Mordserie in seiner unmittelbaren Umgebung mit seiner Vergangenheit, der Fragilität seiner Existenz und eben auch dem Fortschreiten seiner Krankheit konfrontiert wird. Gestützt auf eine Vielzahl medialer Hilfsmittel und dem vorsätzlichen Verfassen seiner Erinnerungen bemüht er sich um die Erhaltung bzw. Wiederherstellung einer Ordnung, die sich ihm aber trotzdem immer mehr entzieht – und bedingt
14 Ordnung und Verlust in Memoir of a Murderer
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durch die Erzählperspektive des Films eben auch dem Publikum. Indem Won Shin-yun vorsätzlich memoria und memoir in ein produktives Spannungsverhältnis setzt, führt er durch den Verweis auf die literarisch-geschichtliche Textsorte der Memoiren (vgl. von Wilpert 2001, S. 510 f.) hin zu Aspekten einer engen, persönlichen Perspektive und Momenten der Rechtfertigung des eigenen Handelns, aber auch zu Facetten der Verschiebung, der Verzerrung oder eben der vorsätzlichen Täuschung. Für eine filmgeschichtliche Einordnung und Analyse sind damit zumindest drei Aspekte angesprochen, die sich durchgehend nachweisen lassen und für die vorliegenden Ausführungen auch von Relevanz sein werden: (1) der Einsatz eines unvertrauenswürdigen Erzählers*, auf dessen Perspektive das Publikum angewiesen ist und dessen Wirksamkeit durch den bewussten Einsatz künstlerischer (in diesem Fall: filmischer) Mittel gestützt wird; (2) die Betonung der Medialität des gegenständlichen Spielfilms und die permanente, wenngleich zumeist subtile Reflexion über Medien der Kommunikation, Speicherung und Verarbeitung bzw. den dazugehörigen sozialen und relationalen Kontexten; und (3) der erzählerische Einsatz des Motivs des Serienmords bzw. des Serientäters im Rahmen des Thriller-Genres, unter besonderer Berücksichtigung der Darstellung von Krankheit. Die filmische Verarbeitung bzw. Darstellung von Serienmord ist von der Stummfilmzeit – denkt man etwa an Landru, der Blaubart von Paris (1922) – über unterschiedlichste Ausprägungen – von Jonathan Demmes The Silence of the Lambs (1991) über David Finchers SE7EN (1995) zu Mary Harrons American Psycho (2000) – bis zu neuesten Comicadaptionen, wie der jüngsten Batman-Adaption, nachweisbar und erfreut sich auch in Zeiten mehrteiliger Streaming-Angebote größter Beliebtheit. Im Sinne einer direkten Vergleichbarkeit durch die erzählerische Nutzung von Demenzerkrankung bzw. noch zu beschreibenden Symptomen verengt sich die Auswahl von Filmbeispielen deutlich, neben der niederländischen Produktion De Zaak Alzheimer (2003) von Erik Van Looy sei hier auch auf Josh Tranks Capote (2020) hingewiesen, die ebenfalls nach eigenständigen, eingehenden Untersuchungen verlangen würden. *Unzuverlässiger Erzähler
Der unreliable narrator erlaubt als Alternative zum konventionellen Erzählen die über den Verlauf der Narration kontinuierlich erweiterte Entfaltung von Widersprüchen, Unwahrheiten und Verzerrungen in der gebotenen Perspektive des oftmals homodiegetischen, also in die Erzählwirklichkeit eingebetteten Erzählers in Bezug auf ebendiese Erzählwirklichkeit. Die dem Leser bzw. Zuschauer dargebotene Handlung wird also nach und nach als fragwürdig oder auch falsch in Bezug auf (vermeintlich) anzunehmende Vollständigkeit der Information, Angemessenheit im Stil oder auch Bewertung der Handlung und anderer Figuren erfahrbar – wobei die in jedes Prinzip von Fiktion eingelassene Dynamik ihres Verhältnisses zur sogenannten Wirklichkeit damit umso deutlicher betont wird. Die Perspektive des Erzählten, die darüber gebotenen Informationen und der Verlauf der Handlung insgesamt müssen im Prozess der Rezeption permanent kritisch überprüft und (re)evaluiert werden.
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Die Annäherung an die in Memoir of a Murderer dargestellte Introspektion, die auch konsequent auf die Arbeit mit den gewählten filmischen Mitteln und Strategien übertragen wird, verlangt nach einer entsprechenden denkerischen Fundierung, die kultur- und geisteswissenschaftliche Entwicklungslinien rund um das Vergessen berücksichtigt (vgl. Weinrich 2000). Diese Fundierung bietet innerhalb der Gegenwartsphilosophie insbesondere die Phänomenologie, die durch die intensive Neuverhandlung des Erinnerns auch den Grundstein für eine Verhandlung des Vergessens, die dann die Existenzphilosophie vollzieht, legt. Dabei, und das ist für die Auseinandersetzung mit Memoir of Murderer nicht unwesentlich, wird nicht nur die damit einhergehenden Fragen von Vergessenheit, Zeitlichkeit und dem Herabsinken ins unhinterfragte Dahinleben aufgeworfen, sondern auch die nach der damit verbunden, mehrdeutigen Tätigkeit (vgl. Heidegger 2006, 2020, inbes. S. 919 ff.) – sei sie, wie im vorliegenden Beispiel, auch eine kriminelle. Die vorliegenden Ausführungen beruhen, auch hinsichtlich der Einrechnung dieser Aspekte sowie der zentralen Kontexte von Film als Gedächtnismedium und medialer Träger, auf der verfügbaren Kinofassung und berücksichtigen, soweit notwendig und sinnvoll, auch Teilaspekte des Director’s Cut.
Film ab! Die Gewohnheit des Tötens Won Shin-yun lässt Memoir of a Murderer mit Schritten im Dunkeln beginnen, ein Eindruck, der sich filmisch auf eine Schneelandschaft und einen dunklen Eisenbahntunnel hin öffnet. Byeong-soo, aus dessen Perspektive die Handlung des Thrillers erzählt wird, tappt mitgenommen durch die kalte Ödnis, in seinem Gesicht ein deutlich sichtbares Zucken, Ausdruck vaskulärer Demenz, das bei dem Tierarzt diagnostiziert wurde. Nach diesem Prolog sehen wir uns in die alltägliche Wirklichkeit des Kranken versetzt, die sich verschlimmernden Auswirkungen der Demenz, das Bemühen seiner fürsorglichen Tochter Eun-hee, die Genervtheit der Polizeibeamten, in deren Wachstube Byeong-soo erneut von ihr abzuholen ist. Die wiederkehrende Frage „Erinnern Sie sich?“ geht mit dem Zeigen von Medien einher, die Byeong-soo eben dabei helfen sollen: ein Diktiergerät, ein Medaillon mit Fotografie und eingeprägter Adresse, ein Laptop, auf dem er auf Anraten seines Arztes seine Erinnerungen verfasst (Abb. 14.1). Diese Memoiren sind aber keineswegs harmloser Behelf, sondern das Bekenntnis eines Serienmörders, das sich auch filmisch nach und nach entfaltet: Byeong-soo hat bis 17 Jahre vor dem Einsetzen der Handlung als Serienmörder Menschen ermordet, die er aufgrund ihres Verhaltens für lebensunwürdig hielt: „Das war kein Mord. Nennen wir es Reinigung.“ Ausgehend von einem Akt der Notwehr, bei dem er seinen gewalttätigen Vater erstickt, tötet er und vergräbt „Müll, den ich gesammelt habe“ auf seinem abgelegenen Grundstück mit Bambuswald. Erst ein Autounfall, bei dem er schwer verletzt wird, macht diesem Treiben ein Ende. Als in der Gegenwart der filmischen Erzählung in den
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Abb. 14.1 Erinnerungen auf verschiedenen Medien. (© Busch Media Group. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
achrichten von einer neuen Mordserie an jungen Frauen berichtet wird, fragt sich N Byeong-soo, ob er nicht der Täter ist – und es aufgrund seiner fortschreitenden Erkrankung vergessen hat: cc
In meinem Kopf verschwinden die Erinnerungen, aber meine Hand erinnert sich an eine andere alte Gewohnheit: das Töten.
Die Gesetze der Serie Ein anderer Autounfall bringt den freundlich wirkenden Tierarzt mit dem zwielichtigen Polizisten Tae-joo zusammen: Bei dem Auffahrunfall öffnet sich der Kofferraum seines Fahrzeugs und Byeong-soo erhascht einen Blick auf einen in eine Plane eingeschlagenen, doch nicht sichtbaren Körper – er nimmt geistesgegenwärtig eine Blutprobe, bevor Tae- joo zu sich kommt und sich, ohne seinen Namen zu nennen, wieder auf den Weg macht. Die von Byeong-soo eingeforderte Visitenkarte nutzt er später, nachdem der Tierarzt einen anonymen Tipp bei der Polizei über den Vorfall abgegeben hat, für einen vermeintlich dienstlichen Anruf, im Fahrzeug wäre ja ohnehin nur ein totgefahrenes Reh gewesen. Der Zustand von Byeong-soo wird, wie er sich in den negativen Auswirkungen auf seine ärztliche Praxis und sein Sozialverhalten zeigt, durch eine nur vermeintlich romantische Annäherung von Tae-joo an Eun-hee noch verschlimmert: Die beiden Mörder, erkennen sich als was sie sind, Eun-hee ist eindeutig in Gefahr. Der ehemalige Täter wird versuchsweise zum Ermittler, um den neuen Serienmörder zu überlisten und ebenfalls zu töten. Es folgen in mehreren, bedingt durch die Erzählperspektive vorsätzlich irritierenden Sprüngen nicht nur wechselseitige Beschuldigungen und Verfolgungsjagden, sondern auch die unvermeidliche Zuspitzung der Situation hin bis zum gewaltvollen Showdown in einem abgelegenen Haus: Dort hält Tae-joo zuletzt Eun-hee gefangen, nachdem er ihren Vater erfolgreich zum Sündenbock seiner Serienmorde gemacht und dessen Memoiren umgeschrieben hat – die von Byeong-soo tatsächlich begangenen Taten und die Leichenfunde
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auf seinem Grundstück machen ihn dabei zum perfekten Opfer. Der Versuch, mithilfe eines befreundeten Polizisten Tae-joo unschädlich zu machen, scheitert, der blutige Showdown zwischen Byeong-soo und Tae-joo bringt auch noch die letzten Geheimnisse hervor: Tae-joo ist schwer entstellt und verletzt durch eine Verletzung, die ihm seine Mutter zugefügt hat, Byeong-soo muss erkennen – sich erinnern – dass sein letztes Opfer seine Ehefrau war, die er für ihre Untreue erwürgt hat. Eun-hee ist also nicht seine leibliche Tochter, ein Umstand, den Byeong-soo für sie sogar als positiv anerkennen will: Er wäre ja schon „als Mörder geboren“ worden, auf sie hätte sich dieses Übel nicht übertragen. Byeong-soo endet nach der Ermordung von Tae-joo und der Befreiung von Eun-hee in einer Anstalt, wo sich sein Zustand weiter verschlechtert. Seine Tochter schneidet ihm, wie schon zuvor einmal, die Haare, ein Akt der Versöhnung zeichnet sich ab. Unabhängig davon tötet sich Byeong-soo selbst – und Won Shin-yun führt filmisch zurück an den rätselhaften Beginn, ein offenes Ende und das unablässige Zucken im Gesicht des Tierarztes: cc
Wenn das Krampfen beginnt, vergesse ich meinen Weg zurück, die Erinnerungen verblassen.
Auch Tae-joo ist in Sichtweite, aber es bleibt unklar, ob so lebendig oder so tot wie Byeong-soo.
Trügerische Zeichen: Medien, Einsatz, Archiv Erinnerbare Bilder, mediale Träger und Spuren Die Figur des Hermes, dem Gott der Kommunikation, ist ganz im Sinne des Vorgestellten ein mitunter wenig vertrauenswürdiger Bote, ein zu bezweifelnder medialer Träger in jeder Hinsicht: „Hermes is a messenger who is deceiver, the wayward guide, the trusted courier whose own words involve entanglement“ (Thacker 2014, S. 79). In die Figur des Medialen, die hinsichtlich des Verbindens, Verwickelns und Verknüpfens wissenschaftsphilosophisch und medienwissenschaftlich auch als eine Denkfigur anzusetzen ist (vgl. Serres 1991), ist nicht zuletzt das für den gegenständlichen Spielfilm so wichtige Doppel aus Spuren legen und Spuren lesen (vgl. Krämer 2008) eingelassen (Abb. 14.2). Memoir of a Murderer reflektiert über die Konstruktion von Identität, indem er Momente der Medialisierung bzw. einer mediengestützten Erzeugung von Kohärenz ausstellt – und das gilt für die Darstellung des Protagonisten ebenso wie für die Struktur dieses Spielfilms an sich. Die in die Handlung integrierten Unterbrechungen und vor allem die zahlreichen Autounfälle – die mal zufällig erscheinen, dann wieder provozierte Karambolagen in wortwörtlicher wie metaphorischer Bedeutung sind – rufen ein zentrales Motiv der Moderne und ihres montagehaften Erzählens über die Technik auf (vgl. Kassung 2015).
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Abb. 14.2 Spuren legen – Spuren lesen. (© Busch Media Group. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Für Byeong-soo ist das Morden eine Körpererfahrung und -erinnerung, eine vererbbare Veranlagung, die in der Handlung vorsätzlich mit der Demenzerkrankung parallelisiert wird. Für die Betonung des Faktors der Übertragung und der Handlungsentwicklung – dass Eun-hee eben nicht die leibliche Tochter eines Mörders und damit nicht gefährdet ist – macht dieser erzählerische Twist natürlich Sinn, erscheint zugleich aber, auch wegen dem fragwürdig erscheinenden Rückgriff auf überholte Vorstellungen der Kriminalistik, als zumindest kritisch zu befragendes Element der Handlungsentwicklung. Der für die Figur von Byeong-soo zentrale Faktor des (Selbst)zweifels – den wir aus Becketts Augustinus-Beschäftigung herleiten können (vgl. Beckett 2020; Augustinus 2004) – kann uns dahingehend als formgebende Bestätigung des Selbst lesen, wenngleich eines Selbst das massiv unter Druck ist. Neben dem Einweben von Aspekten der Rechtfertigung seiner Taten – auch ein literaturgeschichtlicher Aspekt der Textsorte der Memoiren – und dem damit einhergehenden, zumindest indirekten Werben für das Verständnis seines Vigilantentums, stehen nicht nur die filmischen Gewaltdarstellungen, sondern eben auch das zuvor schon erwähnte, permanente Integrieren medialer Aspekte in die Handlung: Medien werden als Formen der Speicherung, der Ablage und (Re)aktivierung für das Publikum erfahrbar, Film wird als Gedächtnismedium angesprochen. Memoir of a Murderer zeigt uns Film als Film, aber auch Film im Film, etwa in der medienreflexiven bzw. metafiktionalen Darstellung von Bewegtbild und Kontexten (z. B. Kinobesuch, das Display einer Videokamera, die Nachrichten im Fernsehen).** Medien werden in ihrer Nutzung für den Protagonisten aber immer wieder auch als Ausdruck von Selbstvergewisserung erfahrbar, etwa beim Zeigen des Schreibprozesses der titelspendenden Memoiren. Hier kommt es zu einer Koppelung an eine im weitesten Sinne literarische Tätigkeit und (in diesem Fall: bekenntnishafte) Autorschaft, die Mord und Täterschaft entgegengestellt wird (vgl. Amlinger 2021, S. 557 ff.) und unabhängig vom zum Einsatz kommenden Schreibgerät auch als motorische Verbindung von Auge und Hand interpretiert werden kann (vgl. Abendroth 2022, S. 519 ff.). Angewidert vom Poesieunterricht, zu dem der Arzt dem Protagonisten rät, oder
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gar vom erwähnten Medium des Films an sich, zeigt sich seine Hinwendung zum sogenannten Wirklichen: cc
Ich kann Filme nicht leiden. Sie sind nicht real. **Metafiktion
Der aus der Literatur bzw. Literaturwissenschaft stammende Begriff der Metafiktion erlaubt als Sonderform des Erzählens eine Narration die, ganz gemäß der Zusammensetzung des gegenständlichen Begriffs, ihre eigene Künstlichkeit, ihre Gemachtheit, ihre Konditionen, Möglichkeiten und Limits zur Disposition stellt. Damit werden nicht nur die systematische Ausstellung der Künstlichkeit des jeweiligen Kunstwerks bzw. (medialen) Textes ermöglicht, sondern beispielsweise auch Optionen der Kommentierung, der Digression und vor allem der Einladung zum bewussteren, weil produktiv irritierten Nachvollzugs in der Rezeption eröffnet.
Die Wahrheit der Erzählung Im Anschluss an entsprechende Vorarbeiten (Ballhausen 2015, 2016) soll im Sinne einer erweiterten Kontextualisierung auf die unmittelbare Wechselbeziehung zwischen Depot und Gedächtnis hingewiesen werden, die nicht zuletzt von Interesse sein muss, wenn Film Bilder stiftet, die mit einem erzählerischen (oder gar dokumentarischen) Anspruch auf Wahrheit versehen sind. Die Erzählung tritt, aber eben nicht nur im Dokumentarischen, in die Leerstelle der Geschichte bzw. der Geschichtsschreibung und macht das Unterschlagene, das Verworfene oder, wie im hier analysierten Film, das Verheimlichte evident: Die Annäherung an die Wirklichkeit bzw. die Wirklichkeit der Fiktion ist vom Erzählen mit einem mehrdeutigen und vielfältig wirksamen dépôt hinterlegt. Welcher Gebrauch wird also in diesem Thriller vom Depot gemacht, in dem etymologisch das Hinterlegte, das Abgelegte und die Frage der Deckung zusammenfallen? Die geschichtsstiftende Funktion der Medien, das notwendigerweise reflektierte Umgehen mit der Trias Geschichte – Geschichtlichkeit – Geschichtsschreibung, lässt nach dem (Spiel)einsatz fragen, dem nicht minder wortwörtlichen mise-en-dépôt. Die Fiktion ist in unterschiedlichster Ausprägung und Intensität als das Depot oder, wie im Memoir of a Murderer, gar als Deponie denkbar – immer dann auch, wenn es eine Leerstelle zu adressieren gilt. Die Strategien des Anspruchs auf Wirklichkeit – und das gilt eben nicht nur für das Dokumentarische – erlauben Entwürfe von Geschichte als auch von individuellen Lebensgeschichten, sie provozieren Gegengeschichtsschreibungen und Umschreibungen, sie ermöglichen Perspektivierungen und Darstellungen, sie reizen zu medialen Raumnahmen. Die Sinnstiftungsprozesse der individuellen Historiografie, in welcher Medienform sie auch immer sich manifestieren, sind Erzählimperativen verpflichtet, fallweise sogar unterworfen. Die Fassbarkeit der Ereignisse verweist uns auf das Arrangieren, das Strukturieren
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der Welt, auf das eingeschriebene Spannungsverhältnis aus Realem/Erfasstem und kreativer Zugabe/Prozess. Es ist aber die neue Fassbarkeit, die einen ethischen und nicht zuletzt politischen Raum öffnen und erschließen hilft. Das im Film mittels diverser Medien vorbereitete, angelegte Archiv – das gleichermaßen System der Ordnung und eigentliche Sammlung ist, die durch ein differenzschaffendes Scharnierelement administrativer, submedialer Prozesse verbunden ist – kann auf diesem Weg als Ort (oder in diesem Fall: Behältnis) der intellektuellen Wertschöpfung begriffen werden, der durch seine heterogenen Bestände vor-geprägt ist. Die unterschiedlichsten Arten des Bestands sind dabei nicht nur wesentliches Kennzeichen, sondern vielmehr auch eine positiv wirksame Rahmenbedingung für den Umgang mit dem jeweiligen Material und Vorgabe gewisser Grundlinien diskursiver Arbeiten und Herangehensweisen.
Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Memoir of a Murderer stellt mit der auch im Drehbuch benannten vaskulären Demenz in Verbindung mit Alzheimer eine besonders häufig nachgewiesene Form der Demenz ins Zentrum. Die mit dem Krankheitsbild verbundenen Symptome wie der Verlust von Erinnerung, Stimmungswechsel, Orientierungsverlust, Sprachstörungen, stark verzögertes Verhalten in Alltagssituationen bzw. das generelle Nachlassen der geistigen Fähigkeiten werden auf der inhaltlichen Ebene in die Filmhandlung integriert und teilweise auch thematisiert. In Verbindung mit der Darstellung der Erkrankung finden darüber hinaus auch die ärztliche Unterstützung bzw. Empfehlungen und die notwendige Medikamentierung zumindest kurz Erwähnung: Mit dem strategischen Anraten des Arztes geht ja auch der Impuls für den Protagonisten einher, seine Erinnerungen niederzuschreiben. Auch die Auswirkungen auf das soziale Umfeld der Hauptfigur durch den fortschreitenden Krankheitsverlauf werden gezeigt, etwa in den Reaktionen von Polizeibeamten oder dem Verhalten von Eun-hee, die zumeist in einer unterstützenden und assistierenden Funktion gezeigt wird. Die damit verbundenen Anstrengungen und (Über)forderungen an das direkte Umfeld werden, wohl auch bedingt durch die Erzählperspektive, weniger deutlich als vergleichsweise die Reaktionen der Hauptfigur. Hier wird die Krankheit einerseits als mögliche Strafe einer göttlichen Macht für die begangenen Verbrechen gesehen, andererseits in die Motivation für die Serienmorde der Figur Byeong-soo integriert. Bezogen auf den Einsatz der filmischen Möglichkeiten und die Gesamtstruktur des Spielfilms ist die Demenzerkrankung ebenfalls von großer Wichtigkeit. So wird das bildliche Darstellen des deutlich sichtbaren Zuckens im Gesicht der Hauptfigur auf der Soundebene unterstützt bzw. verstärkt, das Erinnern als auch das fortschreitende Vergessen werden durch entsprechende Bildsprache (z. B. Lichtsetzung, Variieren der Bildschärfe) auch auf dieser Ebene zum Ausdruck gebracht. Für die Struktur des Spielfilms lässt sich, eben bedingt durch die Angewiesenheit auf die Perspektive der Hauptfigur, eine durchgängige Verbindung zwischen Krankheitsverlauf und chronotopischem Strukturprinzip behaupten. Hier kommt es an einer Stelle gar zu einer Form von Filmriss, wenn im Verlauf der Hand-
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lung immer mehr Wahrnehmungsdefizite bei Byeong-soo auftreten. Der programmatische Satz „Mein Kopf stirbt“ wird so auf die filmische Poetik übertragen. Im Rahmen der Schlussszene werden die materiell-formale und die inhaltlich-symptomatische Ebene wieder stärker aufeinander bezogen, wenn in der Tilgung der Erinnerung, wie es der Figurendialog an einigen Stellen vermuten lässt, eine Form der Wiederherstellung eines Zustandes kindlicher Unschuld und geradezu Unbewusstheit eben nicht eingelöst wird. Führt man diesen Gedanken konsequent weiter, ist es auch durchaus vorstellbar und stimmig, Memoir of a Murderer als filmischen Prolog einer nicht mehr auserzählten Jenseitsgeschichte zu lesen.
Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Won Shin-yun belässt Memoir of a Murderer bewusst in einer uneindeutigen, offenen und geradezu manichäischen Form, die auf ein Auserzählen verzichtet und dabei, ganz im Sinne des Mediums Film und seiner Möglichkeiten, die Option, als Publikum getäuscht worden zu sein, produktiv erhält. In der beeindruckenden, erzählerischen Verbindung von Erinnerung, Identität und filmisch-literarischen Genrekonventionen öffnet er das Vergessen als ein relevantes Thema, das ja auch in aktuellen internationalen Diskursen weiterhin seinen fixen Platz hat (vgl. z. B. Hyde 2019). Auch hinsichtlich spezifisch filmischer Sonderfragen ist Memoir of a Murderer von Relevanz, etwa hinsichtlich der Darstellung verletzter Männlichkeit bzw. Männlichkeitsbilder (vgl. Peberdy 2011) oder eben der hier verhandelten Krankheitsbilder und Symptome. Fazit: Memoir of a Murderer ist ein an sich schon außergewöhnliches Beispiel innerhalb des filmgeschichtlich gut belegten Motivs des Serienmords, das durch die durchgängige und mitunter auch radikale Verbindung mit der Verhandlung von Demenzerkrankung auf inhaltlicher wie auch formaler Ebene eine zusätzliche Qualität entfaltet. Dabei wird die Darstellung der Erkrankung einerseits im klassischen Sinne zur Spannungssteigerung eingesetzt, andererseits vorsätzlich auf die Gesamtstruktur des Films und den Einsatz der filmischen Mittel übertragen. Künftige Forschungen könnten auch bei diesem Beispiel anknüpfen, um etwa die (medien)philosophischen Diskurse des Erinnerns und vor allem auch des Vergessens auf die reichhaltige Verbindung von Film und Philosophie (vgl. Livingston und Plantinga 2011) hin zu perspektivieren.
Literatur Abendroth C (2022) Bleistiftliteratur. Brill Fink, Paderborn Amlinger C (2021) Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit. Suhrkamp, Berlin Augustinus A (2004) Confessiones. Bekenntnisse. Lateinisch-deutsch. Artemis & Winkler, Düsseldorf Ballhausen T (2015) Signaturen der Erinnerung. Über die Arbeit am Archiv. Edition Atelier, Wien
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Ballhausen T (2016) Filmisches Jenseits. Vorüberlegungen zu einer Theorie des Verpassens. In: Tuczay CA (Hrsg) Jenseits. Eine mittelalterliche und mediävistische Imagination. Peter Lang, Frankfurt a.M., S 269–282 Beckett S (2020) Philosophy notes. Oxford University Press, Oxford Heidegger M (2006) Sein und Zeit. Neunzehnte Auflage. Max Niemeyer, Tübingen Heidegger M (2020) Vorträge. Teil 2: 1935 bis 1967. Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M. Hyde L (2019) A primer for forgetting. Getting past the past. Canongate, Edinburgh Kassung C (Hrsg) (2015) Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls. Transcript, Bielefeld Krämer S (2008) Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Suhrkamp, Frankfurt a.M. Livingston P, Plantinga C (Hrsg) (2011) The Routledge companion to philosophy and film. Routledge, New York Peberdy D (2011) Masculinity and film performance. Male angst in contemporary American cinema. Palgrave Macmillan, New York Serres M (1991) Hermes I. Kommunikation. Merve, Berlin Thacker E (2014) Dark media. In: Galloway A, Thacker E, Wark M (Hrsg) Excommunication. Three inquiries in media and mediation. The University of Chicago Press, Chicago, S 77–149 Weinrich H (2000) Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. Dritte, überarbeitete Auflage. Beck, München von Wilpert G (2001) Sachwörterbuch der Literatur. 8., verbesserte und erweiterte Auflage. Kröner, Stuttgart
Teil IV Besonderes und Kontroverses: Demenz in gleichgeschlechtlicher Partnerschaft, assistierter Suizid, futuristische Therapieansätze und die musikalische Begleitung des Demenzfilms
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Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Eine ungleiche Freundschaft, ein ethisches Dilemma und Zukunftsoptimismus Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Literatur
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D. Henkel (*) Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Uniklinik Köln, Köln, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_15
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Filmplakat Robot & Frank. (© Senator Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Vorspann Im Jahre 2015 zeigte der Hartware MedienKunstVerein aus Dortmund im Rahmen der Ausstellung „Digitale Demenz“ das Erstlingswerk des US-amerikanischen Regisseurs Jake Schreier: Robot & Frank (Hartware MedienKunstVerein 2016). Der Leser wird an dieser Stelle wahrscheinlich stutzig – digitale Demenz? Zunächst scheint dieses Begriffspaar unpassend, wenn nicht gar widersprüchlich. Auf der einen Seite steht die gefürchtete Demenz, die als rapide fortschreitender Verlust von (neuronalen) Informationen gesehen werden kann und unaufhaltsam die Persönlichkeit, Erinnerungen und Körperfunktionen eines Menschen schwinden lässt. Schreitet die Krankheit fort, wird die Bewältigung des Alltäglichen immer mühsamer, bis sie zu einem unüberwindbaren Hindernis wird. Soziale Kontakte werden nahezu unmöglich und es folgt ein gnadenloser kognitiver Verfall bis zum unvermeidlichen Tod – eine „Auslöschung“. Auf der anderen Seite steht der Begriff des Digitalen. Die Digitalisierung scheint uns das genaue Gegenteil dieser Schreckensvision zu versprechen: Leichter soll sie unser Leben machen, uns alltägliche Aufgaben ab-
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nehmen und diese auch noch effizienter und weniger fehlerbehaftet bewerkstelligen als der Mensch. Darüber hinaus vermag uns das digitale Zeitalter mit Freunden und Familie über jede räumliche Distanz hinweg zu vernetzen. Und Informationsverlust? Den braucht niemand zu befürchten. Schier endlos ist das Speichervermögen moderner Festplatten, die mittels mühelos angefertigter Sicherheitskopie die Daten dauerhaft bewahren können.
