Musik als affektive Selbstverständigung: Eine integrative Untersuchung über musikalische Expressivität 9783495817988, 9783495487983


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Inhaltsübersicht
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Vorwort
1. Musik und Emotionen
1.1. Musikalische Expressivität als Untersuchungsgegenstand
1.1.1. Der Zusammenhang zwischen Musik und Emotionen: historischer Einstieg
1.1.2. Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken
1.2. Ontologie der Emotionen
1.2.1. Schwierigkeiten einer Ontologie der Emotionen
1.2.2. Emotionen: Urteile des Körpers, affektive Wahrnehmungen oder weltgerichtete Gefühle?
1.2.3. Vier Eigenschaften von Emotionen
1.2.3.1. Doppelte Intentionalität
1.2.3.2. Phänomenalität
1.2.3.3. Opazität (der dunkle Kern)
1.2.3.4. Existentialität
1.3. Mögliche Gründe des Zusammenhangs zwischen Musik und Emotionen
1.3.1. Ausdruck und Ähnlichkeit von Konturen
1.3.2. Evokation
1.3.3. Repräsentation
1.3.4. Metaphorische Exemplifikation
1.4. Arten der Expressivität
1.4.1. Performative Expressivität
1.4.2. Projektive Expressivität
1.4.3. Evaluative Expressivität
1.4.4. Genuine Expressivität
1.5. Das philosophische Problem des Wesens musikalischer Expressivität und die Frage nach ihrem Wert
2. Musikalische Expressivität und Metaphorizität
2.1. Integratives Modell der Eigenschaften absoluter Musik
2.2. Metaphorische Beschreibungen von Musik
2.2.1. Zuschreibungen affektiver Zustände zu Werken absoluter Musik als Metaphern
2.2.2. Von repräsentationalen Deutungskontexten abhängige Metaphern
2.2.2.1. Metaphorische Deutungen musikalischer Werke
2.2.2.2. Beispiel Konturtheorie
2.2.2.3. Beispiel Personentheorie
2.3. Expressive Musik als metaphorisches Symbol: der Ansatz Nelson Goodmans
2.3.1. Kunst als Weise der Welterzeugung
2.3.2. Musikalische Expressivität als metaphorische Exemplifikation
2.3.3. Kritische Würdigung des Ansatzes Goodmans
2.4. Zwischenfazit
3. Die Erfahrung absoluter Musik
3.1. Das Modell des musikalischen Erwartungsspiels
3.1.1. Grundlagen des Modells
3.1.2. Erwartungen auf verschiedenen musikalischen Ebenen
3.1.3. Arten musikalischer Erwartungen
3.1.3.1. Veridische Erwartungen
3.1.3.2. Schematische Erwartungen
3.1.3.3. Lokale Erwartungen
3.2. Drei Modi des Musikhörens
3.2.1. Zerstreutes Hören
3.2.2. Involviertes Hören
3.2.3. Distanziertes Hören
3.3. Grundriss einer Phänomenologie der musikalischen Erfahrung
3.3.1. Zeitlichkeit
3.3.2. Räumlichkeit
3.3.2.1. Tonhöhe
3.3.2.2. Abstand
3.3.2.3. Tiefe (Vorder- und Hintergrund)
3.3.2.4. Keine Ko-Intentionalität
3.3.3. Bewegung
3.3.4. Gerichtetheit
3.3.5. Spannung und Affektivität
4. Wesen musikalischer Expressivität
4.1. Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel
ßb_EvMikro_bß(ba(EvMikro)ba)4.1.1. Evokation von Mikroemotionen der Überraschung und der Erleichterung
4.1.2. Evokation starker Reaktionen: Lachen, Schrecken und Schauder
4.1.3. Kontrastive Valenz und das Problem negativer affektiver Zustände
4.2. Musikalische Evokation von Gefühlen und musikalische Expressivität
4.2.1. Probleme der Identifikation von Evokation und Expressivität
4.2.2. Signifikanz der evozierten Gefühle im absolutmusikalischen Kontext
4.2.3. Dimensionale Bestimmtheit menschlicher Affektivität und musikalische Expressivität
4.2.4. Fallbeispiel: Schuberts Unvollendete, Exposition erster Satz
4.3. Fazit: Expressivität als tertiäre und quartäre Eigenschaft musikalischer Werke
5. Wert musikalischer Expressivität: eine Perspektive
5.1. Der Wert von Musik
5.1.1. Sieben Arten psychologischer Wertkomponenten von Musik
5.1.2. Gibt es einen spezifischen Wert absoluter Musik?
5.2. Dynamisch-heterarchische Anlage unseres Selbst
5.2.1. Willensfreiheit
5.2.2. Rationalität von Emotionen
5.2.3. Affektive Selbsttransformation und Kultur
5.3. Musikalische Expressivität, die Unfreiheit des involvierten Hörers und menschliche Freiheit
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Musik als affektive Selbstverständigung: Eine integrative Untersuchung über musikalische Expressivität
 9783495817988, 9783495487983

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musik M philosophie

Stefan Zwinggi

Musik als affektive Selbstverständigung Eine integrative Untersuchung über musikalische Expressivität

VERLAG KARL ALBER https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

B

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Über das Buch: Musikalische Werke sind keine Personen. Dennoch sagen wir zum Beispiel, ein Werk sei melancholisch, drücke Freude aus oder verbreite eine zuversichtliche Stimmung. Doch mit welchem Recht? Die Beantwortung dieser Frage ist grundlegend für die Musikphilosophie. In der Monographie wird systematisch das Wesen und, auf den Resultaten dieses ersten Teils aufbauend, im zweiten Teil der Wert der Expressivität von Musik untersucht. Dabei wird ein historisch und empirisch informierter, integrativer Ansatz musikalischer Expressivität ausgearbeitet. Die Untersuchung trägt so zu einem besseren Verständnis des Mediums Musik und seiner Bedeutung für das menschliche Dasein bei.

Der Autor: Stefan Zwinggi hat in Zürich Philosophie, Flöte (Günther Wehinger) und Komposition (Isabel Mundry) studiert. Weitere Kompositionsstudien als Fulbright Grantee in New York bei Ira Newborn und Gil Goldstein. Promotion an der Graduiertenschule des Exzellenzclusters »Languages of Emotion« in Berlin.

https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Stefan Zwinggi Musik als affektive Selbstverständigung

https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

musik M philosophie Band 7

Herausgegeben von: Oliver Fürbeth (Frankfurt am Main) Lydia Goehr (Columbia, New York) Frank Hentschel (Köln) Stefan Lorenz Sorgner (Erfurt)

Wissenschaftlicher Beirat: Andreas Dorschel (Graz) Bärbel Frischmann (Erfurt) Georg Mohr (Bremen) Albrecht Riethmüller (Berlin) Günter Zöller (München)

https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Stefan Zwinggi

Musik als affektive Selbstverständigung Eine integrative Untersuchung über musikalische Expressivität

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Originalausgabe Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 2014 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48798-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81798-8

https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Inhaltsübersicht

Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

1. Musik und Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

2. Musikalische Expressivität und Metaphorizität . . . . . . . .

83

3. Die Erfahrung absoluter Musik

. . . . . . . . . . . . . . . 135

4. Wesen musikalischer Expressivität

. . . . . . . . . . . . . 196

5. Wert musikalischer Expressivität: eine Perspektive . . . . . .

250

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

287

Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

307

7 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Inhalt

Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Vorwort

15

1.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Musik und Emotionen

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

1.1. Musikalische Expressivität als Untersuchungsgegenstand 1.1.1. Der Zusammenhang zwischen Musik und Emotionen: historischer Einstieg . . . . . . . . . . . . . 1.1.2. Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken . . . . . . . . . . . . . .

21

1.2. Ontologie der Emotionen . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Schwierigkeiten einer Ontologie der Emotionen 1.2.2. Emotionen: Urteile des Körpers, affektive Wahrnehmungen oder weltgerichtete Gefühle? . . . 1.2.3. Vier Eigenschaften von Emotionen . . . . . . 1.2.3.1. Doppelte Intentionalität . . . . . . . 1.2.3.2. Phänomenalität . . . . . . . . . . . . 1.2.3.3. Opazität (der dunkle Kern) . . . . . . 1.2.3.4. Existentialität . . . . . . . . . . . . .

. . . .

42 43

. . . . . .

. . . . . .

46 51 51 55 57 60

. . . . . 1.4. Arten der Expressivität . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1. Performative Expressivität . . . . . . . . . . . . 1.4.2. Projektive Expressivität . . . . . . . . . . . . . .

63 63 67 68 73

1.3. Mögliche Gründe des Zusammenhangs zwischen Musik und Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Ausdruck und Ähnlichkeit von Konturen . . . . 1.3.2. Evokation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3. Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4. Metaphorische Exemplifikation . . . . . . . . .

21 37

74 74 76

9 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Inhalt

1.4.3. Evaluative Expressivität . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4. Genuine Expressivität . . . . . . . . . . . . . . .

77 78

1.5. Das philosophische Problem des Wesens musikalischer Expressivität und die Frage nach ihrem Wert . . . . . .

79

2.

Musikalische Expressivität und Metaphorizität . . . . . . .

83

2.1. Integratives Modell der Eigenschaften absoluter Musik

. . . . . . . .

86

2.2. Metaphorische Beschreibungen von Musik 2.2.1. Zuschreibungen affektiver Zustände zu Werken absoluter Musik als Metaphern . . . . . . . . . 2.2.2. Von repräsentationalen Deutungskontexten abhängige Metaphern . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.1. Metaphorische Deutungen musikalischer Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2.2. Beispiel Konturtheorie . . . . . . . . . 2.2.2.3. Beispiel Personentheorie . . . . . . . .

94

.

94

.

97

2.3. Expressive Musik als metaphorisches Symbol: der Ansatz Nelson Goodmans . . . . . . . . . . . 2.3.1. Kunst als Weise der Welterzeugung . . . . . 2.3.2. Musikalische Expressivität als metaphorische Exemplifikation . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3. Kritische Würdigung des Ansatzes Goodmans

. 97 . 108 . 111

. . . 118 . . . 119

. . . 125 . . . 129 2.4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 3.

Die Erfahrung absoluter Musik . . . . . . . . . . . . . .

3.1. Das Modell des musikalischen Erwartungsspiels . . . 3.1.1. Grundlagen des Modells . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Erwartungen auf verschiedenen musikalischen Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3. Arten musikalischer Erwartungen . . . . . . . 3.1.3.1. Veridische Erwartungen . . . . . . . 3.1.3.2. Schematische Erwartungen . . . . . . 3.1.3.3. Lokale Erwartungen . . . . . . . . . 3.2. Drei Modi des Musikhörens 3.2.1. Zerstreutes Hören . . 3.2.2. Involviertes Hören . 3.2.3. Distanziertes Hören .

. . . .

. . . .

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. . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

135

. . 138 . . 138 . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

143 147 147 149 150 150 152 157 163

Inhalt

3.3. Grundriss einer Phänomenologie der musikalischen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2. Räumlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.1. Tonhöhe . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.2. Abstand . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.3. Tiefe (Vorder- und Hintergrund) . . 3.3.2.4. Keine Ko-Intentionalität . . . . . . 3.3.3. Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4. Gerichtetheit . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5. Spannung und Affektivität . . . . . . . . . 4.

Wesen musikalischer Expressivität

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . 196

4.1. Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1. Evokation von Mikroemotionen der Überraschung und der Erleichterung . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2. Evokation starker Reaktionen: Lachen, Schrecken und Schauder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3. Kontrastive Valenz und das Problem negativer affektiver Zustände . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Musikalische Evokation von Gefühlen und musikalische Expressivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Probleme der Identifikation von Evokation und Expressivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2. Signifikanz der evozierten Gefühle im absolutmusikalischen Kontext . . . . . . . . . . . . . 4.2.3. Dimensionale Bestimmtheit menschlicher Affektivität und musikalische Expressivität . . . 4.2.4. Fallbeispiel: Schuberts Unvollendete, Exposition erster Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197 197 209 212

. 224 . 224 . 229 . 235 . 240

4.3. Fazit: Expressivität als tertiäre und quartäre Eigenschaft musikalischer Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.

167 169 177 178 180 186 186 188 192 195

244

Wert musikalischer Expressivität: eine Perspektive

. . . . 250 5.1. Der Wert von Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 5.1.1. Sieben Arten psychologischer Wertkomponenten von Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2. Gibt es einen spezifischen Wert absoluter Musik? .

253 259 11

https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Inhalt

5.2. Dynamisch-heterarchische Anlage unseres Selbst 5.2.1. Willensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2. Rationalität von Emotionen . . . . . . . . 5.2.3. Affektive Selbsttransformation und Kultur 5.3. Musikalische Expressivität, die Unfreiheit des iunvolvierten Hörers und menschliche Freiheit

. . . .

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. . . . . 283

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister

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287

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Integratives Modell der Eigenschaften absoluter Musik (bedingte Supervenienz der Eigenschaftsebenen) . . . .

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Abbildung 2: Franz Schubert, Sinfonie Nr. 7 in h-Moll, 1. Satz, erstes Thema (Oboe und Klarinette, mit dem Einwurf der Hörner; T. 13–21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

144

Abbildung 3: Quartvorhalt und Antizipation in einer Kadenz (C-Dur) .

145

Abbildung 4: Franz Schubert, Sinfonie Nr. 7 in h-Moll, 2. Satz, Klarinettensolo (T. 66–83) . . . . . . . . . . . . . . . .

181

Abbildung 5: Melodische Tendenz von d als aktivem Ton (d’, Kontext: C-Dur, auf Stufe Tonika) . . . . . . . . . .

191

Abbildung 6: Melodische Gerichtetheit (Kontext: C-Dur) . . . . . . .

192

Abbildung 7: Franz Schubert, Sinfonie Nr. 7 in h-Moll, 1. Satz, zweites Thema (Celli, T. 44–53) . . . . . . . . . . . . .

194

Abbildung 8: Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 5, 4. Satz, Beginn der Violinen (T. 2–6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

228

Abbildung 9: Dimensionale Bestimmtheit musikalischer Expressivität auf tertiärer Eigenschaftsebene . . . . . . . . . . . . .

238

Abbildung 10: Franz Schubert, Sinfonie Nr. 7 in h-Moll, 1. Satz, Beginn der Celli und Kontrabässe (T. 1–10) . . . . . . . . . . .

241 13

https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Vorwort

Musik werden oft affektive Zustände zugeschrieben, nicht nur von Laien, sondern auch von Musikern, Musiktheoretikern und -kritikern. Diese Sprachpraxis beschränkt sich nicht auf eine bestimmte Epoche oder einen bestimmten Stil von Musik. Vielmehr handelt es sich um eine persistente und stilübergreifende Sprachpraxis. Eine Möglichkeit der Erläuterung der Praxis wäre es, die Zuschreibungen als Deutungen musikalischer Formen im Kontext historisch und stilistisch kontingenter Musikauffassungen zu verstehen, zum Beispiel Zuschreibungen affektiver Zustände zur Musik des Barock im Kontext der damals verbreiteten musikalischen Affekt- und Figurenlehren. Fraglich ist jedoch, ob mit einem solchen Ansatz die Persistenz der Praxis erklärt werden kann. Es müssten für zahlreiche Epochen und Stile entsprechende Kontexte der affektiven Deutung musikalischer Formen identifiziert werden. Und selbst wenn dies geleistet werden könnte, bliebe die Frage im Raum, weswegen gerade Kontexte der affektiven Deutung musikalischer Formen so häufig Musikauffassungen beherrschten. Es ist zu vermuten, dass der Kontext nicht beliebig herangezogen wird. Doch inwiefern ist der Kontext nicht beliebig? Worin könnte der in den Zuschreibungen behauptete Zusammenhang zwischen Musik und menschlicher Affektivität bestehen, wenn überhaupt? Oder genauer: Inwiefern sind die Zuschreibungen bestimmt durch die formale Organisation von Musik, wenn überhaupt? Weiter: Sind die Zuschreibungen intersubjektiv nachvollziehbar, oder sind sie lediglich subjektive Äußerungen von Hörern? Inwieweit beruhen die Zuschreibungen auf unserer (affektiven) Erfahrung von Musik? Inwieweit auf Deutungen musikalischer Formen? Inwieweit bestimmt unsere (affektive) Erfahrung von Musik deren Deutung? Worauf richten sich die affektiven Zustände, die Musik zugeschrieben werden? Lässt die Praxis der Zuschreibungen affektiver Zustände zu Musik auf etwas Musikspezifisches schließen? In welcher Beziehung steht das affektive Potential von Musik, so es denn nachgewiesen 15 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Vorwort

werden kann, zur menschlichen Affektivität? Inwiefern liegt in Musik, der affektive Zustände zugeschrieben werden können, ein besonderer Wert für uns? Kann Musik, der affektive Zustände zugeschrieben werden können, zu unserer affektiven Selbstverständigung beitragen, und wenn ja, wie? Diesen Fragen soll in einer musikphilosophischen Untersuchung nachgegangen werden. Meine Herangehensweise ist dabei systematisch und fundamental. Denn die Persistenz der Zuschreibungen legt nahe, systematisch über musikalische Expressivität nachzudenken und ihre Explikation auf der fundamentalen Ebene der (affektiven) Erfahrung von Musik anzusetzen. Musikalische Expressivität als möglicher Zusammenhang zwischen Musik und menschlicher Affektivität kann nicht ausschließlich auf der Ebene von Deutungen musikalischer Formen im Kontext historisch kontingenter Musikauffassungen expliziert werden. Die Integration der fundamentalen Ebene in die Explikation musikalischer Expressivität ist bislang in der analytischen Musikphilosophie, in der musikalische Expressivität nach wie vor rege diskutiert wird, nicht konsequent durchgeführt worden. Eine konsequente Integration ist deswegen Ziel der Untersuchung. Ich möchte meinen Gedankengang auf der fundamentalen Ebene so weit wie möglich entfalten. Grenzen der fundamentalen Explikation sollen dabei ebenfalls markiert werden. Aussichtsreich ist die Integration nicht zuletzt deswegen, weil heutzutage viele aussagekräftige sowohl emotions- als auch musikpsychologische Erhebungen Modelle formulieren lassen, die zur Explikation der fundamentalen Ebene musikalischer Expressivität fruchtbar gemacht werden können. Auf dem fortgeschrittenen Forschungsstand zur affektiven Dimension von Musik in den psychologischen Disziplinen, aber auch in der analytischen Musikphilosophie baue ich auf. Die Berücksichtigung empirischer Befunde ist für meinen fundamentalen Ansatz unerlässlich. Denn die Wahrnehmung von akustischen Stimuli bei Aufführungen von Musik und ihre weitere kognitive und affektive Verarbeitung verläuft überwiegend vorbewusst, genauso wie affektive Zustände (teilweise) vorbewusst geprägt werden. Mit der klassischen philosophischen Methode der Begriffsanalyse oder der Kritik und Weiterentwicklung von Argumenten können vorbewusste Prozesse nicht beleuchtet werden. Empirische Befunde haben jedoch Implikationen für genuin emotions- und musikphilosophische Fragestellungen, die klarzulegen sind. Es mag sein, dass empirisch gestützte Modelle ursprünglich spe16 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Vorwort

kulativ entwickelt wurden. Doch Ausarbeitungen und Verfeinerungen anhand neuer Messungen stützen die Modelle nicht nur, sondern eröffnen neue Perspektiven auf musikphilosophische Rätsel, wie ich zeigen werde. Um allfälligen Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich drei Vorbehalte anführen. Erstens darf aus meinem aus dem Forschungsstand motivierten Fokus auf die fundamentale Ebene musikalischer Expressivität nicht geschlossen werden, dass ich die Legitimität von Deutungen musikalischer Formen und ihren Wert für die menschliche Selbstverständigung bestreiten möchte. Meine Untersuchung ist integrativ, nicht exklusiv. Zweitens steht der Aspekt der Expressivität neben anderen Aspekten der Musik. Zu vielschichtig ist das Medium Musik, als dass ihr Wesen und Wert auf diesen einen Aspekt eingeengt werden könnte. Drittens trete ich schon gar nicht für eine bestimmte präskriptive Schule der Komposition von Musik ein. In historischen Quellen fallen Analyse und Präskription musikalischer Expressivität oft zusammen. Expressivität ist häufig ein nicht zu ignorierender, aber kein notwendiger Aspekt gelungener Musik. In meiner Untersuchung behaupte ich, dass Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken auf fundamentaler Ebene grob bestimmt sind und dass sie auf der Ebene der repräsentationalen Deutung (möglicherweise) näher bestimmt werden können. Weiter behaupte ich, dass expressive Tertiäreigenschaften musikalischer Werke insofern für uns wertvoll sein könnten, als ihre Erfahrung Schlüsselfähigkeiten unserer affektiven Selbstverständigung vertiefen lässt, unter dem Vorbehalt, dass es sich dabei nicht um eine exklusive Wertkomponente der Musik handeln muss. Im ersten Kapitel führe ich historisch in das Thema der Untersuchung ein und kläre die wichtigsten Begriffe (musikalische Form, absolute Musik, musikalisches Werk, Expressivität und Ausdruck, Emotionen und affektive Zustände). Ich diskutiere vier charakteristische Eigenschaften von Emotionen (doppelte Intentionaliät, Phänomenalität, Opazität und Existentialität) und mögliche Gründe musikalischer Expressivität (Ausdruck, Ähnlichkeit von Konturen, Evokation, Repräsentation und metaphorische Exemplifikation). Außerdem präzisiere ich, dass ich mich mit genuiner musikalischer Expressivität beschäftigen möchte, nicht mit performativer, projektiver oder evaluativer. Wird von einem engen Fokus auf den Zusammenhang von Musik und intentional fein bestimmten Emotionen abgesehen, so ist das Problem des Wesens musikalischer Expressivität als ontologisches 17 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Vorwort

auszubuchstabieren. Musikalische Werke sind keine Lebewesen. Daher bedürfen Zuschreibungen affektiver Zustände zu ihnen einer philosophischen Erläuterung. Das Problem des Wertes musikalischer Expressivität besteht darin zu erhellen, inwiefern expressive musikalische Werke für uns wertvoll sein könnten. Im zweiten Kapitel lege ich ein integratives Modell musikalischer Eigenschaften dar. Musikalische Sinneigenschaften werden als Tertiäreigenschaften von Aufführungen musikalischer Werke aufgefasst, die über ihren Primär- und Sekundäreigenschaften bedingt supervenieren. Die Wahrnehmung musikalischer Tertiäreigenschaften setzt die Einsozialisierung in Kontexte (absoluter) Musik voraus. Musikalische Bedeutungseigenschaften sind dem integrativen Modell gemäß Quartäreigenschaften von Aufführungen musikalischer Werke. Ihre Erschließung setzt zusätzlich einen plausiblen repräsentationalen Deutungskontext voraus. Ich zeige, dass Konturund Personentheorien Ansätze musikalischer Expressivität auf Quartärebene sind, nicht auf (musikalisch fundamentaler) Tertiärebene, wie es ihre Proponenten bisweilen suggerieren. Darüber hinaus kritisiere ich an den Exemplifikationsansätzen, dass mit ihnen die Persistenz und Attraktivität der Metapher menschlicher Affektivität zur Beschreibung (absoluter) Musik nicht erklärt wird. Im dritten Kapitel führe ich zur Erläuterung der musikalischen Erfahrung das Modell des musikalischen Erwartungsspiels ein. Werden akustische Stimuli musikalischer Werke involviert wahrgenommen, bilden wir, so das Modell, nicht zuletzt aufgrund ihrer repetitiven Anlage subpersonale Erwartungen an ihre weiteren formalen Verläufe, wobei wir absolutmusikalische Kontexte der Werke berücksichtigen. Bei der Erfüllung oder Verletzung der Erwartungen werden Gefühle evoziert. Ich unterscheide verschiedene Ebenen (etwa melodische, harmonische oder dynamische) und Arten (veridische, schematische und lokale) musikalischer Erwartungen. Außerdem grenze ich den involvierten Hörmodus von einem zerstreuten und distanzierten ab. Ich zeige, dass das Modell des Erwartungsspiels sich bei der Erörterung der Phänomenologie musikalischer Erfahrung nicht nur für den Aspekt der Expressivität, sondern analog auch für die Aspekte der Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Bewegung und Gerichtetheit fruchtbar machen lässt. Im vierten Kapitel arbeite ich meinen Ansatz zum Wesen musikalischer Expressivität aus. Ich behaupte, dass musikalische Werke dann fundamental expressiv sind, wenn sie beim in das musikalische 18 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Vorwort

Erwartungsspiel ideal involvierten Hörer zeitweise signifikante einseitige hedonische Summen von auf musikalische Verläufe gerichteten Gefühlen evozieren. Durch formale Gestaltung ihrer Werke innerhalb eines absolutmusikalischen Kontexts können Komponisten hedonische Konfigurationen prägen, die bestimmt sind durch die Valenz und Intensität der evozierten Gefühle. Ich diskutiere die evolutionsbiologischen Ursprünge der basalen Module, die der Evokation zugrunde liegen. Hedonische Konfigurationen der musikalisch evozierten Summen von Gefühlen entsprechen denjenigen alltäglicher affektiver Zustände. Allerdings lassen sich affektive Zustände anhand ihrer hedonischen Konfigurationen nur grob voneinander abgrenzen. Musikalische Expressivität ist fundamental grob bestimmt. Daher räume ich ein, dass eine Präzisierung der Expressivität nur auf quartärer Eigenschaftsebene möglich ist, wenn überhaupt. Dies passt zu der Beobachtung, dass wir über die grobe Bestimmtheit musikalischer Expressivität meist einig sind, nicht aber über ihre feine Bestimmtheit. Ich illustriere meinen Ansatz an Schuberts Unvollendeter. Im fünften Kapitel wende ich mich gegen das Vorhaben, exklusive und spezifische Wertkomponenten von Musik zu isolieren. Ich sehe die Einzigartigkeit der Musik vielmehr in ihrem Reichtum an Wertkomponenten begründet. Ich gehe auf sieben Wertkomponentenarten ein (kognitive, epistemische, hedonische, somatische, affektive, soziale und rituelle). Auf tertiärer Eigenschaftsebene könnte expressive Musik für uns insofern wertvoll sein, als sie uns unsere Fähigkeit der Affektdetektion insbesondere diffuser affektiver Zustände schärfen ließe. Die Schärfung der Fähigkeit erweiterte unsere Möglichkeiten affektiver Selbstreflexion, dynamisch-heterarchischer Selbsttransformation – mithin unseren inneren Freiheitsspielraum. Das affektive Potential ist ambivalent. Freilich kann es missbraucht werden, etwa zur Manipulation. Aber es kann, wenn meine Überlegungen stimmen, unseren inneren Freiheitsspielraum auch vergrößern. Die Notenbeispiele in meinem Text sind als Erinnerungshilfen aufzufassen. Sie ersetzen nicht die Darstellung am Klavier, im Fall der Werkauszüge von Schubert und Mahler nicht das Studium der Partitur oder von Aufführungen. Die vorliegende Untersuchung ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich am 28. November 2014 an der Freien Universität Berlin verteidigt habe. Ich danke meinen Gutachtern Georg W. Bertram und Matthias Vogel für ihre Unterstützung und 19 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Vorwort

wissenschaftliche Begleitung des Vorhabens. Sie haben Teile der Dissertation intensiv mitgedacht und kommentiert. In ihren Kolloquien wie auch im Kolloquium von Jan Slaby und in den Jahrgangskolloquien der Graduiertenschule des Forschungsclusters »Languages of Emotion« habe ich Auszüge der Dissertation präsentieren dürfen. Besprochen habe ich Teile der Arbeit darüber hinaus mit Hilge Landweer und Lydia Goehr. Von den zahlreichen Anmerkungen hat die Untersuchung sehr profitiert. Das Vorhaben wurde finanziell mit einem Stipendium für angehende Forschende des Schweizerischen Nationalfonds (SNF PBSKP1–144039) gefördert. Dem Forschungscluster »Languages of Emotion« danke ich für die ideelle Unterstützung, für Sachmittel und für die Übernahme von Reisekosten. Berlin, im September 2015

Stefan Zwinggi

20 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

1. Musik und Emotionen

1.1. Musikalische Expressivität als Untersuchungsgegenstand 1.1.1. Der Zusammenhang zwischen Musik und Emotionen: historischer Einstieg Seit der Antike wird ein enger Zusammenhang zwischen Musik und Emotionen vermutet, behauptet, begründet oder bestritten. In diesem Abschnitt möchte ich zunächst anhand einer Auswahl historischer Quellen an den Gegenstand meiner im Weiteren vorwiegend systematischen philosophischen Untersuchung heranführen. Eine umfassende historische Synopsis über die zahlreichen und vielfältigen Ansätze zur Beziehung zwischen Musik und Emotionen vorliegenden Bemerkungen und Traktate strebe ich dabei nicht an. 1 Vielmehr möchte ich auf die historischen Ursprünge der für meine systematische Untersuchung zentralen Fragestellungen, Unterscheidungen, methodologischen Entscheidungen, Gedanken und Argumente hinweisen. Sie entstammen einer langen Tradition des Nachdenkens über Musik. Damit sei nicht gesagt, dass der Zusammenhang zwischen Musik und Emotionen als über die Jahrhunderte hinweg identisches, »ewiges Problem« der Philosophie aufzufassen ist, wenn es solche Probleme überhaupt geben sollte. Jedoch gehe ich in diesem Abschnitt davon aus, dass maßgebliche Fragen, Gedanken- und Argumentationslinien bis in die Antike zurückgeführt werden können, selbst wenn der Kontext, die Begrifflichkeit und schließlich auch der Gehalt der Diskussion um Musik und Emotionen sich stark gewandelt haben. Pythagoras erblickt in der Zahl oder in Zahlenverhältnissen nicht nur den (geistigen) Urgrund des Kosmos und der menschlichen Seele, sondern auch der Musik. 2 Damit zeichnet er eine fundamentale 1 2

Einen, allerdings sehr knappen, Überblick bieten Baker/Paddison/Scruton 2012. Vgl. Georgiades 1958, S. 88–93.

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Musik und Emotionen

Auffassungsweise von Musik vor. Es scheint nämlich unkontrovers, dass Musik Formen, das heißt Strukturen und Prozesse, umfasst, die sich in Zahlen oder als Zahlenverhältnisse darstellen lassen. Damit gemeint ist nicht die Möglichkeit, dass sich Musik qua akustisches Ereignis mathematisch reduzieren lässt, etwa zu einer kompakten digitalen mp3-Datei. Musikalische Ereignisse lassen sich mathematisch beschreiben, zum Beispiel Tonfolgen, Akkorde, Instrumentierungen, Agogik, formale Proportionen und Abläufe. Freilich gibt es in der Musiktheorie radikale Versuche, den formalen Aspekt von Musik in Zahlen oder Zahlenverhältnissen abzubilden. 3 Meist wird musikalische Form jedoch eher grob charakterisiert. Die Rede ist dann beispielsweise von »Steigerungen«, »Kontrasten«, »Wiederholungen«, »Varianten«, »Höhepunkten«, »Symmetrie«, »Verschiedenheit« oder »(struktureller) Beziehungslosigkeit«. 4 Darüber hinaus stellt die heutige Formenlehre ein Arsenal von spezifischeren Fachtermini für die Beschreibung historisch ausgeprägter Idealtypen musikalischer Formen zur Verfügung (zum Beispiel »Hemiole«, »Barform«, »Periode«, »Sonatenhauptsatzform« oder »Sinfonie«). Die Form der Musik, die Ordnung ihrer harmonia, soll uns Platon zufolge dazu erziehen, »den in Zwiespalt geratenen Umlauf der Seele in uns zur Ordnung und Übereinstimmung mit sich selber zurückzuführen« 5 . Möglich sei dies, weil sich Musik so gestalten lasse, dass sie die Ordnung der Seele, ihre Stimmungen oder erwünschten Charakterzüge formal nachahmen könne. 6 Musiker ahmten die Form der Seele nach, indem sie bestimmte Rhythmen oder Modi verwendeten. 7 Aristoteles erörtert wie Platon Musik ebenfalls im Kontext der menschlichen Erziehung. Beispielsweise hält er den mixolydischen Modus für die Darstellung von Trauer, den phrygischen für Zum Beispiel in der formalen Analyse à la Milton Babitt oder Allen Forte. Vgl. dazu etwa Forte 1964. Forte legt seinem Modell geordnete Mengen zugrunde. In der am IRCAM entwickelten Kompositions- und Analyseapplikation OpenMusic wird (im Hintergrund) mit Listen geordneter binärer Elemente gearbeitet (http://repmus.ircam.fr/openmusic/home) (19. 11. 2012). 4 Vgl. Kühn 2007, S. 13–25. 5 Plat. tim. 47d. Ich verzichte aus Platzgründen auf eine Diskussion des Einflusses des pythagoreischen Ansatzes auf die Musikphilosophie Platons. 6 Vgl. Plat. nom. 655b und 812b–c; Plat. tim. 47d. Platons Musikphilosophie richtet sich stets gegen die damalige Neue Musik des fünften und vierten Jahrhunderts, die ihm gemäß die genannte Ordnung nicht mehr aufweise und bloß zum Lustgewinn gehört werde. Vgl. etwa Plat. nom. 700d–e. 7 Vgl. Plat. pol. 398e–400e. 3

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die Darstellung von Begeisterung für angemessen. Die Angemessenheit der Tonarten führt Aristoteles auf ihre jeweilige »Natur« zurück. 8 Platon ist bisweilen allerdings auch skeptisch, ob Instrumentalmusik ohne Beimischung von Texten Seelenzustände oder Charakterzüge nachzuahmen vermag: »[Es ist] freilich schwer zu erkennen, was Rhythmos und Melodie ohne Worte ausdrücken wollen und was für einem nennenswerten Urbilde sie ähnlich sind.« 9

Die Stellen zeigen, dass beide Grundfragen meiner Untersuchung bereits in der antiken musikphilosophischen Diskussion virulent waren. Einerseits denken Platon und Aristoteles darüber nach, wie sich das Wesen der Beziehung von Musik und affektiven Zuständen 10 (Seelenzuständen oder Charakterzügen) erhellen lässt. Andererseits bestimmen sie den Wert der Beziehung als pädagogische Funktion. Nach Platon und Aristoteles soll Musik, die sich auf affektive Zustände bezieht, Tugenden und erwünschte Charakterzüge verstärken, damit sich der Mensch in seiner ihm eigenen Form vollenden und nach Eudämonie streben könne. 11 Platon trifft ferner in dem zuletzt angeführten Zitat implizit eine Unterscheidung, und zwar zwischen Musik mit und ohne Beimischungen von Wörtern. 12 Auch meine Untersuchung erfordert

Vgl. Arist. pol. 1340b. Plat. nom. 669e. 10 Den Begriff des affektiven Zustandes präzisiere ich in Abschnitt 1.2.3.1. 11 Platon und Aristoteles kritisieren systematisch Musik, die pädagogisch nicht erwünschte affektive Zustände nachahmt. Anders gesagt fordern sie, dass Musik expressive Spezifität aufweisen und dadurch als Vorbild den Charakter des Hörers prägen soll. Im Sinne des Ansatzes, den ich in meiner Untersuchung begründen möchte, ließe sich behaupten, dass die Pointe der Musikphilosophie Platons und Aristoteles’ darin besteht, dass beim Hörer das reflexive Bewusstsein erwünschter affektiver Zustände geschärft und damit die Möglichkeit ihrer Entwicklung eröffnet wird, während unerwünschten affektiven Zuständen der Zugang zur Reflexion umwillen ihrer Vernachlässigung, Entwöhnung und Schwächung verwehrt wird. (Den Begriff der expressiven Spezifität entnehme ich einem Vortrag von Jerrold Levinson zur Ästhetik des Jazz, den er im November 2012 an der Freien Universität Berlin hielt.) 12 Die Unterscheidung geht der musikalischen Praxis voraus. Der Musikbegriff der antiken Griechen ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass Musik notwendigerweise drei Komponenten umfasst: Melos, Rhythmos und Logos. Insofern stellte sich den antiken Griechen das Problem des Zusammenhangs von Musik und affektiven Zuständen in anderer Weise, als ich es zuspitzen werde. Mein Problemaufriss setzt die Entwicklung des Musikbegriffs im späten 18. und im 19. Jahrhundert voraus. 8 9

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eine ausgeweitete Variante dieser Unterscheidung, wobei ich von absoluter und nicht-absoluter Musik sprechen werde. Unter absoluter Musik verstehe ich dabei im Folgenden Musik ohne Beimischung außermusikalischer repräsentierender Elemente wie zum Beispiel Text, Film, Bild oder Tanz. 13 Mich interessiert, ob und wenn ja, wie sich die Beziehung zwischen absoluter Musik, zwischen Musik »an sich«, und affektiven Zuständen erläutern lässt, und worin der Wert der Beziehung für uns liegen könnte. Die Unterscheidung ist für meine Untersuchung deswegen unerlässlich, weil sonst immer der Einwand zu berücksichtigen wäre, dass nicht Musik »an sich« ein Relat der Beziehung sei, sondern ihr außermusikalisch repräsentierender Anteil. Aus der Definition soll nicht folgen, dass Musik »an sich« in einem Werk 14 mit außermusikalisch repräsentierenden Beimischungen nicht auch eine eigene Beziehung zu affektiven Zuständen haben kann, die manchmal sogar den Inhalt des repräsentierenden Teils des Werks unterlaufen kann (mehr dazu am Ende dieses Abschnittes). Bis in den Barock beherrscht die antike Mimesis-Theorie die Diskussion um das Wesen der Beziehung zwischen Musik und menschlicher Affektivität. Im 18. Jahrhundert reift jedoch die Einsicht, dass der Begriff der Nachahmung kaum erhellend auf eine abstrakte Kunstform wie die Musik anzuwenden ist. 1752 wird der Zusammenhang zwischen Musik und menschlicher Affektivität erstmals mit dem Terminus expression bezeichnet, und zwar vom englischen Komponisten und Musiktheoretiker Charles Avison. An dieser Stelle komme ich nicht umhin, erneut das begriffliche Feld zu ordnen, um allfälligen Missverständnissen vorzubeugen, nicht zuletzt, weil in der Literatur ab dem 18. Jahrhundert vermehrt von expression gesprochen wird. 15 Im Anschluss an den terminologischen Diese Definition ist stipulativ und entspricht dem Gebrauch in der analytischen musikphilosophischen Diskussion über musikalische Expressivität. Es soll nicht ausgeschlossen werden, dass absolute Musik eine Beziehung zur menschlichen Affektivität haben kann. Nach der Definition kann auch Vokalmusik absolut sein, sofern sie keine repräsentierenden Elemente wie zum Beispiel einen Text enthält. Der Begriff wurde historisch bisweilen so verwendet, dass darunter nur Musik verstanden wurde, die nicht einmal eine Beziehung zu affektiven Zuständen aufweisen durfte. Vgl. Dahlhaus 1978b und Seidel 1994. Vgl. zur Bestimmung von Musik als abstrakter Kunst Budd 1995, S. 126–133. 14 Auch Stücke oder musikalische Gebilde wie etwa Improvisationen können genuin expressiv sein. Der Einfachheit halber spreche ich im Folgenden allerdings meistens von musikalischen Werken als Trägern genuiner musikalischer Expressivität. 15 Der Begriff des Ausdrucks (expression) wird in den musiktheoretischen Traktaten 13

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Gebrauch in der gegenwärtigen analytischen musikphilosophischen Diskussion stipuliere ich: Unter Expressivität soll im Folgenden der Zusammenhang zwischen Musik und affektiven Zuständen verstanden werden, wie er in Zuschreibungen von Affektprädikaten zu musikalischen Werken behauptet wird. 16 Der Zusammenhang ist dabei zunächst in weitestem Sinne aufzufassen, da keine unbegründeten Vorentscheidungen getroffen werden sollen. Er soll im Lauf der Untersuchung genauer bestimmt werden. Unter (musikalischem) Ausdruck soll demgegenüber ein mit einem aktualen affektiven Zustand einhergehendes, äußerlich beobachtbares Verhalten fühlender Lebewesen verstanden werden. Es ist wichtig zu beachten, dass sich die scientific community der analytischen Musikphilosophie mit dem Begriff der Expressivität, das heißt mit den Termini expressivity beziehungsweise expressiveness, nicht auf eine bestimmte Position in der Debatte beruft, sondern mit ihnen das Diskussionsthema abgrenzt. 17 Der Begriff der Expressivität fungiert als Platzhalter für einen einzusetzenden bestimmten Zusammenhang zwischen Musik und affektiven Zuständen. Avison vertritt eine Evokationstheorie musikalischer Expressivität: 18 »AND, as Dissonance and shocking Sounds cannot be called Musical Expression; so neither … can mere Imitation of several other Things be entitled to this name … Thus the gradual rising or falling of the Notes in a long Succession, is often used to denote Ascent or Descent, broken Intervals, to denote an interrupted Motion, a Number of quick Divisions, to describe Swiftness or Flying, Sounds resembling Laughter, to describe Laughdes 18. Jahrhunderts aus der antiken Rhetorik entnommen, ebenso wie die Begriffe des Stils und des Vortrags (performance). 16 Mehr über Zuschreibungen von Affektprädikaten zu musikalischen Werken im folgenden Abschnitt 1.1.2. 17 Eine Ausdruckstheorie musikalischer Expressivität (an expression theory of music’s expressivity) stellt eine mögliche Position dar. Viele andere Positionen sind aber denkbar, zum Beispiel eine Konturtheorie der musikalischen Expressivität (a contour theory of music’s expressivity). Vgl. dazu unten mein Abschnitt 1.3.1.1. Klärend dazu ist ebenfalls der Einführungsartikel von Andrew Kania (Kania 2012, Abschnitt 3). Die Unterscheidung zwischen Expressivität und Ausdruck kann im Englischen in Verbform beibehalten werden (x is expressive of E versus x expresses E), im Deutschen leider nicht. Der einfachen Lesbarkeit halber verzichte ich auf ungelenke Paraphrasen (»x weist die Expressivität von E auf«), weise hiermit aber auf die Äquivokation hin. Im Zweifelsfall werde ich ausweisen, in welcher Bedeutung ich das Verb »ausdrücken« gebrauche. 18 Vgl. zum Begriff der Evokation mein Abschnitt 1.3.1.2.

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ter … Now all these I should chuse to stile Imitation, rather than Expression; because, it seems to me, that their Tendency is rather to fix the Hearers Attention on the Similitude between the Sounds and the Things which they describe, and thereby to excite a reflex Act of the Understanding, than to affect the Heart and raise the Passions of the Soul.« 19

Nach Avison ist Musik dann expressiv, wenn sie beim Hörer affektive Zustände auslöst. Zwar kann Musik ihm gemäß Bewegungen und Klänge nachahmen, nicht aber innere, affektive Zustände wie etwa Freude, Heiterkeit, Gelassenheit oder Trauer. 20 Auslösen soll Musik affektive Zustände nur »in a pleasing Manner« 21 . Deswegen sollen Komponisten harsche Dissonanzen und Klänge vermeiden. Avison behandelt in seinem Essay fast ausschließlich nicht-absolute Musik. Expressive Musik soll Liedtexten nicht Wort für Wort imitierend folgen, sondern nur ihre allgemeine inhaltliche »Stoßrichtung« übernehmen. 22 Insofern gibt er einem Anteil genuin musikalischer Expressivität mehr Raum. Sein Ansatz besagt aber gleichzeitig, dass die Expressivität von Liedern, wenn auch nicht von einzelnen Wörtern, so doch vom sprachlichen Gehalt ihrer Texte als ganzem und durch musikalische »Assoziation« 23 bestimmt wird. Drei Gedanken Avisons sind für meine Untersuchung über das Wesen musikalischer Expressivität relevant: Erstens nehme ich AviEss Expr, S. 24. Das (angemessene) expressive Spektrum der Musik umfasst Avison zufolge auch das Erhabene, das Gelernte, Andacht und das Pastorale. Vgl. Ess Expr, S. 151. 21 Ess Expr, S. 28. 22 »the Composer, who would aim at true musical Expression … is to blend such an happy Mixture of Air and Harmony, as will affect us most strongly with the Passions or Affections which the Poet intends to raise … he [the composer; S. Z.] is not principally to dwell on particular Words in the Way of Imitation, but to comprehend the Poet’s general Drift or Intention« (Ess Expr, S. 28). In dieser Passage wird der historische Rahmen, in dem Avisons Essay steht, deutlich, nämlich der musikästhetische Streit zwischen Jean-Philippe Rameau und Jean-Jaques Rousseau. Kurz gesagt verteidigt Rameau ein Primat der Harmonik, in der sich die Ordnung des Kosmos widerspiegle, Rousseau hingegen ein Primat der Melodik, musikalische Einfachheit und Natürlichkeit. Avison strebt mit dem Begriff der Expressivität (in seiner Terminologie expression) eine Synthese dieser beiden Positionen an. Melodik und Harmonik sollen ihm gemäß musikalische Expressivität in möglichst ausbalancierter und unauffälliger Weise fundieren. Vgl. dazu aus der Einleitung zu Ess Expr von Pierre Dubois S. XXVI–XXIX. 23 Ess Expr, S. 6. Die Frage drängt sich auf, ob sich nicht assoziative Elemente der Musik genau deswegen auf affektive Zustände beziehen können, weil sie genuin expressiv sind, oder ob der Bezug beliebig ist. Vgl. mein Abschnitt 1.3.3. 19 20

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sons Vorschlag auf, wonach expressive Musik affektive Zustände auslöst, verfeinere und denke ihn jedoch weiter. So werde ich behaupten, dass selbst absolute Musik ohne assoziative Elemente expressiv sein kann, allerdings meist in einem sozial instituierten Kontext anderer Werke absoluter Musik. 24 Zweitens komme ich Avison insofern entgegen, als dass ich eingestehen würde, dass repräsentationale Elemente wie zum Beispiel Liedtexte oder (auch beliebige) musikalische Assoziationen musikalische Expressivität genauer bestimmen können. Nach meinem Ansatz kann die Expressivität absoluter Musik ohne assoziative Elemente oder vor einer Deutung in einem repräsentationalen Kontext nur grob bestimmt werden. Drittens scheint eine meiner Überlegungen entfernt mit Avisons Vorschrift verwandt, wonach Musik »in lustvoller Weise« expressiv sein soll, wobei ich mich nicht gegen Dissonanzen oder harsche Klänge wenden werde. Ich werde argumentieren, dass Musik, auch wenn sie negative affektive Zustände ausdrückt und somit negative affektive Zustände bei ihren Hörern evozieren kann, unter dem Strich lustvoll erlebt wird, weil sie sich stets (ultimativ) auflöst. 25 Die Frage, wie genau bestimmt affektive Zustände sein können, die Musik ausdrücken kann, beschäftigt auch den französischen Komponisten, Violinisten und Musiktheoretiker Michel de Chabanon. Methodologisch geht er einen Schritt weiter als Avison. Denn bereits aus dem Titel seines Traktats aus dem Jahr 1785 wird ersichtlich, dass Chabanon die Beziehung zwischen absoluter Musik (la musique en elle-même) und der Rede, der Sprache, der Dichtung und dem Theater erhellen möchte. 26 Der Begriff der Imitation spielt in seiner Musikästhetik eine sekundäre Rolle. Die imitatorischen Mittel der Musik seien beschränkt, insbesondere verglichen mit anderen Kunstformen und vor allem dann, wenn intermedial nachgeahmt werden soll. 27 Außerdem rekurriert er auf unsere Erfahrung von Musik. Musik wirDer Begriff einer absoluten Musik stand Avison noch nicht zur Verfügung. Vgl. meine FN 12 in diesem Kapitel. 25 Vgl. mein Abschnitt 4.1.3. 26 Vgl. DLM, Titelblatt. Chabanon vergleicht seine Vorgehensweise unter anderem mit der eines Chemikers, der in einer Untersuchung Substanzen in einzelne Elemente aufspaltet: »Le Chimiste qui veut connoître une substance, la décompose … ce procédé est celui qui nous devons suivre, pour parvenir à l’intime conoissance de l’Art que nous traitons.« (DLM, S. 25). Chabanons Orientierung an der Methodologie der Naturwissenschaften ist charakteristisch für viele Traktate der Aufklärung (so etwa auch für Thomas Hobbes’ Leviathan). 27 Vgl. DLM, S. 49 und S. 61. 24

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ke unmittelbar auf unsere Sinne. Bei der Rezeption gelungener Musik würden wir uns nicht in erster Linie reflexiv aus einer Beobachterperspektive an der Wirklichkeitstreue einer klanglichen Kopie eines Ausschnittes der Wirklichkeit erfreuen, sondern direkt affiziert. 28 Wie Avison unterstreicht Chabanon in seinem Ansatz also den Aspekt der Evokation. Bei der Diskussion der Frage nach der Bestimmtheit musikalischer Expressivität wendet er sich wie folgt an seinen Leser: »Pourquoi … voulez-vous que l’effet de telle Musique ne soit qu’une sensation, & non pas un sentiment distinct? – Lecteur, parce-que vous interrogeant après un air sans paroles … si je vous demande quel sentiment distinct elle éveille en vous, vous ne sauriez me le dire« 29

Nach Chabanon löst Musik – absolute Musik – somit keine bestimmten affektiven Zustände aus. Die Expressivität der Musik an sich sei vage, allerdings in Grenzen. 30 Denn Melodien lassen sich ihm gemäß nicht beliebig mit sprachlichen Textinhalten verknüpfen, wobei er die expressive Breite einer möglichen Verwendung absolut-musikalischer Elemente als Qualitätsmerkmal ansieht. 31 Durch Koppelung an repräsentationale Elemente wie beispielsweise an einen Liedtext oder an eine dramatische Szene lasse sich der expressive Gehalt absoluter Musik präzisieren. 32 Wie ich schon zu Avison angemerkt habe, schließe ich an diesen Gedankengang an. Ähnlich wie Chabanon werde ich behaupten, dass absolute Musik Gefühle auslösen kann, und dass sich die Expressivität eines Werkes aufgrund der Gefühle nur grob bestimmen lässt.

Vgl. DLM, S. 52. DLM, S. 105 f. Vgl. auch DLM, S. 148 und S. 160. 30 Die nicht genau bestimmten (Körper-)Gefühle (sensations) werden nach Chabanon dann evoziert, wenn musikalische Bewegungen beim Hörer leibliche Resonanzen auslösen. Vgl. DLM, S. 108. Konventionen sind nach ihm in dem Prozess nicht wesentlich, vielmehr die Beschaffenheit musikalischer Elemente. Chabanon lehrt, wie Komponisten Passagen expressiv gestalten können. Er unterscheidet vier grobe Arten expressiver »Charaktere« (caractères), die von absolutmusikalischen Elementen bestimmt seien: Zartheit, Anmut, Fröhlichkeit und Lebendigkeit/Stärke/Unruhe. Vgl. DLM, S. 107 und S. 146–164. 31 »[Une] transformation de la même Musique en différens caractères ne peut pas avoir lieu pour tous les caractères pris indifféremment. D’un air tendre, d’un air gracieux, vous ne ferez jamais le langage de fureur« (DLM, S. 161 f.). Vgl. zur expressiven Flexibilität als Qualitätsmerkmal musikalischer Elemente DLM, S. 177–180. 32 Vgl. DLM, S. 105 und S. 154. 28 29

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Musik und Emotionen

Am Beginn der Einleitung zu seinen von seinem Studenten Heinrich Gustav Hotho niedergeschriebenen Vorlesungen über die Ästhetik stellt Georg Wilhelm Friedrich Hegel Kunst, sofern sie nicht einer bestimmten Funktion dient (etwa der Unterhaltung des Publikums oder der Verzierung von Gegenständen), sofern sie also eigenständig ist, in einen »gemeinschaftlichen Kreis« 33 mit der Philosophie und der Religion. Im Gegensatz zur Natur, die Notwendigkeiten und Zufälligkeiten unterliege, 34 sei der Mensch insofern frei, als er über ein reflexives Selbstbewusstsein verfüge. Dieses reflexive Selbstbewusstsein entwickle und vollende der Mensch nicht in solipsistischer Abgeschiedenheit, sondern es werde vermittelt innerhalb sozialer Praktiken, zum Beispiel in der Philosophie, der Religion und der Kunst. 35 In der Kunst würden »die tiefsten Interessen des Menschen, die umfassendsten Wahrheiten des Geistes« 36 in sinnlichanschaulicher Gestalt bewusst gemacht, in der Religion anschaulich und in der Philosophie begrifflich. 37 Hegel zufolge ist der Mensch zwar an sein »zufälliges Naturdasein« gebunden, etwa an leibliche Bedürfnisse oder an Leidenschaften – an eine ihm gegebene erste Natur. 38 Er kann aber (unter anderem) durch eine Auseinandersetzung mit der Philosophie, der Religion und mit Kunstwerken sich als selbstbewusstes Dasein in seiner auf Freiheit gerichteten Subjektivität erschließen und sich dadurch selbst gestalten. Hegel fasst menschliche Subjektivität als ein Inneres auf, dessen künstlerischer Ausdruck der Loslösung von raumzeitlichen Dimensionen bedarf. Deswegen hält er die Dichtkunst qua symbolische Kunst am ehesten für geeignet, sich auf Inneres zu beziehen. Die Ä I, S. 20 f. Vgl. EpW, § 248. 35 Vgl. Bungay 1987, S. 28. Die Praktiken sind Bedingungen der Freisetzung des »Geistes«. Hegel bezieht den Begriff des »Geistes« nicht auf das Bewusstsein einzelner Individuen, sondern auf den »Geist« einer Gesellschaft. Das heißt, die Befreiung vollzieht sich kollektiv als eine – nicht notwendigerweise stets progressive – Entwicklung (miteinander vernetzter) kultureller, politischer, moralischer und ökonomischer Verhältnisse. 36 Ä I, S. 21. Allerdings vermag nach Hegel Kunst als bloße sinnliche Darstellung nicht mehr zu überzeugen. Sie bewährt sich nur dann, wenn sie einer reflexiven Prüfung standhält. Vgl. Ä I, S. 24 f. Auf den von Hegel vorhergesehenen historischen Übergang von der Kunst zur Religion und dann zur Philosophie kann ich hier nicht eingehen. 37 Vgl. EpW, § 572. 38 Vgl. Ä III, S. 13. 33 34

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Musik nimmt in seiner Systematik der Künste eine Mitteposition über den räumlichen Künsten (Architektur, Skulptur und Malerei) ein, da sie in ihrer Zeitlichkeit wahrgenommen wird, aber keine buchstäblich räumliche Dimension aufweist. 39 Allerdings kann nur die in Hegels Systematik unterlegene Musik das Innerste der Seele unmittelbar bewegen, nicht die Dichtkunst. 40 Klänge als Material der Musik sind flüchtig. Insofern wird die Äußerlichkeit der Musik doppelt negiert, nämlich räumlich wie auch – in relativer Weise – zeitlich. 41 Musik soll nach Hegel die Bewegung des menschlichen Selbst klingend darstellen und gleichzeitig das Selbst des Zuhörers bewegen. 42 Nicht wie in der Architektur, in der Skulptur oder der Malerei wird in der Musik Ausdruck an einem äußeren Gegenstand realisiert, sondern im Zuhörer selbst. Der Zuhörer steht nicht räumlich neben einem Kunstwerk und betrachtet es, sondern vollzieht innerlich den zeitlichen Ablauf musikalischen Geschehens und somit auch die Zeitlichkeit seines eigenen Seins nach. 43 Gelungene Musik, auch absolute Musik, ist nach Hegel formal kohärent – motivisch und vor allem thematisch – und artikuliert dadurch nicht nur die Kohärenz eines selbstbewussten Daseins, sondern lässt sie uns auch in unserer imaginativen und rückblickenden Konstruktion exemplarisch fassen. 44 Vgl. Ä III, S. 15 und S. 131–137. Genau besehen trifft nicht zu, dass Musik keine buchstäblich räumliche Dimension aufweist. Zum Beispiel werden Instrumente (oder Klangfarben) unter anderem anhand der räumlichen Schalldeflektion voneinander unterschieden. Auch werden etwa die verschiedenen Positionen der Musiker im Orchester wahrgenommen (die Bässe sind etwa meist rechts hinter den höheren Streichern angeordnet). 40 Vgl. Ä III, S. 146. 41 Vgl. Ä III, S. 134 f. »Kaum hat das Ohr [die Musik; S. Z.] gefasst, so ist sie verstummt; der Eindruck … verinnerlicht sich sogleich; die Töne klingen nur in der tiefsten Seele nach, die in ihrer ideellen Subjektivität ergriffen und in Bewegung gebracht wird« (Ä III, S. 136). 42 Vgl. Ä III, S. 135. Vgl. zu dieser Theorie der inneren Resonanz auch oben meine Anmerkung zu Chabanon in FN 30. Vgl. zu Hegels Musikphilosophie mit einem besonderen Blick auf ihre metaphysischen Aspekte Dahlhaus 1978c. 43 Vgl. Ä III, S. 155 f. »Da nun die Zeit und nicht die Räumlichkeit … das wesentliche Element abgibt, in welchem der Ton in Rücksicht auf seine musikalische Geltung Existenz gewinnt und die Zeit des Tons zugleich die des Subjekts ist, so dringt der Ton schon dieser Grundlage nach in das Selbst ein, fasst dasselbe seinem einfachsten Dasein nach und setzt das Ich … in Bewegung … Dies ist es, was sich als wesentlicher Grund für die elementarische Macht der Musik angeben lässt« (Ä III, S. 156 f.). Vgl. zur Zeitlichkeit der musikalischen Erfahrung auch mein Abschnitt 3.3.1. 44 Vgl. dazu auch Eldridge 2007, vor allem S. 133–137. Absolute Musik stellt nach Hegel eine, allerdings nicht unproblematische, Aufhebung der Musik mit außermusi39

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Einzelne musikalische Elemente an sich sind nach Hegel nicht expressiv. Erst ihre Abfolge ergreife den Zuhörer. 45 Allerdings sei die Expressivität absoluter Musik – Hegel spricht von »selbständiger« oder »unabhängiger« Musik – nur unbestimmt oder bestimmt durch Gedanken des Zuhörers, die aber nicht vollständig auf das musikalische Werk zurückgeführt werden können. 46 Allein musikalische »Kenner« vermögen Hegel zufolge absolute Musik zu verstehen und wertzuschätzen. 47 Für Hegel besteht die Gefahr, dass absolute Musik zu einem der »subjektive[n] Willkür« der Komponisten, ihrer »fessellosen« Meisterschaft entspringenden beliebigen Spiel mit formalen Effekten, zu einer sinnentleerten klanglichen Dekoration verkommt, wenn sie nicht kohärent (und dadurch nach Hegel expressiv) angelegt ist. 48 In meiner Untersuchung möchte ich vor allem an zwei Gedanken Hegels anknüpfen: Einerseits gehe auch ich davon aus, dass künstlerische Medien allgemein für uns insofern wertvoll sind, als sie uns ermöglichen, unser Selbst zu erschließen. Unser Selbstbewusstsein ist kein von Geburt an naturgegebener Sonderstatus. Vielmehr entwickeln wir es, wobei dazu die Vermittlung durch historisch gewachsene Institutionen und durch sozial etablierte sprachkalisch repräsentierenden Elementen dar. Absolute Musik hat sich von diesen Elementen emanzipiert. Vgl. Eldridge 2007, S. 137–140. 45 Vgl. Ä III, S. 185. 46 Vgl. Ä III, S. 146. Musikalische Werke können nach Hegel lediglich »Anstoß« zu Gedanken geben, welche die Expressivität näher bestimmen. Es scheint, als würde Hegel zulassen, dass absolute Musik wenigstens grobe Arten von Expressivität bestimmen könne. Der Text biete die nähere expressive Bestimmung: »Wenn uns der Gesang die Empfindung z. B. der Trauer … über einen Verlust erweckt, so fragt es sich deshalb sogleich: was ist verlorengegangen? Ist es das Leben mit dem Reichtum seiner Interessen, ist es Jugend, Glück, Gattin, Geliebte, sind es Kinder, Eltern, Freunde usf.?« (Ä III, S. 200). »Trauer über einen Verlust« ist schon eine ziemlich feine Bestimmung der Expressivität absoluter Musik. Nach meinem Ansatz kann Musik vor einer Deutung in einem repräsentationalen Kontext »Trauer über einen Verlust« nicht ausdrücken, sondern nur grob bestimmte affektive Zustände. Hegel listet folgende expressive Möglichkeiten der Musik auf: Unter anderem könne Musik Fröhlichkeit, Heiterkeit, Angst, Bekümmernis, Traurigkeit, Kummer, Schmerz, Sehnsucht, Ehrfurcht oder Liebe ausdrücken, wobei unklar ist, inwieweit absolute Musik dieses Spektrum aufweisen und die von ihm erwähnten Nuancierungen bestimmen kann. Er bietet auch eine rudimentäre Erklärung dafür an, wie Musik expressiv sein könne, nämlich, indem in ihr der Klang von Interjektionen künstlerisch gemäßigt nachgeahmt werde. Vgl. Ä III, S. 150 f. 47 Vgl. Ä III, S. 216. 48 Vgl. Ä III, S. 218, und Eldridge 2007, S. 139.

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liche oder künstlerische Medien erforderlich ist. Ein Ziel meiner Untersuchung liegt darin, konkret darzulegen, wie Werke absoluter Musik zu unserer Selbsterschließung, das heißt zu unserer inneren, aber auch äußeren Befreiung, beitragen könnten. Dies ist Inhalt meines fünften Kapitels. Andererseits nehme ich in meiner Untersuchung wie Hegel an, dass musikalische Werke uns innerlich ansprechen. Sie werden »im« Zuhörer erzeugt, der formale musikalische Verläufe innerlich vollzieht und – dies ist ein zentraler Begriff meiner Untersuchung, der über Hegel hinausgeht – subpersonale Erwartungen an sie bildet. Das vorbewusste musikalische Erwartungsspiel, so meine weitere Überlegung, affiziert uns, sofern wir Musik aufmerksam-involviert hören, nicht in distanzierter oder zerstreuter Weise. Platon, Aristoteles, Avison, Chabanon und Hegel – sie alle äußern sich zurückhaltend bis skeptisch zur Expressivität absoluter Musik, wenn für sie ein solchermaßen emanzipierter Musikbegriff überhaupt denkbar war (für Chabanon und Hegel war er es). Ihnen gegenüber steht Arthur Schopenhauer. Gerade weil absolute Musik sich nicht auf unsere alltäglichen Bedürfnisse beziehen könne und nur in abstrakter Weise expressiv sei, ordnet Schopenhauer sie über allen anderen Künsten an. Wie erklärt sich seine Position? Im Mittelpunkt seiner Philosophie steht der Begriff des Willens, den er in eigentümlicher Bedeutung verwendet. Unter dem Begriff versteht Schopenhauer eine universelle, unendliche innerliche Strebekraft, die sämtliches Leben antreibt, einen nicht-teleologischen, »blinde[n] Drang« 49 . Der Mensch spüre den Willen leiblich als Lust oder Schmerz, je nachdem, ob äußere Einwirkungen dem Willen entsprächen oder nicht. 50 Solange ein Bedürfnis nicht erfüllt werde, plage das den Menschen. Die Lust an der Befriedigung von Bedürfnissen währe jeweils nur kurz, da sogleich neue aufträten. 51 Deswegen leide der Mensch am Willen. Eine, im Gegensatz zur religiösen allerdings nur unvollkommene, Befreiung vom »Rade des Ixion« 52 biete die Kontemplation der Natur oder von Kunstwerken. 53 Bei der Musik werde der Wille im Gegensatz zu allen anderen Künsten nicht in äußerlichen Formen

49 50 51 52 53

WWV I, S. 229 und S. 231. Vgl. WWV I, S. 165. Vgl. WWV I, S. 249. WWV I, S. 288. Vgl. WWV I, S. 287.