Melange der vermeintlichen Gegensätze Wie diese scheinbaren Gegensätze sich beginnen anzunähern, ja sogar zu einer faszinierenden Melange werden können, bringt Schreier uns in der charmanten Tragikomödie um den dementen Rentner Frank und seinen Pflegeroboter näher. Nicht weniger als 10 Jahre Vorbereitung waren nötig, um seine Vision auf der Leinwand zu realisieren. Der Regisseur war bis zu Robot & Frank ein Filmemacher der Werbebranche und drehte Werbespots für großkalibrige Firmen wie Absolut, Sony oder Verizon. Die Idee zu seinem ersten Kinofilm hatte aber persönliche, emotionale Wurzeln: Seine demenzkranke Großmutter. Wie Schreier in einem Interview verriet, plagte ihn ein aufrichtig schlechtes Gewissen, weil der vielreisende Werbefilmer sein krankes Familienmitglied nur selten besuchen konnte (Shoard 2013). Die Einsamkeit einer älteren Dame war also der Startpunkt zum Projekt – oder vielmehr die Suche nach Möglichkeiten, diese zu verhindern. Was wie ein privates Dilemma erscheint, ist aber längst ein gesellschaftliches Problem von erschreckendem Ausmaß, welches durch Demenz nur befeuert wird: Einsamkeit im Alter (Cooper et al. 1989). Wäre es in Zeiten von Pflegemangel und langwierigen Wartezeiten für Heimplätze denn so verwerflich, wenn ein Roboter diese Aufgaben übernähme und gleichzeitig als sozialer Kontakt diene? Wäre dies wirklich so viel weniger „menschlich“ als eine anonyme Warteliste oder die am Rande des Burnouts schuftende Pflegekraft? Vielleicht war es diese Kombination aus aufrichtiger Sorge um einen geliebten Menschen und dem visionären Ansatz zur Lösung eines drängenden gesellschaftlichen Problems, die dem Regieneuling einen so prominenten Cast bescherte: Mit James Marsden (XMen), Liv Tyler (Der Herr der Ringe) und Susan Sarandon (Thelma & Louise) flankieren namhafte Schauspielgrößen die erstklassige Darbietung des Hauptdarstellers Frank Langella (Frost/Nixon). Im Ergebnis klingt das Projekt futuristisch, fast träumerisch, doch wie wir sehen werden, ist die entstandene Utopie der Realität bedeutend näher, als es vielen bewusst sein mag.
Film ab! Frank (Frank Langella) ist Rentner und lebt allein in einem Häuschen irgendwo in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Datierung der Handlung bleibt unscharf, alles wirkt vertraut, man meint sich in der Gegenwart zu befinden, wären da nicht kleine Details, die auf eine nicht allzu ferne Zukunft hinweisen: Fernseher und Mobiltelefone, die nur aus
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durchsichtigen Displays bestehen, oder Autos, die ungewöhnlich schmal gebaut, schnittig über die Straßen sausen (der auto- bzw. technikversierte Zuschauer wird hier das Elektroauto Tango von Commuter Cars wiedererkennen). Frank scheint in dieser technisierten Welt ein wenig isoliert, pflegt aber guten Kontakt zu der Bibliothekarin Jennifer (Susan Sarandon) und wird gelegentlich von seinen erwachsenen Kindern Hunter (James Marsden) und Madison (Liv Tyler) besucht bzw. angerufen. Das Szenario verströmt fast eine gewisse amerikanische Vorstadtromantik, wäre da nicht Franks fortschreitender geistiger Abbau: Er vergisst, abgelaufene Lebensmittel zu ersetzen, verläuft sich immer häufiger, vergisst gar wie sein Sohn heißt und dass dieser schon seit 15 Jahren nicht mehr auf dem College ist. Was zunächst wie urige Senilität wirken könnte, schlägt schnell in handfeste Probleme um, wenn Frank den Straßenverkehr missachtet oder beginnt, kleinere Gegenstände aus Restaurants oder Geschäften zu stehlen. Warum klaut Frank? Wie wir im Verlauf der Handlung erfahren, war er in jüngeren Jahren ein gewiefter Dieb, der deshalb schon einige Zeit hinter Gittern verbracht hat. Frank besitzt aber nicht nur eine recht gute Fassade, er leidet außerdem an Anosognosie*: cc
Mein Gedächtnis ist bestens!… Du schickst mich doch nicht in diese Klapsmühle?
erwidert er, als seine Kinder ihn auf die möglichen Konsequenzen seines geistigen Verfalls aufmerksam machen. Diesen drastischen Schritt bringen Hunter und Madson aber nicht übers Herz und finden in einem Pflegeroboter die Alternative. Roboter sind nichts Ungewöhnliches, selbst Jennifer hat einen zur Assistenz der Bibliotheksarbeit, doch Frank ist mehr als skeptisch: cc
Schaff diesen Schrotthaufen hier raus!
zischt er, als der Pflegeassistent vorgestellt wird. Die Aufgaben der überaus freundlichen KI sind unterstützender Natur. Sie hilft Frank bei der Gartenarbeit, im Haushalt, achtet auf seine Ernährung und überwacht ihn mittels eigens erstellter Tagespläne, um Frank die Orientierung zu erleichtern.
*Anosognosie
Anosognosie ist ein Phänomen bzw. Symptom, welches durch fehlende Einsicht in die eigenen Krankheitssymptome charakterisiert wird. Sie tritt bei der Demenz häufiger im Spät- als im Frühstadium auf und sollte nicht mit der „Fassade“ – hier wirken die Patienten trotz kognitiver Defizite im Alltag unauffällig – verwechselt werden. Die fehlende Einsicht resultiert aus einem pathologischen Unvermögen die Symptome wahrzunehmen. Sie ist demnach nicht intentionell und muss somit scharf von der Dissimulation abgegrenzt werden. Anosognosie tritt ebenfalls häufig als Folge von Schlaganfällen auf und ist nicht pathognomonisch für die Demenz.
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Der Eindringling Zunächst versucht Frank alles, um den Eindringling zu beschäftigen, doch mit der Zeit erliegt der mürrische Rentner mehr und mehr dem Charme seines neuen Compagnons. Er beginnt die Fähigkeiten des Pflegecomputers zu bewundern: cc
Du hast ein Gedächtnis, unglaublich – das hätte ich gerne auch.
Unterdessen stiehlt Frank in alter Gewohnheit weiter Kleinigkeiten, ohne jemandem groß zu schaden. Dem aufmerksamen Pflegeassistenten entgehen diese Delikte nicht, aber zur freudigen Überraschung des Delinquenten bleibt Empörung und Tadel aus. Den Roboter scheint sogar die gewonnene Motivation durch die Straftaten zu erfreuen, denn Frank geht Dank des neu gewonnen Antriebs nun auf Partys und scheint der Sozialisierung nicht mehr vollends abgeneigt zu sein. Nun erfährt Frank von einer geplanten Digitalisierung der Bibliothek, in der seine einzige Freundin arbeitet und ersinnt einen räuberischen Plan: Dem Urheber des Vorgehens – einem reichen Investor, der wie es der Zufall will, auch Franks Nachbar ist – soll mit Hilfe des Roboters der Safe ausgeräumt und das Kapital gestohlen werden. Bevor der große Coup aber über die Bühne gehen soll, folgt ein erfolgreicher Probelauf (Abb. 15.1). Die beiden entwenden unbemerkt eine wertvolle Erstausgabe von Miguel de Cervantes’ Klassiker Don Quijote. Kurz bevor der eigentliche Einbruch stattfinden soll, kommt unerwartet Franks Tochter länger zu Besuch. Sie quält ein schlechtes Gewissen, da sie ihren Vater selten besucht und der Gedanke, ihn einer „herzlosen Maschine“ zu überlassen, ist ihr zuwider. Als Konsequenz schaltet die skeptische Tochter den Pflegeassistenten für die meiste Zeit aus. Dieses für Frank glücklicherweise kurze, aber weitestgehend roboterfreie Intermezzo, lässt die starke emotionale Beziehung zum mechanischen Pfleger sichtbar werden. Frank schottet sich wieder zunehmend ab, wird launig und aufbrausend. Einerseits verärgert ihn die Abb. 15.1 Frank hält ein Fernglas. (© Senator Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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ereitlung seines kriminellen Vorhabens, doch ihm fehlt mehr. Er hat eine Bindung zu V dem Roboter aufgebaut, die er unmissverständlich zum Ausdruck bringt: cc
Ich brauche ihn! Er ist mein Freund.
Ihm wurde ein Freund genommen!
Raub mit Komplizenschaft Schon bald muss Madison abreisen und die Freunde sind wieder vereint. Frank überzeugt seinen Kameraden, den Einbruch mit ihm durchzuführen, aber nicht ohne dem gesundheitsfürsorglichen Gefährten ein Versprechen als Gegenleistung geben zu müssen: Er werde sich in Zukunft natriumarmer ernähren. Der Diebstahl gelingt und Frank ist beflügelt. Doch seine Vergangenheit lässt ihn schnell ins Visier der Behörden geraten und besonders der bestohlene Nachbar ist von seiner Schuld überzeugt. Franks Sohn, der bei einem kurzen Verhör anwesend ist, weist die scheinbar groteske Verdächtigung zurück: cc
Das ist völlig unmöglich! Er ist krank…er ist krank!
Nun scheint auch die KI des Mittäters die problematische Natur des diebischen Ausflugs zu erahnen, aber Frank kann deren Bedenken schnell in eine andere Richtung lenken. cc
Das Gefängnis wäre schlecht für meine Gesundheit, nicht?
appelliert er an die pflegerische Intention des skeptischen Assistenten – mit Erfolg. Ein Erfolg, den die nun folgenden Ereignisse torpedieren: Auf Drängen des beraubten Nachbars verdächtigt die Polizei Frank weiter als Täter und das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als die Ermittler den Roboter ins Visier nehmen – genauer gesagt dessen lückenloses Gedächtnis. Frank dämmert die unvermeidliche Konsequenz: Entweder muss er den Speicher – und damit auch jegliche Erinnerungen seines Begleiters an ihre Freundschaft – unwiderruflich löschen oder er wird überführt. Ein nur von kurzweiligem Erfolg gekrönter Fluchtversuch treibt die Freunde in die Enge. Frank sieht keinen Ausweg und auch der Roboter appelliert scheinbar uneigennützig an die Vernunft des Rentners – Der Speicher wird gelöscht.
Endstation Pflegeheim Das Finale schlägt in voller Tragik zu: Frank verliert nicht nur seinen Wegbegleiter, er erkennt auch noch, wie weit seine Erkrankung wirklich fortgeschritten ist. Aufkommende Erinnerungsbruchstücke lassen ihn realisieren, dass die Bibliothekarin einst seine Partne-
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rin war – er ist bestürzt über sein Vergessen. Doch dem nicht genug: Zwar kann er aufgrund seines Gesundheitszustands einer juristischen Strafe entgehen, er muss fortan sein Dasein aber in einem kühl und einsam wirkenden Pflegeheim fristen. Die letzte Szene zeigt uns, wie Frank in sein neues Zimmer geführt wird. Ein Blick zur Seite lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Mitbewohner, der von einem baugleichen Pflegeassistenten begleitet wird. Dieser wird auf Frank aufmerksam, die Blicke treffen sich, es scheint ein kurzer Moment verlorener Zweisamkeit aufzuflammen, bis beide ihrer Wege geleitet werden.
ine ungleiche Freundschaft, ein ethisches Dilemma E und Zukunftsoptimismus Robot & Frank funktioniert tadellos als unterhaltsames, leicht futuristisches Heist-Movie, dessen komödiantischer Unterton mit einer Prise Tragik vermischt ist. Man sollte sich von dieser leicht verdaulichen Hülle aber nicht fehlleiten lassen und das Werk als simples Unterhaltungskino kategorisieren. Denn was als unkonventioneller Buddy-Movie mit kleptomanischem Rentner erscheint, wirft tiefschürfende Fragen zu drängenden Problemen der Gegenwart auf: Was machen wir mit der steigenden Zahl demenzieller – und oft vereinsamter – Patienten? Wie können wir dem Pflegenotstand Herr werden? Sind roboterassistierte Pflegeszenarien ein Weg aus diesem Dilemma? Und wenn ja, wo befinden sich die ethischen und moralischen Grauzonen? Verpackt hat Regisseur Schreier diese zeitgerechten Fragen in nicht weniger gekonnt realisierter Filmsprache. Die Welt um Frank wirkt entschleunigt, die Einstellungen sind relativ lang, auf viele Schnitte wird verzichtet. Zeitweise entsteht gar eine Atmosphäre von Ruhe und Kontemplation, die hier und da durch Momente hektischer Zukunft durchbrochen wird. Dies scheint stellvertretend für die Wahrnehmung des Protagnisten: Wir erleben die Welt also indirekt aus der Perspektive eines alten Mannes, der nicht mehr in diese Zeit passt, der alles Neuartige als Intrusion wahrnimmt und sich diesem zu allem Übel nun krankheitsbedingt stellen muss. Dies entspricht der Perspektive von Demenzkranken, die mit zunehmender Symptomatik immer mehr auf bekannte Strukturen angewiesen sind. Das Zukünftige als aufdiktiertes, Hektik und Rasanz induzierendes Übel also? Nicht ganz.
Freund oder Feind? Der aufgezwungene Hilfsroboter imponiert mit völlig entgegengesetzten Qualitäten: Humanoid erscheint er, ist kaum größer als ein Schulkind und strahlt Ruhe und Bedacht aus. Seine Stimme ist leicht digital fragmentiert und erinnert an eine weniger imperatorische Version von HAL 9000 aus Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum (UK, USA 1968). Sein Erscheinungsbild scheint stark an Roboterklassiker ASIMO** angelegt zu sein, wirkt also eher „retro“. Sein einziges Manko, das von dem kleinen Helfer selbst betont wird, ist die Unfähigkeit zur Empathie bzw. moralische Einschätzungen treffen zu
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können. Schreier stellt hiermit eines der bedeutendsten ethischen Diskussionen um Robotik und Pflegeassistenz unserer Zeit in den Raum – dazu später mehr. Diesen Makel des kleinen Freundes nutzt Frank schamlos aus und macht ihn zu seinem Komplizen. **Der Roboter ASIMO
ASIMO – Ist der heute am weitesten entwickelte humanoide Roboter aus dem Hause Honda. Die Entwicklung der ersten Prototypen geht bis in die 1980er-Jahre zurück, Markteinführung war im Jahre 2000. Honda weist jede namentliche Verbindung zum Sci-Fi Autor Isaac Asimov zurück. Seit 2004 sind mehr als 30 ASIMO im Einsatz, zwei auch an der Universität Bielefeld. ASIMO wurde 2007 in die Robot Hall of Fame aufgenommen und gilt als Klassiker der Robotik, der die Vorstellung vom Erscheinungsbild humanoider Roboter in der Gesellschaft nachhaltig geprägt hat.
Also doch ein Übel? Ein Pflegeassistent, der Gut und Böse nicht differenzieren, für Raubzüge (oder gar schlimmere Vergehen) trainiert und missbraucht werden kann, scheint kaum eine Lösung zu sein, die man sich bei Demenzkranken auch nur ansatzweise wünschen würde. Man muss diese Darstellung allerdings differenzieren. Was macht der Roboter hier eigentlich? Frank war Dieb, seine Zeiten als Langfinger waren seine Jugend, er war aktiv und gesund. Das Stehlen steht hier also nicht unbedingt für das Verbrechertum an sich, sondern für Autonomie, für all das, was Frank im Angesicht von Alter und Demenz endgültig zu verlieren droht. Der alte Mann hätte ebenso gut ehemaliger Schreiner sein können und mithilfe der futuristischen Assistenz wieder Schränke gezimmert. Hier wäre das Happy-End sicher und die Aussage des Werks klarer. Warum wählt Schreier dann ein solch ungewöhnliches Szenario? Zum einen ist die Figur des Diebes mit nächtlichen Raubzügen voll Spannung der Unterhaltung geschuldet – ein Zimmermann lässt, dem Prophetenvorbild zum Trotz, das Publikum schwerlich in Strömen an die Kinokassen eilen. Doch der Regisseur scheint sich eben auch der Probleme, die dieses Thema mit sich bringt, bewusst zu sein. So akzentuiert er durch eine außergewöhnliche Figurenbiografie die Fallstricke, die Roboter als Assistenz für Kranke mit sich bringen können, und dies gänzlich ohne Schwarz-Weiß-Malerei. Einfache Antworten will er nicht geben, denn die gibt es nicht – an Utopien ist Schreier nicht interessiert. Robot & Frank ist also ein Werk der Gegensätze: Das unaufhaltbare Vergessen der Demenz gegenüber der minutiösen Speicherung der robotischen Festplatte; die Freundschaft zu einer futuristischen Maschine gegenüber einer abschreckend beschleunigten Zukunftswelt; die Rückkehr zu früherer Autonomität gegen den Rückfall zur Delinquenz. Figurativ finden wir diese Dichotomien im Geschwisterpaar wieder, da beide verzweifelt versuchen, das Richtige für ihren Vater zu tun. Madison ist von Anfang an äußerst skeptisch. Den Kranken einer Maschine zu überlassen, erscheint ihr unmenschlich und wiederholt warnt sie den Vater, nicht zu abhängig von seinem neuen Freund zu werden. Der Bruder hingegen sieht all diese Probleme nicht, pragmatisch sieht er die Vorteile und moralische Bedenken hört man keine.
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Wohin führen diese Gegensätze? Wie eingangs erwähnt, minimieren sich diese im Verlauf der Handlung, die einst klaren Grenzen werden unscharf und es kommt zu einer Annäherung. Der zu Beginn verhasste Roboter wird zum Freund, er wird gar zum Mitstreiter gegen die Digitalisierung, obwohl er wie kein anderes Objekt für Technisierung steht. Es wird deutlich, wie wenig Schreier an einer Brandmarkung dieser digitalisierten und technisierten Zukunft interessiert ist. Es ist nicht das „Was“, sondern das „Wie“ – der Umgang mit diesen unvermeidlich scheinenden Trends – welches problematisch werden könnte. Auch die schon erwähnten zentralen Widersprüche von pathologischem Vergessen und schier unbegrenzter Speicherung führen zu einem gemeinsamen Punkt unausweichlich anmutender Tragik: Frank kommt ins Heim, weil er vergisst, der Speicher seines Roboters wird zurückgesetzt, weil er eben nicht vergisst. Vergegenwärtigt man sich hier nochmal, dass der Raubstreifzug mit Hilfe eines Roboters dennoch gegen die Digitalisierung (der Bibliothek) gerichtet ist, werden die zu Beginn scharfen Trennlinien vollends porös.
Eine Liebeserklärung an den Futurismus Letztendlich ist Frank & Robot eine kleine Liebeserklärung. Nicht an jede Variante einer technisierten Zukunft, nicht an die Robotik per se, aber an ihre Möglichkeiten. Ohne die problematischen Fragen zu vernachlässigen, die Pflegeassistenzen auf der Grundlage von Bits und Bytes durch fehlende ethische Handlungs- und Entscheidungsspielräume aufwerfen, kreiert der Film seine Figuren liebevoll (Abb. 15.2). Liebevoll genug, um allen Eventualitäten trotzend hier ein Plädoyer gegen Einsamkeit im Alter verwirklicht zu sehen. Ein Problem, das besonders verheerende Folgen haben kann, wenn Krankheiten hinzutreten, die zu Hilflosigkeit und gar Selbstgefährdung führen können. Aber es ist nicht nur die Einsamkeit, die der Humanoide Frank erleichtert, er gibt ihm auch etwas seiner Würde zurück. Denn der kranke Mann kann wieder er selbst sein – wenn in diesem Fall auch ein gesetzesbrechendes Selbst – und gewinnt Lebensfreude. Eine Freude am Leben, die folglich auch dessen Qualität steigert, was wiederum eines der höchsten Ziele moderner Medizin darstellt. Schreier will uns also mit seiner Vision aus naher Zukunft zeigen, auf welch vielversprechendem Weg wir mit der Robotik bzw. der roboterassistierten Pflege sind. Ein Weg, der gravierende Probleme abmildern oder gar beheben kann, aber noch mit Stolpersteinen gepflastert ist. Diese Hindernisse sollen aber als Herausforderung verstanden werden, so verstrickt sie auch erscheinen. Denn die aufgezeigten Benefits – glaubt man Robot & Frank – überwiegen am Ende und der Weg der Robotik scheint ein valider Ansatz aus dem Pflegenotstand. Die finale Trennung von Roboter und Frank ist tragisch inszeniert, der Zuschauer wünscht sich eine Wiedervereinigung und somit offenbar auch eine Zukunft mit Pflegerobotern.
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Abb. 15.2 Frank & Robot laufen nebeneinander im Wald. (© Senator Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Was uns das Werk an Symptomen der Demenz präsentiert, sind im Grunde Varianten des Kardinalsymptoms: Dem Vergessen. Betroffen sind sowohl das Kurz- als auch das Langzeitgedächtnis, in einigen Sequenzen ist auch eine kompromittierte Orientierung oder ein zerfahrener Tagesrhythmus zu eruieren. Das Ausmaß der Erinnerungslücken ist streckenweise derart gravierend, dass kaum von einem Anfangsstadium gesprochen werden kann, dennoch bleiben Frank viele der dramatischen Symptome der fortgeschrittenen Demenz erspart: Keine Inkontinenz, keine Impulskontrollstörungen, kein Verlust von Sprache und Kommunikation. Dies mag größtenteils dem unterhaltsamen Duktus des Films geschuldet sein, Schreier will nicht schockieren, er will inspirieren und ein großes Publikum erreichen. Folglich sehen wir eine leicht abgemilderte Darstellung der Demenz – im Sinne filmischer Verfremdung – ohne jedoch ein grob falsches Bild zu zeichnen. Verharmlost wird hier des-
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halb allerdings nicht, auch ohne drastische Darstellungen wird die Tragik und Ausweglosigkeit neurodegenerativer Erkrankungen eindringlich auf die Leinwand gebannt.
Robotik in Forschung und klinischem Alltag Ein Blick in den Forschungsstand zur Robotik zeigt, wie nah die entworfene Zukunftsvision, aber auch wie aktuell die thematisierten Probleme sind. Robotergesteuerte Interventionen, zumeist chirurgischer Natur, sind schon längst keine Besonderheit mehr (Federspil et al. 2001) und auch die Pflegeberufe (Bendel 2018) werden mehr und mehr in diese Entwicklung eingebunden. Die meisten dieser Erfindungen sind aber noch in der Erprobungsphase und breit angelegte Studien fehlen. Anders ist es mit Paro (Beneker 2010), einem Roboter in Form einer kleinen Robbe, die bei Demenzkranken vielversprechende Ergebnisse in internationalen Untersuchungen zeigte (Schlißke 2020). Paro macht sich das Prinzip Tiertherapie – bei Demenzkranken schon länger erfolgreich erprobt (Hacke 2018) – zunutze und kann Verbesserungen in Stimmung, Kommunikation und sozialer Interaktion erzielen (Beneker 2010). Doch schon der harmlos erscheinende Tierroboter hat ethische Diskussionen auf den Plan gerufen (Fricke 2020), die bei humanoid gestalteten Robotern mit sozialer Funktion nur an Fahrt gewinnen. Zentrale Fragen dieser Diskussion sind: Ist Empathie, was uns menschlich macht? Braucht man ethischen Entscheidungsspielraum, um empathisch zu interagieren? Sind solche sozialen „Beziehungen“ – ob mit (noch utopischer) programmierter Ethik/Empathie oder nicht – eine Degradierung der Kranken? Zwingen wir ihnen so aus einer Notlage heraus eine „falsche“ und „erniedrigende“ soziale Beziehung zu einer Maschine auf? Und selbst wenn man Pauschalantworten vermeidet, wo zieht man Grenzen? Bei sexueller Assistenzfunktion der robotischen Helfer (Döring 2018)? Es wird ohne Frage deutlich, wie kompliziert dieses Thema ist, und da schon Algorithmen zum ethischen Planen künstlicher Intelligenz in Entwicklung sind, besticht auch dessen Aktualität (Krarup et al. 2020). Robot & Frank hat also den Finger auf dem Puls dieser Entwicklung. Er wurde sogar Zentrum wissenschaftlicher Abhandlungen zum Thema (Herbrechter 2020) oder als Lehrfilm für technische Bildung vorgeschlagen (Barlex 2017) – was ihn schon fast zu einem vollwertigen Beitrag zu dieser Diskussion macht. Aber auch den Umkehrschluss, den schon Filmklassiker wie Blade Runner (USA 1982) in den Lichtspielhäusern thematisierten, gibt das Werk einen Diskussionsraum. Gemeint ist die Frage, ob wir künstliche Intelligenz dieses Ausmaßes entwickeln dürfen, ohne diese auch wie empathiefähige Wesen zu behandeln. Der Roboter selbst stellt dies immer außer Frage: cc
Frank, ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören, aber ich bin keine Person. Ich bin nur eine fortgeschrittene Simulation.
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Doch der Film erzählt eine andere Geschichte, die Löschung seiner Daten wird dramatisiert, wir fühlen mit ihm. Es entsteht – analog zu Frank und seinem Helfer – eine Bindung zum Zuschauer. Genau diese Bindung kann im realen Leben zu weiteren Problemen führen. Denn eine Beziehung kann immer durch verschiedenste Umstände brechen und zu einem Trauma führen, welches gerade schwer kranke Patienten tiefer in Agonie und Verzweiflung stürzen könnte.
Utopie oder Dystopie? Und was bringt uns die Zukunft an therapeutischen Optionen? Dystopische Leere. Keine Hoffnungsschimmer am Horizont, kein neuer Ansatz, nicht mal eine grobe Idee. Der Kampf gegen die Demenz bleibt ein frustranes Unterfangen, nun zwar gefochten in Zweisamkeit, ist aber – wie Sancho Panzer und Don Quichote in Franks erster Beute – gegen die übermächtigen Windmühlen der Demenz zum Scheitern verurteilt. Viele Fragen, wenige Antworten, doch umso mehr Anregung zum Diskurs – Ein philosophischer Film, wenn man unter die Oberfläche schaut. Was wie eine prophetische Zukunftsvision auf dem Niveau aktueller Forschung imponiert, kann sich in Realität natürlich auch vollkommen anders entwickeln. Aktuelle Filme wie z. B. Marjorie Prime (USA 2017) sehen Demenzkranke von lernfähigen KI unterhalten, die als Hologramme vertrauter Personen erscheinen. Ebenfalls eine schöne, wenn auch weitaus utopischere Vision. Doch wie uns die Zukunft auch ereilen mag, Regisseur Schreier zeigt uns einen Weg auf, der von optimistischer Offenheit – gepaart mit wacher Problemorientierung – geprägt ist. Einen Weg, den man begrüßen sollte.
Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Unterhaltungskino, Zukunftsvision, philosophische Reflexion und Mahnmal für soziokulturelle Probleme – all dies vereinigt Robot & Frank derart geschickt, dass der Film fast zu einem Beitrag wissenschaftlicher Diskussion wurde. Bereichert hat er diese ohne Frage! Ein weiter Wurf, bedenkt man, dass am Anfang des Projekts lediglich eine einsame, demente Großmutter stand. Zugleich ist das Werk ein Plädoyer für den Erhalt der Würde Demenzkranker, gegen Zukunftsangst und für den besonnenen Umgang mit technischen Fortschritten. Ein charmanter und tiefgründiger Blick in eine mögliche, vertraute und zugleich irritierende Zukunft. Wie vertraut uns der Android aus der Fiktion auch sein mag, die Vorstellung humanoider, ethisch und empathisch agierender Roboter im Alltag hat noch immer einen Hauch des Absurden. Robot & Frank rückt ins Blickfeld, wie schnell das Absurde ins Reale überschlagen kann und wappnet uns für Dinge, die noch kommen mögen. In diesem Bezug scheinen die Worte des renommierten Neurowissenschaftlers Donald W. Pfaff (Pfaff 2015)
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eine passende Endnote, denn ohne zu zögern prophezeit dieser, das Aufkommen jener Roboterart sei: „just a matter of time“.