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dargestellt, sondern dem Zuhörer unmittelbar innerlich gewahr. 54 Jedoch sind die von der Musik beim Hörer evozierten affektiven Zustände abstrakt, das heißt, sie umfassen keine repräsentationalen Kontexte der menschlichen Lebenswirklichkeit. 55 Kunst im Allgemeinen, Musik im Besonderen werde vom Menschen (unter anderem) in zweierlei Hinsicht lustvoll erlebt: Einerseits entstehe durch die Loslösung aus alltäglichen Kontexten und damit unserem ständigen, jeweils nur kurzfristig unterbrochenen Leiden des Willens ein Gefühl innerer Ruhe (ein Bewusstsein erster Ordnung). Andererseits werde uns im Moment der Befreiung die Möglichkeit selbst zur Distanzierung als eigene Stärke, als eigene aktive Fähigkeit bewusst (ein Bewusstsein zweiter Ordnung). 56 Schopenhauer zufolge stellt Musik insofern eine Analogie zum menschlichen Leben dar, als sie zwar gegenwärtig, aber auch rück- und vorausschauend erlebt wird. 57 Abstrakte affektive Zustände werden melodisch durch Entfernung und Rückkehr zur Tonika evoziert. Die Entfernung löse negative Gefühle aus, während die Rückkehr lustvoll erlebt werde. 58 Übereinstimmend mit Schopenhauer werde ich in meiner Untersuchung ebenfalls behaupten, dass Musik (fundamental) keine fein bestimmten, sondern nur grob bestimmte affektive Zustände ausdrüSchopenhauer wendet sich explizit gegen einen ausschließlich mathematischen Zugang zur Musik, den er Gottfried Wilhelm Leibniz zuschreibt. Vgl. WWV I, S. 368. 55 Vgl. WWV I, S. 375 f. »[Die Musik; S. Z.] drückt … nicht diese oder jene einzelne und bestimmte Freude, diese oder jene Betrübniss, oder Schmerz, oder Entsetzen, oder Jubel, oder Lustigkeit, oder Gemüthsruhe aus; sondern die Freude, die Betrübniss, den Schmerz, das Entsetzen, den Jubel, die Lustigkeit, die Gemüthsruhe, gewissermaßen in abstracto, das Wesentliche derselben, ohne alles Beiwerk, ohne die Motive dazu.« [Hervorhebungen von Schopenhauer] (WWV I, S. 375 f.). 56 Vgl. Shapshay 2012, S. 13. Auf eine dritte Quelle der Lust, nämlich der Schau »platonischer Ideen«, gehe ich nicht ein. Schopenhauers Philosophie scheint prima facie geprägt von einem durchgängigen Pessimismus: Dem Menschen bleibe Glück nachhaltig verwehrt, da er am stetigen Druck des Willens leide. Damit wird eine Erfahrung auf erster Ebene (etwas tendenziös) beschrieben. Aus seiner Beobachtung, dass der Mensch sich von seinem Willen kontemplierend distanzieren kann, ergäbe sich die Möglichkeit eines reflexiven, wiederum auf die Erfahrungen erster Ebene ausstrahlenden Glücksbegriffes, der zwar im Text präsent ist, wenn er etwa von der ästhetischen Befreiung oder im vierten Buch von einer Bejahung oder Verneinung des Willens spricht, aber doch merkwürdig überlagert bleibt von dem pessimistischen Grundton seiner Schrift im ganzen. Vgl. zu einem reflexiven Glücksbegriff R. C. Solomon 2007, S. 263–270. 57 Vgl. WWV I, S. 373. 58 Vgl. WWV I, S. 374 f., und WWV II, S. 591 f. Schopenhauer spricht auch von einer »Entzweiung« (Entfernung) und »Befriedigung« (Rückkehr). 54

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cken kann. Auch schließe ich an seinen Ansatz der Rückführung der Expressivität absoluter Musik auf formale tonale Abweichung und Rückkehr an. Ich schlage allerdings eine umfassendere Explikation vor, indem ich Musik als vorbewusstes Spiel mit vielschichtigen formalen, mithin nicht bloß melodischen Erwartungen fasse. Außerdem werde ich – nachdrücklicher als Schopenhauer – darlegen, dass expressive Musik affektive Zustände evoziert, und zwar zeitweise auch Zustände negativer Valenz. 59 Den Wert expressiver Musik verorte ich nicht in der Befreiung von der Last eines Willens à la Schopenhauer, sondern (unter anderem) vielmehr in der Möglichkeit einer Schärfung unseres affektiven Bewusstseins, das uns erlaubt, unser Selbst vollständiger zu erschließen, zu organisieren und dadurch transformierend zu gestalten. Im 19. Jahrhundert spitzt sich die Diskussion um musikalische Expressivität zu. Denn in polare Opposition zu Schopenhauer stellt sich mit seiner Skepsis der österreichische Musikkritiker und -philosoph Eduard Hanslick. Die Beiträge Schopenhauers und Hanslicks sind dabei nicht zuletzt vor dem Hintergrund der im 19. Jahrhundert in der Musikwelt intern ausgetragenen, in erster Linie präskriptiven Kontroverse zwischen einer romantischen Ausdrucksästhetik und einer Formalästhetik zu deuten. Mir geht es vorwiegend darum, systematische Aspekte aus seinem Traktat Vom Musikalisch-Schönen herauszupräparieren und diese auf meine Untersuchung zu beziehen. 60 Sein an den Naturwissenschaften ausgerichteter methodologischer Ausgangspunkt prägt den gesamten Gedankengang seiner Schrift, das heißt sein »Drang nach einer möglichst objektiven Erkenntnis der Dinge« 61 . Die vom Hörer erlebten Gefühle erachtet

Ein Problem der Rekonstruktion der Musikphilosophie Schopenhauers liegt darin, dass er inkonsistent zu argumentieren scheint, wenn er zwar Musik als Möglichkeit der Befreiung von unseren Willensleiden ansieht, gleichzeitig aber daran festhält, sie evoziere Gefühle, auch negative. Vgl. zum Problem der Evokation negativer affektiver Zustände mein Abschnitt 4.1.3. 60 Anhänger einer romantischen Ausdrucksästhetik propagieren nicht-absolutmusikalische Formen, beispielsweise (Kunst-)Lieder, sinfonische Dichtungen oder Musikdramen. Gegenstand meiner Untersuchung ist hingegen aus dem oben genannten methodologischen Grund die Expressivität absoluter Musik. (Noch einmal: Ich verwende die Termini »Expressivität« und »absolut[e] [Musik]« nicht in ihrer historischen, sondern in stipulierter Bedeutung.) 61 MS, S. 2. Dies zeigt sich auch daran, dass er naturwissenschaftliche Studien bespricht. Vgl. MS, S. 105–119. 59

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Hanslick als subjektiv, kontingent, willkürlich und »pathologisch« 62 . Er unterscheidet diese beim Hören erlebten Zustände von objektiven Eigenschaften musikalischer Werke, von musikalischen Sachverhalten. 63 Eigenschaften musikalischer Werke sind nach Hanslick nur dann ästhetisch relevant, wenn sie im Werk analytisch nachgewiesen werden können, genauer gesagt in der musikalischen Faktur. Musik stelle nicht affektive Zustände, sondern Bewegung, Dynamisches dar. Inhalt der Musik seien dementsprechend »tönend bewegte Formen«, »Musikalische Ideen«. 64 Musikalischer Inhalt sei vergleichbar mit demjenigen einer Arabeske oder eines Kaleidoskops. 65 Musikalische Werke qua ästhetische Gegenstände sprächen nicht unser Fühlen, sondern unsere (distanzierte, kontemplierende) sinnliche Wahrnehmung an, so sein Fazit. 66 Seine Position untermauert Hanslick mit einem zentralen skeptischen Argument, das implizit in sämtlichen oben erläuterten Positionen enthalten ist (außer bei Pythagoras) und das in der heutigen musikphilosophischen Diskussion nachwirkt. Mit diesem Argument setze ich mich in meinem Abschnitt 1.5. auseinander. Daneben aber findet sich in seinem Traktat ein weiteres skeptisches Argument, das ich hier kurz behandeln möchte. In seinem zweiten Kapitel beschäftigt er sich mit dem Zusammenhang von Wort und Musik. Sein Argument leitet er aus der gängigen Praxis der Wiederverwendung musikalischen Materials her, die bereits Chabanon anspricht – Hanslick verbindet sie vor allem mit Johann Sebastian Bach und Joseph Haydn: Dasselbe musikalische Material lasse sich adäquat Worten unterlegen, deren affektiver Bezug mitunter gar konträr sei. Dieselbe Melodie eigne sich etwa sowohl für einen Text, in dem ein trauriges Ereignis geschildert werde, als auch für einen Text, in dem ein erfreuliches Ereignis beschrieben werde. 67 Gegen das Argument aus der MS, S. 8 [Hervorhebung von Hanslick]. Vgl. MS, S. 8–13, S. 32 f. und S. 102. Es verwundert nicht, dass Hanslick nicht von Musik schlechthin, sondern von musikalischen Objekten, von musikalischen Werken spricht, die Gegenstand seiner wissenschaftlichen Untersuchung seien. Vgl. dazu auch Seidel 1987, S. 18–31. 64 Vgl. MS, S. 59 [Hervorhebungen von Hanslick]. 65 Vgl. MS, S. 59–61. 66 Vgl. MS, S. 61. 67 Vgl. MS, S. 37–42. Stephen Davies wirft Hanslick in dem Abschnitt zu Recht mangelnde argumentative Strenge vor. Denn Hanslick deutet an, dass er bei einer Arie aus der Oper Orpheus und Euridice von Christoph Willibald Gluck doch eine Präferenz habe. Ihr absolutmusikalischer Anteil eigne sich besser für Worte, die sich auf erfreu62 63

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Verschiedenheit der adäquaten Textkoppelungen lässt sich einwenden, dass die Frage, ob in einem Gesangsstück der Anteil der absoluten Musik expressiv zum affektiven Gehalt von Texten passe, häufig Gegenstand ausführlicher kritischer Kontroversen ist. Diese wären nicht sinnvoll und daher von vornherein müßig, wenn der Anteil der absoluten Musik keine Beziehung zu bestimmten affektiven Zuständen aufweisen würde. Darüber hinaus wird auch häufig davon gesprochen, dass die Expressivität des musikalischen Anteils dem affektiven Gehalt eines Textes (oder einer dargestellten Szene) entgegenstehen, ihn unterwandern, ironisieren oder verstärken könne, um nur ein paar Spielarten zu nennen. Dies ist aber nur möglich, wenn der Anteil der absoluten Musik in autonomer Weise expressiv – wenigstens grob – bestimmt sein kann. 68 Mit meiner vorläufigen Diskussion von Hanslick schließe ich diesen einführenden Überblick ab. Für meinen Gedankengang relevante Positionen, die zeitlich nach Hanslick ausgearbeitet wurden, erörtere ich im weiteren Verlauf meiner Untersuchung. Umfassend werde ich im Folgenden die Positionen nicht kritisieren, sondern nur die gewichtigsten Einwände erläutern. 69 Sechs Typen von Positionen lassen sich dabei unterscheiden: 70

liche Ereignisse bezögen. Damit würde aber Hanslick seinen eigenen Skeptizismus entkräften, anstatt ihn, wie beabsichtigt, zu stützen. Vgl. S. Davies 1994, S. 208. 68 Streng genommen ist die skeptische Konklusion ein non sequitur. Denn es ist denkbar, dass Musik trotz des Einwandes berechtigt als expressiv bezeichnet werden kann, nämlich wenn angenommen wird, dass es sich bei Prädikaten der Expressivität lediglich um binäre einstellige Prädikate, nicht um Relationen handelt. Die Passagen absoluter Musik, die zu mehreren affektiven Textgehalten passen, wären dann als expressiv zu charakterisieren (im Gegensatz zu nicht-expressiven Passagen), jedoch ohne weitere Bestimmung. 69 Denn mehrere umfangreiche und sorgfältige kritische Studien der historischen, vor allem aber auch der zahlreichen in der analytischen Musikphilosophie nach 1980 ausgearbeiteten Positionen liegen bereits vor. Malcolm Budd rekonstruiert und kritisiert in seinem Buch eine Auswahl historischer Positionen und kommt zu einem negativen Befund. Keine der Positionen ist ihm gemäß haltbar. S. Davies detaillierte Studie fokussiert hauptsächlich auf die Debatte in der analytischen Musikphilosophie. Er verteidigt in dem Buch seine Variante einer Konturtheorie und greift alle anderen Arten von Ansätzen an. Peter Rinderle diskutiert ebenfalls alle gegenwärtigen Arten von Ansätzen kritisch und entscheidet sich für eine Variante der Personentheorie. Vgl. Budd 1985, S. Davies 1994 und Rinderle 2010. 70 Die Unterscheidung folgt den in den Theorien behaupteten Gründen des Zusammenhanges zwischen Musik und Emotionen. Vgl. mein Abschnitt 1.3.

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(1) (radikal) skeptische Ansätze (2) Ausdruckstheorien (3) Symboltheorien (4) Konturtheorien (5) Personentheorien (6) Evokationstheorien In diesem einleitenden Abschnitt habe ich dargelegt, dass Varianten oder Vorformen der Fragen, Probleme und Positionen, die im Mittelpunkt meiner weiteren systematischen Untersuchung stehen werden, schon seit geraumer Zeit diskutiert werden. Vielfach werden in der historischen Debatte allerdings, gemessen an der gegenwärtigen systematischen Diskussion um musikalische Expressivität, Schwierigkeiten nicht vertieft, oder Positionen bleiben vage. Die besprochenen Positionen werden erst vor dem Hintergrund ideologischer ästhetischer Streite der jeweiligen Zeit verständlich. Die Debatte um musikalische Expressivität in der analytischen Musikphilosophie, Ausgangspunkt meiner weiteren Überlegungen, hat sich aber nicht nur aus dem Bedürfnis nach einer systematischen Ausarbeitung der historischen Positionen ergeben. Es könnte vielmehr auch behauptet werden, dass sie unmittelbar an die historische Diskussion anschließt. Denn analytische Musikphilosophen leiten ihre Problemstellung (oder ihre Positionen) oft unmittelbar aus Hanslicks Skeptizismus ab. Im Folgenden gehe ich zunächst anhand einiger Textstellen aus der Musikkritik und -wissenschaft auf sprachliche Charakterisierungen musikalischer Expressivität ein (Abschnitt 1.1.2.). Darauf sollen weitere für meine Untersuchung zentrale Begriffe geklärt und Unterscheidungen eingeführt werden. In Abschnitt 1.2. diskutiere ich den Begriff der Emotion und weitere Begriffe für Zustände menschlicher Affektivität. In Abschnitt 1.3. unterscheide ich mögliche Gründe des Zusammenhanges zwischen Musik und Emotionen, in Abschnitt 1.4. vier verschiedene Arten musikalischer Expressivität. In Abschnitt 1.5. buchstabiere ich schließlich die Problemstellung meiner Untersuchung aus.

1.1.2. Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken Radikale Skeptiker verneinen jeglichen ästhetisch relevanten Zusammenhang zwischen Musik und menschlicher Affektivität. Sie neigen 37 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

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dazu, musikalische Expressivität als ersonnenes theoretisches Konstrukt auszuweisen, als ewige Chimäre in der Diskussion über Musik. Dagegen lässt sich eine Gegenstrategie verfolgen, wie sie Peter Kivy zu Beginn seiner für die in der analytischen Musikphilosophie systematisch geführten Diskussion über musikalische Expressivität wegweisenden Studie anwendet: 71 Beschreiben wir Musik, so verwenden wir häufig Prädikate, die affektive Zustände bezeichnen. Dies trifft sowohl auf Laien als auch auf Experten wie etwa Musikwissenschaftler, Komponisten, ausführende Musiker oder Kritiker zu. Zuschreibungen affektiver Zustände treten in Texten über Musik auffällig oft und prominent auf, und zwar über Generationengrenzen hinweg. Ich möchte diese Beobachtung an einem Beispiel illustrieren, auf das ich im weiteren Verlauf meiner Untersuchung vielfach zurückkommen werde, nämlich an Schuberts Unvollendeter Sinfonie in h-Moll (D 759). Über sie schreibt der Musikwissenschaftler Alfred Einstein: »dieser erste Satz kommt aus einem tieferen Abgrund; und dem Ausdruck bohrender Melancholie und den Ausbrüchen der Verzweiflung konnte nur die Unschuld des ländlerartigen zweiten Themas entsprechen« 72

Wolfram Steinbeck, ebenfalls Musikwissenschaftler, schreibt zum Andante des zweiten Satzes: »Dieses Andante, so nah es dem Kopfsatz steht, bedeutet doch auch die ganz andere Welt des Lyrischen: nicht der Gegensatz des Düster-Bedrohlichen und Naiv-Hingebungsvollen wie im ersten Satz, sondern die Welt glückseligen Traums, stiller und doch ungemein sehnsüchtiger Melancholie« 73

Ja sogar Hanslick verwendet in seiner Charakterisierung des zweiten Satzes der Unvollendeten Zuschreibungen affektiver Zustände: »Breiter und grösser [als der erste Satz; S. Z.] entfaltet sich das Andante. Töne der Klage und des Zornes fallen nur vereinzelt in diesen Gesang voll Innigkeit und ruhigen Glückes« 74

Zu konstatieren ist, dass alle drei Autoren zur Beschreibung der beiden Sinfoniesätze, die Fälle absoluter Musik in dem von mir stipulierVgl. Kivy 1989, S. 3–11. Die Stelle stammt aus dem Essay The Corded Shell aus dem Jahr 1981, der in dem Buch vollständig abgedruckt ist. 72 Einstein 1952, S. 235 f. 73 Steinbeck 1997, S. 640. 74 Eduard Hanslick, Aus dem Concert-Saal. Kritiken und Schilderungen aus 20 Jahren des Wiener Musiklebens. 1848–1868, Wien/Leipzig 1897, S. 391–393, zit. nach Ulm 2000, S. 198. 71

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ten Sinn darstellen, Prädikate aus dem Bereich affektiver Zustände einsetzen. Da diese nicht aus dem Arsenal der von der Musiktheorie bereitgestellten Termini zur Charakterisierung musikalischer Formen stammen, spricht Christian Thorau von einer »Invasion der fremden Prädikate« 75 . Vielleicht ließe sich à la Hanslick einwenden, die Autoren seien sich über die Expressivität der beiden Sätze uneins und deren Aussagen ließen sich nur als subjektive Äußerungen verstehen. Schließlich sei in der Beschreibung des zweiten Satzes weder im zitierten Ausschnitt noch im gesamten Text von Steinbeck die Rede von Zorn – ganz im Gegensatz zu Hanslick. Dem Einwand kann aber begegnet werden. Es wäre im Einzelnen nämlich zu erörtern, ob sich die beiden Autoren tatsächlich widersprechen. Jedenfalls stimmen sie darin überein, dass dem Satz sowohl Affekte der Traurigkeit (bei Hanslick »Töne der Klage … vereinzelt«) als auch der Freude, des Empfindens von Glück zugeschrieben werden können. 76 Offen bleibt lediglich, wie die Nuancen der Charakterisierungen erklärt werden können und ob sich dem Satz gerechtfertigt Zornaffekte zuschreiben lassen. Hanslick könnte deswegen eines performativen Selbstwiderspruches bezichtigt werden. Denn einerseits bestreitet er theoretisch einen wesentlichen Zusammenhang zwischen Musik und affektiven Zuständen. Doch andererseits greift er in praxi, das heißt in seinen Kritiken, wie die zitierte Stelle exemplarisch zeigt, wieder und wieder auf Affektprädikate zurück, und zwar auch dann, wenn er Werke absoluter Musik beschreibt. Selbst wenn es gute Gründe für seine Position zu geben scheint, steht er immer noch vor einer weit verbreiteten und zugleich historisch persistenten Praxis der Beschreibung absoluter Musik, die gegen eine bloße Negation musikalischer Expressivität spricht und die einer philosophischen Erhellung bedarf. Auf den Nachweis dieses Widerspruchs läuft die antiskeptische Strategie hinaus. 77 Der Blick auf Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken erlaubt zudem eine Schärfung der Fragestellung zum Wesen musikalischer Expressivität, und zwar wie folgt: Thorau 2000, S. 199. Zu den »fremden Prädikaten« zählt Thorau nicht nur Prädikate aus dem Bereich der menschlichen Affektivität, sondern etwa auch bildliche Prädikate. Vgl. Thorau 2000, S. 209–212. 76 Einen grundsätzlichen Konsens gibt es auch zum ersten Satz. Steinbeck schreibt ihm ebenfalls Melancholie zu (bei Hanslick außerdem »Töne der Klage« im obigen Zitat, was implizit auch auf den ersten Satz zu beziehen ist). 77 Kivy spricht von einem »Paradox of Musical Description«. Vgl. Kivy 1989, S. 3–11. 75

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Welches sind die notwendigen und hinreichenden Bedingungen von Zuschreibungen der affektiven Zustände A zu (Passagen von) 78 musikalischen Werken W?

Kommt in dem Set der vorgeschlagenen Bedingungen kein Verweis auf einen – wie auch immer gearteten – Zusammenhang zwischen Musik und affektiven Zuständen vor, so handelt es sich um eine radikal skeptische Position. Die Ausarbeitung einer solchen Position wäre ein Schritt wider die antiskeptische Strategie und ist vom radikalen Skeptiker zu verlangen. Die Erklärung der Verwendung »fremder« Prädikate steht in seinem Ansatz nämlich aus. Tatsächlich werden von radikalen Skeptikern auch entsprechende Paraphrasen offeriert: R. A. Sharpe hält Prädikate affektiver Zustände etwa für grobe Substitute für formale Prädikate. Prädikate affektiver Zustände würden nur solange gebraucht, bis einem die einschlägigen, präziser bestimmten formalen Prädikate und die mit ihnen zu bezeichnenden musikalischen Strukturen und Prozesse geläufig seien. 79 Nach J. O. Urmson wird (absolute) Musik mit Prädikaten affektiver Zustände beschrieben, ohne dass sie Eigenschaften mit affektiven Zuständen teilt. Mit Prädikaten affektiver Zustände würden sinnlich wahrnehmbare, klangliche Eigenschaften charakterisiert. 80 Ähnlich wie Urmson behauptet Nick Zangwill, dass sich Prädikate affektiver Zustände in Beschreibungen musikalischer Werke lediglich auf sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften beziehen. 81 Im Gegensatz zu den eben diskutierten drei radikalen Skeptikern musikalischer Expressivität des 20. Jahrhunderts gesteht Hanslick in seiner Paraphrase einen Zusammenhang zwischen Musik und affektiven Zuständen ein. Sowohl musikalische Werke als auch affektive Zustände weisen ihm zufolge dy-

Die Klausel sei im Folgenden immer mitgemeint. Vgl. Sharpe 1982, S. 82. 80 Vgl. Urmson 1972, S. 144–146. Eine nähere Explikation der außergewöhnlichen Verwendung von Prädikaten affektiver Zustände in Beschreibungen musikalischer Werke hält Urmson nicht für erforderlich, weil häufig und in unproblematischer Weise Prädikate auf andere Sinnesmodalitäten übertragen würden (Beispiel: »süßer Klang«; den psychologischen Ursprung transmodaler Zuschreibungen sieht Urmson in der Synästhesie: Synästhetisch nähmen wir Klänge buchstäblich als süß wahr). Obschon affektive Zustände durch Sinneswahrnehmungen ausgelöst werden können, dürfen sie nicht auf diese reduziert werden. Insofern ist fragwürdig, ob der Fall der Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken mit transmodalen Zuschreibungen sinnlicher Eigenschaften gleichgesetzt werden darf. 81 Vgl. Zangwill 2007, S. 391 und S. 394, und Zangwill 2004. 78 79

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namische Verläufe auf. 82 Werden in Beschreibungen musikalischer Werke Prädikate affektiver Zustände eingesetzt, so bezeichneten sie dynamische Verläufe, die auch ohne »fremde«, affektive Prädikate charakterisiert werden könnten. Trotz seines Zugeständnisses bleibt Hanslick also in der Debatte um musikalische Expressivität radikaler Skeptiker. Denn im Alltag finden sich dynamische Verläufe nicht nur in affektiven, sondern in zahllosen anderen Bereichen, etwa bei Börsenkursen, beim Wetter oder beim Verkehrsaufkommen einer Straße. Wie sich erwiesen hat, sind radikale Skeptiker in der Lage, Paraphrasen qua positive Erläuterungen der Verwendung von Prädikaten affektiver Zustände in Beschreibungen absoluter Musik zu liefern. Dass sie sich bei deren Ausbuchstabierung uneinig sind, lässt aber bereits durchschimmern, dass ihre Position dennoch nicht leicht zu halten ist. Schlichtweg unzutreffend ist etwa Sharpes Punkt, wonach Prädikate affektiver Zustände bei der Beschreibung musikalischer Werke obsolet werden, sobald einem präzisere technische Begriffe geläufig seien. Denn wie in den oben zitierten Stellen zur Unvollendeten deutlich wird, werden die »fremden« Prädikate auch von versierten und gestandenen Kommentatoren (Musikwissenschaftlern und Kritikern) verwendet. Mit den Prädikaten affektiver Zustände werden ästhetisch relevante Aspekte der Komposition bezeichnet, die mit technischen Begriffen offensichtlich auch von erfahrenen Hörern nicht gefasst werden können. Abgesehen davon scheint die These unplausibel, wonach zur näheren Charakterisierung musikalischformaler, ästhetischer oder dynamischer Eigenschaften beliebig auf Prädikate affektiver Zustände zurückgegriffen und wonach deren Bedeutung in musikalischen Beschreibungen durch Satzung und Gewöhnung – am wahrscheinlichsten in Koppelungen von Musik und Text – festgelegt wird. Diese These muss der radikale Skeptiker allerdings vertreten, weil er einen mehr als nur beliebigen Zusammenhang zwischen affektiven Zuständen und Musik bestreiten, aber die Tatsache erklären muss, dass wir affektive Prädikate nuanciert und bis zu einem gewissen Grad übereinstimmend einsetzen, um ästhetisch relevante Eigenschaften musikalischer Werke zu bezeichnen. Es ist zu bezweifeln, dass die Prädikate affektiver Zustände mit Prädikaten aus einem anderen Bereich einfach ersetzt werden können, ohne dass sich dabei die Bedeutung der Beschreibungen musika82

Vgl. MS, S. 26.

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lischer Eigenschaften wandeln. Im Verlauf meiner Untersuchung werde ich zeigen, dass eine solche Substitution daran scheitern muss, dass ein wesentlicher Zusammenhang zwischen Musik und affektiven Zuständen besteht und sich deshalb die Bedeutung der Beschreibungen verändern würde. Darüber hinaus würden der Substitution auch sämtliche alltags- oder sozialpsychologischen (und eben nicht etwa meteorologischen) Deutungen musikalischer Expressivität zum Opfer fallen, die in der Musikkritik und -wissenschaft indes Legion sind. Steinbeck bringt in seinem Kommentar zum Beispiel die Expressivität der Unvollendeten mit dem Tod der Mutter von Schubert und der Verstoßung durch dessen Vater in Verbindung. 83 Aus dieser Interpretation erklärt Steinbeck zahlreiche formale Details der Komposition Schuberts. Affektive Zustände spielen eine zentrale Rolle im menschlichen Leben. Sie prägen unsere Existenz. 84 Verfügt die Musik über einen, wie auch immer indirekten und schwierig zu erhellenden, Bezug auf diese, so können die Prädikate affektiver Zustände in Beschreibungen musikalischer Werke nicht ohne substantiellen Verständnisverlust ersetzt werden. Folgendes Zwischenresümee möchte ich aus der vorläufigen Auseinandersetzung mit dem radikalen Skeptiker ziehen. Es lässt sich auch auf zahlreiche skeptische Argumente in anderen philosophischen Bereichen ausweiten: Die Argumente, die er vorträgt, verdienen insofern Beachtung, als sie auf Schwächen und Probleme von affirmativen Ansätzen hinweisen, auf Ansätze, in denen ein wesentlicher Zusammenhang zwischen affektiven Zuständen und Musik behauptet wird. Hingegen scheint die radikal skeptische Position der gängigen Praxis der Beschreibung musikalischer Werke nicht gerecht werden zu können, und sie unterschlägt Möglichkeiten plausibler Zusammenhänge zwischen Musik und affektiven Zuständen.

1.2. Ontologie der Emotionen Eine verbreitete Annahme in der Diskussion um musikalische Expressivität ist es, dass Musik Emotionen ausdrücke. Ich habe bislang mit Bedacht, neben dem Emotionsbegriff, häufig den Begriff des af83 84

Vgl. Steinbeck 1997, S. 636. Vgl. meine Abschnitte 1.2.3.4. und 5.2.

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Ontologie der Emotionen

fektiven Zustandes oder der menschlichen Affektivität verwendet. Denn es wird eine Pointe dieses Kapitels sein, dass der Emotionsbegriff für die Diskussion um musikalische Expressivität zu eng gefasst ist und sich daraus allzu leicht irreführende skeptische Argumente konstruieren lassen. 85 Es ist daher erforderlich, in einer für meine Zwecke angemessenen, knappen Weise zu klären, was Emotionen und affektive Zustände allgemein sind. Dies möchte ich in diesem Abschnitt tun, indem ich den Forschungsstand aufarbeite. Mir geht es nicht darum, einen originellen Beitrag zur philosophischen Emotionstheorie zu leisten. Zunächst diskutiere ich drei Schwierigkeiten einer Ontologie der Emotionen.

1.2.1. Schwierigkeiten einer Ontologie der Emotionen Erstens scheint der Begriff der Emotion im Deutschen weniger geläufig und fassbar als im Englischen. Wir sprechen eher von Gefühlen als von Emotionen. Und bezeichnenderweise wird auch in den Titeln einiger der wichtigsten neueren, deutschsprachigen emotionsphilosophischen Monografien und Sammelbände der Terminus »Gefühle« verwendet. 86 Allerdings sind die beiden Begriffe, insbesondere in der philosophischen Diskussion, auseinanderzuhalten. 87 Der Begriff des Gefühls ist weiter und umfasst Emotionen. Jede Emotion ist ein Gefühl, aber nicht umgekehrt. Weder ein mulmiges Gefühl in der Magengegend noch ein allgemein wohliges Gefühl per se, weder ein Gefühl der Rauheit auf der Fingerkuppe noch ein Hungergefühl sind

Phoebe C. Ellsworth hält die Definition von Emotionen als affektive Prozesse am Punkt ihrer Semantisierung für beliebig. Affektive Prozesse seien nur als ganze zu verstehen. Ellsworth räumt aber ein, dass der Semantisierung eine die menschliche Affektivität bestimmende, transformative Rolle zukomme. Vgl. Ellsworth 1994a, S. 192 f. 86 Vgl. Döring 2009b (»Philosophie der Gefühle«), Landweer 2007 (»Gefühle – Struktur und Funktion«), Demmerling/Landweer 2007 (»Philosophie der Gefühle«), und Slaby 2008 (»Gefühl und Weltbezug«). Vgl. demgegenüber Voss 2004 (»Narrative Emotionen«). 87 So ist etwa von Gefühlstheorien (feeling theories) der Emotion die Rede, in denen der Begriff des Gefühls ins Zentrum der Analyse gestellt wird. (In anderen Ansätzen hingegen werden andere Begriffe ins Zentrum gestellt, etwa diejenigen des Urteils oder der Wahrnehmung.) 85

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Emotionen. 88 Wenngleich unmittelbar keine präzise Explikation allein aus unserem Sprachgebrauch zum im Deutschen eher terminologischen Begriff der Emotion gewonnen werden kann, so herrscht doch in der folk psychology immerhin Einigkeit darüber, dass bestimmte mentale Zustände (die sich meist auch leiblich manifestieren) ein- und derselben Kategorie von Phänomenen zuzuordnen sind, zum Beispiel Furcht, Ekel, Empörung, Freude, Mitleid, Neid, Scham, Schuld, Stolz, Trauer, Traurigkeit und Zorn. Ein Blick auf Gemeinsamkeiten dieser mentalen Zustände könnte Ansatzpunkt für die Explikation des Emotionsbegriffs sein. Jedoch ist es zweitens schwierig scharf abzugrenzen, welche mentalen Zustände als paradigmatisch für Emotionen gelten und Grundlage für eine Analyse des Begriffs bilden können. Robert C. Roberts macht zu Beginn seines Aufsatzes auf Unterschiede in den die jeweiligen Begriffsanalysen fundierenden Listen von paradigmatischen Emotionen verschiedener Philosophen und Psychologen aufmerksam. Manche Theoretiker schließen basale affektive Reaktionen wie etwa den Schreckreflex oder Schmerzen mit ein, andere hingegen mentale Zustände, die ich eher Haltungen nennen würde, etwa die Besonnenheit oder den Patriotismus. 89 Ob solche exotischen Kandidaten in das für die Analyse grundlegende Register paradigmatischer Fälle aufgenommen werden oder nicht: Die Theoretiker kommen nicht umhin zu entscheiden, wobei nachvollziehbare Kriterien mangels vortheoretischer Klarheit nicht verfügbar sind. Weil emotionsontologische Ansätze von solchen Entscheidungen aber maßgeblich abhängen, enthalten sie immer auch einen stipulativen Anteil. 90 Die Alltagssprache bietet keinen reinen Rohstoff für die Analyse des Emotionsbegriffes. 91 Deswegen das Vorhaben einer allgemeinen Eine übersichtliche Taxonomie von Gefühlen bietet Peter M. S. Hacker. Vgl. Hacker 2004, S. 199–202. 89 Vgl. Roberts 1988, S. 184. 90 Christoph Demmerling und Hilge Landweer erachten die Auswahl der zu analysierenden paradigmatischen Emotionen als »willkürlich« und wenden sich deswegen der Analyse einzelner Emotionen zu. Vgl. Demmerling/Landweer 2007, S. 4 f. 91 Vgl. Döring 2009c, S. 233. Dies trifft auch auf andere begriffsanalytische Vorhaben zu. Suparna Choudhury und Jan Slaby fordern in einem Sammelband eine kritische, nicht zuletzt politische Betrachtung der naturwissenschaftlichen, genauer gesagt neurowissenschaftlichen Beschäftigung mit mentalen Zuständen und Prozessen. Der Fairness halber müssten sie aber eingestehen, dass dies auch für philosophische Analysen der Phänomene gilt, auch wenn dies häufig mit einer den Naturwissenschaften entlehnten Rhetorik der Unparteilichkeit verschleiert wird, insbesondere in der ana88

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Emotionsontologie aufzugeben, ist aber zu resignativ. Denn die Grenzen aller Begriffe, deren philosophische Analyse sich lohnt, sind weich. Nur bei vollständig stipulierten Begriffen, die etwa in der Mathematik oder Geometrie vorherrschend sind, stellt sich das Abgrenzungsproblem nicht. Da ich musikalische Expressivität systematisch betrachte, ist es für meine Untersuchung unentbehrlich, die Ontologie von Emotionen beziehungsweise von affektiven Zuständen und einige ihrer Eigenschaften allgemein zu erörtern. 92 Drittens wird mit Blick auf ihre Vielgestaltigkeit bezweifelt, ob es sich bei Emotionen um eine natürliche Art handelt. 93 Andere Arten mentaler Entitäten sind einfacher einzugrenzen. Zum Beispiel ist allen Gedanken gemeinsam, dass die Wahrheit ihr formales Objekt ist. Ob wir einen abstrakten philosophischen oder einen alltäglichen Gedanken haben: Stets sollen Gedanken mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Tun sie dies nicht, so revidieren wir sie, mitunter passen wir unser System von Gedanken an. Emotionen hingegen weisen jeweils verschiedene formale Objekte auf. Das formale Objekt der Angst ist (vermeintlich) das Gefährliche, 94 dasjenige der Freude das Erfreuliche. Darüber hinaus werden mit dem Emotionsbegriff Phänomene bezeichnet, die ein weites Spektrum von Komplexität umfassen. Dies lässt sich an zwei Beispielen illustrieren, die ich in den folgenden Abschnitten mehrfach aufgreifen werde: Manche Emotionen sind sehr einfach verfasst, beispielsweise eine reflexartige Wut einer Person, nachdem sie in der U-Bahn rüde angerempelt worden ist. Andere Emotionen werden erst durch unser Nachdenken, das verlytischen Philosophie. Auch Philosophinnen und Philosophen sollten sich daher um eine Transparenz ihrer investierten Interessen und politischen Haltungen bemühen, die ihre Methodologie und Positionen prägen. 92 Dabei erhebe ich, namentlich wegen ihrer stipulativen Anteile, weder mit der hier skizzierten Emotionstheorie noch mit der in dieser Untersuchung entwickelten Theorie musikalischer Expressivität Anspruch auf ewige Gültigkeit. Dennoch möchte ich für die philosophische Methode des theory building plädieren. Denn ich sehe die theoretische Verdichtung, das heißt das reflexive Ausbalancieren unserer alltäglichen und wissenschaftlichen Verständnisse, als Bedingung der Möglichkeit ihrer Revision, als Bedingung der Möglichkeit einer »Bewegung des Geistes« an (ohne Gewähr dafür, dass diese Bewegung progressiv sein wird). 93 Der locus classicus einer solchen Skepsis findet sich in dem Sammelband von Amélie Oksenberg Rorty. Der Band hat entscheidend dazu beigetragen, die philosophische Diskussion um Emotionen neu zu entfachen. Vgl. Rorty 1980b, S. 1–6. Die Skepsis teilt Richard Moran. Vgl. Moran 1994, S. 81. 94 Vgl. dazu mein Abschnitt 1.2.3.1.

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Musik und Emotionen

wickelte inferentielle Beziehungen enthalten kann, aktual, beispielsweise eine Empörung darüber, dass in einer Sitzung eine Mitarbeiterin perfide mit maliziösen Einwänden und abwertenden rhetorischen Gesten erniedrigt wird. Neurowissenschaftler sind sich dabei alles andere als einig, ob Emotionen als eine natürliche Art aufgefasst oder ob besser zwei – in der Regel wird dann zwischen Affektprogrammen und kognitiv komplexen Emotionen unterschieden – (oder mehr) Arten mentaler Entitäten unterschieden werden sollen. 95 Eine Schlichtung emotionsontologischer Streits anhand des Erfolges empirischer Ansätze im Sinne Quines ist momentan nicht absehbar. 96 Jedoch haben Emotionen, auch wenn sie im Einzelfall mit unterschiedlichen physiologischen Prozessen einhergehen, gemeinsame Eigenschaften, die rechtfertigen, am allgemeinen Begriff der Emotion festzuhalten. Der Begriff der Emotion ist kein hybrider Begriff. Vier solcher Eigenschaften werde ich in Abschnitt 1.2.3. diskutieren, diejenige der Rationalität in Abschnitt 5.2.2. Hier sei nur kurz mit Bezug auf meine disparaten Fallbeispiele angedeutet, worin die Gemeinsamkeiten bestehen: Sowohl im U-Bahn- als auch im Sitzungsbeispiel richten sich die Emotionen auf Handlungen von »Übeltätern«. Emotionen enthalten mithin evaluative Anteile. Und in beiden Fällen sind Emotionen keine »kühlen« Urteile, sondern werden uns als Gefühle gewahr, die motivationale Anteile enthalten. In beiden Fällen wird ein weiteres Gefühl »impliziert«, nämlich Lust auf Rache.

1.2.2. Emotionen: Urteile des Körpers, affektive Wahrnehmungen oder weltgerichtete Gefühle? Wie auch immer unterschiedlich sie physiologisch fundiert werden, handelt es sich bei Emotionen um Phänomene sui generis. Dies schließt nicht aus, dass an ihnen Zustände einer anderen Kategorie Vgl. Dalgleish/Dunn/Mobbs 2009, S. 363. Joseph LeDoux hält Emotionen für einen (Allgemein-)Begriff ohne wirkliches mentales Korrelat. Einzelne Emotionen seien je als einzelne Systeme zu untersuchen. Er selbst beschäftigt sich vorwiegend mit unserem »fear system«. Vgl. LeDoux 1998, S. 16. Paul E. Griffiths schlägt eine duale Emotionsontologie vor, ebenso wie Kivy, fragt sich aber dann, ob nicht besser drei Arten von Entitäten eingeführt werden sollen. Vgl. Griffiths 1997, insbesondere S. 228–247, und Kivy 1990, S. 176 f. Kivy nennt kognitiv komplexe Emotionen »platonic attitudes«. 96 Vgl. Quine 1969b. 95

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beteiligt sind, etwa Urteile, Wahrnehmungen, Gefühle oder Wünsche. 97 In einer ersten Annäherung können zwei Elemente von Emotionen unterschieden werden. Einerseits gerät der Träger einer Emotion in eine Situation. Diese lässt sich rein deskriptiv erfassen. Im UBahn-Beispiel besteht sie aus dem Sachverhalt, dass eine Person von einem Passanten angerempelt worden ist, dass er sie wegdrängt, sie sich vielleicht festhalten muss, um nicht zu stürzen. Andererseits verfügt der Träger von Emotionen über evaluative Kategorien. 98 Emotionen treten nur dann auf, wenn eine Situation unter eine evaluative Kategorie fällt, das heißt, wenn die Situation mit unseren Bedürfnissen oder Werten konfligiert (oder harmoniert). 99 Im U-Bahn-Beispiel empfindet es die Person etwa als ärgerlich und respektlos angerempelt zu werden. In der U-Bahn angerempelt zu werden gehört für die Person in den Gegenstandsbereich des Ärgerlichen. Kommt es zu dieser Situation, so kann die Emotion ausgelöst werden. Wenn sich das deskriptive Element mit dem evaluativen verbindet, wird unsere Welt »gefärbt«. Sie offenbart Bedeutungen, die Situationen oder Sachverhalte für uns haben, bezogen auf unsere Bedürfnisse, Werte oder moralischen Vorstellungen. Robert C. Solomon schreibt: »the Way the world is for us is never simply the way the world is. We do not live in Reality but in surreality, a world that is populated with objects of value and objects of fear, gains and losses, honors and injustices, intimacies and inequalities … [Emotions] do not find but ›set up‹ our surreality« 100

Es liegt nahe, die Verbindung von Situation und evaluativer Kategorie mit dem Begriff des Urteiles verständlich zu machen, wie dies Emotionen sind nicht ausschließlich Zustände. Wir können sie auch als Dispositionen besitzen. Allerdings werde ich argumentieren, dass expressive absolute Musik Aspekte von affektiven Zuständen evoziert, nicht von Dispositionen. Daher behalte ich die Rede von affektiven Zuständen bei. Auf Urteils-, Wahrnehmungs- und Gefühlstheorien werde ich im Folgenden eingehen. Wünsche spielen im Ansatz von Joel Marks eine zentrale Rolle. Er expliziert sie als Wünsche-Urteils-Komplexe. Vgl. Marks 1981. 98 Es handelt sich bei Emotionsbegriffen somit um thick concepts, die deskriptive Anteile umfassen (Beschreibungen von Situationen), deren evaluative Komponenten (Bezug zu Wünschen und Werten) aber nicht zu eliminieren sind. Vgl. zum Begriff des thick concept B. Williams 1985, S. 129 f. 99 Evaluative Kategorien müssen uns dabei weder bewusst sein noch zwingend kognitiv repräsentiert werden. Sie können auch leiblich repräsentiert werden. Eine dezidiert antikognitivistische Emotionsphilosophie vertritt gegenwärtig Jesse Prinz. Emotionen sind ihm gemäß »gut reactions«. Vgl. Prinz 2004, insbesondere S. 21–51. 100 R. C. Solomon 1993, S. 135. 97

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R. C. Solomon tut. Nach seinem Slogan sind Emotionen Urteile. In seinem Frühwerk behauptet er sogar, dass Emotionen buchstäblich Urteile seien, »conceptual structures«, die den Kern unserer Existenz konstituierten. 101 Gefühle seien nicht notwendigerweise Bestandteil von Emotionen, eher eine unwesentliche Beigabe. 102 Abheben möchte R. C. Solomon seinen Ansatz namentlich von einer romantischen Emotionstheorie, in der Emotionen als passions expliziert werden, als eine Art animalische Rudimente, die uns häufig in die Irre führten, denen wir wehrlos ausgesetzt seien und für die wir deswegen keine Verantwortung zu tragen hätten. 103 Emotionen würden uns etwas über »die Welt« sagen, und wir dürften berechtigt zur Begründung von Emotionen aufgefordert werden, da wir sie beherrschen, ja sogar auswählen könnten. 104 R. C. Solomon räumt dabei ein, dass Emotionen als Urteile nicht mit Urteilen gleichgesetzt werden dürfen, die in einem durchgehend transparenten Prozess entstehen, wie etwa vor Gericht. Gerichtsurteile werden in systematischer Weise gefällt und müssen begründet dargelegt werden. Zunächst wird sorgfältig die Situation beschrieben und dann Schritt für Schritt das Urteil und das mögliche Strafmaß deduziert. Dass dies im Emotionsspektrum nicht der Fall ist, wird am U-Bahn-Beispiel ersichtlich. Denn wenn das »Opfer« in dem Fall wütend wird, analysiert es nicht zuerst die Situation und überlegt dann bewusst, welche Emotion angemessen ist. Die Wut drängt sich vielmehr unmittelbar auf. Nach R. C. Solomon können Emotionen daher auch vorbewusste, vorartikulierte, vorreflexive und vorsprachliche Urteile sein. 105 Emotionen als Urteile lassen sich aber ihm gemäß stets propositional ausbuchstabieren (»Ich bin wütend, dass mich der Fahrgast angerempelt hat.«). In späteren Schriften hat R. C. Solomon seine Position zunehmend aufgeweicht. Insbesondere die Bedeutung von (leiblichen) Gefühlen denkt er neu: 106 In Anlehnung an Arbeiten des Psychologen George Downing diskutiert R. C. Solomon Emotionen unter dem Begriff der »körperlichen Mikropraktiken« und bestimmt sie als Urteile des Körpers. Er gibt auch die These auf, wonach Emotionen propositional verfasst seien. Emotionen seien eine Form nichtpropositionalen 101 102 103 104 105 106

Vgl. R. C. Solomon 1993, S. XVII und S. 60. Vgl. R. C. Solomon 1993, S. 97, und R. C. Solomon 2003b, S. 20. Vgl. R. C. Solomon 1993, S. 10 f. Vgl. R. C. Solomon 1993, S. 88, und R. C. Solomon 2007, S. 199 f. Vgl. R. C. Solomon 1993, S. 131. Vgl. R. C. Solomon 2004b, S. 84–88, und R. C. Solomon 2007, 232–244.

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Wissens über die Welt. Die Erfahrung von Emotionen sei in erster Linie eine Erfahrung von Gefühlen. Allerdings hält er daran fest, dass wir unsere Emotionen reflektieren könnten und ihnen nicht nur passiv begegneten. Alleine deswegen Emotionen als buchstäbliche Urteile zu analysieren, scheint mir aber auf eine Verwässerung des Urteilsbegriffs hinauszulaufen. Landweer argumentiert in einem Aufsatz, dass Emotionen notwendigerweise uns betreffen. Dies sei hingegen nicht bei allen Urteilen der Fall. 107 R. C. Solomons Ansatz ist stimmiger, wenn unterstellt wird, dass er den Begriff des Urteils metaphorisch verwendet, um den Aspekt unseres aktiven Umgangs mit Emotionen herauszuarbeiten. 108 Sabine A. Döring hat vorgeschlagen, Emotionen als affektive Wahrnehmungen aufzufassen. 109 Sie stellt dabei klar, dass sie in ihrem Ansatz Emotionen in Analogie zu sinnlichen Wahrnehmungen beschreibt. Es gebe offensichtliche Unterschiede zwischen affektiven Wahrnehmungen und Sinneswahrnehmungen. Affektive Wahrnehmungen seien auch ohne Sinnesorgane möglich (etwa dann, wenn eine Emotion sich auf den Gehalt einer Erinnerung richtet), affektive Wahrnehmungen würden als Gefühle erfahren, und Normalbedingungen affektiver Wahrnehmungen seien schwieriger zu spezifizieren als bei Sinneswahrnehmungen. Gemeinsam sei affektiven Wahrnehmungen und Sinneswahrnehmungen, dass beide weltgerichtet seien. Während Sinneswahrnehmungen uns über die Beschaffenheit der Außenwelt informierten, ließen uns affektive Wahrnehmungen Werte und Gründe erkennen. 110 Eine weitere AnaVgl. Landweer 1995, S. 74 f. Allerdings wäre es falsch, Verantwortung bei einzelnen Emotionen anzusetzen. Emotionen können uns bisweilen überwältigen. Wir verfügen aber über zu entwickelnde Fähigkeiten, unsere Emotionen zu reflektieren, zu regulieren und damit unseren affektiven Haushalt und damit unser Selbst zu gestalten, und wir sind in der Lage, diese Fähigkeiten ständig zu rekalibrieren. Mehr zu diesem Punkt in Abschnitt 5.2. 109 Vgl. Döring 2007, insbesondere S. 376–383. Eine wichtige Quelle für Döring ist Christine Korsgaard. Vgl. Korsgaard 1996, insbesondere S. 149 f. 110 Emotionen lassen uns nach Döring nicht nur Werte in der Welt erkennen, sondern haben eine motivationale Kraft. Sie sind handlungsleitend. Aus diesem Befund erhofft sich Döring die »Lösung ›des‹ Problems der Philosophie« (so der Titel einer von ihr geplanten Monografie), nämlich des Problems unserer Motivation durch Gründe (»Ich sehe ein, dass X moralisch gut ist, aber wieso sollte ich X tun?«). Dörings Hoffnung zerschlägt sich aber, wenn bedacht wird, dass Emotionen nur provisorische, stellvertretende Gründe sind, Gründe pro tempore, wie Michael Brady zeigt. Wir können uns immer überlegen, ob Emotionen angemessen sind oder nicht, das 107 108

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logie zu Sinneswahrnehmungen sieht Döring darin, dass Emotionen keinen inferentiellen Zwang auf uns ausübten. 111 Obschon wir vom Gegenteil überzeugt sind, können Emotionen anhalten – Dörings Beispiel ist die Furcht vor einer harmlosen Schlange, von der wir wissen, dass sie für uns ungefährlich ist. Auch Dörings Ansatz darf nicht als Reduktion des Emotions- auf einen Wahrnehmungsbegriff verstanden werden. Als Analogie gelesen, bringt ihre Theorie den Zusammenhang von Emotionen und Moralität in den Fokus, ebenso wie die Persistenzeigenschaft von Emotionen. Eine weitere Möglichkeit wäre es, Emotionen mit dem Begriff des Gefühls zu explizieren. 112 Bereits erwähnt habe ich jedoch, dass der Begriff der Emotion nicht mit dem Begriff des Gefühls synonym ist. Nicht alle Gefühle sind Emotionen. Emotionen haben eine komplexere Struktur als basale leibliche Gefühle. Dennoch sind sie Gefühle. Ihre spezifische Beschaffenheit unterscheidet Emotionen von anderen Gefühlen und mentalen Zuständen. Emotionen sind weltgerichtet, handlungsleitend und haben einen hedonischen, gefühlsmäßigen Kern, wobei diese Strukturmomente unentwirrbar ineinander verflochten sind. Emotionen sind uns bewusst und wir können auch ein Bewusstsein zweiter Ebene über sie erlangen. Wir können sie reflektieren und handhaben. Einzeln sind sie jedoch nie gänzlich transparent und willentlich steuerbar. Eine solchermaßen komplexe

heißt, wir müssen sie nicht zwingend »für bare Münze« nehmen. Wir können meist hinter sie zurücktreten. Dörings Theorie erhellt nicht, inwiefern die in diesem Vorgang der ganzheitlichen Verständigung herangezogenen Gründe handlungsleitend sein können. Emotionen können uns aber auf Gründe oder moralische Aspekte von Situationen aufmerksam machen und haben deswegen einen epistemischen Wert. Vgl. Brady 2011. Eine Bedingung der Möglichkeit der rationalen Reflexion von Emotionen ist deren propositionale Verfasstheit (contra den späten R. C. Solomon und Döring). Vgl. Slaby 2008, S. 56–61 und S. 245–268, McDowell 1996, S. XI–23, und Tugendhat 1979. 111 Vgl. Döring 2007, S. 380 f., und Döring 2009a. Dörings Position impliziert, dass der Gehalt von Emotionen nicht propositional verfasst sei. Mit Slaby, der sich wiederum an John McDowell und Ernst Tugendhat anlehnt, bestreite ich dies. 112 William James wird (zusammen mit dem Dänischen Physiologen Carl Lange) oft als früher Proponent einer Gefühlstheorie der Emotionen gesehen. Vgl. WiaE. Ellsworth und Paul Redding warnen davor, James als Proponenten einer eindimensionalen Gefühlstheorie zu karikieren. Sein Ansatz berücksichtige auch die Bedeutung kognitiver Elemente der menschlichen Affektivität. Vgl. Ellsworth 1994b, Redding 1999, S. 24–45, und Goldie 2000, S. 54. Vgl. für eine antikognitivistische Lektüre von James Reisenzein/Meyer/Schützwohl 1995.

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und für das menschliche Leben zentrale Kategorie mentaler Zustände unter eine andere Kategorie mentaler Zustände subsumieren zu wollen, muss – wie gezeigt – scheitern. Es können so allenfalls Aspekte des Emotionsbegriffs erhellt werden. Dasselbe gilt für Versuche, Emotionen auf physiologische Prozesse zu reduzieren. Deswegen scheint es mir legitim, Emotionen (beziehungsweise affektive Zustände) als eigenständige mentale Zustände sui generis aufzufassen, die ein weites Spektrum von Ausprägungen annehmen können (von der reflexartigen Wut in der U-Bahn bis zur aus verwickelten Erwägungen abgeleiteten Empörung in der Sitzung). Im Folgenden werde ich vier wesentliche, notwendige Eigenschaften von Emotionen erläutern. Die Rationalitätseigenschaft von Emotionen (und affektiven Zuständen) behandle ich in Abschnitt 5.2.2.

1.2.3. Vier Eigenschaften von Emotionen 1.2.3.1. Doppelte Intentionalität Emotionen sind nicht Gefühle tout court, sondern weltgerichtete Gefühle. Sie richten sich auf bestimmte, inhaltliche Objekte oder Sachverhalte der Welt, das heißt meist auf etwas, das »außerhalb« des Trägers der Emotion liegt. Wir fürchten uns vor der Schlange, freuen uns über ein Geschenk, sind wütend auf einen Passagier in der UBahn oder empört über das Verhalten von Sitzungsteilnehmern. Objekte von Emotionen sind von deren Ursachen zu unterscheiden. Zum Beispiel könnte unsere Empörung in der Sitzung vielleicht von unserer allgemeinen Unruhe und Langeweile herrühren, oder von einer unterschwelligen Aversion gegenüber den Sitzungsteilnehmern, denen wir ein unangemessenes Verhalten anlasten. Inhaltliche Objekte müssen nicht gegenwärtig präsent sein. Wir können auch Jahre nach einem Konzert uns über dieses freuen. (Die Freude richtet sich nicht auf die Erinnerung, sondern auf den Gehalt der Erinnerung, nämlich das Konzert.) Auch bloß imaginierte Objekte oder Sachverhalte können Objekte von Emotionen sein, etwa wenn wir uns vor einer vermeintlich bevorstehenden Prüfung fürchten. Beim Menschen trifft dies sogar auf die Mehrzahl der Emotionen zu. 113 Eine weitere Be113

Auch Moran weist darauf hin, dass nur die wenigsten menschlichen Emotionen

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sonderheit der Emotionen von Menschen ist, dass sie oft subtil in sozial komplexen Kontexten ausgelöst werden, meist durch Worte, und dass sie sich auch auf soziale Begebenheiten richten. 114 Von den bestimmten inhaltlichen Objekten von Emotionen lassen sich formale Objekte abstrahieren. 115 Wie bereits aufgezeigt ordnen wir Situationen bestimmten evaluativen Kategorien zu, wenn wir Emotionen empfinden. 116 Unsere Furcht richtet sich auf das Gefährliche oder, wie es Martin Heidegger nennt, »das Furchtbare« 117 . Die Bestimmung formaler Objekte von Emotionen ist dabei nicht trivial, sondern bedarf einer ausführlichen Untersuchung. Im Beispiel der Furcht: Entweder ist die Bestimmung als »das Furchtbare« tautologisch und daher nicht informativ. Oder sie muss ergänzt und ausgearbeitet werden. Denn wie William Lyons erläutert, empfinden wir nicht immer Furcht, wenn wir auf etwas Gefährliches treffen. Bisweilen suchen wir gerade den kick des Gefährlichen und empfinden solche Tätigkeiten als anregend. 118 Evaluative Kategorien können kulturübergreifend vorhanden oder kulturrelativ festgelegt sein. 119 Die Unterscheidung der menschlichen Vielfalt von Emotionen kann nur mit dem Begriff des formalen Objekts erläutert werden. Freilich sind grobkörnige Unterscheidungen affektiver Zustände anhand ihrer hedonischen Konfiguration oder anhand unseres (Ausdrucks-)Verhaltens möglich. Jedoch werden dabei die viel feineren Diffenzierungsmöglichkeiten außer Acht gelassen, die unsere Emotionsbegriffe erlauben. In Heideggers Terminologie sind Emotionen »Modi der Befindsich auf wirkliche und präsente Objekte richten. Damit strebt er an, das Problem unserer Emotionen gegenüber Fiktionen der Kunst zu entschärfen. Er argumentiert, dass es für Menschen gar nicht außergewöhnlich sei, gegenüber Objekten Emotionen zu empfinden, die weder wirklich noch gegenwärtig seien. Vgl. Moran 1994, S. 76–80. 114 Vgl. Ekman 1999, S. 52. 115 Der ursprünglich mittelalterliche Begriff des formalen Objekts geht in seiner zeitgenössischen Fassung zurück auf Anthony Kenny. Vgl. Kenny 1963, S. 71–75. 116 Es ist hier wichtig zu betonen, dass nicht impliziert sein soll, dass diese Zuordnungen Gefühle verursachen, also a fortiori ihnen zeitlich vorgelagert sind. Gefühle sind vielmehr das Zentrum der Evaluationen. 117 SuZ, § 30. 118 Vgl. Lyons 1980, S. 101. 119 Vgl. Ekman 1999, S. 53–56. Kulturrelative evaluative Kategorien eignen wir uns nach Ronald de Sousa an, indem wir mit »paradigmatischen Szenarien« vertraut gemacht werden. Vgl. de Sousa 1987, S. 181–184. Die Unterscheidung scheint eine duale Emotionsontologie zu implizieren.

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lichkeit«. Der Begriff der Befindlichkeit ist dabei grundlegender. 120 Mit ihm bezeichnet Heidegger eine »existenziale Grundart« des Daseins. Wir sind nicht einfach, sondern wir sind immer gestimmt gegenüber der Welt. Heutzutage würden wir umgangssprachlich nur behaupten, in einer Stimmung zu sein, wenn diese markant ausgeprägt ist, etwa, wenn wir sagen, wir seien in einer melancholischen Stimmung. Für Heidegger sind Stimmungen aber eine dauerpräsente Schicht unseres Daseins. Wir befinden uns immer in einer Stimmung, auch wenn diese nicht besonders markant ist. Bisweilen sind wir auch »neutral« gestimmt. Im Gegensatz zu Emotionen sind Stimmungen keine auf bestimmte Situationen oder Sachverhalte gerichteten affektiven Zustände. Sie richten sich vielmehr nach Heidegger auf die Welt als ganze, auf alles. Oder ihre Objekte sind uns diffus. 121 Eine Emotion tritt somit dann auf, wenn sich das Objekt unserer Stimmung verengt, verdichtet, wenn es sich uns, wie bei der Furcht, »nähert«. Der Übergang von Stimmung zu Emotion ist kontinuierlich. 122 Es muss also beachtet werden, dass eine begriffsanalytisch scharfe Trennung von Stimmung und Emotion eine philosophische Exaktheit suggeriert, die nicht der Phänomenologie unseres Daseins in Befindlichkeit entspricht. Heideggers Analyse der menschlichen Affektivität kommt meiner Untersuchung entgegen. Denn es lässt sich bei expressiven Werken absoluter Musik nicht genau spezifizieren, an welchem Punkt im Emotion-Stimmung-Kontinuum der ausgedrückte affektive Zustand zu positionieren ist. 123 Dies zeigt sich namentlich in unserer Praxis 120 Entsprechend behandelt er den Begriff vor dem Kapitel über die Emotion der Furcht. Vgl. SuZ, § 29. Vgl. dazu auch Slaby 2008, S. 136–139. Dass Heideggers Begrifflichkeit den Phänomenen gerecht zu werden scheint, kann mit zahlreichen empirischen Arbeiten belegt werden. Vgl. dazu insbesondere Ratcliffe 2008, S. 41–76. 121 Vgl. Tormey 1971, S. 34 f. 122 Vgl. Demmerling/Landweer 2007, S. 5, und Slaby 2008, S. 166–179. 123 Noël Carroll tritt ebenfalls dafür ein, in der kunstphilosophischen, insbesondere in der musikphilosophischen Diskussion, keinen allzu engen Begriff affektiver Zustände vorauszusetzen. Ich werde unten in meinem Abschnitt 1.5. dieselbe Diagnose der Defizienz in der klassischen Formulierung des Problems des Wesens musikalischer Expressivität stellen wie Carroll. Auch sein Ansatz der Explikation des Wesens musikalischer Expressivität ist mit meiner verwandt. Allerdings werde ich eine andere Erklärung der Evokationsbedingung vorschlagen. Zum Wert musikalischer Expressivität äußert sich Carroll nicht. Vgl. Carroll 2003, vor allem S. 521–525 und S. 545– 552. Damit möchte ich keinesfalls sagen, dass die Begriffe der Emotion und Stimmung gleichgesetzt werden dürfen. Leider kommt diese Äquivokation in der musikphilosophischen Diskussion oft vor. Vgl. etwa Kivy 1990, S. 177.

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von expressiven Zuschreibungen zu musikalischen Werken, die, nur auf den Gehalt des absoluten Anteils von Musik beschränkt, immer nur grob bestimmt bleiben müssen, deswegen allerdings nicht beliebig sind. In den von mir oben angeführten Textpassagen zur Unvollendeten gibt es feine Unterschiede in den Beschreibungen der Expressivität der Musik, ohne dass deswegen die Beschreibungen in einen deutlichen Widerspruch zueinander gerieten. Terminologisch möchte ich im Folgenden so verfahren, dass ich wieder auf meine ursprüngliche Formulierung zurückkommen werde, die inklusiv aufzufassen ist. Ich werde davon sprechen, dass Musik affektive Zustände ausdrückt. Die weitere Erörterung der Eigenschaften von Emotionen werde ich bisweilen um die Perspektive auf Stimmungen (oder auf das ganze Kontinuum affektiver Zustände) erweitern. Emotionen sind nicht nur, wie Heidegger darlegt, nach außen gerichtet. 124 Sie verfügen neben dem »Wovor« über ein weiteres Strukturmoment, das sie mit Stimmungen teilen. Heidegger spricht vom »Worum« der Emotionen. Emotionen sind rekursiv, das heißt auch nach innen gerichtet – somit also doppelt intentional. Wenn wir uns fürchten, zeigen wir uns als Gefährdete. In dem Augenblick wird eine basale Eigenschaft des menschlichen Daseins manifest. Das menschliche Dasein ist das gefährdete Sein. Es ließen sich weitere solche Eigenschaften bestimmen. Heidegger allerdings lässt sich nicht auf das Vorhaben ein, diese existentiellen Eigenschaften des menschlichen Daseins vollständig aufzulisten. 125 So ist das menschliche Dasein etwa nicht nur das gefährdete, sondern auch das zur Freude, zur Wut oder Empörung fähige. Diese Fähigkeiten tragen wir ständig mit uns. Wir sind ständig zu dem entsprechenden Set von Stimmungen oder Emotionen disponiert. Sie werden dann aktualisiert, wenn uns inhaltliche Objekte begegnen, die zu ihnen passen. (Daher ist es auch wie in dem oben erwähnten Beispiel denkbar, »aus heiterem Himmel« wütend zu werden.)

124 Maßgeblich ist hier wieder SuZ, § 30. Auf das dritte von Heidegger identifizierte Strukturmoment von Emotionen gehe ich im folgenden Abschnitt ein. 125 Es wäre bei dem Vorhaben zwischen kulturübergreifend und kulturrelativ vorhandenen Eigenschaften zu unterscheiden.

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1.2.3.2. Phänomenalität In den 1960er, 70er und 80er Jahren dominierten Urteilstheorien die emotionsphilosophische Debatte, namentlich vertreten durch Kenny, Lyons und R. C. Solomon, wobei R. C. Solomon, wie bereits dargelegt, seine Position im Laufe der Jahre modifiziert hat. Kenny, Lyons und der frühe R. C. Solomon behaupten im Kern, dass die Gerichtetheit von Emotionen an Urteilen festgemacht werden kann, die das Zentrum von Emotionen bildeten. Gefühle seien in den urteilstheoretischen Ansätzen lediglich ein kontingentes Beiwerk von Emotionen. Michael Stocker hat in seinem 1983 erschienenen Aufsatz Psychic Feelings: Their Importance and Irreducibility entscheidend zu einer Wende in der Debatte beigetragen. 126 Stocker argumentiert, dass eine besondere Art von Gefühlen das notwendige Zentrum von Emotionen (und auch von Stimmungen) darstelle, nämlich »psychic feelings«. Um seine These zu untermauern, bringt Stocker folgendes Beispiel: 127 Eine Eisforscherin ist sich der Gefahr eines Sturzes bewusst, über eine eisige Stelle zu gehen. Sie weiß, dass sie hinfallen könnte. Sie rutscht tatsächlich aus. Nach dem Sturz weiß sie nicht nur, dass die eisige Stelle gefährlich ist, sondern sie fürchtet sich von nun an vor eisigen Stellen. Vor und nach dem Sturz bewertet sie die Situation als gefährlich. Jedoch hat sie die angemessene Emotion erst nach dem Sturz. Was hat sich an ihrer Bewertung der Situation geändert? Von nun an fühlt sie die Gefahr. Die Gefahr, die Bedeutung der Situation für ihr Dasein, ist ihr insofern intensiver bewusst, als sie sie von nun an spürt als Schmerz in Vereinigung mit der Bewertung. Die Vereinigung von Bewertung einer Situation und Gefühl bildet das Zentrum von Emotionen (und affektiven Zuständen). Die beiden Teile machen Emotionen gleichursprünglich aus. 128 Daher prägt 126 Vgl. Stocker 1983. Die Entwicklung der Emotionsphilosophie verläuft parallel zur Emotionspsychologie. In der Emotionspsychologie wurden in den 80er Jahren mehr und mehr Zweifel an den Experimenten von Stanley Schachter und Jerome E. Singer laut, wonach Kognitionen allein den Kern von Emotionen ausmachten. Vgl. Schachter/Singer 1962. Es könnte gesagt werden, dass nach den Experimenten das Affektive emotionaler Zustände vorübergehend vergessen ging. Für die Rückkehr des Affektiven in die Diskussion der philosophy of mind hat sich insbesondere Robert B. Zajonc eingesetzt, dem Richard S. Lazarus umgehend widersprochen hat. Vgl. Zajonc 1980, Zajonc 1984 und Lazarus 1984. Vgl. zu der Debatte zwischen Zajonc und Lazarus Prinz 2004, S. 33–41. 127 Vgl. Stocker 1983, S. 20 f. 128 Vgl. Slaby 2008, S. 125.

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Stocker den Begriff der »psychic feelings«. Peter Goldie redet später von »feelings toward«, Bennett Helm von »felt evaluations«. 129 Emotionen sind – das ist die Einsicht aus dem Beispiel von Stocker – nicht mit kaltblütigen Urteilen gleichzusetzen, auch nicht mit kaltblütigen Urteilen, die Gefühle auslösen, obschon sie wie Urteile propositional artikulierbar sind. 130 Gleichzeitig jedoch wollen Stocker, Goldie und Helm auch einen Rückfall in eine Position vermeiden, wie sie Urteilstheorien vorangegangen ist und üblicherweise William James zugerechnet wird. James identifiziert Emotionen in seinem berühmten Aufsatz mit Körpergefühlen, die auf Wahrnehmungen von Veränderungen in unserer Umwelt folgen. 131 Bildlich gesprochen ergeben sich Emotionen im Sinne von James aus dem »Ablesen« innerlicher, teilweise aber auch äußerlich erkennbarer (zum Beispiel als Weinen, Zittern oder Schwitzen) physiologischer »Zählerstände«. Gefühle fühlen sich gut oder schlecht an, und sie weisen verschiedene Grade an Intensität auf. Bei affektiven Zuständen treten die Gefühle aber als weltgerichtete Evaluationen auf, die, wie im vorherigen Abschnitt dargelegt, rückbezogen auf Grundkonstituenten unseres Daseins sind, zum Beispiel auf unsere Gefährdung. Bei affektiven Zuständen vereinigen sich Körper und Geist. Anzumerken ist, dass eine affektive Schicht, eine affektive Grundierung sämtliche unsere Evaluationen begleitet. Deswegen ist der von mir eben zur Konturierung des Unterschiedes von Emotionen und Urteilen verwendete Begriff der kaltblütigen Urteile nicht misszuverstehen. Denn auch kaltblütige Urteile treffen wir vor dem Hintergrund von Stimmungen, wobei wir uns bei kaltblütigen Urteilen bestenfalls in so etwas wie einer »neutralen« Stimmung befinden. Proponenten von Urteilstheorien, in denen Gefühle nur als Beiwerk von Emotionen betrachtet werden, tendieren dazu, die Dauerpräsenz einer affektiven Schicht im menschlichen Dasein zu unterschlagen. 132 Eine Verdichtung der Stimmung auf eine Gegebenheit kann ein kaltblütiges Urteil in eine Emotion verwandeln. Die Unterscheidung von kaltblütigen Urteilen Vgl. Goldie 2000, insbesondere S. 50–83, und Helm 2002, insbesondere S. 15–20. Für meine Zwecke sind die Unterschiede zwischen den Positionen von Stocker, Goldie und Helm vernachlässigbar. 130 Vgl. oben FN 110 und 111. 131 Vgl. WiaE. Vgl. jedoch zur Lektüre von James oben FN 112. 132 Vgl. Stocker 1983, S. 18. Möglicherweise wird die Schicht in pathologischen Zuständen vollständig unterdrückt oder überhöht. Ob solche Zustände aber dauerhaft sein können, scheint mir schwer vorstellbar. 129

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und Emotionen ist, ebenso wie diejenige von Körper und Geist, somit eine graduelle, keine kategoriale. Darauf werde ich im folgenden Abschnitt zurückkommen. Affektive Zustände sind uns bewusst, und zwar auf erster Ebene. Über die Zeitspanne ihrer Aktualisierung spüren wir sie. Von dem Bewusstsein auf erster Ebene ist ein Bewusstsein auf zweiter Ebene, ein reflexives Bewusstsein affektiver Zustände zu unterscheiden. Ein Bewusstsein auf zweiter Ebene affektiver Zustände haben wir dann, wenn wir uns der Tatsache bewusst sind, dass wir uns in einem emotionalen oder gestimmten Zustand befinden oder befunden haben. Im Beispiel der Furcht vor eisigen Passagen: Ein Bewusstsein auf erster Ebene habe ich dann, wenn mir die Gefahr des blanken Eises spürbar gewahr wird. Ein Bewusstsein auf zweiter Ebene habe ich dann, wenn mir bewusst wird, dass mir die Gefahr des blanken Eises spürbar gewahr ist (oder war). Jean-Paul Sartre unterstreicht, dass uns Emotionen (und Stimmungen) auf erster Ebene gewahr sind. Emotionen oder Stimmungen erlebten wir nicht reflexiv, und reflexives Bewusstsein sei keine notwendige Bedingung von emotionalen oder gestimmten Zuständen. 133 Wir können sie aber in vielen Fällen auf zweiter Stufe reflektieren. Dies ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass wir affektiven Zuständen nicht bloß passiv ausgesetzt sind, sondern dass wir uns ihnen gegenüber verhalten und unseren affektiven Haushalt gestalten und entwickeln können. Als Menschen müssen wir uns ihnen gegenüber verhalten. Inwiefern expressive Musik zu einem gelingenden Umgang mit unserer Affektivität beitragen kann und insofern wertvoll ist, bildet Gegenstand meiner Erörterungen im fünften Kapitel, insbesondere in Abschnitt 5.3. 1.2.3.3. Opazität (der dunkle Kern) Affektive Zustände verschwinden nicht immer plötzlich, wenn sich herausstellt, dass sie unangemessen sind. Beispielsweise verspüren viele Menschen Flugangst, auch nachdem sie darüber aufgeklärt worden sind, dass es statistisch gesehen sicherer ist, von A nach B zu fliegen, als eine Straße auf dem Fußgängerstreifen zu überqueren. Sie fühlen sich schlecht auf ihrem Flugsitz, obschon sie über das kaltblütige Urteil verfügen, dass die Unangemessenheit ihrer Emotion der Angst aufweist. Sie fühlen sich meist auch dann noch schlecht, 133

Vgl. Sartre 1938, S. 69–117. Vgl. dazu auch Goldie 2000, S. 62–72.