Literatur Barlex D (2017) Disruptive technologies. In: Stables K, Williams PJ (Hrsg) Critique in design and technology education. Springer, Singapore, S 232 Bendel O (2018) Roboter im Gesundheitsbereich Operations-, Therapie- und Pflegeroboter aus ethischer Sicht. In: Bendel O (Hrsg) Pflegeroboter. Springer Gabler, Wiesbaden, S 195–212 Beneker C (2010) Kann ein Kuschelroboter Therapeut sein? Ärzte Zeitung. https://www.aerztezeitung.de/Panorama/Kann-ein-Kuschelroboter-Therapeut-sein-215919.html. Zugegriffen am 23.01.2022 Cooper B, Jaeger J, Bickel H (1989) Soziale Isolation, psychische Erkrankung und Altersverlauf. Eine epidemiologische Untersuchung. In: Angermeyer M, Klusmann D (Hrsg) Soziales Netzwerk. Springer, Berlin, S 231–246 Döring N (2018) Sollten Pflegeroboter auch sexuelle Assistenzfunktionen bieten? In: Bendel O (Hrsg) Pflegeroboter. Springer Gabler, Wiesbaden, S 249–267 Federspil PA, Stallkamp J, Plinkert PK (2001) Robotik – Ein Evolutionssprung in der operativen Medizin? Dtsch Arztebl 2001; 98(44): A-2879/B-2447/C-2291 Fricke A (2020) Ethikrat: Robotik in der Pflege braucht Verantwortung. Ärzte Zeitung. https://www. aerztezeitung.de/Politik/Robotik-in-der-Pflege-braucht-Verantwortung-407460.html. Zugegriffen am 23.01.2022 Hacke D (2018) Tiergestützte Therapie ist (tierisch) gut für Demenzpatienten. Carstens-Stiftung. https://www.carstens-s tiftung.de/artikel/tiergestuetzte-t herapie-i st-t ierisch-g ut-f uer- demenzpatienten.html. Zugegriffen am 23.01.2022 Hartware MedienKunstVerein (2016) Filmprogramm (Artificial Intelligence) Digitale Demenz: Robot & Frank. https://www.hmkv.de/veranstaltungen/veranstaltungen-details/filmprogramm- artificial-intelligence-digitale-demenz-robot-frank.html. Zugegriffen am 23.01.2022 Herbrechter S (2020) Unsociable robots – empathy in Robot & Frank. https://www.researchgate.net/ publication/344466319_Unsociable_Robots_-Empathy_in_Robot_Frank. Zugegriffen am 23.01.2022 Krarup B, Krivić S, Lindner F, Long D (2020) Towards contrastive explanations for comparing the ethics of plans. https://www.researchgate.net/publication/342408809_Towards_Contrastive_Explanations_for_Comparing_the_Ethics_of_Plans. Zugegriffen am 23.01.2022 Pfaff DW (2015) A neuroscientist looks at robots. World Scientific Publishing Company, Singapur, S 139 Schlißke R (2020) Einsatz der Roboterrobbe PARO bei demenziell erkrankten Menschen im stationären Setting Altersheim. https://opendata.uni-halle.de/bitstream/1981185920/34814/1/BA%20 Bibo.pdf. Zugegriffen am 23.01.2022 Shoard C (2013) Robot & Frank: vision of the future? https://www.theguardian.com/film/2013/ mar/08/robot-and-frank-vision-future. Zugegriffen am 23.01.2022
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Dirk Arenz und Havva Özcan
Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Die Protagonisten, dramaturgische Fallhöhe und assistierter Suizid Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Literatur
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D. Arenz Euskirchen, Deutschland e-mail: [email protected] H. Özcan (*) Hattingen, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_16
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Filmplakat Die Auslöschung. (© Red Arrow Studios International. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Vorspann Die Demenz im Film Mittlerweile gibt es eine Vielzahl an bemerkenswerten Filmen zum Thema Demenz, zu denen man das Fernsehspiel Die Auslöschung ohne Weiteres zählen kann. Das Werk besticht zunächst durch die schauspielerische Starbesetzung mit Klaus Maria Brandauer in der Rolle des demenzkranken Kunstprofessors Ernst Maurer Lemden und Martina Gedeck in der Rolle der Kunstrestauratorin Judith Fuhrmann. Dabei sind die Protagonisten in der kulturellen und intellektuellen „Oberschicht“ angesiedelt. Die Mehrzahl der demenzerkrankten Menschen entstammt sicherlich nicht der privilegierten Situation des HighClass-Bürgertums und deren Versorgungsmöglichkeiten. Polarisierend und irritierend wirkt, dass es in dieser sozialen Umgebung letztlich filmisch zur Tötung des Protagonisten – wenn auch auf dessen eigenen Wunsch hin – kommt. Gleichwohl werden im Film
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wichtige, statusunabhängige, ethische Fragen aufgeworfen, welche die Substanz des Menschseins und der Auflösung einer Persönlichkeit betreffen. Die Auslöschung lebt durch die ungemein vitale und intensive Darstellung seiner Protagonisten sowie durch die aufwühlenden, kontroversen Fragen. Gegebenenfalls auftretende Irritationen beim Zuschauer werden in Kauf genommen, ja sogar provoziert. Die Rezipienten werden vor die Frage nach dem eigenen Altern und dessen Art und Weise gestellt. Die darstellerisch hervorragende Leistung und genau diese Konfrontation mit sensiblen Fragen, die die Selbstreflexion anregen, machen den Film sehenswert. Wie bewerkstelligt eine kleine, österreichische TV-Produktion diese Aufgabe, ohne das zahlende Publikum zu sehr vor den Kopf zu stoßen? Die Auslöschung – ein Skandalfilm?
Film ab! Die Handlung des Fernsehfilms Die Auslöschung ist rasch erzählt: Der verwitwete Kunsthistorikprofessor Ernst Lemden (gespielt von Klaus Maria Brandauer) und die Kunstrestauratorin Judith Fuhrmann (gespielt von Martina Gedeck) lernen sich anlässlich eines kunsthistorischen Vortrags des Professors kennen. Aus einem One-Night-Stand entwickelt sich rasch eine Liebesgeschichte. Sie ziehen zusammen und planen eine gemeinsame Zukunft. Doch ein Unglück nimmt seinen Lauf: Zunächst sind es nur flüchtige Ereignisse, die der Kunsthistoriker mit Witz und Charme zu überspielen vermag, aber die Zeichen kognitiven Verfalls häufen sich unübersehbar. Die frische, gemeinsame Liebe wird auf eine unerwartet große Belastungsprobe gestellt. Noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte äußert Professor Lemden seiner großen Liebe gegenüber, im Falle des Verlusts seiner Willensfreiheit, sein Leben mit einem tödlichen Gift in Würde beenden zu wollen. Er bezieht sich dabei auf den Philosophen Seneca: cc
„Der hat die Weisheit erfasst, wer ebenso sorglos stirbt, wie er geboren ist“.
Passend zur Anekdote verbirgt er das tödliche Medikament in seiner Bibliothek hinter den Werken des römischen Stoikers. Als Gedächtnisstütze verwahrt er einen Zettel mit der Aufschrift: „Seneca bringt Erlösung“. Judith weist dieses Ansinnen – wohlwissend, dass sie es wohl sein wird, die das Gift verabreichen muss – zunächst empört zurück, vernichtet das Gift nach langem Überlegen jedoch nicht.
Den „Feind“ kennenlernen Ernst beschäftigt sich nun intensiv mit den Symptomen der Demenz. Diese Beschäftigung gleicht einer Besessenheit, was Judith stark kritisiert. Sie wirft ihm vor, er gehe abends mit der Krankheit ins Bett und stehe morgens mit ihr auf. Entgegen seiner Erwartung hilft die Kenntnis der Erkrankung dem Professor wenig: Im Verlauf versinkt er zunehmend im Bereich des Vergessens, verwechselt zum Ende sogar seine große Liebe Judith mit einer
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Liebe aus Kindheitstagen. Nach unaufhaltsamer Auflösung der Persönlichkeit des Protagonisten durch die unerbittlich fortschreitende Alzheimer-Demenz schimmert am Ende ein Augenblick zärtlicher Zuneigung durch: Seine große Liebe Judith verabreicht ihm das tödliche Medikament, was zu einem sanften und schmerzlosen Tod führt.
Die Protagonisten, dramaturgische Fallhöhe und assistierter Suizid Ernst Lemden, Kunstprofessor, Erkrankter Der Kunsthistoriker Professor Ernst Lemden wird furios von Klaus Maria Brandauer verkörpert. Brandauer spielt dabei so, wie man ihn aus verschiedenen Rollen kennt: Er sprüht vor Intelligenz und Schlagfertigkeit, er ist charmant und vital, eine akademische Führungsfigur. Er hält Vorträge vor sachverständigem Publikum, erntet dabei keinerlei Widerspruch; im Gegenteil: Sein Publikum sinkt beinahe ehrfürchtig vor der intellektuellen Brillanz des Professors zu Boden. Diese schillernden Persönlichkeitseigenschaften und sein Charme wirken auch bei jungen Frauen. So verfolgt seine spätere Lebensgefährtin, Judith Fuhrmann, eine – wesentlich jüngere – Kunstrestauratorin, gespannt lauschend einen Vortrag des Professors. Die filmische Darstellung der Figur des Kunsthistorikers wirkt dabei gefährlich nahe an der Überzeichnung. Dadurch entsteht der Eindruck, Klaus Maria Brandauer stelle ein idealisiertes Selbstportrait dar. Dies mag auch dem Autor des Magazins „Der Spiegel“ zu der ätzenden Kritik mit dem Titel „Ein Gockel zerfällt“ animiert haben. Ob man das Werk auf die Eitelkeit eines schauspielernden „Gockels“ reduzieren kann, sei dahingestellt, die Eitelkeit der Filmfigur ist jedoch greifbar und deren Erfolg bei seinem weiblichen Fan Judith (Martina Gedeck) dürfte nicht nur männliche Rezensenten irritieren. Gleichwohl imponiert die schauspielerische Leistung Brandauers in vielen Momenten mehr, als dass sie irritiert. Die vitale Figur des Ernst Lemden löst sich in seiner Konstanz zwar langsam auf, seine Brillanz bleibt jedoch fragmentarisch erhalten. Auch bei zunehmender Krankheitsentwicklung verbleiben Reste der Primärpersönlichkeit – einnehmend und brillant. Die Tragik der Auflösung der Persönlichkeit, welche sich auf hohem kognitiv-mnestischen Niveau befand, wird für die Zuschauer greifbar und emotional bedrückend nachvollziehbar, so wie es in der Hamburgischen Dramaturgie* durch Lessing geschildert wurde (Lessing 1786) *Hamburgische Dramaturgie
Im 18. Jahrhungert entwickelte Gotthold Ephraim Lessing eine Dramentheorie, die eine Weiterentwicklung der Fallhöhe war, die bereits 335 v. Chr. in der Poetik von Aristoteles geprägt wurde. Neben der Anforderung des Aristoteles, dass die Protagonisten in Tragödien aus gehobenen Lebensstatus stammen sollten, um das Ausmaß der Fallhöhe zu verdeutlichen, wird zusätzlich die Anforderung gestellt, dass die Hauptwirkung auf den Zuschauer aus Mitleid und Mitfühlen bestehen sollte. Damit prägte er die Hamburgische Dramaturgie.
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Judith Fuhrmann, Kunstrestauratorin, Angehörige Die Kunstrestauratorin Judith Fuhrmann wird durch Martina Gedeck einfühlsam und facettenreich verkörpert. Insgesamt wird es anfangs nicht überzeugend nachvollziehbar, warum es zu der bedingungslosen Liebe der jungen Frau zu dem alten Kunstprofessor kommt, doch das Alter wird durch den besonderen Charakter des Professors in den Hintergrund gedrängt. Die Liebe ist von beiden Seiten so stark, dass sie selbst beim Auftreten der Demenzerkrankung zunächst nicht ins Wanken gerät. Das Schicksal von nahen Bezugspersonen demenzkranker Menschen wird durch Gedeck hervorragend verkörpert. Bedingungsloses Vertrauen weicht einer irritierten Erschütterung beim Auftreten erster Symptome. Nach einer Phase der Verdrängung und Verleugnung kommt es zur Übernahme von Verantwortung, was bei ihrem Lebenspartner nicht auf ungeteilte Sympathie stößt. Die sensible Gratwanderung zwischen Verantwortungsübernahme und Bevormundung wird durch die schauspielerische Leistung der Protagonistin mehr als anschaulich (Abb. 16.1). Auch Phasen der emotionalen Überforderung werden beim Fortschreiten der Erkrankung bei Judith deutlich. Zum Schluss bleibt es fraglich, ob die Tötung ihres Lebenspartners nur auf dessen mutmaßlichen Willen zurückführbar ist oder, ob nicht auch eine Spur dieser Überforderung die Tat begünstigte. Das Ende bleibt diesbezüglich offen, was den Film qualitativ wertvoll macht, indem dieses ethisch hochkomplexe Thema nicht eindeutig aufgelöst wird.
Reality Check – Von der Leinwand in die Praxis Zunächst finden sich nur dezente und kaum wahrnehmbare Anzeichen des Verlusts der kognitiv-mnestischen Fähigkeiten des Kunsthistorikprofessors. Namen entfallen ihm, Dinge werden vergessen oder verlegt. Aufgrund des hohen intellektuellen Ausgangsniveaus des Professors und dessen rhetorischer Schlagfertigkeit ist es ihm zunächst ein Leichtes, diese Abb. 16.1 Ein Ausflug in die Natur. (© Red Arrow Studios International. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Defizite zu überspielen. Im Lauf der Entwicklung fällt auf, dass zunächst entferntere Bekannte oder deren Namen vergessen werden. Dieses Phänomen weitet sich jedoch im Lauf der Zeit aus, sodass selbst das Wiedererkennen naher Bezugspersonen – wie zum Beispiel seiner Kinder – beeinträchtigt wird. Wie und welche Symptome des Dementen langsam augenscheinlich werden, soll im Folgenden an der Darstellung wichtiger Szenen und prominenter Symptome aufgefächert werden.
Vergessen Ernst vergisst den Namen seines Enkels Emil anlässlich einer Familienfeier. Mit Witz und Charme überspielt er die Szene, die ansonsten peinlich hätte werden können. Später erkennt er selbst Familienangehörige und seine große Liebe Judith nicht mehr. In einer „Zwischenphase“ spielt der Protagonist mit den Symptomen des Vergessens, indem er Judith gegenüber angibt, er habe ihre Beziehung vergessen. Auch witzelt er bezüglich der Vorzüge des Vergessens etwas abgedroschen, man lerne bei Demenz ständig neue Menschen kennen. Pathognomonisch vergisst er zunächst Dinge aus dem Kurzzeitgedächtnis, so werden Namen von Arbeitskollegen oder entfernteren Bekannten nicht mehr erinnert. Dies spiegelt realistisch den Prozess des Vergessens bei Demenzentwicklungen wider: Initial ist das Kurzzeitgedächtnis betroffen, im Verlauf das Langzeitgedächtnis.
Abstraktionsfähigkeit Ernst nahm sich vor, über seinen Lieblingsmaler, Lukas Furtenagel (1505 – vor 1563), und dessen Bild „Der Maler Hans Burkmair (1473–1531) und seine Frau Anna“ ein Buch zu schreiben. Auf dem Bild zu sehen ist der Maler und seine Frau, wie sie in eine Art Spiegel oder Monstranz schauen, aus dieser ihnen zwei kleine Totenschädel – wie ein Menetekel – entgegenblicken. Die Blicke des Malers und seiner Frau treffen den Betrachter mit Melancholie. Der abgebildete Maler streckt den Zuschauern die Hand mit einer Geste entgegen, welche Resignation oder Bedauern ausdrücken könnte. Im Spätstadium seiner Alzheimer- Erkrankung nimmt Ernst Lemden auf dem Gemälde jedoch nur noch „lustige Knochenmänner“ wahr. Dies ist ein Beispiel eines oberflächlichen Konkretismus in der Wahrnehmung von Alzheimer-Patienten in späteren Stadien: Es besteht eine Unfähigkeit zur Abstraktion und zu metaphorischem Denken. In der Malerei ist das Phänomen der zunehmenden Vereinfachung von Formen und Perspektiven bis hin zu „Kritzeleien“ auch bei Künstlern bekannt. Ein beeindruckendes Beispiel einer künstlerischen Entwicklung eines Menschen mit Alzheimer-Erkrankung wurde durch Konrad und Ulrike Maurer anhand des Beispiels des Grafikers und Designers Carolus Horn (1921–1992) unter dem Titel „Wie aus Wolken Spiegeleier werden“ beschrieben (Maurer und Maurer 2001).
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Emotionalität und Wahrnehmung Während in frühen Stadien der Erkrankung Symptome verdrängt oder verleugnet werden, verbreitet sich bei Ernst zunehmende Verzweiflung. Die Angst, nicht mehr selbstbestimmt über seinen Tod entscheiden zu können, übermannt den Protagonisten. Deshalb besorgt er ein tödliches Gift und versteckt es hinter Senecas gesammelten Werken. Später kommt es zu wahnhaften Verkennungssymptomen: Judith wird als eine Jugendliebe verkannt, was an das „Capgras-Syndrom“** (Arenz 2000) denken lässt. **Capgras-Syndrom
Als Capgras-Syndrom wird eine Missidentifikation bezeichnet, die im Rahmen seltener psychiatrischer Erkrankungen auftreten kann. Am Beispiel dieses Syndroms lässt sich gut belegen, dass ein „Wiedererkennen“ einer bekannten Person nicht nur von deren äußerer Form abhängt, sondern auch vom emotionalen Vertrautheitswert. Das Erkennen naher Bezugspersonen ist damit ein „emotionales Wiedererkennen“, das die enge Verbindung zwischen optischer Wahrnehmung und Emotionalität im Erkenntnisprozess eines Individuums belegt. Diese Verbindung zwischen der sensorischen Wahrnehmung der äußeren Gestalt und der normalerweise im Erkennungsprozess stattfindenden Emotionalität der Vertrautheit ist bei Demenzprozessen auf neuronaler Ebene gestört und somit quasi entkoppelt. Während sich das Capgras- Syndrom auf ein Verkennungsmuster – bekannte Menschen werden als unbekannt verkannt – bezieht, sind bei Demenzen häufig auch Verkennungsmuster – Unbekannte werden als Bekannte verkannt – vorhanden.
Wieder zum Kind werden: Infantilisierung Anlässlich einer Familienfeier spielt der Kunsthistorikprofessor mit seinem kleinen Enkelkind exzessiv wie ein „kindischer“ und gleichaltriger Spielpartner, nicht wie ein (großväterlicher) Erwachsener. Zwar findet man im Rahmen von Demenzentwicklungen häufiger ein kognitives und emotionales Zurückgehen in die Vergangenheit, die dargestellte Szene wirkt jedoch unter klinischen Aspekten überzeichnet. So wird das Anliegen einer Umkehrung der linearen fortschreitenden Zeitachse im Film deutlich. Während sich das „normale Leben“ vorwärtsbewegt, kommt es zu einer Richtungsumkehr im Rahmen der Demenz. Besonders der frühe Abbau des Kurzzeitgedächtnisses befeuert diese „Bewegungsumkehr“ in der zeitlichen Dimension, die Erkrankten bewegen sich rückwärts zu frühen Ereignissen, zumeist in die Kindheit. Längst verstorbene nahe Bezugspersonen werden in der subjektiven Wahrnehmung wieder lebendig. Der Mensch „schnurrt“ in sich zusammen und wird wieder ein kleines Kind.
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Affektausbrüche Die souveräne Autorität des Kunstprofessors wird im Laufe seiner Demenzentwicklung porös. Affektive Ausbrüche sind die Folge, zum Beispiel, wenn ihm Judith – in gutmeinender Absicht – hilfreich als Souffleuse zur Seite springen will, als er bei einer Veranstaltung die Namen ehemaliger Mitarbeiter vergisst. Ernst wird bei diesen Gelegenheiten sehr unwirsch und verbittet sich die Einmischung seiner Partnerin. Bei Alzheimer-Patienten bekannt sind Phänomene wie Affektlabilität oder – unschön ausgedrückt – „Affektinkontinenz“. Die Folgen sind fatal. Die Souveränität eines Menschen und nicht zuletzt auch seine Freiheit äußern sich in dessen Fähigkeit, Bedürfnisse und Affektimpulse aufschieben zu können. Dies ist eine zerebral hoch entwickelte spezifisch menschliche Fähigkeit, die im zerebralen frontalen Kortex neurophysiologisch angesiedelt ist. Bei Demenzentwicklungen verliert sich diese Fähigkeit zunehmend. Affektdurchbrüche führen bei Demenzpatienten durch die gestörte Impulskontrolle zu Eigen- wie Fremdgefährdungen. In der filmischen Darstellung wird bei dem bereits dargestellten Affektdurchbruch die narzisstisch gestörte Selbstwertkontrolle des Protagonisten deutlich. Lemden wird im Moment des Zusammentreffens mit ehemaligen Arbeitskollegen mit seinem inneren „Professoren-Ich“ konfrontiert und er ist bemüht, diese Fassade gegenüber seinen Kollegen zu wahren – was ihm durch die liebevollen Hilfestellungen seiner Partnerin jedoch durchkreuzt wird. In dieser Szene zeigt sich das mittlerweile fragil gewordene Selbstwertgefühl des zunehmend demenziell eingeschränkten Kunsthistorikers. Hier wird deutlich, wie behutsam in bestimmten Situationen seitens Angehöriger vorgegangen werden sollte. Der Abbau kognitiv-mnestischer Funktionen betrifft das Selbstwertgefühl der gesamten Person. Viel Energie wird angewandt, die Fassade der souveränen und selbstbestimmten Person möglichst lange aufrechtzuerhalten. Dabei wirkt der Demenzkranke wie ein Ertrinkender, der verzweifelt und letztlich vergeblich dem Strudel der Entpersonifizierung zu entkommen sucht. Diese Verzweiflung muss von Angehörigen erkannt und angemessen berücksichtigt werden. Gerade dieser Umstand birgt die Gefahr vielfältiger Missverständnisse: Wird der Demenzkranke als die – ehemals – souveräne Person durch Angehörige verkannt, kann es leicht zu ungerechtfertigten Missverständnissen und Vorwürfen kommen. Der Demenzkranke wird dabei für Handlungen verantwortlich gemacht, für die er jedoch längst nicht mehr verantwortlich ist. Dieses Phänomen findet sich häufig im Umgang zwischen Kindern und demenzkranken Eltern. Zeit ihres Lebens waren die Eltern die großen und starken strukturgebenden Bezugspersonen der Kinder. Dies wird auch im Film anhand verständnisloser Reaktionen des Sohnes deutlich. Es dauert lange, bis der Sohn den krankheitsbedingten Zustand seines Vaters akzeptiert. Höflichkeitsfloskeln und eingespielte Rituale können auch von Demenzkranken noch über lange Zeit aufrechterhalten werden. So auch im Film. Wer fragt schon seine Eltern im Rahmen von Familienbesuchen explizit nach deren Orientierungs- und Gedächtnisfunktionen? So bietet sich eine Fülle von potenziellen Missverständnissen bei sich entwickelnden Demenzerkrankungen der eigenen Eltern.
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Freilich gibt es auch den umgekehrten Fall, dass die Fürsorglichkeit naher Bezugspersonen als Grenzüberschreitung durch den Kranken wahrgenommen wird, zum Beispiel als er sich bei Judiths Unterstützung bei der Namenserinnerung bevormundet fühlt. Der richtige Umgang mit dem bedrohten Selbstwerterleben von Demenzkranken ist somit ein Drahtseilakt, der unweigerlich zu Missverständnissen und Irritationen führen muss, wenn kein ausreichendes Verständnis gegenüber der Erkrankung vorliegt. Von hoher Wichtigkeit ist es somit, dass Angehörige von Demenzerkrankungen zum Beispiel den Rat und die Erfahrung von Menschen berücksichtigen, die sich in ähnlichen Lebenslagen befinden.
Freiheit und Demenz Dem Kunsthistoriker Lemden ist seine persönliche Freiheit – wie wohl den meisten Menschen – überaus wichtig. Sollte die Krankheit ein Stadium erreichen, indem er seine Freiheit verliert, will er nicht weiterleben. Die Frage, ob dieser Wunsch auch zur Selbsttötung oder zur Tötung auf Verlangen führen darf, ist Gegenstand intensiver ethischer Debatten. Ebenso ist die Frage, ob eine Demenzerkrankung zum Erlöschen menschlicher Freiheit führt, keinesfalls unumstritten. Was aber ist diese Freiheit? Die alte Debatte, ob es überhaupt menschliche Freiheit im philosophischen Sinn gibt, wurde vor einigen Jahren vor allem von neurobiologischer Seite neu geführt. Einflussreiche Neurobiologen propagierten in zum Teil provokant geführten Diskussionen die These, der Mensch sei aufgrund seiner biologischen Determinierung ohnehin unfrei und die Diskussionen um Verantwortlichkeit und Schuldfähigkeit müssten grundsätzlich neu geführt werden. In den letzten Jahren hat sich diese Diskussion beruhigt und zu der mehrheitsfähigen Annahme geführt, der Mensch sei zwar in seinen Grenzen biologisch determiniert, innerhalb dieser Grenzen jedoch durchaus „frei“ – frei in der Möglichkeit zur Reflexion, Willensbildung und dem Aufschieben von Bedürfnissen und Handlungen. Akzeptiert man diese konsensuale These, der Mensch könne sich innerhalb seiner biologisch-organisch festgelegten Grenzen frei bewegen, wird man notgedrungen zu der jeweiligen Positionsbestimmung dieser Grenzen genötigt. Ein Neugeborenes ist nach dieser Definition sicherlich sehr unfrei, da es durch seine biologischen Bedürfnisse unmittelbar festgelegt ist. Die Freiheit entwickelt sich demnach erst im Laufe eines menschlichen Entwicklungsprozesses. Während diese Position relativ unstrittig ist, bedeutet diese Annahme in Konsequenz jedoch auch, dass Menschen mit zum Beispiel schweren hirnorganischen Beeinträchtigungen – wie bei Demenzerkrankungen – im Laufe der Zeit an Freiheit verlieren. In letzter Konsequenz wäre dies eine Annahme, die auch auf andere (psychiatrisch-neurologische) Beeinträchtigungen übertragbar wäre. Diese These postulierte 1861 schon der einflussreiche Psychiater Wilhelm Griesinger (Griesinger 2008): Die „Annahme einer absoluten Freiheit sei irrig“. Kinder – und auch psychiatrische Patienten – seien weniger frei als gesunde Erwachsene. Die menschliche Freiheit sei dabei stets relativ und verschiedene Menschen seien in unterschiedlichem Maße frei.
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Abb. 16.2 Ärztliche Untersuchung. (© Red Arrow Studios International. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
In der aktuellen Rechtsprechung finden sich diese Aspekte wieder, wenn zum Beispiel die fachärztlich-gutachterliche Beurteilung der Geschäftsfähigkeit von Menschen gefordert wird, die an einer „die freie Willensbildung ausschließenden“ Erkrankung leiden (Abb. 16.2). Auch die Darstellung der Demenzerkrankung des Kunsthistorikers Ernst Lemden ist die Darstellung seiner kontinuierlich abnehmenden Fähigkeit, diese vormalige Freiheit auszuüben. Sein selbstbestimmtes Leben weicht unaufhaltsam einem Zustand der Abhängigkeit. Seine Lebenspartnerin Judith ist in zunehmendem Maße gefordert, auf Ernst aufzupassen und ihm Beschränkungen aufzuerlegen. Der „freie“ Wille, das Leben aktiv zu beenden, wenn eben diese Freiheit verloren geht, war bei dem Protagonisten im Film unbestreitbar vorhanden. Was jedoch ist zu tun, wenn dieser freie Wille im Verlauf der Erkrankung verloren geht?
Todeswunsch und Demenz Darf ein an Demenz erkrankter Mensch einen selbst empfundenen Todeswunsch umsetzen oder dieser gar zur Tötung auf Verlangen führen? Diese Frage wird im Film in eindrucksvoller Weise gestellt. Anfangs steht Judith dem Todeswunsch von Ernst ablehnend und entrüstet gegenüber. Im weiteren Verlauf entwickelt sie jedoch sein diesbezügliches Verständnis und verabreicht schließlich das aufbewahrte tödliche Gift. Ernst ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage, selbst das Gift zu finden und einzunehmen. Judith war mit der Pflege des demenzkranken Gatten hoffnungslos überfordert. Dementsprechend ist die Frage nicht endgültig zu beantworten, ob Judith ihren Lebenspartner tötet, weil dieser es so herbeiwünschte oder eine eigene Überforderung und Sehnsucht nach einer Lösung eine Rolle spielte. Eine schwierige und kaum beantwortbare Frage des früher kundgetanen Todeswunsches ist, ob der Wunsch zum Tode aktuell zum Zeitpunkt der Verabreichung tatsächlich noch bestand oder einem früheren Willen des Professors entsprang, der im weiteren Krankheitsverlauf nicht mehr im Vordergrund stand. So ist es für viele Menschen in ge-
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sunden Zuständen durchaus „wunschgemäß klar“, dass sie – in ferner Zukunft – nicht pflegebedürftig werden wollen und lieber tot sein möchten, als einem demenziellen Siechtum zu verfallen. Ob dieser Wille jedoch auch in Spätphasen von Demenzerkrankungen als „mutmaßlicher Wille“ in Phasen Geltung beanspruchen kann, ist umstritten. Zumindest muss die Frage ernsthaft gestellt und beantwortet werden, ob die Tötung eines Menschen auf dessen – früheren – Wunsch nicht aus anderen Motiven verwirklicht wird. Der Mensch von früher hätte sicher so aus seinem früheren Erleben heraus nicht weiterleben wollen. Ob dies auch für den Mensch von heute so gilt, muss in vielen Fällen offenbleiben. Zumindest offenbart sich in dieser Frage ein kaum lösbares ethisches Dilemma und die Argumentation von Befürwortern und Gegnern in dieser Debatte muss entsprechend gewürdigt werden.
Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Der Film Die Auslöschung ist ein sehenswerter Film, besonders bezogen auf die Thematisierung von ethischen Entscheidungen im Rahmen von Demenzerkrankungen. Zudem ist der Film schauspielerisch hochkarätig besetzt und allein schon deshalb ein „Muss“ für Interessierte an filmischen Darstellungen psychiatrischer Erkrankungen. Die Frage, worauf sich Die Auslöschung letztlich bezieht, ist dabei nicht ganz eindeutig zu beantworten, soll es vielleicht auch gar nicht. Sie bezieht sich zwar vordergründig auf die „Auslöschung“ der Person des Kunstprofessors Ernst Lemden, sie bezieht sich jedoch auch auf die Vernichtung der Persönlichkeit des Probanden durch die fortschreitende Demenzerkrankung. Nicht zuletzt wird auch die Liebesbeziehung beider Protagonisten im Film „ausgelöscht“. So geht es neben der realistischen Darstellung der Demenzerkrankung auch um das Ende einer Liebesbeziehung unter widrigen Umständen. Neben intensiven Phasen dieser Zweierbeziehung wird auch die Überforderung der nahen Bezugsperson durch die Erkrankung dargestellt. Damit wird die Frage des Umgangs mit der Demenzerkrankung aufgeworfen: Zwischen dem unbedingten Ernstnehmen der Person, der Berücksichtigung der Individualität und dem Streben nach Selbstbestimmung wird auch die notwendige Struktursetzung durch Andere thematisiert. Diese – aus Sicht der Betroffenen – fremdbestimmte Strukturbestimmung und das Schwinden der persönlichen Freiheitsgrade bestimmt die Tragik der Demenzerkrankung (Döring 2010). Dass die Erkrankung im Film mit dem Tode des Protagonisten endet, kann nicht als „versöhnliches Ende“ bezeichnet werden. Denkbar wäre zum Beispiel auch eine liebevolle Betreuung des Demenzkranken in einer schützenden und haltgebenden Umgebung. Dazu aber bedürfte es eines gewissen Ausmaßes an „Demut“ des Hauptprotagonisten Ernst Lemden (Buß 2013). Genau diese Persönlichkeitseigenschaft aber ist dem Kunstprofessor nicht zu eigen. Dies beleuchtet jedoch auch das Problem des Narzissmus und die Frage einer sich abzeichnenden Betreuungsbedürftigkeit. Das Ideal eines auf ewig jugendlich selbstbestimmten und auf unbedingte Autonomie zielenden Lebens ist kaum v ereinbar mit der Vorstellung, selbst krank, bedürftig und abhängig von der Hilfe anderer zu sein. So
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ist eine der zentralen Botschaften des Films diejenige, dass wir uns schon beizeiten entscheiden sollten, wie wir im Alter leben möchten. Die Vorstellung der ewigen autonomen Selbstbestimmung ist eine Illusion und zum Scheitern verurteilt. Wem nicht die Gnade eines schnellen unverhofften Todes zuteilwird, der wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Hilfe – und gegebenenfalls auch auf Bevormundung – anderer angewiesen sein. Die Botschaft ist, dass wir uns früh genug damit beschäftigen sollten, uns gegebenenfalls mit Strukturen anzufreunden, in denen wir bei Pflegebedürftigkeit leben und sterben können. Professor Ernst Lemden konnte dies nicht. Sein Narzissmus stand ihm dabei im Weg. „Demut“ ist dabei auf dem anderen Ende seiner Persönlichkeitsskala angesiedelt. In diesem Sinne sollten wir unsere noch vorhandene Freiheit kosten und uns die Frage nach Demut stellen, solange wir dieses noch können.
Literatur Arenz D (2000) Psychiatrische Doppelgängerphänomene unter besonderer Berücksichtigung des Capgras-Syndroms. Fortschr Neurol Psychiat 68:516–522 Buß C (2013) Ein Gockel zerfällt. Der Spiegel Zit. Zugegriffen am 06.11.2022 Döring S (2010) Batman und andere himmlische Kreaturen. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg Griesinger W (2008) Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten. Krabbe-Verlag, Stuttgart Lessing G (1786) Hamburgische Dramaturgie, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main, S 146 Maurer K, Maurer U (2001) Alzheimer und Kunst. Wie aus Wolken Spiegeleier werden. Novartis, Nürnberg
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Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Wie entstand der Film, und wer war daran beteiligt? Reality Check: Medizinische Einordnung Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Literatur
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D. Schäfer (*) Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität zu Köln, Köln, Deutschland e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_17
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Filmplakat Remember. (© Tiberius Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Vorspann Sich Erinnern ist ein spontaner oder bewusst herbeigeführter Vorgang, der dem Leitsymptom von Demenzerkrankungen, dem Vergessen, entgegengesetzt ist. Erinnern und Gedenken sind aber auch eine Grundvoraussetzung für das Erfassen und Verstehen von Geschichte und insofern seit vielen Jahrtausenden eine zutiefst menschliche Kulturleistung. Der englische Filmtitel Remember (aus dem lateinischen rememorari: zurück ins Gedächtnis holen) meint aber nicht nur die unbestimmte Grundform des Zeitwortes, sondern auch die Aufforderung: Erinnere Dich! Dieser alltägliche Imperativ kann für Demenzkranke zu einer quälenden Herausforderung werden, weshalb die Patienten Geschehenes mitunter verleugnen. Im Blick auf das historische Erinnern signalisiert to remember eine Verpflichtung, sich vergangene Ereignisse bewusst zu machen, die sonst dem Vergessen anheimzufallen drohen. Der Film besitzt als Medium ohnehin einen besonderen Bezug zum Erinnern durch die Technik des fotografischen Abbildens.
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Remember spielt mit diesen verschiedenen Bedeutungen aus Alltag, Krankheit sowie Geschichte und nutzt dabei auch noch die Mehrdeutigkeit des englischen Begriffs: Hier erinnern sich Menschen (reflexiv), und zugleich dient ein Racheplan von zwei Männern dem lange verborgenen Ziel des einen, den anderen an etwas zu erinnern (transitiv), das er offensichtlich vergessen hat (oder wollte).
Film ab! Um zu verstehen, wie der Film dieses Erinnerungsdrama umsetzt, lohnt sich ein genauerer Blick auf die Szenenfolge, die die Zuschauer – mehr oder weniger aus der Perspektive des Protagonisten – mit dem Vergessenen, Versteckten oder Verdrängten sukzessive bekannt macht. Der hochaltrige (ca. 90-jährige) Zev Guttman sucht beim Erwachen vergebens seine Frau Ruth und verlässt verwirrt sein Zimmer. Im öffentlichen Bereich des Altersheims, in dem er offenkundig lebt, trifft er die Pflegerin seiner Frau, die ihn über deren Krebstod aufklärt. Zev vergisst anscheinend dieses einschneidende Ereignis immer wieder, insbesondere beim Aufwachen. Beim Frühstück trifft er auf den Mitbewohner Max Rosenbaum, der im Rollstuhl sitzt und anscheinend Sauerstoff über eine Nasensonde erhält (Abb. 17.1). Max fragt ihn heimlich, ob er noch weiß, was er in der Zeit nach Ruths Tod tun wollte, doch Zev verneint es. Max erwähnt, dass er „alles“ niedergeschrieben habe.
Die Erinnerungsreise beginnt Nach einer Totenfeier für Ruth zum Ende der Trauerwoche im mutmaßlich jüdischen Heim treffen die beiden nochmals aufeinander. Max zeigt der Urenkelin von Zev dessen Hochzeitsbild mit Ruth. Dabei erfahren wir, dass die beiden 1946 geheiratet haben, nachAbb. 17.1 Beim Frühstück. (© Tiberius Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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dem Zev aus Deutschland gekommen war; Zevs Erinnerung muss aber auch hier auf die Sprünge geholfen werden. Max gibt ihm unauffällig einen Umschlag und weist ihn an, diesen allein zu öffnen. Im Umschlag findet Zev etwa 1000 Dollar, eine Fahrkarte sowie ein mehrseitiges Schreiben mit Handlungsanweisungen, das Zev während der folgenden Reise immer wieder zu Rate zieht, um sich zurechtzufinden. Zunächst sehen wir aber lediglich, dass der alte Mann heimlich – beobachtet allein von Max, der offensichtlich alles vorbereitet hat – am Abend das Heim bei New York verlässt und mit einem Taxi zum Bahnhof fährt, um dort den Nachtzug nach Cleveland zu nehmen. Zev erzählt im Zug einem kleinen Jungen, dass sein hebräischer Name „Wolf“ bedeutet. Er liest im Brief, dass dessen Verfasser Max alles geplant habe und Zev jeden Schritt genau befolgen und dann durchstreichen solle. Ein Einschub zeigt uns zeitgleich Zevs inzwischen sehr besorgten Sohn Charles mit seiner Frau beim Heimleiter, wo sie mögliche Maßnahmen besprechen, wie der verschwundene Vater wiederzufinden sei. Dabei wird Zevs Demenzerkrankung und sein selteneres Pianospiel erwähnt. Der Heimleiter schlägt vor, dass Charles sich von der Kreditkartenfirma über den Ort in Kenntnis setzen lässt, an dem sein Vater die Karte einsetzt. Im Zug verwechselt Zev nach einem Nickerchen den Jungen mit seinem Urenkel Adam; erst ein Blick in den Brief erklärt ihm wieder die aktuelle Situation. Er notiert für zukünftige Fälle „read letter“ auf sein Handgelenk. In Cleveland wird Zev von einem Chauffeur abgeholt und zu einem Waffengeschäft gefahren, wo er eine 9 mm-Glock- Pistole kauft. Vielleicht entscheidet er sich für dieses Modell, weil der Verkäufer erwähnt, dass es nicht aus Deutschland, sondern aus Österreich kommt. Zev bittet um eine schriftliche Instruktion, wie die Waffe zu bedienen sei. Vom Chauffeur in ein Hotel gebracht, wird er vom Portier mit seinem Namen angesprochen – der Freund habe ihn bereits angekündigt und ein Zimmer sowie ein Taxi für den nächsten Morgen reserviert und bezahlt. Max ruft ihn dort an und vergewissert sich, dass alles nach Plan läuft. Zev nimmt ein Bad und betrachtet den Duschkopf über sich (eine KZ-Reminiszenz?) und später auch eine eintätowierte Häftlingsnummer an seinem Unterarm.
Auf der Suche nach dem Richtigen: Irrfahrten durch Nordamerika Am nächsten Morgen besucht Zev einen älteren Mann, den er nach dessen Namen – Rudy Kulander – fragt. Als der andere bejaht, bedroht ihn Zev mit der Pistole. Im folgenden Dialog, der kurz auch auf Deutsch geführt wird (Zev will diese Sprache aber nicht benutzen), erfahren wir, dass Kulander im Zweiten Weltkrieg zwar gedient hat, aber nicht in Auschwitz, sondern als Soldat in Afrika bei Rommel. Kulander betont, dass er ein stolzer Deutscher war und auch jetzt noch immer stolz auf seinen damaligen Dienst sei. Um Juden habe er sich damals nicht gekümmert. Weil sie Deutschland „Probleme“ bereitet hätten, habe er es seinerzeit gut gefunden, dass sie deportiert oder in Arbeitslager gebracht worden seien – aber nicht das, was tatsächlich passiert sei:
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cc
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Not what they did. It was shameful, but that was not me.
Zev macht sich mit einem Bus auf den Weg nach Kanada. Erst jetzt erfahren wir aus dem Brief sowie aus einer Rückblende, die Max und Zev beim Studium alter Dokumente zeigt (die Rückblende als filmisches Mittel zur Inszenierung der Erinnerung!), scheinbar objektiv (aber, wie sich zeigen wird, im Sinne einer figuralen Analepse*) den Zweck der ganzen Reise. Max hat demnach mit Hilfe des Simon-Wiesenthal-Centers erfahren, dass ehemalige SS-Offiziere aus Auschwitz kurz nach dem Krieg die Identität jüdischer Häftlinge angenommen hatten; dies treffe auch auf einen „Blockführer“ namens Otto Wallisch zu, der seither den Namen Rudy Kulander tragen soll. Vier Kulanders seien in Nordamerika ausfindig gemacht worden, doch aus Mangel an Beweisen könne man gegen keinen rechtlich vorgehen. Deshalb habe Zev versprochen, den richtigen zu finden. *Analepse
Der Begriff Analepse (Rückblende, flashback) dient der Bezeichnung für alle Verfahren, die retrospektive Elemente in die Erzählung integrieren, beispielsweise kurze, schnappschussartige Rückverweisungen, aber auch längere Vorgeschichten. Narrationale Analepsen nehmen die Rückblende aus der auktorialen Perspektive der narrativen Instanz des gesamten Films vor, figurale hingegen aus derjenigen einer einzelnen erzählenden oder denkenden Figur; vgl. Kuhn 2011, S. 199. Zev passiert mit dem Bus die kanadische Grenze und zieht nach erneuter Lektüre des Briefs sein Sakko aus. Bei der Personenkontrolle außerhalb des Busses meint man einen Moment mit dem Grenzbeamten zu ahnen, dass in Zevs Handbeutel etwas Verdächtiges (nämlich die Pistole) versteckt sein könnte. Kurz darauf ist zu sehen, dass die Pistole die ganze Zeit im Bus unter seinem Sakko versteckt war. In einem kanadischen Pflegeheim trifft Zev den zweiten, bettlägerigen Kulander. Als dieser bestätigt, dass er in Auschwitz war, erklärt Zev, dass er dort auch war und seine ganze Familie verloren habe. Kulanders Bedauern kann er nicht akzeptieren: cc
What you did is something you cannot apologize for. I swore I would kill the man responsible for the death of my family.
Er will ihn erschießen, doch Kulander (2) zeigt ihm seine eigene Häftlingsnummer; allerdings wurde er dort nicht als Jude, sondern als Homosexueller gequält. Zev entschuldigt sich weinend. Nach Verlassen des Zimmers hört er aus der Ferne Klaviermusik von Moritz Moszkowski, kommt in einen fast leeren Aufenthaltsraum und spielt selbst einige Takte aus dem Klavierkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy (den er zusammen mit den beiden ebenfalls erwähnten Komponisten Meyerbeer und Moszkowski offensichtlich als jüdischen Musiker betrachtet, obwohl Mendelssohn im Alter von sieben Jahren mit seinen Geschwistern getauft wurde).
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Begegnung mit einem (Neo)Nazi Nach einer weiteren Busfahrt über Tausende von Meilen betritt Zev ein Hotel im Nordwesten der USA (Idaho). Erschöpft nimmt er die Erklärungen der Rezeptionistin nur am Rande wahr und betrachtet den künstlichen Wasserfall in der Lobby (s. Filmplakat). Als die Kamera in eine Position hinter das fließende Wasser wechselt, scheint das dadurch verschwommene Bild Zevs aktuelle kognitive Verfasstheit widerzuspiegeln. Beim Frühstück wird Max’ Brief versehentlich mit Kaffee überschüttet; Zev trocknet ihn und versucht, die ebenfalls verschwommenen Schriftzüge nachzuziehen. Dabei erfahren wir aus dem Schreiben ein neues Detail: cc
Besides me, you are the only person, who can still recognize the face of the man who murdered our families.
Diese dramaturgische Steigerung weist auf die Bedeutung des persönlichen Erinnerns hin, das (einer tickenden Uhr gleich) in den 2000er Jahren angesichts des hohen Alters der Zeitzeugen unwiederbringlich verlorenzugehen droht. Ein von Max ebenfalls bereits bezahltes Taxi bringt Zev an den Rand eines Steinbruchs, der immer wieder von Sprengungen erschüttert wird, und zu einem verwahrlosten Haus. Hier will Zev vergeblich den Fahrer entlohnen. Er wartet den ganzen Tag auf der Veranda und sammelt Müll ein, bis abends der Besitzer (zugleich lokaler Sheriff oder Ranger) eintrifft. Er ist der Sohn des dritten Kulander und erzählt, dass sein Vater vor drei Monaten verstorben sei. John Kulander lädt den ziemlich ausgetrockneten Zev in sein Haus ein und gibt ihm zunächst mehrere Gläser Wasser zu trinken. Die Schäferhündin Eva, vor der Zev Angst hat, wird eingesperrt. Zev erfährt, dass der Vater sich im Alter gut gehalten habe, weil er „gute Gene“ hatte. Ständig habe er von Deutschland erzählt. Schließlich zeigt John die Sammlung seines Vaters, zunächst eine Hakenkreuzfahne, die angeblich in der „Kristallnacht“ 1938 geflaggt war: cc
Dad used to say that that flag, um, witnessed the beginning of history. […] Kristallnacht. Yeah, he said he had a hammer and he broke a bunch of jewelry store windows.
Neben anderen Devotionalien, u. a. der Abbildung eines hässlichen Juden, findet Zev auch eine Erstausgabe von Mein Kampf und eine SS-Uniform, die der Sheriff „unbezahlbar“ findet. Zev akzeptiert jetzt einen alkoholischen Drink, den er schwitzend und mit zitternder Hand annimmt. Als John fragt, woher Zev seinen Vater kenne, antwortet der: „Von Auschwitz.“ Doch John hält das für unmöglich: Der Vater wäre zwar gerne in Ausschwitz gewesen, war aber nur Koch beim Militär und bei Kriegsausbruch erst zehn Jahre alt. Zufällig sieht John Zevs eintätowierte Nummer, was die Situation abrupt eskalieren lässt: Der Gastgeber beschuldigt den Juden lautstark und aggressiv, sich unter Vortäuschung alter Freundschaften eingeschlichen zu haben, und hindert ihn am Weggehen. Zev uriniert auf
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die Couch. Eva bellt ununterbrochen, was John zusätzlich reizt und eine KZ-Atmosphäre heraufbeschwört. John beleidigt Zev mit „Heil Hitler“-Rufen und hetzt schließlich Eva aus dem Nachbarraum auf ihn. Die Hündin stürzt sich auf ihn, aber Zev erschießt sie im letzten Moment. John greift zu seiner Waffe, aber Zev tötet auch ihn; der Nazi stirbt nach einem antisemitischen Schimpfwort: cc
fucking kike.
Verkennung der Realität und wahre Erinnerung Zev stellt sich mit Kleidern unter die Dusche und wirft sich anschließend erschöpft auf Johns Bett. Nach dem Aufwachen sucht er wieder Ruth und taumelt orientierungs- und fassungslos durch die verwüstete Wohnung (was die Kameraführung eindrucksvoll unterstützt), bis der Brief ihm wieder Klarheit verschafft. Er informiert Max telefonisch und erklärt, dass er weitermachen und die Sache zu Ende bringen will. Zev zieht Kleider des verstorbenen Vaters an und begibt sich wieder auf eine lange Reise nach Nevada. Dort meint er beim Aussteigen Ruth zu sehen und verursacht einen Verkehrsunfall, der ihn in ein Krankenhaus bringt. Dadurch erfährt Charles den Aufenthaltsort seines Vaters. Zev wacht dort auf und telefoniert mit ihm; er erwartet, dass Ruth ihn abholt. Ein Mädchen, dem er Süßigkeiten schenken will, findet in seinem Jackett stattdessen den Brief und liest ihn von Beginn an vor. Zev und die Zuschauer erfahren dadurch, dass Max Zevs und Ruths Übersiedlung in das Heim vor einem halben Jahr als einen Wink des Himmels empfunden hatte: cc
I immediately recognized you from Auschwitz, although you did not remember me.
Max bezeichnet sie beide als die letzten Überlebenden ihres Gefangenenblocks. Er habe zusammen mit Simon Wiesenthal schon Dutzende ehemaliger Nazis gefangen und den Gerichten übergeben. Bei Otto Wallisch sei aber zu erwarten, dass er – selbst beim Vorliegen von Beweisen gegen ihn – sterben werde, bevor er deutschen Gerichten ausgeliefert werden könne. Deshalb müsse Zev ihn töten, das habe er auch Ruth versprochen. Zev fährt ein letztes Mal mit dem Taxi nach Kalifornien, wo der vierte Kulander bei seinen Nachkommen wohnt. Als Besucher spielt er erneut auf dem Piano, dieses Mal Richard Wagner, was der eintretende Kulander mit den Worten kommentiert: cc
A survivor should not like Wagner.
Zev meint auf Deutsch, Kulanders Gesicht zwar nicht zu erkennen; aber seine Stimme habe sich nicht verändert. Er siezt ihn, aber der andere duzt ihn. Kulander hatte sein
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ommen schon lange erwartet; niemand habe ihn in den vergangenen Jahrzehnten als den K wahrgenommen, der er früher war. Zev kommentiert das mit den Worten: Living a lie is not a life. Kulander umarmt ihn (Abb. 17.2), aber Zev wehrt ab und nennt ihn Otto Wallisch. Kulander ist verwirrt und hält Zev für verrückt. Aber Zev entgegnet: cc
„You’ve lived a lie for so long you’ve convinced yourself it is true“.
und bedroht ihn mit der Pistole, um das Eingeständnis der Wahrheit zu erzwingen. In Anwesenheit seiner Familie und des inzwischen eingetroffenen Charles gibt Kulander zu, nicht Gefangener, sondern SS-Blockführer in Auschwitz gewesen zu sein; sein Name sei Kunibert Sturm gewesen. Zev widerspricht und hält ihn immer noch für Otto Wallisch, doch Kulander erklärt, Zev selbst sei Wallisch; sie beide hätten sich gegenseitig nach dem Krieg die Nummern der Häftlinge eintätowiert. Zev hält das für Lüge, aber Kulander erzählt, dass Zev diesen Namen gewählt habe, weil er „Wolf“ bedeute, denn (auf deutsch) „Du sagtest: ‚Wir waren Wölfe‘“. Kulander will ihn umarmen, aber Zev erschießt ihn, sagt dann noch cc
I remember.
und erschießt sich selbst. Im Altersheim bei New York verfolgen die Senioren einen Nachrichtenbericht über diese Ereignisse. Als eine Bewohnerin sagt, Zev hätte nicht gewusst, was er tat, widerspricht Max und nennt die richtigen Namen der beiden; sie hätten seine Familie ermordet. Abb. 17.2 Kulander ist verwirrt und hält Zev für verrückt. (© Tiberius Film. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Wie entstand der Film, und wer war daran beteiligt? Die Genese von Remember, dieser Mischung aus historisch dimensioniertem Psychothriller und Road-Movie, war ungewöhnlich: Das Drehbuch entstand mutmaßlich bereits um 2005; es war das erste derartige Werk seines Autors Benjamin August (* 1979), eines US-Amerikaners aus New Jersey mit jüdischen Wurzeln. August lebte aber zu dieser Zeit als Sprachlehrer in Hanoi, und ihn inspirierte anscheinend nicht nur die schwierige Erinnerung an die Shoah, sondern auch an die Rolle der US-Amerikaner im Vietnamkrieg. Ein weiterer Ausgangspunkt war möglicherweise die 2002 lancierte Operation Last Chance des Simon-Wiesenthal-Centers, die versuchte, mit Hilfe von Kopfgeldern die letzten noch lebenden Naziverbrecher aufzuspüren. 2009–2012 erregten außerdem die Verhaftung, Auslieferung und Verurteilung des ehemaligen KZ-Wachmanns John Demjanjuk internationales Aufsehen. Das Drehbuch fand anscheinend wegen des notwendig hohen Alters der Hauptdarsteller über längere Zeit keinen Produzenten – bis der ungarisch-kanadische Produzent Robert Lantos (* 1949) zugriff, dessen Familie kurz vor seiner Geburt aus Ungarn flüchtete. Lantos hatte bereits 2005 mit dem kanadisch-armenischen Regisseur Atom Egoyan (* 1960) Where the truth lies (2005) produziert, in dem ebenfalls die Verschränkung von Lüge und Wahrheit eine Hauptrolle spielt. Egoyan wiederum thematisierte bereits 2002 mit Ararat „eine kunstvolle Reflexion über Schwierigkeiten sowie die Notwendigkeit des Erinnerns“ an den armenischen Völkermord (https://www.filmdienst.de/film/details/521711/ararat; die Parallele zu Remember stellt Baron 2021, S. 277 f., her). Weitere Erinnerungsgeschichten enthalten seine Filme Devil’s knot (2013) und The Captive (2014), die mit Remember (2015) als eine Art thematisch lose Trilogie verstanden werden können. Allerdings war die Unsicherheit des Erinnerns schon vorher ein wichtiges Motiv im internationalen Film; Gedächtnispathologien in Verbindung mit Psychothrillern finden sich insbesondere in Christopher Nolans Memento (2000), Won Shin-yun’s Salinjaui gieokbeob (Memoir of a Murderer, 2017) und in Erik Van Looys De Zaak Alzheimer (Lost memory – Killer ohne Erinnerung, 2003). Remember war kommerziell zwar kein Erfolg (Budget von 9,6 Mio USD; Einnahmen von 3,7 Mio USD), erhielt aber für Drehbuch, Regie und Hauptdarsteller einige Preise und Nominierungen (u. a. beim Filmfestival in Venedig 2015). Während der Plot sehr unterschiedliche Kritiken erhielt (negativ insbesondere Roschy 2015: „kolportagehaftes Psychodrama“, „B-Movie-Plot“), wurde die schauspielerische Leistung des 86-jährigen Christopher Plummer als Zev Guttman einhellig bewundert. Dies gilt umso mehr, als im Film längere Passagen ohne Dialoge ablaufen und das Handlungs- und Darstellungstempo insgesamt langsam, gewissermaßen altersangepasst erscheint. Zwei andere Rollen wurden mit prominenten älteren deutschsprachigen Schauspielern besetzt, die einschlägige Erfahrung mit dem NS-Sujet aufwiesen: Der Schweizer Bruno Ganz (74), bekannt für seine Hitlerrolle in Der Untergang (2004), spielte den ersten Rudy Kulander, der gleichaltrige Jürgen Prochnow (Das Boot, 1981) den letzten. Martin Landau als US-amerikanischer
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Schauspieler mit österreichisch-jüdischen Wurzeln, der schon 1990 in Max and Helen den Nazi-Jäger Simon Wiesenthal gab, übernahm mit 87 Jahren die Rolle des körperbehinderten Max Rosenbaum.
Reality Check: Medizinische Einordnung Der Filmkritiker Jörg Taszman (2015) hielt die Verfolgung von einstigen Nazi-Schergen durch einen alten Mann, „der nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte ist“, für „unrealistisch“. Doch für den Plot ist (1.) Zevs Demenzerkrankung entscheidend. Sie wird durch das repetitive Vergessen der jüngsten Vergangenheit und durch seine Hilflosigkeit im Alltag auch eindrücklich dargestellt: Fast die gesamte Reise ist von Max durchorganisiert und bezahlt. Charakteristisch für diese Abhängigkeit ist die Szene eines Telefonats mit Max, in der Zev nebenher im Hotelzimmer die übliche feuerpolizeiliche Anweisung „follow the instructions“ liest – und tut, was Max ihm sagt. Trotzdem scheitert Zev zweimal beinahe, in Cleveland und Idaho, jeweils am Ende einer Fahrt; außerdem trinkt er zu wenig und entwickelt eine Inkontinenz. Zevs Sohn Charles benennt die Demenz als medizinische Diagnose mehrfach explizit, ohne sie weiter zu spezifizieren; sie war ihm zufolge auch der Grund für die Aufnahme in das Heim. Liest man das Drehbuch, so wird diese Diagnose mindestens in den ersten zwei Dritteln des Plots recht eindeutig vermittelt; insofern ist es vielleicht ein Desiderat in der ansonsten phänomenalen Schauspielkunst Plummers, dass Zev trotz der dargestellten Schwächen und Verwirrung immer wieder sehr gravitätisch und mit großer Ausstrahlung auftritt: Er wirkt einfach nicht wie ein mit Hilfe von Texten und Anrufen ferngesteuerter Roboter, den der Scriptautor Benjamin August uns vorstellen wollte. Unrealistisch ist mit Sicherheit auch (2.) die breit dargestellte ‚postsomnale‘ Amnesie, auch wenn sie im Alltag als harmlose Form von kurzer (!) zeitlicher und örtlicher Orientierungsstörung beim Aufwachen (‚Schlaftrunkenheit‘) vorkommt. Vergesslichkeit und Demenz sind vielmehr eher mit Schlafstörungen assoziiert, die im Film nirgends in Szene gesetzt sind. Bei Zev kommt schließlich (3.) eine dissoziative Amnesie** als Diagnose in Frage. Folgt man dieser Spur, die im Kino entgegen der psychiatrischen Wahrscheinlichkeit gar nicht so selten betreten wird (und dort womöglich noch Reste der psychoanalytischen Theorie der Verdrängung einschließt), so hätte Zev durch die Erfahrung als KZ-Wachmann und/oder den Zusammenbruch des Nationalsozialismus bereits vor seiner Heirat mit Ruth (1946) eine Amnesie erlitten, die bis zur Gegenwart des Films andauert und ihn an die eigene Identität eines jüdischen Verfolgten glauben lässt. Vielleicht könnte man sogar seine Übersiedlung in die USA insgesamt als dissoziative Fugue*** interpretieren.
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**Dissoziative Amnesie
Die dissoziative Amnesie meint ein Vergessen, das nicht mit medizinischen Störungen im Körper, insbesondere im Gehirn erklärt werden kann, sondern allein durch psychische Ereignisse in der jüngsten, gelegentlich aber auch weit zurückliegenden Vergangenheit, typischerweise nach sexuellem Missbrauch und posttraumatischen Belastungsstörungen infolge von Todesfällen, Krieg oder Naturkatastrophen. Sehr selten, aber gerade auch bei Kriegsveteranen beschrieben, tritt diese Amnesie auch generalisiert auf, betrifft also die Orientierung bezüglich der personalen Identität und gesamten Lebensgeschichte, manchmal einschließlich sicher erworbener Fertigkeiten und Informationen über die Welt.
***Dissoziative Fugue
Die dissoziative Fugue (Poriomanie) beschreibt das Phänomen eines plötzlichen, zwanghaften und oft wiederholten Weggangs aus einer vertrauten Umgebung (Familie, Arbeit) im Zusammenhang mit einer dissoziativen Amnesie. Wenn die Fugue mehrere Tage oder länger andauert, ist es möglich, dass Menschen weit reisen, einen neuen Job mit einer neuen Identität beginnen und sich keiner Änderung in ihrem Leben bewusst sind. Die dissoziative Fugue tritt im Gegensatz zum Simulantentum spontan und unwillentlich auf.
Max Rosenbaum hätte dann durch seinen Plan die Funktion eines Therapeuten übernommen, der den Patienten durch unterstützendes Umfeld und Anleitung langsam an seine wahre Vergangenheit heranführt. Zudem wird berichtet, dass die Symptome einer dissoziativen Amnesie mit dem Alter abnehmen können; andererseits scheinen auch Demenzerkrankungen häufiger bei Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung aufzutreten (Günak et al. 2020). Was allerdings klar gegen eine dissoziative Amnesie spricht, ist nicht nur die Seltenheit des Phänomens, sondern auch, dass die Betroffenen Schwierigkeiten haben, Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten – die Figur des Ehemanns und Familienmenschen Zev wäre dann unglaubwürdig. Außerdem könnten Betroffene an unwillkürlichen Flashbacks leiden, die im Film nicht dargestellt werden. Vielmehr wird die Rückkehr zur Erinnerung (re-member) für die Zuschauer fast unmerklich und als Prozess gestaltet: Zevs Waffenkauf erinnert ihn womöglich flüchtig an seine einstige Vertrautheit mit Handfeuerwaffen, auch wenn er keine deutsche Mauser-, Walther- oder Sauer-Pistole erhält, sondern eben eine österreichische Glock. Seine Fähigkeit, Menschen mit der Waffe zu bedrohen und sie sogar zu töten, wächst im Laufe des Films beeindruckend – vielleicht wird sie durch die Erfahrung im Haus des Nazis, der seine Hündin nach Hitlers Freundin nennt und dessen Kleidung Zev sich aneignet, gewissermaßen
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getriggert. Und spielt Zev im Heim des KZ-Opfers Kulander (2) noch Mendelssohns erstes Klavierkonzert, so intoniert er in der Umgebung seines ehemaligen Wachkumpans Kulander (4) alias Sturm Richard Wagners Tristan (‚Isoldes Liebestod‘). Doch dieses allmähliche Eintauchen in die eigene Vergangenheit lässt Zevs Alltagskompetenz wachsen, was in diametralem Widerspruch zu seiner Demenzerkrankung (s. 1.) steht: Seine letzten Rechnungen zahlt er selbst, und schließlich erinnert er sich an alles. Bei diesem medizinisch letztlich unglaubwürdigen Prozess des Erkennens bzw. der psychologischen Katharsis spielt übrigens das Aussprechen des Namens – typisch innerhalb der jüdischen Kultur und Religion – für die Stimulanz des Gedächtnisses und der Identität eine Schlüsselrolle (wie bei in Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ das Schmecken des Madeleine-Gebäcks): Erst als Zev von seinem ehemaligen Kameraden in der Originalsprache mit „Wolf“ benannt wird, kann er sich insgesamt erinnern – was ihn offensichtlich angesichts seiner fast lebenslangen Verkennung der eigenen Identität so überfordert, dass er zum Mörder wird und sich selbst richtet.
emenz und Amnesie als Metaphern für Verleugnung D des Nationalsozialismus Mit diesem zugegebenermaßen dick aufgetragenen Ende wird aus dem Film endgültig auch ein Lehrstück für den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, jedenfalls aus der Sicht von deutschen Zuschauern. Im Grunde werden fünf Positionen holzschnittartig in Szene gesetzt und von fünf (Beinahe)„Überlebenden“ verkörpert: (1.) Der verstorbene Kulander (3), der von seinem Sohn John kritiklos vertreten oder gar übertroffen wird, sammelte Devotionalien und schwelgte in Erinnerungen an die „Kristallnacht“, die er allerdings als Achtjähriger erlebt hatte und als Beginn der Geschichte glorifizierte. So brutal, grobschlächtig, Angst einflößend und menschenverachtend die beiden (Neo)Nazis auch dargestellt werden: Ihre Erinnerung wirkt kindisch und sie sind gesellschaftliche Versager. Ihr Haus steht am Rand eines Steinbruchs, der es (nach Aussage des Rangers) irgendwann verschlingen wird. So bedrohlich die Explosionen im Steinbruch wirken und ein schauerliches Ambiente zu den schrecklichen Ereignissen im Haus bilden: Sie symbolisieren, dass die Bewohner die Vergangenheit nicht verstanden haben, weil sie sie nur ‚steinbruchartig‘, d. h. bruchstückhaft und höchst einseitig rezipieren. Der Beginn der Geschichte 1938 markierte vielmehr historisch in vieler Hinsicht ein Ende (oder zumindest den Anfang davon), und auch die aktuellen Nazis haben keine Zukunft – so könnte man die Episode optimistisch interpretieren.
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(2.) Nur wenig besser wirkt der ehemalige Afrikasoldat Kulander (1): Auch er sammelt in einem Fotoalbum fixierte, unkorrigierte Erinnerungen, auf die er stolz sein möchte, mit General Rommel als Helden des Afrikafeldzugs. Kulander (1) distanziert sich in seinem kurzen Auftritt nur von der Rassenvernichtung der Nazis, nicht aber von ihrem Rassismus und auch nicht von seinem eigenen Handeln als Soldat, das in Wahrheit diese Politik unterstützte und das Morden verlängerte. Durch sein Desinteresse an dem jüdischen Schicksal und seine pauschale Schuldzuweisung an namenlose „they“, die allein schändlich gehandelt hätten, steht er für Positionen, die nur scheinbar entschuldigen und die vermutlich viele Deutsche vom Ende der 1940er bis zu den 1970er Jahren teilten. (3.) Differenzierter wirkt hingegen Kulander (4) alias Kunibert Sturm, allerdings nur im Blick auf seine eigene Person. Als ehemaliger KZ-Wachmann musste er aus Furcht vor Strafe seine eigene Identität verleugnen, selbst vor seiner Familie. Darunter litt er angeblich so sehr, dass er immer wieder in heimlichen Selbstgesprächen sich selbst mit wahrem Namen und Vergangenheit anreden musste, um nicht seine eigene Geschichte zu verlieren. Diese bewusste Selbstverleugnung scheint er als andere Form von Bestrafung zu empfinden. Die Begegnung mit Zev rührt ihn sehr, doch sie kommt für ihn zu spät: „It has been too long.“ Sie sind jetzt beide zu alt, um noch etwas verändern zu können. Ob er damit ein verpasstes gemeinsames Outing oder gar eine Bitte um Vergebung meint, darf freilich bezweifelt werden: Die Opfer spielen für ihn anscheinend keine Rolle; vielmehr inszeniert er sich selbst als Opfer der Umstände. Doch immerhin hat sein Leiden unter der Lebenslüge einer falschen Identität nicht dazu geführt, dass er die Erinnerung an die Vergangenheit verfälscht: Er weiß um die historische Wahrheit, auch wenn Zev das bestreitet, ist jedoch zu feige, sich ihr öffentlich zu stellen – ein Phänomen, dass bei manchen Angeklagten der letzten KZ-Prozesse zu beobachten ist. (4.) Zev hingegen hat möglicherweise durch eigene psychopathologische Vorgänge, vielleicht aber auch durch bewusstes Ausblenden sich völlig von seiner Vergangenheit getrennt. Auf ihn selbst trifft zu, was er Kulander (4) vorwirft: So lange eine Lüge gelebt zu haben, dass er überzeugt ist, sie sei die Wahrheit. Anders als sein ehemaliger Kamerad personifiziert Zev die Position der radikalen Verleugnung von Geschichte, die es in der Realität tatsächlich in Form von Holocaust- und Auschwitz-Leugnungen gibt. Nicht-Wahrhaben-Wollen (oder -Können), was unfassbar ist, geht häufig mit Aggression gegenüber denen einher, die die Wahrheit vertreten: In diesem Sinne folgerichtig erschießt Zev seinen ehemaligen Kameraden. Vorher lebt er aber als angebliches KZ-Opfer und künstlerisch begabter Jude ein geschütztes und geachtetes Leben: Damit verkörpert er in übersteigerter Weise die Täter-Opfer-Umkehr.
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(5.) Max schließlich übernimmt einerseits die undankbare Rolle des Historikers, der zwar aufgrund von Quellen den fundiertesten Blick auf die Vergangenheit hat, aber (in seinem Fall aufgrund von körperlicher Schwäche) trotzdem Lücken in seinem Wissen hat, die er selbst nicht ausräumen kann, weshalb er Zev auf stellvertretende Aufklärungsreise schickt. Gleichzeitig verlässt er aber die Position des objektiven Forschers, wenn er Vergeltung für das erlittene Unrecht nicht nur einfordert, sondern sie mit Hilfe seines raffinierten Plans durchsetzt und gewissermaßen zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt, anstelle einfach nur Zev im Altersheim umzubringen. Damit entspricht er dem Narrativ oder Klischee des listigen Juden, der durch bloßen Verstand die Stärke und Barbarei der Feinde überwindet und (göttliche) Gerechtigkeit nicht nur einfordert, sondern durch aktives Handeln im letzten Moment wiederherstellt.
Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Remember stellt den Versuch dar, mit filmischen Mitteln (nicht zuletzt zahlreichen pseudoobjektiven Rückblenden) die letzten Zeugen der Shoah in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts mit ihrer Vergangenheit zu konfrontieren und daraus ein in sich geschlossenes, zielgerichtetes Erinnerungsdrama zu entwickeln. Daran werden auch die Zuschauer durch ‚unzuverlässiges Erzählen‘ aus Sicht des verkennenden Protagonisten und durch den abschließenden ‚perzeptiven Twist‘ (Strank 2014, S. 192 f.) unmittelbar beteiligt. Dabei benutzt der Film ein Hauptproblem der Generation 80+, die Demenz, um verschiedene Formen der Vergangenheitsbewältigung und Identitätsfragmentierung zu dechiffrieren. Demenz wird dabei offensichtlich für filmisch-dramaturgische Zwecke instrumentalisiert und fern der klinischen Realität in Szene gesetzt. Damit steht das Drama keineswegs allein; eine ganze Reihe von Texten und Filmen beschäftigt sich mit der Verbindung von Holocaust und Demenz (Vice 2019). Gleichzeitig weist Remember auf das Problem hin, dass 70 Jahre nach Kriegsende nicht nur persönliches Erinnern (vgl. Magilow 2021), sondern auch irdische Gerechtigkeit zu scheitern drohen, was die unbefriedigende Realität der letzten deutschen NS-Prozesse spiegelt. Dass obendrein ein Vertreter des US-amerikanischen Staates als (Neo)Nazi inszeniert wird, soll womöglich das archaische Motiv der persönlichen Rache (anstelle einer regulären Verfolgung durch die Justiz) unterstützen. Inwieweit dieses hollywoodeske Konzept künstlerisch und medizinisch aufgeht, ist nicht nur eine Frage der fachlichen Interpretation, sondern vor allem des persönlichen Geschmacks. Danksagung: Dr. des. Bernd Schon (Brühl/Rhld.) bin ich für seine wertvollen Hinweise besonders verbunden.
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Literatur Baron L (2021) Persisting parallels, resistant particularities: Holocaust analogies and avoidance in Armenian genocide centennial cinema. In: Ross SM, Randhofer R (Hrsg) Armenian and Jewish experience between expulsion and destruction. De Gruyter, Berlin, S 267–296 Günak MM et al (2020) Post-traumatic stress disorder as a risk factor for dementia: systematic review and meta-analysis. Br J Psychiatry 217(5):600–608 Kuhn M (2011) Filmnarratologie: Ein erzähltheoretisches Analysemodell. De Gruyter, Berlin Magilow DH (2021) The era of the expert: dementia, remembrance, and jurisprudence in Atom Egoyan’s Remember (2015). Holocaust Stud 27:218–234 Roschy B (2015) Kritik zu Remember. https://www.epd-film.de/filmkritiken/remember. Zugegriffen am 03.01.2023 Strank W (2014) Twist Endings. Umdeutende Film-Enden. Schüren, Marburg Taszman J (2015) Greise auf Nazi-Jagd. https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/greise-auf- nazi-jagd/?q=remember%20Film. Zugegriffen am 03.01.2023 Vice S (2019) Memory thieves? Representing dementia in Holocaust literature. Engl Lang Notes 57(2):114–126
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Felicitas Auersperg
Inhaltsverzeichnis Vorspann Film ab! Stille Helden Reality Check – von der Leinwand in die Praxis Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Literatur
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F. Auersperg (*) Sigmund Freud Privat Universität Wien Campus Prater, Wien, Österreich e-mail: [email protected] © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_18
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Filmplakat Supernova. (© Weltkino Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Vorspann Eine „Supernova“, die Explosion eines Sterns, wird von einem Moment enormer Strahlungsintensität begleitet. Dieses astronomische Geschehnis als Titel fasst die Filmhandlung in einem Wort zusammen. In dem Film Supernova des Regisseurs Harry Macqueen (Hinterland, UK 2015) geht es zwar um das tragische Ende eines Lebens, einer Liebe, gleichzeitig fängt er die ungeheure Strahlkraft ein, die im menschlichen Erleben liegen kann. „An Wundern herrscht niemals Mangel auf der Welt. Aber am Sichwundern-können sehr wohl.“, zitiert der demenzkranke Tusker (Stanley Tucci), der mit seinem langjährigen Partner Sam (Colin Firth) im Mittelpunkt der Geschichte steht, aus dem Gedächtnis. Der Film zeigt die Wunder des Alltags, die Wunder tiefer Freundschaft und rüttelt die Fähigkeit des Sich-wundern-könnens mit spektakulären Landschaftsaufnahmen, berührenden winzigen Gesten zwischen Liebenden und einer mitreißenden, tieftraurigen Geschichte auf. Wir begleiten ein eingespieltes und immer noch verliebtes Paar bei seiner letzten großen gemeinsamen Reise und werden dabei Zeugen des lang-
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Abb. 18.1 Supernova (© Weltkino Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
samen, aber unaufhörlichen Verlusts, der mit Demenzerkrankungen für alle Beteiligten einhergeht. Wieviel Selbstbestimmung darf und kann es in der Liebe geben? Was (er)tragen pflegende Angehörige und wo liegen ihre Bedürfnisse? Wie verändern sich Partnerschaften durch schwere Erkrankungen? Supernova stellt mit Demenz assoziierte Fragen in den Raum und macht ein für so große Teile der Gesellschaft hochrelevantes, aber trotzdem tabuisiertes Thema damit empathisch und facettenreich fassbarer. In einem Interview mit filmpluskritik.com gibt der Regisseur interessante Einblicke in die Entstehungsgeschichte seines Films. Er erklärt, dass dem Film zahlreiche intensive Gespräche mit an Demenz erkrankten Personen vorangegangen seien und in dem Interview wird deutlich, wie wichtig Macqueen ein Statement zur Sterbehilfe im Vereinigten Königreich war, die dort aus seiner Sicht schädigend und unmoralisch geregelt ist. Macqueen gibt auch Einblicke in den Besetzungsprozess: Stanley Tucci, den Macqueen zuerst, und zwar für die Rolle des Sam, angefragt hatte, schlug seinen Freund Colin Firth als Besetzung für die andere Hauptrolle vor. Macqueen erklärt so die ganz besondere Intimität und Nähe, die die beiden Schauspieler transportieren und hält die reale Freundschaft der Männer für einen integralen Bestandteil ihrer beeindruckenden Performance. Das Schauspielerduo machte sich noch vor den Dreharbeiten für einen Rollentausch stark und konnten den Regisseur davon überzeugen, Tusker mit Tucci und Sam mit Firth zu besetzen (Abb. 18.1).
Film ab! Supernova ist ein Film über Demenz, doch er ist auch ein Film über Liebe, Freundschaft, das Altern und die Komplizenschaft jahrzehntelanger Partnerschaften. Damit legt der Regisseur von Anfang den Ton des Films fest, der Betroffene nicht als nur noch von Demenz charakterisiert beschreibt und betont und damit zugleich einen besonders tragischen Aspekt der Erkrankung aufzeigt: Den Verlust von Handlungsspielraum und den Verlust des Ichs.
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Routine, Vertrautheit und plötzliches Verschwinden Sam und Tusker beginnen ihre Rundreise durch das herbstliche England, als wir Zeuge eines Teils ihrer gemeinsamen Geschichte werden. Sie nörgeln sich mit derselben Routine durch typische Autobeziehungsthemen (Warum ist das Radioprogramm so schlecht? Welcher vergessene Gegenstand könnte wirklich Anlass sein umzudrehen und nachhause zu fahren? Klingt das Navigationssystem eigentlich wie Margret Thatcher?), mit der sich in winzigen Gesten ihre Zärtlichkeit füreinander zeigt. Als Sam den verzweifelt danach suchenden Tusker beiläufig darauf hinweist, dass dessen Lesebrille auf seinem Kopf sitzt, werden in diesem Moment für den Zuseher Intimität und Vertrautheit greifbar, doch der Gedanke an eine schwere Erkrankung liegt fern. Erst als Tusker bei einem Stopp an der Raststation spurlos verschwindet und blanke Panik in Sams Blick liegt, als er nach ihm ruft, wird deutlich, dass die Beziehung der beiden von einem ernsten medizinischen Problem belastet wird. Als Sam und Tusker später bei den Vorbereitungen des Abendessens sitzen, gelingt es dem Film in kurzen Alltagshandlungen die Belastung unglaublich leise und zugleich dramatisch einzufangen: Sam erklärt seine Tränen mit den frisch geschnittenen Zwiebeln, Tusker sieht in sich gekehrt dabei zu, wie seine übliche Aufgabe, das Kochen, von seinem Partner übernommen wird. Spätabends wird Tuskers Diagnose zum ersten Mal ausgesprochen: Er leidet unter beginnender Demenz. Tusker fragt Sam im Plauderton danach, wie seine Demenz für ihn sei und muss schmunzeln, als Sam abwehrend abwinkt und keine Belastung zugibt. Colin Firths erstaunliche Fähigkeit große Erregung unter strenger britischer Erziehung erahnen zu lassen, ist bereits zu diesem Zeitpunkt des Films ein entscheidendes Erzählmittel, das der Geschichte erlaubt, sich nah an der Realität von Betroffenen ohne Überdramatisierung zu bewegen. Als Tusker Sam ernst ansieht und mit kleinem Lächeln, in dem noch die Verschmitztheit der vorangegangenen Unterhaltung blitzt, sagt: cc
Weißt Du, Du sitzt einfach da und tust nichts. Und stützt trotzdem die gesamte Welt
spricht er damit sehr klar ein Hauptthema des Werks an, das in der realen Welt viel zu selten thematisiert und beachtet wird: Was Angehörige für ihre erkrankten Familienmitglieder, Freunde, Partner leisten und bedeuten, wie sie eigene Bedürfnisse erst verbergen und schließlich vergessen und wie sie Ungeheures sehr still und oft unbeachtet be- und verarbeiten. Supernova thematisiert nicht nur individuelle Schwierigkeiten demenzkranker Personen, sondern versucht auch die komplexen Veränderungen in sozialen Gefügen einzufangen, die damit einhergehen. Auf ihrer gemeinsamen Reise suchen das Paar nicht nur Orte ihrer gemeinsamen Geschichte auf, sondern besuchen auch nahestehende Menschen, um noch einmal möglichst ungezwungen Zeit mit ihnen verbringen zu können – aber auch, um sich zu verabschieden. Denn im Laufe des Films wird immer klarer: Das eingespielte Team wird es in dieser Form schon bald nicht mehr geben.
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Galgenhumor im Angesicht der Tragödie Mit trockenem Humor reagiert Tusker auf die Nachfragen seiner Freunde, die wissen möchten, wie es ihm geht. Als er und Sam Lilly, Sams Schwester, besuchen, zeigt sich erneut die große Stärke des Films: Ohne Überdramatisierung fängt er Herausforderungen von Demenzerkrankungen ein, spricht aber zugleich die Lebensthemen an, in die diese Schwierigkeiten eingebettet sind. In der Küche von Lilly kann Sam zum ersten Mal im Laufe des Films ein wenig Schwäche zeigen, sich an die Theke lehnen und an seine Tasse Tee klammern, und sich die Verantwortung für das Wohlergehen für Tusker für einen Moment mit alten Vertrauten teilen. Als Lilly sich an ihn schmiegt, braucht es keine Worte, um zu verstehen was sie fragen und sagen will. Sam versucht eine nüchterne, optimistische Beschreibung ihres Alltags zu geben und zweifelt an seiner Tauglichkeit als Begleiter in dieser schweren Zeit. Tusker scherzt mit Lilly unbefangen und neben der großen Belastung der Hauptprotagonisten ist für Zuseher besonders die tiefe, freundschaftliche und familiäre Bindung spürbar die Sam und Tusker für einen Moment Halt gibt. Als das Paar von einem Waldspaziergang zurückkommt, werden sie von zahlreichen Gästen und einer fröhlichen Party erwartet, die Lilly und ihr Mann Clive heimlich mit Tusker gemeinsam organisiert haben. In einem stillen Moment vor dem hell erleuchteten Haus nimmt Tusker Clive das Versprechen ab, sich nach seinen Tod um Sam zu kümmern. Zurück im Haus richtet sich Tusker mit einer Rede an die Gäste der Party, doch seine Stimme bricht und er gibt die Rede an Sam weiter, der sofort einspringt und Sams Worte zu Freundschaft, Loyalität und Heimat vorliest. Humorvoll kündigt er die Symptome an, die auf ihn zukommen, erklärt die tröstliche, nicht zu überschätzende Rolle seiner Freunde und insbesondere jene Sams und bedankt sich bei ihm. In einem Gespräch bei der Party soll Sam Auskunft über Tuskers Schreibfortschritte, er ist Autor, geben. Als er im Gespräch mit Sams Verleger erfährt, dass Tusker deutliche Einschränkungen im Schreibprozess erlebt, die er bisher vor seinem Partner verheimlichen konnte, durchsucht Sam Tuskers Notizen und erkennt, dass Tusker kaum mehr einen Satz zu Papier bringen kann. Außerdem entdeckt er zwischen verschiedenen Aufzeichnungen verschreibungspflichtige Medikamente, die ihn sichtlich beunruhigen. Am nächsten Morgen reisen Sam und Tusker weiter durch die zunehmend herbstliche englische Landschaft bis sie ein einsames Miethaus erreichen. Hier gibt Sam zu erkennen, dass er von Tuskers Täuschung weiß und konfrontiert seinen Partner mit der ebenfalls gefundenen Aufzeichnung einer Verabschiedung, die Tusker für die Zeit nach seinem geplanten Selbstmord vorbereitet hatte. Beim Abendessen spricht das Paar über Zukunftspläne, Ängste und Sams Zweifel an seiner eigenen Stärke. „Es geht nicht um fair oder nicht fair, es geht um Liebe“, resümiert er seine Pläne Tusker bis zum Schluss zu unterstützen, doch Tusker bleibt bei seiner Entscheidung sich das Leben zu nehmen, bevor er sich selbst verliert: cc
Ich will kein Beifahrer sein. Die ganze Sache befördert mich an einen Ort, an den ich gar nicht will.
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Abb. 18.2 Filmplakat Supernova. (© Weltkino Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Sam räumt ein, diese Entscheidung schon geahnt, die Gedanken daran aber verdrängt zu haben. „Ich will in Erinnerung bleiben als der Mensch der ich war.“, erklärt Tusker. Er fürchtet nicht mehr viel Zeit zu haben, bevor seine Symptome noch unkontrollierbarer werden und weiß, dass er nicht mehr nach Hause kommen wird (Abb. 18.2).
Stille Helden In Harry Macqueens Werk werden gleich mehrere Facetten von Demenzerkrankungen thematisiert. Im Vordergrund stehen dabei eher soziale Gefüge als individuelle Symptome, von denen Tusker im Laufe des Films nur wenige zeigt. Über die Beziehungen zu seinem Partner Sam, Freunden und Verwandten zeigt die Figur Tusker die vielfältigen Herausforderungen sozialer Zusammenhänge demenzkranker Personen: Einerseits wird ohne Pathos deutlich, welche Stütze sie bedeuten können, andererseits macht es sich der Film nicht so einfach, Belastungen, die – gerade weil soziale Unterstützung besteht – entstehen können, zu ignorieren. Tusker muss sich während seiner Party eine Weile zurückziehen, da er sich der sozialen Situation nicht gewachsen fühlt und Symptome wie Wortfindungsstörungen in diesem Kontext besonders spürbar werden. Wie im Realitycheck beschrieben wird, ist Rückzug und Isolation eine Reaktion vieler Demenzkranker, die auch aus Scham über manche Krankheitserscheinungen ausgelöst werden kann. Tusker thematisiert offen seine Sorge, nicht mehr er selbst sein zu können und nicht als der in Erinnerung bleiben zu können, der er einmal war. Die Befürchtung, nur mehr als „krank“ wahrgenommen zu werden und der Schmerz auf dem Weg dorthin wird in Supernova einfühlsam angedeutet. Sam muss mehr und mehr Alltagsaufgaben übernehmen und in den Aufnahmen von Colin Firth, der mit stoischem Gesicht auf dem Boden zerbrochenes Geschirr wegräumt oder Zwiebeln hackt, während Stanley Tucci hilflos und resignierend zusieht. So wird der Verlust von Selbstwirksamkeit und Kontrolle, der sich manchmal gerade in der Unterstützung durch Andere spiegelt, respektvoll und ohne Effekthascherei auf den Punkt gebracht (Abb. 18.3). Ein möglicher Kritikpunkt an der Darstellung dieser Konflikte ist, dass die Beziehung von Tusker und Sam trotzdem so vollkommen harmonisch bleibt und mit Ausnahme eines
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Abb. 18.3 Die harmonische Beziehung von Tusker und Sam. (© Weltkino Filmverleih. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
sekundenlangen Konflikts von Verständnis geprägt ist. Diese Verklärung wird der Komplexität der Themen, die in Supernova angeschnitten werden, nicht gerecht. Die Figur des Sams, des pflegenden Partners, ist unglaublich heroisch dargestellt, was der Rolle pflegender Familienmitglieder auch entspricht. Nur selten wird seine große Anspannung, sein Verzicht, seine Beanspruchung sichtbar. Damit deutet Macqueen ein Problem an, das mit der Rolle des Heros einhergehen kann: Viele pflegende Angehörige ordnen ihre eigenen Bedürfnisse völlig jenen der gepflegten Person unter, negieren ihre Wünsche und ihre Trauer und vernachlässigen gezwungenermaßen ihre Sozialkontakte. Dadurch fehlt gerade jenen, die dringend Unterstützung bräuchten, oft Ansprache und Hilfe. Sam unterbricht seine berufliche Karriere, in den Nebensätzen von Freunden wird deutlich, dass er keine Zeit für sie findet und es gibt kaum Momente, in denen Sam Schwäche zeigt. Tusker scheint diese Form des fürsorglichen Verzichts nur bedingt zu schätzen: Er sähe Sam gerne wieder als Pianist auf der Bühne, es ist ihm wichtig, Sam in ihrem gemeinsamen engen Freundeskreis zu wissen und er möchte weiterhin wie ein mündiger Partner erfahren, wie es seinem Mann geht. Sam nimmt Tusker mit seiner Fürsorglichkeit Eigenverantwortung, aus seinem Schutzbedürfnis ergibt sich immer wieder ein beinahe paternalistisches Verhältnis und dies würde außerhalb einer Filmbeziehung sicherlich zu mehr Reibung führen.
Idealisierung romantischer Liebe? Das Liebespaar wirkt immer, auch in den schwierigsten Momenten, uneigennützig, respektvoll, verantwortungsbewusst und unendlich einsichtig. Themen wie Scham, Schuld und Wut sind in ihrer Darstellung beinahe völlig ausgespart. Diese Idealisierung mag eine Schwachstelle des Films sein, die allerdings nie zu verklärten, kitschigen oder überladenen Szenen führt. Stattdessen zeigt Macqueen sehr reduzierte, oft völlig wortlose Szenen in kleinen Räumen wie dem Wohnmobil in dem Tusker und Sam ihre Reise unternehmen
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oder in Lillys gemütlicher Küche vor dem Hintergrund unzähliger Suppenschöpfer und anderer häuslicher Utensilien. Diese intimen Momente, in denen beiläufige Berührungen, herzliche Umarmungen und komplizenhafte Blickwechsel ganze Geschichten erzählen und die Nähe tiefer menschlicher Beziehungen beeindruckend über den Bildschirm transportieren, wechseln sich mit monumentalen Landschaftsaufnahmen ab. Es scheint, als würden diese Aufnahmen – ebenso wie die durch Tuskers Interesse an der Astronomie wiederkehrenden Bezüge zum Nachthimmel – als Gegenprinzip zu dem sich in den kleinen Räumen abspielenden Drama fungieren. Wie klein und endlich scheinen menschliche Schicksale vor den beeindruckenden, ruhigen englischen Seen und Bergen des Lake District, in dem die Aufnahmen entstanden sind? Durch diesen Kontrast wirkt das Schicksal der Beiden aber nicht gleich bedeutungslos. Stattdessen hallt ein wenig der geduldigen Ruhe und scheinbaren Unendlichkeit der umliegenden Natur in ihrer Liebe nach und setzt ihr ein Monument. Der Film Supernova ist ein berührendes Drama, eine Geschichte über Liebe und Zärtlichkeit und zugleich eine sensible Annäherung an das Thema Demenz. Gerade sein gemächliches Erzähltempo und seine sparsamen Dialoge und Szenenwechsel lassen Tragik, aber auch Nähe, Gelassenheit, Wärme und Intimität in der Geschichte des Liebespaares leuchten.