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wenn ihnen die Gründe für das kaltblütige Urteil im Detail bekannt sind. Es entspricht unserer alltäglichen Erfahrung, dass Emotionen bisweilen wider besseres Wissen persistierende gefühlte Evaluationen sind. 134 Wie kann dies verständlich gemacht werden? Der kausale Prozess, aus dem die Evaluationen im Falle von affektiven Zuständen folgen, entzieht sich unserem Bewusstsein. Wir haben keinen bewussten Zugang zu den einzelnen Schritten, die letztlich zu der Evaluation führen, und auch keinen unmittelbaren Einfluss auf sie. Die Schritte sind nicht transparent. An Emotionen oder Stimmungen sind vielmehr vorbewusste physiologische Prozesse beteiligt. LeDoux schreibt dazu: »Emotional responses are, for the most part, generated unconsciously. Freud was right on the mark when he described consciousness as the tip of the mental iceberg.« 135 David Pugmire formuliert: »the deep processes necessary to the emotions and their surface eruptions – the tectonics and magma, so to speak – are – as remote from experience or reflection as can be.« 136 Demmerling und Landweer betonen die Passivität von Emotionen und Stimmungen: »Akute Gefühle sind Widerfahrnisse in dem Sinne, dass sie uns ohne unser Zutun leiblich ergreifen.« 137 Die Opazität affektiver Zustände steht im Gegensatz zur weitgehenden Durchsichtigkeit von kaltblütigen Urteilen. Angenommen, um das Flugangst-Beispiel wieder aufzunehmen, wir hätten einen guten Grund für ein kaltblütiges Urteil, wonach Fliegen gefährlich sei, etwa, weil bekannt wurde, dass in Flugzeugen Batterien eingebaut worden seien, die leicht entzündlich und explosiv sind. Danach würden wir informiert, dass sämtliche Flugzeuge, in denen der gefährliche Batterietypus eingebaut worden sei, aus dem Verkehr gezogen worden seien. Nach dieser neuen Information würden wir die Prämissen unseres kaltblütigen Urteiles anpassen und zu einer anderen Schlussfolgerung gelangen. Wir revidierten angesichts der neuen Information unser Urteil. Ansonsten wäre es kein kaltblütiges Urteil, oder wir begingen einen offensichtlichen Denkfehler. Bei emotionaler Mit Slaby und wider Döring fasse ich solche konfliktären Situationen nicht als widerspruchsfrei auf. Wenn kaltblütige Urteile unseren gefühlten Evaluationen widersprechen und wir uns dessen gewahr sind, dann befinden wir uns in einer inneren Spannung, deren Auflösung sich verzögert. Vgl. Döring 2009a, und Slaby 2008, S. 255 f. 135 LeDoux 1998, S. 17. 136 Pugmire 2006, S. 15. 137 Demmerling/Landweer 2007, S. 31. 134

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Flugangst fällt uns die Revision der gefühlten Evaluation deswegen schwerer, weil uns ihre Herleitung nicht transparent ist. Wir können nur darüber spekulieren, weswegen wir jedes Mal im Flugzeug wider besseres Wissen Angst verspüren. Einem Einwand gegen die Opazität von Emotionen möchte ich begegnen: Es könnte schlicht behauptet werden, die Gründe gefühlter Evaluationen seien uns in der Regel durchaus bewusst. Zum Beispiel sei uns doch klar, dass die Wut in der U-Bahn aus der Tatsache folge, dass wir angerempelt worden seien und wir ein solches Verhalten nicht akzeptierten. Ebenso seien uns die Überlegungen, die in der Sitzung unsere Empörung herbeiführten, durchaus bewusst. Dies trifft freilich, so meine Erwiderung, in beiden Fällen zu. Jedoch sind die Überlegungen und Gründe, die uns gewahr sind, nicht der entscheidende kausale Auslöser für die aktuell gefühlten Evaluationen. Sie wären zwar für die entsprechenden kaltblütigen Urteile hinreichend. Eine gefühlte Evaluation drängt sich uns hingegen auf. Im Sitzungsbeispiel fällt uns das persönlich verletzende Moment der Voten auf, es geht uns vielleicht durch den Kopf, wie aggressiv im Tonfall die Mitarbeiterin attackiert wird. Und unvermittelt, ohne für uns Schritt für Schritt eine Konklusion hergeleitet zu haben, spüren wir schmerzvoll, dass die Mitarbeiterin nicht gerecht behandelt wird. 138 In dem Augenblick liegt uns die Evaluation, als plötzliche Summe, gefühlt vor. Weshalb die Emotion gerade in dem Moment auftritt, bleibt uns verborgen. Auch im Beispiel der U-Bahn folgt unsere Emotion nicht aus zu einer Konklusion geführten, wohlbedachten Urteilen. Die gefühlte Evaluation ist uns sofort gegenwärtig. Die ihr zugrunde liegenden Mechanismen bleiben uns dabei dunkel. (Auch hier gilt: Wir können darüber nachdenken, ob die Emotion überhaupt der Situation oder dem Sachverhalt angemessen ist, und im Nachhinein über die ihr zugrunde liegenden Mechanismen spekulieren.) Die Opazitätseigenschaft von Emotionen hat methodologische Implikationen. Denn was, wie etwa der dunkle Kern von Emotionen, uns nicht bewusst – nicht einmal auf der ersten Stufe unseres Bewusstseins – zugänglich ist, kann nur beschränkt mit begriffsanalyti-

138 Auch Prinz vergleicht Emotionen mit Konklusionen von Argumenten. Er vertritt die These, wir seien für die Prämissen einer Emotion verantwortlich. Das bestreite ich – mit Pugmire. Der Kern von Emotionen bleibt für uns dunkel. Vgl. Prinz 2004, S. 237–240, und Pugmire 2006, S. 19 f.

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schen oder phänomenologischen Mitteln erforscht werden. 139 Allerdings können die opaken Prozesse empirisch untersucht werden. Darob darf aber nicht vergessen werden, dass menschliche Emotionen, auch wenn ihr Zustandekommen aus der Perspektive der ersten Person intransparent ist, immer in einem normativen Kontext stehen und gestellt werden. Im Sitzungsbeispiel spielen etwa unsere normativen Erwartungen eines angemessenen Umgangs untereinander eine wesentliche Rolle. Außerdem steht die Angemessenheit, wie von mir wiederholt unterstrichen, von Emotionen ex post zur Diskussion – und dann stehen normative Erwägungen im Mittelpunkt, neben der Frage, ob die relevanten deskriptiven Momente einer Situation oder eines Sachverhaltes korrekt und vollständig wahrgenommen wurden. 140 Deswegen beschäftigen Emotionen (und Stimmungen) Menschen in einer anderen Weise als Tiere. Menschen reflektieren sie, zwar nicht in jedem Einzelfall, aber doch häufig. Obschon der dunkle Kern von Emotionen (und Stimmungen) mit einer Methodologie zu erforschen ist, die üblicherweise den Naturwissenschaften zugeschrieben wird, gehe ich à la McDowell davon aus, dass auch normative Aspekte zur Natur der Affektivität des Menschen gehören. 141 Von einem allzu engen Naturbegriff ist abzusehen. 1.2.3.4. Existentialität Emotionen üben eine starke motivationale Kraft auf uns aus, und zwar wegen ihrer spezifischen Phänomenalität, die hedonische Strukturmomente umfasst. Weil es sich schlecht anfühlt, sich vor etwas zu fürchten, flüchten oder erstarren wir. Im Falle der Empörung im Sitzungsbeispiel motiviert uns dabei die Emotion nicht nur insofern, als sie uns prima facie Gründe zu Handlungen offenbart, 142 sondern eben maßgeblich auch deswegen, weil sich die Empörung schlecht anfühlt und wir uns ihrer möglichst rasch und effektiv entledigen 139 Das heißt nicht, dass sie philosophisch nicht behandelt werden können. Vgl. Williamson 2007, S. 1–10. Die Emotionsphilosophie von Prinz orientiert sich vor allem an empirischen Befunden. Vgl. Prinz 2004. Auch Jenefer Robinson integriert in ihrem hybriden Ansatz zahlreiche naturwissenschaftliche Studien. Im ersten Teil ihrer Arbeit rekapituliert sie den Stand der empirischen Emotionsforschung. Vgl. Robinson 2005, S. 1–100. 140 Vgl. R. C. Solomon 2007, S. 230 f. 141 Vgl. McDowell 1996, S. 66–107. 142 Vgl. oben FN 110.

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wollen. Gelangten wir nur zu demselben »kaltblütigen« Urteil, wonach die Behandlung der Mitarbeiterin im Sitzungsbeispiel Empörung verdiente, so würden wir nicht denselben inneren Drang zu einer Handlung verspüren. Stimmungen oder Emotionen können uns nicht nur zu Handlungen drängen, sondern uns auch lähmen, wie etwa bei einer Depression. Als Menschen können wir uns von unserer Affektivität reflexiv distanzieren. Allerdings ist eine vollständige Distanzierung von unseren Stimmungen oder Emotionen nicht nur kaum vorstellbar, sie wäre auch als pathologisch anzusehen. 143 Denn Stimmungen und Emotionen zeigen uns an, worüber wir uns sorgen, was uns als individuellen Personen wichtig ist oder wenigstens momentan wichtig erscheint. Gleichzeitig prägen uns Stimmungen oder Emotionen dadurch, dass sie mit Lust oder Schmerzen verbunden sind, an die wir uns bei einschneidenden Ereignissen erinnern und denen wir bei unseren zukünftigen Urteilen Rechnung tragen. Eine vollständige Loslösung von Stimmungen oder Emotionen würde uns von uns selbst abtrennen, genauso wie ein blindes Nachgeben gegenüber allen affektiven Impulsen. Stimmungen oder Emotionen sind als existentielle Schicht in sämtlichen unseren Urteilen präsent. Wir kommen nicht zu konklusiven Urteilen ohne Stimmungen oder Emotionen. 144 Auch in einem noch so kaltblütigen Urteil sind affektive Elemente vorhanden. Daher sind buchstäbliche Urteilstheorien, wie sie etwa der frühe R. C. Solomon formuliert, zirkulär. Ich möchte dies an einer Variation des Sitzungsbeispiels illustrieren: Uns erscheint auffällig, wie die Mitarbeiterin behandelt wird. Immer mehr Beweismaterial sammelt sich an, das unsere Empörung begründen würde. Jedes einzelne Votum untersuchen wir unter dem Gesichtspunkt, ob es subtil abwertende Komponenten enthält. Trotzdem gelangen wir nicht zum kaltblütigen Urteil, dass der Umgang mit der Mitarbeiterin Empörung verdiente. Dies deswegen, weil wir auch beginnen, Argumente zu prüfen, die gegen das Urteil sprechen. Es könnten zum Beispiel Zweifel aufkommen, ob die Voten der Teilnehmer nicht doch gut gemeint sein könn143 Menschen mit einer durch eine Schädigung weitgehend außer Kraft gesetzten Affektivität sind kaum mehr sozial überlebensfähig, wie aus Antonio R. Damasios Schilderungen der Schicksale von Phineas Gage und des Patienten Elliot ersichtlich wird. Vgl. Damasio 1995, S. 30–34 und S. 64–70. 144 Vgl. Helm 2002, S. 16, und Ellsworth 1994a, S. 192 f. Vgl. zum framing durch Emotionen de Sousa 1987, insbesondere S. 192–196.

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ten, ob ich als Urteilender sie vielleicht missverstehe oder ihre Hintergründe nicht kenne. In dieser Weise würden wir nie zu einem Urteil gelangen und uns in Einzelheiten verlieren, auch wenn diese womöglich relevant sind. Weil wir immer unter einer Knappheit an Zeit und Energie zu urteilen haben, kämen wir nie zu Konklusionen oder Entscheidungen ohne den Einfluss von Stimmungen oder Emotionen. Es drohte ein ewiges Zaudern. Bei einer emotionalen Reaktion auf die Situation in der Sitzung drängt sich uns die Empörung hingegen plötzlich auf. Aber auch ein kaltblütiges Urteil setzt ein affektives Moment voraus, das uns irgendwann zu einer Konklusion treibt. Jedoch folgt ein kaltblütiges Urteil aus einer vertieften Auseinandersetzung mit der Situation. Beim kaltblütigen Urteil werden im besten Fall mehr Aspekte oder Optionen bedacht, mehr Einwände als bei einer schnellen Reaktion berücksichtigt. Der Unterschied zwischen der plötzlichen Emotion und dem kaltblütigen Urteil ist aber graduell, wie schon erwähnt. Denn ein Urteil all things considered stellt eine praktische Utopie dar. 145 Stimmungen bilden den Rahmen, in dem wir die Welt auf uns bezogen bewerten. Dieser Rahmen verengt sich bei einer Emotion. Die Existentialität von Emotionen kann mit Bezug auf das Bild des Rahmens verdeutlicht werden. Bei Entscheidungen stehen wir einer Vielzahl von Optionen gegenüber, die durch unser Nachdenken eher unübersichtlicher und erweitert wird, wie eben am Sitzungsbeispiel gezeigt. Unser Leben wird insofern von Emotionen und Stimmungen bestimmt, als sie uns Handlungsoptionen vorenthalten. 146 Dadurch garantieren sie aber erst unsere Handlungsfähigkeit, weil wir sonst 145 Wir streben in der Regel nach Urteilen all things considered, wenn wir Probleme philosophisch betrachten. Michael Williams weist, ausgehend von Gedanken David Humes, darauf hin, dass sich klassische erkenntnistheoretische skeptische Aporien genau aus dieser Haltung der umfassenden Reflexion, der »methodologischen Reinheit« ergeben. Die philosophische Haltung nehmen wir dann ein, wenn wir uns von unserem Selbst vollständig loslösen, um den Preis (oder, wie es etwa ein Pyrrhonischer Skeptiker sehen würde, den Ertrag) des möglichen Nichtwissens. Vgl. M. Williams 1996, insbesondere S. 181–185. In der Philosophie werden berechtigt höhere Standards des Verstehens vorausgesetzt als im Alltag. Absolut sind die Standards allerdings nicht. Die Utopie eines absoluten view from nowhere zeigt sich unter anderem darin, dass jede philosophische Theorie fragil und angreifbar ist. 146 Nach Richard J. Davidson beeinträchtigen Emotionen unser Handeln, Stimmungen unser Denken. Vgl. R. Davidson 1994, S. 52 f. William N. Morris beleuchtet den Einfluss von Stimmungen auf unser Erinnerungsvermögen und unsere Wahrnehmung. Vgl. W. N. Morris 1989, S. 71–99.

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Mögliche Gründe des Zusammenhangs zwischen Musik und Emotionen

vor der Fülle von möglichen Handlungsalternativen verzagten. 147 Allerdings kann es sich für uns bisweilen auch lohnen, uns dem framing durch Emotionen und Stimmungen gewahr zu werden und daraus auszubrechen. Doch auch dann gilt: Den letzten Schub zu unseren Entscheidungen und Handlungen geben uns affektive Zustände, beispielsweise eine tatkräftige Stimmung. 148

1.3. Mögliche Gründe des Zusammenhangs zwischen Musik und Emotionen 1.3.1. Ausdruck und Ähnlichkeit von Konturen Auch musikalische Werke können als Mittel des Ausdrucks verwendet werden. 149 Jedoch stehen sie nicht allen zur Verfügung, sondern nur schöpfenden (oder entdeckenden) Musikern, etwa Komponisten. Es könnte gesagt werden, dass sich beispielsweise Komponisten erweiterte Möglichkeiten des eigenen Ausdrucks schaffen. Sie können sich nicht nur leiblich oder verbal ausdrücken, sondern auch musikalisch. Musikalische Werke ließen sich so als künstliche Körper zum Ausdruck von Gefühlen auffassen. Theoretiker könnten soweit gehen, musikalische Expressivität als Ausdruck der Emotionen (und Stimmungen) von Komponisten zu explizieren. Gemäß einem solchen Ansatz würden wir musikalischen Werken etwa affektive Zustände zuschreiben, wenn sie zum Ausdruck der Emotionen von Vgl. Damasio 1995, S. 233–240, und Voss 2004, S. 25–27. Vgl. zur Stimmung der Tatkraft Shusterman 2013. Shusterman erörtert in dem Aufsatz den Zusammenhang von Gestimmtheit und philosophischen Strömungen. Während gemeinhin die depressive Stimmung mit dem Philosophieren in Verbindung gebracht werde, setzte demgegenüber etwa der Pragmatismus vielmehr die Stimmung der Tatkraft voraus, namentlich James. Dabei gehen Proponenten des Pragmatismus, ähnlich wie Damasio, davon aus, dass Urteile als innere Handlungen aufzufassen seien und somit Stimmungen auch solche Handlungen maßgeblich beeinträchtigten. Vgl. Shusterman 2013, S. 656. Freilich scheint eine, insbesondere starke, depressive Stimmung lähmend und philosophisch nicht produktiv. Dennoch bin ich skeptisch, ob die Stimmung der Tatkraft der Philosophie ausschließlich förderlich ist und nicht auch zu einem kompensatorischen Aktivismus, einer Art philosophischer Flucht nach vorne führt. Denn immerhin kann uns die depressive Stimmung, in moderater Ausprägung, vor der tiefsten und am weitesten verbreiteten menschlichen Denkschwäche, das heißt dem Wunschdenken, feien. 149 In der vorliegenden Untersuchung sind die Begriffe Ausdruck und Expressivität auseinanderzuhalten. Vgl. mein Abschnitt 1.1.1. 147 148

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Musik und Emotionen

Komponisten eingesetzt werden. Aus zwei Gründen sollte aber ein solcher Ansatz nicht weiter verfolgt werden: Einerseits ist die Beziehung von Ausdruck und Expressivität lediglich kontingent. Weder schreibt ein trauriger Komponist notwendigerweise traurige Musik, noch lässt ein trauriges Musikstück auf die Traurigkeit seines Komponisten schließen. Dies veranschaulichen unter anderem Zeugnisse von Komponisten selbst. 150 Andererseits wird in einem solchen Ansatz nicht erhellt, was ein musikalisches Werk formal zu einem expressiven Werk macht. Das heißt, im Ansatz bleibt unberücksichtigt, dass Expressivität sich in ihrer groben Bestimmtheit in der Form eines Werks niederschlägt und dort entsprechend auch empirisch nachgewiesen werden kann. Eine wie eben angedeutete Ausdruckstheorie musikalischer Expressivität sagt nichts darüber aus, inwiefern affektive Zustände von Komponisten musikalische Strukturen und Prozesse beeinträchtigen. Genau das ist aber von einer Explikation musikalischer Expressivität zu erwarten. Musikalische Werke können Ausdruck von Emotionen oder Stimmungen von Komponisten sein. Zum Beispiel bringt Steinbeck in seiner Analyse zur Unvollendeten die Expressivität des ersten Satzes mit einem biografischen Text des Komponisten in Verbindung. 151 Wofür ich in diesem Abschnitt eintrete, ist nicht, dass Erläuterungen wie diejenige von Steinbeck unterlassen, sondern dass vielmehr zwei Fragen voneinander unterschieden werden sollten, nämlich zum einen die Frage nach der Expressivität musikalischer Werke (expressive Eigenschaften als tertiäre Eigenschaften, die in den Werken, in musikalischen Strukturen und Prozessen nachgewiesen werden können, unter Berücksichtigung eines Kontextes anderer Werke absoluter Musik), zum anderen die Frage, wie die Expressivität eines musikalischen Werkes weiter interpretiert werden kann (etwa als Ausdruck von Emotionen und Stimmungen des Komponisten, oder als allgemeiner Ausdruck von Emotionen und Stimmungen einer bestimmten historischen Epoche – dabei geht es um die Frage, welche quartären Eigenschaften einem Werk absoluter Musik zugeschrieben werden könnten). 152 150 Vgl. S. Davies 2001, S. 184. Alan Tormey betont, dass Expressivität in Eigenschaften des Kunstwerks festzumachen seien, nicht in einem bloßen Bezug auf die Autobiografie von Künstlern. Vgl. Tormey 1971, S. 101–105. 151 Vgl. Steinbeck 1997, S. 635 f. 152 Aus dem Text Steinbecks wird nicht ganz klar, wie er Zuschreibungen expressiver Prädikate zu Schuberts Unvollendeter begründet. Seine analytischen Befunde bezieht

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Mögliche Gründe des Zusammenhangs zwischen Musik und Emotionen

Ein ausdruckstheoretischer Ansatz, wie ich ihn eben skizziert und kritisiert habe, wird in einer solch dürren Variante von keinem Theoretiker vertreten. Nach Robin George Collingwood zum Beispiel haben Künstler die Fertigkeit, ihre eigenen Emotionen und Stimmungen mittels Kunstwerken besonders nuanciert auszudrücken (im Sinne von Ausdruck). 153 Dem Ausdruck von Emotionen kommt dabei eine lösende und befreiende Funktion zu: »If [anger; S. Z.] is expressed, for example by putting it into hot and bitter words, it does not disappear from the mind; we remain angry; but instead of the sense of oppression which accompanies an emotion of anger not yet recognized as such, we have that sense of alleviation which comes when we are conscious of it only as an unidentified perturbation. This is what we refer to when we say that it ›does us good‹ to express our emotions.« 154

Wenn Collingwood hier von Bewusstsein spricht, so meint er ein Bewusstsein zweiter Ordnung. Emotionen erleben wir zwar im Alltag bewusst, aber häufig nicht reflexiv bewusst. Collingwood spricht in dem obigen Zitat gar von einer »Unterdrückung«, eben weil wir sie kognitiv weder greifen noch reflektieren könnten. Erst wenn wir sie ausdrückten, würden sie uns auf zweiter Stufe bewusst. Guy Sircello und Alan Tormey haben in ihren Analysen Mehrdeutigkeiten des Begriffs des Ausdrucks herausgearbeitet: 155 So würden wir zum Beispiel auch von Ausdruck sprechen, wenn ein Gesichtszug eines Tieres oder die Gestalt einer Naturlandschaft an unsere Gestik oder Mimik erinnere, das heißt ihr ähnlich sei. Der Unterschied zwischen den beiden Verwendungsweisen des Begriffs liege darin, dass im einen Fall von der äußerlichen Manifestation auf den inneren Zustand geschlossen werden könne (erste Bedeutung des Ausdrucksbegriffs), im anderen nicht (zweite Bedeutung des Ausdrucksbegriffs). Eine Naturlandschaft, die etwa traurige Züge aufweise, befinde sich nicht in einem traurigen Zustand. Die Konturtheorien musikalischer Expressivität von S. Davies und Kivy bauen auf dieser Unterscheidung auf und umgehen damit er nicht explizit auf die Expressivität des Stückes. Ebenso wenig leitet er die Expressivität unmittelbar aus biografischen Ereignissen her. Die einzelnen Teile seiner Untersuchung (biografische Informationen, expressive Charakterisierungen, Analyse) bleiben eigenartig unvernetzt. Die Unterscheidung zwischen tertiären und quartären Eigenschaften musikalischer Werke führe ich in Abschnitt 2.1. ein. 153 Vgl. Collingwood 1938, S. 119. 154 Collingwood 1938, S. 110. 155 Vgl. Sircello 1972, S. 10–12, und Tormey 1971, insbesondere S. 39–43.

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den eben erörterten Kontingenzeinwand wider Ausdruckstheorien. 156 S. Davies und Kivy behaupten, dass Musik Verlaufsgestalten, Konturen enthalte, die Zügen menschlichen Ausdrucks wie zum Beispiel unserer Mimik, Gestik oder unseren Bewegungen ähnelten. Nähmen wir diese Ähnlichkeit wahr, so könnten wir die Expressivität eines musikalischen Werks erkennen, ohne dass dabei über Emotionen oder Stimmungen des Komponisten spekuliert werden müsste. Auf die Unterschiede zwischen den Ansätzen von S. Davies und Kivy gehe ich hier nicht ein, ebenso wenig auf das insbesondere von Kivy hinzugefügte Theorieelement der konventionalen Expressivität. 157 Ein möglicher Einwand gegen die Ähnlichkeitstheorie lautet, der Begriff Ähnlichkeit sei vage. Dem ließe sich jedoch entgegnen, dass wir evolutionsbiologisch dazu disponiert seien, bestimmte Ähnlichkeitsrelationen gezielt in unserer Wahrnehmung herauszufiltern, das heißt, dass wir dazu disponiert seien, musikalische Werke als Lebewesen aufzufassen, deren Konturen Ausdruckskonturen entsprechen. Ob diese Hypothese empirisch gestützt werden kann, scheint mir fragwürdig, insbesondere dann, wenn sie sich nicht nur auf intramediale Ähnlichkeiten (Ähnlichkeiten zwischen dem menschlichen Tonfall und musikalischen Klängen), sondern auch auf intermediale Ähnlichkeiten beziehen soll. 158 Darüber hinaus ist unklar, wie unzählige expressiv insignifikante Konturen (insbesondere häufig vorkommende Konturen wie etwa ab- und aufsteigende melodische Linien) von signifikanten geschieden werden sollen. 159 In meinem Abschnitt 2.2.2.2. greife ich meine Kritik der Konturtheorie wieder auf und interpretie156 Vgl. S. Davies 2001, S. 228–240, und Kivy 1989, S. 2–83. Die beiden Ansätze sind zeitgleich 1980 entstanden (Kivys The Corded Shell, enthalten in Kivy 1989, wurde damals publiziert, wie auch S. Davies 1980). Inzwischen hat Kivy sich von seinem eigenen Ansatz distanziert. Für ihn ist die Expressivität absoluter Musik eine »black box«, die er nicht explizieren könne. Vgl. Kivy 2006, S. 300 f. James O. Young versucht hingegen in einem neueren Aufsatz, die Konturtheorie zu reanimieren mit dem Hinweis darauf, dass sie gestützt werde durch neueste Befunde empirischer Experimente. Vgl. Young 2012. 157 Vgl. zur konventionalen Expressivität mein Abschnitt 1.3.3. 158 Kivy hat seinen Animismus demgegenüber als einen »hard psychological fact« verteidigt. Vgl. Kivy 1989, S. 57 f. Vgl. dazu auch Levinson 1996b, 103 f. (Levinson vertritt eine Personentheorie musikalischer Expressivität.) Kivy selbst hat später philosophische Ansätze musikalischer Expressivität kritisiert, in denen auf empirische Studien zurückgegriffen wird. Vgl. Kivy 1990, S. 157. 159 Die meisten in Kivy 1989 angeführten Beispiele sind insofern suggestiv, als sie Begleittexte enthalten. Kivy wählt häufig Ausschnitte aus Opern.

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re sie als Theorie, in der expressive Eigenschaften auf quartärer Ebene verortet werden.

1.3.2. Evokation Umgangssprachlich wird der Begriff der Evokation bisweilen fälschlicherweise als Synonym für den Begriff des Ausdrucks verwendet. In der vorliegenden Untersuchung soll der Begriff so verstanden werden, dass darunter die Verursachung affektiver Zustände durch musikalische Werke fällt. Im Englischen ist dabei auch von arousal die Rede. In Evokationstheorien wird musikalische Expressivität mit der Möglichkeit erklärt, dass Musik den Zuhörer affektiv erregen könne und ihr expressiver Gehalt dadurch bestimmt werde. Indes sind verschiedene Arten von affektiver Erregung durch Musik zu unterscheiden. Emotionen können bei uns hervorgerufen werden, wenn wir Musik bewerten, etwa, wenn wir begeistert sind über den feingeistigen Kontrapunkt eines Sinfoniesatzes, oder etwa, wenn uns Musik an emotional prägende Situationen in unserem Leben erinnert und wenn wir dann unsere eigenen Emotionen auf die Musik projizieren. In meiner Untersuchung soll darum gehen, inwieweit Expressivität der (in einem bestimmten Kontext stehenden) Musik einbeschrieben ist, und inwieweit sie sich in ihren Strukturen und Prozessen niederschlägt und in ihnen nachgewiesen werden kann. 160 In dem von mir vorgeschlagenen Ansatz nimmt die Evokation affektiver Zustände beim Zuhörer eine zentrale Stellung ein. Auch wenn es nahe liegend erscheint, musikalische Expressivität mit dem Evokationsbegriff zu erhellen – insbesondere vor der Beobachtung, dass viele Menschen Musik offenbar schätzen, weil sie affektiv von ihr erregt werden –, so ist ein solcher Versuch einer Explikation prima facie nicht einleuchtend. Denn erstens scheint uns die Rezeption beispielsweise trauriger musikalischer Werke keinen Anlass für Traurigkeit zu geben. Vielmehr wäre es doch offensichtlich angemessen, uns über die Tatsache zu freuen, dass uns ein solches Werk zugänglich ist und wir es rezipieren können. Zweitens scheint zumindest erklärungsbedürftig, weswegen wir uns mit Musik beschäftigen sollten, die bei uns negative affektive Zustände verursacht. Drittens ist 160 Die hier nur kurz ausgeführten Arten von Expressivität diskutiere ich in Abschnitt 1.4. weiter.

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der Zusammenhang der Evokation ebenso kontingent wie derjenige des Ausdrucks. Nicht immer wird sich die Expressivität von Musik auf unsere eigenen Stimmungen und Emotionen auswirken, beispielsweise dann, wenn wir ein Werk unkonzentriert hören, oder wenn eine eigene Stimmung oder Emotion im Augenblick der Rezeption dermaßen ausgeprägt ist, dass wir für die musikalische Expressivität nicht empfänglich sind. Auf diese und weitere Einwände gegen evokationistische Explikationen musikalischer Expressivität wird zu antworten sein. Ich behandle die Evokation von Gefühlen durch Musik eingehend im dritten und vierten Kapitel.

1.3.3. Repräsentation Absolute Musik enthält nach meiner Definition keine außermusikalischen repräsentierenden Elemente wie etwa Text, Szene, Bild oder Film. Dennoch könnte behauptet werden, dass der Zusammenhang von Musik und Emotionen repräsentational sei, und zwar dann, wenn innermusikalische Elemente für affektive Zustände stünden. Deryck Cooke versucht in einer umfassenden Studie entsprechend an einer Fülle von Beispielen zu belegen, wie affektive »Konnotationen« von »Buchstaben« und von einem »Grundvokabular« abendländischer tonaler Musik zu dechiffrieren seien, von Intervallen, melodischen Fragmenten, Dynamik, Tempi und Rhythmen (etwa stehe die Durterz für Freude und Glück, die große Sexte für ein freudiges Sehnen, die Bewegung 1–3–5 in Dur für nachdrückliche Freude). 161 Proponenten einer reinen Repräsentationstheorie musikalischer Expressivität müssten dafür argumentieren, dass der Bezug musikalischer Elemente auf affektive Zustände ausschließlich arbiträr festgelegt sei, nämlich durch Stipulation und Gewöhnung. Kann der Bezug beispielsweise auf eine wie auch immer zu spezifizierende Ähnlichkeit 161 Vgl. Cooke 1959, S. 34–167. Auch Eero Tarasti führt die Expressivität auf musikalische Symbole zurück, deren Bedeutungen kontextrelativ zu dechiffrieren seien. Vgl. Tarasti 2002, S. 6 f., S. 29 und S. 31–39. Nach dem Ansatz Cookes weisen die musikalischen Elemente keine eindeutigen affektiven Bedeutungen auf. In Kombination mit anderen Elementen könne sich die Expressivität eines Einzelelementes wandeln. Zum Beispiel könne auch ein Stück in Moll, zum Beispiel die Badinerie in Johann Sebastian Bachs h-Moll-Suite BWV 1067, – allerdings »ernsthafte« – Freude ausdrücken. Allgemeingültige Regeln, wie sich musikalische Expressivität aus einer Kombinationen von Elementen ergibt, kann Cooke nicht ableiten. Vgl. Cooke 1959, S. 90–94.

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oder auf eine kausale Verbindung zurückgeführt werden, so droht der Repräsentationstheorie ein Rückfall in eine Ähnlichkeits- oder Evokationstheorie. 162 Wie ist es aber möglich, Elemente absoluter Musik mit einem affektiven Gehalt repräsentational aufzuladen, ohne in die genannten Positionen zurückzufallen? Werke absoluter Musik stehen nicht isoliert neben anderen musikalischen Werken. Die definitorische Trennung der beiden Arten von Werken ist zwar in der vorliegenden Untersuchung methodologisch geboten, aber sie lässt sich in der Praxis der Musikwelt nicht strikt aufrechterhalten. 163 Werke absoluter Musik sind immer auch eingebettet in einen Kontext von Werken, die außermusikalische Elemente umfassen. Dadurch etwa, dass rein musikalische Elemente systematisch an außermusikalische repräsentierende Elemente gekoppelt werden, namentlich an wortsprachliche Elemente oder Handlungen, die sich wiederum auf affektive Zustände beziehen, lassen sich »Konnotationen« im Sinne Cookes etablieren. 164 Für mich stehen drei Argumente im Vordergrund, die gegen eine reine Repräsentationstheorie als umfassende Explikation musikalischer Expressivität sprechen. (Dass wir bisweilen auf musikalische Symbole treffen und diese auch beim Hören interpretieren, bestreite ich nicht.) Erstens kann die Theorie nicht mit der Phänomenologie der musikalischen Erfahrung in Einklang gebracht werden. Auch wenn wir – wie gesagt – bisweilen so etwas wie musikalischen Symbolen begegnen, so erfahren wir Musik doch meistens nicht als Decodierung von Symbolen. Wir lesen Musik nicht, wenn wir sie uns 162 Einer reinen Repräsentationstheorie zufolge lässt sich musikalische Expressivität mit der affektiven Bedeutung von Symbolen, nicht von ikonischen oder indexikalischen Zeichen erklären. 163 Aus dem Punkt ergäbe sich eine direkte Möglichkeit, das Problem musikalischer Expressivität, wie ich es unten in meinem Abschnitt 1.5. entwickeln werde, aufzulösen. Es genügte nämlich der Nachweis, dass die Extension des Begriffes der absoluten Musik, wie ich ihn stipuliert habe (und wie er allgemein in der Diskussion um musikalische Expressivität meist unterstellt wird), leer sei. An dem Begriff wird aber mit guten Gründen festgehalten, und zwar deswegen, weil wir musikalische Werke häufig vor einer repräsentationalen Deutung als expressiv erleben und ihnen daher affektive Prädikate zuschreiben. Wir erleben sie als expressiv auf einer tertiären musikalischen Eigenschaftsebene. 164 Cookes eigener Ansatz ist dabei ambivalent. Einerseits weist er in seinen Beispielen auf Textkoppelungen hin. Andererseits argumentiert er oft auch rein musikalisch, vor allem mit der musikalisch evozierten Spannung oder Entspannung, die von expressiven Elementen ausgehe. Das »Konnotations«-Argument findet sich schon bei Marin Mersenne. Vgl. Beardsley 1966, S. 131 f.

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hörend erschließen. Vielleicht gibt es eine Art Leseerlebnis, wenn wir uns Musik im Partiturstudium aneignen. In dem Fall müssen wir die Noten entschlüsseln und uns eine Vorstellung eines Klangbildes erarbeiten, indem wir sie oder die einzelnen Noten und Stimmen aufeinander beziehen. Jedoch ist zwischen Partiturstudium und musikalischer Erfahrung in Echtzeit unter aktualer akustischer Stimulation zu unterscheiden. Zweitens fragt Rinderle zu Recht, ob eine Repräsentationstheorie den spezifischen Wert eines musikalischen Zeichensystems erklären kann, das heißt, ob es nicht einfach mit einem anderen Zeichensystem ersetzt werden könnte, das womöglich einen weit reichhaltigeren Zeichenvorrat aufweise. 165 Jedenfalls scheint die Möglichkeit eine bare Aneinanderreihung affektiver Symbole, wie sie in musikalischen Werken nach Cooke vorzufinden ist, kein sehr attraktives Zeichensystem auszumachen. Drittens halte ich mit Theodor W. Adorno den Gedanken, Musik als eine Sprache (der Gefühle) aufzufassen, für irreführend: 166 Freilich lassen sich einzelne Begriffe der Grammatik in der musikalischen Formenlehre wiederfinden (etwa »Satz« oder »Periode«). Und es könnte darauf hingewiesen werden, dass auch musikalische Werke von »logischen« Relationen geprägt seien. Doch die Begriffe der Grammatik, Syntax und Logik, auch wenn bloß metaphorisch verstanden, passen nicht zum Geschehen ästhetisch wertvoller Musik. Logische Gesetze gelten notwendig, das heißt in allen Welten. Demgegenüber würde uns ein musikalisches Werk schnell langweilen, dessen Verlauf stets einer allgemeingültigen Regel entspräche. Im dritten Kapitel der vorliegenden Untersuchung werde ich vorschlagen, Musik vorderhand als ein sich vorbewusst vollziehendes Spiel mit subpersonalen formalen Erwartungen zu charakterisieren. Das Spiel kann erst dann in Schwung kommen, wenn die Erwartungen, die sich zum Teil auch aus schematischen Regeln herleiten lassen, manchmal enttäuscht werden, wenn Vgl. Rinderle 2010, S. 72 f. Vgl. Adorno 1978b, S. 251. Für Adorno ist Musik sprachähnlich und mit der Logik verwandt. Meine Kritik schließt nicht aus, dass der Wahrnehmung von Musik und Sprache dieselben neurokognitiven Module zugrunde liegen können, und dass deshalb unsere Wahrnehmung von Musik mit derjenigen von Sprache in mancherlei Aspekten verwandt ist, wie Aniruddh D. Patel in seinem ausführlichen Überblick über die kognitionswissenschaftliche Forschung herausstreicht. Vgl. Patel 2008, S. 417. Zu einem ähnlichen Resümee kommen Stefan Koelsch und Tom Fritz. Vgl. Koelsch/Fritz 2007, S. 258. Es gibt aber deutliche Unterschiede, die einer Subsumierung des Mediums Musik unter das Medium Sprache entgegenstehen. Vgl. zu den Unterschieden insbesondere S. Davies 1994, S. 1–49. 165 166

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also mit der Regel gebrochen wird. Mit der Metapher der »Logik« soll im Zusammenhang musikalischer Werke auf deren interne Strukturen, auf Regelmäßigkeiten gedeutet werden, ohne die ein Erwartungsspiel sich nicht entfalten kann (eine allzu chaotische musikalische Faktur kann vom Hörer nicht verstanden werden; sie verhindert das Erwartungsspiel). Musikalische Werke verlaufen zwar strukturiert, aber eben nicht ständig »logisch«. Sonst verlören sie ihren Reiz. Abgesehen davon können musikalisch buchstäblich keine Argumente ausgetauscht werden, in der Wortsprache schon. Eine mögliche Analogie von Musik und Sprache könnte allerdings darin gesehen werden, dass beide Medien uns zu einer Aktivität bewegen, die konstitutiv für sie ist. Hören wir ein musikalisches Werk lediglich passiv (im Sinne des englischen Wortes »hearing«), so nehmen wir eine Folge von Klängen wahr, ohne ihren Sinn zu erkennen, ohne ihre Struktur zu erschließen. Streng genommen hören wir dann gar keine Musik. Denn Musik nehmen wir erst dann wahr, wenn wir Klänge als Teile einer Struktur hören (im Sinne des englischen Wortes »listening«), wenn wir sie eben als Töne hören. Ebenso verhält es sich bei der Wortsprache. Wir können Buchstaben oder Wörter passiv wahrnehmen als Folge von Zeichen. Als sprachliche Entitäten werden sie uns jedoch erst dann gewahr, wenn wir sie als Teil einer Struktur begreifen. Sowohl bei der Sprache als auch bei der Musik geht die aktive Wahrnehmung des Mediums vor dem Hintergrund eines angemessenen Kontextes im Erfolgsfall mit einem bestimmten, charakteristischen Erlebnis einher, nämlich dem Verstehen. Musik und Sprache fordern uns zum Verstehen auf. Erst wenn wir sie verstehen, zeigt sich uns ihr Sinn. Dass symbolische Verweise auf Werke mit repräsentierendem Gehalt bei der Rezeption auch von absoluter Musik nicht zu vernachlässigen sind, zeigt ein Blick auf Studien zu Schuberts Unvollendeter. Insbesondere die auffällige und für eine Sinfonie unübliche Tonart – h-Moll – zieht dabei die Aufmerksamkeit auf sich. 167 Steinbeck listet einige Lieder Schuberts auf, die in derselben Tonart stehen, etwa das Grablied auf die Mutter (D 616) oder Einsamkeit und Der Doppel167 Mit der Wahl der Tonart kann Schubert nicht nur auf den Gehalt einiger seiner Lieder verweisen, sondern sie hätte auch den Klang der Sinfonie und deren Wirkung beeinflusst. Für die Orchester der damaligen Zeit war h-Moll nämlich eine ungewöhnliche Tonart und nur schon deswegen schwierig auszuführen, vor allem auch intonatorisch. Zu vermuten ist, dass in der Zeit Schuberts ein eher fragiles, unsicheres Klangbild resultiert hätte. (Die Unvollendete wurde erst 1865 postum uraufgeführt.)

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gänger aus der Winterreise (D 911). Ebenso nennt er Johann Sebastian Bachs Arie Blute nur, du liebes Herz aus der Matthäuspassion (BWV 244), daneben auch Schuberts Erzählung Mein Traum. 168 Namentlich die Lieder aus der Winterreise dürften einem breiten Publikum bekannt gewesen und deren außermusikalische Bezüge auf affektive Zustände rasch erinnert worden sein. Doch wären der Mehrzahl der Hörer die Verweise kaum aus einer absolut musikalischen Erfahrung bewusst geworden. Denn dies setzte bei ihnen ein absolutes Gehör voraus. Vielmehr hätten sie von der Tonart im Titel des Werkes erfahren müssen (»Sinfonie in h-Moll«), und sie hätten auch die Tonarten der Lieder kennen müssen, was allerdings zumindest beim interessierten Publikum der damaligen Zeit angenommen werden durfte. 169 Darüber hinaus jedoch bleibt vom Verweis auf den Text Schuberts (und die Tonart) die Frage geschieden, dies betont auch Steinbeck, inwiefern die Sinfonie, genauer gesagt deren vor einer repräsentationalen Deutung wahrgenommene Anlage, die außermusikalischen Verweise bestätigen oder nicht. 170 Abschließend möchte ich in diesem Abschnitt noch eine weitere Möglichkeit der innermusikalischen Repräsentation neben Verweisen auf Werke mit außermusikalischem Gehalt im näheren Musikweltkontext erwähnen. Das musikalische Material per se – Intervalle, melodische Fragmente, harmonische Schemata oder Formtypen – stellt auch insofern keinen puren, neutralen Urstoff dar, aus dem Kompositionen erschaffen werden, als es historisch, sozialpsychologisch und politisch imprägniert ist, wobei nicht zuletzt andere Künste es beeinflussen können. 171 Was Adorno im Folgenden schreibt, gilt nicht nur für die Neue Musik: »Alle Formen der Musik … sind niedergeschlagene Inhalte. In ihnen überlebt, was sonst vergessen ist und unmittelbar nicht mehr zu reden vermag. Was einmal Zuflucht suchte bei der Form, besteht namenlos in deren Dauer.

168 Vgl. Steinbeck 1997, S. 635 f. Steinbeck diskutiert ebenso die Verweise der Tonart des zweiten Satzes E-Dur. Auch Einstein nennt in seinem Kommentar Lieder in hMoll. Vgl. Einstein 1952, S. 235 f. 169 Das Publikum konnte also mehrheitlich die symbolischen Verweise nicht unmittelbar musikalisch wahrnehmen und verstehen, sondern nur vermittelt über wortsprachliche Elemente (über Werktitel und weitere Texte Schuberts). Vgl. zur Unmittelbarkeit des Verstehens von Symbolen Bertram 2006, S. 40–42. 170 Vgl. Steinbeck 1997, S. 636. 171 Vgl. Wellmer 2009, S. 27 f.

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Die Formen der Kunst verzeichnen die Geschichte der Menschheit gerechter als die Dokumente.« 172

Ein Komponist muss sich immer auch zu diesen Sedimenten des musikalischen Materials positionieren, wenn er dessen impliziten Gehalten nicht ohnmächtig ausgeliefert sein oder stillschweigend zustimmen will. Ein Beispiel, um zu konkretisieren, inwiefern musikalisches Material historisch informiert sein kann und damit per se repräsentiert: Der Verlust der Tonalität, das heißt die häufige Abwesenheit eines tonalen Zentrums in der musikalischen Moderne mitsamt der zersetzenden Folgen auf die Melodik und formale Werkgestaltung, kann als Verweis auf die psychoanalytisch aufgedeckte »Dezentriertheit« des Subjekts, 173 auf die damalige Perspektive auf die menschliche Affektivität (über das Subjekt hereinbrechende Gefühle, etwa des Schocks, der Panik), 174 aber auch auf die historische Zäsur durch die beiden Weltkriege aufgefasst werden. Musikalisches Material entwickelt sich nicht nur in einem Kontext (absolut) musikalischer Praktiken fort, sondern eingebettet in einem Kontext allgemeiner menschlicher Praktiken. Es weist deswegen über das Musikalische hinaus und widerspiegelt allgemeine historische Entwicklungen und Umwälzungen. Diese repräsentationalen Gehalte lassen sich allerdings nur in offenen Prozessen der Deutung freilegen.

1.3.4. Metaphorische Exemplifikation Nelsons Goodmans Ansatz künstlerischer Expressivität, wie er auch auf Musik angewendet werden kann, behandle ich in Abschnitt 2.3.1., mit einem Blick auf seinen Ursprung in der Musikphilosophie Susanne Langers. Streng genommen sind Exemplifikationstheorien musikalischer Expressivität als Spezialfall von Symboltheorien aufzufassen. Relationen der Exemplifikation werden nicht wie bei der Repräsentation durch Satzung und Gewöhnung etabliert, sondern dadurch, dass Gegenstände die Eigenschaften, für die sie stehen, selbst – womöglich metaphorisch – aufweisen und diese Eigenschaften in einem bestimmten Kontext als denotierend wahrgenommen werden. 172 173 174

Adorno 1958, S. 47. Vgl. Tarasti 2002, S. 43 f. Vgl. Adorno 1958, S. 47, und dazu auch Wellmer 2009, S. 25–28.

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1.4. Arten der Expressivität 1.4.1. Performative Expressivität Sprechen Musiker über Ausdruck oder Expressivität, so meinen sie oft nicht die Expressivität eines musikalischen Werkes, sondern sie beziehen sich auf bestimmte Weisen der Ausführung von Werken. In seinem Artikel zur musikalischen Expressivität unterscheidet Jean-Jacques Rousseau zwischen der Expressivität von Kompositionen und Aufführungen. 175 Ich werde im Folgenden von genuiner und performativer Expressivität reden. Angaben zur performativen Expressivität wie beispielsweise espressivo, gaiement, malincònico, passionato, sereno werden häufig als Vortragsbezeichnungen niedergeschrieben. Nicht alle Angaben zur performativen Expressivität beziehen sich dabei auf die menschliche Affektivität. Als Gegenbeispiele genannt seien etwa cantabile, mormorando oder rustico. Im Gegensatz zur genuinen stellt die performative Expressivität nicht immer eine transitive Relation dar. 176 Während wir sagen, dass ein musikalisches Werk W den affektiven Zustand A genuin ausdrückt, wird bei Vortragsbezeichnungen oft weggelassen, was performativ ausgedrückt werden soll (etwa bei den Bezeichnungen espressivo oder passionato). Rousseau weist in seinem Artikel auf den Zusammenhang zwischen genuiner und performativer Expressivität hin: 177 Nur wer die genuine Expressivität eines (in einem bestimmten Kontext stehenden) Werkes, die einzig in die musikalische Faktur einbeschriebene Expressivität, erfasst habe, könne sie auch performativ umsetzen. Umgekehrt komme die genuine Expressivität eines Werkes nur dann zur Geltung, wenn sie mit angemessenen performativen Mitteln umgesetzt werde. Trotz dieser Verbindungen ist es sinnvoll, die beiden Arten von Expressivität auseinanderzuhalten. Jedenfalls sprechen wir musikalischen Werken Prädikate aus dem Bereich menschlicher Affektivität zu unabhängig von deren Ausführung, unabhängig davon, welcher Musiker, welches Ensemble oder Orchester sie spielt, un-

175 Vgl. Dictionnaire, S. 210: »Il y a une Expression de Composition & une d’exécution, & c’est de leur concours que résulte l’effet musical le plus puissant & le plus agréable.« [Hervorhebung von Rousseau]. 176 Vgl. mein Abschnitt 1.1.2., insbesondere FN 68. 177 Vgl. Dictionnaire, S. 215.

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Arten der Expressivität

abhängig davon, welche Dirigentin am Pult steht. Gleichzeitig kommentieren wir bisweilen gezielt die Expressivität einer bestimmten Aufführung. Insofern kann performative von genuiner Expressivität abgegrenzt werden. Gegen einen bestimmten Ansatz, musikalische Expressivität mit einer gewissen Art von performativer Expressivität zu explizieren, möchte ich hier kurz eintreten. Es könnte behauptet werden, dass wir affektive Zustände musikalischen Werken – notwendigerweise im Rahmen von Aufführungen – deshalb zuschrieben, weil die ausführenden Musiker so tun würden (etwa durch Einsatz ihrer Mimik oder Gestik), als ob sie sich in dem affektiven Zustand befänden, den das Werk ausdrücke. 178 Die Position ist nur schon deswegen nicht haltbar, weil eindrückliche Aufführungen nicht notwendigerweise gelungene darstellerische Leistungen von Musikern voraussetzen. Wir würden uns womöglich gar an der Gestik und Mimik der Musiker stören, da sie vom musikalischen Geschehen ablenken. In der Regel werden musikalische Werke einigermaßen regungslos vorgetragen, insbesondere in der klassischen Tradition. Bewegungen von Musikern sind häufig technisch motiviert. Zum Beispiel sollen Einsätze angezeigt oder Bogenstriche synchronisiert werden. Auch im Jazz kann von den Bewegungen der Musiker nicht auf die Expressivität der Musik geschlossen werden. Charlie Parker hat zum Beispiel seine Bewegungen auf das zur Beherrschung seines Instrumentes erforderliche Minimum beschränkt. Nach dem Ansatz, für den ich in der vorliegenden Untersuchung argumentieren werde, kann die genuine Expressivität eines musikalischen Werkes performativ gesteigert oder gemäßigt werden. Denn das Spiel mit formalen musikalischen Erwartungen, das nach meiner Position die genuine Expressivität begründet, kann in einer Aufführung intensiviert werden, beispielsweise durch Einsatz von Agogik an passenden Stellen, durch die Betonung von Überraschendem, oder aber verwässert, beispielsweise durch Überspielen von Unerwartetem oder durch Einebnung von Spannungen. 179

Vgl. zum Nachvollzug von Musik meine Anmerkungen in Abschnitt 3.2.2. Zum Beispiel kann die affektive Wirkung einer harmonischen Wendung dadurch gesteigert werden, dass die Auflösung von Spannungsakkorden verzögert wird. 178 179

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Musik und Emotionen

1.4.2. Projektive Expressivität Häufig assoziieren wir musikalische Werke mit affektiven Zuständen, in denen wir uns befunden haben, als wir sie hörten. Bisweilen evozieren die Stücke so auch unsere vergangenen Gefühle. 180 Zum Beispiel könnte jemand vom Tod seiner Großmutter erfahren, während er den Schlusssatz von Beethovens fünfter Sinfonie hört. Der Satz wird ihn möglicherweise fortan an seine Trauer über den Tod seiner Großmutter erinnern, vielleicht sogar die Emotion erneut auslösen. Es könnte auch sein, dass ihn die Musik in eine traurige Stimmung versetzt, ohne dass er sich an das Objekt des ursprünglichen Gefühls erinnern kann. Die Person projiziert in dem Fall ihre eigenen Emotionen oder Stimmungen auf die Musik Beethovens, ohne dass wir sagen würden, der Schlusssatz der Sinfonie drücke Trauer oder Traurigkeit aus (im Sinne genuiner Expressivität). Die Beziehung der Musik zu den mit ihr assoziierten oder von ihr evozierten Gefühle ist lediglich kontingent, wenn angenommen wird, dass nicht doch Aspekte der Komposition (in einem angemessenen Kontext) tatsächlich dieselben oder zumindest ähnliche affektive Zustände genuin ausdrücken, in denen wir uns zufällig befunden haben, als wir die Musik hörten. Weil die Expressivität, die jemand auf ein Werk projiziert, nicht notwendigerweise mit den inhärenten expressiven Eigenschaften eines musikalischen Werkes übereinstimmt, ist es müßig, über diese Art der Expressivität zu streiten. Zuschreibungen projektiver Expressivität zu musikalischen Werken sind keine ästhetischen Urteile. Dagegen sind Diskussionen über die genuine Expressivität eines musikalischen Werkes verbreitet und deswegen sinnvoll, weil sie sich nicht nur um individuelle Erlebnisse (oder Präferenzen) drehen, sondern weil in ihnen von intersubjektiv zugänglichen, strukturellen oder prozessualen Eigenschaften eines in einem bestimmten Kontext stehenden Werkes ausgegangen wird. Eine Anmerkung mit Blick auf mein zweites Kapitel: Von Projektionen würde ich nicht sprechen, wenn musikalische Werke als Schablonen für Deutungen dienen, die zum Teil wesentlich auf Deutungskontexten beruhen und nicht vollständig auf strukturelle oder prozessuale Eigenschaften eines Werkes zurückzuführen sind. Solche Deutungen sind aber nicht beliebig, im Unterschied zu Projektionen. Denn sie müssen zu den strukturellen und prozessualen Eigenschaf180

Vgl. Scherer/Zentner 2001, S. 369.

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Arten der Expressivität

ten eines Werkes passen und darüber hinaus Kriterien der Plausibilität genügen. 181

1.4.3. Evaluative Expressivität Sogar ein radikaler Skeptiker wie Hanslick würde eingestehen, dass Musik bei uns Emotionen zumindest in einem Fall auslösen kann, und zwar dann, wenn evaluative Emotionen über Musik uns bewegen. So ärgern wir uns über die effekthascherische Oberflächlichkeit eines uraufgeführten Werkes, wir staunen über die kontrapunktische Geschliffenheit einer Motette Giovanni Pierluigi da Palestrinas oder wir erfreuen uns an dem virtuosen Vortrag einer Solistin. In den Beispielen werden durch musikalische Werke beziehungsweise deren Aufführungen Emotionen bei den Zuhörern verursacht – affektive Zustände, deren Objekte klar bestimmt sind. Daher kann gerechtfertigt von Emotionen gesprochen werden, die sich auf Musik richten, entweder auf ein Werk oder auf eine Aufführung. 182 Eigentlich richten sich die evaluativen Emotionen jedoch auf die beteiligten Personen, ausführende Musiker oder Komponisten, deren Arbeit oder Leistung affektiv beurteilt wird. 183 Evaluative Emotionen können unsere Erfahrung der genuin expressiven Eigenschaften musikalischer Werke beeinträchtigen. Ärgern wir uns etwa über die effekthascherische Oberflächlichkeit einer Komposition, so kann die Emotion die Evokation von Gefühlen durch genuin expressive Eigenschaften des Werkes blockieren. (Davon zu unterscheiden ist der Fall, in dem uns ein Stück langweilt und seine genuin expressive Wirkung deshalb nicht entfalten kann, weil sein Verlauf zu vorhersehbar ist. In dem Fall wird die genuine Expressivität nicht von evaluativen Gefühlen verhindert. Sie kann sich nicht Mehr dazu in meinem Abschnitt 2.2.2. Vgl. Kivy 1990, S. 159–161. 183 John Hospers sieht in evaluativer Expressivität ein Problem für Evokationstheorien musikalischer Expressivität. Denn wenn bei einem Hörer positive Gefühle evoziert würden, lasse sich nicht notwendig auf eine entsprechende genuine Expressivität des zugrunde liegenden Werkes schließen, da unsere Reaktion womöglich auf die evaluative Expressivität des Werkes zurückzuführen sei. Vgl. Hospers 1966, S. 137 f. Hospers’ Einwand lässt sich nicht gegen meinen Ansatz richten. Denn ich werde darlegen, inwiefern genuin expressive Eigenschaften musikalischer Werke mit deren formalen Eigenschaften zusammenhängen. Evaluative und durch musikalische Werke evozierte Gefühle können so anhand ihrer Ursachen unterschieden werden. 181 182

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Musik und Emotionen

entfalten, weil das sie begründende Erwartungsspiel nicht in Schwung kommt.) Ebenso können positive evaluative Emotionen unsere Aufmerksamkeit auf ein Werk steigern und dadurch dazu beitragen, dass wir seine genuine Expressivität intensiver erleben und genauer bestimmen können. Dies allerdings nur dann, wenn die positiven evaluativen Emotionen nicht unsere Aufmerksamkeit auf den Verlauf der Musik überdecken, wie etwa dann, wenn uns die formale Geschlossenheit eines Werkes euphorisch werden lässt. Umgekehrt kann die genuine Expressivität auch unsere evaluativen Emotionen über ein Werk bestimmen, zum Beispiel dann, wenn wir die genuine Expressivität eines Werkes als plakativ oder übertrieben kitschig erachten. Evaluative und genuine Expressivität sind zwei verschiedene Phänomene, die in gegenseitigen Abhängigkeitsbeziehungen stehen. Im Unterschied zur genuinen Expressivität sind die Objekte bei der evaluativen Expressivität genau bestimmt, nämlich, wie erwähnt, die Arbeit oder Leistung von Musikern. Wenn wir jedoch behaupten, ein musikalisches Werk drücke Traurigkeit aus (im Sinne genuiner Expressivität), dann impliziert eine solche Aussage nicht, dass wir über das Werk oder über eine Aufführung traurig sind – im Gegenteil: Erfreulich (im Sinne evaluativer Expressivität) ist das Stück womöglich gerade deswegen, weil es Traurigkeit angemessen ausdrückt.

1.4.4. Genuine Expressivität Der Begriff der genuinen Expressivität kann wie folgt präzisiert werden: Die genuine Expressivität eines musikalischen Werkes ist (1) unabhängig von der Art und Weise der Ausführung der Werke (Abgrenzung zur performativen Expressivität) (2) begründet in kontextuell situierten formalen Eigenschaften musikalischer Werke und daher intersubjektiv zugänglich (Abgrenzung zur projektiven Expressivität) (3) unabhängig von evaluativen Emotionen, die sich auf die Qualität der Arbeit oder der Leistung von Komponisten und Musikern richten (Abgrenzung zur evaluativen Expressivität) Ich werde im Folgenden meist abgekürzt von musikalischer Expressivität sprechen, nicht mehr von genuiner musikalischer Expressivität, da es im weiteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung um das

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Das Wesen musikalischer Expressivität und die Frage nach ihrem Wert

Wesen und den Wert genuiner musikalischer Expressivität gehen soll.

1.5. Das philosophische Problem des Wesens musikalischer Expressivität und die Frage nach ihrem Wert Zuschreibungen von Prädikaten affektiver Zustände zu musikalischen Werken sind in der Regel bestimmt, wie an den zitierten Kommentaren zu Schuberts Unvollendeter ersehen werden kann. Die Musikwissenschaftler und Kritiker sind sich einig, dass die Sätze abschnittsweise Freude oder Traurigkeit ausdrücken, auch wenn sich ihre Feinbestimmungen der ausgedrückten affektiven Zustände und ihre Formulierungen unterscheiden. Genau an diesem Punkt setzt das Kernargument Hanslicks an, mit dem er seinen radikalen Zweifel an einem mehr als nur arbiträren Zusammenhang zwischen Musik und Emotionen begründet. Hanslicks Argument ist dabei (wie so viele skeptische Argumente) frappierend elegant, und nicht zuletzt deswegen prima facie einleuchtend. Das Argument hat die Debatte um musikalische Expressivität geprägt und die Ausarbeitung zahlreicher neuer Ansätze in der analytischen Musikphilosophie angeregt. Hier eine mögliche Darstellung von Hanslicks Argument, wie es aus seinem Text rekonstruiert werden kann: 184 (H1) Werke absoluter Musik vermitteln keine (propositionalen) Gedanken. (H2) (Propositionale) Gedanken sind notwendige Bestandteile von Emotionen. (H3) Werke absoluter Musik vermitteln keine Emotionen. (Absolute Musik drückt keine bestimmten Emotionen aus.) Dass (H1) nicht ohne Vorbehalt zuzustimmen ist, außer wenn referentielle innermusikalische Gehalte künstlich wegdefiniert werden, habe ich oben in meinem Abschnitt 1.3.1.3. bereits dargelegt, und ich werde auf die Möglichkeit repräsentationaler Deutungen von Werken absoluter Musik in Abschnitt 2.2. zurückkommen. Unter diesem Vorbehalt aber erachte ich Hanslicks Argument als schlüssig und würde Hanslicks Konklusion (H3) akzeptieren. 185 Gleichwohl Vgl. MS, S. 22 f. Eine Strategie wider H2 verfolgt Peter Mew. Er deklariert schlicht diejenigen Emotionen, die Werke absoluter Musik ausdrücken würden, als Ausnahmefälle oder Ge184 185

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Musik und Emotionen

scheint mir das Argument nicht dazu geeignet, das philosophische Problem musikalischer Expressivität zu profilieren. Denn mit Hanslicks Argument wird verneint, dass absolute Musik bestimmte Emotionen vermittelt. Die menschliche Affektivität ist aber reich an Zuständen, die nicht die hohe Stufe affektiver Bestimmtheit von Emotionen aufweisen. Nicht klar bestimmte affektive Zustände sind beispielsweise Stimmungen und – möglicherweise auch diffuse – Formen der Affektivität zwischen Emotion und Stimmung. Die Behauptung eines wesentlichen Zusammenhanges von Musik und menschlicher Affektivität kann also selbst dann aufrechterhalten werden, wenn eingestanden wird, dass absolute Musik fundamental keine klar bestimmten, eng umrissenen intentionalen Objekte vermittelt, die Emotionen bestimmen könnten. 186 Nichtsdestotrotz stellt genuine musikalische Expressivität ein philosophisches Problem dar. Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken verlangen nach einer Erklärung. Denn im gängigen Sprachgebrauch werden affektive Zustände Menschen zugeschrieben, und bisweilen auch Tieren. Inzwischen existiert eine Vielzahl von Positionen zu der Frage, was musikalische Werke sein könnten. Doch seien musikalische Werke ewige Universalien, Arten genbeispiele. So seien etwa alltägliche Emotionen bestimmt durch (formale) Objekte. Im Fall der Musik seien die Zuschreibungen aber auch ohne Objekte möglich, und zwar aufgrund der evozierten Gefühle. Vgl. Mew 1985, S. 34. In Mews Ansatz bleibt völlig unklar, weswegen wir dessen ungeachtet den Werken Prädikate für gewöhnliche alltägliche affektive Zustände (etwa Freude oder Traurigkeit) zuschreiben. Und in seinem Ansatz bleibt offen, worin der Wert musikalischer Expressivität liegen könnte, wenn die ausgedrückten affektiven Zustände keinen Bezug zu unserem alltäglichen Leben haben und Werke absoluter Musik anscheinend lediglich zu einer Art hochgradig abstrakten, artifiziellen affektiven Träumerei einladen sollen. (Das Paradox fiktiver Emotionen kann auch nicht kurzerhand mit dem Hinweis darauf gelöst (oder aufgelöst) werden, dass wir bei Kunstwerken, die Fiktionen umfassen, einfach träumen würden.) Noch einmal: Streng genommen folgt die radikal skeptische Position nicht aus dem Argument, da mit ihm die Alternative nicht ausgeschlossen werden kann, dass Prädikate der Expressivität binär und einstellig sind. Die Alternative ist aber weder für Hanslick noch für meine weiteren Überlegungen relevant. Vgl. oben meine FN 68. 186 Dass absolute Musik vor einer Deutung in einem repräsentationalen Kontext keine Emotionen individuieren, aber dennoch grob bestimmte affektive Zustände ausdrücken könne, behauptet etwa auch Christopher Peacocke. Vgl. Peacocke 2009b, S. 302. Wie bereits erwähnt schlägt auch Carroll vor, unter anderem in der Diskussion um musikalische Expressivität von einem weiten Begriff menschlicher Affektivität auszugehen und sie nicht auf Phänomene, die unter den Emotionsbegriff fallen, einzugrenzen. Vgl. oben meine FN 123.

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Das Wesen musikalischer Expressivität und die Frage nach ihrem Wert

oder Typen (types), zu einem bestimmten Zeitpunkt erschaffene Universalien (oder Typen), Mengen von perfekten Aufführungen, Mengen von exemplarischen Aufführungen, perdurantistische Kontinuanten, fiktionale Narrative, abstrakte Artefakte, mereologische Summen von Aufführungen, historischen »Individuen« oder Handlungstypen – in keiner der Positionen werden musikalische Werke mit Lebewesen identifiziert. 187 Das philosophische Problem genuiner musikalischer Expressivität wird einsichtig, wenn es in dieser Weise ontologisch aufgespannt wird. 188 In den Abschnitten 1.3.1. und 1.4.1. habe ich außerdem dargelegt, dass weder ausführende Musiker noch Komponisten als stellvertretende Träger der musikalischen Werken zugeschriebenen affektiven Zustände in Betracht kommen. Das Problem lässt sich mit einem solchen Zug nicht lösen. 187 Julian Dodd, Kivy und Nicholas Wolterstorff treten für ewige Platonische Entitäten ein, Levinson für erschaffene Typen, Goodman für Mengen von perfekten Aufführungen, Nikk Effingham für Mengen von exemplarischen Aufführungen, Ben Caplan und Carl Matheson für perdurantistische Kontinuanten, Kania (unter Vorbehalt) für fiktionale Narrative, Amie L. Thomasson für abstrakte Artefakte, Peter Alward für mereologische Summen von Aufführungen, Guy Rohrbaugh für historische »Individuen« und David Davies für Handlungstypen. Vgl. Alward 2004; Caplan/ Matheson 2006; D. Davies 2004; Dodd 2007 und 2008; Effingham 2012; Goodman 1976, S. 99–194; Kania 2008a; Kivy 1983 und 1987; Levinson 1980; Rohrbaugh 2003; Thomasson 2005; Wolterstorff 1980. Diese Übersicht stellt bloss eine Auswahl der Positionen zur Ontologie musikalischer Werke dar. Ob diese Diskussion sinnvollerweise entschieden werden kann (und deswegen per se sinnvoll ist), bezweifeln unter anderem Lydia Goehr und James O. Young. Vgl. dazu Goehr 1992, S. S. 69–86, und Young 2011. Für mein obiges Argument reicht jedenfalls eine neutrale Einstellung zur Ontologie musikalischer Werke aus. Jedoch würde ich ontologische Streite erster Ebene nicht als sinnlos betrachten, allerdings musikphilosophisch als irrelevant. (Es gibt aber andere ontologische Fragen, die, ausschließlich après le fait (zum Beispiel à la Goehr) bearbeitet, musikphilosophisch relevant sein können. Insofern würde ich Ridleys These widersprechen, wonach es keine musikphilosophisch relevanten ontologischen Streite gebe. Vgl. Ridley 2003 und Kania 2008b. Im obigen Beispiel meines Arguments ist es nicht nötig, auf den ontologischen Streit erster Ebene über musikalische Werke einzutreten.) Goodmans Nominalismus verbietet es, die Existenz von Mengen anzunehmen. Vgl. etwa Goodman 1972, S. 156. Er spricht aber in Languages of Art selbst explizit von »Mengen«. Vgl. Goodman 1976, S. 210. Die Formulierung in seiner Explikation ist aber als Abkürzung einer aufwendigen, ausführlichen nominalistischen Variante aufzufassen. Der Mengenbegriff wäre streng genommen aus der Explikation des Werkbegriffs in Languages of Art nach den von ihm in seinem Frühwerk entwickelten Regeln zu eliminieren. Vgl. dazu insbesondere die Anmerkung in Goodman 1976, S. XIII. 188 Vgl. zu dieser zweiten Variante der Problemstellung zum Wesen musikalischer Expressivität Budd 1985, S. 37.

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Musik und Emotionen

Aber nicht nur das Wesen genuiner musikalischer Expressivität bedarf einer philosophischen Klärung, sondern auch die Frage nach ihrem Wert. Denn meist drücken wir mit Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken unsere Wertschätzung für die genuin expressive Qualität der Musik aus. Der Frage nach dem Wert musikalischer Expressivität gehe ich im fünften Kapitel nach.

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2. Musikalische Expressivität und Metaphorizität

Zu Beginn des ersten Kapitels habe ich erläutert, dass eine Art, musikalische Werke aufzufassen, darin bestehen kann, sie als uns klanglich dargebotene Formen zu verstehen. Von einigen Ausnahmen abgesehen lassen sich in musikalischen Werken mannigfaltige Strukturen und Prozesse identifizieren, zum Beispiel Wiederholungen, variierte Phrasen, ständig wiederkehrende Strukturtypen (etwa Akkorde), Prozesse oder großformale Gestalten. Formale Eigenschaften können meist in Noten und Partituren beziehungsweise deren Aufführungen nachgewiesen werden. Sie werden musikalischen Werken buchstäblich zugeschrieben. Es mag nicht verwundern, dass eine formalistische Herangehensweise die Musikwissenschaft und -theorie nach wie vor prägt. Formale Aussagen lassen sich nämlich reduktiv empirisch überprüfen, und zwar anhand einer Notation oder einer Aufführung eines Werkes. Bisweilen enthalten Termini der formalen Beschreibung musikalischer Werke Metaphern, zum Beispiel der Terminus »Kadenz«. Allerdings können sie vielfach mit nüchternen Ausdrücken ersetzt werden, die sich buchstäblich mit terminologischen Formbegriffen definieren lassen. 1 Jedoch verlören sie durch die Substitution einen Teil ihrer Bedeutung. Denn die formalistisch buchstäbliche Herangehensweise ist eine distanzierte. Wir erleben Musik aber meist nicht als klingende Abfolge von Formen und identifizieren dabei (terminologisch) prozessuale Entwicklungen. Vielmehr hören wir Musik als dynamisches Geschehen. Dies ist mit einer Aktivität unsererseits verbunden. Hanslick spricht treffend von »tönend bewegten Formen« 2 . So sagen wir, dass eine Melodie »ansteigt«, indem »tiefe« Töne von »höheren«

Beispiele für metaphorische Zuschreibungen, bei denen die Definition schwierig erscheint, sind etwa formale Stimmigkeit oder Harmonie. Diese formalen musikalischen Eigenschaften sind ohne Bezug auf die Evokation affektiver Zustände, das heißt reduktiv, kaum zu erläutern. 2 MS, S. 59 [Hervorhebung: S. Z.]. 1

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Musikalische Expressivität und Metaphorizität

abgelöst werden. Wir erleben musikalische Prozesse oft als zielgerichtete Bewegungen. Dieses Bewegungsmoment spiegelt sich im Terminus »Kadenz« wider. Damit meinen wir nicht, dass sich Schallwellen in einem Konzertsaal ausbreiten oder dass sich Töne insofern bewegen, als etwa eine Violonistin ihre Haltung leicht verändert. Wir meinen also nicht, dass sich Töne buchstäblich bewegen. 3 Die Erfahrung musikalischer Bewegung impliziert die Erfahrung einer musikalischen Räumlichkeit, nicht einer buchstäblichen. Wir beziehen uns mit den Raummetaphern nicht auf Phänomene, die buchstäblich räumlich sind wie beispielsweise die tatsächlich zu beobachtenden Unterschiede in der Schalldeflektion zwischen »tiefen« und »hohen« Tönen, sondern wir erfahren Frequenz(spektren)unterschiede als gerichtete Bewegungen im musikalischen Raum. 4 Musik als dynamisches Geschehen beschreiben wir meist metaphorisch. Wir greifen dann namentlich auf Begriffe des Räumlichen, der Bewegung, der Richtung, besonders oft aber auch auf Begriffe der Spannung und der menschlichen Affektivität zurück. Gewiss scheint uns absolute Musik mit offenen Armen dazu einzuladen, sie metaphorisch auszudeuten, das heißt ihre Formen mit metaphorischem Gehalt zu »befüllen«. (Beispiele wären etwa die Deutung musikalischer Strukturen und Prozesse als meteorologisches Geschehen, als Entwicklungen von Börsenkursen, als Dynamiken sexueller Akte oder als affektive Verläufe.) 5 Jedoch sind die Metaphern des Raumes, der Bewegung, der Richtung, der Spannung und der Affektivität von Metaphern abzugrenzen, die musikalischen Formen als repräsentationale Folien einer Deutung übergestülpt werden können. 6 Mit den vier basalen Metaphern wird die Erfahrung von Musik beschrieben, und zwar vor jeder weiteren Interpretation unter Es gibt allerdings musikalische Werke, in denen mit der buchstäblich räumlichen Bewegung von Klangereignissen gespielt wird. Ein Beispiel ist etwa Karlheinz Stockhausens Komposition Gruppen für drei Orchester. 4 Mit der Phänomenologie musikalischer Erfahrung beschäftige ich mich ausführlich im dritten Kapitel. Darin unterscheide und charakterisiere ich auch drei Arten des Hörens musikalischer Werke, eine zerstreute, eine involvierte und eine distanzierte, von denen die Erfahrung abhängt. 5 Vgl. dazu meine Abschnitte 2.2.2.1. bis 2.2.2.3. 6 In Abschnitt 2.2.2.1. werde ich zeigen, dass metaphorisch angemessene, »befüllende« Deutungen wenigstens zu musikalischen Formen passen müssen, auf die sie sich beziehen. Darüber hinaus können sich weitere Kriterien der Angemessenheit aus dem Kontext der Werke ergeben, beispielsweise aus dem historischen Kontext, in dem sie entstehen, oder aus der Biografie von Komponisten. 3

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Heranziehung einer, wie auch immer sorgsam ausgewählten, repräsentationalen Folie. Ich gehe dabei davon aus, dass wir uns der basalen Metaphern nicht zufällig bedienen, wenn wir unsere musikalische Erfahrung schildern: Mit ihnen werden vielmehr wesentliche Momente musikalischer Erfahrung treffend charakterisiert. Diese These werde ich im dritten Kapitel untermauern, indem ich die musikalische Erfahrung mit dem Modell des musikalischen Erwartungsspiels erläutere. Dieses Spiel beruht auf formalen Eigenschaften musikalischer Werke, die meist nur innerhalb eines sozial instituierten Kontextes weiterer Werke absoluter Musik (und den absolutmusikalischen Anteilen anderer musikalischer Werke) wahrgenommen werden können. Pointe des ersten Teils dieses Kapitels soll der Gedanke sein, dass mit groben Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken metaphorisch auf über Klangeigenschaften supervenierende Eigenschaften unserer musikalischen Erfahrung verwiesen wird, die wir insofern teilen, als wir üblicherweise Werke als in ein und denselben Kontext weiterer Werke (absoluter Musik) einsozialisierte Hörer rezipieren. Darin liegt die Fundierung, die »tiefere« Verankerung der Zuschreibungen, nicht in einem bestimmten – in diesem Fall affektiven – repräsentationalen Kontext der Deutung, der freilich über musikalische Formen gelegt werden kann und aus dem eine Präzisierung des affektiven Gehaltes eines musikalischen Werkes erfolgen kann. In einem ersten Schritt entfalte ich zur begrifflichen Klärung ein integratives Modell der Eigenschaften absoluter Musik (Abschnitt 2.1.). In einem zweiten Schritt möchte ich erörtern, inwiefern Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken als Metaphern aufzufassen sind (Abschnitt 2.2.1.). In einem dritten Schritt gehe ich auf Ansätze ein, in denen musikalische Werke, unter anderem ihre expressiven Eigenschaften, als Deutungen musikalischer Formen vor bestimmten repräsentationalen Kontexten expliziert werden (Abschnitt 2.2.2.). Als Beispiele identifiziere ich die Kontur- und die Personentheorie, zwei heutzutage in der analytischen Musikphilosophie nach wie vor prominente Ansätze. Im zweiten Teil des Kapitels rekonstruiere und diskutiere ich einen Ansatz, der aus den symboltheoretischen Überlegungen Nelson Goodmans gelesen werden kann (Abschnitt 2.3.), der auf Vorarbeiten Susanne Langers beruht. Schließlich ziehe ich ein Zwischenfazit (2.4.).

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Musikalische Expressivität und Metaphorizität

2.1. Integratives Modell der Eigenschaften absoluter Musik Ziel meiner Untersuchung ist die konsequente Integration einer fundamentalen Ebene musikalischer Expressivität in deren Explikation. Ich gehe davon aus, dass musikalische Expressivität umfassend auf zwei Ebenen zu erläutern ist, nämlich auf den Ebenen musikalischen Sinnes und musikalischer Bedeutung. 7 Die Begriffe Sinn und Bedeutung gebrauche ich dabei in nur entfernter Analogie zu ihrer Verwendung in Gottlob Freges Aufsatz »Über Sinn und Bedeutung« 8 . Denn ein allzu enges Analogiedenken ist methodologisch problematisch. Die Gefahr droht dann, dass das Medium Musik dem Medium der Sprache unterliegt und dass Musik dann aus der Analogie als defizientes Medium hervorgeht. Die Begriffe Sinn und Bedeutung sind für das Medium Musik deshalb neu zu denken. Über ihre Sinnund Bedeutungsebenen hinaus enthalten Aufführungen musikalischer Werke zwei weitere Eigenschaftsebenen. Meine folgenden Überlegungen setzen die Unterscheidung der vier Eigenschaftsebenen von Aufführungen musikalischer Werke voraus. An dieser Stelle möchte ich daher ein integratives Modell der vier Eigenschaftsebenen absoluter Musik einführen. 9 Über Werke absoluter Musik streiten wir uns häufig. Die Wahrnehmung, aber auch die Deutung absoluter Musik sind abhängig von Bedingungen und Haltungen, die idiosynkratisch bestimmt sein können. Sie sind dann intersubjektiv aufgrund einer Werkrezeption ohne Berücksichtigung subjektiver Kontexte nicht nachvollziehbar. 10 Idiosynkratische Zugänge zu absoluter Musik können für den Einzelnen

Bei dieser Unterscheidung lehne ich mich lose an Becker und Vogel an. Vgl. Becker/ Vogel 2007b, S. 9–11. 8 SuB. 9 Das Modell lehnt sich an vorgeschlagene Varianten von Vogel und Scruton an. Vogel ordnet expressive Eigenschaften der quartärer Ebene zu, ich hingegen expressive Eigenschaften der tertiären und quartären. Scrutons Modell umfasst keine quartären Eigenschaften (auch in einem Modell Kivys würden sie nicht vorkommen, obschon sie es müssten, wie ich in meinem Abschnitt 2.2.2.2. zeigen werde). Vgl. Vogel 2007, S. 319 f., Vogel 2013, S. 95 f., und Scruton 1997, S. 93 f. und S. 160 f. Dass Werke (absoluter) Musik sowohl Sinn- als auch Bedeutungskomponenten haben, legt auch Goehr nahe: »While it is agreed that music has a purely musical meaning, it is also believed that music can be used to comment upon extra-musical matters« (Goehr 1993, S. 178). 10 Vgl. Higgins 1997, S. 95–97. 7

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Integratives Modell der Eigenschaften absoluter Musik

psychologisch wertvoll sein, weil sie beispielsweise an ein persönlich einschneidendes Erlebnis erinnern können. 11 Wenn wir aber zum Beispiel einem Werk absoluter Musik eine expressive Eigenschaft zuschreiben, so erheben wir in der Regel Anspruch auf intersubjektive Gültigkeit. Wir verstehen unsere Zuschreibung nicht nur als Äußerung eines subjektiven Zustandes. Ich behaupte, dass die Annahme der Möglichkeit intersubjektiver Einigung berechtigt ist, dass also musikalische Werke kulturelle Artefakte sind, deren Beschaffenheit uns – bis zu einem gewissen Grad – gemeinsam zugänglich ist, dass ihnen mithin die Möglichkeit einer geteilten Erfahrung inhärent ist. Jedoch sind verschiedene Arten von Eigenschaften zu unterscheiden, und zwar insofern, als sie in ihrer epistemischen Zugänglichkeit voneinander abweichen. Wir können uns über die Eigenschaften nur dann einig werden, wenn wir bestimmte Haltungen des Hörens gemeinsam einnehmen, bestimmte Bedingungen ihrer Wahrnehmung gemeinsam erfüllen. Die verschiedenen Eigenschaften musikalischer Werke sind deswegen in unterschiedlichem Masse abhängig von Haltungen oder Bedingungen der Wahrnehmung. Das integrative Modell beinhaltet repräsentationale Eigenschaften, die Werken absoluter Musik in einem offenen Prozess der metaphorischen Deutung zugeschrieben werden können. Über diese Eigenschaften ist eine abschließende intersubjektive Schlichtung nicht möglich, aber die Eigenschaften sind auch nicht beliebig, wie ich in Abschnitt 2.2.2.1. darlegen werde. Außerdem sind sie ständiger Teil des Streits über Werke absoluter Musik, weil unser fragendes Bemühen darum, die Werke zu verstehen, stets nach ihnen strebt, das heißt nach Erklärungen von internen und externen Werkzusammenhängen. Im Folgenden möchte ich die vier Ebenen von Eigenschaften erläutern, die ersten beiden knapp, die tertiären und quartären etwas ausführlicher, da vor allem sie für meine Überlegungen relevant sind. 12 Erstens werden musikalische Werke als Aufführungen dargeboten. 13 Aufführungen können als akustische Ereignisse gefasst werVgl. dazu mein Abschnitt 1.4.2. Auf die erkenntnistheoretische Diskussion über die Unterscheidung von primären und sekundären Eigenschaften kann ich hier nicht eingehen. Die Unterscheidung dieser beiden Eigenschaftsebenen ist für meine weiteren Überlegungen auch nicht entscheidend. 13 Damit soll nicht gesagt sein, dass ich musikalische Werke mit Aufführungen identifiziere. Vgl. dazu mein Abschnitt 1.5., insbesondere FN 187. 11 12

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den. Aus physikalischer Sicht bringen ausführende Musiker Schallwellen hervor. Aufführungen musikalischer Werke sind Abfolgen in der Regel komplexer Konfigurationen von Schallwellen, die sich in bestimmter Weise im Raum verteilen. Unmittelbar zugänglich sind uns die Schallwellen mit ihren primären Eigenschaften nicht. Wir hören sie als Klänge (und Geräusche). Die primären Eigenschaften der den Klängen zugrunde liegenden Konfigurationen von Schallwellen, deren Frequenz, Amplitude und Lokalisierung, sind präzise nur durch Messgeräte zu erfassen. (Klänge ermöglichen allenfalls Schätzungen der Primäreigenschaften einzelner Wellen.) Schallwellen sind Hypostasen, die abduktiv gerechtfertigt sind. Intersubjektiv wird ihre Existenz anerkannt, weil aus ihrer Annahme erfolgreiche Erklärungen folgen. Die primären Eigenschaften musikalischer Werke sind unabhängig von unseren Vermögen der Sinneswahrnehmung, unabhängig von unserer kognitiven Verarbeitung der wahrgenommenen Klänge, das heißt deren Kontextualisierung, und unabhängig von repräsentationalen Schemata der Deutung von Musik bestimmt. Zweitens nehmen wir sekundäre Eigenschaften der Schallwellen wahr, wenn sie unsere Sinnesorgane stimulieren. Wir hören Klänge, die eine Lautstärke und eine Klangfarbe besitzen. Die Klangfarbe erschließen wir vorbewusst aus der Menge der gleichzeitig wahrgenommenen Frequenzen (und weiteren Faktoren). Teil der auditiven Wahrnehmung ist auch die räumliche Lokalisierung der Klänge. Sekundäre Eigenschaften können wir immer nur vermittelt durch unsere Sinnesorgane wahrnehmen. Dieselben primären Eigenschaften können von verschiedenen Perzipienten, deren sensorische Ausstattung oder etwa deren Position im Raum voneinander abweichen, als unterschiedliche Sekundäreigenschaften wahrgenommen werden. Zu einer intersubjektiven Einigkeit über Sekundäreigenschaften desselben (akustischen) Gegenstandes können wir nur gelangen, wenn Normalbedingungen der Wahrnehmung vorausgesetzt werden, insbesondere dieselbe Ausstattung der Sinnesorgane oder eine bestimmte Position im Raum (und ineinander wenigstens übersetzbare Begriffsschemata). Sekundäreigenschaften supervenieren – um es mit Vogel zu sagen – bedingt über Primäreigenschaften. Damit wird folgende modale Relation der Eigenschaftsebenen behauptet: Ununterscheidbare Primäreigenschaften implizieren ununterscheidbare Sekundäreigenschaften, gegeben dieselben Bedingungen der Wahrnehmung. Gleichzeitig können Sekundäreigenschaften nicht auf Pri88 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

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märeigenschaften reduziert werden. 14 Unterscheidbare Sekundäreigenschaften implizieren keine Unterschiede der Primäreigenschaften, wenn die Bedingungen ihrer Wahrnehmung voneinander abweichen. Drittens sind musikalische Eigenschaften, das heißt sowohl formale als auch expressive, als tertiäre Eigenschaften aufzufassen, die über den primären und sekundären Eigenschaften aufgeführter musikalischer Werke supervenieren, und zwar ebenfalls bedingt. Denn wir einigen uns über musikalische Eigenschaften – zum Beispiel harmonische, rhythmische, melodische, kontrapunktische oder formalästhetische (etwa formale Stimmigkeit oder Harmonie) – nicht allein dadurch, dass wir Normalbedingungen der Wahrnehmung (und ineinander wenigstens übersetzbare Begriffsschemata) voraussetzen. Wir müssen darüber hinaus vielmehr von der Annahme ausgehen, dass wir in ein und denselben musikalischen Kontext einsozialisiert worden sind. Darunter zu verstehen ist, dass musikalische Eigenschaften von einem weiteren Kontext abhängen, nämlich nicht einem repräsentionalen Kontext, sondern meist von einem Kontext anderer Werke absoluter Musik (und den absolutmusikalischen Anteilen anderer musikalischer Werke). 15 Musikalische Sinneigenschaften sind – entgegen der Ansicht Budds – nicht Eigenschaften einer klanglichen Oberfläche (audible surface), die uns offen präsentiert wird, sondern werden uns affektiv gewahr erst nach ihrer Kontextualisierung, das heißt nach ihrer vorbewussten kognitiven Verarbeitung im involvierten Hörmodus. 16 Es ist charakteristisch für die musikalische Praxis, Die Beziehung der Supervenienz wird allgemein wie folgt charakterisiert: (S1) Existentielle Abhängigkeit von der tieferen Eigenschaftsebene, (S2) Kovarianz mit der tieferen Eigenschaftsebene, gegeben dieselben kontextuellen Bedingungen (bei den Sekundäreigenschaften: Normalbedingungen der Wahrnehmung und ineinander wenigstens übersetzbare Begriffsschemata), (S3) Nicht-Reduzibilität der höheren Eigenschaftsebene auf die tiefere. Der Supervenienzbegriff wird in der Philosophie nicht einheitlich verwendet, wie Kim betont. Vgl. Kim 1993b. Vgl. dazu auch Levinson 1990b, S. 157 f., FN 2, und Schaffer 2009, S. 364. 15 Die Klausel in Klammer sei im Folgenden stets mitgemeint, wenn ich von einem »Kontext absoluter Musik« spreche. Vgl. zur Kontextabhängigkeit von ästhetischen Urteilen Walton 1970, insbesondere S. 366 f. Bei dem Kontext kann es sich (im Ausnahmefall) auch nur um einen lokalen Kontext handeln. Vgl. mein Abschnitt 3.1.3.3. 16 Budd vernachlässigt diesen Punkt und scheint in Unkenntnis der beträchtlichen Fortschritte etwa der kognitionswissenschaftlichen Beschäftigung mit Musik der letzten Jahrzehnte, wenn er behauptet, dass die Psychologie sich noch in einem »primitiven Stadium« befände und deswegen nichts zur musikphilosophischen Forschung beitragen könne. Vgl. Budd 1995, S. 158 f., und S. 203, FN 2. Gleichzeitig betont selbst 14

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dass wir musikalische Werke nicht als Solitäre betrachten, dass wir an Konzerten in der Regel mehr als ein Stück mehr oder weniger bewusst hören, dass wir im Lauf unseres Lebens zahlreiche Werke, vielleicht bisweilen auch nur in Auszügen, vorgesetzt bekommen. Wir sind von Musik umgeben. Die Grenzen des Kontextes sind dabei nicht exakt abgesteckt. Ungefähr verlaufen sie im engeren Sinn innerhalb eines bestimmten Stils, einer bestimmten Epoche, in der ein Werk geschrieben wurde. Im weiteren Sinn weist der Kontext aber oft deutlich über eine Epoche hinaus. 17 Basale formale musikalische Eigenschaften gehören der tertiären Eigenschaftsebene an. Wenn wir zum Beispiel einen Ton als Terz zu einem Grundton hören, so setzt dies in unserer Wahrnehmung den Hintergrund einer Tonsystematik, einer tonalen Harmonik voraus. Wir können den Ton nicht als Terz bestimmt hören, wenn wir nicht einen tonalen Rahmen vorauszusetzen in der Lage sind, in den wir die wahrgenommenen Sekundäreigenschaften einordnen und dadurch als musikalische Eigenschaften identifizieren. 18 Es ist hier wichtig zu betonen, dass uns weder diese Annahmen bewusst noch die entsprechenden Fachtermini geläufig sein müssen. Vielmehr »berechnen« wir die musikalischen Eigenschaften vorbewusst. Selbst musikalische Dynamik ist von der sekundär wahrgenommenen Lautstärke zu unterscheiden. Denn was musikalisch als »laut« gilt, hängt vom jeweiligen Kontext ab, in dem ein Werk steht – ein Forte einer Flötenpartita ist, als Sekundäreigenschaft wahrgenommen, weniger laut als ein Forte eines Orchesterwerkes. Expressive Eigenschaften sind ebenfalls tertiäre Eigenschaften insofern, als sie auf dieser Ebene grob bestimmt sind. Freilich sind sie Eigenschaften, die wir Werken absoluter Musik metaphorisch zuschreiben. Jedoch sind sie in ihrer groben Bestimmtheit nicht abhängig von der Wahl eines repräsentationalen Deutungskontexts, sondern ausschließlich von formalen Eigenschaften sowie dem Kontext Budd implizit den Aspekt der kognitiven Verarbeitung akustischer Stimuli im Rahmen eines sozial instituierten Kontextes, wenn er sagt, dass musikalische Sinneigenschaften nur »kultivierten Ohren« zugänglich seien. Vgl. Budd 1995, S. 146. 17 Beispielsweise prägt die Tonalität mehrere Epochen. Wenn wir etwa tonale Eigenschaften bestimmen, tun wir dies vor einem Kontext, der über eine einzelne Epoche hinausragt. Noch weiter ist der Kontext, wenn wir etwa Töne als Bestandteil eines diatonischen Tonsystems hören. Von engeren Kontexten auszugehen ist bei Neuer Musik. 18 Vgl. etwa Scruton 1997, S. 15 f.

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weiterer Werke absoluter Musik. In einem solchen Kontext erleben wir Werke absoluter Musik als ein sich vorbewusst vollziehendes Spiel mit subpersonalen formalen Erwartungen, das uns affiziert. Weder formale noch expressive Sinneigenschaften musikalischer Werke können wir an einzelnen akustischen Ereignissen allein erkennen. Erst wenn wir sie mit anderen akustischen Ereignissen, nämlich weiteren werkinternen und (meist auch) den aus der Aufführung anderer musikalischer Werke folgenden, vergleichen, sie in einem musikalischen Kontext, etwa melodisch, harmonisch, kontrapunktisch, formal usw., ordnen – noch einmal: diese kognitiven Prozesse verlaufen größtenteils vorbewusst –, hören wir sie als formal strukturiert, oder möglicherweise als expressiv. Erst dann werden aus wahrgenommenen akustischen Eigenschaften musikalische. Viertens können selbst Werken absoluter Musik metaphorisch repräsentationale Eigenschaften und damit Bedeutungen zugeschrieben werden, und zwar dann, wenn sie vor dem Hintergrund einer repräsentationalen Folie interpretiert oder wahrgenommen werden. 19 Intersubjektive Einigkeit über quartäre Eigenschaften musikalischer Werke kann es nur unter der Voraussetzung eines geteilten repräsentationalen Deutungskontextes geben. Die Supervenienzrelation zwischen der dritten und vierten Ebene der Eigenschaften musikalischer Werke ist bedingt durch eine spezifische Art von Kontext, nämlich einem repräsentationalen. Insofern die Wahl von repräsentationalen Deutungskontexten Teil eines prozessual-offenen Diskurses ist, sind quartäre Eigenschaften epistemisch »weich«. Werden die tertiären expressiven Eigenschaften von Werken absoluter Musik vor dem Hintergrund eines repräsentationalen Kontexts gedeutet, so kann möglicherweise die Expressivität der Werke feiner bestimmt werden. So könnte behauptet werden, dass die Unvollendete (unter anderem) nicht nur Traurigkeit ausdrücke, sondern Traurigkeit über das gesellschaftlich-politische Klima der damaligen Zeit, oder Traurigkeit über den Tod von Schuberts Mutter. Im Rückgriff auf meine Unterscheidung von Expressivität und Ausdruck am Anfang meines ersten Kapitels könnte dann gesagt werden, das Werk sei künstlerischer Ausdruck der Affektivität einer Gesellschaft oder eines Komponisten. Auf quartärer Ebene können unter Umständen also sogar Träger der in ein Werk absoluter Musik einbeschriebenen Durch die Annahme einer repräsentationalen Folie kann die Wahrnehmung der Musik dabei transformiert werden.

19

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Musikalische Expressivität und Metaphorizität

Affektivität ermittelt werden. Eine weitere Konsequenz daraus ist, dass wir uns zu einem solchermaßen genau bestimmten Ausdruck wiederum affektiv verhalten können, indem wir ihn bewerten. Wir könnten etwa die Traurigkeit über die Zeit der Restauration für eine unangemessene Emotion halten und deswegen über die Unvollendete befremdet sein, oder wir könnten mit den Mitgliedern der damaligen Gesellschaft uns in sie hineinfühlen beziehungsweise mitfühlen. 20 Die Unterscheidung der vier Ebenen von Eigenschaften musikalischer Werke geht einher mit verschiedenen Graden epistemischer »Festigkeit«, aber auch mit einem unterschiedlichen Beitrag zum Verständnis eines Werkes. Auffallend ist dabei, dass epistemisch »solide«, unabhängige Eigenschaften in der Regel nur wenig zum Verständnis musikalischer Werke beitragen. Auf primäre und sekundäre Eigenschaften rekurrieren wir in unseren Beschreibungen musikalischer Werke nur in Ausnahmefällen, etwa wenn bei der Analyse eines spektralistischen Werkes Klänge in ihre physikalischen Einzelbestandteile zerlegen oder wenn wir Klangursachen in Werkdeutungen einschließen. Ein ganzheitliches Verstehen der Werke ist nur mit Bezug auf quartäre Eigenschaften möglich, die jedoch immer umstritten bleiben müssen, da ihr epistemischer Status prekär ist. Expressive Eigenschaften hängen in ihrer groben Bestimmtheit nicht von repräsentationalen Kontexten der Deutung ab. Ihr epistemischer Status ist somit etwas solider als derjenige der quartären Eigenschaften, auch wenn über die Abgrenzung des Werkkontextes, von dem sie abhängen, bisweilen gestritten werden kann. 21 Allerdings erlaubt bereits eine ungefähre Abgrenzung die Bestimmung tertiärer Eigenschaften, und exotische Ausweitungen des Kontextes sind offensichtlich unplausibel. Zum Beispiel würden zum relevanten Werkkontext von Schuberts Unvollendeter sinnvollerweise Werke der frühen Romantik gezählt, möglicherweise auch der Klassik, aber nicht etwa der Renaissance. 22 Rinderle sieht darin, dass wir so unsere reaktive Affektivität einüben, einen zentralen Wertaspekt von Kunstwerken, auch von musikalischen Werken. Vgl. Rinderle 2010, S. 164–185. 21 Daher scheint es mir S. Davies’ Formulierung, wonach expressive Eigenschaften »objektive« Eigenschaften seien (in S. Davies 2001c, S. 7), überzogen. 22 Problematisch wird die Abgrenzung allerdings häufig bei Neuer Musik. Deren Kontext ist von Fall zu Fall zu bestimmen, ist bisweilen, wie gesagt, sehr eng (umfasst nur weitere Werke des Komponisten und dessen engstes Umfeld) oder bisweilen gespreizt, wenn sich etwa ein Werk auf Stile der Alten Musik bezieht. Die Schwierigkeit 20

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Integratives Modell der Eigenschaften absoluter Musik

In der folgenden Abbildung fasse ich das integrative Modell der Eigenschaften absoluter Musik zusammen. Ontologische Ebene Epistemische Zugäng- Metaphorizität von Beitrag zum Vervon Eigenschaften lichkeit der EigenEigenschaftszuständnis musikaschaften schreibungen lischer Werke Primär Schallwellen

Hypostase, abduktiv gerechtfertigt

Nein

Bisweilen ansatzweise

Sekundär Klänge

Abhängigkeit von Nor- Nein malbedingungen der Wahrnehmung, insbesondere von der Funktionstüchtigkeit und Ausstattung der Sinnesorgane

Bisweilen ansatzweise

Tertiär Musikalischer Sinn: Musikalische Form und Expressivität

Abhängigkeit zusätzlich zu den Bedingungen der Sekundärebene von Einsozialisierung in Kontext anderer absoluter Werke; Voraussetzung involvierter Hörmodus

Teilweise (Expressivität kann formale Besonderheiten verständlich machen; Verstehen musikalischen Sinns)

Quartär Musikalische Bedeutung (allenfalls auch Feinbestimmung der Expressivität als künstlerischer Ausdruck)

Abhängigkeit zusätz- Ja, häufig kreative lich zu den Bedingun- Metaphorizität gen der Sekundär- und Tertiärebene von möglichen repräsentationalen Kontexten einer offen-prozessualen Deutung; Deutungsprozess setzt Wahrnehmung tertiärer Eigenschaften voraus und kann Wahrnehmung transformieren

Formale teilweise, expressive immer; in beiden Fällen aber kaum kreative Metaphorizität

Ganzheitliches Verstehen (vor dem Hintergrund plausibler Deutungskontexte)

Abb. 1: Integratives Modell der Eigenschaften absoluter Musik (bedingte Supervenienz der Eigenschaftsebenen)

der Bestimmung eines angemessenen Hörkontextes manifestiert sich in der notorischen Überforderung und Frustration vieler Hörer mit Werken Neuer Musik (und etwas weniger ausgeprägt auch bei Alter Musik), deren Sinn sie darob oft nicht zu fassen vermögen.

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Musikalische Expressivität und Metaphorizität

2.2. Metaphorische Beschreibungen von Musik 2.2.1. Zuschreibungen affektiver Zustände zu Werken absoluter Musik als Metaphern Wenn wir musikalischen Werken affektive Zustände zuschreiben, dann verstoßen wir in flagranter Weise gegen intersubjektiv geteilte Regeln der Verwendung von Ausdrücken affektiver Zustände: Es scheint prima facie abwegig, musikalischen Werken Zustände zuzuschreiben, in denen sich nur Lebewesen befinden können. Eine Aussage, die eine solche Zuschreibung enthält, irritiert, weil sie buchstäblich falsch ist. Sie fordert deswegen unser Verstehen heraus. Der Sprecher möchte etwas mitteilen, das nicht mit der buchstäblichen Bedeutung der Aussage übereinstimmt. Er verwendet die Prädikate, die für affektive Zustände stehen, metaphorisch. 23 Metaphern sind in unserer Sprache allgegenwärtig, keinesfalls ein Sonderphänomen (ein Beispiel im vorangehenden Abschnitt: »geteilte Regeln«). Jedoch sind nicht alle Metaphern gleich lebendig. Manche Metaphern fordern unser Verstehen weniger als andere, weil sie sich in der Sprachpraxis etabliert haben. Sie verbleichen und wandeln sich dann zu weiteren fixen Bedeutungen von Wörtern (Beispiel: »teilen« – erste, buchstäbliche Bedeutung gemäß dem DUDEN: 24 »ein Ganzes in seine Teile zerlegen«; bei »geteilte Regeln« am ehesten relevant ist die quartäre Bedeutung: »gemeinschaftlich nutzen, benutzen, gebrauchen«). Auch im Fall der Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken vor einer repräsentationalen Deutung handelt es nicht um lebendige oder gar kreative Metaphern. 25 Es könnte deshalb vermutet werden, dass auch bei ZuschreiVgl. zu Metaphertheorien Beardsley 1962, S. 299, D. Davidson 1978, S. 41, und Searle 1979b, S. 77. Nicht alle Metaphern sind aber buchstäblich offensichtlich falsche Aussagen. Auch buchstäblich allzu offensichtlich wahre Aussagen begünstigen einen metaphorischen Gebrauch, da sie ebenso wie offensichtlich falsche Aussagen irritieren und eine metaphorische Deutung anregen. Offensichtlich falsche Aussagen können nicht nur Metaphern, sondern auch andere Tropen darstellen. So könnten sie etwa ironisch gemeint sein. Eine solche Lesart wäre aber im Fall der Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken kaum interessant. 24 Vgl. www.duden.de/rechtschreibung/teilen (22. 05. 2013). 25 Dies betont auch S. Davies. Vgl. S. Davies 2011c, S. 25–31. Die These, wonach Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken vor einer repräsentationalen Deutung Metaphern seien, vertreten namentlich John Nolt, Scruton, Trivedi, Kendall Walton und Zangwill. Vgl. Nolt 1981, S. 140 f., Scruton 1997, S. 154, Trivedi 23

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Metaphorische Beschreibungen von Musik

bungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken Termini der Affektivität in sekundärer (oder n-ter) Bedeutung verwendet würden. Bestätigte sich die Vermutung, so wäre ein Ansatz zu einer Lösung des Problems musikalischer Expressivität, wie ich es formuliert habe, bereits gefunden. In zwei Arten von Theorien musikalischer Expressivität wird das Problem denn auch angegangen, indem zunächst eine sekundäre Bedeutung von Affekttermini erläutert wird: Einerseits argumentieren Proponenten der Konturtheorie, etwa S. Davies oder Kivy, in einem ersten Schritt, dass wir bisweilen Lebewesen mit Termini aus dem Bereich der Affektivität beschreiben würden, ohne dass sie sich notwendigerweise in affektiven Zuständen befänden. Kivy bringt immer wieder das Beispiel der Gesichtszüge des Bernhardiners, die stets Traurigkeit ausdrückten, selbst wenn der Hund überhaupt nicht traurig sei. Noch augenscheinlicher wird die sekundäre Verwendungsweise, wenn wir Gegenstände oder tote Lebewesen mit Affekttermini beschreiben, etwa wenn wir sagen, ein Feld verblühter und abgestorbener Sonnenblumen drücke Traurigkeit aus. In einem zweiten Schritt legen Konturtheoretiker dar, inwiefern musikalische Werke Konturen aufweisen können, auf die wir Affektprädikate in der eben erläuterten Sekundärbedeutung anwenden. 26 Andererseits ist es in unserem Sprachgebrauch gar nicht ungewöhnlich, Affektprädikate auf (tote) Gegenstände oder Situationen anzuwenden. So sprechen wir etwa von einem traurigen Brief oder einer freudigen Begegnung. In diesen Beispielen evozieren die Gegenstände oder Situationen Traurigkeit beziehungsweise Freude. Da, unter anderem auch im Deutschen, eine Sekundärbedeutung von Affektprädikaten existiert, verstehen wir die Aussagen, obschon die Gegenstände oder Situationen offensichtlich nicht Träger von affektiven Zuständen sein können. 27 Proponenten einer – allerdings simplen – Evokationstheorie musikalischer Expressivität könnten diese Sekun2008, Walton 1997, S. 64, und Zangwill 2007, insbesondere S. 393. Zangwill hält die Zuschreibungen für lebendige Metaphern, S. Davies hingegen für tote, weswegen er bisweilen etwas missverständlich von »buchstäblichen« Zuschreibungen spricht. Damit meint S. Davies aber, dass wir Affektprädikate, wenn wir sie musikalischen Werken zuschreiben, in sekundärer (oder n-ter) Bedeutung »buchstäblich« verwenden. 26 Vgl. zur Konturtheorie meine Abschnitte 1.3.1. und 2.2.2.2. 27 Vgl. zum Beispiel www.duden.de/rechtschreibung/traurig (22. 05. 2013). Als Sekundärbedeutung aufgeführt ist bei dem Adjektiv »traurig« »Trauer, Kummer, Betrübnis hervorrufend, verursachend«. Auf diese Sekundärbedeutung von Termini affektiver Zustände verweist auch Nolt in seinem Entwurf einer Evokationstheorie musikalischer Expressivität. Vgl. Nolt 1981, S. 149.

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Musikalische Expressivität und Metaphorizität

därbedeutung zur Begründung ihrer Position heranziehen. In einem ersten Schritt könnten sie zu zeigen versuchen, dass musikalische Werke affektive Zustände auslösten, und in einem zweiten Schritt könnten sie auf die eben erörterte Sekundärbedeutung verweisen, die wir ihrer Ansicht nach gebrauchen, wenn wir Affektprädikate auf musikalische Werke beziehen. (Die Position, die ich verteidigen werde, enthält einen evokationistischen Teil. Die Tatsache, dass (selbst) absolute Musik uns affizieren kann, scheint mir ein unverzichtbarer Bestandteil einer Theorie musikalischer Expressivität zu sein. Ich werde für eine Position plädieren, die besagt, dass uns musikalische Werke affizieren, wenn wir sie involviert hören. Die Anwendung von Affektprädikaten auf diese Werke nehmen wir aber erst nach einer Beurteilung der Signifikanz der evozierten Gefühle im Kontext weiterer Werke absoluter Musik vor.) 28 Sowohl lebendige als auch verblichene Metaphern lassen sich als Transfers eines Begriffs aus einem ursprünglichen in einen neuen, fremden Bereich auffassen. Dabei stellt sich die metaphertheoretische Kardinalfrage, worauf die Transfers gründen. Eine Antwort auf diese Frage könnte auch Ansatzpunkte für eine fundamentale Explikation musikalischer Expressivität erkennen lassen. Eine einfache Antwort könnte lauten, dass metaphorische Transfers dann gelingen können, wenn Ähnlichkeiten zwischen Aspekten der Bedeutung eines Begriffs in dem ursprünglichen und dem neuen Bereich bestehen. Doch ist diese Antwort kaum griffig. Denn in bestimmter Hinsicht ähnelt alles allem. 29 Nach den Ansätzen Max Blacks und Donald Davidsons gründen Metaphern nicht nur auf Ähnlichkeiten, sondern lenken unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Hinsichten der Ähnlichkeit: Sie schaffen die Ähnlichkeit, sie restrukturieren unsere Wahrneh-

Meine Position arbeite ich im vierten Kapitel aus. Vgl. Goodman 1972b, S. 437–446. Allerdings passt gerade die Unschärfe des Ähnlichkeitsbegriffs dazu, dass wir in unserer Sprachpraxis offen für eine Vielzahl metaphorischer Transfers sind. Die Aspekte aus dem ursprünglichen Verwendungsbereich, auf denen die Metaphern gründen, müssen dabei nicht notwendigerweise sachlich zutreffend sein. In dem Beispiel »Peter ist ein Schwein« kann der Transfer nicht mit Eigenschaften von Schweinen erklärt werden. Schweine sind keineswegs ungepflegte Tiere. Sie können sich auch nicht unangemessen verhalten. Vielfach ziehen wir Stereotype von Begriffsbedeutungen heran, wenn wir Metaphern verstehen möchten. Vgl. dazu Black 1954–1955, S. 288 (er spricht von »associated commonplaces«), Beardsley 1962, S. 294, und Searle 1979b, S. 89–91.

28 29

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Metaphorische Beschreibungen von Musik

mung. 30 Theorien der musikalischen Expressivität können als Varianten von Paraphrasen solcher metaphorisch angezeigter Ähnlichkeitsrelationen aufgefasst werden, als Präzisierungen der Hinsichten von Ähnlichkeiten zwischen musikalischen Werken und der menschlichen Affektivität. Dabei liegen den Theorien verschiedene Relata der Ähnlichkeitsbeziehung zugrunde. Konturtheoretiker stellen die Ähnlichkeit expressiver und musikalischer Konturen in das Zentrum ihrer Überlegungen, Evokationstheoretiker Ähnlichkeiten zwischen unseren alltäglichen und musikalischen affektiven Erfahrungen, Personentheoretiker Ähnlichkeiten zwischen narrativen Eigenschaften musikalischer Werke und der Vita einer fiktiven Person. Metaphertheoretisch lassen sich die Theorien nicht weiter würdigen. Sofern wir die Ähnlichkeiten, auf die uns Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken hinweisen, wahrnehmen können, leuchten all die genannten Ansätze ein.

2.2.2. Von repräsentationalen Deutungskontexten abhängige Metaphern 2.2.2.1. Metaphorische Deutungen musikalischer Werke Werke absoluter Musik haben einen Sinn. Wir erleben sie oft als in sich stimmig, als einheitlich, das heißt, als müssten sie so geschrieben sein, wie sie geschrieben sind. Ihr Verlauf scheint uns sinnvoll. Wir können sie synchron verstehen, auch wenn wir uns dabei keinen repräsentationalen Gehalt vorstellen – einen repräsentationalen Gehalt umfassen Werke absoluter Musik unmittelbar per definitionem ohnehin nicht. Proponenten der Schule der New Musicology stellen jedoch dem Begriff des musikalischen Sinnes den Begriff der musikalischen Bedeutung entgegen, selbst bei Werken absoluter Musik. Zu ihnen zählen neben dem Begründer Joseph Kerman unter anderem Susan McClary, Lawrence Kramer, Richard Leppert und Nicholas Cook. Ihre bevorzugte Methode ist die der Hermeneutik, angereichert mit Elementen des Feminismus, der Gender Theory und der kritischen Theorie. Proponenten der New Musicology geben sich mit einem auf tertiäre Eigenschaften der Werke beschränkten Zugang Vgl. Black 1954–1955, S. 289–291, und D. Davidson 1979, S. 33 u. S. 46. Schon Aristoteles hat die epistemische Funktion von Metaphern betont. Vgl. Arist. rhet. 1410b.

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Musikalische Expressivität und Metaphorizität

zu absoluten musikalischen Werken nicht zufrieden. Vielmehr betrachten und interpretieren sie auch Werke absoluter Musik – genauso wie Werke repräsentationaler Kunst – als historisch situierte Artikulationen sozialer Praktiken, Wertesysteme und Ideologien. Vor dem Hintergrund solcher Kontexte lassen sich der New Musicology zufolge durch metaphorische Interpretation selbst Werken absoluter Musik repräsentationale Gehalte zuschreiben. Die Methode der New Musicology kann insofern als antipositivistisch oder antiempiristisch bezeichnet werden, als sie über die in Aufführungen erklingenden, in Partituren und Noten fixierten und deswegen intersubjektiv klar nachweisbaren »musikalischen Fakten« hinausweist. 31 Repräsentationale Interpretationen entstehen als Teil einer asynchronen Werkrezeption in einem offenen Prozess der Deutung, der als Performanz einer Deutenden oder eines Deutenden immer emphatischer Ausdruck seiner oder ihrer Subjektivität und Freiheit in einer »posthumanistischen« Zeit sei. Daher könne die Methode der New Musicology auch als antidogmatisch aufgefasst werden. 32 Gerade die Hermetik absoluter Musik lasse den Interpretationseffort besonders deutlich hervortreten, der für Beschreibungen von Kunstwerken benötigt werde. Denn die Deutende müsse, wie L. Kramer unterstreicht, eine Hürde überspringen, eine Grenze überschreiten, wolle sie die Distanz zwischen einem Kunstwerk und seiner sprachlichen Deutung überwinden. 33 Diese Hürde sei bei absoluter Musik besonders hoch, da ein – in den Augen der Proponenten der New Musicology nur scheinbarer – Widerspruch zwischen absoluten musikalischen Werken und deren repräsentationaler Deutung bestehe. Die Bedeutung von Werken absoluter Musik sei unterbestimmt, vieldeutig, ambivalent. 34 Metaphorische Beschreibungen absolutmusikalischer Werke beruhten nach L. Kramer deswegen auf askripAnthony Newcomb, Cook und Nicola Dibben unterstreichen deshalb, dass nicht die Beweisbarkeit von Beschreibungen musikalischer Werke, sondern deren überzeugende, plausible Interpretation im Vordergrund des Ansatzes der New Musicology stehe. Vgl. Newcomb 1984, S. 638, und Cook/Dibben 2001, S. 66. 32 Vgl. L. Kramer 2011, S. 2 f. 33 Vgl. Cook 2007, S. 121, L. Kramer 2002, S. 170, L. Kramer 2011, S. 6, und L. Kramer 2012, S. 19. 34 Vgl. etwa L. Kramer 2012, S. 22 f., und Wellmer 2009, S. 9. (Wellmer ist kein Proponent der New Musicology.) Dies ist bei repräsentationalen Kunstformen auch häufig und bei spannenden Kunstwerken sogar meistens der Fall. An dieser Beobachtung zeigt sich, dass am hard case der absoluten Musik die Schwierigkeit der sprachlichen Charakterisierung von Kunst bloß besonders offensichtlich wird. 31

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Metaphorische Beschreibungen von Musik

tiven Sprechakten und bedingten den Einsatz sozialer und psychischer Energie, bisweilen gar »libidinalen Energie« der Deutenden. 35 Diese Energie werde in den Gegenstand, in das musikalische Werk übertragen und ermögliche ein tieferes Verständnis musikalischer Strukturen, ein anderes Wahrnehmen musikalischer Verläufe, das womöglich zuvor Ungehörtes oder Überhörtes erschließen lasse. Der Energie bedarf es nicht zuletzt, weil durch die Deutungen kreative Metaphern hervorgebracht werden. 36 Um die Bedeutung absoluter Musik zu verstehen, sind repräsentationale Deutungen erforderlich. In diesem Zusammenhang erstaunt es nicht, dass mit dem Aufkommen absoluter Musik im 19. Jahrhundert allenthalben den Werken zugeordnete »geheime« oder gar explizite Programme zu zirkulieren begannen. 37 Die Programmmusik ist insofern nicht ein Gegensatz zu absoluter Musik, sondern vielmehr eine Folgeerscheinung. Eine Methode des Zugangs zu möglichen repräsentationalen Schichten absoluter Musik ist es, ein Stück mit anderen Medien, insbesondere Bildmedien, zu koppeln und dann zu betrachten, ob und inwiefern die Medien interagieren. 38 Dabei informiert die Musik – autonom oder heteronom – ein repräsentationales Medium, das repräsentationale Medium umgekehrt kann einen möglichen Gehalt der Musik freilegen lassen. 39 Was das visuelle Medium in dem Fall bietet, ist ein repräsentationaler Kontext einer metaphorischen Deutung absoluter Musik. Ich möchte auf mein Beispiel der Unvollendeten Schuberts zurückkommen und daran die Methode der Koppelung

Vgl. L. Kramer 2002, S. 170. Im Unterschied dazu sind Zuschreibungen grob bestimmter affektiver Zustände zu Werken absoluter Musik tote Metaphern. 37 Vgl. Cook/Dibben 2001, S. 49 f. 38 Vgl. Cook 2007, S. 102–108, und L. Kramer 2002, S. 145–193. Cook koppelt den ersten Satz von Ludwig van Beethovens neunter Sinfonie an einen Werbespot für einen Citroën ZX 16v. 39 Filmmusik ist zum Beispiel in den meisten Fällen heteronom insofern, als sie allein kein vollständiges Kunstwerk darstellt, da oft etliche ihrer Strukturmerkmale von der Beschaffenheit des Bildmediums abhängen. Streng genommen gibt es eine Kunstform der Filmmusik nicht, sondern nur die Kunstform des Filmes, auch wenn bisweilen Filmmusik konzertant aufgeführt wird. Ich bin allerdings skeptisch, ob heteronome Filmmusik, ausgezehrt in einer konzertanten Aufführung, ganzheitlich als sinn- oder bedeutungsvoll gehört oder gedeutet werden kann. Probleme ergeben sich selbst dann, wenn zu einer Aufführung der Musik in einem Konzertsaal der Film projiziert wird, nämlich insofern, als durch die Sichtbarkeit des Orchesters Musik und Bild entzweit werden, als keine »filmische Räumlichkeit« entstehen kann. 35 36

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Musikalische Expressivität und Metaphorizität

illustrieren, und zwar anhand einer Sequenz aus dem Film Minority Report (2002, basierend auf einer Kurzgeschichte von Philip K. Dick): Kurz gesagt handelt der Film von einer Polizeieinheit Washingtons im Jahr 2054, der Precrime Unit, die Verbrechen vor der eigentlichen Tat aufklären und die Täter somit ex ante verhaften kann, wobei sie auf die Vorhersagen von drei mutierten Humanoiden angewiesen ist. 40 Die Einheit ist sehr wirkungsvoll. So hat es seit sechs Jahren in Washington keinen Mord mehr gegeben. Allerdings gerät das System in dem Moment aus den Fugen, in dem ein Mitglied der Einheit – der Hauptprotagonist des Films, der Polizist John Anderton (Tom Cruise) – sich selbst als Täter identifiziert und sein Schicksal zu beeinflussen sucht – mit Erfolg: Er wird den Mord nicht begehen. Für den Film hat John Williams eine heteronome Filmmusik geschrieben. Ausschnitte aus Schuberts Sinfonie werden gezielt dann eingesetzt, wenn die Humanoiden eine Vorhersage machen, die sie als Vision, als Kurzfilm Anderton darreichen. Gezeigt wird ab der Mitte der zweiten Sequenz (0:38:22 bis 0:39:45) zuerst eine Holzkugel, die, ähnlich wie bei einer Ziehung der Lottozahlen, durch eine Röhre herunterrollt, gefolgt vom Zukunftsvision-Kurzfilm. Auf der Kugel ist der Name des Täters eingraviert. Schuberts Musik wird bewusst in die Sequenz eingepasst. Der Übergang von Introduktion und dem ersten Thema des ersten Satzes fällt mit dem Beginn des Zukunftsvision-Kurzfilmes zusammen. Außerdem wurde die Musik bearbeitet, zusammengeschnitten, und sie erklingt meist zusammen mit der Dialog- und Klangebene des Films. Auch wurde ein hoher Streicherton hinzukomponiert, der sich zum Teil stark an Schuberts Harmonien reibt, und die Lautstärke der tiefen Streicher und der Schlusskadenzen wurde erhöht. Inwiefern informiert die Musik die Bildebene des Filmes? Und inwiefern schafft uns der Film einen möglichen repräsentationalen Kontext, der eine metaphorische Beschreibung von Schuberts Unvollendeter anregen könnte? Ich beginne mit der zweiten Frage. Im Film gezeigt wird das System einer polizeilichen Überwachung des Individuums, die bis in die Tiefe seines psychischen Raumes vordringt (die Wirklichkeit ist diesem – in düsterer Kolorierung dargestellten – Schreckensszenario schon beängstigend nahe) und somit Ein anscheinend zentrales philosophisches Thema des Filmes ist die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit. Das Thema spielt für meine Diskussion an dieser Stelle keine Rolle.

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Metaphorische Beschreibungen von Musik

Mittel einer totalen Unterdrückung bereitstellt. 41 Schuberts Sinfonie ist in der Zeit der Restauration entstanden. Damals wurde vom Fürsten von Metternich ein umfassendes staatliches Überwachungs- und Spitzelsystem eingerichtet, das System Metternich. Der Kontext der totalitären Überwachung des Individuums ist eine plausible Folie einer Deutung von Schuberts Werk. Gerade die Expressivität derjenigen Passagen, die in den Sequenzen in der Tonmischung dynamisch hervorgehoben werden, lassen sich vor dem Hintergrund dieses Kontextes verständlich machen: die gedämpfte Stimmung, das Gefühl »abgründiger Lieblichkeit« 42 , das heißt das Gefühl einer auch in scheinbar harmlosen Situationen ständig präsenten, paranoiden Unsicherheit, eine innere, ungerichtet-manische Aktivität, abrupt unterbrochen von heftigen Ausbrüchen. Die Koppelung an den Film erlaubt die metaphorische Deutung von Abschnitten der Sinfonie. Die Introduktion in den tiefen Streichern könnte für die Bedrohung, das Monströse eines totalitären Überwachungssystems stehen, die allgemein, von den Ausbrüchen abgesehen, eher gedämpfte Dynamik für das Gefühl der Ernüchterung in der Zeit der Restauration. (Mit der Dynamik wird es auch ausgedrückt.) Weiter können an formalen Feinheiten der Sinfonie in ähnlicher Weise metaphorische Bedeutungen abgelesen werden, die ich aber erst im vierten Kapitel anspreche – etwa die allgegenwärtigen strukturellen oder prozessualen »Deformationen«, die ein Gefühl der Unsicherheit evozieren, das das Überwachungssystem bei den unablässig verfolgten Bürgern auslöst. Die Koppelung an den Film zeigt vor allem eines: wie sehr Schuberts Unvollendete den Geist der Restauration atmet. Umgekehrt bereichert die Musik die Bildebene. Sie verläuft formal parallel zum visuellen Verlauf – dies habe ich schon angesprochen. Formal werden die mit Schuberts Musik unterlegten VisionsSequenzen vom Rest des Filmes abgehoben, der mit der Musik Williams’ vertont wurde. Insbesondere verbinden sie aber symbolisch das kontrafaktische Zukunftsszenario des Filmes, genauer gesagt die Visions-Sequenzen als Zukunft der Zukunft, mit einer historischen Wirklichkeit. Das Übergreifen staatlicher (und ebenfalls ökonomischer) Macht in die Privatsphäre seiner Bürger war eine Wirklichkeit, und, so wird mit der Musik Schuberts suggeriert, kann auch wieder zur Wirklichkeit werden. Die Zuschauerin des Filmes mag den visu41 42

Vgl. Mitchell 2002. Einstein 1952, S. 236.

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Musikalische Expressivität und Metaphorizität

ellen Gehalt als hypothetisch betrachten und sich dadurch innerlich von dem dargestellten Szenario distanzieren. Mit der Musik werden all ihre Versuche der Distanzierung aber unterminiert. Schuberts Musik dramatisiert die Bildebene, indem sie daran erinnert, dass im Science-Fiction-Szenario Themen verhandelt werden, die uns aktuell betreffen. Allerdings setzt dies propositionales Kontextwissen über Schuberts Sinfonie voraus. Wie in meiner kurzen Illustration der Methode der Koppelung anschaulich wird, lassen sich selbst Werken absoluter Musik metaphorisch Bedeutungen zuschreiben, sofern sie in einen Kontext gestellt, sofern sie vor einer repräsentationalen Hintergrundfolie gedeutet werden, und zwar verblüffend mühelos. Walton schreibt etwa: »[Absolute] Music stands ready to take on an explicit representational function at the slightest provocation … music can be nudged … easily into obvious representationality« 43

Eine wesentliche These der New Musicology besagt, dass wir Musik, auch absolute Musik, immer als eingebettet in bestimmte (repräsentationale) Kontexte hören, seien es ästhetische, soziale, politische oder ökonomische. Diese Kontexte wandeln sich ständig. 44 Auch eine formalistische Weise des Hörens und damit die Negierung musikalischer Bedeutung wird von Proponenten der New Musicology lediglich als ein möglicher, historisch kontingenter Hörkontext aufgefasst, der, wenn überhaupt, höchstens gleichberechtigt neben anderen steht. Eine Priorisierung dieses von Formalästhetikern wie zum Beispiel Hanslick bevorzugten Hörkontextes über andere Kontexte, die etwa die Freilegung musikalischer Bedeutung erlaubten, sei nicht zu begründen und lasse insbesondere die Umstrittenheit, die Brisanz auch von Werken absoluter Musik nicht erklären. Darüber hinaus kann rigiden Formalästhetikern vorgehalten werden, dass ihr Ansatz selbst eine bestimmte säkularisierende, entpolitisierende Deutung impliziere, die darob aber nicht minder (religions-)politisch sei. 45 Peter Kivy dagegen ist skeptisch, ob Werken absoluter Musik zu Recht eine Bedeutung zugeschrieben werden kann. Für ihn stehen Proponenten der New Musicology vor einem Beliebigkeitsproblem, mit dem sich vielleicht auch erklären lässt, weswegen es scheinbar so

43 44 45

Walton 1997, S. 58. (Walton ist kein Proponent der New Musicology.) Vgl. dazu insbesondere L. Kramer 2011, S. 20. Vgl. Goehr 1993, S. 178. (Goehr ist keine Proponentin der New Musicology.)

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Metaphorische Beschreibungen von Musik

leicht fällt, Werke absoluter Musik mit einem repräsentationalen Gehalt aufzuladen. Sie begingen schlicht eine petitio principii, wenn sie ein Werk absoluter Musik zuerst in einen bestimmten repräsentationalen Kontext stellten und dann zu der Deutung gelangten, das Werk stehe in einer gewissen Hinsicht für diesen Kontext. (In meinem Beispiel: Schuberts Sinfonie wird zuerst vor den Hintergrund der Restauration gestellt, dann als Dokument ebenjener Zeit interpretiert.) Kivy fasst seine Kritik an der Methode der New Musicology wie folgt zusammen: »It is a procedure every bit as metaphysically impossible as six characters in search of an author.« 46

Kivy belässt es aber nicht bei einer Kritik der New Musicology, sondern entwickelt eine Vermittlungsposition zwischen einer Bedeutungstheorie absoluter Musik und einem rein formalistischen Ansatz. Er hält fest, dass eine rein formalistische Weise des Zugangs zu absoluter Musik methodologisch legitim sei, solange sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe, solange sie nur »this is all I am interested right now« behaupte, und nicht »this is all there is«. 47 Er räumt ein, dass selbst Werke absoluter Musik expressiv sein könnten. Expressive Eigenschaften seien Eigenschaften musikalischer Werke vor einer repräsentationalen kontextuellen Interpretation, und deswegen können sie Gegenstand einer Analyse der Faktur eines Werkes sein. Sie seien ein »vernünftiges Limit« des kritischen Umgangs mit Werken absoluter Musik. Kivy sieht seine Vermittlungsposition einer »analysis with a difference« als goldene Mitte zwischen dem Extrem eines puristischen Formalismus und dem Extrem einer musikalischen Bedeutungsästhetik der New Musicology. 48 Kivys Vermittlungsposition lässt sich so fassen, dass er bestreitet, dass Werken absoluter Musik gerechtfertigterweise quartäre Eigenschaften metaphorisch zugeschrieben werden können. Ich halte seine Position für zu eng, obschon er anerkennt, dass Werke absoluter Musik expressive Eigenschaften mit guten Gründen zugeschrieben werden können. Freilich besteht bei metaphorischen Deutungen rein formaler Kunstwerke wie etwa von Werken absoluter Musik immer das Problem nicht nur der Beliebigkeit, sondern auch die Gefahr, dass 46 47 48

Kivy 1990a, S. 254. Vgl. Kivy 1990a, S. 261–263. Vgl. Kivy 1990a, S. 267.

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Musikalische Expressivität und Metaphorizität

die abstrakten musikalischen Strukturen und Prozesse nicht hinreichend genau betrachtet werden. So schreibt Leo Treitler etwa mit Bezug auf die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Aufsatzes noch junge Bewegung der New Musicology: »the tendency of the moment is toward the replacement of music with interpretation« 49

Trotzdem möchte ich für eine weite, integrative Vermittlungsposition eintreten, in der die metaphorische Zuschreibung von repräsentationalen Eigenschaften zu Werken als quartäre Eigenschaften zugelassen wird, in der allerdings gleichzeitig musikalische Expressivität fundamental auf tertiärer Ebene verortet wird. Damit meine ich, dass die Expressivität eines Werkes absoluter Musik grob zu bestimmen ist, ohne dass eine repräsentationale Deutungsfolie herangezogen werden muss. Notwendig ist lediglich der Vergleichsrahmen anderer Werke absoluter Musik. Gemäß meiner Position haben musikalische Eigenschaften einerseits, je nach Ebene, einen unterschiedlichen epistemischen Status und bieten eine unterschiedliche Tiefe der Erklärung. Andererseits gehen tertiäre Eigenschaften nicht in repräsentationalen metaphorischen Deutungen auf. Vielmehr sind sie Teil einer eigenständigen, fundamentalen Ebene musikalischen Verstehens, und die Wahrnehmung formaler wie auch expressiver Eigenschaften weisen Wertaspekte auf vor ihrer repräsentationalen Deutung. Eigenschaften quartärer Ordnung können deswegen nicht vernachlässigt werden, weil wir meistens in unserem Umgang mit Werken absoluter Musik (qua Kunstwerken) auf sie nicht verzichten mögen. Wir geben uns mit rein formalen Analysen, auch wenn in ihnen zahlreiche musikalische Zusammenhänge erhellt werden, häufig nicht zufrieden. Rein formale Analysen lassen Fragen offen, und zwar insbesondere Fragen nach den Eigentümlichkeiten eines Werkes, nach den Aspekten der Form, die abweichen von der idealtypischen Anlage eines bestimmten Formtypus. Solche »Deformationen« werden oft mit Verweis auf die Expressivität einer Komposition erklärt. Doch drängt sich dann die Frage auf, weswegen eine Komposition die expressive Bestimmtheit hat, auf die verwiesen wird. Außerdem lassen formale Analysen die Frage offen, weswegen idealtypische Formen so beschaffen sind, wie sie sind. Wenn wir diese Fragen stellen, dann verlangen wir, so nennt sie McClary, eine Erklä49

Treitler 1997, S. 36.