Reality Check – von der Leinwand in die Praxis Sam und Tusker nehmen die Diagnose zum Anlass, eine Herbstreise durch Cumbria zu machen und dabei Freunde und Verwandte zu besuchen. Tusker plant sogar heimlich ein großes Fest mit seiner Schwägerin Lilly, um die tiefen Freundschaften, die das Paar in den letzten beiden Jahrzehnten aufgebaut haben, zu würdigen und zu feiern. Dies scheint ein unangemessen optimistischer Blick auf Demenzerkrankte und ihre sozialen Beziehungen zu sein. Amano et al. (2021) konnten mit Daten aus einer repräsentativen Langzeitstudie zeigen, dass schon die Diagnose „Demenz“ einsamer macht. In der statistischen Auswertung konnten sie Unterschiede, die auf kognitive Einschränkungen zurückzuführen sind, isolieren. Trotzdem bleiben deutliche Effekte auf soziales Engagement im formellen wie informellen Kontext bestehen, was zu einer Einschränkung der Lebensqualität führen kann. Darüber hinaus wird der protektive Faktor sozialer Unterstützung geschmälert, nicht nur für die Erkrankten, sondern auch für ihre Angehörigen. Soziale Unterstützung wird als essenzieller Resilienzfaktor* betrachtet, der sich auf das psychische und auch auf das physische Wohl auswirkt. Sowohl durch die Anlage als auch durch die Umwelt bedingte Vulnerabilitäten werden durch soziale Unterstützung moderiert (Ozbay et al. 2007). Soziale Unterstützung wird nach Cohen (2004) folgendermaßen definiert: „a social network’s provision of psychological and material resources intended to benefit an individual’s capacity to cope with stress“. Victor et al. (2020) beschreiben angesichts einer Stichprobe 1.547 Demenzpatienten, dass über 30 % der befragten Demenzkranken Einsamkeit verspüren und 5,2 % sogar über gravierende Einsamkeit klagen. De-
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pressive Symptome und das Risiko sozialer Isolation werden von Victor et al. mit Einsamkeit assoziiert, insbesondere allein lebende Befragte gaben an, sich einsam zu fühlen. In Supernova wird realistisch dargestellt, wie groß die Bedeutung nahestehender Personen sein kann und welche Unterstützung sie demenzkranken Personen sein können. Allerdings führen Sam und Tusker eine ungewöhnlich harmonische Beziehung, teilen den abgeklärten, gelassenen Blick auf Tuskers Erkrankung und finden in ihrem Schmerz zueinander, statt in Konflikte zu geraten. Dies scheint für die filmische, romantische Darstellung passend, zeigt aber nur einen kleinen Ausschnitt der Lebensrealität von Paaren, die zusammen gegen eine schwere Erkrankung kämpfen oder damit leben. Das extrovertierte Wesen von Tusker, die engen Beziehungen, die er vor seiner Erkrankung aufbauen konnte und seine noch beherrschbaren Symptome können als ungewöhnliche Optimalbedingungen betrachtet werden, die in der Realität kaum zu finden sind.
*Resilienz und Vulnerabilität
Resilienz, übersetzt aus dem lateinischen „resilire“ („zurückspringen“ oder „nicht haftend“), bezeichnet die Fähigkeit einer Person, Krisen, Schicksalsschläge oder andere schwierige Lebenssituationen zu verarbeiten, ohne psychologische langfristig bleibende Folgeschäden zu erleiden. Als Antonym zum Begriff Resilienz hat sich der Terminus Vulnerabilität in der Fachsprache etabliert. Dieses kennzeichnet eine besondere „psychische Verwundbarkeit“, die mit einem erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen assoziiert ist.
Sozialer Halt Die aktive Unterstützung sozialer Kontakte kann die Lebensqualität erkrankter Personen verbessern und den Abbau kognitiver Fähigkeiten verlangsamen (Amano et al. 2021). Sie sollte daher gefördert werden, auch wenn sie schwerfällt. Maßnahmen zur Entstigmatisierung von Demenz könnten wesentlich dazu beitragen, funktionierende Sozialbeziehungen so lange wie möglich beizubehalten und diese zu entlasten. Rai et al. weisen 2022 auf das Potenzial digitaler Angebote hin, um mit Demenz assoziierter Einsamkeit und Isolation vorzubeugen. Ihr systematisches Review deutet auf eine mögliche, durch digitale Interventionen unterstützte Verbesserung der Lebensqualität hin. Berkman konnte bereits 1977 auf den Zusammenhang zwischen sozialer Integration und niedrigeren Mortalitätsraten hinweisen. Die darauffolgenden Untersuchungen beschäftigen sich mit zahlreichen Nuancen der Auswirkungen sozialer Unterstützung auf Psyche und Körper. Dabei wird zwischen informationeller Unterstützung, instrumenteller Unterstützung und emotionaler Unterstützung unterschieden (Kienle et al. 2006). Kienle et al. (2006) weisen darauf hin, dass diese Hilfestellungen nicht allein als soziale Ressource zu betrachten sind, sondern dass sie auch ein Bestandteil personaler Identität ist. Über den Erhalt sozialer Unterstützung leitet das Individuum demnach Infor-
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mationen über den eigenen sozialen Status und seine Bedeutung im sozialen Gefüge ab. Personen, die an Demenz leiden könnten, also unter anderem aus Scham und der Befürchtung, keinen Platz in der Gesellschaft mehr zu haben, soziale Kontakte meiden und sich dann durch das so beinahe erzwungene Ausbleiben sozialer Unterstützung in diesen Ängsten bestätigt fühlen. Tusker scheint immer noch ein liebenswürdiger Patenonkel, ein anziehender, witziger Partner und ein brillanter Gesprächspartner zu sein. Doch im Laufe des Films deutet er immer wieder an, auch so in Erinnerung bleiben zu wollen und nicht als kognitiv eingeschränkt. Bevor er sich seiner sozialen Umwelt krank und beeinträchtigt zeigt, nimmt er sich das Leben und damit seinen Freunden und Angehörigen die Möglichkeit ihm zu zeigen, dass er auch eingeschränkt Teil ihres Lebens bleibt.
Selbstwirksamkeit So wie die Stärkung sozialer Unterstützung könnte auch die Förderung von Selbstwirksamkeit zu begleitenden, nichtmedikamentösen Interventionen gehören, die die Lebensqualität an Demenz erkrankter Patienten positiv beeinflussen. Das kognitive Konstrukt der Selbstwirksamkeitserwartung beschreibt nach Egger (2011) die Überzeugung, durch eigene Fähigkeiten Handlungen ausführen zu können, um bestimmte Ziele zu erreichen. Bandura beschreibt bereits 1977 die Selbstwirksamkeit als kognitive Quelle der Motivation im Sinne einer intermittierenden Variable zwischen Person und Handlung. Schwarzer (1992) formuliert unter Bezugnahme auf Bandura eine umfangreichere Handlungstheorie, in der die Bedeutung von Erwartungshaltungen als zentral für die Prozesse der Informationsverarbeitung, das Handeln und Erleben verstanden wird. Die Erwartung an die eigene Handlungsfähigkeit und die Einschätzung der Selbstwirksamkeit werden nach Bandura durch vier Quellen gespeist: Das Meistern schwieriger Situationen spielt eine entscheidende Rolle, wobei die Attribution von Erfolg oder Misserfolg external oder internal erfolgen kann. Die internale Attribution von Erfolg ist selbstwertstützend und verstärkt die wahrgenommene Selbstwirksamkeit. Die stellvertretenden Erfahrungen von sozialen Modellen beeinflussen ebenfalls, wie selbstwirksam sich ein Individuum wahrnimmt: Scheitert eine Modellperson an einem Vorhaben, so wird auch das eigene Bewältigungsvermögen geringer eingeschätzt. So könnten filmische und literarische Aufbereitungen, die Handlungsmöglichkeiten betonen, sowohl erkrankte Personen als auch ihre Angehörigen unterstützen. Bandura nennt auch soziale Beeinflussung als einwirkenden Faktor. Zeigt sich die soziale Umwelt einer Person überzeugt von deren Handlungsfähigkeit, so wirkt sich das auf diese Person aus. Bezweifeln Andere die Erfolgswahrscheinlichkeit, so kann das ebenfalls Einfluss auf die empfundene Selbstwirksamkeit haben. Das Wissen über diesen Effekt könnte zu einer Verbesserung von Beziehungen zwischen Patienten und ihren Angehörigen führen und pflegende Personen in ihrer Fürsorglichkeit sogar noch effektiver und hilfreicher machen. Physiologische Reaktionen werden von Bandura als vierter Faktor genannt. Beispielsweise selbst- oder fremdgeleitete Interventionen zur Bewältigung akuter Stresssituationen wie Atemübungen könnten sowohl Patienten als auch Angehörigen in schwierigen Situationen dabei helfen, die eigenen Einflussmöglichkeiten wahrzunehmen.
18 Supernova – ein verglühender Stern
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Tusker, der die Furcht formuliert zum „Beifahrer“ zu werden, erlebt im Film zahlreiche Situationen, in denen er nicht handeln kann wie normalerweise. Er, der redegewandt ist und Sprache so sehr liebt, dass er Autor geworden ist, kann seine eigene Rede nicht vorlesen und muss sie an Sam weitergeben. Auch andere Aufgaben wie das Spazieren mit ihrem gemeinsamen Hund oder das Kochen werden von Sam übernommen. Diese Art von Kontrollverlust und Einschränkung des Handlungsspielraums könnte durch Interventionen die bewusst auf die Stärkung des Selbstwirksamkeitsempfindens abzielen und dabei die Krankheitssymptome der Demenz realistisch berücksichtigen vielleicht gebremst werden. Olsen et al. (2015) konnten durch einfache physische Aktivitäten mit hoher Intensität eine wahrgenommene Verbesserung der Lebensqualität von Personen mit milden bis moderaten Demenzsymptomen feststellen. Yeh et al. (2023) betonen wie wichtig es ist, auch pflegende Angehörige demenzkranker Personen in ihrem Gefühl von Selbstwirksamkeit zu unterstützen.
Abspann, oder: Was man nicht vergessen sollte Der Film Supernova von Harry Macqueen mit Colin Firth und Stanley Tucci in den Hauptrollen ist ein berührendes, ruhiges Drama. Im Vordergrund der Handlung stehen soziale Beziehungen und wie diese durch die Diagnose „Demenz“ beeinflusst werden können. Macqueen gelingt es in einer Hollywoodgeschichte Erkenntnisse und Fragen zu verpacken, die sehr wohl reale, ungeschönte Aspekte von Demenzerkrankungen aufgreifen. Die enorme Bedeutung sozialer Unterstützung wird klar dargestellt, in den Zwischentönen des Films werden aber auch Grenzen und Friktionen dieser Unterstützung angedeutet. Angehörige demenzkranker Personen stehen unter enormem Druck und stellen häufig kaum bewältigbare Leistungsansprüche an sich. Die psychosoziale Unterstützung pflegender Angehöriger kommt häufig zu kurz, da die Bedürfnisse direkt erkrankter Personen in den Vordergrund gestellt werden. Doch eine aktive, institutionalisierte Hilfe für Angehörige in der Psychoedukation eine Rolle spielt, Herausforderungen wie mögliche Koabhängigkeiten, Depression, Einschränkungen der empfundenen Selbstwirksamkeit und suizidale Gedanken angesprochen werden, könnte wesentlich zum Wohlbefinden aller Beteiligter beitragen und die Aufrechterhaltung sozialer Kontakte unterstützen. Harry Macqueen setzt mit seinem Film auch ein politisches Statement für den assistierten Suizid und scheut sich nicht Teil einer polarisierenden Diskussion zu werden. So ist Supernova zwar ein nachdenklicher leiser Film, doch in ihm stecken nicht nur Strahlkraft, sondern auch das Potenzial zu mehren inhaltlichen Explosionen.
Literatur Amano T, Jia Y, Reynolds A, Scher C (2021) The effect of receiving a diagnosis of dementia on social engagement among older adults. Alzheimer’s & dementia 17:S7, e050807 Bandura A (1977) Self-efficacy: toward a unifying theory of behavioral change. Psychol Rev 84(2):191
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Berkman L (1977) Social networks and health. University of Berkeley, Berkeley Cohen S (2004) Social relationships and health. Am Psychol 59(8):676 Egger JW (2011) Selbstwirksamkeitserwartung-ein bedeutsames kognitives Konstrukt für gesundheitliches Verhalten. Psychologische Medizin 22(2):43–58 Kienle R, Knoll N, Renneberg B (2006) Soziale Ressourcen und Gesundheit: soziale Unterstützung und dyadisches Bewältigen. In: Gesundheitspsychologie. Springer, Berlin/Heidelberg, S 107–122 Olsen CF, Telenius EW, Engedal K, Bergland A (2015) Increased self-efficacy: the experience of high-intensity exercise of nursing home residents with dementia–a qualitative study. BMC Health Serv Res 15(1):1–12 Ozbay F, Johnson DC, Dimoulas E, Morgan CA III, Charney D, Southwick S (2007) Social support and resilience to stress: from neurobiology to clinical practice. Psychiatry (Edgmont) 4(5):35 Rai HK, Kernaghan D, Schoonmade L, Egan K, Kot AM (2022) Digital technologies to prevent social isolation and loneliness in dementia: a systematic review. J Alzheimers Dis 90(2):513–528 Schwarzer R (1992) Self-efficacy in the adoption and maintenance of health behaviors: theoretical approaches and a new model. In: Schwarzer R (Hrsg) Self-efficacy: thought control of action. Hemisphere Publishing Corp., Vancouver, S 217–243 Victor CR, Rippon I, Nelis SM, Martyr A, Litherland R, Pickett J et al (2020) Prevalence and determinants of loneliness in people living with dementia: findings from the IDEAL programme. Int J Geriatr Psychiatry 35(8):851–858 Yeh J, Pond B, Beld M, Garcia A, Mauricio J, Mata-Pacheco J et al (2023) Enhancing dementia knowledge and self-efficacy of in-home supportive services caregivers through online training. J Appl Gerontol 42(4):617–626. https://doi.org/10.1177/07334648221144023
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Inhaltsverzeichnis Vorwort Ideen zu einer Musik im „modus mentis confusione“ Theoretische Überlegungen zu einer affirmativen und alternativen Musikdramaturgie im Kino des Vergessens Zwischen Affirmation, Negation und Indifferenz Kurzes Resümee Literatur
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W. Thiel (*) Potsdam, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_19
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Filmplakat En sang för Martin. (© First Look International. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
Vorwort Mit der Vermutung „Vielleicht kommt es vom Schnee, daß ich mich morgens schon so müde fühle…“ beginnt in der deutschen Übersetzung der Roman Hersenschimmen (Hirngespinste) des niederländischen Schriftstellers J. Bernlef über den 71-jährigen Maarten Klein, der mit seiner Frau Vera fern ihrer holländischen Heimat schon seit über 20 Jahren in einem kleinen amerikanischen Küstenort lebt (Bernlef 1986, S. 5). Im Verlauf des Romans werden die Versuche des an Alzheimer erkrankten Maarten zunehmend mühsamer, gegenüber Vera und den Nachbarn eine scheinbar normale, in Wirklichkeit aber immer morscher werdende Alltagsfassade aufrechtzuerhalten. Gegen Ende findet dieser geistige Verfallsprozess seine syntaktische Entsprechung in der Auflösung des Satzbaus und einer Fragmentierung der zunehmend gestammelten Aussagen. 1988 wurde Bernlefs Roman zur literarischen Vorlage für den niederländisch-kanadischen Spielfilm Hersenschimmen der Regisseurin Heddy Honigmann. Das Werk ist Teil einer seit den 1980er Jahren anwachsenden Zahl von internationalen Filmproduktionen, in denen es um dement ge-
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wordene Menschen geht, deren Krankheit nicht nur für sie selbst, sondern ebenso für ihre Partner, Angehörige und Freunde einen gravierenden Einschnitt in das bisherige Leben darstellt. Hierbei bedarf es nicht nur großer Regie- und Schauspielkunst, sondern vielfach auch einer sehr emotionalen Musik. Sie sorgt für die richtige Gefühlstemperatur des Films, um das Schicksal dieser im Alter an Alzheimer leidenden Männer und Frauen überzeugend auf die Leinwand zu bannen. In der film(musik)wissenschaftlichen Literatur gibt es bisher keine diesbezüglichen Wertungen und Beschreibungen. Um die potenziellen ästhetischen Möglichkeiten von Musik zu solchen Filmen abzustecken, sollen deshalb vor den konkreten musikdramaturgischen Analysen einige Vorüberlegungen stehen.
Ideen zu einer Musik im „modus mentis confusione“ Wo könnten Anknüpfungspunkte in der europäischen Musikgeschichte zu finden sein? Da die Mehrzahl der für den Film geschriebenen (Orchester)partituren auch heute noch in den musikalischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts wurzelt*, erscheint es naheliegend, vor allem in der romantischen Oper – mit ihren inhaltlichen und dramaturgischen Anforderungen an die Ausdruckskraft der Musik – nach diesbezüglichen Vorläufern, Vorbildern, Modellen zu fahnden. Doch zeigen diese Recherchen allzu bald, dass die Ausbeute recht mager ist. Zwar gibt es im Rollenrepertoire finstere Bösewichte und Schurken, verzweifelte Liebende, trottelige Advokaten, sieche Kranke, ja sogar Vampire – und die Tradition der Wahnsinnsarien –, aber eine an Alzheimer erkrankte Opernfigur findet sich nicht, da Demenz zu Zeiten von Wagner und Verdi kein gravierendes gesellschaftliches Problem darstellte. Die wohl berühmteste Wahnsinnsarie aus der Oper Lucia Di Lammermoor (Italien 1835), ein Glanzstück aller Koloratursopranistinnen, schrieb der Bergamasker Komponist Gaёtano Donizetti. In jener Szene steckt der grausige Bühneneffekt nicht in den Tönen selbst, sondern entsteht aus dem Gegensatz von geistiger Ausnahmesituation und Donizettis lyrisch-empfindsamer Musik. Dies ist ein dramaturgischer Kunstgriff, der später auch in Horrorfilmen und überall dort zur Anwendung kommt, wo aus dem Kontrast von szenischer und musikalischer Aussage eine besondere, ambivalente Wirkung angestrebt wird. Das klangliche Schreckensarsenal einer Musik im Ausnahmezustand findet sich hingegen in den Wahnvorstellungen des armen Soldaten Wozzeck aus Alban Bergs gleichnamiger Oper von 1925. Zerklüftete melodische Linien, verrenkte Motive, fahle, irrlichternde, aber auch brutal auftrumpfende sowie groteske Klanggesten, unheimlich-düstere dissonante Akkorde jenseits von Dur und Moll, Sounds der Streichinstrumente von zerbrochener Lyrik, durch die noch die romantischen Klangvorbilder hindurchschimmern, bestimmen das musikalische Geschehen. Dieser musikalische Expressionismus schuf eine Tonsprache, deren Auswirkungen bis zu den bedrohlichen Klangbildern in dem Film Still Alice (USA, Richard Glatzer, Wash Westmoreland) von 2014 reicht.
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*Orchestrale Filmmusik
Die in allen Filmländern jahrzehntelang vorherrschende orchestrale Filmmusik wurde auch als Filmsymphonik bezeichnet. Komponisten wie Steiner oder Korngold griffen zu den Ausdruckstopoi der spätromantischen Oper und impressionistischen Klangzauberei, um sie für filmische Charakterisierungs- und Stimmungszwecke einzusetzen. Die neuere Hollywooder Filmsymphonik (J. Horner; J.M. Howard) verwendet zudem auch Jazzmusik sowie Gestaltungselemente der klassischen Moderne bis hin zur expressionistischen Atonalität.
Überhaupt zeigt sich musikgeschichtlich, dass Operngestalten, die aus verschiedensten Gründen am Rande oder außerhalb der Gesellschaft stehen, die Entwicklung der Tonsprache in Richtung des Unheimlichen, Angstmachenden und Verwirrten stark beschleunigten. Um diese gesellschaftlichen Outsider und Outlaws in ihrer Eigenart musiktheatralisch gestalten zu können, wurde von den Komponisten neben der Klangfarbe vor allem der Ausbau der Harmonik – also die geregelte oder intuitiv erweiterte Abfolge und innere Strukturierung der Akkorde weit über die Grenzen von Dur und Moll – rasant vorangetrieben. Und es war diese zunehmend trugschlüssige Verästelung, funktionelle Differenzierung und fortschreitende Erweiterung der komplexen Akkordverbindungen, welche insbesondere die Harmonik zu einem probaten Gestaltungsmittel für das menschliche Seelenleben auf der Opernbühne und später auf der Kinoleinwand machten.
heoretische Überlegungen zu einer affirmativen und alternativen T Musikdramaturgie im Kino des Vergessens Bezogen auf den zunehmenden Gedächtnisverlust von Demenzkranken läge ein syntaktisches Modell dem filmischen Erfordernis näher, dass die Demontage eines anfangs fest gefügten Instrumentalstücks aufzeigt, das bei seinem mehrmaligen Einsatz im Verlauf des Films, parallel zum allmählichen Zerfall der Persönlichkeit eines Menschen, zunehmend strukturell fragiler und fragmentierter werden würde. Eine vergleichbare musikalische Konzeption findet sich in der westdeutschen Literaturverfilmung Trotta (BRD, Johannes Schaaf) aus dem Jahre 1971. Der musikdramaturgische Einfall besteht in der Verwendung einer populären Wiener Operettenmelodie und deren klangliche Metamorphosen, die der Komponist Eberhard Schoener (*1938) im Verlauf des Films an bestimmten dramaturgischen Dreh- und Wendepunkten platzierte. Ausgewählt wurde hierfür der langsame Walzer „Komm mit mir ins Chambre separée!“ aus der Operette Der Opernball (1898) von Richard Heuberger. Dieser kann in seiner melodischen und klanglichen Gestaltung als tönendes Symbol der niedergehenden k.u.k-Donau-Monarchie, als Ausdruck einer lasziven Fin- de- Siècle- Müdigkeit mit schleppendem Zeitmaß, sentimentalischer „parfümierter“ Melodik und pikanter Instrumentation betrachtet werden. Parallel zum unaufhaltsamen sozialen und mentalen Niedergang des österreichischen Barons Trotta in den Jahren ab 1914 wird in meh-
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reren Musikeinsätzen eine zunehmende klangliche Verfremdung des anfangs original (aus der Ouvertüre) gespielten Walzers realisiert. Der Höhepunkt dieser „Sounddeformation“ ist in der Schlussszene mit verzerrten elektronischen Klängen im Walzerrhythmus erreicht, die den irre gewordenen Trotta bei seinem taumelnden Gang durch den Wald begleiten – Trotta will sein Leben beenden, doch hierzu fehlt ihm die Kraft. Auch in dem dänischen Film En Sang för Martin/A Song for Martin aus dem Jahre 2001 gibt es eine Annäherung an diese Konzeption: Im Verlaufe des filmischen Geschehens wird die fortschreitende Erkrankung des Komponisten durch sein nachlassendes Spiel auf dem Klavier hörbar (Abb. 19.1). Anstelle von Melodien und Tonsatz bleiben nur noch Einzeltöne übrig. Dass es sich bei solchen Montagemodellen, an deren Ende die allmähliche Auflösung der musikalischen Syntax steht, um eine audiovisuelle Verdoppelung mit dem Ziel der emotionalen Verstärkung des gezeigten Krankheitsverlaufs handelt, liegt auf der Hand. Um einer solchen Tautologie zu entkommen, die heutzutage als Mittel einer musikalischen „Gefühlserpressung“ nicht mehr hoch im Kurs steht, müssen andere Zugangsweisen jenseits der traditionellen Tonmalerei gefunden werden. Denkbar wäre eine Musikdramaturgie der Distanzierung. Sie schließt im Gegensatz zur affirmativen Nachzeichnung des Krankheitsverlaufs eine Haltung des „Nicht-Wahrhaben-Wollens“ mit ein, sodass beispielsweise eine betont fröhliche oder banal-unterhaltsame Musik kontrastierend die Momente zunehmender Entfremdung überspielte. Alternativ hierzu könnte auch die um sich greifende Unsicherheit und Angst von Anfang an durch eine kalte Musik mit Spaltklangsound und scharf dissonierenden Harmonien angedeutet, aufgegriffen und verschärft werden. Bei diesem Modell der Distanzierung läge der musikalische Ansatz nicht in einer Charakterisierung der dement gewordenen Person, sondern er bezöge sich auf die Gefühle, Reaktionen und Befindlichkeiten der Menschen, die von dem Verhalten des oder der Kranken betroffen sind. Das ästhetische Problem einer Musik zu Demenzfilmen besteht nicht in der mitleidenden Einfühlung an sich, auch nicht in der Verstärkung von Melancholie und Trauer, wie sie ebenso in anderen filmischen Genres anzutreffen ist. Problematisch ist eine Sentimentalität, die sich an bestimmten dramaturgischen Eigenarten von Filmen der Alzheimer-Thematik Abb. 19.1 En sang för Martin. (© First Look International. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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entzünden kann und als Grundgefühl auf diesen lastet. Sehr oft stehen im Mittelpunkt des Geschehens altgewordene Ehepaare, bei denen überwiegend die Frau an Alzheimer erkrankt und der Mann entweder mehr oder minder hilflos (Iris, vgl. Kap. 2) oder beherzt und initiativreich (Away from Her, vgl. Kap. 8) reagiert und tätig wird. Andere Konstellationen sind entweder eine Vater-Tochter-Beziehung (Wer ist Camille? [Schweiz 2017, Bindu de Stoppani]), der seinen Vater bedingungslos pflegende Sohn (Mein Vater, vgl. Kap. 3), die Reaktionen von Mann und Kindern auf die erkrankte Frau und Mutter (Still Alice, vgl. Kap. 4) oder neuerdings auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften (Supernova, vgl. Kap. 18). In all diesen Filmen vermag Musik grundsätzlich, sofern von den Filmemachern angestrebt, die geforderte Emotionalisierung von Szenen und Situationen bis hin zum sprichwörtlichen Druck auf die Tränendrüsen wirkungsstark zu übernehmen. Denn: cc
„Die angestrebte Zuschaueremotion ist zumeist die Rührung: darum auch gehören die meisten Alzheimer-Geschichten zu den Melodramen…“ (Wulff 2008).
Ob jedoch in den konkreten Filmen eine Annäherung an eines der genannten Modelle stattfindet und ob der Fokus der musikalischen Gestaltung sich auf die erkrankte Person richtet, hängt davon ab, welchen dramaturgischen Bezugspunkt Regisseur und Komponist für die Musik bestimmen. Ausschlaggebend für den Charakter der Musik ist des Weiteren auch die Genrefrage (vgl. Thiel 1981, S. 299 f.). Wird die Geschichte als Melodram, Tragikomödie oder als eine bis zum Klamauk überdrehte Groteske – wie in dem Film Folks! – erzählt? Die vorhandene Vielfalt zeigt, dass die Spielfilme über an Alzheimer erkrankte Menschen – anders als die zum Katastrophenfilm tendierenden Pandemie- oder Seuchenfilme (vgl. Thiel 2022, S. 205–216) – keine eigene filmische Gattung und auch kein Subgenre ausbilden, sondern sich als thematisch verwandte Plots offensichtlich in verschiedenen Genres realisieren lassen; wenngleich hierbei das Melodram als Darstellungsform vorherrschend ist. Dies hat zweifellos Konsequenzen für die filmmusikalischen Konzeptionen.
Zwischen Affirmation, Negation und Indifferenz Doch wie sieht die musikalische Sachlage in praxi aus? Grundlage der nachfolgenden analytischen Notate sind 15 internationale Spielfilme aus den Jahren 1991–2021. Gemeinsam ist ihnen der thematische Bezug auf Demenzkranke, die schauspielerisch in Haupt- oder Nebenrollen dargestellt werden. Dies kann in verschiedenen filmischen Genres – mal komisch, mal ernst oder tragisch – erzählt werden, sodass eine Klassifikation dieser Filme nach Gattungen nicht zielführend wäre. Vielmehr sollten folgende Fragen im Mittelpunkt stehen: Auf welche dramaturgisch-funktionale Weise und mit welchen stilistischen Mitteln nimmt die Musik Bezug auf die Darstellung von Erkrankten, den gezeigten familiären Kontext und auf die Reaktionen des gesellschaftlichen Umfelds? Welche Wirkungen oder gar Einsichten sollen hierbei erreicht werden? Wenden wir uns mit diesen Fragen zuerst jenen Filmen zu, in denen die Schauspieler als Demenzkranke in einer Nebenrolle auftreten. Die Reihenfolge der Filme folgt der Chronologie des Premierenjahrs.