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Metaphorische Beschreibungen von Musik

rung all the way down, eine ganzheitliche Erklärung, die über eine Analyse der nach McClary formalen »Oberfläche« eines Werkes hinausgeht, wie es die Metapher suggeriert, eine Erklärung, die uns verstehen lässt, weswegen ein Werk formal und (fundamental) expressiv so gestaltet ist, wie es ist, eine Erklärung, die das Werk als Artikulation und womöglich (gerade dadurch) als Anregung zur Transformation biografischer, sozialer, politischer, ökonomischer oder historischer Umstände begreifen lässt. 50 Allerdings bedingt eine solche Erklärung, dass wir ein Werk absoluter Musik in einen repräsentationalen Kontext stellen und metaphorisch deuten. Begehen wir dabei tatsächlich eine petitio principii, wie sie Kivy diagnostiziert? Sind die metaphorischen Interpretationen tatsächlich so beliebig, wie er behauptet? Die Kritik von Kivy beruht auf einem Missverständnis. Quartäre musikalische Eigenschaften sind epistemisch »weicher«. Sie erlauben aber gleichzeitig ein »tieferes« Verstehen. Metaphorische Deutungen von Werken absoluter Musik stellen keine strengen, wasserdichten Beweise dar, keine rigorosen Argumente, sondern sind offene Prozesse. Insofern läuft der petitio-Vorwurf auch ins Leere. Doch sind Deutungen plausibel oder unplausibel, und es können Kriterien ihrer Plausibilität formuliert werden. Gewiss, quartäre Eigenschaften von Werken absoluter Musik sind und bleiben Eigenschaften, die auf kreativen metaphorischen Zuschreibungen beruhen. Es lässt sich nicht streng belegen, dass Schuberts Unvollendete für die Zeit der Restauration Metternichs steht oder für einen inneren Zustand Schuberts, wie beispielsweise Steinbeck kommentiert, und nicht etwa für bestimmte Dynamiken des Wetters. 51 Allerdings müssen die DeuVgl. McClary 2000, S. 2, McClary 1991, S. 18, und L. Kramer 2011, S. 158. Vgl. dazu auch folgende Bemerkung von Gregory Karl und Robinson, wonach musikalische Form und Expressivität verwickelt seien (Expressivität situieren sie auf quartärer Ebene, vgl. dazu unten mein Abschnitt 2.2.2.3.): »often the formal and expressive threads of a work’s structure are so finely interwoven as to be inextricable … [F]ormal and expressive elements of musical structure are so thoroughly interdependent that the formal function of particular passages can often be accurately described only in expressive terms« [Hervorhebung von Karl/Robinson] (Karl/Robinson 1997, S. 176 f.). Vgl. zu einer expressiven »Motivation« formaler Strukturen auch Karl/Robinson 1997, S. 158. 51 Den prekären epistemischen Status repräsentationaler Deutungen von Werken absoluter Musik haben sich Komponisten, namentlich in der Romantik, oft insofern zunutze gemacht, als sie dadurch staatlicher Zensur und Repressalien entgehen konnten. Goehr spricht von einer »epistemischen Barriere«, die Komponisten in ihren 50

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tungen wenigstens zu den strukturellen und expressiven Eigenschaften eines Werkes passen. Eine Deutung, die nicht zu den tertiären Eigenschaften passt, wird uns kaum überzeugen. Gelungene Deutungen weisen über tertiäre Eigenschaften hinaus, sind aber immer an sie gebunden. Ferner werden Deutungen in der Regel dadurch plausibilisiert, dass Gründe für die Wahl einer bestimmten Deutungsfolie angeführt werden. Dies ist ein entscheidender Schritt, um gegen den Beliebigkeitsvorwurf zu argumentieren. Ich würde etwa für meine obige Schubert-Deutung geltend machen, dass zusätzliche Indizien existieren, mit denen sich die Wahl des Kontextes der Zeit der Restauration begründen lässt. Zum Beispiel wird der einsame Wanderer der Winterreise (D 911) von Krähen verfolgt – romantische Symbole für Spitzel. Es gibt also in weiteren Werken Schuberts Hinweise darauf, dass die Restauration ein Thema war, das ihn künstlerisch beschäftigte. (Ich habe nur ein Indiz aus einem anderen Werk erwähnt; daneben gibt es viele weitere, auf die ich aber an dieser Stelle nicht eingehen kann.) Für seine – biografische – Deutung bringt auch Steinbeck Hinweise, stellt Querbeziehungen zu anderen Werken her. 52 Eine umfassendere Deutung würde die möglicherweise biografische mit der politischen Deutung verbinden und dadurch möglicherweise weitere Schichten des Werkes erschließen. An diesem Vorschlag lässt sich nicht zuletzt die Prozessualität bei der Bestimmung quartärer Eigenschaften von Werken absoluter Musik erkennen. Werden die Positionen des erweiterten Formalismus à la Kivy und die relativistische Position der New Musicology etwas liberaler Musik errichteten und die selbst dann wirksam blieb, wenn durch Titel oder (geheime) Programme auf Inhalte angespielt wurde. Vgl. Goehr 1993, S. 186 f. 52 Vgl. Steinbeck 1997, S. 635 f. Am Beispiel des Kommentares Steinbecks wird auch deutlich, dass eine hermeneutische Herangehensweise so neu und originell nicht ist, wie es die Rhetorik mancher Proponenten der New Musicology suggeriert. Das Neue an der New Musicology liegt eher in einer bestimmten Gewichtung der Kontexte, vor denen Werke gedeutet werden. Proponenten der New Musicology ziehen bevorzugt sozioökonomische, politische oder feministische Hintergrundfolien heran – im Gegensatz beispielsweise zur eher traditionalistischen Folie der Biografie des Komponisten Steinbecks, mit unterschiedlichem Erfolg. Mir scheint etwa McClarys Deutung der neunten Sinfonie Beethovens vor der Folie der Sexualität eher weit hergeholt – gibt es doch kaum Indizien dafür, dass dies ein zentrales Thema für Beethovens war, einmal abgesehen davon, dass das Komponieren, allgemein das Musizieren sich als Transformation sexueller Energie auffassen lässt. Dagegen gibt es eine Reihe von Indizien dafür, dass die Folie etwa bei zahlreichen Werken von Tschaikowsky oder Schubert berechtigt herangezogen werden könnte.

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ausgelegt, das heißt nicht-exklusiv insofern, als die Möglichkeit einer weitergehenden, repräsentationalen Deutung musikalischer Werke ebenso wie die Relevanz tertiärer Eigenschaften in kontextualistischen Deutungen anerkannt werden, so bleibt der Eindruck, sie befänden sich in einem Streit über die Hierarchie musikalischer Eigenschaften in unserem Umgang mit musikalischen Werken. Just dagegen richte ich mich jedoch mit meiner integrativen Vermittlungsposition. Quartäre Eigenschaften sind weder als ästhetisch »höhere« Eigenschaften aufzufassen noch tertiäre als ästhetisch »tiefere«. Repräsentationale Deutungen sind, abgesehen von ihrer epistemischen Abhängigkeit von Kontexten, auch insofern defizient, als sie das Nicht-Repräsentationale der absoluten Musik nur sprachlich, aber nicht unmittelbar affektiv wiedergeben können. Zum Beispiel steht Schuberts Unvollendete nicht nur als abstraktes Gebilde für die Zeit der Restauration. Vielmehr evoziert sie auch den Geist der damaligen Zeit – und zwar durch ihre tertiären Eigenschaften allein, die jedoch – ebenfalls defizient – wiederum nach einer Erklärung all the way down rufen. Dabei haben die evozierten affektiven Zustände einen – nicht nur unmittelbar hedonischen – Wert für uns. Der Fokus auf tertiäre Eigenschaften, der nach wie vor den musikwissenschaftlichen und professionellen Umgang mit musikalischen Werken prägt, hat, sofern er weitergehende metaphorische Deutungen nicht ausschließt, nach wie vor seine Berechtigung. Formale oder expressive Eigenschaften sind mehr als nur Eigenschaften einer »Oberfläche« der Musik, wie Proponenten der New Musicology bisweilen glauben machen. 53 Denn musikalischer Sinn lässt sich nur auf tertiärer Ebene erklären. Ferner besteht ein Großteil der alltäglichen kompositorischen Arbeit darin, tertiäre musikalische Eigenschaften zu manipulieren, um so energetische oder affektive Zustände, Dynamiken, Gehalte und Ideen aller Art in (expressive) Strukturen und Prozesse zu transformieren. Wer dieser Leistung gerecht werden will, muss die in einem Werk in der Regel hochkomplexe Anlage tertiärer Eigenschaften zu verstehen versuchen, indem er sie analysiert. Ein solcher Ansatz steht jedoch nicht im Gegensatz zu der Methodologie der New Musicology, sondern bildet vielmehr die Grundlage einer plausiblen und informativen Interpretation eines musikalischen Werkes. Denn eine metaphorische Interpretation von Werken absoluter Musik überzeugt insbesondere dann, wenn sie, 53

Vgl. beispielsweise McClary 1991, S. 18.

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möglichst detailliert und umfassend, den Zusammenhang von tertiären und quartären Eigenschaften erhellen kann. 54 (Die meisten Interpretationen der New Musicology enthalten auch elaborierte Analysen der Form und des Ausdrucks musikalischer Werke.) Bezogen auf mein Schubert-Beispiel folgte daraus: Aufzuweisen wäre nicht bloß, dass manche Parameter »grob« in die Zeit der Restauration passen, sondern dass das Werk im Ganzen wie auch in vielen seiner Einzelheiten als Dokument einer subjektiven Erfahrung der Restauration erläutert werden kann. In den beiden folgenden Abschnitten möchte ich zeigen, dass sich sowohl Kontur- als auch Personentheorien musikalischer Expressivität nur verstehen lassen, wenn angenommen wird, dass sie expressive Eigenschaften auf einer quartären Ebene situieren. In den beiden Ansätzen werden expressive Eigenschaften so aufgefasst, dass ihre Beschaffenheit maßgeblich von historisch kontingenten repräsentationalen Deutungskontexten abhängt. Die beiden Ansätze können nicht als Theorien expressiver Bestimmtheit von Werken absoluter Musik vor einer metaphorischen Deutung tertiärer musikalischer Eigenschaften rekonstruiert werden, auch wenn es ihre Proponenten gerne so hätten. 2.2.2.2. Beispiel Konturtheorie Wie ich in Abschnitt 1.3.1. herausgearbeitet habe, sehe ich die Achillesferse der Konturtheorie in der für sie unentbehrlichen Annahme des Animismus. 55 Konturtheoretiker gehen davon aus, dass wir dazu neigen, unbelebte abstrakte Formen als belebt und damit als Träger affektiven Ausdrucks wahrzunehmen. Plausibilisieren lässt sich die Annahme einer solchen Disposition mit dem Hinweis darauf, dass es für uns im Alltag mitunter überlebenswichtig ist, den Ausdruck anderer Menschen wahrnehmen zu können. Dieser Mechanismus könnte so ausgeprägt sein, dass wir selbst Phänomene unbelebter Natur als Ausdruck anderer Menschen (oder Lebewesen) erkennen, sogar Werke absoluter Musik. Ob dies tatsächlich auf absolute Musik zutrifft, ist eine empirische Frage. Wie erwähnt meint Young, dass es empirische Hinweise für den Mechanismus gebe. Er muss allerdings einräumen, dass die Evidenz alles andere als konklusiv ist. Es könne 54 55

Vgl. dazu auch Boghossian 2010, S. 76. Vgl. auch Levinson 1996b, S. 106.

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Metaphorische Beschreibungen von Musik

deswegen nicht ausgeschlossen werden, dass die Konturtheorie einst falsifiziert werde. 56 Ich zweifle daran, ob es gelingen kann, die Konturtheorie insofern empirisch zu stützen. Freilich kann mit einzelnen Studien erhärtet werden, dass wir bisweilen Ähnlichkeiten zwischen Konturen des musikalischen und menschlichen Ausdrucks erkennen. Jedoch beziehen sich die Studien meist auf intramediale Ähnlichkeiten, insbesondere Ähnlichkeiten zwischen musikalischen Konturen und Konturen der Intonation der menschlichen Stimme. Es verwundert nicht, dass namentlich Kivy, um seine Konturtheorie zu illustrieren, immer wieder Beispiele aus der Vokalmusik des 18. Jahrhunderts bringt. Denn damals wurde häufig nach dem Ideal des imitar le parole komponiert, das heißt der Nachahmung der menschlichen Stimme und – damit einhergehend – des Bruches der rigiden formalen Regeln des Palestrina-Stils zwecks expressiver Gestaltung der Musik. Doch schon an den Beispielen aus dem 18. Jahrhundert wird deutlich, dass die Konturtheorie keine befriedigende umfassende Theorie musikalischer Expressivität sein kann, wenn ihr Anwendungsbereich mit Blick auf die empirische Evidenz nur auf intramediale Ähnlichkeiten eingeschränkt wird. Sie mag erfolgreich sein, wenn die Expressivität plakativer musikalischer Gesten, wie sie sich als Madrigalismen vor allem in der Vokalmusik des 17. und 18. Jahrhunderts häufig finden, erhellt werden soll. In der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts aber lassen sich neben den Gesten subtilere Mittel der expressiven Gestaltung nachweisen, etwa harmonische, kontrapunktische oder formale. Zum Beispiel ist fragwürdig, ob mit dem Ansatz der expressive Unterschied zwischen einer chromatischen und diatonischen fallenden Linie erklärt werden kann. Young ist davon überzeugt, dass sich auch für diese Unterscheidung eine Entsprechung in der Intonation der menschlichen Stimme empirisch nachweisen lässt. 57 Selbst wenn dies gelänge, bliebe die Konturtheorie mit dem Problem konfrontiert, Aspekte der Expressivität in den Beispielen zu erklären, die derart subtil in die musikalische Faktur eingewoben sind, dass sie keine offensichtlichen intramedialen Konturen erkennen lassen, die aber vielleicht gerade deswegen umso wirkungsvoller sind. Auch in der Musik des 18. Jahrhunderts wurden Querstände, harmonische Feinheiten und formale Abweichungen zu idealtypischen Gestaltungsmustern 56 57

Vgl. Young 2012, S. 602 f. Vgl. Young 2012, S. 598–602.

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verwendet, um eine Passage expressiv zu imprägnieren. Mir scheint es eher unwahrscheinlich, dass sich für die perzeptive Salienz indirekter oder intermedialer Ähnlichkeiten zwischen nicht sehr offensichtlichen Konturen, wenn der Begriff denn überhaupt beispielsweise für kontrapunktische oder nuancierte harmonische Progressionen verständlich ist, empirische Evidenz finden lässt. Bislang jedenfalls kann empirisch nicht untermauert werden, dass wir über eine spezifische Disposition verfügen, solche verdeckten Ähnlichkeiten wahrzunehmen. 58 Besser verständlich machen lässt sich die Konturtheorie als eine historisch kontingente, insbesondere für die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts geeignete Theorie der Deutung expressiver Eigenschaften musikalischer Werke als quartäre Eigenschaften. S. Davies selbst weist in die Richtung einer solchen Auffassungsweise, wenn er zugibt, dass Expressivität von musikalischen Werken nicht »impliziert« werde, sondern erst nach einer (offenen) Diskussion den Stellen zugeschrieben werden könne. 59 Musikalische Strukturen und Prozesse können als expressive Konturen interpretiert werden, wie auch als Metaphern für Börsenkurse, für kriegerische Handlungen oder à la McClary für sexuelle Gewaltakte, und ihre Wahrnehmung entsprechend transformiert werden. Cook hält Konturtheoretikern wie S. Davies, Kivy (ehemals) oder Young entsprechend Folgendes vor: »[Es] scheint eine Art Taschenspielertrick vorzuliegen, wenn diese Autoren [Cook bezieht sich ausschließlich auf S. Davies und Kivy; S. Z.] den Eindruck erwecken, sie beschrieben einfach die Musik, wie sie ist, während sie in Wirklichkeit dabei sind, Interpretationen vorzuschlagen und aktualisierte Bedeutungen zu konstruieren« 60

Ein weiterer Verteidiger der Konturtheorie, R. T. Allen, behauptet in Anlehnung an die Entwicklungspsychologie Jean Piagets, dass wir durch Erziehung »verlernen« würden, unbelebte Gegenstände und Ereignisse zu animieren, und sie deswegen vergegenständlichten. Wenn wir Kunstwerke wieder durch Kinderaugen betrachteten oder mit Kinderohren hörten, würden wir musikalische Konturen natürlicherweise als Gesten von Lebewesen auffassen. Vgl. Allen 1990, S. 60 f. Selbst wenn seine entwicklungspsychologischen Thesen zu halten wären, bestünde das Problem weiter, zu erklären, wie beispielsweise in (expressiven) harmonischen Progressionen Gesten zu erkennen seien. 59 Vgl. S. Davies 1980, S. 76 f. 60 Cook 2007, S. 110. 58

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Ich bin mit Cook einverstanden. Eine Konturtheorie musikalischer Expressivität kann nicht mehr als einen spezifischen repräsentationalen Deutungskontext, ein spezifisches Nachvollzugsmodell musikalischer Strukturen und Prozesse bieten. Die Wahl eines konturtheoretischen Kontextes der Deutung kann aber musikhistorisch gerechtfertigt werden. So kann er, wie dargelegt, angemessen sein für Aspekte zahlreicher Werke der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts. 61 Es muss aber, selbst wenn ein konturtheoretischer Kontext der Deutung angemessen ist, beachtet werden, dass expressive quartäre Eigenschaften über tertiären Eigenschaften supervenieren, auch innerhalb von Konturen (oder musikalischen Gesten). Denn wir nähmen die Konturen nicht als signifikant wahr ohne Fundierung auf tertiärer Ebene, die uns affektiv bewusst wird. 62 2.2.2.3. Beispiel Personentheorie Konturtheoretiker sehen den Grund musikalischer Expressivität in einzelnen kleinteiligen musikalischen Gesten, zum Beispiel den angesprochenen Madrigalismen. Kivys Variante eines solchen Ansatzes zufolge lassen sich komplexe Emotionen wie zum Beispiel Hoffung oder Schuld nicht musikalisch ausdrücken. In musikalischen Werken ließen sich ausschließlich einfache Emotionen, »garden-variety emotions«, expressiv artikulieren und individuieren, beispielsweise Traurigkeit, Freude oder Furcht. 63 Hinter dieser These verbirgt sich Kivys Kivy weist explizit auf die Inspiration seines Ansatzes durch die Musiktheorie des Barock hin. Vgl. etwa Kivy 1989, S. 45 und S. 50. Allgemein fällt auf, dass Kivy dazu tendiert, historisch kontingente musikästhetische Ansätze zu analytischen Positionen aufzublasen, die eine epochenübergreifende Gültigkeit für sich beanspruchen, zum Beispiel auch in seinem werkontologischen Ansatz. Vgl. Kivy 1983 und Kivy 1987. 62 Vgl. zum Signifikanzeinwand gegen die Konturtheorie mein Abschnitt 1.3.1. 63 Vgl. Kivy 1989, S. 181–186, und Kivy 1990b, S. 152 und S. 175. Diese Position vertritt auch Daniel A. Putman, der ebenfalls mit der Konturtheorie musikalischer Expressivität sympathisiert. Vgl. Putman 1987. Alle Konturtheoretiker, namentlich Kivy, Putman und S. Davies, nehmen an, dass einfache Emotionen sich auch ohne inhaltliche Objekte individuieren lassen. Nur deshalb könne absolute Musik überhaupt grob expressiv bestimmt sein. Im ersten Kapitel habe dieser Auffassung widersprochen. Emotionen richten sich immer auf inhaltliche Objekte, und sie werden durch formale Objekte individuiert. Absolute Musik kann aber auf tertiärer Ebene affektive Zustände ausdrücken – Zustände, die zwar nicht so genau bestimmt sind wie Emotionen, die aber dennoch im Spektrum zwischen Stimmungen und Emotionen liegen. (Mitunter drückt absolute Musik Stimmungen aus.) Auf quartärer Ebene ist es möglich, dass Werke absoluter Musik auch Emotionen ausdrücken (im Sinne 61

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Überzeugung, dass absoluter Musik nur Eigenschaften auf tertiärer Ebene zugeschrieben werden dürfen – formale und expressive, weil Deutungen vor der Folie eines repräsentationalen Kontextes epistemisch beliebig seien, und dass zur Bestimmung komplexer Emotionen repräsentationale Bestandteile unverzichtbar seien. Manche Theoretiker halten diese Beschränkung des Skopus musikalischer Expressivität auf einfache Emotionen für eine reductio ad absurdum der zugrunde liegenden Konturtheorie. Sie gehen nämlich davon aus, dass Werke absoluter Musik – vermeintlich auf tertiärer Eigenschaftsebene – komplexe Emotionen ausdrücken können. S. Davies hat deshalb versucht, die Konturtheorie auszubauen: 64 Er weist darauf hin, dass in den meisten Werken absoluter Musik Abfolgen expressiver Gesten zu hören seien. Aus den Abfolgen lasse sich häufig auf komplexe Emotionen schließen, die in einem Werk ausgedrückt würden, da sie »natürlichen« Abfolgen von Gefühlszuständen innerhalb (alltäglicher) komplexer Emotionen entsprächen. Personentheoretiker sind ebenfalls von der vortheoretischen Überzeugung geleitet, dass in Werken absoluter Musik selbst komplexe Emotionen ausgedrückt werden können (und zwar zunächst im Sinne von Expressivität). Zu ihnen zählen namentlich Levinson, Robinson (zusammen mit Karl), Aaron Ridley und Rinderle. Mit ihrem Ansatz lässt sich eine unmittelbare Schwierigkeit einer ausgebauten Konturtheorie à la S. Davies beheben. Er lässt es völlig unklar, welche einzelnen Gesten in unseren Schlüssen auf die (komplexe) Expressivität eines Werkes wir berücksichtigen sollen, weshalb wir sie überhaupt umwillen von Zuschreibungen komplexer Emotionen zusammenziehen und es nicht bloß bei einer Abfolge von einzelnen Zuschreibungen einfacher Emotionen bewenden lassen sollten. Personentheoretiker gehen jedoch davon aus, dass musikalische Werke eine narrative Struktur aufweisen. Die Werke kennzeichne eine motivische oder thematische Kontinuität. Es verwundert nicht, dass sie von Expressivität, womöglich aber selbst im Sinne von Ausdruck). Weil sowohl Kontur- als auch Personentheoretiker glauben, Werke absoluter Musik könnten Emotionen ausdrücken, behalte ich in diesem Abschnitt die Rede von Emotionen bei. 64 Vgl. S. Davies 1980, S. 78, S. Davies 1994, S. 262 f., und S. Davies 2011b, S. 13 f. Auch wenn Kivy bestreitet, dass Werke absoluter Musik komplexe Emotionen ausdrücken können, erkennt er doch implizit an, dass Möglichkeiten der Verfeinerung existierten, eben in der Abfolge der Gesten. So präzisiert er zum Beispiel seine Bestimmung der Expressivität des Trauermarsches von Beethovens Eroica mit Blick auf die heitereren Passagen des Satzes. Vgl. Kivy 1989, S. 181 f.

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diese These anhand von Beispielen vor allem aus der Romantik untermauern, wohingegen etwa ein Konturtheoretiker wie Kivy hauptsächlich Beispiele aus dem Barock anführt. 65 Personentheoretiker orientieren sich an Sonatenhauptsatz- oder Rondoformen mit ihren wiederkehrenden, sich aber wandelnden thematischen und motivischen Elementen. Romantische Formen umfassen Elemente, die einem Prozess unterliegen. Nach der Personentheorie reichen diese Prozesse dazu hin, komplexe Emotionen zu individuieren. Erzählungen umfassen stets Protagonistinnen und Protagonisten. Nahe liegend, aber, wie in meinem Abschnitt 1.3.1. bereits erörtert, kaum haltbar wäre es, die Protagonisten mit den Komponisten der jeweiligen Werke zu identifizieren. Personentheoretiker jedoch zeigen eine Alternative auf: Werke absoluter Musik können uns dazu anregen, Heldinnen und Helden uns vorzustellen. Die Emotionen, die wir den Werken zuschreiben, sind nach der Personentheorie Emotionen einer virtuellen Persona oder der virtuellen Personae der Werke. Ich möchte in diesem Abschnitt nicht nur klarlegen, dass die Personentheorie, genau wie die Konturtheorie, nur so verständlich gemacht werden kann, dass in ihr expressive Eigenschaften als quartäre Eigenschaften aufgefasst werden, sondern auch, dass in ihr expressive Eigenschaften tertiärer Ebene vorausgesetzt, aber nicht näher erläutert werden. Im Mittelpunkt meiner kurzen Diskussion sollen die Versionen der Personentheorie stehen, wie sie Levinson und Robinson (zusammen mit Karl) an Standardbeispielen erläutern (an Mendelssohn, Schostakowitsch und Brahms). Levinsons vertritt eine »schlanke« Personentheorie, Robinson (zusammen mit Karl) eine etwas »großzügigere«. Levinson kommt mit seiner Version einer Kritik zuvor. Die Kritik bestünde darin zu bestreiten, dass in Werken absoluter Musik Levinsons Standardbeispiel ist Felix Mendelssohn Bartholdys Konzertouvertüre Die Hebriden, Karl und Robinson exemplifizieren ihre Position anhand Dmitri Schostakowitschs zehnter Sinfonie, in Deeper Than Reason bringt Robinson das Beispiel des zweiten Intermezzos op. 117 von Johannes Brahms, Ridley verschiedene Werke aus der Romantik. Vgl. Levinson 1990d, Karl/Robinson 1997, Robinson 2005, insbesondere S. 337–347, und Ridley 1995, insbesondere S. 187–191. Robinson gesteht zwar zunächst die Beschränkung der Personentheorie auf Werke einer bestimmten historischen Epoche, der Romantik (und auf Werke, die sich auf romantische Formen berufen), ein, weitet dann aber den Anwendungsbereich der Theorie auf die Klassik und selbst den Barock aus: Viele Werke des Barock, vor allem Tanzformen, regten die Imagination affektiv aufgeladener Gesten und Bewegungen einer Tänzerin qua Persona an. Vgl. Robinson 2005, S. 321, S. 326 und S. 335.

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konkrete inhaltliche Objekte (von Emotionen) oder Personen bestimmt seien. Dies ist aber nach Levinson keine notwendige Bedingung dafür, dass komplexe Emotionen musikalisch individuiert werden können. Levinsons Persona ist »imaginativ unbestimmt« 66 . Damit beispielsweise die komplexe Emotion der Hoffnung individuiert werden könne, sei es weder erforderlich, dass Werke absoluter Musik etwa eine bestimmte Person mit bestimmten Charakterzügen erkennen lassen, noch, dass ein bestimmtes inhaltliches Objekt der Emotion durch musikalische Strukturen festgelegt sein müsse. Es reiche auch »weniger«, nämlich die Bestimmung des formalen Objektes der Emotion und die Annahme einer minimalen Persona. Und dies können nach Levinson selbst Werke absoluter Musik – wohlgemerkt allein mit tertiären Eigenschaften – leisten, nämlich durch Evokation von Gefühlen und durch Präsentation expressiver Konturen. 67 Levinsons Position ist jedoch nicht zu verteidigen. Zunächst kann ihm sein defensiver Zug, wonach Werke absoluter Musik zwar keine konkreten Emotionen, aber Typen von Emotionen auf tertiärer Ebene bestimmten, nicht das bringen, was er sich wünscht. Levinson setzt darauf, dass die Bestimmung formaler Objekte von Emotionen, im Gegensatz zu der Bestimmung konkreter inhaltlicher Objekte, keine in der Musik enthaltene repräsentationalen Gehalte erfordert. Freilich sind formale Objekte etwas abstrakter bestimmt als inhaltliche. Formale Objekte können bestimmt werden ohne Bezug auf spezifische raumzeitliche Ereignisse. Doch daraus folgt nicht, dass sie ganz ohne repräsentationale Elemente bestimmt werden können. Levinson unterschätzt, dass formale Objekte selbst einfacher Emotionen wie zum Beispiel der Furcht keineswegs mühelos zu bestimmen sind, einmal abgesehen von banalen tautologischen Bestimmungen (beispielsweise das Traurige als formales Objekt der Traurigkeit). Denn Levinson 1990d, S. 338. Vgl. Levinson 1990d, S. 344. Eine Stärke des Ansatzes von Levinson ist es, dass er die Position konsequent entfaltet, konsequenter als Robinson, wie sich zeigen wird. Levinson geht davon aus, dass wir bei der Bestimmung der (komplexen) Expressivität musikalischer Werke immer auch deren Kontext zu berücksichtigen haben. Damit meint er einen Kontext von anderen Werken absoluter Musik. In seinem Beispiel vergleicht er deshalb die Hebriden-Ouvertüre mit anderen Werken, die mit guten Gründen der absoluten Musik zugerechnet werden können. Vgl. Levinson 1990d, S. 372. Es ist für das Verständnis dieses Abschnittes entscheidend, zwei Arten von Kontexten, in denen Werke absoluter Musik stehen können, auseinanderzuhalten: Der von Levinson angerufene, nicht-repräsentationale Kontext anderer Werke absoluter Musik und ein repräsentationaler Kontext der Deutung.

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wie ich in meinem Abschnitt 1.2.3.1. gezeigt habe, richtet sich die Furcht nicht einfach auf das für gefährlich Gehaltene – das Gefährliche ist bisweilen vielmehr aufregend. Formale Objekte von Emotionen sind meist komplex beschaffen. Levinson behauptet, dass allein nicht-repräsentationale Profile, wie sie in den dynamischen Strukturen und Prozessen absoluter Musik wahrzunehmen sind, Emotionen individuieren können, wie aus folgender Aussage deutlich wird: »[E]ach of the emotions standardly distinguished in our extramusical life [has] an overall profile that [is] subtly specific to it, even leaving its cognitive core to one side« 68

Aber es ist zu bezweifeln, dass dynamische Profile, auch wenn sie im großen Ganzen eines Werkes, nicht nur in einer kurzen Passage, identifiziert werden, eine Emotion hinreichend bestimmen können. 69 Denn etwa kann sowohl eine Episode der Wut als auch eine der Furcht schnell anschwellen und dann rasch wieder abklingen. Es gibt aber ebenso Fälle von beständig wiederkehrender Wut oder Furcht, deren Intensität nur langsam abebbt. Ich sehe auch nicht, dass es kulturell verbindliche Stereotype von Emotionsprofilen geben könnte. Dynamische Profile alleine reichen zur Bestimmung von Emotionen nicht aus, schon gar nicht für die Bestimmung von Typen von Emotionen, wie Karl und Robinson betonen. 70 Levinson argumentiert, dass Werke absoluter Musik expressiv ambivalent seien. 71 Doch seinem Ansatz zufolge sind sie expressiv zu vieldeutig. Obschon wir nämlich bisweilen über die Feinheiten der Expressivität oder die Gewichtung einzelner Passagen in der Beurteilung eines Werkes als ganzem streiten, so sind wir uns doch in der Regel über die grobe Bestimmung der ausgedrückten Affektivität einig. Obschon zum Beispiel der Trauermarsch der Eroica zuversichtliche Passagen enthält, scheint die Zuschreibung überschwänglicher Freude zu dem Satz abwegig, ja falsch. Auch wenn somit in der Personentheorie Levinsons nicht nur einzelnen expressiven musikalischen Gesten und evokativen Passagen Rechnung getragen wird, sondern dramatischen Folgen von Ereignissen, wie sie vor allem in den narrativ angelegten KompositioLevinson 1990d, S. 344. Vgl. Walton 1988, S. 356. Dasselbe Problem ist auch im Ansatz Susanne Langers virulent. Vgl. dazu mein Abschnitt 2.3.1.3. 70 Vgl. Karl/Robinson 1995, S. 397. 71 Vgl. Levinson 1990d, S. 353 f. 68 69

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nen der Klassik und Romantik zu finden sind, so gelingt es ihm nicht überzeugend aufzuweisen, wie in den Werken einfache Emotionen individuiert sein können, geschweige denn komplexe Emotionen wie etwa die der Hoffnung, die er in Mendelssohns Hebriden-Ouvertüre zu hören glaubt. Das Problem seines Ansatzes beruht dabei insbesondere auf unplausiblen emotionsphilosophischen Prämissen, namentlich der Annahme, Emotionen könnten ohne Bezug auf Repräsentationen formaler Objekte individuiert werden. Robinson setzt (zusammen mit Karl) genau an diesem Punkt an. Für sie können Werke absoluter Musik nur dann bestimmte (komplexe) Emotionen ausdrücken, wenn ihnen auch repräsentationale Elemente zugeschrieben werden, die wenigstens Typen von (komplexen) Emotionen – wie beispielsweise der Hoffnung – individuieren: »Thus in order to express the cognitively complex emotion of hope or hopefulness, the music needs to be able to express some of the so-called ›cognitive content‹ of hope, especially the desires and thoughts characteristic of hope« 72

Diese notwendigen repräsentationalen Gehalte identifizieren Robinson (und Karl) in Schostakowitschs zehnter Sinfonie beziehungsweise im Intermezzo von Brahms. Robinson (und Karl) begingen jedoch eine contradictio in adiecto, wenn sie repräsentationale Gehalte in Werken absoluter Musik alleine unmittelbar vorzufinden glaubten. Auf die Möglichkeit einzelner rein musikalischer konnotativer Symbole, die für repräsentationale Gehalte stehen, habe ich in meinem Abschnitt 1.3.3. hingewiesen. Robinson (und Karl) zielen mit ihrer Version einer Personentheorie jedoch nicht auf solche Symbole ab. Sie entnehmen die repräsentationalen Gehalte vielmehr Deutungen der Werke, in denen sie historische oder biografische Kontexte berücksichtigen. Die Personentheorie à la Robinson (und Karl) verortet expressive Eigenschaften auf quartärer Ebene. Dies wird zum Beispiel im »Epilogue« zu ihrem Text zum dritten Satz von Schostakowitschs zehnter Sinfonie offenkundig: 73 Die Expressivität des Werkes wird als Hoffnung des Komponisten auf eine bessere Gesellschaft nach dem Tod Stalins gedeutet, wobei Robinson und Karl einen Ausschnitt aus den Memoiren Schostakowitschs anführen. Diese Bestimmung der Expressivität (und des Ausdrucks) einer komplexen EmoVgl. Robinson 2005, S. 328. Vgl. Karl/Robinson 1997, S. 177 f. Auch im Brahms-Beispiel greift Robinson auf repräsentationale Kontexte der Deutung zurück. Vgl. Robinson 2005, S. 344–347.

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Metaphorische Beschreibungen von Musik

tion wie der (falschen) Hoffnung auf gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Fortschritt folgt allein aus ihren nuancierten, einleuchtenden Analysen tertiärer Eigenschaften des Satzes nicht. Die Bestimmung passt allerdings zu den tertiären Eigenschaften des Satzes. Maßgeblich ist für Robinson und Karl vor allem der Kontrast zwischen der in dem Satz überwiegenden Chromatik und den diatonischen Quarten und Quinten der sechs Einsätze des Horns. Dabei ordnen sie einzelnen Passagen jeweils lokal eine eigene Expressivität zu, identifizieren also expressive Eigenschaften auf tertiärer Ebene. 74 Diese Eigenschaften fließen in ihre Deutung ein. Aus den tertiären Eigenschaften lässt sich die Bestimmung einer komplexen Emotion nicht erkennen, sondern nur eine Abfolge von expressiven Passagen, die allerdings thematisch gegliedert sind. Die thematischen oder motivischen Zusammenhänge integrieren Robinson und Karl in ihre Deutung: Dass die ausgedrückte Hoffnung falsch sei, begründen sie unter anderem damit, dass die »helleren« Horneinsätze nach und nach so abgewandelt würden, dass in ihnen das (mit Stalin in Verbindung gebrachte) Thema des »düsteren« Teiles hörbar werde. Ihre Analyse berücksichtigt großformale motivische oder thematische Prozesse – ein, wie ich unterstrichen habe, zentraler Aspekt der Personentheorie. Für die Expressivität auf tertiärer Ebene im hard case von Werken absoluter Musik haben aber Robinson und Karl keine systematische Erklärung parat. Im zwölften Kapitel von Deeper Than Reason deutet Robinson eine – musikpsychologisch fundierte – Evokationstheorie an, greift bisweilen aber auch auf das Vokabular der Konturtheorie zurück. 75 Die Expressivität auf tertiärer Ebene kann sie mit der Personentheorie nicht erhellen, ebenso wenig Levinson. Die Personentheorie setzt vielmehr Theorien der Expressivität tertiärer Ebene voraus. Die Personentheorie ist, wie die Konturtheorie, als eine Theorie quartärer expressiver Eigenschaften zu verstehen. Sie ist eine an den großformalen narrativen Anlagen der Musik der Romantik ausgerichtete Theorie, während der Ausgangspunkt der Konturtheorie bei den im Vergleich kleinräumigen expressiven Gesten des Barock liegt. Vgl. Robinson 1996, S. 172 f. Den chromatischen Passagen schreiben Robinson und Karl die Affektivität des Schmerzes zu, den diatonisch-offenen Hornintervallen die der Freude. 75 Vgl. Robinson 2005, S. 348–378. 74

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Musikalische Expressivität und Metaphorizität

2.3. Expressive Musik als metaphorisches Symbol: der Ansatz Nelson Goodmans In den vorangehenden Abschnitten dieses Kapitels habe ich argumentiert, Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken seien nicht als buchstäbliche Aussagen, sondern als metaphorische aufzufassen. Den Begriff der Metapher habe ich für die Erhellung von Aussagen herangezogen, die expressive Zuschreibungen enthalten. Im folgenden Teil meiner Untersuchung diskutiere ich einen Ansatz der Explikation musikalischer Expressivität, in dem ebenfalls mit dem Begriff der Metapher operiert wird, aber aus einer anderen systematischen Perspektive. Nelson Goodman setzt sich symboltheoretisch ausführlich mit Kunst im Allgemeinen, mit Musik im Besonderen nur punktuell auseinander. 76 Kunstwerke (und mithin auch expressive musikalische Werke) betrachtet er als Symbole. Allerdings unterscheidet er Kunstsymbole von sprachlichen Symbolen. Kunstwerke (und mithin auch expressive musikalische Werke) sind ihm zufolge Symbole, deren Besonderheit zu erläutern ist. In seinem Ansatz wird dafür an zentraler systematischer Stelle der Begriff der Metapher eingepasst. Jedoch wird der Begriff nicht für die Erhellung von Aussagen über Kunstwerke (und mithin auch über musikalische Werke) fruchtbar gemacht, sondern für die Erhellung von Kunstwerken (und mithin auch musikalischen Werken) als besondere Symbole. 77 Vgl. Goodman 1976, S. 85–95. Simone Mahrenholz wendet in ihrer Monografie die Theorie Goodmans auf den Fall musikalischer Expressivität an. Vgl. Mahrenholz 1998, insbesondere S. 40–100. 77 Christopher Peacocke verortet den Begriff der Metapher in unserer Wahrnehmung musikalischer Werke. Bereits der Gehalt unserer Wahrnehmungen musikalischer Werke sei metaphorisch. Seinem Ansatz gemäß schreiben wir musikalischen Werken Affektprädikate deswegen zu, weil wir sie »metaphorisch-als-traurig« hören. Vgl. Peacocke 2009a und 2009b. Den Gedankengang Peacockes möchte ich nicht weiter diskutieren, weil er mir zu wenig entfaltet scheint. Es ist schlichtweg unklar, was seine These des Hörens-als impliziert. Eine ausgearbeitete Phänomenologie der musikalischen Erfahrung legt er nicht vor. Ferner bin ich skeptisch, ob Wahrnehmungen musikalischer Werke metaphorisch sind. Jedenfalls erfahren wir (absolute) musikalische Werke zunächst einmal buchstäblich als formale Strukturen und Prozesse, als Rhythmen, melodische, harmonische, kontrapunktische oder klangfarbliche Progressionen, oder musikalische Strukturen und Prozesse buchstäblich als lustvoll oder frustrierend. Vgl. zur Kritik an Peacocke namentlich Budd 2009, Snowdon 2009, Boghossian 2010, insbesondere S. 71–73, und S. Davies 2011b, S. 22. Vgl. zu Peacockes Ansatz auch mein Abschnitt 3.3.2.4. 76

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Expressive Musik als metaphorisches Symbol: der Ansatz Nelson Goodmans

Viele Gedanken, auf die Goodman zurückgreift, haben ihren Ursprung in Susanne K. Langers Philosophie, zum Beispiel die Unterscheidung von sprachlichen und von besonderen Zeichen, wie sie etwa in der Kunst erscheinen, oder der Begriff der Exemplifikation. 78 Es ist deswegen nicht nur sinnvoll, Langers Ansatz miteinzubeziehen, weil in ihm die Expressivität musikalischer Werke erörtert wird, sondern auch, weil aus dem Verständnis ihrer Philosophie wesentliche Punkte der Theorie Goodmans besser zu verstehen sind.

2.3.1. Kunst als Weise der Welterzeugung Goodman sieht den Wert von Kunstwerken nicht vorrangig in einer angenehmen Stimulation unserer Sinne oder darin, uns ein ästhetisches Erlebnis zu ermöglichen, sondern darin, dass sie eine genuine epistemische Funktion erfüllen. Praktisch hat Goodman diese Überzeugung zu verbreiten versucht, indem er 1967 das Project Zero gründete, ein Institut, das die kunstpädagogische Ausbildung verbessern und insbesondere die angesprochene epistemische Funktion von Kunst in den Fokus rücken soll. 79 Theoretisch gründet sie im Gedanken, dass Kunstwerke genau wie auch wissenschaftliche oder philosophische Theorien als »Weisen der Welterzeugung« aufzufassen sind, dass sie uns eine Form von Wissen vermitteln und dass sie allgemein der menschlichen Selbstverständigung dienen können. 80 Goodman argumentiert wider eine Dichotomie von objektiven Wissenschaften und subjektiven Künsten. So wird er nicht müde zu betonen, dass wir den einen, mit der Wirklichkeit absolut korrespondierenden Zugang nicht erlangen können, weder in den Wissenschaften, noch in der Philosophie, noch in der Kunst. Denn die menschliche Wahrnehmung der Wirklichkeit ist nach ihm stets von deren Zuschnitt durch Begriffe oder – darauf werde ich in Kürze zurückkommen – durch Labels abhängig, die uns wiederum nicht »neutral« gegeben sind, sondern die von unserer jeweiligen Sprache, von Theorien oder – wie im Fall Katrin Eggers hebt dies hervor. Sie nennt Langer Goodmans »Ziehmutter«. Vgl. Eggers 2010. Goodman bringt nur einen pauschalen Verweis auf Langer in der Einleitung von Languages of Art. Vgl. Goodman 1976, S. XII. Langer beschäftigt sich ausführlich mit Musik. Vgl. etwa Langer 1963, S. 204–245. 79 Vgl. www.pz.gse.harvard.edu/about-project-zero.php (19. 04. 2012). Vgl. dazu auch Cohnitz/Rossberg 2006, S. 55 f. 80 Vgl. Goodman 1978, S. 102. 78

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Musikalische Expressivität und Metaphorizität

der Labels – von der Erfahrung von Kunstwerken abhängen. 81 Die Wirklichkeit als solche ist für uns, ohne die Vermittlung durch Begriffe oder Labels, eine Art dunkle Masse ohne bestimmte Eigenschaften, wobei bereits diese uninteressante Beschreibung nicht ohne Begriffe (»dunkel«, »Masse«, »Eigenschaft«) auskommen kann. Oder es könnte umgekehrt gesagt werden, dass eine Sinneserfahrung ohne begriffliche Strukturierung deswegen keine Gründe für empirische Aussagen hergibt, weil sie unendlich viele Eigenschaften enthält. Mit Demonstrativpronomina (»dasv,t«) könnte womöglich auf eine (visuelle) Sinneserfahrung (zu einer bestimmten Zeit) verwiesen werden. Der Bezug des Pronomens ist aber maximal unbestimmt, denn er umfasst alle nur denkbaren Aspekte der Sinneserfahrung, etwa Farben, Gestalten oder Relationen. Erst dadurch, dass wir ein sprachliches Vokabular ausbilden oder – so die symboltheoretische Weiterentwicklung der kritischen Philosophie Immanuel Kants – künstlerisch mit Labels vertraut werden, erschaffen wir uns einen Zugang zur Welt. 82 Beliebig lassen sich die Zugänge aber nicht konstruieren. Sie müssen Goodman zufolge die Welt »richtig wiedergeben«. 83 Der Standard der Richtigkeit gilt für wissenschaftliche Theorien, philosophische Ansätze und Kunstwerke gleichermaßen. Goodman vermeidet es mit Bedacht, Wahrheit in korrespondistischem Sinne als notwendige und hinreichende Eigenschaft von Weltzugängen zu fordern. Eine physikalistische Reduktion sämtlicher erzeugten Welten auf die eine wahre Theorie sei nicht absehbar. 84 Darüber hinaus Vgl. Goodman 1978, S. 6. Symbole sind von Zeichen zu unterscheiden. Zeichen werden reflexartig verstanden, als Folge einer entsprechenden Konditionierung. Sie weisen auf das Bezeichnete hin, etwa der Rauch auf das Feuer oder der Pawlowsche Glockenton auf die Darreichung von Hundefutter. Im Gegensatz zu Symbolen wird bei Zeichen immer erwartet, dass das Bezeichnete in der Wirklichkeit gleichzeitig oder unmittelbar anschließend tatsächlich vorkommt. Zeichen repräsentieren nicht. Sie können nicht stellvertretend für das Bezeichnete stehen. Nach Langer ist nur der Mensch in der Lage, seine Erfahrung symbolisch zu artikulieren und zu transformieren. Er kann mit Erfahrungen umgehen, selbst wenn sie ihre Aktualität längst verloren haben oder selbst wenn sie ihm erst in ferner Zukunft bevorstehen. An unserer Fähigkeit der symbolischen Transformation von Erfahrungen macht Langer die anthropologische Differenz fest. Vgl. Langer 1963, S. 31 und S. 57. Auf die horizontale Ausgedehntheit des menschlichen Daseins werde ich insbesondere in Abschnitt 3.3.1. zurückkommen. 83 Vgl. Goodman 1978, S. 109. 84 Vgl. Goodman 1978, S. 5. 81 82

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Expressive Musik als metaphorisches Symbol: der Ansatz Nelson Goodmans

gebe es, neben dem Kriterium einer »Passung« zu der entsprechenden Welt, noch weitere Kriterien für die Akzeptanz von Theorien wie beispielsweise deren Nützlichkeit, Kontinuität mit unseren bisherigen (begrifflichen) Gewohnheiten, Effizienz oder Einfachheit. 85 Hier dürften nicht zuletzt auch rhetorische Elemente mitgemeint sein, die unser affektives Urteil über Theorien beeinflussen. 86 Dass es die eine wahre Perspektive auf die Welt nicht geben kann, gilt für Goodman auch im Bezug auf die Künste. In seiner Monografie Languages of Art etwa greift er die These Ernst Gombrichs auf, wonach die Perspektive eines »unschuldigen Auges« ein Mythos sei: 87 Künstlerische Repräsentationen (Darstellungen) der Wirklichkeit seien stets abhängig von Konventionen der Repräsentation, abhängig von einem Stil der Repräsentation. Was wir sehen würden, sei auch bestimmt durch unsere kulturell geteilten Gewohnheiten, Bedürfnisse und Vorurteile. Der Punkt lässt sich zusätzlich mit der Einsicht stützen, die ich im ersten Kapitel herausgearbeitet habe. Wir nehmen die Wirklichkeit nie unbefangen wahr, sondern sind ihr gegenüber immer gestimmt, wobei unsere affektive Ausrichtung zur Welt von unseren Bedürfnissen geprägt ist. Anders gesagt sind strukturierte, konturierte und »farbige« Wahrnehmungen der Welt bedingt durch die menschliche Affektivität. Goodman untermauert die These ferner mit einem Befund aus der Wahrnehmungspsychologie. Nur die Bewegung des menschlichen Auges ermöglicht Wahrnehmungen. Somit ist eine vollständig wirklichkeitskonforme Repräsentation künstlerisch nicht umsetzbar. Denn um visuell vollständig

Vgl. Goodman 1978, S. 129. Mir scheint jedoch, dass auch Goodman nicht auf einen, metaphysisch verstandenen, korrespondistischen Wahrheitsbegriff verzichten kann. Welterzeugungen sind letztlich vor allem auch deswegen nicht beliebig möglich, weil die Welt gegenüber unseren Theorien widerständig ist. Die Wirklichkeit verhält sich häufig nicht nach unseren theoretischen Wunschvorstellungen. Goodman räumt dies expressis verbis auch ein, wenn er unterstreicht, dass gemäß wissenschaftlicher good practice »bei Frustrationen« Theorien zu revidieren seien. Vgl. Goodman 1978, S. 136. (Die verbreitete, offensichtlich von Goodman geteilte Kritik an der Korrespondenztheorie beruht auf den zwei evident unhaltbaren Annahmen, dass sie einerseits eine Theorie epistemischer Rechtfertigung sei und dass andererseits Wissen nicht nur die Wahrheit einer Proposition, sondern Wissen über deren Wahrheit impliziere.) Eine vertiefte Diskussion der Wahrheitstheorie Goodmans würde an dieser Stelle zu weit von meinem Thema wegführen. 87 Vgl. Goodman 1976, S. 7, und Gombrich 1960, insbesondere S. 90 und S. 298. 85 86

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Musikalische Expressivität und Metaphorizität

identische Stimuli zu garantieren, müsste das Auge fixiert werden, was unsere visuelle Perzeption wiederum verunmöglichte. 88 Wie Langer wirft auch Goodman die Frage auf, wie wir uns symbolisch auf die Welt (oder die Welten) beziehen können. Wie Langer unterscheidet Goodman außerdem zwischen zwei Arten symbolischer Bezugnahme, nämlich zwischen denotativen Symbolen, vergleichbar mit den diskursiven Symbolen Langers, und exemplifizierenden Symbolen, vergleichbar mit ihren präsentationalen Symbolen. Und wie Langer stellt Goodman fest, dass in der Musik Bezugnahmen durch Repräsentationen nachrangig seien. 89 Langer zeigt auf, dass die Bezugnahme sprachlicher Symbole – paradigmatisch für die diskursive Bezugnahme – üblicherweise auf Satzung und Gewöhnung beruht. Goodman weitet diese These in seiner, wie er sie selbst nennt, »language theory of pictures« auf bildliche Repräsentationen aus. 90 Goodman schließt aus, dass Ähnlichkeit allgemein eine logische Bedingung von Repräsentation sei. 91 Überdies bestreitet er, dass der Begriff (ebenso wenig die Begriffe der Nachahmung oder der Kopie) künstlerische Repräsentation verständlich machen könne, und zwar mit den eben dargelegten Argumenten: Die Wirklichkeit ist uns immer nur vermittelt durch Begriffe oder Labels gegeben. Es gibt keinen absoluten Maßstab, kein uns zugängliches Urbild, nach welchem die Ähnlichkeit, die Angemessenheit einer Nachahmung oder Kopie bewertet werden kann. Vielmehr ermöglichten bildliche Repräsentationen selbst als Klassifikationen der Wirklichkeit unseren Zugang zur Welt. Wie sprachliche Begriffe sind auch bildliche Repräsentationen von uns konstruierte Mittel der Organisation der Wirklichkeit, die Aspekte hervorheben, sie in neuem Licht erscheinen lassen oder neue Zusammenhänge zwischen ihnen herstellen. 92 Weil nach dem Ansatz Goodmans nicht nur sprachliche Begriffe zwischen uns und der Welt vermitteln, sondern auch Kunstwerke uns Möglichkeiten der Klassifikation bereitstellen, führt er den Begriff des Labels ein. Der Begriff des Labels umfasst sprachliche Begriffe, aber auch Repräsentationen (und exemplifizierte Eigenschaften) der Kunst. Doch wie unterscheiden sich sprachliche von künstlerischen

88 89 90 91 92

Vgl. Goodman 1976, S. 12. Vgl. Goodman 1976, S. 3. Vgl. Goodman 1976, S. 41. Vgl. Goodman 1976, S. 3–6. Vgl. Goodman 1976, S. 31–33.

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Mitteln der Denotation? Die Frage steht insbesondere deswegen nach wie vor im Raum, weil Goodman ja das Kriterium der Ähnlichkeit (beziehungsweise der Nachahmung oder der Kopie) nicht zur Verfügung steht. Goodman sieht den Unterschied in der »Dichte« künstlerischer Repräsentationen. 93 Manche Aspekte sprachlicher Darstellungen sind vernachlässigbar für die Bestimmung ihres Denotats, syntaktisch etwa die Gestalt von Buchstaben oder der Abstand zwischen einzelnen Wörtern eines Satzes. 94 Beispielsweise ist es in einem Prosatext irrelevant, ob von »Bäumen«, »Bäumen« oder »Bäumen« die Rede ist. Es macht aber zum Beispiel einen musikalischen Unterschied, ob eine Phrase staccato oder tenuto komponiert ist. Bei Kunstwerken beeinträchtigen noch so winzige Veränderungen der Gestalt ihre Bezugnahme, genauer gesagt ihre klassifikatorischen Abgrenzungen. Deswegen spielen in unseren Deutungen von Kunst Nuancen, kleinste Details und feinste Abstufungen bisweilen zu Recht eine große Rolle. Denn die Feinheiten können entscheidend dafür sein, welcher Aspekt mit einem Kunstwerk hervorgehoben, welche neuen Blickwinkel eröffnet oder welche Zusammenhänge herausgearbeitet werden sollen. Nach Goodman denotieren aber Kunstwerke nicht nur, sondern sie beziehen sich oft (und bisweilen einzig) exemplifizierend auf die Welt. Wie ist diese Art symbolischer Bezugnahme zu verstehen? Goodman erläutert die Exemplifikation am Beispiel von Stoffmustern, mit denen etwa auf bestimmte Farben verwiesen wird: 95 Eine erste Bedingung der Exemplifikation liegt darin, dass die Muster qua Symbole diejenige Eigenschaft (dasjenige Label) selbst ausstellen, auf die sie sich beziehen. 96 Die Stoffmuster besitzen diejenige Farbe, die sie exemplifizieren. Doch nicht sämtliche Eigenschaften, die ein Symbol oder ein Muster besitzen, exemplifizieren. Beim Stoffmuster ist die Eigenschaft, viereckig ausgeschnitten zu sein oder ein bestimmtes Gewicht zu haben, nicht weiter relevant. Diese Eigenschaften werden nicht exemplifiziert. Eine zweite Bedingung der Exemplifikation besagt deswegen, dass eine Praxis der Verwendung von Mustern oder Vgl. Goodman 1976, S. 225–232. Es könnte ergänzt werden, dass Goodman damit buchstäbliche Sprache von Kunstwerken scheiden kann. Das Kriterium der Dichte gilt nicht für die metaphorische Sprache. 95 Vgl. Goodman 1976, S. 45–57. 96 Goodmans Nominalismus verbietet es ihm, von Eigenschaften zu sprechen. Anstelle des Eigenschaftsbegriffs verwendet er den Begriff des Labels. 93 94

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exemplifizierenden Symbolen bestimmt, auf welche Eigenschaften verwiesen wird. Das Stoffmuster exemplifiziert beispielsweise Farben von Stoffen, weil es als Muster für Stofffarben gebraucht wird. Exemplifikation ist abhängig von Kontexten des Gebrauchs, nicht nur von den Eigenschaften des Musters beziehungsweise des Symbols. Drei Unterschiede zwischen Denotationen und Exemplifikationen sind zu unterstreichen: Erstens ist die Beschaffenheit des Musters oder des Symbols bei der buchstäblichen Exemplifikation, wie bei den präsentationalen Symbolen Langers, maßgeblich für seine Bezugnahme, das heißt nicht etwa arbiträr wie bei der Denotation, deren Bezugnahme stipuliert und dann im Rahmen einer Praxis des Gebrauches etabliert wird. Bei der buchstäblichen Exemplifikation kommt es also darauf an, welche Eigenschaften das Symbol hat. Zweitens unterscheiden sich Denotation und Exemplifikation in den Gegenstandsbereichen ihrer Bezugnahme. 97 Exemplifiziert werden Eigenschaften (Labels), denotiert Gegenstände oder Ereignisse. Drittens sind die Richtungen der Bezugnahme von Denotation und Exemplifikation einander entgegengesetzt. 98 So denotieren Eigenschaften (Labels) Gegenstände oder Ereignisse, während Gegenstände oder Ereignisse Labels exemplifizieren. Exemplifizierte Eigenschaften sind nicht notwendigerweise sprachliche Prädikate. Gerade daraus folgt der epistemische Wert namentlich von künstlerischen Exemplifikationen. Kunstwerke ermöglichen durch die Exemplifikation nonverbaler Eigenschaften eine Strukturierung der Wahrnehmung, wie sie Sprache, wenigstens aktual, nicht leisten kann. Zum Beispiel könnte ein Muster bestimmte Formen der Faserung von Stoffen exemplifizieren, für die wir (noch) keine sprachlichen Termini kennen. Oder ein Muster könnte eine Farbe haben, die wir sprachlich präzise nicht bezeichnen können, etwa einen Farbton zwischen einem klassischen Türkis und einem grellen Grün. Um es klar zu sagen: Unmöglich ist es nicht, dass die exemplifizierten nicht-sprachlichen Eigenschaften nicht auch sprachlich artikuliert werden könnten. Denn für die Faserung oder den Farbton könnten neue Termini eingeführt werden. Trotzdem kommt der Exemplifikation ein intrinsischer epistemischer Wert zu. Exempli-

97 98

Vgl. Goodman 1976, S. 45–50. Vgl. Goodman 1976, S. 50–57.

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fizierend lassen sich Eigenschaften oft erst entdecken. Außerdem ist das alltagssprachliche Vokabular aus pragmatischen Gründen begrenzt. Insbesondere exemplifizierende Kunstwerke können uns daher neue Möglichkeiten des Zugangs zur Welt eröffnen, die uns die Sprache aktual nicht anbietet. Sie decken einen Bereich eines noch »flüssigen«, noch nicht in sprachliche Begriffe ausdifferenzierten symbolischen Zugangs zur Wirklichkeit ab.99 Auch Kunstwerke sind deshalb nach Goodman »Weisen der Welterzeugung«.

2.3.2. Musikalische Expressivität als metaphorische Exemplifikation Goodman thematisiert Musik in Languages of Art insbesondere, weil sie im Fall der westlichen Tradition ihrer schriftlichen Fixierung ein Paradebeispiel für eine ideale Notation darstellt. Musikalische Werke dürfen aber nach ihm nicht mit Notationen gleichgesetzt werden, sondern sind Aufführungen mit klanglichen Eigenschaften, die freilich zumindest teilweise in einer Partitur vorgeschrieben werden können. 100 Wenn in diesem Abschnitt somit Exemplifikation durch musikalische Werke erläutert werden soll, so müssen Aufführungen qua klangliche Darstellungen von (womöglich) notierten Werken betrachtet werden. Was können musikalische Werke, so gefasst, buchstäblich exemplifizieren? Nahe liegend wäre die Antwort, sie exemplifizierten Klänge. Zwar werden bisweilen Klänge musikalisch buchstäblich exemplifiziert, etwa das Wehen des Windes, ein Quietschen oder ein Donnerschlag. Doch musikalische Werke bieten mehr an als bloß Exemplifikationen von Klängen. (Werke, die ausschließlich Klänge als solche exemplifizieren, sind der Klangkunst zuzurechnen.) Wie ganz zu Beginn meiner Untersuchung festgestellt, können musikalische Werke so aufgefasst werden, dass sie Formen klanglich ausstellen. Musikalische Werke exemplifizieren demnach nicht Klänge, sondern Strukturen und Prozesse von Klängen und Rhythmen – beispielsweise in einer auskomponierten spektralistischen Analyse Der Begriff der Wirklichkeit ist dabei weit aufzufassen. Damit gemeint sind nicht nur äußere Eigenschaften, sondern auch innere Zustände, auf die, wie Goodman argumentiert, exemplifizierend Bezug genommen werden kann. 100 Vgl. Mahrenholz 1994, S. 66 f. 99

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Musikalische Expressivität und Metaphorizität

eines Quietschens –, oder schlichtweg Formen an sich. Darin liegt, um den zentralen Gedanken Goodmans nochmals aufzugreifen, ein genuiner epistemischer Wert. Denn wir verfügen gewiss über ansehnliche begriffliche Ressourcen, etwa aus der Mathematik, um Strukturen und Prozesse zu beschreiben. Allerdings können wir spezifische formale Gestalten aktual nicht immer mit einzelnen Begriffen fassen – höchstens mit unhandlichen Kombinationen basaler Formbegriffe. Deswegen können uns musikalische Werke durch buchstäbliche Exemplifikation exklusiv konzise Labels offerieren, mit denen wir unsere Wahrnehmungen strukturieren können. Wie Langer hält auch Goodman weder Ausdruckstheorien noch Evokationstheorien der Expressivität von Kunst für haltbar. 101 Die Expressivität von Kunst expliziert Goodman vielmehr symboltheoretisch als metaphorische Exemplifikation. 102 Metaphern charakterisiert er prägnant folgendermaßen:

101 Vgl. Goodman 1976, S. 47–51. Gegen die Ausdruckstheorie führt Goodman Einwände an, die auch ich in meinem Abschnitt 1.3.1.1 vorgebracht habe. An Evokationstheorien kritisiert er, dass bei Rezipienten häufig nicht dieselben affektiven Zustände ausgelöst würden, die das Werk ausdrücke, und dass die Evokation affektiver Zustände kulturrelativ sei. Diesen beiden Einwänden kann mit einem sorgfältig ausgearbeiteten evokationistischen Ansatz begegnet werden, wie ich ihn im vierten Kapitel darlegen werde. Langer richtet sich ebenfalls sowohl gegen Ausdrucks- als auch gegen Evokationstheorien. Vgl. Langer 1953, S. 52, und Langer 1963, S. 216–223. Langer argumentiert schärfer gegen Ausdruckstheorien musikalischer Expressivität, als ich es in Abschnitt 1.3.1.1. tue. Denn die Konklusion ihrer Argumente legt nahe, dass eigentlich nur bei banalen, künstlerisch uninteressanten Werken eine Beziehung zwischen affektiven Zuständen von Komponisten und musikalischen Werken zu verteidigen ist. Die Frage, ob ein Komponist ein komplexes Werk auch in einem Zustand höchster seelischer Erregung oder einer persistent depressiven Stimmung schreiben kann, ist eine psychologische. Ich würde die Möglichkeit nicht ausschließen, dass künstlerisch anspruchsvolle expressive Werke auch unter solch erschwerten Umständen entstehen können. Allerdings reicht diese Möglichkeit nicht aus, eine Theorie musikalischer Expressivität zu begründen. 102 Goodman verwendet den Begriff der Expressivität weniger eng, als ich ihn stipuliert habe. Kunstwerke können seinem Gebrauch gemäß auch nicht-affektive Eigenschaften »ausdrücken«, zum Beispiel musikalische Werke Farben oder Bilder Klänge. Vgl. Goodman 1976, S. 46, S. 48 und S. 91. Goodmans Ziel in Languages of Art ist vorderhand nicht die Erhellung eines Zusammenhanges von Musik und menschlicher Affektivität. Vielmehr möchte er systematisch seine Symboltheorie entfalten und anhand von Beispielen aus den Bereichen der Kunst und Wissenschaft, die beide gleichwertig als symbolische Weisen der Welterzeugung verstanden werden, erläutern. Im Folgenden beschränke ich mich auf seine Explikation musikalischer Expressivität als Anwendungsfall seines Ansatzes.

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Expressive Musik als metaphorisches Symbol: der Ansatz Nelson Goodmans

»Metaphor requires attraction as well as resistance – indeed, an attraction that overcomes resistance.« 103

Den Widerstand im Fall von Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken habe ich bereits am Ende des ersten Kapitels als ontologischen identifiziert. Musikalische Werke sind keine Lebewesen. Deshalb können ihnen buchstäblich keine affektiven Zustände zugeschrieben werden. Sie exemplifizieren affektive Zustände nicht buchstäblich. Für eine Einlösung des Desiderates der Erhellung des Zusammenhanges von Musik als Form und ihren expressiven Eigenschaften wäre zu präzisieren, worin die »Anziehungskraft« musikalischer Eigenschaften für eine Exemplifikation affektiver Zustände des Menschen liegen könnte. Aus Goodmans Ansatz lässt sich aber keine Antwort auf diese Frage herauspräparieren. 104 Die bislang diskutierten Bestandteile des Ansatzes Goodmans entsprechen allesamt Gegenstücken in Langers Theorie: die Wahl eines symboltheoretischen Zugangs (das heißt namentlich der Gedanke, auch Kunstwerke als Symbole aufzufassen), die Abgrenzung von denotierenden (in den Worten Langers: diskursiven) und exemplifizierenden (in den Worten Langers: präsentationalen) Symbolen, die Identifikation expressiver Kunstwerke mit exemplifizierenden Symbolen (das heißt mit Symbolen, deren Bedeutung von der Beschaffenheit des Symboles abhängt) sowie Metaphorizität als notwendiger Theoriebestandteil zur Explikation (musikalischer) Expressivität. Im Folgenden möchte ich zwei Unterschiede zu Langer diskutieren. Einerseits verzichtet Goodman darauf, den Begriff der Ähnlichkeit zur Klärung metaphorischer Exemplifikation ins Spiel zu bringen. 105 Dies verwundert kaum. Denn in seiner Auseinandersetzung Goodman 1976, S. 69 f. Vgl. Goodman 1976, S. 78. 105 Die Fähigkeit, Ähnlichkeiten zu erkennen, auf denen ihres Erachtens Metaphern gründen, nennt Langer auch »Intuition« oder »natürliches Licht« in Anlehnung an die Verwendung dieses Terminus bei John Locke: »Intuition lies at the base of all specifically human mental functions … The ordinary intuitive acts, such as the recognition of similar formal structures in sensuously dissimilar things, the reception of one as symbolic of the other, the spontaneous production of new perceptible entities … to present all sorts of abstracted forms in concreto, are as natural to us as the motions of our limbs« [Hervorhebung von Langer] (Langer 1967, S. 130). Langer vernachlässigt aber (mit Locke), dass unsere Wahrnehmung oder »Intuition« nicht einfach unabhängig von unserer kulturellen Situierung gedacht werden kann. Auch die Wahrnehmung der für die Metapherbildung wesentlichen Ähnlichkeiten ist kultur103 104

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Musikalische Expressivität und Metaphorizität

mit denotierenden Symbolen hat er den Begriff für eine philosophisch gültige Explikation künstlerischer Repräsentation als für weder notwendig noch hinreichend erklärt. 106 Andererseits ist Goodman zufolge Expressivität qua metaphorische Exemplifikation (affektiv) bestimmt, wenigstens wenn von seinen eher kursorischen, systematisch aber nicht weiter unterfütterten Äußerungen zu Bildern ausgegangen wird. 107 Bilder können Trauer, Wut oder Freude ausdrücken, nicht nur eine nicht genauer spezifizierte Dynamik innerer Prozesse. Mahrenholz spitzt die These Goodmans weiter zu. Für sie kann expressive Musik affektive Zustände keineswegs bloß, wie ich behaupte, in grober Bestimmtheit vor einer repräsentationalen Deutung ausdrücken, sondern, und darin liegt ihr gemäß ein besonderer Wertaspekt expressiver musikalischer Werke, ausgesprochen fein differenziert. Expressive Musik bietet uns ihr zufolge Möglichkeiten der Klassifizierung unserer Affektivität durch metaphorisch exemplifizierte Labels an, die uns die Sprache durch Begriffe – zumindest aktual, wäre zu ergänzen – nicht bereitstellt: »Die einzigartig differenzierte Ausdrucksform der Musik kann mittels dieser Differenziertheit extrem nuancierte Formen von Gefühls-[…]Zuständen zugänglich machen – zu denen wir in uns ohne die Musik in vielen Fällen keinen Zugang hätten. Sie leistet dies, indem sie diese labelliert … indem sie also ein allgemeines oder triviales Prädikat/Label wie ›traurig‹ mit es-prädizierenden Details ausstattet, verdichtet.« 108

Nichtsdestotrotz hält Mahrenholz die Exemplifikation auch von zeitlichen Prozessen an sich, die nicht weiter, etwa affektiv, bestimmt sind, für einen zentralen Aspekt des Musikalischen, ja sogar für eine

relativ. Der Kulturrelativität menschlicher Metapherbildung trägt Goodman Rechnung. 106 Vgl. Goodman 1976, S. 3–6, und Goodman 1972b, S. 437–446. In seiner vierten Kritik der Ähnlichkeit wendet er sich explizit gegen den Einsatz des Begriffs in einer Theorie der Metaphorizität. Der Begriff sei zu vage, zu unpräzise, da grundsätzlich alles allem gleichen könne. 107 Vgl. Goodman 1976, etwa S. 70. 108 Mahrenholz 1994, S. 89 [Hervorhebung von Mahrenholz]. In FN 158, ebenfalls S. 89, schreibt Mahrenholz, dass Musik zwar keine komplexen affektiven Zustände wie etwa Neid oder Schuld ausdrücken könne, aber »nicht-intentionale Gefühle«. In der Passage zeigt sich eine Schwierigkeit der Überlegungen von Mahrenholz, nämlich dass in ihrer Arbeit Begriffe menschlicher Affektivität ungeklärt bleiben. In meinem Abschnitt 1.2.3.1. habe ich dargelegt, dass affektive Zustände »nicht-intentional« nur grob zu individuieren sind, also weniger präzise, als Mahrenholz es sich wünschte.

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Expressive Musik als metaphorisches Symbol: der Ansatz Nelson Goodmans

Quelle des Glücks, eines Gefühls der Vereinigung des Menschen mit dem Kosmos. Mahrenholz formuliert emphatisch: »Indem Musik diese [prozessualen] Eigenschaften genuin verkörpert (als pure interne Relationalität ohne dazwischengeschaltete fixe Semantik), indem diese Verfasstheit aus internen und ständig verschiebbaren Verhältnissen das Existenz- und Funktionsprinzip der Musik bildet und sie dieses exemplifiziert, macht gerade sie diese Grundverfasstheit des menschlichen Daseins, das Mensch-Welt-Verhältnis einschließlich des Mensch-Menschund Weltversion-Weltversion-Verhältnisses in einer untrennbaren Mischung aus Sinnlichkeit, Leiblichkeit und Intellekt erfahrbar … Das Resultat ist ein passives Glück, das von uns gleichsam überraschend Besitz ergreift.« 109

2.3.3. Kritische Würdigung des Ansatzes Goodmans Wie ich in diesem Abschnitt zeigen möchte, führt die Applikation des symboltheoretischen Ansatzes Goodmans auf das Problem des Wesens musikalischer Expressivität in ein doppeltes Dilemma. Das erste Dilemma ist dabei folgendes: Entweder verweisen musikalische Werke denotierend oder exemplifizierend auf die menschliche Affektivität. Per Definition des Begriffs absoluter Musik habe ich ausgeschlossen (in meinem Abschnitt 1.1.1.), dass außermusikalische Elemente affektive Zustände denotieren. Mit Goodman bin ich darin einig, dass innermusikalisch denotierende Elemente zu wenig signifikant sind, um einer Erhellung des Wesens musikalischer Expressivität zu eignen. Deswegen bleibt nur die Option, dass musikalische Werke affektive Zustände exemplifizieren. Diese Option ist aber unattraktiv, weil sie geradewegs in ein nächstes Dilemma leitet. Entweder exemplifizieren musikalische Werke affektive Zustände buchstäblich oder metaphorisch. Buchstäblich tun sie es jedoch nicht. Denn sie sind keine Lebewesen. Darüber hinaus scheint der Begriff der buchstäblichen Exemplifikation einen Rückfall in eine skeptische, das heißt formalistische Position des Musikalischen, zu implizieren. Denn wie ich dargelegt habe, exemplifizieren musikalische Werke buchstäblich nicht einfach Klänge an sich. Eine solche Bestimmung würdigte die Musik zu einem Handwerk der Klangdarstellung herab. Musik exemplifiziert buchstäblich 109

Mahrenholz 1994, S. 95.

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Musikalische Expressivität und Metaphorizität

klangliche Strukturen und Prozesse. Diese können affektiv interpretiert werden, wie ich oben ausgeführt habe. Alternative, ebenbürtige Deutungen sind möglich, etwa meteorologische oder gendertheoretische, sodass die Frage gerechtfertigterweise aufgeworfen werden kann, was eine affektive Deutung besonders auszeichne. Wie erwähnt kann die Wahl eines Deutungskontextes unter Umständen weiter begründet werden. Jedoch bleibt eine fundamentale Ebene musikalischer Expressivität unberücksichtigt, wenn musikalische Expressivität einzig als affektive Deutung musikalischer Formen expliziert wird, nämlich die Ebene der unmittelbaren affektiven Erfahrung von Musik. Was Goodman bliebe, wäre eine Explikation musikalischer Expressivität als metaphorische Exemplifikation. Diesen Weg schlägt er denn auch ein. Allerdings präzisiert er nirgends, wie Kunstwerke metaphorisch Labels exemplifizieren, welche Labels sie metaphorisch exemplifizieren können. Insofern kann sich Goodman dem Vorwand der theoretischen Beliebigkeit nicht erwehren. 110 In seinem Ansatz finden sich keinerlei Anhaltspunkte, die dagegen sprächen, dass musikalische Werke nicht stets alles metaphorisch exemplifizieren könnten. Dies widerspricht aber unserer Erfahrung der, wenigsten groben, Bestimmtheit musikalischer Expressivität ebenso wie der Beobachtung, dass affektive Zustände musikalischen Werken, wenigstens grob, einheitlich zugeschrieben werden. Der Begriff der metaphorischen Exemplifikation besitzt, angewandt auf das Problem des Wesens musikalischer Expressivität, kaum theoretische Schärfe. Mahrenholz schreibt zum Beliebigkeitseinwand: »Goodmans Ausdruckstheorie zeigt also möglicherweise nicht weniger, als philosophische Ästhetik maximal zeigen kann. Sie zeigt nicht, wie bzw. warum bestimmte ästhetisch-symbolisierende Eigenschaften bestimmte Ausdrucksqualitäten aufweisen. Sie zeigt jedoch, wie präzise und kohärent zu beschreiben ist, dass sie es tun.« 111

Musikphilosophisch kann jedoch mehr gezeigt werden. Denn ihr stehen andere Optionen zur Explikation musikalischer Expressivität offen. Es gibt, wie ich im ersten Kapitel synoptisch dargestellt habe, weitere Gründe des Zusammenhanges von Musik und Emotionen, 110 Vgl. etwa S. Davies 1994, S. 145–150, Vogel 1995, S. 167, Matravers 1998, S. 108, und Rinderle 2010, S. 88. Scruton hält Goodmans Ansatz (ebenso wie denjenigen Langers) für in seiner musikphilosophischen Aussagekraft bescheiden. Vgl. Scruton 1997, S. VIII und S. 141 f. 111 Mahrenholz 1994, S. 99 [Hervorhebung von Mahrenholz].

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Expressive Musik als metaphorisches Symbol: der Ansatz Nelson Goodmans

etwa Ähnlichkeiten zwischen den Bereichen des Musikalischen und Affektiven oder die Evokation von affektiven Zuständen bei einem Rezipienten, der musikalische Werke aufmerksam und involviert wahrnimmt. Der eng symboltheoretische Ansatz Goodmans erfüllt ein wichtiges Desiderat an einen Ansatz musikalischer Expressivität nicht, nämlich die genaue Klärung des Zusammenhanges zwischen musikalischer Form und Expressivität. Näher zu erläutern ist, inwiefern sich mit bestimmten musikalischen Formen bestimmte affektive Zustände ausdrücken lassen. Ansonsten droht Ansätzen an der Stelle ein Vakuum, das zu unbegründbaren Spekulationen hinreißen kann – eine Gefahr, vor der auch Goodman und Mahrenholz nicht gefeit sind (genauso wenig Langer). Mahrenholz behauptet zum Beispiel, musikalische Werke drückten affektive Zustände besonders nuanciert aus. Doch wie kann eine solche These untermauert werden, ohne eine Antwort auf die Frage des Zusammenhanges zwischen musikalischer Form und Expressivität im Köcher zu haben? Dass Goodman die theoretische Lücke nicht kitten kann, erstaunt kaum. Seine Vorbehalte gegenüber dem Begriff der Ähnlichkeit, auf den in Metaphertheorien vielfach zurückgegriffen wird, halten ihn davon ab. Derek Matravers betont außerdem, dass, würde die metaphorische Beziehung zwischen Musik und affektiven Zuständen weiter präzisiert, beispielsweise ähnlichkeits- oder evokationstheoretisch, das Element der Metaphorizität dann systematisch abgewertet würde. 112 Das Element kann zur Erklärung herangezogen werden, dass Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken metaphorisch aufzufassen sind, oder, in den Worten Goodmans, dass musikalische Werke Labels (Eigenschaften) exemplifizieren, die sich metaphorisch musikalischen Werken zuschreiben lassen. Eine weitere Erhellung des metaphorischen Verhältnisses, die ein Licht auf den Zusammenhang von musikalischer Form und Expressivität würfe, lässt sich aus ihm aber nicht gewinnen. Der Ansatz Goodmans kann das Wesen musikalischer Expressivität nur ansatzweise explizieren. Er deutet jedoch die Richtung einer sinnvollen Explikation des Wertes musikalischer Expressivität an. Nach Goodman können expressive Kunstwerke (unter anderem) Aspekte menschlicher Affektivität ausstellen, die wir sprachlich – zumindest aktual – nicht fassen können. Kunstwerke können die Wahrnehmung unserer Affektivität schärfen. 112

Vgl. Matravers 1998, S. 108.

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Musikalische Expressivität und Metaphorizität

2.4. Zwischenfazit In den ersten zwei Kapiteln habe ich Vorarbeiten zu einer Explikation des Wesens und des Wertes musikalischer Expressivität erledigt. Ich habe die für meine Untersuchung unerlässlichen Unterscheidungen erläutert, die zentralen Begriffe geklärt, die wichtigsten Positionen diskutiert und das philosophische Problem musikalischer Expressivität dargelegt. Ich habe dafür plädiert, das Problem ontologisch auszubuchstabieren. Musikalische Werke enthalten buchstäblich musikalische Strukturen und Prozesse. Affektive Zustände hingegen können Werken absoluter Musik nur metaphorisch zugeschrieben werden. (Dabei gehe ich von einem weiten Metapherbegriff aus, der das ganze Spektrum von lebendigen bis zu toten Metaphern umfasst.) Daraus folgen die beiden Hauptfragen meiner Untersuchung: (1) Worauf gründen die metaphorischen Zuschreibungen affektiver Zustände, das heißt auf welchem Zusammenhang oder welchen Zusammenhängen zwischen Werken absoluter Musik und affektiven Zuständen? (2) Worin liegt der Wert, den wir üblicherweise in den musikalischen Werken (oder Passagen aus ihnen) erkennen, denen wir affektive Zustände zuschreiben? Einen Teil des ersten Kapitels habe ich der Charakterisierung menschlicher Emotionen (und der menschlichen Affektivität allgemein) gewidmet. Dabei habe ich vier Eigenschaften herausgearbeitet, die für mein Vorhaben besonders relevant sind: Die doppelte Intentionalität von Emotionen, deren Phänomenalität, Opazität und Existentialität. Mit theoriearchitektonischem Bedacht habe ich den Teil eklektisch angelegt und von der engeren musikphilosophischen Debatte um die Expressivität absoluter Musik abgekoppelt. Damit wollte ich einer systematischen Versuchung widerstehen. Die Versuchung besteht darin, das Problem musikalischer Expressivität dadurch lösen (oder aufzulösen) zu wollen, dass kurzerhand ad hoc emotionsphilosophische Positionen revidiert werden, um den philosophischen hard case der Zuschreibungen von Emotionen beziehungsweise von affektiven Zuständen zu Werken absoluter Musik systematisch zu integrieren. Etwa könnte behauptet werden, Werke absoluter Musik drückten, als Ausnahme von der Regel, Emotionen sui generis aus. Analog könnten auch bedeutungs- oder metaphertheoretische Positionen angepasst werden, um den hard case zu integrieren. Es wäre außerdem unplausibel anzunehmen, dass wir die unseren alltäglichen affektiven Anlagen zugrunde liegenden Module 132 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Zwischenfazit

am Medium Musik evolutionär ausgeprägt haben. Somit sollte der Versuchung nicht nachgegeben werden. Meine Rede von »affektiven Zuständen«, die Werke absoluter Musik ausdrücken können, ist absichtlich und resultiert aus der Anwendung meiner Charakterisierung von Emotionen auf die Diskussion über musikalische Expressivität. Die menschliche Affektivität ist als ein Spektrum von Zuständen aufzufassen, deren Objektbezug unterschiedlich präzise bestimmt sein kann. Am einen Ende des Spektrums finden sich Stimmungen, die gänzlich unfokussiert sind, am anderen Ende Emotionen, die sich auf ein genau bestimmtes Objekt richten. Die skeptische Position, wonach absolute Musik keine Emotionen ausdrücken könne, da in ihr Objekte von Emotionen nicht repräsentiert werden können, beruht auf einer theoretisch unfruchtbaren Fixierung auf Zustände am einen Ende des Spektrums, nämlich auf Emotionen. Deswegen bevorzuge ich in dieser Untersuchung den offeneren Begriff der affektiven Zustände. Das philosophische Problem musikalischer Expressivität wird mit diesem begrifflichen Zug allein jedoch nicht gelöst (oder aufgelöst), sofern es ontologisch gefasst wird. Im zweiten Kapitel habe ich dafür argumentiert, zwei Arten metaphorischer Zuschreibungen zu Werken absoluter Musik auseinanderzuhalten. Einerseits hören wir Werke absoluter Musik als formal sinnvolle und expressive Werke, ohne in ihnen repräsentationale Gehalte unmittelbar wahrzunehmen, das heißt, bevor wir sie möglicherweise in einen repräsentationalen, etwa biografischen, politischen oder sozioökonomischen Kontext stellen. Die Eigenschaften, die wir ihnen dabei zuschreiben, bezeichne ich als tertiäre Eigenschaften musikalischer Werke. Sie supervenieren bedingt über den primären physikalischen und sekundären klanglichen Eigenschaften. Tertiäre Eigenschaften musikalischer Werke erkennen wir, wenn wir die sekundären Eigenschaften, die uns bei Aufführungen musikalischer Werke präsentiert werden, innerhalb eines Kontextes anderer Werke absoluter Musik wahrnehmen. Wir erkennen andererseits quartäre Eigenschaften, wenn wir Werke absoluter Musik in einem repräsentationalen Kontext deuten. Zuschreibungen von Quartäreigenschaften sind dann angemessen, wenn sie zu den Tertiäreigenschaften passen, das heißt zu den rein musikalischen formalen und expressiven Eigenschaften musikalischer Werke. Die Wahl eines repräsentationalen Kontextes muss begründet werden. Der Bezug auf quartäre Eigenschaften eines Werkes erlaubt ganzheitliche Erklärungen, ist 133 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Musikalische Expressivität und Metaphorizität

aber epistemisch prekär. Tertiäre Eigenschaften sind zwar epistemisch etwas solider, aber erlauben keine ganzheitlichen Erklärungen. Für die Unterscheidung zwischen einer tertiären und einer quartären Ebene musikalischer Eigenschaften spricht unsere Erfahrung absoluter Musik. Werke absoluter Musik haben für uns einen Sinn. Wir verstehen etwas an ihnen, ehe wir sie repräsentational deuten. Angemessene repräsentationale Deutungen wiederum beruhen auf Eigenschaften tertiärer Ebene. Kontur- und Personentheorien musikalischer Expressivität erhellen den Zusammenhang von Musik und affektiven Zuständen auf tertiärer Ebene nicht. Sie lassen sich nur stimmig rekonstruieren als Ansätze, die musikalische Expressivität auf quartärer Ebene ansetzen. Im weiteren Verlauf meiner Untersuchung soll Wesen und Wert musikalischer Expressivität auf tertiärer Ebene erhellt werden. Dies kann nur gelingen, wenn die tertiären Eigenschaften nicht mit den repräsentationalen Schichten musikalischer Werke verwischt werden. 113 In den von mir im zweiten Kapitel erörterten metaphertheoretischen Ansätzen, auch denjenigen Langers und Goodmans, wird nicht konkret erläutert, worin der Grund unserer metaphorischen Zuschreibungen von Affektprädikaten zu Werken absoluter Musik liegt. Metaphern aus dem Bereich der Spannung und der menschlichen Affektivität – ebenso wie Metaphern des Räumlichen, der Bewegung und der Richtung – werden in Beschreibungen absoluter Musik nicht willkürlich gebraucht. Vielmehr verwenden wir sie wiederkehrend, gezielt, konsistent und, um es noch einmal zu betonen, vor jeglicher repräsentationalen Deutung der Musik. Ich gehe davon aus, dass wir mit ihnen Aspekte der Erfahrung absoluter Musik zu fassen versuchen. Im folgenden dritten Kapitel möchte ich deswegen einen Schritt hinter den ganz zu Beginn der Untersuchung dargelegten Ausgangspunkt treten. Ich möchte nicht die formalistsiche Auffassung von absoluter Musik als gegeben annehmen, sondern ihren Grund wie auch den Grund der erwähnten Metaphern erläutern, indem ich mich mit unserer gängigen Weise der Annäherung an Werke absoluter Musik beschäftige: mit ihrer Erfahrung.

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Vgl. dazu auch Walton 1988, S. 354.

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3. Die Erfahrung absoluter Musik

Musik kennzeichnet, dass wir sie in einer bestimmten Weise erfahren. Die musikalische Differenz lässt sich nicht bestimmen ohne Verweis darauf, wie wir Musik erleben. 1 Was uns an Musik fesselt, sind nicht Strukturen oder Prozesse als formale Gebilde per se, sondern die Erfahrungen, die sie uns klanglich vermitteln, und deren weitere Interpretation. Es verwundert daher nicht, dass wir in sprachlichen Schilderungen musikalischer Werke oft danach trachten, uns auf unsere musikalische Erfahrung zu beziehen. Dazu dienen uns häufig Metaphern. So schreiben wir musikalischen Werken affektive Zustände zu, aber etwa auch räumliche oder kinetische Eigenschaften. Dabei gründen diese metaphorischen Zuschreibungen auf unserer affektiven Erfahrung von Aufführungen musikalischer Werke. Wenn wir uns über die Zuschreibungen verständigen wollen, so verVgl. Levinson 1990c, S. 272 f., und Scruton 1998b, S. 79. Definitionen von Musik werden meist um die Bedingung ergänzt, dass bei der Musik beabsichtigt werde, klangliche Strukturen oder Prozesse, die (in engerem Sinne) musikalische Erfahrungen ermöglichen, einem Publikum zu präsentieren. Vgl. dazu Levinson 1990c, S. 273 f., und Kania 2011, S. 7–12. Mehr dazu auch in meinem Abschnitt 3.1.1. Was wiederum musikalische Erfahrungen auszeichnen könnte, werde ich in diesem und im nächsten Kapitel präzisieren. Die Neue Musik birgt Schwierigkeiten für die Erfahrungs-plus-Absicht-Definition. Denn während viele Werke der Neuen Musik sich problemlos mit der Definition fassen lassen, gibt es womöglich auch Werke, die bewusst so angelegt sind, dass sie uns daran scheitern lassen sollen, musikalische Erfahrungen zu machen, zum Beispiel radikal aleatorische Werke. (Der Zusatz radikal soll verdeutlichen, dass in Frage steht, ob es solche Werke überhaupt geben kann.) Wir machen dann musikalische Erfahrungen im weiteren Sinne. Es handelt sich bei den Stücken um Musik, die sich in Opposition zum bis dann üblichen Musikbegriff bestimmt, um »Anti-Musik«. Womöglich wäre die Definition deswegen disjunktivistisch zu gestalten, oder die Werke der »Anti-Musik« müssten einer anderen Kunstform zugeordnet werden, etwa der Klangkunst oder der performance art. Für meine Zwecke reicht die Erfahrungs-plus-Absicht-Definition ohne Ergänzung aus. Mit meiner Anmerkung möchte ich lediglich dem Vorwurf des impliziten Konservativismus begegnen. (Scruton ist ein bekennender Konservativer, auch musikphilosophisch, und dies schlägt sich in seiner Definition nieder.)

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Die Erfahrung absoluter Musik

weisen wir auf Erfahrungen, die uns in Aufführungen musikalischer Werke vermittelt werden, Erfahrungen, die wir intersubjektiv teilen können. Nicht sämtliche Erfahrungen taugen jedoch als Evidenz in möglichen Bemühungen um Verständigung. Es bedarf eines weiteren systematischen Schrittes, nämlich der Einführung von Bedingungen der Wahrnehmung musikalischer Werke. Dieser Schritt ist keineswegs außergewöhnlich. Er ist nur schon erforderlich, um uns über die sekundären, das heißt klanglichen, Eigenschaften von Gegenständen und auch von musikalischen Werken zu verständigen. Das Konsenspotential auf der tertiären und quartären Eigenschaftsebene hängt vom Konsenspotential der sekundären Eigenschaftsebene ab. Zu den für die Musikrezeption grundlegenden notwendigen Bedingungen zähle ich insbesondere eine akustisch klare Darbietung der Musik, einen gesunden Zustand unseres Hörvermögens, die Abwesenheit einer funktionellen psychischen Störung bei der kognitiven Verarbeitung musikalischer Strukturen und Prozesse, einer Amusie, und intakte affektive Vermögen. 2 Diese grundlegenden Bedingungen genügen aber nicht, um Sinneigenschaften musikalischer Werke nuanciert erfahren zu können. Darüber hinaus müssen wir eine fokussierte und involvierte Haltung gegenüber einer Aufführung einnehmen. Nur dann kommt eine passive Aktivität, ein vorbewusster Prozess in Gang, dessen Resultate uns affektiv gewahr werden. 3 Um den Prozess zu beschreiben, An den Bedingungen zeigt sich, dass die Wahrnehmung expressiver (ebenso wie etwa formaler, räumlicher oder kinetischer) musikalischer Eigenschaften nicht nur von unserer sinnlichen Ausstattung abhängt, sondern auch von unseren kognitiven und affektiven Fähigkeiten. Deswegen gehören die Eigenschaften nach meinem integrativen Modell einer höheren Eigenschaftsebene als Klangeigenschaften an. Vgl. dazu auch Scruton 1983b, S. 87. Isabel Peretz, Lise Gagnon und Bernard Bouchard werfen die Frage auf, ob Amusie das Erkennen der Expressivität von Musik ausschließe, und zwar aus Untersuchungen mit der hirngeschädigten Probandin I. R., die im Vergleich zu Mitgliedern der gesunden Kontrollgruppe Mühe hat, musikalische Elemente oder auch ganze Stücke wiederzuerkennen, die aber in ihren expressiven Zuschreibungen mit der Kontrollgruppe übereinstimmt. Es ist allerdings so, dass die Probandin einige musikalische Parameter offensichtlich wahrzunehmen in der Lage ist, etwa Tempo und Modi, auch wenn andere Parameter deutlich unzuverlässiger als die Mitglieder der Kontrollgruppe, zum Beispiel tonales Schließen. Vgl. Peretz/Gagnon/ Bouchard 1998. Mir scheint die Erhebung nicht hinreichend für den Nachweis der Irrelevanz von Amusie für unser Vermögen der Wahrnehmung musikalischer Expressivität. 3 Unter vorbewussten Prozessen sind Prozesse zu verstehen, die nichtbewusst verlaufen, deren Resultate uns aber bewusst gewahr werden. 2

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Die Erfahrung absoluter Musik

greife ich auf das Modell des musikalischen Erwartungsspiels zurück. 4 Musikalische Werke setzen ein Spiel mit vorbewussten formalen Erwartungen in Gang, wenn wir sie involviert hören. Der Abgleich von formalen Erwartungen und aktuellen musikalischen Verläufen verursacht beim Hörer bewusste affektive Zustände. Ich behaupte, dass es diese für die Erfahrung von Klängen als Musik wesentlichen Zustände sind, auf die wir uns beziehen, wenn wir musikalische Werke mit Metaphern der Räumlichkeit, Bewegung, Gerichtetheit und der menschlichen Affektivität charakterisieren, wobei die vier Metaphern sich nicht auf alle musikalischen Werke anwenden lassen. In diesem Kapitel soll das Modell des Erwartungsspiels eingeführt und mit ihm die Aspekte der Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Bewegung und Gerichtetheit der musikalischen Erfahrung erläutert werden – dies mit dem Ziel, mit ihm im vierten Kapitel ebenso musikalische Expressivität erläutern zu können. Im ersten Teil des Kapitels erörtere ich die Grundlagen des Modells des Erwartungsspiels (Abschnitt 3.1.1.). Musikalische Erwartungsspiele sind in der Regel vielschichtig angelegt. Ich unterscheide – in Anlehnung an David Huron – verschiedene musikalische Ebenen, auf denen Erwartungsspiele vollzogen werden (Abschnitt 3.1.2.), und drei verschiedene Arten von Erwartungen (Abschnitt 3.1.3.). Im zweiten Teil grenze ich den für ein kontinuierliches aktives Erwartungsspiel erforderlichen Modus des involvierten Hörens von den Modi des zerstreuten und distanzierten Hörens ab (Abschnitt 3.2.). Im dritten Teil (Abschnitt 3.3.) schließlich entwickle ich eine Phänomenologie der musikalischen Erfahrung anhand von fünf Momenten: Zeitlichkeit, Räumlichkeit, Bewegung, Gerichtetheit und Spannung.

Den Begriff der Erwartung hat Arthur D. Bissell in die musiktheoretische und -psychologische Diskussion eingeführt. Vgl. Bissell 1921. Aufgegriffen und informationstheoretisch weitergedacht wurde Bissells Ansatz von Leonard B. Meyer. Vgl. Meyer 1956. Eine evolutionstheoretisch und empirisch fundierte Erwartungstheorie der musikalischen Erfahrung vertritt David Huron. Vgl. Huron 2006. Huron listet in seiner Monografie zahlreiche weitere durch die Informationstheorie angeregte Studien zur Musik auf, in denen vom Begriff der Erwartung ausgegangen wird. Vgl. Huron 2006, S. 381 f., FN 2.

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Die Erfahrung absoluter Musik

3.1. Das Modell des musikalischen Erwartungsspiels 3.1.1. Grundlagen des Modells Bei der musikalischen Erfahrung richtet sich unsere Aufmerksamkeit kontinuierlich auf die dargebotenen akustischen Stimuli als solche, das heißt nicht auf ihre kausalen Ursprünge oder ihre praktische Bedeutung. In der Regel sind die Stimuli in Aufführungssituationen für uns unmittelbar praktisch folgenlos, im Gegensatz zu Klängen in Alltagssituationen, beispielsweise einem Hupen eines herannahenden Autos. 5 Die Aufmerksamkeit bringt dabei eine distinkte Art einer passiven Aktivität mit sich, insbesondere begünstigt durch die meist überaus repetitive Anlage (von Aspekten) der in Aufführungen musikalischer Werke dargebotenen akustischen Stimuli. 6 (Absolute) Musik ist durch den exzessiven Gebrauch von Wiederholungen gekennzeichnet. 7 Dadurch unterscheidet sie sich von anderen Medien, Mehr dazu in meinem Abschnitt 3.3.2., in dem ich musikalische Räumlichkeit als Ersatz für die in der Alltagssituation gegebene buchstäbliche Räumlichkeit der kausalen Ursprünge der Klänge erläutere. 6 Vgl. Huron 2006, S. 227–231. Schon in Bissells Theorie (nicht nach Arten differenzierter) musikalischer Erwartungen ist die Tatsache der Repetitivität von Musik insofern systematisch zentral, als er in ihr den entscheidenden begünstigenden Faktor der Bildung musikalischer Erwartungen sieht. Vgl. Bissell 1921, insbesondere S. IX–XIII. 7 Den Punkt hebt namentlich Kivy in seinem Aufsatz »The Fine Art of Repetition« hervor. Vgl. Kivy 1996b. Allerdings zieht er aus der Beobachtung die meinem Gedankengang diametral entgegengesetzte Schlussfolgerung, dass Musik als tönendes Ornament (»sonic wallpaper«) zu verstehen sei. Die affektive Erfahrung musikalischer Verläufe hält er für das Verstehen von Musik für irrelevant, selbst für die Bestimmung ihrer Bewegung oder Expressivität – beides Momente der Musik, die er nicht anzweifelt. Kivy hält affektive Erfahrungen musikalischer Verläufe nicht nur für irrelevant, sondern bestreitet, musikalische Verläufe selbst affektiv zu erfahren. Ob es überhaupt möglich ist, musikalische Werke, beispielsweise Schuberts Unvollendete, zu hören, ohne durch ihre musikalischen Verläufe bewegt zu werden, scheint mir zweifelhaft, und insofern auch die Glaubwürdigkeit von Kivys Selbstbeschreibungen seiner musikalischen Erfahrung. Seine Position ist dezidiert antievokationistisch, wobei er einräumt, von der Leistung beispielsweise von Komponisten bewegt sein zu können. Vgl. dazu mein Abschnitt 1.4.3. Ich werde hingegen die affektive Erfahrung musikalischer Verläufe zur Explikation von musikalischer Bewegung und Expressivität pointieren. Eigenartig ist auch, dass Kivy in seinem Aufsatz explizit ein Erfahrungsmoment absoluter Musik nennt, das kaum ohne Bezug zur Evokation affektiver Zustände zu erhellen ist. Er spricht nämlich davon, dass wir in der Musik »grammatikalische Fehler« wahrnehmen könnten. Vgl. Kivy 1996b, S. 356. Doch solche metaphorischen Zuschreibungen gründen auf unserer affektiven Erfahrung des musikalischen Geschehens. Musikalische Ereignisse nehmen wir als »grammatikalisch 5

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Das Modell des musikalischen Erwartungsspiels

etwa von der prosaischen Schriftsprache. 8 Die Wiederholungen in der Äußerung »Die Straße ist nass. Die Straße ist nass. Die Straße ist nass.« vermitteln in einem Prosatext keine zusätzlichen Informationen. Es handelt sich um leere Redundanzen. Zur Erschließung von Sinn und Bedeutung einer Aussage ist deren Wiederholung in einem Prosatext nicht erforderlich. In der Musik hingegen sind Wiederholungen sinnkonstitutiv. Sinnkonstitutive musikalische Wiederholungen sind keine leeren Redundanzen. Die passive Aktivität stellt sich teilweise von selbst ein, wobei sie in der Regel voraussetzt, dass ein Hörer einsozialisiert ist in einen sozial instituierten Kontext anderer musikalischer Werke. 9 Für meine Überlegungen zu musikalischen Tertiäreigenschaften reicht es aus, wenn dieser Kontext nur Werke absoluter Musik umfasst. Die vorbewusste Aktivität besteht zunächst darin, dass gegenwärtig wahrgenommene akustische Ereignisse auf vergangene akustische Ereignisse der Aufführung eines Werkes und auf unseren allgemeinen Erfahrungsschatz bereits erfahrener musikalischer Strukturen und Prozesse bezogen werden. Daraus leiten wir dann eine probabilistisch aufgefächerte Perspektive auf das kommende musikalische Geschehen ab. Wir bilden beim Hören ständig subpersonale Erwartungen an den weiteren formalen Verlauf eines Werks, komplexe und vielschichtige Erwartungen, die nach verschiedenen musikalischen Parametern unterschieden werden können. So bilden wir gleichzeitig etwa melodische, harmonische, kontrapunktische, klangfarbliche, dynamische, rhythmische, metrische, artikulatorische und agogische subpersonale Erwartungen. 10 falsch« dann wahr, wenn sie unsere subpersonalen musikalischen Erwartungen (mitunter deutlich) verletzen und uns deswegen überraschen. 8 Anders verhält es sich in der gesprochenen Sprache, bei der Wiederholungen zum Verständnis unverzichtbar sind. Diese Funktion der Wiederholung sieht Kivy auch für die absolute Musik. Wiederholungen böten dem Hörer die Chance, die Wahrnehmung des musikalischen Geschehens zu vertiefen, das heißt schlicht mehr Aspekte ihrer Faktur zu erfassen und zu verstehen. Vgl. Kivy 1996b, S. 352 f. 9 Die Bedeutung von Institutionen für die Kunst allgemein wird in Institutionentheorien der Kunst herausgearbeitet. Vgl. namentlich Danto 1964 und Dickie 1984, insbesondere S. 49–108. Danto hat zur Entwicklung von Institutionentheorien inspiriert, zählt sich selbst aber explizit nicht zu deren Proponenten. Vgl. Danto 1981, S. VIII, S. 5 f. und S. 99. Zu den Institutionen der Musikwelt zählen namentlich Schulen, Bibliotheken, Konzertveranstalter, Orchestergesellschaften, Medien und die Kritik. 10 Der Vielschichtigkeit des musikalischen Erwartungsspiels sind die beiden folgenden Abschnitte 3.1.2. und 3.1.3. gewidmet.

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Die Erfahrung absoluter Musik

Ich spreche mit Bedacht von subpersonalen Erwartungen. 11 Das Modell des Erwartungsspieles ermöglicht eine Erklärung der Evokation affektiver Zustände beim involvierten Hören musikalischer Werke auf vorbewusster Ebene. Das Erwartungsspiel vollzieht sich vorbewusst. 12 Nur seine Resultate werden uns bewusst, und zwar affektiv. Nichtsdestotrotz greife ich auf den Begriff der Erwartung zurück. Erwartungen tout court sind uns immer bewusst, und sie sind notwendigerweise ein personaler Zustand. Das Attribut der Subpersonalität markiert, dass der Begriff der subpersonalen Erwartung ein Platzhalterbegriff ist, ein Begriff für ein theoretisches Konstrukt, dass aber gleichzeitig mit dem Bezug zum Erwartungsbegriff verständlich gemacht werden soll. 13 Der Begriff der subpersonalen Erwartung steht für diejenigen neurophysiologischen Prozesse, auf denen die Evokation von affektiven Zuständen bei unserer involvierten Rezeption musikalischer Werke beruht. Das Spiel mit subpersonalen Erwartungen bleibt nur dann lebendig, wenn Strukturen und Prozesse akustischer Stimuli weder zu chaotisch noch zu vorhersehbar gestaltet sind. Um eine musikalische Erfahrung (in engerem Sinne) zu ermöglichen, müssen Komponisten darauf achten, dass die Faktur ihrer Musik in einen Bereich zwischen formaler Ordnung und Chaos fällt. 14 Stellt sich ein solches ErwarDer Begriff der Subpersonalität geht auf Daniel Dennett zurück. Vgl. Dennett 1969, S. 93. Vgl. zum Begriff subpersonaler Zuständen Drayson 2012, insbesondere S. 9 f. Huron verwendet den Begriff der Subpersonalität nicht. Seine Terminologie ist leider alles andere als konsistent, ebenso wenig diejenige von Dowling/Harwood und Meyer. Die Autoren sprechen etwa auch von vortextuellen (pretextual), impliziten (implicit), unbewussten (unconscious) oder gar unterbewussten (subconscious) Erwartungen, ohne ihre terminologischen Entscheidungen zu erläutern. 12 Hurons Ansatz umfasst ebenfalls bewusste Erwartungen, die musikalische Werke nähren, insbesondere großformale. Vgl. Huron 2006, S. 235–237. Diese würde ich dem distanzierten Modus des Hörens zuordnen, der in praxi das involvierte Hören durchziehen kann. 13 Vgl. auch Huron 2006, S. 42. 14 Vgl. Tanner/Budd 1985, S. 230 f. Aus dem Gesagten folgt eine Präzisierung der disjunktivistischen Definition der Musik, die ich zu Beginn des Kapitels skizziert habe (FN 1): Akustische Stimuli führen dann zu bestimmten affektiven, eben (in engerem Sinne) musikalischen Erfahrungen, wenn sie weder zu monoton noch zu chaotisch strukturiert sind und wenn wir sie involviert, das heißt weder distanziert noch zerstreut, sondern ständig mit einer auf ihre formale Ordnung gerichteten Aufmerksamkeit verfolgen. Musik kann so charakterisiert werden, dass sie aus akustischen Stimuli besteht, die formal absichtlich so gestaltet sind, dass sie (in engerem Sinne) musikalische Erfahrungen ermöglichen, oder sie absichtlich so gestaltet ist, dass sie uns daran 11

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Das Modell des musikalischen Erwartungsspiels

tungsspiel ein und bleibt es kontinuierlich in Schwung durch unsere stetige Aufmerksamkeit (dies erfordert bisweilen eine bewusste Anstrengung von uns) auf das sich aktuell entwickelnde akustische Geschehen, dann hören wir ein Werk involviert. Wir tauchen dann in das Universum des Musikalischen ein. Das Erwartungsspiel bringt dann eine bewusste, affektive musikalische Erfahrung mit sich. 15 Diese Erfahrung stellte sich nicht ein, wenn den akustischen Stimuli plötzlich alltägliche Relevanz zukommen würde. Denn dies störte das musikalische Erwartungsspiel, das womöglich ganz abbräche, da unser Fokus von den Stimuli hin zur alltäglichen Situation gelenkt würde. Bisweilen tun wir so, als ob alltägliche akustische Stimuli Musik wären. Wir hören sie dann als Musik, wenn wir absichtlich über ihre alltägliche Kausalität und Bedeutung »hinweghören«. In dem Moment komponieren wir, ob lediglich für uns oder für ein von uns adressiertes Publikum, Musik. Somit ist Musik nicht einfach überall in der Welt. Denn normalerweise nehmen wir alltägliche Klänge nicht als Musik wahr und bezeichnen sie auch nicht als Musik. Zum Beispiel würden wir die akustischen Stimuli einer U-Bahn als Lärm bezeichnen. Wir können jedoch die Geräusche der U-Bahn absichtlich als Musik hören. Wir konzentrieren uns dann auf den von der UBahn emittierten Klang und seine Entwicklung, nicht auf den Klang in seiner kausalen Verbundenheit mit der U-Bahn als für uns möglicherweise alltagsrelevantem Transportmittel. Der beabsichtigte, spezifische Fokus kann dann ein, vorwiegend lokales, musikalisches

scheitern lässt, (in engerem Sinne) musikalische Erfahrungen zu machen. Extreme Monotonie oder extremes Chaos prägen Stile der Neuen Musik. So könnte behauptet werden, minimal music sei die Musik einer komponierten Monotonie, Aleatorik eine Musik des komponierten Chaos. Jedoch höre ich viele, wenn nicht die meisten Werke der Stile so, dass sie noch in den Bereich fallen, in dem ein Erwartungsspiel in Schwung kommt. Selbst wenn etwa Steve Reichs Drumming extrem repetitiv gestaltet ist, so variiert er doch die Faktur seiner Musik ständig. 15 W. Jay Dowling und Dane L. Harwood schreiben dazu: »The listener’s understanding of the ongoing sequence of events within a piece of music depends on the cognition of the way those events are related to one another and to the broader scheme of pattern invariants. That type of cognition is not usually explicit and conscious, but rather functions subconsciously [!] to provide the listener with the conscious experience of the music.« (Dowling/Harwood 1986, S. 177). Auch im Ansatz von Dowling und Harwood spielt der Begriff der Erwartung eine prominente Rolle. Vgl. Dowling/ Harwood 1986, S. 167–169.

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Die Erfahrung absoluter Musik

Erwartungsspiel in Gang setzen und zur Erfahrung musikalischer Horizontalität führen. 16 Beim fokussierten, involvierten Hören musikalischer Werke werden affektive Zustände evoziert. Deren Valenz und Intensität können mit dem Modell des Erwartungsspiels erläutert werden: 17 Die Valenz der evozierten affektiven Zustände ist positiv, wenn subpersonale Hörerwartungen durch den aktuellen Verlauf eines musikalischen Werkes erfüllt, negativ, wenn sie enttäuscht werden. Die Intensität der evozierten affektiven Zustände resultiert aus dem qualitativen vorbewussten Abgleich von subpersonaler Hörerwartung und aktualem akustischen Ereignis. Geprägt wird unsere musikalische Erfahrung aber weniger von einzelnen evozierten affektiven Zuständen. Salient sind vielmehr Summen affektiver Zustände, die eine bestimmte hedonische Konfiguration (das heißt Valenz und Intensität) aufweisen. Dabei ergibt sich neben der Häufigkeit und Intensität von evozierten affektiven Zuständen in einem Zeitintervall aus der Vielschichtigkeit musikalischer Werke eine weitere Möglichkeit der Erklärung unterschiedlicher Ausprägungen der evozierten Konfigurationen. Denn die Auflösungen der verschiedenen Arten von Erwartungsspielen auf verschiedenen musikalischen Ebenen durch aktuelle akustische Ereignisse sind zwar bisweilen in ihrer Valenz interdependent, aber nur in beschränktem Ausmaß. Häufig überlappen sich die einzelnen Prozesse. Eine ausschließlich positive oder negative Auflösung der Summe der Erwartungsspiele ist nur schon deshalb selten, weil sie dadurch unter-, wenn nicht ganz abgebrochen würden. Ausschließlich positive Auflösungen fallen meist auf den Schluss von Abschnitten, Sätzen oder Werken. Verlängert wird das Erwartungsspiel dadurch, dass sich stets einige Erwartungen erfüllen, andere nicht. Somit neutralisieren sich manche evozierten Affekte, oder die erlebten hedonischen Summen affektiver Zustände werden vermindert. 18 Im Sinne der erläuterten disjunktivistischen Musikdefinition bestünde eine Möglichkeit darin, akustische Stimuli als Musik zu deklarieren, die die Hörer aber daran scheitern lassen, eine musikalische Erfahrung zu machen. 17 Vgl. mein Abschnitt 4.1.1. 18 Eindeutige, darob expressiv signifikante hedonische Summen von durch musikalische Erwartungsspiele idealerweise evozierten affektiven Zuständen bestimmen musikalische Expressivität auf tertiärer Eigenschaftsebene. Mehr dazu in meinem Abschnitt 4.2.2., zum Psychologismusproblem ferner die Bemerkungen zu Beginn meines Abschnittes 3.3. 16

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Das Modell des musikalischen Erwartungsspiels

Im Folgenden möchte ich das eben in Grundzügen vorgestellte Modell des Erwartungsspieles weiter entfalten, indem ich zwei Dimensionen von Erwartungen unterscheide und darlege, und zwar musikalische Ebenen und Arten von Erwartungen. Insbesondere die Arbeiten David Hurons zeigen, dass sich das aus der Informationstheorie abgeleitete Modell des Erwartungsspiels so entwickeln lässt, dass es sich konkret auf die Komplexität musikalischer Werke anwenden lässt. Dadurch gewinnt das Modell an Attraktivität für die Erläuterung der Phänomenologie musikalischer Erfahrung.

3.1.2. Erwartungen auf verschiedenen musikalischen Ebenen Vorbewusste Erwartungen an Verläufe musikalischer Prozesse haben wir auf verschiedenen Ebenen. Die Erwartungsspiele auf den verschiedenen Ebenen sind dabei meist interdependent, aber nicht völlig parallel. Zu den Ebenen zähle ich die Melodik, Harmonik, Kontrapunktik, Klangfarbe (dazu gehört auch der Einsatz vielfältiger Spieltechniken, die die Klangfarbe bestimmen können), Form (hier sind weitere Unterteilungen denkbar, etwa in großformale Erwartungen – zum Beispiel hinsichtlich der Satzanlage einer Sinfonie – 19 , satzinterne Erwartungen – etwa innerhalb einer Sonatenhauptsatzform – und strukturtypologische Erwartungen – etwa innerhalb einer Periode), Dynamik, Artikulation, Agogik, Rhythmik und Metrik. Eine zusätzliche, in dieser Untersuchung aber nicht weiter betrachtete Unterscheidung ergäbe sich, wenn die Gestaltung von musikalischen Erwartungsspielen durch kompositorische Vorgaben und deren Umsetzung im Rahmen von Aufführungen auseinandergehalten würden. 20 Schuberts Unvollendete ist ein Beispiel für eine Sinfonie, die großformale Erwartungen enttäuscht, da der dritte Satz nur in unvollständigen Skizzen überliefert ist. Über den Zustand des vierten Satzes ist wenig bekannt. Die Tatsache, dass Schubert die Sätze drei und vier nicht abgeschlossen hat, ist ein prominentes Thema in der musikwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Werk. Hinweise auf eine bewusste Entscheidung Schuberts, die Arbeit an der Sinfonie nicht fortzusetzen, gibt es nicht. Vgl. etwa Einstein 1952, S. 235 f., Newbould 1992, S. 179–184, und Steinbeck 1997, S. 632. Die großformale Unvollständigkeit beeinflusst auch die Expressivität der Sinfonie als ganzer. Möglicherweise ist die Unvollständigkeit des Werkes gerade deswegen umso bedeutungsvoller, als sie von Schubert hingenommen werden musste, obschon er offensichtlich beabsichtigte, die fehlenden Sätze zu komponieren. 20 Ebenfalls könnte untersucht werden, wie stark die verschiedenen Ebenen zu gewichten sind. Einer Erhebung von Lehne et al. zufolge bleibt das erlebte Spannungs19

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Die Erfahrung absoluter Musik

Am Beispiel des ersten Themas der Unvollendeten Schuberts lässt sich die Interdependenz der Erwartungsspiele auf verschiedenen musikalischen Ebenen illustrieren:

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Abb. 2: Franz Schubert, Sinfonie Nr. 7 in h-Moll, 1. Satz, erstes Thema (Oboe und Klarinette, mit dem Einwurf der Hörner; T. 13–21)

Schubert wählt für das Thema den Formtypus des Satzes. 21 Der Satz wird häufig für das erste Thema verwendet, weil er eine prägnante, aber nicht abschließende Einheit bildet. Er wirkt eröffnend. Im achten Takt des Themas erwarten wir aufgrund des zugrunde liegenden Formtypus des Satzes formal sein Ende. Deswegen erwarten wir an der Stelle eine melodische und harmonische Zäsur, und zwar beim Satz in Form eines Halbschlusses. Wir erwarten den Zielakkord der Kadenz auf einer metrisch starken Zählzeit. Die Erwartungen werden in dem Takt erfüllt – allerdings nur zum Teil. Denn das erste Thema enthält eine »Deformation«, die die Expressivität der Passage prägt. Zwar schließt das Thema in der Oboe und Klarinette auf metrisch starker Zählzeit. Doch die Dominante des Halbschlusses erstreckt sich auf zwei, nicht wie formal zu erwarten auf einen Takt, und sie wird nicht auf der ersten Zählzeit des achten Taktes des Themas erreicht, sondern forzato auf der zweiten. Der harmonische Rhythmus folgt an der Stelle nicht wie erwartet dem Metrum. Diese Abweichung profil auch unter Vernachlässigung performativer Elemente wie etwa der Dynamik und Agogik in seiner Grundgestalt erhalten. Vgl. Lehne et al. 2013 und mein Abschnitt 1.4.1. 21 Der Terminus »Satz« weist in der Formenlehre eine unglückliche Ambiguität auf. Hier gemeint ist nicht ein Teil einer Sinfonie als ganzer (movement), sondern ein »syntaktisches Grundmuster« der Themengestaltung, das heißt der Satz nach Erwin Ratz.

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Das Modell des musikalischen Erwartungsspiels

wäre als solche aber nicht ohne die vorhergehende strikte Interdependenz zwischen den Erwartungsspielen des harmonischen Rhythmus und des Metrums zu erkennen. Von den strukturtypologisch bestimmten Erwartungsspielen weniger abhängig ist der rhythmische Verlauf der Begleitung in den Violinen, die kontinuierlich das Thema durchfließt und sich ungeachtet des Ereignisses am Themenende fortsetzt. Harmonisch und dynamisch ist die Begleitung aber an die strukturtypologisch bestimmten Erwartungsspiele angebunden. Das Mittel der vorübergehenden teilweisen Entflechtung einzelner musikalischer Ebenen wird oft dafür eingesetzt, die Evokation von musikalischer Spannung zu erhöhen. Beispielhaft zeigt sich dies an so genannt »harmoniefremden« Tönen wie etwa Vorhalten, Antizipationen oder betonten Durchgangstönen. Auf der Position, auf der die Töne erklingen, handelt es sich bei diesen streng genommen in der Tat um »harmoniefremde« Töne. Jedoch sind es immer Töne der Harmonie eines vorherigen oder folgenden Akkordes. Es sind harmonieeigene Töne dieser Akkorde. Nur erklingen sie rhythmisch verschoben, Antizipationen ebenso wie betonte Durchgangstöne »zu früh«, Vorhalte »zu lange« ausgehalten. Diese – bezogen auf schematische Synchronizität – rhythmischen »Deformationen« lösen beim involvierten Zuhörer affektive Zustände negativer Valenz aus. Dazu ein weiteres Beispiel:

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Abb. 3: Quartvorhalt und Antizipation in einer Kadenz (C-Dur)

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Die Erfahrung absoluter Musik

Der Quartvorhalt ist Teil einer melodischen Linie, die geschmeidig zur Terz der Dominante führt (oberes Notensystem). Beim Vorhalt (unteres Notensystem) erklingt der Leitton allerdings zu spät. Der zu ihm führende Tonartgrundton wird »zu lange« ausgehalten und bewegt sich erst auf der Dominante zum Leitton. Die spezifische (harmonische) Quartdissonanz entsteht also durch rhythmische »Deformation« – das heißt, der Grundton bewegt sich wider Erwarten erst auf der Dominante zum Leitton stufenweise abwärts – und ist melodisch eingefasst von einer preparatio und einer resolutio (in dem Beispiel über eine weitere »Deformation«, einer dissonanten Antizipation, die den Tonikagrundton »zu früh« erklingen lässt). Die Dissonanz wird nicht gesetzt als ein beliebiges Anspringen eines akkordfremden Tones, sondern scheint in einem Geflecht von melodischen, harmonischen und metrischen Erwartungen auf. Die strenge Einbettung der Dissonanz bestimmt die affektive Wirkung des Vorhaltes. Evoziert wird zwar Spannung (oder psychischer Schmerz) durch die vorübergehende Verletzung metrischer und harmonischer Erwartungen. Die Wirkung ist aber nicht zu drastisch. Ein harsches Abspringen auf einen dissonanten Ton – im Kontext eines tonalen Satzes – würde eher Lachen evozieren. 22 Es ist eine empirisch zu klärende Frage, ob und auf welchen Ebenen wir musikalische Erwartungen bilden. Dies wird in der Musikpsychologie so gefasst, dass gefragt wird, ob und wenn ja, wie verschiedene Ebenen des Erwartungsspiels mental repräsentiert werden. Huron wirft etwa die Frage auf, ob wir Melodien wirklich als Folge horizontaler Intervalle »innerlich hören«, das heißt, ob unsere (subpersonalen) melodischen Erwartungen als horizontale Intervalle repräsentiert werden. Die wahrscheinlichere Alternative sei es, dass, wenigstens in tonalen Kontexten, Melodien als Folgen von Tonstufen mental vorbewusst repräsentiert würden. 23 Auch unsere mentalen Repräsentationen der verschiedenen Ebenen des musikalischen Erwartungsspiels könnten Interdependenzen enthalten, wobei zu vermuten ist, dass sie auf kognitive Ökonomie zurückzuführen sind. Mehr zur Evokation von Lachen als massive Enttäuschung von Erwartungen in meinem Abschnitt 4.1.2. 23 Die Frage stellt sich insbesondere, weil wir uns Intervalle meist kaum abstrakt merken, sondern sie uns als Anfänge von tonalen Liedern einprägen. Es ist auch meine Erfahrung, dass die Anwendung dieses kontextabhängigen Wissens schwer fällt, sobald Intervalle einer Melodie in einem anderen Kontext bestimmt werden sollen, etwa innerhalb einer atonalen Melodie. Vgl. Huron 2006, S. 117–120. 22

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Das Modell des musikalischen Erwartungsspiels

3.1.3. Arten musikalischer Erwartungen Die Komplexität des musikalischen Erwartungsspiels zeigt sich nicht nur darin, dass es auf verschiedenen musikalischen Ebenen stattfindet, sondern dass sich auch verschiedene Arten musikalischer Erwartungen unterscheiden lassen. Bei der vorbewussten Berechnung musikalischer Erwartungen wird auf abgespeicherte musikalische Erfahrungen zurückgegriffen. Dabei verfügen wir über verschiedene Arten von Gedächtnissen. Huron übernimmt die in der Kognitionspsychologie einschlägige Unterscheidung zwischen Kurzzeitgedächtnis, episodischem und semantischem Langzeitgedächtnis. Entsprechend dieser drei Arten von Gedächtnissen können drei Arten von subpersonalen Erwartungen an die Verläufe musikalischer Werke unterschieden werden, nämlich lokale (Huron spricht von »dynamischen« Erwartungen), veridische und schematische Erwartungen. 24 3.1.3.1. Veridische Erwartungen Ein typisches Merkmal unseres Umgangs mit musikalischen Werken ist, dass wir sie häufig mehrfach anhören. Dies ist nicht zuletzt auf institutionell getragene Praktiken zurückzuführen, die lebendige Erfahrungen von Musik bedingen. Meist kann nur durch sie ein Erwartungsspiel etabliert werden. Zu den Praktiken zählen etwa die Fixierung von Werken durch Notationen oder andere Medien, die deren Reproduktion erlauben, die Aufführung von Werken ab notiertem Text und der Aufbau eines kanonischen Repertoires. In der Regel vermögen wir nach wiederholtem Anhören Patzer von werkgetreuen musikalischen Verläufen zu unterscheiden, die innerhalb einer interpretatorischen Bandbreite liegen. Wir entwickeln veridische Erwartungen an Aufführungen von Werken, und zwar auch ohne Notenstudium (oder sonstiges Medienstudium). Veridische Erwartungen werden meistens erfüllt, insbesondere formale, melodische, harmonische und kontrapunktische. Dadurch erscheinen uns Werke vertraut. Sie wirken »angenehm«. 25 Enttäuschungen veridischer Erwartungen springen sofort ins Ohr. Denn die EnttäuVgl. Huron 2006, S. 219 f. Den Zusammenhang von Gedächtnis und unserer Wahrnehmung von Musik beleuchten Candance Brower und Bob Snyder, auf deren Arbeiten Huron sich bezieht. Vgl. Brower 1993 und Snyder 2000. 25 Vgl. allgemein zum exposure effect Bornstein 1989. 24

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Die Erfahrung absoluter Musik

schung veridischer Erwartungen nehmen wir sehr deutlich wahr, oft als grobe Brüche zum vorgängigen musikalischen Geschehen. Meist geht von Enttäuschungen veridischer Erwartungen eine komische Wirkung aus. 26 Das Spiel mit veridischen melodischen, harmonischen, kontrapunktischen und formalen Erwartungen ausnotierter Werke verflacht bei wiederholtem Hören in der Regel, da Patzer in Aufführungen meist nur selten vorkommen. Die Praxis der Aufführung von notierten Werken hat aber den Vorteil, dass Werke dadurch fein variiert werden können, bisweilen auch ziemlich weitgehend, vor allem im Barock. Interpretationen von Werken nach dem Barock unterscheiden sich häufig aber immer noch beträchtlich, vor allem in der Wahl ihrer Tempi, der Phrasierung, in ihrer dynamischen, artikulatorischen oder agogischen Gestaltung. Dadurch wird die vollkommene Vorhersehbarkeit von notierten musikalischen Werken auf veridischer Ebene verhindert. Wiederholtes Hören könnte als produktives Mittel empfohlen werden, uns an die beim ersten Hören häufig fremd oder irritierend klingenden Werke der Neuen Musik anzunähern, sofern sie nicht radikal aleatorisch gestaltet sind. 27 Durch wiederholtes Anhören der Werke verlieren sie nämlich ihre abstoßende Wirkung, weil sie dann veridische Erwartungen erfüllen und deswegen »angenehmer« wirken. Umso mehr sind wir dann geneigt, uns insbesondere in ihre lokalen Erwartungsspiele zu vertiefen. Allerdings ist gerade das Schockierende, das Fremde oder die Irritation beim ersten Hören oft kompositorisch beabsichtigt. Doch auch möglicherweise zunächst sperrige (nicht radikal aleatorische) Werke der Neuen Musik enthalten Strukturen und Prozesse, auf die wir uns einlassen müssen, um ihren Sinn und in der Folge ihre Bedeutung ganzheitlich fassen zu können. Sie sind nicht auf ihre beim ersten Hören evozierten Wirkungen zu reduzieren, die aber in der Auseinandersetzung mit ihnen (je nach Kontext) oft zu berücksichtigen sind.

Vgl. Huron 2006, S. 241. Bei radikal aleatorischen Werken werden veridische Erwartungen (wie auch alle anderen Arten von Erwartungen) ständig enttäuscht. Ein musikalisches Erwartungsspiel kommt so gar nicht erst in Schwung. Radikal aleatorische Werke stellen dadurch das Musikalische in Frage und thematisieren es.

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Das Modell des musikalischen Erwartungsspiels

3.1.3.2. Schematische Erwartungen Musikalische Werke weisen oft schematische Eigenschaften auf, etwa metrische, melodische, harmonische, kontrapunktische oder formale, die werkübergreifend vorhanden sind. Dies ist zum Beispiel bei tonaler Musik (die eben gerade durch tonale Schemata geprägt ist) der Fall, ebenso bei Musiken zahlreicher anderer Kulturen. 28 Epochenübergreifende Schemata sind in der Neuen Musik kaum mehr zu erkennen. 29 Zu heterogen sind dafür die Stücke angelegt, zu individualistisch die ihnen zugrunde liegenden kompositorischen Ansätze. Allenfalls können Schemata in Schulen noch aufgedeckt werden – am ehesten noch die Zwölftontechnik der zweiten Wiener Schule. 30 Schemata finden sich in (nicht durchgehend aleatorisch gestalteter) Neuer Musik indes häufig innerhalb des Œuvres einzelner Komponisten. Schemata der Neuen Musik werden allerdings kaum mental repräsentiert. Auch schematische Erwartungen können nur innerhalb einer musikalischen Praxis institutionell etabliert werden, in der Hörer vielfach mit Werken konfrontiert werden. Dass die Unterscheidung zwischen veridischen und schematischen Erwartungen fruchtbar ist, zeigt der Blick auf ein klassisches Paradoxon der Musiktheorie, und zwar auf den Trugschluss. 31 Das Paradoxon lässt sich wie folgt umreißen: Selbst wenn wir ein Werk kennen, wirken darin auftretende Trugschlüsse überraschend. Dies erstaunt. Denn wenn wir ein Werk kennen, können uns – so der scheinbare Widerspruch – Trugschlusswendungen gar nicht mehr überraschen. Deren überraschende Wirkung kann aber mit der Unterscheidung zwischen veridischen und schematischen Erwartungen erklärt werden. Wenn wir ein Werk kennen, so haben wir angemessene veridische Erwartungen, die beim erneuten Hören in der Regel erfüllt werden. Auch die darin enthaltenen Trugschlüsse erfüllen unsere veridischen Erwartungen. Hingegen enttäuschen sie unsere schema-

Vgl. Huron 2006, S. 242. Es ist zu vermuten, dass gerade das Ausbleiben solcher Schemata, mit denen Hörer der westlichen Musikkultur vertraut sind, den Zugang zu Neuer Musik erschwert. 30 Sinn und Zweck der Zwölftontechnik ist es dabei gerade, die Schemata der Tonalität zu überwinden. Dass ihr dies oft auch gelingt, lässt sich auch statistisch nachweisen. Huron bezeichnet Schönbergs Musik als »kontratonale«, diejenige Wagners als »kontrakadenziell« (tonale Schemata bleiben in Wagners Musik virulent), diejenige Strawinskys als »kontrametrisch«. Vgl. Huron 2006, S. 334–346. 31 Vgl. Dowling/Harwood 1986, S. 220, und Huron 2006, S. 225–227. 28 29

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Die Erfahrung absoluter Musik

tischen Erwartungen – wenigstens einigermaßen. Denn schematisch erwarten wir, dass sich Dominanten kadenziell auflösen, nicht trugschlüssig, auch wenn der Trugschluss keine ganz unwahrscheinliche Variante ist. Schematisch ist der Trugschluss aber deutlich unerwarteter als die Kadenz. Ein weiterer Aspekt des Trugschlusses im Unterschied zur Kadenz ist darauf zurückzuführen, dass er auf die sechste Tonstufe leitet, die als spannungsvoller als die Tonika erlebt wird. Freilich änderten sich die statistischen Verhältnisse dann, wenn wir ein einzelnes Werk, das viele Trugschlüsse umfasst, wieder und wieder anhörten. Jedoch gründen unsere schematischen Erwartungen auf unserer Erfahrung sämtlicher kontextuell relevanten Werke, sodass sich durch unseren Fokus nur auf ein einzelnes Werk die schematischen Verhältnisse nur geringfügig verschöben.

3.1.3.3. Lokale Erwartungen Auch innerhalb einzelner Werke werden musikalische Erwartungen geweckt, die bereits beim erstmaligen Hören einer Aufführung ein Erwartungsspiel in Gang setzen können. Komponisten erwecken solche lokale Erwartungen, indem sie kontinuierlich auf bestimmte Formtypen zurückgreifen, die sie in variierter, verkürzter, verlängerter, harmonisch modulierter Gestalt, häufig (in der Regel mehrheitlich) aber in schlichter Wiederholung setzen. 32 Beispiele für musikalische Mittel lokaler Erwartungsbildung sind etwa Begleitfigurationen oder melodische Motive, die innerhalb eines Stückes aufgenommen oder entwickelt werden. Erste Ansätze lokaler Erwartungsspiele in Schuberts Unvollendeter sind etwa motivische Anspielungen zum zweiten Thema in der Linie der tiefen Streicher und ein erstes Begleitmuster ab Takt neun.

3.2. Drei Modi des Musikhörens Drei Modi des Musikhörens können unterschieden werden. Es sind überaus verbreitete Rezeptionshaltungen, die jeder, der sich mit Musik auseinandersetzt, kennt. Für den Gedankengang meiner Unter-

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Vgl. zur Repetitivitätseigenschaft von Musik mein Abschnitt 3.1.1.

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Drei Modi des Musikhörens

suchung steht der involvierte Modus im Zentrum, der Voraussetzung für die unmittelbare Rezeption musikalischer Expressivität auf tertiärer Eigenschaftsebene ist. Ich möchte diesen Modus in den folgenden drei Abschnitten präzisieren, indem ich ihn vom zerstreuten und vom distanzierten Modus abgrenze. In praxi ist dabei stets davon auszugehen, dass die Hörmodi nicht in Reinform vorkommen. 33 Selbst im zerstreuten Modus werden wir bisweilen in das musikalische Geschehen hineingezogen. Wir hören es dann bruchstückhaft involviert. In dem Augenblick rückt die (absolute) Musik vom Hinter- in den Vordergrund unserer Aufmerksamkeit, während die alltägliche Tätigkeit oder andere mediale Aspekte (wie etwa bei dem noch zu erörternden Fall der Filmmusik) in den Hintergrund rücken. Auch der involvierte Modus ist in praxi nicht ständig zu halten. Häufig vermischen sich Momente der synchronen fokussierten Wahrnehmung von Musik mit asynchronen, distanzierten Betrachtungen. Oder wir driften bisweilen in den zerstreuten Modus ab. Gegen meinen Zug der idealtypischen Bestimmung des involvierten Hörens in Abgrenzung zu den beiden anderen Hörmodi ließe sich einwenden, dass ich einen bestimmten historisch kontingenten Hörzugang vorschreibe (genauso, wie etwa Kontur- oder Personentheoretikern vorgehalten werden könnte, dass ihr Ansatz eine bestimmte historisch kontingente Hörweise allgemein vorschreibe). Doch musikalische Expressivität lässt sich nicht explizieren, ohne ihre fundamentale tertiäre Eigenschaftsebene zu berücksichtigen. Auch die Kontur- und Personentheorie setzen die Ebene voraus, explizieren sie aber nicht. Die tertiäre Eigenschaftsebene ist jedoch weder im zerstreuten noch im distanzierten Modus unmittelbar zu erschließen, sondern nur im involvierten.

Adorno unterscheidet in seiner »Einleitung in die Musiksoziologie« acht Typen von Hörern, damit einhergehend acht »Typen musikalischen Verhaltens«. Seine Unterscheidung ist feiner und stimmt nicht ganz mit meiner überein, zumal bei ihm im Gegensatz zu mir vor allem soziologische und psychoanalytische Gesichtspunkte im Vordergrund stehen. Adornos Vorbehalt, wonach die Hörtypen »nicht chemisch rein vorkommen«, trifft aber auf meine Unterscheidung ebenfalls zu. Vgl. Adorno 1973b, S. 179. Vgl. die alternative Unterscheidung von Hörtypen in Gabrielsson 2001–2002, S. 124.

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Die Erfahrung absoluter Musik

3.2.1. Zerstreutes Hören Beim zerstreuten Hören schweift unsere Aufmerksamkeit, wenigstens zeitweise, vom musikalischen Geschehen ab hin zu persönlichen Projektionen, zu außermusikalischen Aktivitäten oder alltäglichen Situationen. Zerstreut hören wir Musik typischerweise etwa bei der Arbeit, beim Autofahren, beim Sex oder beim Einkauf im Supermarkt. Gemeinsam ist den Beispielen, dass wir die Musik zwar wahrnehmen, aber nur flüchtig, und dass der hauptsächliche Fokus unserer Aufmerksamkeit auf einer alltäglichen Tätigkeit liegt, nicht auf ihrem hörenden Nachvollzug. Trotzdem wirkt die Musik aber häufig selbst im zerstreuten Modus auf uns. Deshalb setzen wir sie bisweilen auch mit Kalkül ein, oder sie wird mit Kalkül eingesetzt, wie zum Beispiel in Supermärkten. Die Musik bleibt unterschwellig präsent, und wir bleiben ihr, gerade deswegen, besonders wehrlos ausgesetzt. Bei aller Anstrengung lässt sich ein Abdriften in den zerstreuten Modus auch in der sicheren, von der alltäglichen Situativität abgeschotteten Umgebung eines Konzertsaales nie ganz vermeiden. Unsere Ressourcen der Konzentration auf das abstrakte formale Geschehen absoluter Musik sind begrenzt. (Die Abstraktionsleistung ist, so habe ich bereits unterstrichen, notwendige Bedingung dafür, dass wir Klänge als Musik hören.) Dies räumen selbst erfahrene Musiker und Kritiker ein. Allerdings kann die bewusste Aktivität, die Fähigkeit des involvierten Hörens, durch Übung gestärkt werden. Wir verpassen im zerstreuten Modus meist nicht nur Feinheiten, sondern auch wesentliche formale Ereignisse eines Stückes. So können uns musikalische Sinnzusammenhänge und expressive Aspekte der Werke entgehen. 34 Dass wir uns musikalische Werke oft gerne mehrmals

Mittels (förderlicher) Redundanzen können Komponisten dem Problem unserer Zerstreutheit entgegenwirken. Redundanzen finden sich auch in Musik, die vorwiegend konzertant aufgeführt wird. Ein Beispiel ist die (in der Regel unvariierte) Wiederholung der Exposition in Sonatenhauptsatzformen, die Beethoven erst mit der Appassionata (1804/5) abschaffte. (Sogar die Durchführung des Sonatenhauptsatzes wurde lange Zeit wiederholt.) Musik, die wir nicht in erster Linie in geschütztem Rahmen konzertant hören, zum Beispiel radio hits, ist häufig mit Bedacht so angelegt, dass ihr Sinnzusammenhang auch mit nur beschränktem Fokus zu verstehen ist. Rücken wir solche Musik in den Vordergrund unserer Aufmerksamkeit, so offenbaren sich ihre Redundanzen als leer, erscheinen ihre Strukturen und Prozesse plump. (Zwischen dem Begriff der musikalischen Redundanz und dem Begriff musikalischer Repetitivität ist zu unterscheiden. Musikalische Redundanzen, auch förderliche, sind

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Drei Modi des Musikhörens

anhören, mag auch daran liegen, dass wir dadurch Verluste unserer Zerstreuung kompensieren wollen. Selbst im zerstreuten Modus werden wir allerdings bisweilen in das musikalische Geschehen hineingezogen. Wir hören es dann bruchstückhaft involviert. In dem Augenblick rückt die (absolute) Musik vom Hinter- in den Vordergrund unserer Aufmerksamkeit, während die alltägliche Tätigkeit oder andere mediale Aspekte (wie etwa beim noch zu erörternden Fall der Filmmusik) in den Hintergrund rücken. Beim zerstreuten Hören ist es aber so, dass die alltägliche Tätigkeit oder andere mediale Aspekte unsere Konzentration mehr beanspruchen als die (absolute) Musik. Deswegen werden Momente involvierten Hörens immer nur kurz währen, und es ist zweifelhaft, ob in den kurzen Perioden das musikalische Erwartungsspiel so in Gang kommen kann, dass uns einzelne Werkaspekte vollständig affektiv gewahr werden können. Wenn es überhaupt in Schwung kommt, dann wird das Spiel mit schematischen Erwartungen vorherrschend sein, da uns die kontinuierliche Aufmerksamkeit für die Bildung lokaler Erwartungen im zerstreuten Modus fehlt. Daher erstaunt auch nicht, dass Popmusik oder MUZAK meist in einer (pseudo-)tonalen Harmonik komponiert wird, das heißt, dass in ihr vorwiegend, aber nicht nur mit schematischen Erwartungen gespielt wird. Ehe ich verschiedene Arten zerstreuten Hörens diskutiere, 35 möchte ich mich kurz auf Adornos Hörtypologie einlassen. Seine Typologie stellt eine Privationstheorie des Musikhörens dar. Er würde das vorwiegend zerstreute Hören als minderwertigen Modus betrachten, bei dem die Musik zur Ware verkomme, insbesondere dann, wenn »Musik Mittel ist zu Zwecken der eigenen Triebökonomie« 36 . Ich halte diese Abwertung für unbegründet. 37 Denn Musik funktional zu verwenden, sei es zur Begleitung von Ritualen, sei es als Tanzmusik, zur Selbstdistinktion oder unmittelbaren affektiven nicht sinnkonstitutiv, während Wiederholungen sinnkonstitutiv sein können. Vgl. mein Abschnitt 3.1.1.) 35 Einen Anspruch auf Vollständigkeit stelle ich dabei nicht. Zu vielfältig sind dazu die Möglichkeiten der Zerstreuung. Es geht mir allein darum, den Modus des zerstreuten Hörens zu illustrieren und die Abgrenzung zu den beiden anderen Modi zu schärfen. 36 Adorno 1973b, S. 187. 37 Sie widerspiegelt, dass Adorno sich nie gänzlich von der Musikideologie des 19. Jahrhunderts befreien konnte, die ihm nicht zuletzt sein Lehrer Alban Berg vermittelte. Vgl. DeNora 2003, S. 32 f. und S. 70.