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estalt und Aufgabe der Musik in Filmen, in denen die Darstellung von G Alzheimer-Kranken in einer Nebenrolle erfolgt My Girl (USA 1991) in der Regie von Howard Zieff und mit der Musik von James Newton Howard (*1951), einem bekannten Hollywoodkomponisten mit über 100 Filmkompositionen, erzählt auf komödiantische wie sentimentale Weise von den Sorgen, Nöten und Schelmereien eines 11-jährigen Mädchens, das mutterlos in einer kleinen amerikanischen Stadt aufwächst. Randfigur in dieser Geschichte ist die senile Großmutter väterlicherseits, die in den Anfangssequenzen des Films stumm und regungslos in ihrem Sessel sitzt (Abb. 19.2). Aus ihrer Stummheit tritt sie im weiteren Verlauf des Films stets in einem unpassenden Moment, indem sie mit brüchiger Stimme Lieder aus ihrer Jugendzeit (wie z. B. Gershwins „I Got Rhythm“) zum Besten gibt. Grotesker Höhepunkt dieser ungebetenen Gesangseinlagen ist ihr peinlich-komischer Auftritt auf einer Beerdigungsfeier, auf der sie sich eine Rose als „Mikrofon“ vor den Mund hält. Howards Originalmusik im orchestralen Konversationsstil** klingt aufdringlich-eingängig und schwankt zwischen lyrischer Sentimentalität und aufgesetzter Fröhlichkeit. In keiner Szene kommentiert oder begleitet die Musik die Gefühle oder Aktionen der dementen Großmutter – komödiantische Unterhaltung steht im Vordergrund. **Orchestraler Konversationsstil
Dieser Begriff benennt eine unterhaltsame, elegante Orchestermusik in heiteren Filmszenen. Musik im Konversationsstil strebt keine dramatischen Zuspitzungen oder die Austragung von Konflikten an, sondern bevorzugt einen durchgängigen Scherzo- und Plauderton. Das Spiel mit einprägsamen Motiven, schönen Melodien sowie eine klangvolle und farbige Instrumentation sind weitere ihrer Merkmale.
Abb. 19.2 Die senile Großmutter sitzt stumm und regungslos in ihrem Sessel. (© Columbia Pictures. Quelle: Filmbild Fundus Herbert Klemens. Mit freundlicher Genehmigung)
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Die Hollywoodproduktion Folks!/Eine ganz normal verrückte Familie (USA) kam 1992 in die Kinos. Regisseur Ted Kotcheff inszenierte eine „Turbulente Komödie um den „American way of life“, die nicht immer die Balance zwischen Klamauk und Persiflage hält …“ (Lex. des internationalen Films 1991/92, S. 219) Der Film weist ebenfalls keine Musikeinsätze auf, die speziell dem senilen Vater des arbeitslos gewordenen Maklers zuzuordnen wären. Dieser Verzicht auf musikalische Kommentierung oder Gefühlsverstärkung verhindert zwar eine sentimentale Interpretation der Figur; dafür kommt aber das Rollenklischee des „vertrottelten Alten“, der zu einem Großteil das lustvoll gezeigte Chaos verursacht, vollends zum Tragen. Dass in der teils jazzigen, teils rockigen Musik des französischen Komponisten Michel Columbier (1939–2004) das Saxofon (wie beispielsweise in der Schlusssequenz) auch melancholische bis rührselige Töne anschlägt, ist mehr der szenischen Gesamtsituation als einer besonderen Hinwendung zur Befindlichkeit der Vaterfigur zuzuschreiben. Differenzierter ist die musikdramaturgische Konzeption des melodramatischen Films Marvin’s Room/Marvins Töchter (USA 1996) unter der Regie von Jerry Zaks. Die bereits ausgelöschte Persönlichkeit des dementen Vaters Marvin, der seit längerer Zeit in seinem Zimmer unbeweglich und stumm als Bettlägeriger fixiert ist, bestimmt die sich hieraus ergebenden besonderen Beziehungen und Verständigungsformen zwischen ihm und seinen zwei Töchtern Bessie und Lee und zwischen den beiden Schwestern untereinander. Die in Hollywood erfolgreiche englische Filmkomponistin Rachel Portman (*1960) wurde mit der Vertonung dieses Melodrams beauftragt. Portman bevorzugt in ihren Scores einen lyrischen, mitunter zur Sentimentalität neigenden tonalen Stil sowie den Klang mechanischer Musikinstrumente. Auch diese Filmmusik lässt sie mit einem Klaviersolo beginnen, dem eine klanglich weiche Begleitung der Streicher beigesellt wird. Die Einstellungen um das Krankenbett sind akustisch auf zweierlei Art gestaltet: Einerseits ohne Musik, sodass wir nur die Gespräche der Personen um ihn herum (vor allem jene seiner seit Jahren ihn treu pflegenden Tochter Bessie) und in einer unruhigen Nacht auch die Schreie des Kranken hören. Andererseits gibt der Anblick des Kranken in einer bestimmten dramatischen Situation das Stichwort für einen Musikeinsatz; wenn die fern vom Elternhaus lebende Lee nach 17 Jahren zurückkehrt. Nach ihrer Ankunft nähert sich Lee zögernd dem Zimmer, in dem ihr Vater liegt. Ein hohe fahle Quinte setzt in den Violinen ein. Als sich die Kamera zum Gesicht des Kranken vortastet, verstärkt eine Harfe diesen Quintklang. Und als schließlich Lee ihren Vater zum ersten Mal in seiner Hilflosigkeit sieht, setzt über Harmonien der Streicher ein mehrfach erklingendes melancholisches Klarinettenmotiv ein. Diese musikalische Gestalt signalisiert zwar kein jähes Erschrecken, unterstützt aber mit wachsender dynamischer Kraft den Eindruck ihrer Bestürzung und Verunsicherung, der sich durch Lees nervösen Griff zur Zigarette visuell fortsetzt. In einer anderen Szene löst der freudige Ausruf der Großmutter „Besuch ist da!“ eine zunächst lebhaft-heitere Musik aus. Als aber die beiden Enkel verlegen ans Bett ihres kranken Großvaters treten, verliert die Musik rasch ihren Schwung und ihre Ausgelassenheit. Beide Musikeinsätze beziehen sich somit auf die emotionalen Reaktionen der
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Familienmitglieder, die zum ersten Mal den aktuellen Zustand des Kranken erleben. Anders ist dies im Fall jener Musik, die mit Bessies Satz: „Ich habe eine Idee“ ihren Anfang nimmt. Ihre Idee besteht in der Benutzung eines Drehspiegels, mit dessen Hilfe sie tanzende Lichtreflexe an Wand und Zimmerdecke projiziert. Der nur noch zu nonverbaler Kommunikation fähige Vater Marvin nimmt an diesem Lichtspiel sichtbar freudigen Anteil. Portman verstärkt den hochemotionalen Zustand des Kranken, der sich mit leisen Juchzern äußert, durch eine lyrische Musik mit „Glöckchenklang“ des Klaviers sowie melodischen Oboen- und Klarinettensoli. Eine Variante dieser „Verzauberungsmusik“ wird später auch die Versöhnung zwischen den beiden Schwestern und ihre nunmehr gemeinsame Pflege des Vaters in der Schlusssequenz begleiten und so den Druck auf die Tränendrüsen der Zuschauer maximieren. In dem Film Le Con des la Girafe/Der Hals der Giraffe (F/B 2004, Safy Nebba) – eine Art Roadmovie auf der Suche nach der verschollenen Großmutter – legt die von lyrisch-schwermütigen Walzerklängen geprägte Musik von Pascal Gaigne (*1958) einen Schleier der Melancholie über diese Familiengeschichte, in der erst am Ende des Films die Gesuchte ins Bild kommt. Die im Gestus meist verhaltene Musik wird interpretiert vom Le Solisterrae Orchestra in der Besetzung Violine, Viola, Cello und Klavier. In ihrer Harmonik ist sie – wie viele neuere Filmmusiken – modal geprägt und strukturell auch von der repetierenden Minimal Music beeinflusst. Emotionaler und auch musikalischer Höhepunkt ist die finale Begegnung mit der dement gewordenen Großmutter in einem spanischen Gebirgsdorf. Nach vielen Jahren vergeblicher und durch den Großvater vereitelter Versuche der Kontaktaufnahme vermag sie nunmehr ihre Tochter und Enkelin nicht mehr zu erkennen. Als die Beiden die greise Großmutter an die Hand nehmen, um sie nach Hause zu begleiten, setzt eine langsame, im Gestus stockende Klaviermelodie ein, die sich innerhalb eines Mollsextakkords entwickelt und mit abwärtssteigenden Motiven der Streicher korrespondiert. Gaigne gelang für diese Begegnung ein tieftrauriges Stück, das die Tragik des Zu-Spät-Kommens und vergeblichen Wiedergutmachens Klang werden lässt. Auch in dem Film Die Vergesslichkeit der Eichhörnchen (D 2021), einer Tragikomödie in der Regie von Nadine Heinze und Marc Dietschreit, wird der Walzer als dramaturgisches Gestaltungsmittel eingesetzt. Im Mittelpunkt der Musikdramaturgie dieses Familiendramas stehen nicht der mentale Zustand des demenzkranken, ehemaligen Fabrikanten Curt Wieland, sondern die Empfindungen der Marija, einer jungen Ukrainerin, die als Vollzeitpflegekraft nach Deutschland gekommen ist. Wir erleben die heftigen Schwankungen ihrer Gefühle bei den dramatischen Auseinandersetzungen mit der Tochter und dem Sohn des Kranken sowie bei ihrer zwar konfliktreichen, aber positiv wachsenden Beziehung zu dem anfangs mürrischen und sie zunächst ablehnenden Curt. Die Musik des Ehepaares Daniel Sus (*1976); Can Erdogan-Sus (*1979) verbreitet einen überwiegend heiteren Ton, der mit Marijas trotz aller Probleme optimistischen Sicht der Dinge in Beziehung steht und sich kompositorisch in der Verwendung von modernen Walzerklängen artikuliert. Swing-Waltz-Fragmente erklingen beim morgendlichen Anblick des titelgebenden Eichhörnchens und ein schwungvoll-eleganter Orchesterwalzer hebt an, als Marija den Rasen des Gartens mit einem Traktor mäht. Traditionell verbindet
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sich mit diesem Tanz, der nach wie vor in der Filmmusik zur Charakterisierung von Schauplätzen, Personen und Situationen in einer Vielzahl von stilistischen Varianten verwendet wird, die Vorstellung von Elan und Lebensfreude. (Maas 2021, S. 9–18) Und Marija gelingt es, in dem verbitterten Curt dieses verschüttete Gefühl wiederzuerwecken. Sodass bei aller emotionalen Ambivalenz dieser Tragikomödie das Bekenntnis zum Leben die Quintessenz dieses Films ist und somit folgerichtig der Orchesterwalzer auch als Abspannmusik eingesetzt werden konnte.
estalt und Aufgabe der Musik in Filmen, in denen die Darstellung von G Alzheimer-Kranken in einer Hauptrolle erfolgt Im Fernsehfilm Reise in die Dunkelheit (D 1997, Berthold Mittermayr) über einen an Alzheimer erkrankenden Theaterausstatter und dessen schwangere Frau schlägt der österreichische Komponist und Bruder des Regisseurs Georg Mittermayr (*1950) mit einer dissonanten Klangfläche elektronisch generierter tiefer Streicher einen ernsten, beunruhigenden Ton an, der den Zuschauer über die Dramatik des kommenden filmischen Geschehens nicht im Unklaren lässt. In dem biografischen Film Iris (USA 2001) werden Lebensstationen der Romanautorin Iris Murdock gezeigt, die 40 Jahre mit dem Literaturkritiker John Bayley verheiratet war. cc
„Ich wollte keinen Film über eine Krankheit drehen. Mein Film sollte von einer Beziehung handeln.“
bemerkte Regisseur Richard Eyre in einem Interview über die inhaltliche Konzeption seines Films (Eyre 2003). Eyre wählte aus dem turbulenten und exzentrischen Leben der Schriftstellerin nur bestimmte Zeitabschnitte aus. Ein Schwerpunkt ist hierbei Iris’ Erkrankung an Alzheimer und die Jahre ihres langsamen körperlichen und geistigen Verfalls im Kontrast zu mehreren Flashbacks, die sie voller (auch sexueller) Aktivität und Lebenslust zeigen. Strukturell baut sich der Film als ein Mosaik aus Gegenwartsepisoden und Rückblenden auf. Hierbei kommt es des Öfteren zur Gegenüberstellung inhaltlich verwandter und vergleichbarer Szenen. Insgesamt kreist der Film um das Motiv der unzerstörbaren Liebe. In seiner klangschwelgerischen Musik knüpfte der Komponist James Horner (1953–2015) mit dem Einsatz einer Solovioline (gespielt von Joshua Bell) an einen Topos an, der in der romantischen Orchestermusik mit femininen und erotischen Begriffen besetzt ist und sich auch durch die Geschichte der Filmmusik zieht. Horner verbindet das lyrische Geigensolo mit der Protagonistin. Beispielsweise erklingt es, als Iris – bereits stark dement – unbemerkt das Haus verlässt und erst nach Tagen von einem Bekannten zurückgebracht wird. Und es erklingt mitunter auch, wenn Iris im Bild gar nicht zu sehen ist. Dies geschieht in einer Szene mit dem Hausarzt, der mit John über Möglichkeiten spricht, Iris künftig bei der Arbeit im Haus zu unterstützen. Zum Violinensolo gesellt sich noch ein sphärisch klin-
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gender Backgroundchor. Iris’ eigene Reflexionen über ihren mentalen Zustand, der erste Anzeichen der Erkrankung erkennen lässt, werden hingegen ohne Musik gezeigt. Später begleitet dann das Orchester sehr melodramatisch und affektbeladen ihre wirren, ja fast gewalttätigen Reaktionen im Zustande der fortschreitenden Erkrankung, unter denen ihr Mann sehr zu leiden hat, ohne dass es hierbei zu einer spezifischen Ausrichtung der Musik auf ihre Person käme. Der Komponist greift vielmehr die entstandene und sich zuspitzende dramatische Situation in dieser Partnerbeziehung auf und verstärkt musikalisch wirkungsvoll den Eindruck und die Schwere des Konflikts zwischen der aggressiv gewordenen Iris und der Hilflosigkeit ihres überforderten Mannes. Musiker als Filmhelden bevölkern die Leinwand in Haupt- und Nebenrollen seit den Tagen des stummen Lichtspiels. Ein besonderes Interesse erregten von Anbeginn die schöpferischen Musiker. Seit Aufkommen des Tonfilms gibt es neben den verfilmten Biografien berühmter historischer Komponisten auch vermehrt Spielfilme über fiktive Musiker und deren erdachte Werke, die von den jeweiligen Komponisten des betreffenden Films (fast immer in fragmentarischer Form) realisiert werden. Eine solche fiktive Künstlerbiografie zeigt der dänisch-schwedische Film En sang för Martin/A Song for Martin aus dem Jahre 2001 in der Regie von Bille August. Dieser Film über den allmählichen mentalen Verfall des an Alzheimer erkrankten erfolgreichen Komponisten Martin Fischer – verknüpft mit einer Liebesgeschichte – bringt das Problem der selten gelungenen Darstellung von kompositorischer Arbeit im Allgemeinen sowie der Gestalt fiktiver zeitgenössischer Musik im Besonderen aufs Tapet. Letztere tendiert stilistisch fast immer zu einer neoromantischen Ausdrucksweise. Dies ist auch der Fall bei dem am Beginn des Films geprobten Orchesterwerks mit dem fiktiven Tonsetzer am Dirigierpult und dem tatsächlichen Autor, dem schwedischen Filmkomponisten Stefan Nilsson (* 1955) am Flügel. Die Probenszene zeigt Martin noch gesund, voll charmanter Ausstrahlung und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Die Konzertmeisterin Barbara verliebt sich in ihn und romantische Sweet Music für Klavier und Streicher begleitet ihre Liebesgeschichte. Aber bereits über ihre Flitterwochen in Marokko legt sich ein Hauch von Schwermut, der von einer Begleitmusik ausgeht, die im Charakter einer „Valse mélancholique“ ähnelt. In ihrer Bezugnahme auf die fortschreitende Erkrankung des Protagonisten tendiert die musikdramaturgische Konzeption zum Demontagemodell. Anfangs erleben wir Martin beim Komponieren in voller Vitalität und Kreativität. Hierbei wird die kompositorische Arbeit auf sehr merkwürdige Weise visualisiert: Martin und Barbara sitzen sich an zwei Flügeln gegenüber; während er am Instrument seine Einfälle improvisiert und notiert, scheint auch Barbara diese aufzuschreiben und zugleich die Rolle einer musikalischen Beraterin und Kritikerin zu übernehmen. Diese Tätigkeit gewinnt im Verlauf des Films immer mehr an Bedeutung, da Martin zusehends nicht mehr in der Lage ist, die geplante Oper zu komponieren. Schließlich überlagert für Augenblicke ein leises elektronisches Rauschen das real Gehörte. Als in einer späteren Konzertsequenz dieses Geräusch – nun wesentlich stärker – wieder in seinem Kopf ertönt, kann er nicht weiterdirigieren und muss mit sanfter Gewalt von der Bühne geführt werden. Zuvor schon hatte Barbara entdeckt, dass sich in dem Paket mit der vermeintlich fertiggestellten Oper, das
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sie zur Post bringen sollte, nur wirre Skizzen und leere Blätter befanden. Im weiteren Verlauf des Films, der den rasant fortschreitenden Verfall seiner Persönlichkeit zeigt, wird dieses akustische Signal nicht mehr eingesetzt. Mein Vater (D 2003) ist ein im Arbeitermilieu spielender Fernsehfilm in der Regie von Andreas Kleinert über den an Alzheimer erkrankten und hierdurch frühpensionierten Busfahrer Richard Esser, der das Familienleben seines Sohnes aus der Balance bringt. Eine musikalische Komponente in dieser Fabel ist die Charakterisierung des Vaters als passionierten Opernfreund, dem insbesondere Figaros „Faktotum“-Arie aus Rossinis Barbier von Sevilla und die populären Melodien aus Bizets Carmen gefallen. Dies ist auch auf seiner Arbeitsstelle bekannt, sodass bei Richards unfreiwilliger Verabschiedung in den Ruhestand der Betriebschor mehr schlecht als recht „Auf in den Kampf, Torero“ schmettert. Die Originalmusik vom Hallenser Rockgitarristen Andreas Hoge (*1960) verwendet für diese Geschichte die Klangreize außergewöhnlicher Instrumente. Darunter fällt vor allem die Nutzung eines Didgeridoo mit seinem stark schwingenden, rauen und leicht knatternden Ton auf. Der nicht unmittelbar auf der Hand liegende Einfall, dieses Blasinstrument der nordaustralischen Aborigines ohne jeden Bezug zu exotischer Folklore zu sehr prosaischen Vorstadtbildern und als akustischen Begleiter des dementen Protagonisten einzusetzen, erweist sich als eine dramaturgisch originelle Idee. Die Fremdartigkeit der Klangwelt dieses Instrument schafft einen sowohl Interesse als auch Unbehagen weckenden Verfremdungseffekt bei Ansicht der eintönig flachen Landschaft. Und seine bohrenden Klänge korrespondieren mit der zunehmenden geistigen Verwirrung, steigenden Unberechenbarkeit und Bizarrerie im Verhalten des Kranken zu seinem familiären Umfeld. Das hochromantische und teilweise sentimentale Liebesmelodram The Notebook/Wie ein einziger Tag (USA 2004) in der Regie von Nick Cassavetes stattete der Songschreiber und Filmkomponist Aaron Zigman (*1963) mit einer entsprechenden Klaviersolo- und Orchestermusik aus. Zu Beginn erklingt zu Bildern eines himmelweit roten Sonnenuntergangs mit auffliegenden Schwänen eine sentimental-lyrische Klaviermusik im New Classic Look. Im weiteren Verlauf verstärkt eine klangschwelgerische orchestrale Musik die große Liebe zwischen Noah und Allie mit starker emotionaler Wirkung und die Abspannmusik erscheint als das „Hohe Lied“ einer den Tod überdauernden Liebe. Aber im Gegensatz zu diesen von romantisierender Musik begleiteten Flashbacks gibt es auf der Gegenwartsebene keine der kranken Allie zugeordnete Musik. Und wenn Noah seiner dement gewordenen Frau aus ihren Aufzeichnungen vorliest, geschieht dies ohne Musik. In Sarah Polleys Film An ihrer Seite (Kanada 2006) gibt es einen interessanten tondramaturgischer Einfall. Als Grant Anderson wegen seiner an Alzheimer erkrankten Frau Fiora ein Pflegeheim besichtigt, um die Bedingungen für ihre Aufnahme zu prüfen, spielt ein Mann im Gemeinschaftsraum penetrant auf dem Klavier immer wieder ein und denselben Ton. Als Grant später nach den vorgeschriebenen 30 Tagen Besuchsverbot nach Einzug seine Frau aufsucht, muss er schmerzlich erfahren, dass Fiora ihn nicht mehr erkennt und mit „Sie“ anspricht. Die innere Dramatik des Geschehens bei dieser ersten Wiederbegegnung des Ehepaars kontrastiert mit der Banalität des auch diesmal vom gleichen Insassen stupide wiederholten Klaviertons. Der kanadische Poppianist und Kompo-
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nist Jonathan Goldsmith (*1977) kreierte für diesen Film ein stark elektronisch geprägtes Klangbild in der Besetzung: Violine und Bass, Gitarren und Keyboards sowie Synthesizerprogrammierung. Die Musik verbreitet mit ihrem glatten wohlklingenden Happy-Sound freundlich-helle Stimmungen, die partiell ins Sentimentale und Triviale, aber nie ins Düstere oder Dramatische abgleiten. Dies hat zur Folge, dass sich die popmusikalische Begleitung des Ehepaars Fiona und Grant von den ersten Anzeichen der Krankheit mit einer im Kühlschrank versteckten Bratpfanne bis zum Nichterkennen ihres Mannes im Pflegeheim über weite Strecken indifferent verhält. Als musikalischer Hintergrund zu den Gesprächen und Reflexionen auf dem häuslichen Sofa über den mentalen Zustand Fionas erklingt Bachs berühmtes C-Dur-Präludium (aus dem „Wohltemperierten Klavier“ Teil 1). In weiteren Szenen, als z. B. Fiona von einem Skispaziergang den Weg nicht nach Hause findet, ertönen elektronische Paraphrasen dieses Stücks. Weshalb die Wahl auf dieses Stück fiel, bleibt das Geheimnis von Regisseur und Komponist. Im Mittelpunkt der Komödie Honig im Kopf (D 2014) in der Regie von Till Schweiger steht der ehemalige Tierarzt Amandus Rosenbach, der als dement gewordener Großvater mit seiner Enkelin vor einer bevorstehenden Aufnahme in ein Pflegeheim bis nach Venedig flieht. Der Film zeigt in der Wahl und im Einsatz seiner Gestaltungsmittel ein Changieren zwischen Slapstick und Melodram. Die sehr extensiv eingesetzte Musik von Martin Todsharow (*1967) und Dirk Reichardt (*1964) schlägt sich größtenteils auf die sentimentalisierende Seite. Der live-elektronisch bestimmte Sound mit starker Beteiligung des technisch bearbeiteten Klavierklangs ist flächig angelegt und setzt mehr auf Klang als Linie, mehr auf Harmonik als Melodie. Großvater und Enkelin sind in ihren Aktionen und Empfindungen eingehüllt in diese lyrisch-melancholischen Klangstücke. Auch die Dialoge werden mit einer Musik der Rührung unterlegt. Die Fahrt auf einem Flussdampfer, bei der die Enkelin fragt: „Wie fühlt sich das eigentlich an, wenn man alles vergisst.“ Und der Großvater antwortet: „So wie Honig im Kopf…“ wird vom Sog eines pastosen Klangstrom aus Synthesizerklängen begleitet, der sich zu einem immer größerem Klangraum weitet. Überhaupt werden jenseits der handfesten Possen die hochgetriebenen Affekte des verzweifelten, weinenden und schließlich sterbenden Großvaters von der Musik maximal unterstützt. Im Gegensatz hierzu fungieren einige in die Handlung eingeflochtene Pop- Songs als gliedernde Elemente, betonen den Unterhaltungscharakter der Geschichte und schaffen wie in den epischen Sequenzen eine aktive Stimmung bis hin zum Hymnisch- Grandiosen bei der Fahrt durch die hochalpine Landschaft. Still Alive – Mein Leben ohne Gestern (USA 2014, Richard Glatzer, Wash Westmoreland) bietet in der Reihe der analysierten Filme das einzige Beispiel, in dem die Musik einen aktiven Beitrag zum Nachempfinden der Gefühlslage eines von Alzheimer (zunächst im Anfangsstadium) betroffenen Menschen – hier der Linguistik-Professorin Alice Howland – leistet. Zwar ist es schon ein wenig verwunderlich, dass für die Partitur einer Klavierquartettbesetzung (Violine, Viola, Cello, Klavier) mit Tesse Gohl und Jessica Danheisser zwei Instrumentatorinnen erforderlich waren. Aber die Musik vom britischen Komponisten Ilan Eshkeri (*1988) ist im Ausdruck überzeugend und dramatisch sehr ef-
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W. Thiel
fektiv. Es gibt – sekundiert von den Streichern – eine mehrmals wiederkehrende einfache Akkordfolge auf dem Klavier, die ein Gefühl von Trauer und Ausweglosigkeit vermittelt. Die melodischen Linien und Ostinatostrukturen sind (wie neuerdings sehr häufig) von modaler Beschaffenheit und gestisch in sich kreisend. In jener Szene, die Alice beim Joggen zeigt, begleitet eine melodiöse, im Fluss wohlklingender Harmonien sich bewegende Musik ihren Lauf. Plötzlich steht sie atem- und orientierungslos auf dem Unicampus. Alles um sie herum sieht sie wie durch eine Milchglasscheibe. Und der Fluss der Musik erstarrt zu einer statischen Klangfläche, in der sich eine dissonante Spannung aus der Addition von motivischen Partikeln und Zunahme der Stimmen aufbaut. Auf diese Weise befördert diese Musik ein intensiveres Mitempfinden ihrer geistigen Verwirrung. Eine wesentlich längere, aber in den Gestaltungselementen vergleichbare Klangflächenkomposition ertönt bei Alices Versuch, den lang geplanten Tablettensuizid auszuführen. Der Frage Wer ist Camille? (CH 2017) geht die schweizerische TV-Produktion in der Regie von Binfu de Stoppani nach. Ein Großteil dieses Fernsehfilms ist ein Roadtrip durch Bosnien, die Tochter Camille mit ihrem an Alzheimer erkrankten Vater Eduardo unternimmt, um seine Erinnerungen zu aktivieren, die er als ehemaliger Kriegskorrespondent mit sich herumträgt. Das Gros der Musikeinsätze besteht aus lyrischen Popsongs und fröhlich gestimmten Rocktiteln. Die Originalmusik des britischen Komponisten Dru Masters (*1965) weist zwei Komponenten auf: Zum einen ein melancholisches Klavierklangstück, das Bezug auf die tragikomische Situation in der Beziehung zwischen Vater und Tochter nimmt, welche die Erkrankung des Vaters nicht wahrhaben will. – Die Musik befördert die Schwermut, die sich angesichts absurder und trauriger Situationen über die Szenen legt. Zum anderen gibt es noch ein minimalistisch repetierendes Stück, das den Roadtrip begleitet und vorantreibt. Der Film Supernova (GB 2020, Harry Macqueen) zeigt die letzten Wochen des schwulen Paares Sam und Tusker. Die schmerzlich-melancholischen Lyrismen der in ihrem Gestus statischen Musik von Keaton Henson (*1988) in der Besetzung mit Violinen, Bratschen, Cello, Bass und Klavier haben ihren inhaltlichen Bezugspunkt in der jahrzehntealten Liebesbeziehung zwischen dem Pianisten Sam und seinem Partner, dem Schriftsteller Tusker, der zunehmend unter Demenz leidet. Dessen letztes Romanmanuskript zeigt (ähnlich wie die „Partitur“ der geplanten Oper in A Song for Martin) eindeutige Spuren geistiger Auflösung. Eine in ihrer Abschiedsstimmung herausgehobene musikalische Sequenz ist die Fahrt der beiden Männer mit einem alten Wohnmobil durch die pittoreske Herbstlandschaft des idyllischen Lake District. Dramaturgische Relevanz besitzt zudem die Salonpièce „Salut d’amour“ von Edward Elgar, die als Lieblingsstück von Tusker bezeichnet wird. Sam hatte sich aber stets geweigert, dieses Stück zu spielen. Jedoch in der Schlussszene nach dem angedeuteten Suizid seines Freundes, spielt er es als Konzertpianist im Gedenken an seinen Partner. Ohne Musik wurden hingegen alle Gespräche und Situationen gestaltet, in denen die fortschreitende Demenz von Tusker im Mittelpunkt steht. Der nahezu sachliche Duktus dieser Szenen nahm dem Film trotz seiner starken Emotionalität jeden Anflug von Rührseligkeit.
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Kurzes Resümee Während die Musik zu Seuchenfilmen strukturelle und affektive Konstanten aufweist, gibt es in den Soundtracks der 15 Spielfilme keine vergleichbaren Merkmale. Die vorhandene Vielfalt an musikalischen Strukturen, Genres und Stile lässt sich nicht auf eine spezifisch gestaltete Musik im „modus mentis confusione“ einengen. Der Schwerpunkt der musikalischen Gestaltung liegt auf dem ureigenen Wirkungsfeld der Musik, nämlich in ihrer besonderen Befähigung, die menschlichen Gefühle zu verstärken und in ihren Verläufen zu modellieren, sodass auf diese Weise vor allem die affektiven Beziehungen aller beteiligten und betroffenen Personen zum Kranken sowie untereinander gestaltet werden können. Dies geschieht mit unterschiedlichen Graden der Intensität, die mitunter auch die Grenze zur melodramatischen Rührseligkeit überschreiten lässt. Der Film Still Alice bildet insofern eine Ausnahme, als es in ihm Szenen gibt, in denen mit Hilfe der Musik die inneren Empfindungen der Protagonistin in ihren geistigen Ausnahmesituationen klangsinnlich verdeutlicht wird. Außerdem zeigt sich, dass die Filmemacher im Kernbereich der „harten“ medizinischen Fakten – in der Erörterung des Vorhandenseins und der Auswirkungen der Alzheimer-Krankheit – in der Regel den Einsatz von Musik tunlichst vermeiden, sodass Gespräche zwischen Arzt und Patient oder zwischen Eheleuten sowie zwischen Eltern und Kindern usw. zumeist allein auf das Wort, den Dialog sowie auf Mimik und Gestik abgestellt werden. Mit diesem quasi dokumentarischen Gestus soll offensichtlich einer sentimentalen Gestaltung solcher Szenen vorgebeugt und die Glaubwürdigkeit der Diagnosen innerhalb des fiktionalen Rahmens untermauert werden.