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Die Erfahrung absoluter Musik

Selbstregulierung, scheint an sich nicht verwerflich. Die Leistung Adornos liegt darin, die Frage nach der Kontrolle über die funktionale Verwendung von Musik aufgeworfen zu haben. 38 Der zerstreute Modus des Hörens dürfte am ehesten Adornos Typus des »emotionalen Hörers« entsprechen. Adorno schreibt zu dem Typus: »Doch mögen diesem Hörtypus gerade auch sture Berufsmenschen, die ominösen tired businessmen zurechnen, die in einem Bereich, der für ihr Leben konsequenzlos bleibt, Kompensation für das suchen, was sie sonst sich versagen müssen. – Der Typus reicht von solchen, die durch Musik, welcher Art auch immer, zu bildhaften Vorstellungen und Assoziationen angeregt werden, bis zu solchen, deren musikalische Erlebnisse dem vagen Tagtraum, dem Dösen sich nähern« 39

Adorno charakterisiert eine Art des zerstreuten Hörens. Bei der Art kommt ein Zusammenhang zwischen Musik und menschlicher Affektivität zum Tragen. In der Art nehmen die »Berufsmenschen« aber nicht in erster Linie die genuine Expressivität der gehörten Werke wahr. Ihre Aufmerksamkeit driftet vielmehr von der Musik ab. Sie projizieren eigene seelische Zustände (oder, nach Adorno: Mängel, Bilder, Assoziationen) auf die Musik, die nicht notwendigerweise in den Werken formal verankert und intersubjektiv nachvollziehbar sind. Die Musik wirkt auf sie nur als Katalysator, der ihren eigenen, persönlichen Gefühlshaushalt mobilisiert (oder unterdrückt). Nach meiner Terminologie ist der von Adorno geschilderte Fall somit der projektiven Expressivität zuzuordnen, nicht der genuinen. 40 Dabei kann das Abschweifen der Aufmerksamkeit von Aspekten der genuinen Expressivität der Werke provoziert werden. Der Gehalt der Werke muss aber nicht mit dem der projektiven Expressivität übereinstimmen. DeNora zeigt beispielsweise anhand eines Ausschnittes eines qualitativen Interviews, dass nur schon die Identifikation eines Werkes dazu ausreicht, Trauer auszulösen: 41 Die Probandin Lucy wird von der Musik ergriffen, weil sie sie an ihren Vater erinnert, der das Stück, in dem Fall das Doppelkonzert a-Moll op. 102 von Vgl. DeNora 2003, S. 34. DeNoras Ansatz ist insofern bemerkenswert, als sie nach einem empirisch fundierten Verständnis der funktionalen Verwendung von Musik strebt, anstatt sie pauschal zu verurteilen. 39 Adorno 1973b, S. 186 f. 40 Vgl. meine Abschnitte 1.4.2. und 1.4.4. 41 Vgl. DeNora 2000, S. 63–65. 38

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Drei Modi des Musikhörens

Brahms, häufig gern hörte. Ihre Trauer hängt in dem Fall nicht von der genuinen Expressivität des Werkes ab. Ihre Aufmerksamkeit wandert von der Musik zu ihrem Vater, zu Erinnerungen an ihre Beziehung und an ihre Kindheit. In dem Moment bricht ihre Konzentration auf die Musik ab, und sie läuft Gefahr, für die Bestimmung der genuinen Expressivität des Werkes maßgebliche Teile zu verpassen. Das klassische Hollywood-Paradigma der Filmmusik schreibt eine andere Art zerstreuten Hörens vor. 42 Die Musik soll hinter die Elemente treten, die zusammen die Erzählung des Filmes voranbringen, hinter das gesprochene Wort, hinter die Geräuschebene und hinter das visuelle Geschehen. Das Volumen der Musik soll gedämpft, ihre Form durch die Bildfolge bestimmt sein, ihre allenfalls perzeptiv auffälligen Anfänge und Schlüsse durch eine Positionierung an narrativ signifikanten Stellen kaschiert werden. Dadurch soll die Musik »unhörbar« gemacht werden, wie es Claudia Gorbman im Titel ihrer Monografie zur Filmmusik des klassischen Hollywood-Paradigmas treffend fasst. 43 Wir nehmen die Musik wahr, ohne uns ihrer Faktur über weite Strecken gewahr zu sein – hie und da erhaschen wir vielleicht ein paar Stellen deutlich, aber unsere Aufmerksamkeit verweilt nicht kontinuierlich auf der Musik. Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Verborgenheit erfüllt die Musik eine Reihe von Funktionen, deren Wirkung für das Medium Film nach dem Hollywood-Paradigma von entscheidender Bedeutung ist. Unter anderem soll sie die auf eine zweidimensionale Fläche projizierte Erzählung verräumlichen und ihr »magisch« eine dritte Dimension verleihen. 44 Die Distanz zwischen der glatten Projektion und dem Zuschauer wird dabei nicht Vgl. dazu Gorbman 1987, insbesondere S. 73–91. Vgl. Gorbman 1987 (Unheard Melodies). Vgl. dazu auch Adorno/Eisler 1969, S. 25–28. Adorno und Hanns Eisler fordern in ihrer Kritik, dass Filmmusik vermehrt hörbar einzusetzen sei. Problematisch an der Kritik von Adorno und Eisler, die als gegen das Hollywood-Paradigma gerichtet zu lesen ist, scheint erneut ihr pauschalisierender Tenor. Es handelt sich beim klassischen Hollywood-Paradigma um eine theoretische Zuspitzung, die nach wie vor praktische Relevanz hat. Ein Studium von Einzelfällen zeigt aber rasch auf, dass die Praxis dem Paradigma oft nur teilweise folgt. Adorno und Eisler würdigen auch die Tatsache zu wenig, dass in der Praxis auf spannende und anspruchsvolle Weise mit Klischees gespielt wird und dass Filmmusik nur selten die visuell und sprachlich dargebotene filmische Erzählung bloß »verdoppelt«. Freilich werden (nach wie vor) Filme nach den selbst ökonomisch wenig weitsichtigen Prinzipien produziert, die Adorno und Eisler benennen. Die Streifen erweisen sich nicht selten als flops. 44 Vgl. Adorno/Eisler 1969, S. 109–111, und Gorbman 1987, S. 39–41. 42 43

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zuletzt dadurch verringert, dass die Musik ihn ergreifen soll. Die Musik übernimmt nach dem klassischen Hollywood-Paradigma insbesondere eine affektive Funktion. Mit ihr soll die filmische Erzählung affektiv konturiert werden. 45 Doch kann die nach dem klassischen Hollywood-Paradigma komponierte Musik mit affektiven Zuständen überhaupt zusammenhängen, wenn sie bloß zerstreut wahrgenommen wird? Spräche dies nicht gegen die Expressivität dieser Musik? Meines Erachtens nicht. Denn die nach dem Hollywood-Paradigma komponierte Filmmusik hat ihre expressive Bestimmtheit vor allem zwei Arten von repräsentationalen Bestandteilen zu verdanken. Einerseits prägt die vorwiegend durch visuelle und sprachliche Mittel vorgetragene filmische Erzählung die Expressivität der Musik. Andererseits wird in den klassischen Hollywood-Filmkompositionen mit einschlägigen musikalischen Codes gearbeitet, mit repräsentationalen Klischees, deren Bedeutung wir selbst dann zu erkennen in der Lage sind, wenn wir die Musik nur bruchstückweise wahrnehmen. 46 Darüber hinaus ist in praxi die nach dem klassischen Hollywood-Paradigma komponierte Musik auch meist abschnittsweise absolutmusikalisch expressiv. Dieses Moment kommt aber nur zum Tragen, wenn die Hörer, wenigstens vorübergehend, auf die Musik fokussieren. Förderliche Redundanzen könnten die Wahrnehmung des Moments begünstigen, und sie finden sich in Hollywood-Filmmusiken auch zuhauf. Die eben erörterte Art des zerstreuten Hörens kommt im geschützten, von der alltäglichen Situativität getrennten Rahmen des Kinosaales (oder in vergleichbarem Rahmen) vor. Am häufigsten dürfte der Modus des zerstreuten Hörens aber im Alltag zu beobachten sein. Zur Musik sitzen wir im Wartezimmer des Zahnarztes, fahren Auto, lesen eine Zeitung in einem Café oder steigen in ein Flugzeug ein. Eine Funktion, die die Musik dabei erfüllt, ist freilich pragmatischer Natur. So lenkt die Musik etwa bei Einsteigen in ein Flugzeug von den oft als bedrohlich aufgefassten Geräuschen der Triebwerke ab oder von unsympathischen Mitpassagieren, und sie beruhigt uns. Jedoch wird in allen Beispielen ebenfalls bezweckt, uns als Hörer affektiv (selbst) zu manipulieren, und es ist kaum zu beDer Musik werden nach dem Paradigma neben der erwähnten zahlreiche andere Funktionen zugeschrieben, die ich hier aus Platzgründen nicht diskutieren kann. Vgl. Gorbman 1987, S. 33–39. 46 Vgl. Adorno/Eisler 1969, S. 34–37, und Gorbman 1987, S. 79–82. 45

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streiten, dass die Hintergrundmusik in den genannten Situationen oft eine affektive Wirkung entfaltet. Dieser Gedanke scheint Schwierigkeiten für meine Argumentation mit sich zu bringen. Denn es könnte gesagt werden, dass der zerstreute Modus der Modus der Rezeption affektiver Gehalte von Musik schlechthin sei. Nicht zufällig komme die Haltung von Adornos emotionalem Hörer dem Hören in dem zerstreuten Modus am nächsten. Ein involviertes Zuhören sei gar nicht erforderlich, um die affektiven Gehalte zu erfassen, und damit wird auch zweifelhaft, ob Expressivität, wenn sie schon bei derart oberflächlichem Hören (Adorno bezeichnet es in der zitierten Stelle als »Dösen«) bestimmen liesse, überhaupt ein ästhetisch relevanter Aspekt musikalischer Werke sein könne. Ich komme nicht ohne Vorgriff auf meine noch zu entfaltende Position aus, um den Einwand zu entkräften. Die Expressivität eines musikalischen Werkes können wir nur vor dem Hintergrund eines Kontextes weiterer Werke (absoluter) Musik anhand der Signifikanz der Gesamtheit der evozierten Gefühle angemessen bestimmen. Die Wahrnehmung der Vielzahl der von einem Werk evozierten Affekte setzt aber eine kontinuierliche Aufmerksamkeit auf die dargebotenen Strukturen und Prozesse und somit involviertes Hören voraus. Darüber hinaus werde ich zeigen, dass ein Wertaspekt genuiner Expressivität darin liegt, dass wir unsere affektive Erfahrung genuiner Expressivität auf unseren Alltag beziehen können. Expressive musikalische Werke schärfen unser alltägliches affektives Bewusstsein. Diesen Wertaspekt versäumen wir, wenn wir das musikalische Geschehen lediglich zerstreut im Hintergrund alltäglicher Tätigkeiten verfolgen, weil wir so kaum ein erinnerbares Bewusstsein zweiter Ordnung der musikalisch evozierten affektiven Zustände gewinnen. Der Bezug der musikalischen affektiven Erfahrung auf affektive Alltagserfahrungen erfordert jedoch ein erinnerbares Bewusstsein zweiter Ordnung musikalisch evozierter affektiver Zustände.

3.2.2. Involviertes Hören Bereits in Abschnitt 3.1.1. habe ich den involvierten Modus des Hörens so charakterisiert, dass wir dann eine Aufführung eines musikalischen Werkes involviert hören, wenn sich unsere Aufmerksamkeit kontinuierlich auf die dargebotenen akustischen Stimuli als solchen richtet. Diese besondere Form der Aufmerksamkeit wird be157 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

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günstigt durch Situationen der Aufführung musikalischer Werke, die in der Regel dadurch gekennzeichnet sind, dass es sich um einen von alltäglicher Situativität separierten, geschützten Rahmen handelt, der die ausschließliche Konzentration auf akustische Stimuli ermöglicht, mehr noch, sie fördert, ja uns in den involvierten Modus und damit in ein musikalisches Erwartungsspiel hineinleitet. Die für den Hörmodus charakteristische Involviertheit ergibt sich aus der passiven Aktivität des musikalischen Erwartungsspiels. Kommt dieses erst in Gang, so nimmt uns stets wunder, wie sich die Musik weiterentwickelt. Denn nicht nur gleichen wir in einem Hörmoment gehegte subpersonale Erwartungen mit aktualen musikalischen Ereignissen ab. Vielmehr werden durch die Musik auch neue Erwartungen geweckt. Dadurch begeben wir uns in formale Zusammenhänge eines Werkes und, wie sich gleich zeigen wird, in Zusammenhänge, die meist weit über ein einzelnes Werk hinausweisen, und unser Fokus bleibt auf das sich vollziehende Geschehen gerichtet. Die für das involvierte Hören erforderliche bewusste Anstrengung besteht dabei darin, die Aufmerksamkeit von den akustischen Stimuli nicht abdriften zu lassen, etwa auf analytische Weisen der Beschreibung von Musik, auf äußerliche, alltägliche Begebenheiten oder auf individuelle Projektionen. Das musikalische Erwartungsspiel vollzieht sich als passive Aktivität vorbewusst. Nur die Resultate aus dem Erwartungsspiel werden uns gewahr, und zwar affektiv. Eine bewusste Aktivität wird erforderlich, wenn wir auf großformale Aspekte von Werken fokussieren, beispielsweise, wenn wir uns innerlich fragen, wie der und der Teil eines Stückes zu dem vor einigen Minuten gehörten Anfang passt oder inwiefern er mit diesem etwa motivisch verwandt ist. Der bewussten Aktivität geht womöglich ein passives Moment voran, eine Art plötzliches »Das war doch schon einmal!«-Erlebnis. In seiner Monografie Music in the Moment trägt Levinson in Anlehnung an die Arbeiten des Psychologen Edmund Gurney die These vor, dass unsere musikalische Erfahrung die Großform eines Werkes oder ein Werk als ganzes nicht umfassen könne, sondern lediglich kurze, auditiv »überschaubare« Strecken. Die musikalische Erfahrung stelle sich lediglich von Moment zu Moment ein. 47 Die ganzheitliche, asynchrone fachbegriffliche Bewertung eines Werkes sei »parasitär« zur jeweils im Fokus limitierten musikalischen Er47

Vgl. Levinson 1997b, S. 13 f.

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fahrung und überdies ästhetisch vernachlässigbar, und zwar selbst dann, wenn die komplexe Expressivität eines Werkes bestimmt werden solle. 48 Zu den Thesen Levinsons drei Anmerkungen: Erstens umfasst die musikalische Erfahrung im involvierten Modus mehr als nur überschaubare Strecken. Denn der Abgleich von formal Vergangenem und Gegenwärtigem sowie die Prognose des Zukünftigen beruhen auf der idealerweise kontextuell angemessen gewichteten Gesamtheit der bisher gehörten Musik – nicht nur des gerade dargebotenen Teiles eines Werkes, sondern des gesamten, auch werküberschreitenden individuellen musikalischen Erfahrungsschatzes. Insofern umfasst die musikalische Erfahrung weit mehr als bloß einen gerade gehörten Teil eines Werkes. 49 Zweitens habe ich schon im zweiten Kapitel unterstrichen, dass tertiäre Eigenschaften musikalischer Werke, wie wir sie im involvierten Hörmodus wahrnehmen können, nicht dazu hinreichen, die Bedeutung eines Werkes zu erfassen. Nur eine asynchrone Deutung eines Werkes vor dem Hintergrund eines repräsentationalen Kontextes ermöglicht dies. Gegen die These Levinsons ist also einzuwenden, dass er die Relevanz der meist aus einer asynchronen Reflexion einer musikalischen Erfahrung folgenden quartären Eigenschaften musikalischer Werke für ein ganzheitliches Verständnis eines Werkes vernachlässigt. 50 Angemessene asynchrone Deutungen musikalischer Werke setzen die synchrone Erfahrung eines Werkes im involvierten Hörmodus voraus. Soll das Werk als ganzes berücksichtigt werden, so kann eine repräsentationale Deutung frühestens nach dem Ende einer Aufführung und damit nach Abschluss der synchronen Rezeption erfolgen. Drittens spricht Levinson die seit langem diskutierte Frage an, ob die Kenntnis formanalytischer Fachbegriffe wie zum Beispiel »SonaVgl. Levinson 1997b, S. 147 f. Allerdings werden durch das gerade gehörte, einzelne Werk keine subpersonalen großformalen Erwartungen geweckt. Vgl. dazu Gotlieb/Konečni 1985, Cook 1987 und Karno/Konečni 1992. 50 Levinson behauptet, dass selbst die komplexe Expressivität musikalischer Werke allein anhand der synchronen musikalischen Erfahrung, das heißt anhand ihrer tertiären Eigenschaften, bestimmt werden könne. In Abschnitt 2.2.2.3. habe ich dargelegt, dass diese These nicht haltbar ist. Die komplexe Expressivität von musikalischen Werken kann, wenn überhaupt, nur anhand ihrer Quartäreigenschaften bestimmt werden. 48 49

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tenhauptsatzform«, »Sequenz« oder »Rückleitung« für eine nuancierte musikalische Erfahrung notwendig sei. Adorno bestätigt dies für seinen idealen Hörer, dem »Expertenhörer«, und er verwendet das Kriterium der Kenntnisse formanalytischer Fachbegriffe, um ihn vom in seiner Typologie zweitrangigen, dem »guten Hörer«, abzugrenzen. 51 Der Modus des involvierten Hörens setzt jedoch keinerlei formanalytisches Fachwissen voraus. Die musikalische Erfahrung und damit die Wahrnehmung tertiärer Eigenschaften musikalischer Werke ist auch ohne Kenntnisse formanalytischer Begriffe möglich. 52 Denjenigen, die hier den Verdacht hegen, es werde die These der begriffslosen Wahrnehmung propagiert, lässt sich antworten, dass es für das Hören im involvierten Modus ausreicht, wenn wir über triviale nicht-terminologische Begriffe für formale Strukturen und Prozesse verfügen, wie etwa »Wiederholung«, »Variation«, »Steigerung«, »Höhepunkt« oder »Aufschichtung«. Der involvierte Hörmodus steht somit allen offen, die sich auf das musikalische Erwartungsspiel einlassen. Vgl. Adorno 1973b, S. 181–184. Ein weiteres Unterscheidungskriterium Adornos ist die Vollständigkeit der musikalischen Erfahrung. Der Expertenhörer nimmt schlicht mehr tertiäre musikalische Eigenschaften als der gute Hörer wahr. Er ist der »voll bewusste Hörer, dem tendenziell nichts entgeht« (Adorno 1973b, S. 182). Dazu am Ende dieses Abschnittes mehr. 52 Vgl. Levinson 1997b, S. 123 f., und Tanner/Budd 1985, S. 246 f. Vgl. dazu auch die Anmerkungen von Stefan Koelsch und Tom Fritz, die zu folgendem empirischen Befund kommen: »Die Ergebnisse zeigen, dass auch Nichtmusiker musikalische Syntax akkurat verarbeiten … können.« (Koelsch/Fritz 2007, S. 259.) Vgl. auch Koelsch/Fritz 2007, S. 241 f. Koelsch et al. gehen davon aus, dass Nichtmusiker zwar über keine expliziten musiktheoretischen Kenntnisse verfügen, aber über ein implizites Wissen über musikalische Strukturen und Prozesse. Vgl. Koelsch et al. 2000. Emmanuel Bigand und Bénédicte Poulin-Charronnat teilen diese Ansicht. Ihrer empirischen Studie zufolge haben nicht bloß Experten, sondern auch »erfahrene Hörer« angemessene (subpersonale) Erwartungen hinsichtlich harmonischer Progressionen tonaler Musik. Vgl. Bigand/Poulin-Charronnat 2006, insbesondere S. 108–114. Das Konstrukt des »erfahrenen Hörers« geht dabei zurück auf Fred Lerdahl und Ray Jackendoff. Vgl. Lerdahl/Jackendoff 1983, S. 3. Koelsch/Fritz haben auch beobachtet, dass das implizite, kontextuelle, absolutmusikalische Hintergrundwissen, wenigstens teilweise, auch kulturübergreifend vorhanden zu sein scheint. So beschreiben sie ein Experiment, das sie mit einigen Mitgliedern des von der westlichen Zivilisation abgeschnittenen Volkes der Mafa durchgeführt haben. Die Reaktionen der Probanden auf westliche Musik entsprechen dabei in erstaunlichem Ausmaß den Reaktionen einsozialisierter westlicher Hörer. Allerdings beschränkt sich das Experiment, nur schon aus praktischen Gründen, lediglich auf einige wenige grobe Parameter der musikalischen Syntax, etwa der Dur-Moll-Tonalität. Vgl. Koelsch/Fritz 2007, S. 242 f. 51

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Ein Indiz dafür, dass wir ein musikalisches Werk involviert hören, liegt darin, dass wir es nachvollziehen können. 53 Möglichkeiten des Nachvollzuges sind beispielsweise der Tanz, Gesten oder die sprachliche Artikulation des abstrakten formalen musikalischen Geschehens durch passende Metaphern. Wir können unsere musikalische Erfahrung äußerlich offenbaren, indem wir sie etwa in die genannten Kunstformen oder Medien übersetzen. Jedoch können die Übersetzungen immer nur Teile der Erfahrung abbilden. Ein besonders probates Mittel des Nachvollzuges ist das Nachspielen oder Nachsingen eines musikalischen Formzusammenhanges. Wir zeigen, dass wir ein musikalisches Werk – auf tertiärer Ebene – verstanden haben, wenn wir in der Lage sind, es überzeugend selbst musikalisch wiederzugeben. Durch das eigene Musizieren können wir uns das formale musikalische Erwartungsspiel besonders deutlich vergegenwärtigen, nicht zuletzt weil wir es dann unmittelbar selbst gestalten können. Der eigene musikalische Nachvollzug ist das wirksamste Mittel, in die Welt der Musik einzutreten. Dennoch ist einzuräumen, dass wir musikalische Werke auch dann als sinnvoll und expressiv erleben können, wenn wir sie nicht äußerlich manifest nachvollziehen, und dass dies häufig der Fall ist. So hat etwa das Publikum im Konzertsaal Praktiken des äußerlichen Nachvollzuges zu unterlassen, vor allem bei klassischer Musik. 54 Es könnte allerdings gesagt werden, dass wir musikalische Werke in diesen Fällen nur rudimentär, bisweilen aber auch ausschließlich innerlich, still oder imaginativ nachvollziehen. Jedoch orientiert sich auch diese Form des Nachvollzuges am Verlauf musikalischer Erwartungsspiele und an den darin evozierten Gefühlen. Das Modell des musikalischen Erwartungsspieles ist ein Modell musikalischen Vollzuges. So lässt sich das Modell nicht nur mit Blick auf die Praxis des Nachvollzuges fruchtbar machen, sondern es lässt Theorien des musikalischen Sinnes als Nachvollzug im Ausgang von Adorno formulieren Becker und Vogel. Vgl. Becker 2007 und Vogel 2007. Vogel betont, dass der Nachvollzug musikalischen Geschehens nicht von formanalytischen Kenntnissen abhänge. Vgl. Vogel 1995, S. 175. 54 Selbst wenn sie unterdrückt werden, sind bisweilen aber dennoch Regungen des Publikums im Konzertsaal spürbar. Es liegt dann eine gewisse Spannung »in der Luft«. Mit den rudimentären, oft geteilten Praktiken des Nachvollzuges (beispielsweise nur mit einer gleichzeitig bei allen Hörern nachlassenden Körperspannung) im Konzertsaal kann zum Teil erklärt werden, weswegen das gemeinsame Hören eine besonders intensive Erfahrung musikalischer Werke ermöglichen kann. 53

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sich auch in eine Erklärung integrieren, weswegen wir immer wieder auf dieselben und gerade auf diese Metaphern zurückgreifen, zum Beispiel auf die Metapher menschlicher Affektivität, um unsere musikalische Erfahrungen zu beschreiben. Mit dem Modell kann erhellt werden, wie wir musikalische Werke auf fundamentaler Eigenschaftsebene verstehen können, und dies gestützt auf evolutionsbiologische und empirische Studien. Wie in der Einleitung von Abschnitt 3.2. erwähnt ist der Modus des involvierten Hörens als Idealtyp aufzufassen. Wir hören ein musikalisches Werk in praxi kaum ständig involviert, sondern schlittern bisweilen in den zerstreuten, bisweilen womöglich auch in den distanzierten Hörmodus. Überdies vermögen wir kaum sämtliche tertiären Eigenschaften musikalischer Werke synchron zu erfassen, schon gar nicht bei lediglich einmaligem Hören. Aus diesem Punkt ergibt sich eine Möglichkeit der Erklärung von Streiten, die sich um tertiäre Eigenschaften musikalischer Werke drehen. Die Streite entstehen aus der Unvollständigkeit unserer synchronen Rezeptionen der Werke. Worin läge der Weg ihrer Schlichtung? Es wäre auf die Erfahrung eines idealen involvierten Hörers zu verweisen. Die Meinungsverschiedenheiten der Streitenden könnten so darauf zurückgeführt werden, dass ihre Erfahrungen unvollständig sind, dass sie bestimmte Aspekte einer Komposition außer Acht gelassen haben, sie zu wenig gewichtet oder ihnen nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt haben. Ein Zweck eines Streites über tertiäre Eigenschaften musikalischer Werke kann somit darin gesehen werden, dass die Streitenden sich Aspekte oder Momente eines Stückes ins Gedächtnis rufen. Mit solchen deiktischen Handlungen wollen sie sich auf denselben Stand bringen, um sich über tertiäre Eigenschaften eines Stückes zu verständigen. 55 Streite über tertiäre musikalische Eigenschaften weisen somit Parallelen zu diskursiven Streiten auf. In diskursiven Streiten versuchen wir, unser Gegenüber dazu zu bewegen, die Plausibilität unserer Prämissen einzusehen (dem entsprechen im Streit über musikalische Expressivität die Aspekte von Kompositionen), diese zu akzeptieren, um dann unsere Konklusion (expressiSolche deiktische Handlungen richten sich freilich oft auf Eigenschaften des im Mittelpunkt des Streites stehenden Werkes, die erinnert werden sollen. Mindestens ebenso häufig geht es aber auch darum, sich den Kontext zu vergegenwärtigen, vor dem ein Werk zu rezipieren ist. Zum Beispiel kann einem die Expressivität etwa einer Schubert- oder Brahms-Sinfonie dann gewahr werden, wenn sie vor dem absolutmusikalischen Hintergrund der Sinfonien Beethovens gehört werden.

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ve Zuschreibungen) hinnehmen zu müssen – es sei die formale Gültigkeit des Arguments angenommen. Wenn auch das Ziel einer Einigung im Streit über tertiäre musikalische Eigenschaften musikalischer Werke häufig verfehlt wird, so kann doch häufig die musikalische Erfahrung der Streitenden vertieft und angereichert werden. Und wenn sie sich einig werden, entdecken sie geteilte affektive Sensibilitäten. Der Streit kann sich somit doppelt lohnen.

3.2.3. Distanziertes Hören Wenn wir ein musikalisches Werk distanziert hören, so reflektieren wir das Gehörte bewusst, oft noch während sich das musikalische Geschehen abspielt. Häufig bedienen wir uns dazu des begrifflichen Arsenals der Musiktheorie, sofern es uns geläufig ist. Wir versuchen in dem Modus, die uns dargebotenen Strukturen und Prozesse zu verstehen, indem wir sie formal analysieren. Wir entziehen uns dem Sog und der affektiven Wirkung des musikalischen Erwartungsspiels, indem wir die Form der Musik innerlich kommentieren und formale Verläufe bewusst prognostizieren. 56 Daraus, dass der distanzierte Modus des Hörens häufig von ausgebildeten Musikern eingenommen wird, darf nicht gefolgert werden, dass dieser am ehesten eine umfassende, ganzheitliche und deswegen (affektiv) intensive musikalische Erfahrung begünstigt. Vielmehr besteht in dem Modus, ähnlich wie beim zerstreuten Hören, das Problem, dass unsere Aufmerksamkeit von der aktuellen Entwicklung musikalischen Geschehens abgleitet, und zwar hin zu einer Kontemplation musikalischer Formen, wobei analytisch immer nur Einzelaspekte der musikalischen Faktur herausgegriffen werden können. Die musikalische Form kann dabei kaum umfassend wahrgenommen werden. Dass eine solche Haltung für musikalische Praktiker, wenigstens zeitweise, unverzichtbar ist, liegt auf der Hand: Sie müssen sich in der Komplexität der Werke orientieren können, oder sie sind daran interessiert, wie die Musik kompositionstechnisch konstruiert ist. Auch hinderte sie eine ununterbrochen involvierte Haltung daran, die notwendige Konzentration auf aufführungspraktische oder instrumentaltechnische Anforderungen richten zu können. Für aufführende oder an einer technischen Analyse interessierte Musiker kann es sich 56

Vgl. Meyer 1956, S. 31, und Dowling/Harwood 1986, S. 219 f.

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somit auszahlen, den Preis einer diskontinuierlichen, fragmentierten musikalischen Erfahrung in Kauf zu nehmen. Allerdings wäre der Gewinn aus dem distanzierten Modus für das Publikum, dem an einer ästhetischen Rezeption des Werkes gelegen ist, fraglich. Kenntnisse formanalytischer Fachtermini mögen uns beim Nachvollzug durch Nachspielen oder Nachsingen nützlich sein. Sie befördern aber nicht unbedingt das Verstehen musikalischen Sinnes. Dieser wird uns vielmehr affektiv gewahr. Mit allein technisch informierten Praktiken des Nachvollzuges kann ein Verstehen von Musik freilich fingiert werden. (Deswegen plädiere ich dafür, Praktiken des Nachvollzugs musikalischer Werke als Indizien für das Verstehen von Musik aufzufassen.) Kenntnisse formanalytischer Fachtermini machen ein musikalisches Werk ästhetisch aber nicht besser verständlich, sondern vielmehr handwerklich zugänglich. Allerdings ist das rezipierende Publikum auf ein Wissen angewiesen, will es ein Werk verstehen. Bei diesem unabdingbaren Wissen handelt es sich jedoch nicht um ein fachterminologisches, analytisches Wissen, sondern um ein absolutmusikalisches Kontextwissen – um einen musikalischen Erfahrungsschatz. Dabei ist es so, dass der Erfahrungsschatz vorwiegend gerade nicht in begrifflich expliziter Weise abgespeichert wird (im Sinne von: »Schubert verwendet dieund-die Schlussklausel besonders häufig«). Der Erfahrungsschatz ist meistens die Grundlage des Erwartungsspiels im involvierten Modus, wobei die abgespeicherten Erfahrungen in der Regel – vorbewusst verarbeitet – in die Erfahrung der musikalischen Gegenwart einfließen. 57 Sie werden jedoch nicht bewusst abgerufen, das heißt, die Aufmerksamkeit muss nicht eigens bewusst auf das musikalisch Vergangene gerichtet werden, damit das Erwartungsspiel in Gang kommt. Ich möchte den Verlust, der dem Hörer im distanzierten Modus entsteht, zugespitzt anhand eines Gedankenexperiments illustrieren. Protagonistin des Szenarios ist die berüchtigte, brillante, aber eiskalte Naturwissenschaftlerin Mary, die sich neuerdings mit Musik auseinandersetzt. 58 Mary verfügt nicht nur über ein allumfassendes Arsenal an musiktheoretischen Fachbegriffen, das sie virtuos anzuwenEs ist zumindest denkbar, dass ein Erwartungsspiel ausschließlich auf lokalen (nur aus dem Verlauf des jeweiligen Werkes abgeleiteten) Erwartungen basiert. 58 Frank Jackson hat die Figur der Mary zuerst in den philosophischen Diskurs eingeführt. Vgl. Jackson 1982, S. 130. Zu beachten ist, dass mein Gedankenexperiment keine genaue Analogie zu dem Wissens-Gedankenexperiment Jacksons darstellt, sondern nur lose mit seiner Version verwandt ist. 57

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den vermag. Ihr sind überdies sämtliche dargebotenen musikalischen Strukturen und Prozesse inklusive ihrer absolutmusikalischen Kontexte gewahr. Sie kann das Erwartungsspiel in allen Details reflexiv bewusst mitverfolgen. Und nicht nur das: Sie kann schließlich sogar präzise und vollständig prognostizieren, ebenfalls reflexiv bewusst, welche Erfahrungen das musikalische Geschehen verursachen würde, da sie ein vollständiges Wissen musikalischer Wahrscheinlichkeiten, der Kausalzusammenhänge unserer sinnlicher Vermögen ebenso wie unseres Gehirns besitzt. Den Konjunktiv habe ich in dem vorherigen Satz mit Bedacht verwendet. Denn eine neuronale Verletzung (realistischerweise wäre die Verletzung sehr massiv) 59 hindert sie daran, die akustischen Stimuli als Musik zu erleben. Eine musikalische Erfahrung bleibt ihr versagt. Das Gedankenexperiment wirft zwei Fragen auf. Einerseits: Worin unterscheidet sich die Rezeptionserfahrung Marys genau von einer musikalischen Erfahrung? Andererseits: Worin liegt eigentlich ihr Verlust? Denn immerhin, so könnte argumentiert werden, hat sie ja ein beeindruckendes, exaktes Sensorium für die dargebotenen musikalischen Strukturen und Prozesse. Und außerdem weiß sie umfassend Bescheid über die neurophysiologischen Prozesse der Verarbeitung der aufgeführten musikalischen Werke. Zur ersten Frage: Was Mary bewusst ist, einem gewöhnlichen Hörer aber nicht, ist ein Wust abstrakter Daten, die Grundlage des musikalischen Erwartungsspiels sind. Sie überblickt ferner ständig eine Unmenge kausaler Zusammenhänge, mit denen sich prognostizieren lässt, wie sich die vom Erwartungsmechanismus evozierte musikalische Erfahrung anfühlen würde. Doch die musikalische Erfahrung, wie sie uns im involvierten Hörmodus gewahr wird, besteht nicht in einer Vielzahl von Kalkulationen, die vor unserem »inneren Auge« vorbeiziehen. Die musikalische Erfahrung ist einheitlich. Die vielen vorbewussten Prozesse verdichten sich affektiv. Qua Musik erleben wir die uns in Aufführungen dargebotenen akustischen Stimuli als gerichtet, sich in einem metaphorischen Raum bewegend, spannungsvoll und affektiv aufgeladen. Zur zweiten Frage: Trotz ihrer außergewöhnlichen Begabung entgeht Mary eine affektive musikalische Erfahrung. Insofern, als sie rein inferentiell die musikalischen Eigenschaften tertiärer Ebene

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Vgl. oben FN 2 dieses Kapitels.

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bestimmen kann, verfügt sie zwar über das Fundament repräsentationaler Deutungen eines Werkes auf quartärer Ebene. Jedoch hat die musikalische Erfahrung auf tertiärer Ebene einen intrinsischen Wert. Das Verstehen musikalischen Sinnes an sich erleben wir lustvoll. Darüber hinaus werden bei uns, wenn wir musikalische Werke involviert hören, affektive Zustände evoziert. Wir sind, zum Glück, keine Zombies. 60 Ich werde behaupten, dass wir durch die affektive musikalische Erfahrung im geschützten Rahmen des Konzertsaales oder einer musikalischen Aufführung unser affektives Bewusstsein schärfen. Dies ist für unseren Alltag wertvoll, da es uns erlaubt, unsere Affektivität bewusster zu handhaben und uns möglicherweise normativer Dimensionen von Alltagssituationen eher gewahr zu werden. Mary bleibt die musikalische Wertkomponente der Schärfung affektiven Selbstbewusstseins vorenthalten – so könnte eine Schlussfolgerung aus meinem Gedankenexperiment lauten. Jedoch ließe sich einwenden, dass sich eine solche Schlussfolgerung nur ergebe, weil das Gedankenexperiment nicht konsequent durchgeführt worden sei. Es scheint doch eigenartig, dass die Schädigung ihres Gehirnes nur ihre Erfahrung von Musik, nicht aber ihre alltägliche affektive Erfahrung betrifft, zumal es sich, wie erwähnt, um eine sehr massive Schädigung handeln muss. Konsequent wäre das Gedankenexperiment angelegt, wenn ihr nicht nur die Prozesse der Verarbeitung akustischer, sondern auch affektiver Stimuli transparent wären. Aus den ihr bewussten Daten könnte sie dann die durch musikalisch evozierten, aber auch die durch alltägliche Situationen hervorgerufenen affektiven Bewusstseinszustände ableiten. Wird das Gedankenexperiment so gedacht, dann würde der Übertrag der in einer Aufführung eines musikalischen Werkes evozierten affektiven Zustände auf ihren Alltag keinen zusätzlichen Wert für sie haben, weil sie ohnehin alltägliche affektive Situationen zuverlässig lesen könnte. Eine komplett von einer musikalischen und alltäglichen affektiven Erfahrung abgespaltene, aber mit allumfassender innerer Transparenz ausgestattete Mary würde sich äußerlich so verhalten, dass sie sich von einem Menschen ohne den neuronalen Defekt nicht unterscheiden ließe.

Die Spezies der Zombies hat Robert Kirk in den philosophischen Diskurs eingeführt. Vgl. Kirk 1974. David Chalmers beschäftigt sich eingehend mit Zombies. Vgl. etwa Chalmers 1996, insbesondere S. 94–99. Meine Mary unterscheidet sich von einem Zombie à la Chalmers namentlich darin, dass sie einen beobachtbaren neuronalen Defekt hat. Dieser ließe sich auch in der Welt des Physischen erkennen.

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Grundriss einer Phänomenologie der musikalischen Erfahrung

Ich möchte mit der Adaption des Gedankenexperimentes meine These des Verlusts, den wir in einer ausschließlich distanzierten Haltung des Hörens musikalischer Werke hinzunehmen hätten, keineswegs zurückziehen. Aber die Tatsache, dass aus der zweiten Fassung grundsätzlich keine Lücke in der Erklärung von Marys äußerlichem Verhalten folgt, scheint mir bemerkenswert. Ich verstehe die Lehre aus dem zweiten Gedankenexperiment so, dass der Vorteil der Schärfung unseres affektiven Bewusstseins durch expressive musikalische Werke nicht darin besteht, unser Selbst von den opaken, komplexen kausalen Prozessen abzuspalten, die in den neuronalen Korrelaten unserer Affektivität ablaufen. 61

3.3. Grundriss einer Phänomenologie der musikalischen Erfahrung Jeder ist ein Experte darin, eigene musikalische Erfahrungen 62 introspektiv zu erkunden und zu beschreiben. Der Grundriss soll aber über eine subjektive Reportage unter vielen hinausweisen. Anhand von fünf Momenten soll eine Phänomenologie der musikalischen Erfahrung entfaltet werden. Die Phänomenologie beruht auf einer Idealisierung der Erfahrung, die wir bei der Rezeption von Musik machen können. Denn ich beginge einen psychologistischen Fehlschluss, von einzelnen oder auch einer nicht weiter differenzierten Menge subjektiver Erfahrungsberichte diejenige Erfahrung fassen zu wollen, die in der über Primär- und Sekundäreigenschaften bedingt supervenierenden Form absoluter Musik gründen. (Die philosophische Logik folgt auch nicht aus einer ungewichteten Beobachtung der Form menschlicher Gedankengänge.) Wenn ich die musikalische Erfahrung für den Begriff der Musik und das Problem musikalischer Expressivität pointiere, dann kann damit nur eine kontextsensitive, der Musik folgende und vor allem sie in ihrer Vielschichtigkeit umfassende Erfahrung

Den analogen Punkt unterstreicht Daniel C. Dennett in seinem Kommentar zum originalen Mary-Gedankenexperiment Jacksons. Er zeigt dabei auch, wie verführerisch Gedankenexperimente sein können – wie die eben gebrachte erste Fassung meiner Adaption. Vgl. Dennett 1991, S. 398–406. 62 Ich verwende den Begriff der Erfahrung in seiner phänomenalen Bedeutung. Vgl. zu einer Unterscheidung dreier Bedeutungen des Erfahrungsbegriffes in der kunstphilosophischen Diskussion Deines/Liptow/Seel 2013b, insbesondere S. 12–14. 61

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gemeint sein. Und wenn die musikalische Erfahrung zur Bestimmung von deren Expressivität heranzuziehen ist, dann nur eine Erfahrung, die ungetrübt ist von subjektiven Neigungen und Launen, das heißt eine Erfahrung, die auf musikalische Strukturen und Prozesse gerichtet ist, nicht auf idiosynkratische Projektionen des Hörers, eine Erfahrung, die ebenso wenig in der distanzierten, analytischen Betrachtung musikalischer Strukturen und Prozesse besteht, kurzum: eine Erfahrung der Musik im idealen involvierten Hörmodus. Das zu Beginn des Kapitels eingeführte Modell des musikalischen Erwartungsspiels erlaubt eine Präzisierung der idealen musikalischen Erfahrung, und zwar dadurch, dass mit ihm der – ideale – Zusammenhang zwischen musikalischer Form und Erfahrung greifbar wird. Ideal wäre die Erfahrung dann, wenn sie allein aus einem musikalischen Erwartungsspiel resultierte und dieses sämtliche durch ein musikalisches Werk gehegten und aktualisierten Erwartungen aller Arten und Ebenen umfasste. Doch inwiefern können auf unseren musikalischen Erfahrungen tertiärer Eigenschaftsebene, auch wenn sie kaum je ideale sind, nichtsdestotrotz Urteile etwa über die Expressivität musikalischer Werke gründen? Erstens reichen vielfach auch unvollständige Erfahrungen dazu aus, angemessen über Tertiäreigenschaften musikalischer Werke urteilen zu können. Zum Beispiel sind expressive musikalische Werke notwendigerweise (auf tertiärer Eigenschaftsebene) markant gestaltet, das heißt, das Erwartungsspiel wird mit Bedacht so angelegt, dass die für deren Expressivität notwendigen Gefühle deutlich evoziert werden. Auf den Punkt werde ich im folgenden Kapitel zurückkommen und ihn am Beispiel von Schuberts Unvollendeter illustrieren. Zweitens können Streite über musikalische Erfahrungen insofern fruchtbar sein, als sie sie durch deiktische Verweise bereichern und einseitige Wahrnehmungen korrigieren können. Drittens können die Streite auch dazu dienen, uns für den Kontext eines gehörten Werkes zu sensibilisieren und dadurch Missverständnissen vorzubeugen. 63 In meinem Grundriss einer Phänomenologie der musikalischen Erfahrung beschäftige ich mich mit fünf Metaphern, die keine idiosynkratischen oder originellen Schöpfungen von mir sind. Vielmehr handelt es sich um tote Metaphern, die nachweislich wieder und wie-

Vgl. zur Funktion von Streiten über musikalische Eigenschaften mein Abschnitt 3.2.2.

63

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Grundriss einer Phänomenologie der musikalischen Erfahrung

der in Beschreibungen musikalischer Erfahrungen, sei es vom breiten Publikum, sei es von Musikern, Musikkritikern, -theoretikern oder -wissenschaftlern vorkommen. (Der erste Abschnitt meiner Phänomenologie der musikalischen Erfahrung dreht sich nicht um eine Metapher, sondern um die Zeitlichkeit der musikalischen Erfahrung, bereitet aber die folgenden Abschnitte vor.) Die Metaphern der Räumlichkeit, der Bewegung, der Gerichtetheit, wie auch die Metaphern der Spannung und der menschlichen Affektivität betreffen den Kern musikalischer Erfahrung. Ich räume aber ein, dass meine Auswahl weder erschöpfend ist noch sämtliche offensichtliche Kandidaten berücksichtigt – als Beispiel einer unberücksichtigten Metapher wäre etwa die (orchestrale oder instrumentale) Farbe zu nennen. Aus einer propädeutischen Überlegung habe ich mich dafür entschieden, diese fünf Metaphern näher zu betrachten. An ihnen kann nämlich exemplarisch gezeigt werden, wie mit dem Modell des Erwartungsspiels Aspekte unserer Erfahrung absoluter Musik erhellt werden können. Der Grund der Anwendung der Metaphern der Räumlichkeit, der Bewegung, der Gerichtetheit, der Spannung und Affektivität auf Werke absoluter Musik ist dabei stets derselbe. Die Metapher der menschlichen Affektivität stellt, so mein Gedankengang, keine mysteriöse Ausnahme dar. Mit dem Modell des Erwartungsspiels lässt sich der Grund aller Metaphern erhellen. Er liegt in der Evokation affektiver Zustände beim involvierten Musikhören.

3.3.1. Zeitlichkeit Gemeinhin wird angenommen, Musik sei die Zeitkunst par excellence. Damit wird nicht gesagt, dass nicht auch sämtliche andere Kunstformen Möglichkeiten zeitlicher Gestaltung umfassen. Denn nicht nur Werke von Kunstformen, die buchstäblich in der Zeit dargeboten werden, zum Beispiel Theaterstücke oder Filme, sondern auch die Malerei oder die Architektur weisen eine zeitliche Dimension auf. Freilich werden dem Publikum etwa bei einem Gemälde alle visuellen Stimuli gleichzeitig und vollständig präsentiert – im Gegensatz zu der zeitlich sukzessiven Darbietung akustischer Stimuli in der Musik. Wir sind aber niemals in der Lage, sämtliche visuellen Stimuli aufs Mal wahrzunehmen. Vielmehr müssen wir uns bei der Wahrnehmung eines Gemäldes von Teil zu Teil vorarbeiten, ehe wir zu einem Gesamteindruck kommen. Unser Auge bleibt dabei nicht starr, son169 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

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dern es bewegt sich, 64 genau wie wir uns ein Gebäude nur so erschließen können, dass wir uns darin bewegen, das heißt, dass wir es uns aus verschiedenen Winkeln ansehen und durchschreiten. Vielleicht ließe sich folgender Unterschied zwischen der Zeitlichkeit der Musik und etwa der Malerei behaupten. Nehmen wir ein musikalisches Werk wahr, so sind wir auf Gedeih und Verderb der zeitlichen Folge der Präsentation der formalen musikalischen Anlage ausgesetzt. Während uns bei einem Gemälde sämtliche visuellen Stimuli vom ersten Moment der Wahrnehmung an zugänglich sind, treten bei der Aufführung eines musikalischen Werks die auditiven Stimuli in Echtzeit nach und nach auf. Wir können im Fall der Musik höchstens darüber spekulieren, was kommen wird, und haben fein bestimmte Erwartungen daran, wie sich ein Stück weiter entwickeln wird. Am Ende eines Stückes sind uns zwar alle Stimuli dargeboten worden. Wir können aber einzelne vergangene Stimuli bestenfalls aus unserer Erinnerung reaktualisieren, wohingegen wir beim Gemälde immer wieder auf bestimmte Teile refokussieren können. Abgesehen jedoch davon, dass aus der Unterscheidung kein Alleinstellungsmerkmal der Musik folgt, da nicht nur in der Musik, sondern auch in anderen Kunstformen Stimuli in zeitlicher Abfolge präsentiert werden ohne Möglichkeit der Refokussierung auf die Kunstwerke, kann die Unterscheidung selbst hinterfragt werden. Zwar trifft es im Fall der Malerei zu, dass wir die visuellen Stimuli in freier Folge wahrnehmen können. Jedoch werden uns bei einem Gemälde meist nicht einfach visuelle Stimuli à discrétion zur Verfügung gestellt. 65 Vielmehr können Gemälde als Weisen der visuellen Darstellung aufgefasst werden. Dabei ist nicht zuletzt die Blickführung ein zentrales Gestaltungselement. Sie kann ignoriert werden. Eigene Wege der Betrachtung eines Gemäldes verbieten sich nicht. Doch wenn wir einem Gemälde als Kunstwerk gerecht werden wollen, das heißt, wenn wir über seinen ästhetischen Wert urteilen wollen, dann müssen wir die Art und Weise der Darstellung, die Blickführung, die »visuelle Dynamik« und somit die vom Künstler intendierte zeitliche Abfolge der Wahrnehmung eines Gemäldes einbeziehen. 66 Insofern erlaubt der

Den Punkt hat Goodman nachdrücklich hervorgehoben. Vgl. dazu meine Lektüre von Goodman in Abschnitt 2.3. 65 Vgl. Budd 1995, S. 58–66. Werden Gemälde tatsächlich »offen« gestaltet, so liegt gerade darin eine wichtige ästhetische Eigenschaft der Werke. 66 Etwas drastischer formuliert es Wellmer in Anlehnung an Michael Theunissen: Die 64

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Verweis auf die zeitliche Dimension des Musikalischen eine Abgrenzung nicht einmal zur Malerei. Eher müsste behauptet werden, dass alle Kunstformen über eine musikalische Dimension verfügen, über eine in zeitlicher Abfolge wahrzunehmende Form. 67 Im Folgenden möchte ich zwei Aspekte der Zeitlichkeit der musikalischen Erfahrung erörtern, ohne den Anspruch zu erheben, es seien exklusive Aspekte des Musikalischen, und ohne vergleichende Betrachtung mit anderen Kunstformen. Der erste Aspekt wird bisweilen so gefasst, dass Musik gestaltete Zeit sei. Die Aussage kann sich dabei nicht auf die physikalische Zeit beziehen, die unabhängig vom menschlichen Dasein gleichförmig verläuft. Vielmehr geht es in der Aussage um die wahrgenommene Zeitdauer. 68 Wir erleben Zeit so, dass sie unterschiedlich rasch vergeht. Sie vergeht dann schnell, wenn wir mit abwechslungsreichen Situationen konfrontiert werden, wenn in ein physikalisches Zeitintervall viele spannende Ereignisse fallen, langsam, wenn in das Intervall monotone Situationen fallen und die Dichte an spannenden Ereignissen tief ist. 69 Die musikalischen Mittel der Gestaltung von Ereignisdichte und Mannigfaltigkeit sind unerschöpflich. Die musikalische Ereignisdichte und Mannigfaltigkeit kann außerdem in vielen Dimensionen beeinflusst werden, das heißt nicht nur beispielsweise auf der Ebene der rhythmischen Unterteilung der Zeit, etwa durch die Wahl eines Tempos, durch Beschleunigungen und Verlangsamungen, durch möglicherweise vielschichtige Rhythmen und Metren, sondern auch mit allen anderen musikalischen Parametern, etwa der Melodik, Harmonik, dem Kontrapunkt, der Instrumentierung, Dynamik und Artikulation. Auch an dieser Stelle ist ein Rückgriff auf das Modell des Erwartungsspiels fruchtbar. Denn alleine mit der Quantität der Ereignisse in einem physikalisch bestimmten Zeitraum kann die wahrgenomästhetische Erfahrung sei bedingt durch eine »gewaltlose Auslieferung« an das Kunstwerk. Vgl. Wellmer 2000, S. 43. 67 Vgl. auch mein Abschnitt 5.1.2. Bei repräsentationalen Kunstwerken werden darüber hinaus Inhalte dargeboten. Auch Bissell weist die Zeitlichkeit unter anderem der Malerei auf. Vgl. Bissell 1921, S. 71. 68 Vgl. zu der Unterscheidung Clifton 1983, S. 51–54. 69 Vgl. dazu William James in Principles I, S. 624: »In general, a time filled with varied and interesting experiences seems short in passing, but long as we look back. On the other hand, a tract of time empty of experiences seems long in passing, but in retrospect short.«

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mene Dauer von Musik nicht erklärt werden. Eine bloß große Menge erwarteter, gleichförmiger Ereignisse wird bei uns Langeweile hervorrufen. Entscheidend ist, dass die Ereignisse, wie ich es formuliert habe, »spannend« sind. »Spannend« sind sie dann, wenn sie unsere Erwartungen bisweilen enttäuschen, dabei aber den Rahmen des Erwartungsspiels nicht sprengen, das heißt, es nicht abbrechen. Eine allzu ausgeprägte musikalische Ordnung würde das Erwartungsspiel ebenfalls abreißen lassen. 70 Daraus lässt sich schließen, dass die musikalische Zeitgestaltung nur in einem Bereich zwischen formaler Monotonie und Chaos möglich ist, weil das musikalische Erwartungsspiel nur innerhalb des Bereiches in Schwung bleibt. Der begrenzte Spielraum der Variation des Maßes an musikalischer »Deformation« innerhalb des Bereiches ermöglicht die Beeinflussung der Zeiterfahrung beim Hörer, sofern er ein Werk involviert hört. 71 Die ausschließliche Charakterisierung musikalischer Erfahrung als Folge von schnell und lang erlebten formalen Abschnitten scheint mir aber zu eng. Musik weist weitere Erfahrungsmomente auf. Der zweite Aspekt musikalischer Zeitlichkeit liegt darin, dass wir Musik nicht als Folge schmaler, unvernetzter Einzelmomente erleben, sondern als zeitlich (oder horizontal) ausgedehnt. Damit meine ich nicht die wahrnehmungspsychologische Tatsache, dass wir musikalische Verläufe eines kurzen Zeitraumes unmittelbar in unserem Bewusstsein halten können, genauer gesagt in unserem Arbeitsgedächtnis. Eine solche Persistenz umfasst kaum mehr als zehn Sekunden, wobei in der Wahrnehmungspsychologie heutzutage eher Informationseinheiten (chunks) als Maßeinheit herangezogen werden – die Regel lautet dann 7 ± 2 Informationseinheiten. 72 Es geht Einen besonderen Fall stellen viele Werke der minimal music dar, zum Beispiel Steve Reichs Drumming, oder auch Werke aus anderen Musikkulturen, etwa der Gamelanmusik (die auch Reich inspiriert). Den Werken eigen ist, dass sie absichtlich überaus repetitiv angelegt sind. Das Erwartungsspiel wird dadurch weitgehend außer Kraft gesetzt, aber nicht ganz: Ohne feine, kontinuierliche Variationen kommen auch diese Musiken nicht aus. Es könnte aber gesagt werden, dass die beiden Stile deswegen meditativ wirken, weil wir nach einer Weile des Eintauchens in die Werke kaum mehr mit dramatischen Überraschungen rechnen. Wir werden deswegen beruhigt, weil uns die Musik dazu bringt, weniger (kognitive) Ressourcen für dramatisch überraschende zukünftige Entwicklungen vorzuhalten. 71 Die Bedingung des involvierten Hörens unterstreicht sinngemäß Jonathan D. Kramer in seiner ausführlichen Untersuchung musikalischer Zeitlichkeit. Vgl. J. Kramer 1988, S. 7. 72 Vgl. Dowling/Harwood 1986, S. 81 f. 70

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mir vielmehr um die zeitliche Ausdehnung der musikalischen Erfahrung in zwei Richtungen, in Vergangenheit und Zukunft. Diese Ausdehnung prägt auch die alltägliche menschliche Zeiterfahrung, ja eigentlich das menschliche Dasein als solches. So schreibt James: »The practically cognized present is no knife-edge, but a saddle-back, with a certain breadth of its own on which we sit perched, and from which we look in two directions in time« 73

Heidegger hebt in Sein und Zeit insbesondere die Zukunftsgerichtetheit des menschlichen Daseins hervor. Einschlägig ist seine folgende Wendung: »das Dasein ist ihm selbst in seinem Sein je schon vorweg« 74

Die Zukunftsgerichtetheit des menschlichen Daseins zeigt sich beispielhaft in seiner Affektivität. Es kennzeichnet die menschliche Affektivität, dass sie sich häufig auf erwartete Ereignisse richtet, nicht selten gar auf hypothetische Szenarien. Nicht zufällig wählt Heidegger in seiner Diskussion der menschlichen Affektivität, auf die ich im ersten Kapitel eingegangen bin, die Furcht (und weitet seinen Blick später existential auf die Angst), und holt damit das Moment der Zukunftsgerichtetheit des menschlichen Daseins ein. 75 Die Furcht richtet sich, so Heidegger, auf etwas Bedrohliches, Abträgliches, das herannaht, aber eben noch nicht eingetreten ist. 76 Träte das Bedrohliche mit Sicherheit ein, so müsste eher von Verzweiflung gesprochen werden. Selbst die Verzweiflung richtete sich aber auf Zukünftiges. Die zitierte Passage aus Sein und Zeit lässt sich ebenfalls im Zusammenhang mit der Frage nach der Identität des menschlichen Daseins überhaupt, nicht nur seiner Affektivität, deuten. Für die Einheit des Selbst konstitutiv ist, wie Georg W. Bertram herausarbeitet, seine normative Bindung an eine offene Zukunft, die wiederum aus einer Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit entfaltet wird. 77 So ließe sich sagen, dass sich unser Selbst nicht nur in die Vergangenheit erstreckt, sondern wesentlich auch in die Zukunft. Es ist namentlich die ausgeprägte Zukunftsgerichtetheit, fundiert in einem Bewusstsein, in einer ständigen Reflexion des Vergangenen, 73 74 75 76 77

Principles I, S. 609. SuZ, § 41. Vgl. auch SuZ, § 79. Vgl. insbesondere mein Abschnitt 1.2.3.1. Vgl. SuZ, § 30. Vgl. Bertram 2013, S. 203.

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die charakteristisch für das menschliche Dasein ist. (Bertram betont weiter, dass sich das Selbst im Rahmen einer sozialen Praxis zu orientieren hat. Es realisiert sich dadurch, dass es sich zu sozial bestimmten Formen des Ausgelegtseins verhält.) 78 In der musikalischen Erfahrung spiegelt sich die zeitliche Ausdehnung und Kohärenz des menschlichen Daseins in exemplarischer Weise wider. 79 Freilich binden wir uns nicht normativ an eine Zukunft, wenn wir einem musikalischen Werk folgen. Unsere Erfahrung erstreckt sich aber nicht nur auf vergangene und gegenwärtige akustische Ereignisse. Vielmehr stellen wir subpersonale Prognosen über den weiteren Verlauf der Musik, vergleichen diese vorbewusst ständig mit gegenwärtigen akustischen Ereignissen und justieren sie nach. Musik kann als ein Spiel mit subpersonalen Erwartungen aufgefasst werden. Das Spiel kommt nur deswegen in Gang, weil mit ihm ein kognitiver Mechanismus angeregt werden kann, der in unserem Alltag unser Überleben sichert. Die Ausbildung und stetige Verfeinerung von Erwartungen ist für uns im Alltag deswegen vorteilhaft, weil sie uns frühzeitig Ressourcen für mögliche Szenarien und Reaktionen mobilisieren lässt. Die oben erwähnte Emotion der Furcht belegt den Mechanismus, den ich im vierten Kapitel weiterdiskutiere. 80 Ich möchte hier nur klarlegen, inwiefern der Ansatz der vorliegenden Untersuchung von einer Theorie zu unterscheiden ist, wonach die musikalische Form die Kohärenz des menschlichen Daseins nachbildet: Die Theorie bezieht sich vor allem auf musikalische Großformen, das heißt etwa auf die thematische Kontinuität und Kohärenz einer Sinfonie Beethovens. In der Theorie wird das Aufkommen solcher Formtypen als Ausdruck eines sich namentlich in der Romantik entfaltenden Bewusstseins menschlicher Subjektivität gedeutet. Die Theorie stellt eine plausible Deutung großformaler Eigenschaften romantischer Musik dar. In ihr werden quartäre Eigenschaften musikalischer Werke bestimmt. Dagegen steht in meinem Ansatz ein evolutionär am Alltag ausgeprägter Mechanismus im Vordergrund, der auch beim involvierten Hören musikalischer Werke aktiviert wird und der schließlich Teil einer Erklärung dafür ist, wesweVgl. Bertram 2013, S. 209–212. Vgl. dazu auch meine kurze Diskussion der Musikphilosophie Hegels in Abschnitt 1.1.1. 80 Insbesondere werde ich erörtern, weswegen der Mechanismus auch in der Rezeptionssituation im Konzertsaal wirken kann, die sich deutlich von unserer alltäglichen Situativität abhebt. 78 79

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gen Werke im Medium der (absoluten) Musik uns affizieren können, ohne dass die ausgelösten Affekte auf unsere eigenen, idiosynkratischen Projektionen zurückzuführen wären oder auf die Deutung eines Werkes vor dem Hintergrund eines repräsentationalen Kontexts. Ich möchte dabei herausstreichen, dass sich wesentliche Aspekte musikalischer Werke, nämlich ihre tertiären Eigenschaften, ihr Sinn und ihre Expressivität vor einer repräsentationalen Deutung, nicht durch eine distanzierte, kühle, asynchrone Kontemplation eines Werkes erschließen lassen, sondern nur dadurch, dass wir uns auf die Werke einlassen und sie affektiv auf uns wirken lassen. 81 Entgehen uns diese invasiven Aspekte, so entgehen uns wichtige Wertaspekte der Musik. Zurück zur Zeitlichkeit der musikalischen Erfahrung: In den formalen musikalischen Erwartungen bleibt das vergangene Geschehen unterschwellig präsent, das heißt, ohne dass wir bewusst auf einzelne Momente aus unserem Gedächtnis zurückgreifen müssen. Clifton bringt diese Form der Erinnerung in Zusammenhang mit Edmund Husserls Begriff der »primären Erinnerung«, der »Retention«, die zu unterscheiden sei von einer »sekundären Erinnerung«. Die »sekundäre Erinnerung« sei dadurch gekennzeichnet, dass sie nur durch bewussten Zugriff erfolgen könne. 82 Eine musikalische Komposition vermögen wir als ganze synchron zu rezipieren, ohne uns ständig an Vergangenes bewusst wiedererinnern zu müssen, ohne sämtliche Einzelmomente zusammenzupuzzeln und ohne uns ständig »umdrehen« zu müssen. Die Vielzahl solcher bewussten Erinnerungsakte würde unsere Kapazitäten der Wahrnehmung und aktiven Verarbeitung des gegenwärtigen musikalischen Geschehens schmälern. Charakteristisch für die »primäre Erinnerung« ist, dass sie unwillkürlich in Relation zur Gegenwart und Zukunft gestellt wird. Die »primäre Erinnerung« erstreckt sich im Fall der Rezeption von Musik nicht nur auf das gerade abgelaufene Geschehen eines Werkes zurück, sondern umfasst darüber hinaus sämtliche zuvor gehörten Werke, die als stilistische Sedimente oder »Akkumulationen« in das Erwartungsspiel einfließen. 83

Vgl. zur körperlichen Gegebenheit der Tonalität Clifton 1983, S. 35 f. Vgl. Clifton 1983, S. 59–62. Husserl diskutiert die Unterscheidung am Beispiel der Musik, genauer gesagt an der Wahrnehmung von Melodien, insbesondere in PiZ, § 19. 83 Vgl. Clifton 1983, S. 60. 81 82

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In Husserls (und Cliftons) Ansatz wird, wie bei Heidegger, akzentuiert, dass das menschliche zeitliche Bewusstsein sich in die Zukunft erstreckt. Husserl spricht von »Protentionen«, die die Zukunft an unser Gegenwartsbewusstsein anbinden. Wir warten nicht unbeteiligt auf Zukünftiges, sondern antizipieren es. 84 Clifton stellt den Begriff der Antizipation demjenigen der Erwartung gegenüber. Ich verstehe die Begriffe der Antizipation und der Erwartung im Zusammenhang mit der Erfahrung von Musik anders als Clifton, wobei er bezeichnenderweise nicht den Terminus expect, sondern das Verb await gebraucht, das eher für ein passives Abwarten steht. Ich gehe davon aus, dass sich unsere Erwartungen an den zukünftigen Verlauf eines Stückes in einem vorbewussten Spiel ausbilden, und dass wir sie ständig anhand der musikalischen Gegenwart überprüfen und verfeinern. Die Überprüfung ist bedingt dadurch, dass wir stets aufgefächerte subpersonale Erwartungen an das musikalisch Kommende richten. Im Gegensatz zu Clifton glaube ich, dass gerade unsere Erwartungen (expectations) unsere musikalische Erfahrung lebendig halten. Ich werde in der Folge ausschließlich den Begriff der Erwartung verwenden. Worin liegen Unterschiede zwischen der zeitlichen Erstreckung der musikalischen Erfahrung in die Zukunft und in die Vergangenheit? Husserl sieht den allgemeinen Unterschied in unserer Erfahrung von Zeit zunächst darin, dass die Vergangenheit bestimmter als die Zukunft sei. Allerdings relativiert er den Unterschied, indem er darauf hinweist, dass die im Bewusstsein präsente Vergangenheit auch an Bestimmtheit verloren habe, da ihre »anschaulichen Komponenten« nicht mehr vorhanden seien. 85 Husserls Relativierung kann für den Fall der musikalischen Erfahrung noch zugespitzt werden. Denn unsere musikalischen Erwartungen sind, wie empirisch belegt werden kann, in der Regel sehr genau bestimmt, und die Erwartungswerte stimmen zwischen verschiedenen Hörern in erstaunlichem Maße überein, sogar zwischen professionell ausgebildeten Musikern und Laien. 86 Am bündigsten lässt sich der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft als Teil der Erfahrung einer zeitlichen Spanne, sowohl allgemein als auch im Fall der Musik, eher daran festmachen, dass vergangene Erwartungen schon an der Wirk84 85 86

Vgl. Clifton 1983, S. 62–65. Vgl. PiZ, § 26, zu Husserls Unterscheidung zwischen Erinnerung und Erwartung. Vgl. mein folgender Abschnitt 3.3.2.