Literatur Bernlef J (1986) Hirngespinste (Hersenschimmen). Nagel & Kimche, Zürich Eyre R (2003) DVD Iris, Extra „Making of…“ München. Buena Vista Lexikon des internationalen Films 1991/92, Hamburg 1993, S 192 Maas G (2021) Szenen einer cineastischen Beziehungsgeschichte. In: Maas G, Thiel W, Wulff HJ (Hrsg) Walzerfilme und Filmwalzer. Die Rezeption und Analyse des Walzertanzens im Film. Schüren Verlag, Marburg Thiel W (1981) Filmmusik in Geschichte und Gegenwart, Kapitel IV. Die filmischen Gattungen als stilbildendes Prinzip der Filmmusik. Henschelverlag, Berlin Thiel W (2022) „Offen gähnt der Höllenrachen!“ Zur musikdramaturgischen Gestaltung von Seuchen-Filmen. In: Henkel D, Wulff HJ (Hrsg) Seuchen, Epidemien und Pandemien im Film. Ein kaleidoskopisches Panorama zur Geschichte des Infektionsfilms. Waxman-Verlag, Münster Wulff HJ (2008) „Als segelte ich in der Dunkelheit…“ Die ästhetische und dramatische Analyse der Alzheimer-Krankheit im Film. In: Jagow BV, Steger F (Hrsg) Jahrbuch Literatur und Medizin 2. Universitätsverlag Winter GmbH, Heidelberg, S 199–216
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Dennis Henkel
Inhaltsverzeichnis Methodik Quellen Chronologische Auflistung internationaler Demenzfilmproduktionen (n=275)
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D. Henkel (*) Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Uniklinik Köln, Köln, Deutschland © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 D. Henkel (Hrsg.), Demenz im Film, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66389-9_20
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D. Henkel
Methodik Die Ein- und Ausschlusskriterien der nachfolgenden Filmografie basieren zum Großteil auf den unten zitierten Vorarbeiten, ergänzt durch eine umfassende Datenbankrecherche, die die Methodik der vorangegangenen Forschungsarbeiten weitestgehend adaptiert hat. Demnach fanden Filme Einzug in die Filmografie, in denen Neben- oder Hauptfiguren auftreten, die ein demenzielles Syndrom bzw. demenzielle Symptomatik zeigen. Die demenzielle Figur sollte, auch bei geringem Raum für die Figur/Rolle, Einfluss auf die Handlung bzw. Dramaturgie des Films haben, um Eingang in die Liste zu bekommen. Werke, in denen die Diagnose nicht gestellt bzw. keine Erwähnung findet, die Filmemacher jedoch auf allegorische bzw. metaphorische Weise die Demenz thematisieren (vgl. z. B. Relic, Kap. 10), wurden ebenfalls inkludiert. In Bezug auf Genrekriterien wurden sowohl Kino-, Dokumentar- als auch Fernsehfilme jeden Alters in Kurz- wie Langfilmformat berücksichtigt – verzichtet wurde auf die Listung von Lehrfilmen, Patientenvideos und Produktionen im Serienformat.
Quellen Filme und Dokumentarfilme über Demenz und Alzheimer (2016) Internetseite Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. https://www.alzheimer-kelheim.de/ app/download/7257088162/Filme%20Demenz.pdf?t=1522075011 Zugegriffen: 26. Juni 2023 Frebel LM (2021) Ethische Konflikte bei Demenz im Spielfilm – Analyse filmischer Darstellung und die Entwicklung von ethisch-didaktischen Materialien. Dissertaion Georg- August-Universität Göttingen https://ediss.uni-goettingen.de/handle/21.11130/00-17 35-0000-0008-57CD-0 Zugegriffen: 26. Juni 2023 Gerritsen DL, Kuin Y, Nijboer J (2013) Dementia in the movies: the clinical picture. Aging Ment Health; 18 (3):276–80 Internet Movie Database (IMDb) https://www.imdb.com Zugegriffen: 26. Juni 2023 Karenberg A (2015) Demenz im Spielfilm. Vortrag vom DGPPN Kongress am 26. November 2015 Ratnakaran B, Anil SS (2018) Dementia in Indian cinema: A narrative review January. Journal of Geriatric Mental Health 5(1):4 Segers K (2007) Degenerative Dementias and Their Medical Care in the Movies. Alzheimer Disease and Associated Disorders 21(1):55–9 Swinnen A (2012) Dementia in documentary film: Mum by Adelheid Roosen. The Gerontologist, 53:113–122 Wulff HJ (2008) Als segelte ich in die Dunkelheit… Die ästhetische und dramatische Analyse der Alzheimer-Krankheit im Film. In: von Jagow B, Steger G (Hrsg) Jahrbuch Literatur und Medizin. Band 2. Winter Verlag, Heidelberg, S 199–216 Wulff HJ (2007) Die Alzheimer-Erkrankung im Film: Eine Arbeitsfilmographie. Medienwissenschaft/Hamburg: Berichte und Papiere 64. http://berichte.derwulff.de/0064_06. pdf Zugegriffen: 26. Juni 2023
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hronologische Auflistung internationaler C Demenzfilmproduktionen (n=275) Titel Kein Lied für meinen Vater Wo is’ Papa? Twilight Years 36 Chowringhee Lane Am goldenen See Agnes – Engel im Feuer Gray Sunset Vergesst die Liebe nicht Sonia An Alzheimer’s Story Ein sanfter Tod I Know A Song: A Journey With Alzheimer’s Disease Mind Shadows
Originaltitel I Never Sang For My Father Where’s Poppa? Kôkotsu no hito 36 Chowringhee Lane On Golden Pond Agnes of God Hana Ichi Monme Do You Remember Love Sonia An Alzheimer’s Story Mercy or Murder? I Know A Song: A Journey With Alzheimer’s Disease Hersenschimmen
Jahr Produktionsland Regisseur 1970 USA Gilbert Cates
Losing It All: The Reality of Alzheimer’s Disease My Girl - Meine erste Liebe Eine ganz mormal verrückte Famile Black Daisies for the Bride Something Should Be Done About Grandma Ruthie Complaints of a Dutiful Daughter The Case of Bronek Pekosinski Nu ren si shi Sukiyaki The Road to Galveston
Losing It All: The Reality of Alzheimer’s Disease
1991 USA
My Girl
1991 USA
Howard Zieff
Folks!
1992 USA
Ted Kotcheff
Black Daisies for the Bride Something Should Be Done About Grandma Ruthie Complaints of a Dutiful Daughter Przypadek Pekosinskiego
1993 Vereinigtes Königreich 1993 USA
Peter Symes
1994 USA
Sommerschnee Sukiyaki The Road to Galveston
1995 Hong Kong 1995 Japan 1995 USA
Die Reisegefährtin Marvins Töchter Das vergessene Leben Ein Abschied für immer?
Compagna di viaggio Marvin’s Room Das vergessene Leben Time to Say Goodbye?
1996 1996 1997 1997
Deborah Hoffmann Grzegorz Krolikiewicz Ann Hui Junichi Suzuki Michael Toshiyuki Uno Peter Del Monte Jerry Zaks Claudia Prietzel David Jones
1970 1973 1981 1981 1985 1985 1985 1986 1987 1987 1988
USA Japan Indien USA USA Japan USA Kanada USA USA USA
1988 Niederlande
1994 Polen
Italien USA Deutschland USA
Carl Reiner Toyoda Shirō Aparna Sen Mark Rydell Norman Jewison Shunya Ito Jeff Bleckner Paule Baillargeon Ken Rosenberg Steven Gethers Brenda King
Heddy Honigmann Michael Mierendorf
Cary Stauffacher
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D. Henkel
Originaltitel Titel Poppy’s Head Poppy’s Head Reise in die Dunkelheit Reise in die Dunkelheit After Life
Wandafuru raifu
Down in the Delta Pop Reagan
Down in the Delta Pop Reagan
Safe House Der Schrecken des Vergessens * Metada Fumaca Saturn Stolen Memories Swimming on the Moon Zauber einer Winternacht Alzheimer Der Tag, der in der Handtasche verschwand Die blauen und die grauen Tage How To Kill Your Neighbor’s Dog A Moment to Remember A Song for Martin Beautiful Memories
Safe House Forget Me Never Kaas Ban zhi yan Speed of Life Stolen Memories Swimming on the Moon One Special Night
Jahr Produktionsland Regisseur 1997 USA Barbara Angell 1997 Deutschland Berthold Mittermayr 1998 Japan Hirokazu Kore-eda 1998 USA Maya Angelou 1998 USA Joel Meyerowitz 1988 USA Adriana Bosch, Austin Hoyt 1998 USA Eric Steven Stahl 1999 USA Robert Allan Ackerman 1999 Belgien Orlow Seunke 1999 Hong Kong Ip Kam Hung 1999 USA Robert Schmidt 1999 Kanada Rebecca Mellor 1999 USA Shawn Sweeney 1999 USA Roger Young
Alzheimer Der Tag, der in der Handtasche verschwand Die blauen und die grauen Tage How To Kill Your Neighbor’s Dog Nae Meorisogui Jiugae
2000 Spanien 2000 Deutschland
Álex Sampayo Marion Kainz
2000 Deutschland
Dagmar Damek
2000 USA 2001 Südkorea
Michael Kalesniko Lee Jae-han
2001 Schweden 2001 Frankreich
Bille August Zabou Breitman
Climbing Miss Sophie Der Akazienweg Der Sohn der Braut
En Sang for Martin Se souvenir des belles choses Climbing Miss Sophie Akashia no michi El hijo de la novia
2001 USA 2001 Japan 2001 Argentienien
Do Not Go Gentle
Oed Yr Addewid
Iris
Iris
Macht der Begierde Naomi und die alte Dame The Nature of Things: Amanda’s Choice 1928
The Center of the World Ichiban ustsukushii natsu
2001 Vereinigtes Königreich 2001 Vereinigtes Königreich 2001 USA 2001 Japan
Liat Dahan Matsuoka George Juan José Campanella Emlyn Williams
The Nature of Things: Amanda’s Choice 1928
Richard Eyre Wayne Wang John Williams
2001 Kanada
David Tucker
2002 Deutschland
Ralf Stadler
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20 Demenzfilm – Eine Filmographie Titel ...und der Kamm, der hat Zähne Alzheimer: Spurensuche im Niemandsland Alzheimer’s: My Mom, Our Journey Broken Branch of Plum Blossoms * Marion Bridge
Originaltitel ...und der Kamm, der hat Zähne Alzheimer: Spurensuche im Niemandsland
Jahr Produktionsland Regisseur 2002 Deutschland Dino Serio 2002 Deutschland
Claudia Bissinger, Michael Jürgs
Alzheimer’s: My Mom, Our Journey Oriume
2002 USA
Julie Meisner Eagle Hisako Matsui
2002 Japan
La maladie de la mémoire 2002 USA Marion Bridge 2002 Kanada
Meine Schwester Maria Meine Schwester Maria
2002 Deutschland
One of Five
One of Five
2002 USA
A Time to Remember After the Deluge Assisted Living
A Time to Remember After the Deluge Assisted Living
2003 USA 2003 Australien 2003 USA
Das Fenster gegenüber Dopamine Es bleibt in der Familie Harvie Krumpet Long Shadows: Stories from a Jewish Home Mein Vater My Mother’s Keeper Noël Blank
La finestra di fronte Dopamine It Runs in the Family Harvie Krumpet Long Shadows: Stories from a Jewish Home Mein Vater My Mother’s Keeper Noël Blank
2003 2003 2003 2003 2003
Remembering Mario Rita The Reagans
Remembering Mario Rita The Reagans
2003 USA 2003 USA 2003 USA
Totgemacht – The Alzheimer Case Deining
De Zaak Alzheimer
2003 Belgien
Deining
2004 Niederlande
Noel - Engel in Manhattan Ariana Chika’s Bird Der Hals der Giraffe Diagnosis
Noel
2004 USA
Ariana Chika’s Bird Le cou de la girafe Diagnosis
2004 2004 2004 2004
Italien USA USA Australien Australien
2003 Deutschland 2003 USA 2003 Kanada
USA Kanada Frankreich USA
Richard Dindo Wiebke von Carolsfeld Maximilian Schell Justin Choma Zimmerman John Putch Brendan Maher Elliot Greenebaum Ferzan Özpetek Mark Decena Fred Schepisi Adam Elliot Kate Hampel Andreas Kleinert Malissa Strong Jean-François Rivard Val Franco Elaina Archer Robert Allan Ackerman Erik Van Looy Nicole van Kilsdonk Chazz Palminteri, David Hubbard Michael Sandoval Adam Mars Safy Nebbou Georgia Lee
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D. Henkel
Originaltitel Grandpa Doesn’t Know It’s Me Las Memorias del señor Alzheimer Monster Road Monster Road * Meän kesä Quick Brown Fox: An Quick Brown Fox: An Alzheimer’s Story Alzheimer’s Story Sonny Boy Sonny Boy String Worms At Budd String Worms At Budd Terrace Terrace Tell Them Who You Are Tell Them Who You Are The Forgetting: A The Forgetting: A Portrait Portrait of Alzheimer’s of Alzheimer’s The Remembering The Remembering Movies Movies Wie ein einziger Tag The Notebook A Clear View A Clear View Aurora Borealis Aurora Borealis
Jahr Produktionsland Regisseur 2004 USA Donna Guthrie
Black
Black
2005 Indien
Dad
Dad
Dangerous Crosswinds Erinnern Fragile Ich habe Gandhi nicht getötet Memory for Max, Claire, Ida and Company Outside a Dream
Dangerous Crosswinds Erinnern Fragile Maine Gandhi Ko Nahin Mara Memory for Max, Claire, Ida and Company
2005 Vereinigtes Königreich 2005 USA 2005 Schweiz 2005 Schweiz 2005 Indien
Thanmathra To Lie in Green Pastures Vorletzter Abschied Zwei ungleiche Freunde
Titel Grandpa Doesn’t Know It’s Me *
An ihrer Seite But Seriously, Folks Fragile Frau Woodtli – Der Lauf des Lebens
2004 Argentienien
Sergio Bellotti
2004 USA 2004 Finnland 2004 USA 2004 USA 2004 Australien
Brett Ingram Mika Ronkainen Ann Hedreen, Rustin Thompson Soleil Moon Frye Sean O’Sullivan
2004 USA 2004 USA
Mark Wexler Elizabeth Arledge
2004 USA
Cristopher N. Rowley Nick Cassavetes Michael Olson James C. E. Burke Sanjay Leela Bhansali Sarah Harding
2004 USA 2005 USA 2005 USA
Bill Millios Bruno Moll Laurent Nègre Jahnu Barua
2005 Kanada
Allan King
Outside a Dream
2005 USA
Thanmathra To Lie in Green Pastures
2005 Indien 2005 USA
W. Michael Jenson Blessy Gene Landry
Vorletzter Abschied Je préfère qu’on reste amis Away From Her But Seriously, Folks Fragile Frau Woodtli – Der Lauf des Lebens
2005 Deutschland 2005 Frankreich
Heiko Hahn Eric Toledano
2006 2006 2006 2006
Sarah Polley Michelle Opitz Laurent Nègre Christoph Müller
Kanada USA Schweiz Schweiz
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20 Demenzfilm – Eine Filmographie Originaltitel Titel Memories of Tomorrow Ashita no kioku
Jahr Produktionsland Regisseur 2006 Japan Yukihiko Tsutsumi 2006 Deutschland Christian Schwochow 2006 USA Gee Malik Linton 2006 Belgien Geoffrey Enthoven 2006 Dänemark Suzanne Osten 2007 Spanien Antonio Mercero 2007 USA Tamara Jenkins 2007 USA Ben Shelton 2008 Spanien Freddy Mas Franqueza 2008 Spanien Albert Solé
Marta und der fliegende Großvater Razor’s Gift The only one
Marta und der fliegende Großvater Razor’s Gift Vidange perdue
Welcome to Verona And Who Are You? Die Geschwister Savage My Name Is Lisa Awaking from a Dream
Wellkåmm to Verona ¿Y tú quién eres? The Savages My Name Is Lisa Amanecer de un Sueño
Bucharest, Memory Lost Choke – Der Simulant Cortex
Bucarest, la memòria perduda Choke Cortex
* *
Dhoosar Encantada
2008 Indien 2008 Mexico
Good
Good
Immer noch Liebe! Is Anybody There?
Lovely, Still Is Anybody There?
Memories to Go – Vergeben... und vergessen! Pandoras Box Princess Margaret Blvd. So viele Jahre liebe ich dich The Curious Case of Benjamin Button U, Me Aur Hum - Für immer wir Eines Tages Kerala Cafe (Segment „The Bridge“) * Mum Suddenly Sami
Diminished Capacity
2008 Vereinigtes Königreich 2008 USA 2008 Vereinigtes Königreich 2008 USA
2008 USA 2008 Frankreich
Clark Gregg Nicolas Boukhrief Vaibhav Abnave Jimena L. Arguelles Izaguirre Vicente Amorim Nicholas Fackler John Crowley Terry Kinney
Pandora’nın Kutusu Princess Margaret Blvd. Il y a longtemps que je t’aime Der seltsame Fall des Benjamin Button U Me Aur Hum
2008 Türkei 2008 Kanada 2008 Frankreich
Yeşim Ustaoğlu Kazik Radwanski Philippe Claudel
2008 USA
David Fincher
2008 Indien
Ajay Devgn
Eines Tages Kerala Cafe (Segment „The Bridge“) L’absence Mum Min mors hemmelighet
2008 Deutschland 2009 Indien
Iain Dilthey Anwar Rasheed
2009 Frankreich 2009 Niederlande 2009 Norwegen
Cyril de Gasperis Adelheid Roosen Ellen-Astri Lundby
274
D. Henkel
Titel Today and the Other Days A Second Childhood Barney’s Version Bicycle, Spoon, Apple
Originaltitel Jeo-nyeok-eui gae-im
Jahr Produktionsland Regisseur 2009 Südkorea Wee-an Choi
Forget Me Not
Forget Me Not
Ilse, wo bist du?
Ilse, wo bist du?
2010 Vereinigtes Königreich 2010 Österreich
Lou Mamma Gógó
Lou Mamma Gógó
2010 Australien 2010 Island
Nebeneinander Old Cats Poetry Small World Vater Morgana Villa Mathildenhöhe 50/50 – Freunde fürs (Über)Leben Alzheimer Before We Forget
Nebeneinander Gatos Viejos Shi Je n’ai rien oublié Vater Morgana Villa Mathildenhöhe 50/50
2010 2010 2010 2010 2010 2010 2011
Alzheimer Before We Forget
2011 Ägypten 2011 Singapur
Una sconfinata giovinezza 2010 Italien Barney’s Version 2010 Kanada Bicicleta, cuchara, 2010 Spanien manzana
Das Blaue vom Himmel Das Blaue vom Himmel Demenz verstehen Demenz verstehen Die Eiserne Lady The Iron Lady
Deutschland Chile Südkorea Frankreich Deutschland Deutschland USA
2011 Deutschland 2011 Deutschland 2011 Vereinigtes Königreich 2011 USA
Pupi Avati Richard J. Lewis Carles BoschBicycle, Spoon, Apple Alexander Holt, Lance Roehrig Ulrike Halmschlager Belinda Chayko Friðrik Þór Friðriksson Christoph Englert Sebastián Silva Lee Chang-dong Bruno Chiche Till Endemann Bodo Beuchel Jonathan Levine Adel Imam Jeremy Boo, Lee Xian Jie Hans Steinbichler Bodo Beuchel Phyllida Lloyd
Freunde mit gewissen Vorzügen Harold’s Going Stiff Nader und Simin – Eine Trennung The Voices of Memory
Friends with Benefits
Will Gluck
Harold’s Going Stiff Dschodāi-ye Nāder az Simin Las voces de la memoria
2011 USA 2011 Iran
Keith Wright Asghar Farhadi
2011 Spanien
The Descendants – Familie und andere Angelegenheiten Reagan Rise of the Planet of the Apes Sandcastle
The Descendants
2011 USA
Àlex Badia, Dani Fabra, Vicent Peris Alexander Payne
Reagan Planet der Affen: Prevolution Sandcastle
2011 USA 2011 USA
Eugene Jarecki Rupert Wyatt
2011 Singapur
Boo Junfeng
275
20 Demenzfilm – Eine Filmographie Titel Vergiss dein Ende
Originaltitel Vergiss dein Ende
Win Win Wrinkles Ashes
Win Win Arrugas Ashes
Dicke Mädchen First Cousin Once Removed My Way of Life
Dicke Mädchen First Cousin Once Removed Watashi no michi: Waga inochi no tang Nani Robot & Frank Still Mine
Nani Robot & Frank Für immer dein
Jahr Produktionsland Regisseur 2011 Deutschland Andreas Kannengießer 2011 USA Tom McCarthy 2011 Spanien Ignacio Ferreras 2012 Vereinigtes Mat Whitecross Königreich 2012 Deutschland Axel Ranisch 2012 USA Alan Berliner 2012 Japan
Hideki Wada
2012 USA 2012 USA 2013 Kanada
Justin Tipping Jake Schreier Michael McGowan Cheng-sheng Lin Michael Maren
27°C: Loaf Rock A Short History of Decay Another House Astu - So Be It
Shi jie di yi mai fang A Short History of Decay
2013 Taiwan 2013 USA
Another House Astu
2013 Kanada 2013 Indien
Black Noise Die Auslöschung Listen... Amaya
Black Noise Die Auslöschung Listen... Amaya
2013 Kanada 2013 Österreich 2013 Indien
Mai Pecoross’ Mother and Her Days Recipe
Mai Pekorosu no haha ni ai niiku Recipe: A Film on Dementia Red Wine Stiller Abschied Dementia Glen Campbell: I’ll Be Me Honig im Kopf Late Phases
2013 Indien 2013 Japan
Mathieu Roy Sumitra Bhave, Sunil Sukthankar Behruz Afkhami Nikolaus Leytner Avinash Kumar Singh Mahesh Kodiyal Azuma Morisaki
2013 Singapur
Eric Khoo
2013 2013 2014 2014
Salam Bappu Florian Baxmeyer Perci M. Intalan James Keach
Red Wine Stiller Abschied Dementia Glen Campbell: I’ll Be Me Honig im Kopf Late Phases
Indien Deutschland Phillipinen USA
2014 Deutschland 2014 USA
Nichts für Feiglinge Nichts für Feiglinge Sein gutes Recht Sein gutes Recht Still Alice: Mein Leben Still Alice ohne Gestern
2014 Deutschland 2014 Deutschand 2014 USA
The Taking of Deborah Logan
2014 USA
The Taking of Deborah Logan
Til Schweiger Adrian Garcia Bogliano Michael Rowitz Isabel Kleefeld Richard Glatzer, Wash Westmoreland Adam Robitel
276
D. Henkel
Titel Dementia - Gefährliche Erinnerung Floride King of Utopia Nicht schon wieder Rudi!
Originaltitel Dementia
Jahr Produktionsland Regisseur 2015 USA Mike Testin
Floride Utopiayile Rajavu Nicht schon wieder Rudi!
2015 Frankreich 2015 Indien 2015 Deutschland
OK Kanmani Remember - Vergiss nicht, dich zu erinnern A Timeless Love
O Kadhal Kanmani Remember
2015 Indien 2015 Kanada
A Timeless Love
2016 USA
Beat Around the Bush
Beat Around the Bush
2016 Kanada
El Olivo - Der Olivenbaum Happiness Mango Dreams Missing
El Olivo
2016 Spanien
Simon Erickson, Scott R. Thompson Brianne Nord- Stewart Icíar Bollaín
Xìngyùn shì wǒ Mango Dreams Godhi Banna Sadharana Mykattu Paavada That Gusty Morning La familia - Dementia
2016 Japan 2016 Indien 2016 Kanada
Andy Lo John Upchurch Hemanth Rao
2016 Indien 2016 Indien 2016 Spanien, Frankreich 2016 Frankreich 2016 China
G. Marthandan Jahnu Barua Giovanna Ribes
Skirt That Gusty Morning The Family: Dementia
The Head Vanishes Une tête disparaît My Beloved Bodyguard Wo de te gong ye ye
Philippe Le Guay Kamal Oona-Devi Liebich, Ismail Sahin Mani Ratnam Atom Egoyan
Franck Dion Sammo Kam-Bo Hung Japan, Südkorea Jae-eun Jeong Frankreich, Paolo Virzì Italien Indien Kukku Surendran USA James Powell USA James Mangold Südkorea Shin-yeon Won USA Albert Alarr
Butterfly Sleep Das Leuchten der Erinnerung E Glass Logan – The Wolverine Memoir of a Murderer Millionen Momente voller Glück Wer ist Camille?
Chô no yô ni nemuru The Leisure Seeker
2017 2017
E Glass Logan Salinjaui gieokbeob A Million Happy Nows
2017 2017 2017 2017 2017
Cercando Camille
2017 Schweiz
102 Not Out 60 Vayadu Maaniram Alaska
102 Not Out 60 Vayadu Maaniram Alaska
2018 Indien 2018 Indien 2018 Israel
For the Love of Fred
For the Love of Fred
2018 Vereinigtes Königreich
Bindu De Stoppani Umesh Shukla Radha Mohan Isaac Zepel Yeshurun Min Reid
20 Demenzfilm – Eine Filmographie
Jahr Produktionsland Regisseur 2018 Deutschland, Til Schweiger USA I Go Gaga, My Dear Bokemasukara, yoroshiku 2018 Japan Naoko Nobutomo onegaishimasu Remember Isobel Remember Isobel 2018 USA Sarah Barbulesco What They Had What They Had 2018 USA Elizabeth Chomko A Long Good-Bye Nagai owakare 2019 Japan Ryôta Nakano Elizabeth Is Missing Elizabeth Is Missing 2019 Vereinigtes Aisling Walsh Königreich House Owner House Owner 2019 Indien Lakshmy Ramakrishnan Lethal Strike Uri: The Surgical Strike 2019 Indien Aditya Dhar Mémorable Mémorable 2019 Frankreich Bruno Collet Mother Mother 2019 Belgien Kristof Bilsen Sanzaru Sanzaru 2019 USA Xia Magnus Sator Sator 2019 USA Jordan Graham Sraboner Dhara Sraboner Dhara 2019 Indien Abhijit Guha, Sudeshna Roy Synapses Synapses 2019 Taiwan Tso-chi Chang The Artist’s Wife The Artist’s Wife 2019 USA Tom Dolby The Best Years of a Life Les plus belles années 2019 Frankreich Claude Lelouch d’une vie Capone Capone 2020 Australien, USA Josh Trank Erwin Erwin 2020 Australien Lev Jutsen Falling Falling 2020 Vereinigtes Viggo Mortensen Königreich Just Like We Used to Just Like We Used to Do 2020 USA Suzanne Doran Do Miss India Miss India 2020 Indien Narendra Nath Noch einmal, June June Again 2020 Australien JJ Winlove Relic Relic 2020 USA Natalie Erika James Rent-a-Pal Rent-a-Pal 2020 USA Jon Stevenson Robin’s Wish Robin’s Wish 2020 USA Tylor Norwood Supernova Supernova 2020 Vereinigtes Harry Macqueen Königreich The Father The Father 2020 Vereinigtes Florian Zeller Königreich Wege des Lebens - The The Roads Not Taken 2020 Vereinigtes Sally Potter Roads Not Taken Königreich Die Vergesslichkeit der Die Vergesslichkeit der 2021 Deutschland Marc Dietschreit, Eichhörnchen Eichhörnchen Nadine Heinze Dvaita: Duality Dvaita: Duality 2021 Indien Rak Avatar, Sanjeev Verma Titel Head Full of Honey
Originaltitel Head Full of Honey
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278
D. Henkel
Titel Have You Heard About Greg? Hunting Bears
Originaltitel Have You Heard About Greg? Hunting Bears
Jahr Produktionsland Regisseur 2021 USA Steve Ecclesine
Ruth
Ruth
2021 Vereinigtes Königreich 2021 USA
Someday Vortex Woman in Blue Cassiopeia Dysphoria
Someday Vortex Woman in Blue Kasiopeia Diszfória
2021 2021 2021 2022 2022
Goldfish It Snows All the Time Memorial
Goldfish It Snows All the Time Memorial
Memory - Sein letzter Auftrag Remember
Memory
2022 Indien 2022 USA 2022 Vereinigtes Königreich 2022 USA
Voordat ik het vergeet
2022 Niederlande
Submergent Wisdom Gone Wild
Submergent Wisdom Gone Wild
2022 USA 2022 USA
Indien Frankreich Neuseeland Südkorea Ungarn
Jason Ruddy Arturo M. Antolín, Paul Romero Mendez Shefali Shah Gaspar Noé Jack O’Donnell Shin Yeon-shick Levente Nagy Borús Pushan Kripalani Jay Giannone David O’Mahony Martin Campbell Sunil Mokkenstorm Jon M. Wilson Rea Tajiri