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lichkeit getestet wurden. Die Erfüllung oder Verletzung von auf die Zukunft gerichteten Erwartungen ist hingegen immer ausstehend. Wir erleben Musik nicht als Abfolge einzelner kurzer und begrenzter Zeitabschnitte, sondern, um es in Anlehnung an James zu sagen, gleichzeitig zurück- und voraushörend. Die Zeitlichkeit der musikalischen Erfahrung kennzeichnet, dass sich in ihr vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges formales Geschehen überlappen. 87 Damit sei nicht wider die empirische Evidenz behauptet, dass wir die zeitliche Spanne unserer bewussten auditiven Wahrnehmung auszuweiten in der Lage sind. Es ist die kognitive Perspektive zurück und nach vorne, die die auditive Wahrnehmung von Klängen in eine musikalische Erfahrung transformiert. Die Transformation manifestiert sich affektiv in unserer Erfahrung von Musik, nämlich in dem Moment, in dem formale Erwartungen erfüllt oder enttäuscht werden. Die Transformation lässt tertiäre Eigenschaften musikalischer Werke erst hervortreten. Sie lässt uns Musik vor jeglicher repräsentationalen Deutung als zusammenhängendes, sinnvolles und expressives Geschehen hören.

3.3.2. Räumlichkeit Räumlichkeit ist in diesem Abschnitt so zu begreifen, dass es sich um eine Eigenschaft der Musik handelt, die ihr metaphorisch zugeschrieben wird. Diese metaphorische musikalische Räumlichkeit ist ein zweiter Aspekt, der die Erfahrung von Musik von der Erfahrung sonstiger akustischer Ereignisse abgrenzt. Die metaphorische musikalische Räumlichkeit kann als Ersatz für die buchstäbliche physikalische Räumlichkeit unserer alltäglichen akustischen Erfahrung aufgefasst werden. Nehmen wir im Alltag Klänge wahr, so bringen wir sie mit ihrer raumzeitlichen Ursache in Verbindung. Wir nehmen nicht ein Hupen per se wahr, sondern das Hupen etwa eines bestimmten Autos, und nicht zuletzt durch die akustische Information lokalisieren wir die Quelle des Klanges im Raum. Die Einzelheiten des Klanges der Hupe sind für uns nachrangig, sofern sie zur Identifizierung seiner Quelle ausreichen. In unserer Erfahrung von Musik rücken die Quellen von Klängen und ihre Position im buchstäblichen 87

Vgl. Clifton 1983, S. 65.

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physikalischen Raum in den Hintergrund, auch wenn sie bisweilen nicht vollkommen belanglos sind. 88 In der Loslösung von ihren physikalischen Ursachen oder Quellen erleben wir in musikalischen Werken Klänge »akusmatisch«. 89 Unsere Aufmerksamkeit richtet sich dann auf nicht buchstäblich räumliche Einzelheiten der Klänge, vor allem auf ihre Position im metaphorischen musikalischen Raum. 3.3.2.1. Tonhöhe Die geläufigste räumliche Metapher zur Beschreibung von Musik ist die der Tonhöhe. 90 Wir verwenden sie in einem absoluten, aber auch in einem relativen Sinn: Ein Ton der Trompete kann als »extrem hoch«, ein Ton derselben absoluten Höhe jedoch, etwa auf einem Piccolo gespielt, als »tief« bezeichnet werden. In der Standardnotation wird der Metapher insofern Rechnung getragen, als hohe Töne in dem Notensystem eine höhere Position zugewiesen wird. Diese Konvention könnte als Grund der Tonhöhenmetapher hergehalten werden. Oder es könnte schlicht die Tatsache angeführt werden, dass (relativ) höhere Töne auf höheren Frequenzen von Schallwellen beruhen, genauer gesagt höheren Frequenzen des Grundtones eines Tonspektrums. 91 Oder es könnte behauptet werden, dass das Hervorbringen höherer Frequenzen mehr Energie benötige, und dass wir im Dass manchmal Eigenschaften buchstäblicher Räumlichkeit in musikalischen Werken gestaltet werden, habe ich schon erwähnt. Weiter sind bisweilen (repräsentationale) Assoziationen bestimmter Instrumente (als Quellen des Klanges) relevant, wenn quartäre Eigenschaften von Werken erschlossen werden sollen. Beispielsweise steht das Fagott oft für das Komische oder die Solotrompete für den einsamen, selbstlosen Helden. Mit der elektroakustischen Musik haben sich die Möglichkeiten der Gestaltung von Räumlichkeit erweitert. Einerseits können Eigenschaften buchstäblicher, physikalischer Räumlichkeit viel präziser gesteuert werden (zum Beispiel ambisonisch). Andererseits verschwinden Instrumente als Klangquellen (nicht aber Generatoren wie etwa Kopfhörer oder Lautsprecher). 89 Vgl. Scruton 1997, S. 2 f. Der Begriff des »akusmatischen« Raumes stammt von Pierre Schaeffer. Vgl. Schaeffer 1977. 90 Meyer stellt fest, dass Metaphern des Raumes zur Beschreibung (tertiärer) musikalischer Eigenschaften, insbesondere diejenige der Tonhöhe, nicht nur in der westlichen, sondern auch in zahlreichen anderen Musikkulturen verbreitet sind. Vgl. Meyer 1969, S. 250 f. 91 Alle Töne außer Sinustönen stellen sich in der Zeit modulierende Spektren dar. Zudem enthalten instrumentale Timbres für ihre Identifizierung entscheidende Geräuschkomponenten, die zum Beispiel beim Anschlagen oder Anblasen entstehen. Vgl. zur Wahrnehmung instrumentaler Timbres Grey 1977. 88

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westlichen Kulturkreis allgemein größere Quantitäten metaphorisch systematisch mit größerer Höhe assoziieren (»MORE is UP«). 92 Auch routinierte Musiker können in Aufführungen ihre Anstrengung bei der Hervorbringung von Tönen in extremen Lagen nicht vor uns verbergen. Ihre körperliche Anspannung kann sich auf uns übertragen und unsere Erfahrung der Passagen prägen. Darüber hinaus wird die Energie, die Musiker in die Tönen stecken müssen, auch anhand anderer musikalischer Parameter spürbar, etwa der Artikulation der Töne, die nicht mehr so geschmeidig ausgeführt werden kann wie in der weniger anspruchsvollen Mittellage. In unserem Alltag müssen wir mehr Energie einsetzen, um höher zu springen oder etwa einen Ball höher zu werfen. Auf die musikalische Tonproduktion trifft dies ebenfalls zu, allerdings nur tendenziell. Denn zwar erfordern bei vielen Instrumenten hohe Töne einen enormen Energieeinsatz, vor allem bei Blasinstrumenten oder etwa bei Sängern. Allerdings kann bei Tasteninstrumenten nicht behauptet werden, die Produktion höherer Töne erfordere mehr Energie. Und häufig ist es auch kraftraubend, (extrem) tiefe Töne hervorzubringen. Wir erleben Tonhöhen weder absolut noch relativ als kühle Identifikation ihrer Höhe im physikalischen Sinn, als Lokalisierung eines Tones aufgrund der Frequenz seines Grundtones und als Ermittlung seiner Klangfarbe anhand seiner spektralen Beschaffenheit. Vielmehr erleben wir sehr hohe oder sehr tiefe Töne meist als besonders intensiv und spannungsvoll, beispielsweise sehr hohe Töne der Trompete oder die Spitzentöne einer Koloraturarie ebenso wie (absolut) hohe Orchesterpassagen allgemein. Das Modell des Erwartungsspiels liefert eine Erklärung für unsere spezifische Erfahrung von extremen Tonhöhenlagen. Dadurch, dass Töne in extremen Lagen sich meist nur unter großem Energieaufwand hervorbringen lassen, können sie nur sparsam eingesetzt werden. Werden etwa höhere Passagen erreicht, so erwarten wir, dass sie bald wieder verlassen werden. 93 Dabei sind unsere Erwartungen stark, da es oft physikalisch zwingend ist, dass sich zum Beispiel eine Melodie von den extremen Regionen wegbewegt. Je länger etwa ein sehr hoher Ton der Trompete ausgehalten wird, desto eher erwarten wir, dass er endet, das heißt, desto Vgl. zur physischen Basis von Metaphern der räumlichen Orientierung Lakoff/ Johnson 1980, S. 14–16. 93 Vgl. zur Regressionstendenz von Melodien zu ihrem Medianton Huron 2006, S. 80–85. 92

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intensiver wirkt er. Er evoziert Spannung. 94 Es sind diese affektiven Momente, ausgelöst durch ein Spiel von auf musikalische Formen bezogener Erwartungen, die wir mit der Begriff der Höhe von Tönen metaphorisch zu fassen versuchen, auch wenn die Verbindungen zur Energie der Tonproduktion, zur Größe akustischer Frequenzen und zur Notationspraxis ebenfalls zu einer Erklärung des Ursprungs der Metapher beitragen dürften. 3.3.2.2. Abstand Auch wenn die Metapher der Tonhöhe die geläufigste räumliche Metapher zur Beschreibung von Musik darstellt, so ist für unsere Erfahrung musikalischer Strukturen und Prozesse doch der Begriff des räumlichen Abstandes (beziehungsweise der Entfernung oder Distanz) zentral, der im Gegensatz zum Begriff des zeitlichen Abstandes metaphorisch auf Musik angewendet wird. Ein Beispiel eines Kommentars zu Schuberts Unvollendeter, in dem sowohl die Metapher der Tonhöhe als auch des harmonischen Abstandes gebraucht wird, stammt von Brian Newbould. Er bespricht eine Passage aus dem zweiten Satz (T. 66–83), die zu den eindrücklichsten der Sinfonie zählt. Auffällig ist dabei der implizite Zusammenhang zwischen der Expressivität (tertiärer Ebene), die Newbould der Passage zuschreibt, und des harmonischen Abstandes (ebenfalls als Eigenschaft tertiärer Ebene), die darin zurückgelegt werde: 95 »Looking at the melody alone … one would not suspect that the two long notes are the twin hinges on which the theme’s structure and emotional complexion turn. This is because the crucial events are harmonic ones. Under the high A the syncopated strings make a highly charged modulation to

Meist sind hohe Trompetentöne auch sehr laut. Sie können alle anderen Töne eines Orchesters dynamisch in den Hintergrund rücken oder gar unhörbar machen. Meine obigen Aussagen gelten allerdings auch für leise oder in mittlerer Dynamik vorgetragene Töne extremer Lagen. 95 Die besondere Expressivität der Stelle ergibt sich nicht nur aus der Tonhöhe und der harmonischen Strecke, die in kurzer Zeit bewältigt wird, sondern auch aus der Spannung, die daraus resultiert, dass die beiden sequentiell erreichten Spitzentöne unerwartet lange ohne Auflösung ausgehalten werden, aus einer Art melodischer Stasis. Ich würde, entgegen Newbould, den Beitrag der Melodik zur Expressivität der Stelle nicht vernachlässigen. Mehr zum phänomenologischen Aspekt der Bewegung von Musik in meinem folgenden Abschnitt 3.3.3. 94

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D major and a serene one to F major (both distant keys), while below the high G sharp they play through to their cadence« 96 solo I

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Abb. 4: Franz Schubert, Sinfonie Nr. 7 in h-Moll, 2. Satz, Klarinettensolo (klingend, T. 66–83)

Den im Kommentar subkutan angedeuteten Zusammenhang von Distanz und Expressivität kann ich an dieser Stelle noch nicht vollständig behandeln. Ich werde in diesem Abschnitt lediglich den Zusammenhang von Häufigkeit, Erwartungswert und Distanz erläutern. Auf den Zusammenhang von Distanz (die wiederum von der Häufigkeit des Vorkommens bestimmter Tonstufen oder Akkorde und somit von Erwartungswerten abhängt), affektiver Erfahrung und musikalischer Expressivität gehe ich erst im vierten Kapitel ein. Die absoluten oder relativen Höhen von Tönen prägen die musikalische Erfahrung vorwiegend in Extrembereichen, die in der Regel nur sporadisch, wie in der eben kommentierten Passage, beschritten werden. Hingegen nehmen wir andauernd horizontale oder vertikale Beziehungen zwischen Tönen oder Akkorden als räumliche wahr. Die erlebten Abstände entsprechen dabei nicht notwendigerweise den absoluten physikalischen Frequenzabständen. Ein Beispiel, gegeben ein tonaler Kontext, Tonart C-Dur: Der Abstand c–g (sieben Halbtöne)

96

Newbould 1992, S. 200 [Hervorhebungen: S. Z.].

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ist absolut klar grösser als c–cis (ein Halbton). Jedoch wirkt das cis in der Regel entfernter, fremder – wenigstens vor dem weiteren melodischen Verlauf, der insofern den Abstand relativieren könnte, als das cis (in dem Fall eher als des zu verstehen) sofort sich zurück in den Ton c auflöste. Die erlebten Abstände sind somit kontextuell bestimmt. Sehr große Tonsprünge kommen allerdings – in den meisten musikalischen Kontexten, namentlich im tonalen – nur selten vor, nicht zuletzt aus spielpraktischen Gründen, und werden entsprechend als entfernt wahrgenommen. Die Etablierung eines musikalischen Kontextes durch soziale Praktiken und Institutionen ermöglicht die Aufspannung eines idealen, metaphorischen musikalischen Raumes. Er wird ausgemessen durch die unablässige Darbietung musikalischer Abstände. Für den einzelnen Hörer ist der Raum fluid. Er wandelt sich mit den Darbietungen ständig. Denn die Abstände sind bestimmt durch Wahrscheinlichkeiten der musikalischen Fortsetzung. Und diese Wahrscheinlichkeiten ändern sich, auch wenn nur geringfügig, mit jedem erlebten musikalischen Ereignis. 97 Jedoch ist etwa der tonale Kontext bei den meisten in eine westliche Musikkultur einsozialisierten Hörern dermaßen gefestigt, dass der Einfluss einzelner Ereignisse auf die Wahrscheinlichkeiten melodischer Schemata vernachlässigbar ist. 98 Die Psychologin Carol Krumhansl hat mit verschiedenen Experimenten versucht, die erlebten Abstände quantitativ zu bestimmen. Die grundlegende Anlage ihrer Experimente ist immer dieselbe: Probanden werden kurz in einen musikalischen Kontext eingeführt. Darauf wird ihnen ein Probeton dargeboten. Die Probanden beurteilen dann auf einer Skala, wie gut sich der Ton in den Kontext einfügt. Dieser Ablauf wird solange wiederholt, bis alle Töne der chromatischen Skala als Probetöne erklungen sind, wobei deren Reihenfolge zufällig ist. Beim ersten Probetonexperiment wurde den Probanden zur Darbietung des Kontextes eine Dur-Tonleiter auf- beziehungsweise abwärts vorgespielt, allerdings ohne den achten Ton, das heißt ohne den Grundton der Skala. 99 Bei einem späteren Experiment wurEinen kognitionswissenschaftlichen Überblick zum impliziten Lernen (es geschieht unabsichtlich und ohne dass es uns bewusst würde) musikalischer Strukturen geben Martin Rohrmeier und Patrick Rebuchat. Vgl. Rohrmeier/Rebuchat 2012. 98 Im Gegensatz dazu sind einzelne Ereignisse für die Bestimmung lokaler Erwartungswerte signifikant. 99 Vgl. Krumhansl/Shepard 1979. 97

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de der tonale Kontext auf verschiedene Weisen etabliert, etwa in Form von vollständigen Skalen, Tonika-Dreiklängen oder Kadenzen, und es wurden auch Moll-Tonarten untersucht. 100 Zudem wurde der Grundton der jeweiligen Kontexte variiert. Auf alle weiteren Feinheiten des experimentellen Settings Krumhansls kann ich aus Platzgründen hier nicht eingehen. Für meine Zwecke sind folgende Resultate aus ihren Studien aufschlussreich: Erstens bestätigt sich meine obige Aussage, wonach die erlebten Distanzen metaphorisch musikalisch und somit kontextbestimmt sind, das heißt den physikalischen Frequenzabständen nicht entsprechen. So wird etwa im ersten Experiment das g als beinahe doppelt so passend oder nahe liegend beurteilt als das des, und zwar in Dur und Moll. 101 Dieser Befund wird durch die Ratings des zweiten Experiments erhärtet. 102 In beiden Messungen werden die diatonischen Töne als passender (oder näher liegend) beurteilt als die chromatischen Zwischentöne, zum Teil erheblich. Bezeichnenderweise wird der absolut am weitesten entfernte Ton, die Oktave, als am nahe liegendsten eingestuft. Schwieriger zu interpretieren sind die Resultate aus Probeakkordexperimenten: 103 Freilich zeigt sich auch bei Akkorden, dass diatonische Stufen als nahe liegender als chromatische beurteilt werden. Jedoch erreichen Durakkorde im Schnitt höhere Ratings als Mollakkorde. Die vertikale Beschaffenheit der Probeakkorde scheint die Resultate somit zu beeinflussen. Die Ergebnisse der Messungen lassen sich grafisch darstellen. Es ergeben sich so etwas wie Landkarten (auch mehrdimensionale) der metaphorischen musikalischen Distanzen, des phänomenalen Raumes eines musikalischen Kontexts, etwa eines tonalen. Die Resultate aus Krumhansls Experimenten überraschen dabei insgesamt kaum. Sie belegen vielmehr empirisch, was zuvor in der Musiktheorie spekulativ beschrieben wurde und was uns affektiv gewahr ist. 104

Vgl. Krumhansl/Kessler 1982. Vgl. Krumhansl/Shepard 1979, S. 586. 102 Vgl. Krumhansl 1990, S. 30. 103 Vgl. Krumhansl 1990, S. 165–212. 104 Krumhansls Studien suggerieren durch die Quantifizierung von Distanzen eine hohe Präzision im Gegensatz zu den eher groben Darstellungen der traditionellen Musiktheorie (zum Beispiel des Quintenzirkels). Jedoch handelt es sich um eine Präzision innerhalb eines aus experimentalpraktischen Gründen stark simplifizierten musikalischen Kontexts. 100 101

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Zweitens kann mit den Experimenten ein Punkt untermauert werden, den ich bereits angesprochen habe. Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen musikalisch geschulten Probanden und Laien kann in den Beurteilungen nicht beobachtet werden. 105 (Musikalische Fachtermini werden in den Experimenten ohnehin nicht vorausgesetzt.) Sowohl geschulte Musiker als auch Laien erleben zum Beispiel das g als nahe liegender als das des. Jedoch wird die Erfahrung von metaphorischen musikalischen Distanzen durch musikalisches Training verstärkt. Geschulte Musiker nehmen zwar dasselbe Distanzprofil wahr wie Laien, aber es ist tiefer, schärfer gezeichnet als bei Laien. Ich vermute, dass dies weniger auf eine veränderte Art der Wahrnehmung musikalischer Ereignisse zurückzuführen ist als vielmehr auf eine größere Routine, einen umfangreicheren musikalischen Erfahrungsschatz und somit auf ein ausgereifteres und verfeinerteres Vermögen der Bildung subpersonaler Erwartungen an melodische oder harmonische Verläufe. Drittens weist Krumhansl nach, dass die Abstände von der statistischen Häufigkeit der Töne innerhalb eines Kontexts abhängen. Je häufiger ein Ton in einem Kontext vorkommt, als desto nahe liegender wird er beurteilt. Mit dem Modell des Erwartungsspiels kann deswegen auch die Erfahrung metaphorischer musikalischer Distanzen erhellt werden. Je mehr wir einen Ton – aufgrund seiner Häufigkeit in einem Kontext – erwarten, als umso nahe liegender erfahren wir ihn. Die von Krumhansl anhand verschiedener Werkkorpora berechneten Korrelationen von Nähe und Häufigkeit sind allesamt signifikant und höher als 85 %. 106 Wie ist aber zu erklären, dass die Korrelationen nicht höher ausfallen? Eine Möglichkeit liegt darin, dass Korpora nur von Werken einzelner Komponisten herangezogen wurden. 107 Die persönlichen melodischen oder harmonischen Präferenzen der Komponisten schlagen sich in individuellen, von schematischen Erwartungen 108 abwei105 Krumhansl teilt die Probanden in den beiden Einzeltonexperimenten nach deren musikalischer Bildung in drei Gruppen ein. 106 Vgl. Krumhansl 1990, S. 69. 107 Eine weitere Möglichkeit liegt in der Tatsache, dass wir im Erwartungsspiel keine makellosen Statistiker sind, sondern aus Gründen kognitiver Ökonomie zu Vereinfachungen und Verkürzungen neigen. Vgl. Huron 2006, S. 98 f. 108 Unsere schematischen Erwartungen ergeben sich nicht nur aus der Erfahrung von Werken eines Komponisten, sondern aller wahrgenommener Werke eines Kontexts, etwa des Kontextes der Tonalität. Im Modell des Erwartungsspieles wird angenom-

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chenden Häufigkeiten bestimmter Töne oder Akkorde nieder. Eine andere Möglichkeit der Erklärung wäre es, auf methodologische Beschränkungen der Probetonexperimente und der Berechnungen von Korrelationen zu Häufigkeiten zu verweisen. Zum Beispiel könnte hinterfragt werden, einfach Töne unabhängig von ihrer Dauer oder Position in der musikalischen Faktur zu zählen. Das musikalische Geschehen ist, keinesfalls ausschließlich in der tonalen Musik, hierarchisch komplex organisiert und wird dementsprechend wahrgenommen. 109 Mit der bloßen Zählung von Tönen wird vernachlässigt, dass es einen Unterschied macht, ob ein Ton als Haupt- oder Nebennote figuriert, ob er ein lang ausgehaltener Zielton einer Phrase oder Teil einer Verzierung ist. 110 Jedoch ist es unter empirischen Laborbedingungen kaum möglich, der Komplexität musikalischer Fakturen ganzheitlich gerecht zu werden. Phänomene der Wahrnehmung von Musik lassen sich empirisch immer nur schlaglichtartig beleuchten. Aus der Methodenkritik folgt aber nicht, dass der Gedankengang hinter den Experimenten und das Modell des Erwartungsspieles unplausibel wären. Im Gegenteil: Namentlich mit Krumhansls Probetonexperimenten lässt sich untermauern, dass metaphorische musikalische Distanzen empirisch nachweisbar, das heißt (annäherungsweise) messbar sind, und dass sie auf Häufigkeiten und somit

men, dass sich die Erwartungen nicht komponistenrelativ ausbilden. Unsere schematischen, subpersonal virulenten musikalischen Erwartungen werden dem Modell gemäß nicht differenziert nach Komponistin oder Komponist modifiziert und abgespeichert, sondern relativ zu einem weiten, nicht sehr genau abzugrenzenden Kontext. Erwartungen tonaler Kontexte sind vorbewusst auch dann virulent, wenn wir Musik anderer Kontexte hören, etwa Zwölftonmusik. Vgl. Krumhansl/Sandell/Sergeant 1987, S. 46–48. 109 Vgl. dazu etwa Deutsch 1999b, S. 366–373. 110 Fred Lerdahl hat versucht, aufbauend auf seiner zusammen mit Ray Jackendoff erarbeiteten und von Noam Chomskys generativer Grammatik inspirierten »generativen Theorie tonaler Musik«, Formeln und Regeln für die Berechnung metaphorischer musikalischer Distanzen herzuleiten, in denen die hierarchische Struktur tonaler Musik berücksichtigt wird. Allerdings kann Lerdahl keine empirischen Daten vorlegen, die die Resultate seiner Berechnungen stützen würden. Es handelt sich bei seiner Arbeit vielmehr um eine virtuose quantitative Operationalisierung musiktheoretischer Intuitionen. Seine Theorie bleibt spekulativ. Insbesondere der Einfluss der Musiktheorie Heinrich Schenkers ist in dem Ansatz nicht zu übersehen, wobei Lerdahl rhythmische Aspekte berücksichtigt, seine Analysen jeweils gar mit diesen beginnt, nämlich mit einer »time-span reduction«. Rhythmische Aspekte betrachtet Schenker kaum. Vgl. Lerdahl/Jackendoff 1983 und Lerdahl 2001.

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auf Erwartungswerte musikalischer Ereignisse zurückgeführt werden können.

3.3.2.3. Tiefe (Vorder- und Hintergrund) Als dritten Aspekt metaphorischer musikalischer Räumlichkeit möchte ich den der Tiefe kurz diskutieren, der hier nicht im Sinne der bereits behandelten Tonhöhe zu verstehen ist. Musikalische Ereignisse werden von Komponisten und Musikern meist nicht gleichberechtigt gedacht, und wir erleben sie meist auch nicht gleichberechtigt auf ein und derselben »flachen« Ebene, sondern in unterschiedlicher Tiefe. Wir sprechen oft von musikalischem Geschehen im Vorder- und Hintergrund (und weiteren Zwischenebenen), wobei wir uns in der Regel auf formale musikalische Entitäten beziehen, zum Beispiel auf eine Melodie und eine Begleitfigur wie etwa in der oben eingeführten Klarinettenstelle aus dem zweiten Satz von Schuberts Unvollendeter. Zweifellos bestimmt das physikalische Gewicht, das heißt die Dynamik der einzelnen Ebenen, deren in der Tiefendimension erlebte Nähe oder Distanz. Jedoch ist die Dynamik nicht alleine ausschlaggebend. Auch zur Erhellung der erlebten, metaphorischen musikalischen Tiefe kann das Modell des Erwartungsspiels fruchtbar gemacht werden: Repetitive Figuren oder Begleitmuster erleben wir deswegen als in der Tiefendimension entfernt, weil sie – namentlich rhythmische – Erwartungen zu einem großen Teil erfüllen. Ereignisse geraten dadurch in den Vordergrund, dass sie unsere Aufmerksamkeit mehr beanspruchen als etwa Begleitfiguren, indem sie weniger vorhersehbar verlaufen. Das Erwartungsspiel vordergründiger Elemente ist aktiver gestaltet. An der Schubert-Stelle kann gezeigt werden, dass die Tiefenanordnung derselben Elemente sich oft rasch wandelt. In dem Moment, in dem die Melodie auf den Spitzentönen ruht, gelangt die synkopierte Begleitharmonik in der Hörerfahrung etwas nach vorne. Allerdings bleibt durch die Stauung, durch die erlebte melodische Spannung der ausgehaltenen Spitzentöne die Klarinettenstimme im Vordergrund. 3.3.2.4. Keine Ko-Intentionalität Ich habe mit Bedacht von metaphorischer musikalischer Räumlichkeit gesprochen, die sich in unserer Erfahrung von Tonhöhen, musi186 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

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kalischen Distanzen oder musikalischer Tiefe zeigt. Es handelt sich nicht um eine geheimnisvolle »perzeptive Fusion« oder »Ko-Intentionalität« von akustischen und buchstäblich räumlichen Elementen, wie es Scruton bisweilen anklingen lässt. 111 Wir erleben Musik nicht synästhetisch als räumlich – im Unterschied etwa zu musikalischen Farben, die Hörer mit synästhetischen Anlagen buchstäblich visuell wahrnehmen. Sie sehen Farben, wenn sie eine entsprechende Stelle hören, ohne dass visuelle Stimuli dargeboten werden. Musik ist weder ausgedehnt, noch weist sie eine eigene Topologie auf. Es könnte allerdings gesagt werden, dass in einem Stück auffallend viel harmonisches Territorium durchschritten werde, dass ein Stück harmonisch besonders extensiv sei. Die Metapher der Räumlichkeit eignet sich dazu, im Erwartungsspiel kontextuell etablierte Distanzen zu bezeichnen, die uns, dies ist die Pointe des Gedankengangs meines vierten Kapitels, im involvierten Hörmodus affektiv gewahr werden, nämlich als erlebte Spannung und Entspannung, als Gefühle der (psychischen) Lust oder des Schmerzes. 112 Zum Beispiel manifestiert sich die Distanz zwischen einem harmonischen Umfeld und einem bestimmten Akkord darin, dass wir von seinem Auftreten überrascht werden, und wir erwarten die Rückkehr zu dem ursprünglichen harmonischen Umfeld. Über diese Rückkehr in die nähere harmonische Umgebung sind wir dann erleichtert. Wir empfinden sie lustvoll, und zwar auch deswegen, weil sich dann unsere vorbewusst gehegten musikalischen Erwartungen erfüllen. Die von Krumhansl empirisch gemessenen, von ihr und anderen Musiktheoretikern kartografierten musikalischen Distanzen stehen für das Maß der affektiv erlebten Momente der Spannung und Entspannung, des (psychischen) Schmerzes und der Lust. Wir registrieren musikalische Distanzen nicht kühl, sondern 111 Vgl. Scruton 1997, etwa S. 341 f., wo er von »metaphorischer Perzeption« spricht, womit er so etwas wie Aspektwahrnehmung meint. Allerdings ist Scrutons Position unscharf. So dementiert er etwa den Gedanken einer »perzeptiven Fusion« von akustischen Gehalten und buchstäblicher Räumlichkeit: »Musical space, and musical movement, are not even analogous to the space and movement of the physical world« (Scruton 1997, S. 51 [Hervorhebung von Scruton]). Zu Budds Kritik der Idee einer »perzeptiven Fusion« oder einer metaphorischen Wahrnehmung vgl. Tanner/Budd 1985, S. 242–245, und Budd 2003, insbesondere S. 213–220. Vgl. zu Peacockes Ansatz metaphorischer Perzeption musikalischer Werke meine FN 77 im zweiten Kapitel. 112 Scruton fasst die Begriffe der Spannung und Entspannung, des Schmerzes und der Lust im Zusammenhang mit Musik als Synonyme auf. Vgl. Scruton 1997, S. 266– 269. Ich schließe mich dem an.

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affektiv. Es ist somit das Moment der affektiven Erfahrung von Distanzen, an dem sich der Unterschied zwischen alltäglicher Wahrnehmung akustischer Ereignisse und der Wahrnehmung akustischer Ereignisse als Musik offenbart. Das Bewusstsein der Metapher ist nicht kognitive Voraussetzung für die Wahrnehmung akustischer Ereignisse als Musik. Vielmehr benennen wir mit der Metapher, was wir nach kognitiver Verarbeitung der uns dargebotenen akustischen Stimuli affektiv erleben.

3.3.3. Bewegung Musikalische Räumlichkeit kann uns nur in der Zeit gewahr werden. Ein Akkord kann uns erst dann als entfernt erscheinen und überraschen, wenn zuvor ein Ausgangskontext bestimmt wurde, zum Beispiel tonal befestigt durch eine Kadenz. Ein metaphorischer musikalischer Abstand lässt sich nur in der Abfolge von Ereignissen erfahren. Zeitlichkeit und Räumlichkeit sind notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen der Rede von musikalischer Bewegung. Denn Töne, Intervalle oder Akkorde bewegen sich buchstäblich nicht – wie bei der Räumlichkeit sind auch hier Ausnahmen denkbar von buchstäblich sich bewegenden Tönen, Intervallen oder Akkorden, die aber in diesem Abschnitt auszublenden sind. Vielmehr folgen sie aufeinander, stetig bei Glissandi oder Portamenti, häufiger aber diskret. Sie wechseln sich ab. Doch erleben wir etwa eine Melodie als horizontal zusammenhängende Linie, und darüber hinaus als Bewegung eines und desselben virtuellen Gegenstandes, der aufsteigt und absinkt. 113 Und eine Akkordfolge nehmen wir in einem Choral nicht als Nacheinander von Blöcken wahr, sondern als Aufschichtung verschiedener Stimmen, das heißt von je individuellen horizontalen melodischen Linien, ohne dass uns dabei ihre vertikalen Relationen vorenthalten werden. Bisweilen bleibt unsere Wahrnehmung sogar dann an eine Linie gebunden, wenn sich deren vertikale Position in dem Stimmengefüge verändert, das heißt, wenn sie eine andere Stimme kreuzt. Es gibt aber andere Beispiele harmonischer Fakturen, die bewusst so gestaltet sind, dass wir Akkorde ausschließlich einheitlich als 113 Vgl. Scruton 1997, S. 49. Scruton nennt den virtuellen musikalischen Gegenstand »occupant«.

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einzelne Blöcke vertikal, nicht als Aufschichtung einzelner Stimmen horizontal erleben. Die Frage, die mich in diesem Abschnitt aber interessiert, ist: Weshalb erfahren wir Folgen von Tönen als Bewegungen – als ideale Bewegungen, das heißt als Bewegungen ohne buchstäblich Bewegtes – von Stimmen, von virtuellen musikalischen Gegenständen? 114 Eine mögliche Erklärung der Attraktivität der Metapher (im Sinne der kognitiven Metaphertheorie) der Bewegung und die mit ihr bezeichnete Erfahrung bezieht sich auf die musikalische Praxis. Wenn wir eine (bewegte) Melodie auf einem Instrument spielen, so geht dies meist buchstäblich mit Bewegungen einher, etwa des Stimmzuges der Posaune, der Hand auf dem Griffbrett der Gitarre oder der Position auf der Klaviatur eines Tasteninstruments. Darüber hinaus fällt eine melodische Linie oder eine Phrase oft unter einen Bogenstrich oder wird mit einer Atmung gespielt. Schließlich kann angeführt werden, dass beispielsweise in Ensembles oder Orchestern Akkorde oft aufgeteilt in horizontalen Stimmen dargeboten werden, die ihre Position in dem Gefüge über einen bestimmten Zeitraum halten. Die horizontale, melodische Dimension wird so durch die Kontinuität je verschiedener instrumentaler Timbres unterstützt, etwa wenn die erste Stimme an eine Flöte, die zweite an eine Oboe, die dritte an eine Klarinette und die vierte an ein Fagott fällt. 115 Eine weitere mögliche Erklärung wäre es, auf unsere Bewegungen bei der Rezeption musikalischer Werke zu verweisen. Musik regt mannigfaltige Bewegungen an. Wir tanzen etwa zu ihr, oder wir 114 Der Begriff der »idealen Bewegung« stammt von Edmund Gurney. Gurney unterstreicht in der Passage einen Punkt, den ich am Ende des vorangehenden Abschnittes ausgeführt habe. Die »ideale Bewegung« der Musik ist nicht als Idealisierung oder Analogon buchstäblicher physikalischer Bewegung aufzufassen, sondern als metaphorisch musikalische Bewegung. Gurney richtet sich explizit gegen die Reduktion musikalischer Expressivität auf Ähnlichkeiten oder Analogien zwischen der »idealen Bewegung« der Musik und unserer buchstäblicher Bewegungsmodi – eine Reduktion, die Konturtheorien musikalischer Expressivität kennzeichnet. Vgl. PoS, insbesondere S. 164–174. 115 Zum obigen Beispiel horizontaler Stimmbewegung: Es trifft zu, dass wir meist Stimmen als einzelne, sich horizontal bewegende Melodien hören können. Gleichzeitig bilden wir aber auch syntaktische Erwartungen aus, die Akkorde als ganze betreffen. So erleben wir zum Beispiel den Wechsel von der Dominante zur Subdominante als überraschend, als so genannte Rückschreitung, wie auch immer geschmeidig die einzelnen Stimmen geführt werden. In unserer Erfahrung präsent ist mithin auch eine abstrakte, genuin harmonische Bewegung, die sich nicht auf einzelne Stimmbewegungen zurückführen lässt.

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zeichnen metaphorische musikalische Bewegungen mit Gesten nach. 116 Dabei folgen wir bisweilen weniger melodischen oder harmonischen Linien, sondern Rhythmen. Doch auch Rhythmen weisen in unserer Erfahrung die horizontale Dimension auf, die ich für Melodien und Akkordprogressionen schon beschrieben habe. Was uns zum Tanzen anregt sind nicht einzelne rhythmische Impulse, etwa Trommelschläge, sondern die Erfahrung von Regelmäßigkeit, eines rhythmischen »Zuges nach vorne« über die gegenwärtig auditiv präsenten rhythmischen Ereignisse hinaus. Die beiden erörterten Erklärungen könnten insofern verfeinert werden, als behauptet werden könnte, dass die buchstäblichen Bewegungen nur imaginiert würden beim Hören musikalischer Werke. Denn wir erleben musikalische Werke selbst dann als bewegt, wenn wir sie nicht selber aufführen oder sie beim Hören tatsächlich mit (buchstäblichen) Bewegungen begleiten. Bewegungen, die wir beim Hören musikalischer Werke auch nur imaginieren, sind aber keine Erklärungen, sondern Symptome genuin musikalischer Bewegungen. Unsere buchstäblichen Bewegungen richten sich immer auch auf die Zukunft, ausgelöst häufig durch eine affektive Erregung, die durch das musikalisch Vergangene und Gegenwärtige evoziert worden ist. In unseren buchstäblichen Bewegungen entäußern wir unsere innere Spannung. Streng genommen – dies ist noch näher zu erläutern – handelt es sich bei der Spannung oder Erregung um ein unangenehmes Gefühl, um einen, auch wenn moderaten, psychischen Schmerz, den wir zu lindern versuchen, indem wir die musikalisch induzierten Affekte in Bewegungen übersetzen. Wir streben dabei an, unsere Aufmerksamkeit, wenigstens teilweise, vom psychischen Schmerz weg auf äußere Bewegungen zu lenken, wie wenn wir uns vor Schmerzen krümmen. Mit den buchstäblichen Bewegungen sind wir in der Lage, zumindest umrissartig unsere Erfahrung musikalischen Sinnes Dritten zugänglich zu machen. Dirigentinnen und Dirigenten zeichnen mit ihren äußeren Bewegungen (unter anderem) 117 metaphorische musikalische Bewegungen vor und teilen dadurch den Musikern ihr Verständnis tertiärer Eigenschaften im Vorgriff zum folgenden musikalischen Geschehen mit. 116 Vgl. dazu auch meine Diskussion des Nachvollzuges als Kriterium musikalischen Sinnes in Abschnitt 3.2.2. 117 Mit Dirigierbewegungen können auch nüchtern technische Informationen vermittelt werden, etwa Einsätze.

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Unsere buchstäblichen Bewegungen reißen in der Regel nicht abrupt ab, sondern überspannen etwa Phrasen von Beginn bis zu deren Ende, das heißt meist bis zu deren Auflösung (bei der die angesprochene affektive Erregung nachlässt), oder sie halten über eine Strecke an, die etwa rhythmisch kontinuierlich verläuft. Einen produktiven Erklärungsansatz für die phänomenale Erfahrung von Musik als horizontales, bewegtes Geschehen liefert erneut das Modell des Erwartungsspieles. Was uns Musik als ein durch abstrakte Beziehungen vernetztes Geschehen und nicht als bloße Abfolge von Einzelklängen erscheinen lässt, sind subpersonale Erwartungen, die – vor dem Hintergrund eines angemessenen Kontextes – über die musikalische Gegenwart hinausweisen, die aber ebenso die musikalische Gegenwart aus der Vergangenheit informieren. Ein absichtlich einfaches Beispiel zur Illustration im Kontext von C-Dur, auf Stufe Tonika:

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Abb. 5: Melodische Tendenz von d als aktivem Ton (d’, Kontext: C-Dur, auf Stufe Tonika)

Freilich: Zunächst nehmen wir das d als Wechsel zum c wahr. Damit hat es sich aber nicht. Gleichzeitig bringen wir es in Zusammenhang mit dem c und vor allem mit dem Kontext der Tonika von C-Dur. Das d erleben wir als, auch wenn nur mäßig, instabil. Begrenzt stabil sind in dem Kontext die Akkordtöne e und g, vollkommene Stabilität bietet einzig das c. Die Stabilität ist, nach dem Modell des Erwartungsspieles, durch die kontextuelle Häufigkeit, durch das Gewicht der Töne in dem Kontext zu erklären. Wir erleben das d so, dass es zu den stabileren Tönen »drängt«, am ehesten zu den benachbarten Akkordtönen c oder e. Das d ist, um es mit einem Fachterminus zu sagen, ein aktiver Ton. Wir erwarten in dem Kontext, und zwar stark, dass sich die Melodie vom d, mehr oder weniger unmittelbar, möglicherweise auch über Umwege, zurück zum Grundakkord bewegt und zum Grundton zurücksinkt. Die Menge der aufgefächerten Erwartungen bleibt vorbewusst. Gewahr werden uns Bewegungen als metaphorisch musikalische affektiv. Die Bewegung auslösenden Momente erleben wir als Spannung, die Bewegung einbremsenden, beruhigenden Momente als Entspannung. Dabei hängt das Maß der Spannung und 191 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

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Entspannung, das heißt das Maß der metaphorischen musikalischen Bewegung, von der metaphorischen musikalischen Distanz von Ereignissen ab. Folgt auf das d tatsächlich das c, so bleibt die Bewegung klein. Etwas grösser wäre sie, wenn etwa ein a folgte, dass sich nach und nach über g und dann diatonisch f-e-d-c auflöste. Je weiter die über einen bestimmten Zeitraum zurückgelegte musikalische Distanz, als umso bewegter erleben wir die Musik.

3.3.4. Gerichtetheit Metaphorische musikalische Bewegung ist, namentlich im Fall tonaler Musik, gerichtet. 118 Melodien und Harmonien tonaler Musik streben immer zum Grundton der Tonika, der als am stabilsten, als »Gravitationszentrum« erlebt wird, um zwei weitere Metaphern für denselben phänomenalen Aspekt zu nennen. Im Verlauf eines Werkes können sie sich aber auch zu anderen Zielen bewegen, etwa zum Zentrum einer Tonart, in die ein Stück moduliert. Zurück zum Beispiel aus dem vorhergehenden Abschnitt, und zwar zu der Auflösungsformel g-f-e-d-c.

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Abb. 6: Melodische Gerichtetheit (Kontext: C-Dur) 118 Es könnte mir vorgehalten werden, dass die Phänomenologie der musikalischen Erfahrung auf Werke der abendländischen, tonalen Musik begrenzt sei. Dazu zwei Bemerkungen: Einerseits sind schematische Erwartungen von Mitgliedern des westlichen Kulturkreises geprägt durch tonale Musik. Sie können diese Erwartungen nicht einfach abschütteln. Diese schematischen Erwartungen bleiben denn auch dann virulent, wenn sie Werke aus fremden Kulturkreisen oder atonale Werke hören. Manche atonale Kompositionen sind bewusst so gestaltet, dass in ihnen mit tonalen Allusionen gespielt wird. Dies ist insbesondere bei vielen Werken Alban Bergs zu beobachten. Noch bei Arnold Schönbergs Pierrot lunaire (1912) ist zu vermuten, dass er das (atonale) Werk über weite Strecken tonal gehört hat. Andererseits sind schematische, innerhalb eines Kulturkreises nicht kurzfristig wandelbare Erwartungen nicht die einzigen Erwartungen, die unser Hören bestimmen. Lokale Erwartungen beeinflussen ebenfalls unsere Wahrnehmung und unsere Erfahrung von Musik. Mit Verweis auf solche lokalen Erwartungen könnte somit verständlich gemacht werden, wie wir auch atonale Werke als metaphorisch musikalisch räumlich, bewegt oder gerichtet hören.

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Nur schon einen Ausschnitt aus der Formel können wir als gerichtet wahrnehmen, nämlich vor allem dann, wenn neben dem harmonischen Kontext auch das Metrum eines Werks unsere Erwartungen schürt. Angenommen, wir hörten g-f-e-d in Vierteln in einem 4/4Takt, der vor einem auch im übergeordneten Taktschema schweren Taktbeginn steht, so würden wir eine deutlich auf den Grundton c gerichtete Bewegung, eine regelmäßige Bewegung nach unten wahrnehmen. Denn jeder andere Ton außer dem c würde uns als Auflösung der Phrase sehr überraschen. Ganz unmöglich wäre eine andere Fortsetzung nicht. Was die Erfahrung metaphorischer musikalischer Bewegung nach unten in dem Fall bedingt, ist die im Vergleich zu anderen Varianten überaus hohe Wahrscheinlichkeit der Bewegung der Melodie zur Tonika. Meine bisherigen Beispiele zu metaphorischer musikalischer Bewegung und Gerichtetheit habe ich zu Illustrationszwecken soweit als möglich vereinfacht. Die Anwendung von Metaphern der Bewegung und Gerichtetheit möchte ich nun an Schuberts Unvollendeter diskutieren. Steinbeck schreibt zu den beiden Themen des ersten Satzes: »Der drängende … h-Moll-Ton des ersten Themas ist der geborgenen Idylle … des zweiten gewichen … zwei Themen, zwei Liedmelodien, die eine zu drängenden Steigerungen fähig, die andere in friedlicher Behaglichkeit verharrend. Tatsächlich hat Schubert mit dem Seitensatz ein Thema erfunden, das unentwegt in sich kreist … es kann von selbst nicht aufhören. Und so ist die gewaltsame Unterbrechung des Kreislaufs der einzige Ausweg, mit dem Satz voranzukommen« 119

Die Energie, die das erste Thema vorantreibt, ist ihm von Beginn an einbeschrieben. Nicht nur das stetige Pulsieren der 16tel-Begleitung, sondern vor allem die quasi-leittönigen, chromatischen Anstöße in deren melodischem Verlauf, die in der Hauptmelodie aufgenommen werden (zum erstem Mal in Takt 14) und die im Leitton der Zwischendominante auch in der Basslinie wiederzuerkennen sind (zum ersten Mal in Takt 18), bringen das Thema voran und heben es am Schluss gar in die hohe Lage (T. 31–38). Ganz anders verhält es sich beim zweiten Thema, das aber ebenfalls zu einem gleichbleibenden Begleitmuster erklingt.

119

Vgl. Steinbeck 1997, S. 637 f.

193 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

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Abb. 7: Franz Schubert, Sinfonie Nr. 7 in h-Moll, 1. Satz, zweites Thema (Celli, T. 44–53)

Die Synkopen der Begleitung wirken zwar belebend, aber gleichzeitig einbremsend. Das Thema kommt nur mühsam voran. In den ersten vier Takten schafft es gerade einmal die Strecke bis zur Sekunde, und fällt wiederholt in die Quartfallfigur zurück, die es charakterisiert. So beginnt und endet die erste viertaktige Themeneinheit mit der Figur, gefolgt von demselben Material, das um einen Ganzton nach oben geschoben wiedererscheint. Das erste Thema erleben wir als vorantreibend, weil es zahlreiche Spannungsmomente enthält, die unmittelbar aufgelöst werden. Hingegen staut sich beim zweiten Thema die Spannung an und löst sich erst mit den plötzlichen, akzentuierten Tutti-Einbrüchen forteforzato (T. 63). An dieser Stelle möchte ich knapp die Überlegungen rekapitulieren, die meinen Erörterungen zur Räumlichkeit und Bewegung zugrunde liegen und die ich analog auf die Gerichtetheit bezogen habe: Wir nehmen Musik als räumlich, bewegt oder gerichtet wahr. Die Metaphern sind dabei nicht so zu begreifen, dass wir Musik und den Ursprungsbereich der Metaphern (etwa buchstäbliche Räumlichkeit) in unserer Wahrnehmung miteinander kombinieren. Vielmehr handelt es sich um eine metaphorische musikalische Räumlichkeit, um metaphorische musikalische gerichtete Bewegung, die wir erfahren, wenn wir musikalische Werke verstehen. Wenn wir sie als metaphorisch musikalisch räumlich, bewegt und gerichtet erleben, so haben wir ihren Sinn, musikalische Eigenschaften tertiärer Ebene, erfasst. Wir sind dann in der Lage, akustische Ereignisse als Musik zu hören, wenn wir die Ereignisse losgelöst von ihren natürlichen Ursachen (quasi ersatzweise) in einen musikalischen Kontext stellen und (verschiedene Arten von) Erwartungen an formale Verläufe bilden. Die Erwartungen hängen letztlich von der Häufigkeit von Ereignissen im Kontext ab. Die Erfahrung metaphorischer musikalischer Räumlichkeit und gerichteter Bewegung ist bedingt durch unsere Erfahrung 194 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Grundriss einer Phänomenologie der musikalischen Erfahrung

musikalischer Spannung und Entspannung (oder mit anderen Worten durch unsere Erfahrung psychischen Schmerzes und psychischer Lust), die die Erfüllung oder Enttäuschung unserer vorbewusst gehegten Erwartungen mit sich bringt.

3.3.5. Spannung und Affektivität Weil ich die Erfahrung musikalischer Spannung (und Entspannung) für meine Explikation musikalischer Expressivität heranziehe, behandle ich sie zu Beginn des folgenden Kapitels in Abschnitt 4.1.1.

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4. Wesen musikalischer Expressivität

In diesem Kapitel möchte ich meinen Ansatz zum Wesen musikalischer Expressivität ausarbeiten, aufbauend auf den Vorarbeiten in den drei vorherigen Kapiteln. Der Ansatz schließt die fundamentale Ebene der musikalischen Erfahrung ein, das heißt die Evokation affektiver Zustände im involvierten Hörmodus. Er ist gleichzeitig insofern integrativ, als er Elemente aus den sechs Typen von Ansätzen umfasst, die ich im ersten Kapitel unterschieden habe (am Ende von Abschnitt 1.1.1.), allerdings in reformulierter und rearrangierter Weise. Der Ansatz integriert so skeptische Elemente, Elemente von Evokationstheorien (auf tertiärer Ebene) und Elemente von Ausdrucks-, Kontur- und Personentheorien (auf quartärer Ebene). Weshalb betone ich in diesem Kapitel die Explikation von expressiven Eigenschaften musikalischer Werke auf fundamentaler tertiärer Ebene? Das hängt mit meiner ursprünglichen Fragestellung zusammen. Das Problem des Wesens musikalischer Expressivität besteht wie besprochen darin, dass es eine über Epochen der Musikgeschichte, sowohl bei Laien als auch bei professionellen Musikern, Musiktheoretikern und Kritikern persistierende Praxis der Zuschreibung affektiver Zustände zu musikalischen Werken gibt, obschon musikalische Werke offensichtlich keine Lebewesen sind. Dieses Problem kann nicht angegangen werden, wenn expressive Eigenschaften auf Quartärebene verortet werden, das heißt, wenn sie nur vor dem Hintergrund historisch kontingenter repräsentationaler Kontexte zu erschließen sind. Die These, die ich in diesem Kapitel verteidigen werde, besagt, dass die Persistenz der Praxis der Zuschreibung insbesondere darauf gründet, dass musikalische Werke, unter den Bedingungen, die ich im zweiten und dritten Kapitel spezifiziert habe, affektive Zustände auslösen, anhand derer wir die Expressivität eines Werkes grob bestimmen können. 1 Namentlich expressive musikalische Werke sind so angelegt, dass sie affektive Zustände evozieren. Die Evoka1

Die evozierten affektiven Zustände sind dabei nicht identisch mit den affektiven

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Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel

tion der Zustände erhelle ich mit dem Modell des Erwartungsspiels. Dabei ist es die Form der Musik innerhalb eines absolutmusikalischen Kontexts, die die Expressivität tertiärer Ebene bestimmt, weil mit ihr der Gang des musikalischen Erwartungsspieles festgelegt wird – unter den angesprochenen Bedingungen der Rezeption. Ich gehe in diesem Kapitel wie folgt vor: In den beiden ersten Teilen soll der Ansatz tertiärer Ebene entwickelt werden. Im ersten Teil (Abschnitt 4.1.) begründe ich die Evokation verschiedener Arten von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel. Im zweiten Teil (Abschnitt 4.2.) soll erläutert werden, inwiefern die Expressivität (einer Passage) eines musikalischen Werkes von der kontextuellen Beurteilung der Signifikanz der evozierten Gefühle abhängt. Im dritten Teil (Abschnitt 4.3.) rekapituliere ich den Ansatz, und zwar mit Blick auf das integrative Modell musikalischer Eigenschaften, das ich in Abschnitt 2.1. entfaltet habe.

4.1. Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel 4.1.1. Evokation von Mikroemotionen der Überraschung und der Erleichterung Das vorhergehende Kapitel habe ich mit einer Erfahrungsdefinition des Musikalischen begonnen. Im zweiten Kapitel habe ich dargelegt, dass einige der am meisten verwendeten Metaphern zur Beschreibung musikalischer Werke auf diese Art von Erfahrung referieren. Die Erfahrung ist, so habe ich weiter argumentiert, nicht gleichzusetzen mit der Wahrnehmung sekundärer Eigenschaften von in Aufführungen klanglich dargebotener Musik. Sie entsteht erst nach der vorbewussten Verarbeitung klanglicher Stimuli, erst nach deren Kontextualisierung. Vorbewusst verarbeitet werden die Stimuli, indem sie auf lokale Kontexte eines Werkes, aber auch auf schematische und veridische Kontexte bezogen werden. Sämtliche der genannten Kontexte sind dabei absolutmusikalische. Tertiäre musikalische Eigenschaften sind wir zu rezipieren in der Lage, bevor wir Musik vor dem Hintergrund repräsentationaler Folien deuten. Dabei werden uns musikalische Eigenschaften affektiv gewahr. Zuständen, die qua expressive Eigenschaften musikalischen Werken zugeschrieben werden. Dies werde ich insbesondere in Abschnitt 4.2. erörtern.

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Wesen musikalischer Expressivität

In meinem Gedankengang bleibt ein zentraler Punkt offen. Klänge werden nach meinen Überlegungen dann zu musikalischen, wenn wir sie vorbewusst in einen sozial instituierten Kontext von weiteren Klängen verarbeiten. Sie werden dann zu musikalischen, wenn sie ihrem alltäglichen, kausalen Kontext entzogen werden. Während wir im Alltag zum Beispiel einen Donner so wahrnehmen, dass er kausal mit einem von uns als für uns gefährlich gehaltenen Sachverhalt in Verbindung steht, das Niederprasseln von Münzen im Glücksspielautomaten, dass es kausal mit einer von uns möglicherweise als erfreulich eingeschätzten Begebenheit zusammenhängt, so steht zu erklären, weswegen uns abstrakte formale Verläufe von Musik bewegen sollten, die uns scheinbar nicht betreffen. Musikalische Prozesse erfüllen prima facie die Eigenschaft der Existentialität von Emotionen nicht, die ich im ersten Kapitel erläutert habe und die auch für affektive Zustände allgemein gilt. 2 Die Psychologin Magda Arnold etwa bestimmt eine Emotion (etwas zirkulär) als »felt tendency toward anything intuitively appraised as good (beneficial), or away from anything intuitively appraised as bad (or harmful)« 3 . Und schon Heidegger spricht davon, dass bei der Furcht »das Begegnende … die Bewandtnisart der Abträglichkeit« 4 habe. Der offene Punkt lässt sich als Frage formulieren: 5 Inwiefern können abstrakte Verläufe von Klängen, die wir beim involvierten Hören qua musikalische per definitionem als von ihren kausalen Ursprüngen abgespaltene einzig im Kontext anderer solcher Klänge wahrnehmen, von uns (affektiv) als – um es in Anlehnung an Heideggers Terminologie zu sagen – zuträglich oder abträglich beurteilt werden? (Wir befinden uns ja bei Aufführungen musikalischer Werke häufig in sicherem, nicht-alltäglichem Umfeld, etwa im Konzertsaal.) Oder konkreter: Inwiefern kann zum Beispiel die musikalische Progression von der Dominante zur Tonikaparallele von uns (affektiv) als für uns »schlecht (oder schädlich)« eingeschätzt werden? Gemäß dem Modell des Erwartungsspiels erleben wir die Progression affektiv, weil sie unsere subpersonalen schematischen Erwartungen enttäuscht, als überraschend; 6 sie wird uns schmerzvoll gewahr. Vgl. mein Abschnitt 1.2.3.4. Arnold 1960, S. 171 [Hervorhebungen: S. Z.]. 4 SuZ, § 30 [Hervorhebung: S. Z.]. 5 Die Frage formuliert ebenso Ellsworth. Vgl. Ellsworth 1994a, S. 195 f. 6 Überraschung ist biologisch gesehen immer ein Zustand negativer Valenz. Vgl. Huron 2006, S. 21. In der Alltagssprache ist die Rede bisweilen von einer »freudigen 2 3

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Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel

Zunächst folgender Hinweis: Die (affektive) Einschätzung, dass klangliche Ereignisse, isoliert von einem musikalischen Kontext betrachtet (das heißt nicht als musikalische Ereignisse), im geschützten Rahmen eines Konzertsaales im Allgemeinen für uns unmittelbar keine auch nur potentiellen physiologischen oder psychologischen Nachteile mit sich bringen – etwa keine Schäden an unserem Gehör oder Gefahren ihrer kausalen Ursachen (der Blitz kann uns gefährlich werden, nicht aber das Harfenspiel) –, wird für die weiteren Überlegungen noch relevant werden. Vorerst soll sie aber vernachlässigt werden. Wesentlich ist im Moment allein, dass es einer Erklärung bedarf, weswegen musikalische Ereignisse affektive Zustände positiver und vor allem negativer Valenz evozieren können, obschon die den musikalischen Ereignissen zugrunde liegenden klanglichen Ereignisse in der Regel für uns harmlos bleiben. 7 Was ist also das von uns affektiv als gut oder schlecht Beurteilte der Musik? Huron geht in seinem Ansatz von der so genannten ITPRATheorie menschlicher Erwartungen aus, in der fünf verschiedene Arten von Reaktionen unterschieden werden (imagination, tension, prediction, reaction, und appraisal response): 8 Die beiden ersten Reaktionen finden vor einem erwarteten Ereignis statt, die drei weiteren danach. Wir fühlen erstens zukünftige Ereignisse insofern, als wir Verhalten, das Gefahren oder sonstige negative Entwicklungen abwendet, lustvoll erleben, und umgekehrt Verhalten, das zukünftiges Unheil befördert, schmerzvoll (imagination response). Zweitens bereiten wir uns psychisch und physiologisch auf erwartete Ereignisse vor (tension response). Wir halten entsprechende Ressourcen vor. Und wir aktivieren unseren Organismus, was uns affektiv gewahr wird. Drittens werten wir aus, inwieweit unsere Erwartungen zutreffen (prediction response). Diese Reaktion erfolgt rasch und beruht auf Überraschung«. Dabei handelt es sich aber um einen Zustand, der sich aus zwei voneinander abzugrenzenden Komponenten zusammensetzt, nämlich aus einer Überraschung (biologisch gesehen ein affektiver Zustand negativer Valenz) und aus der Freude über etwas Eingetretenes (ein affektiver Zustand positiver Valenz). Die Unterscheidung von Komponenten komplexer affektiver Zustände ist zum Verständnis der musikalischen Evokation affektiver Zustände unerlässlich. 7 Dies wird häufig als Begründung für die These angeführt, dass Musik keine »wirklichen« affektiven Zustände oder Emotionen evozieren könne. Vgl. dazu synoptisch Koelsch 2013, S. 204 f. (Koelsch vertritt die These nicht.) 8 Vgl. Huron 2006, S. 8–18. Hurons Verwendung des Begriffs appraisal deckt sich nicht mit Arnolds. Arnolds appraisals erfolgen ihr zufolge »intuitiv«, Hurons (im Kontext der ITPRA-Theorie) als Resultate bewussten Überlegens.

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Wesen musikalischer Expressivität

vorbewussten Prozessen. Viertens beurteilen wir das eingetretene Ereignis rasch und vorbewusst (reaction response). Schließlich beurteilen wir fünftens das eingetretene Ereignis bewusst (appraisal response). Dies dauert länger als bei der raschen Reaktion. Nach Huron sind unsere durch Erwartungen ausgelösten Reaktionen nach ihrem zeitlichen Auftreten, ihrer Intensität und ihrer Art differenziert. Unser vorbewusst ständig aktivierter Erwartungsmechanismus ist eindrücklich subtil angelegt. Dies mag nicht erstaunen. Denn wir sind vergleichsweise leicht verwundbare und bedürftige Wesen. Die verschiedenen (an unserer pleistozänen oder noch weiter zurückliegenden Alltagssituation) evolutionär ausgeprägten Erwartungsreaktionen sind für uns deswegen unabdingbar für unser Überleben und Wohlergehen. 9 Sie sind zugleich charakteristisch für das menschliche Dasein, das durch seine zeitliche Erstreckung in Vergangenheit und Zukunft gekennzeichnet ist. 10 Der Erwartungsmechanismus ist dabei, wie Huron darlegt, pessimistisch kalibriert. Er wird regelmäßig zu häufig aktiviert, das heißt sehr oft, auch ohne dass die erwarteten Situationen eintreffen, oder ohne dass sie für uns nützliche oder schädliche Folgen hätten. Dadurch soll vermieden werden, dass wir für uns potenziell zu- oder abträglichen Situationen unvorbereitet begegnen, unter Kosten von »Fehlalarmen«, zu denen wir neigen, so Huron. 11 Doch just dieses Phänomen ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass mit musikalischen Stimuli bei uns ein Erwartungsspiel in Schwung gebracht werden kann. Huron schreibt: 9 Vgl. zur biologischen Bedeutung des Erwartungsmechanismus etwa Raichle et al. 2001 und Suddendorf 2006. Raichle et al. ermitteln Hirnareale, die als für uns basale permanent aktiviert sind (so genannte baseline oder default modes), das heißt Hirnteile, die ständig Sauerstoff aus dem Blut absorbieren, im Gegensatz zu solchen, die flexibel versorgt werden. In den basalen Arealen sind die neuronalen Korrelate des Erwartungsmechanismus verortet, der letztlich der Ressourcenökonomik dient. (Sauerstoff soll nur dann Hirnarealen zugeführt werden, wenn die Notwendigkeit ihres Einsatzes zu erwarten ist.) Basale Areale werden von Raichle et al. mit der Evokation von Emotionen in Verbindung gebracht. Leider diskutieren sie nur den Einfluss visueller Stimuli auf die Aktivierung der Areale. Es ist jedoch zu vermuten, dass für akustische Stimuli ähnliche Effekte zu beobachten sind, wenn nicht in stärkerem Ausmaß. Thomas Suddendorf beschäftigt sich mit den evolutionären Wurzeln unseres Erwartungsmechanismus. Der frühe Ursprung des Mechanismus zeigt sich ihm zufolge insbesondere daran, dass bestimmte Hominiden Werkzeuge oder Waffen herstellten, zurücklegten oder mit sich trugen selbst für weit in ihrer Zukunft liegende, nur mäßig wahrscheinliche Ereignisse. 10 Vgl. mein Abschnitt 3.3.1. 11 Vgl. Huron 2006, S. 6.

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Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel

»nature’s tendency to overreact provides a golden opportunity for musicians. Composers can fashion passages that manage to provoke remarkably strong emotions using the most innocuous stimuli imaginable … it is nature’s knee-jerk pessimism that provides the engine for much of music’s emotional power« 12

Die natürliche Voraussetzung für die Rezeption musikalischer Expressivität tertiärer Ebene beim Hörer liegt darin, dass seine Schwelle, Erwartungen zu bilden und auf sie zu reagieren, tief angesetzt ist. Der Erwartungsmechanismus ist ständig in Bereitschaft und wird selbst dann aktiviert, wenn er mit für ihn weder nützlichen noch gefährlichen akustischen Stimuli konfrontiert wird, und zwar, wenn er sich nicht künstlich von dem musikalischen Geschehen distanziert, wenn er sich darauf konzentriert und darauf einlässt. Die Voraussetzung im musikalischen Werk liegt darin, formal so gestaltet und so in einen absolutmusikalischen Kontext eingebettet zu sein, dass die Bildung von auf den Verlauf der Musik gerichteten Erwartungen angeregt wird. 13 Besonders hervorzuheben ist dabei die Rolle von Wiederholungen. 14 Die (notwendige) Voraussetzung für die Rezeption musikalischer Expressivität tertiärer Ebene in der musikalischen Form kann noch präziser gefasst werden. Erneut rekapituliere ich einen Gedanken aus dem dritten Kapitel: 15 Das Erwartungsspiel kommt nur innerhalb eines Bereiches zwischen formaler Monotonie und formalem Chaos zustande. In diesem Bereich fesselt und affiziert uns Musik, ist sie invasiv. Dies kann bisweilen gar dazu führen, dass wir Musik involviert hören, selbst wenn sie uns bloß ablenkt und wir deswegen versuchen, unsere Aufmerksamkeit von ihr wegzulenken. Dass dies häufig nicht klappt, etwa wenn die Wohnungsnachbarin musiziert, hängt zwar auch von der Lautstärke ihres Instrumentes oder ihrer Stimme ab. Was unsere Nerven aber vor allem beansprucht, ist die Tatsache, dass die klanglichen Stimuli, an denen sie uns teilhaben lässt, musikalische sind. 16 Sie sind formal so gestaltet, dass wir uns Huron 2006, S. 6. Die beiden Voraussetzungen sind als notwendige Ausgangsbedingungen, nicht als hinreichende Bedingungen der Expressivität musikalischer Werke aufzufassen. 14 Vgl. mein Abschnitt 3.1.1., darin insbesondere meine Einlassungen zu Kivy, und Huron 2006, S. 229–231. 15 Vgl. mein Abschnitt 3.1.2. 16 Immanuel Kant geht soweit, deswegen der Musik »Urbanität« abzusprechen, wobei zu vermuten ist, dass er sich eher auf die Lautstärke denn auf das Musikalische 12 13

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Wesen musikalischer Expressivität

ihnen nur mit Mühe entziehen können, dass wir nolens volens in ein Erwartungsspiel hineingezogen werden, das unsere Aufmerksamkeit beansprucht, indem es uns affiziert. Nach wie vor ist allerdings nicht vollständig beantwortet, weswegen es uns affiziert. Bislang habe ich schlichtweg angenommen, dass es affektive Zustände positiver und negativer Valenz unterschiedlicher Intensität evozieren kann. Weil ich für den Moment davon ausgehe, dass akustische Stimuli, die ein musikalisches Werk realisieren, von uns weder als zu- noch als abträglich eingeschätzt werden, fallen sowohl die reaction als auch die appraisal response der ITPRA-Theorie weg, um die Evokation zu erklären. Ebenso unplausibel wäre es, dafür die imagination response anzuführen. Denn wir versuchen in der Regel nicht, erwartete musikalische Ereignisse durch irgendwelche konkreten Handlungen zu vermeiden, zu umgehen oder uns sonstwie auf sie vorzubereiten. (Jedoch habe ich schon einzelne Leute im Publikum von Aufführungen beobachtet, die offenbar bewusst Werke ab einem bestimmten Zeitpunkt verlassen, um einen Werkteil nicht hören zu müssen.) Übrig für die Erklärung der Evokation affektiver Zustände bleiben die tension und prediction response. Auf eine ausführliche Diskussion der tension response möchte ich jedoch der Einfachheit halber verzichten, zumal sie sich mit der prediction response zu überlappen scheint, und zwar insofern, als die Zuordnung zu einer Reaktionsart im Fall der Musik schlicht von der beliebigen Positionierung eines Ereigniszeitpunkts abhängt. Eine trennscharfe Unterscheidung von musikalisch evozierter Spannung und Entspannung beziehungsweise psychischem Schmerz und Lust ist deswegen nicht möglich. Ich greife zurück auf Hurons Diskussion des Beispiels der Antizipation in einem Ganzschluss in die Oktavlage (transponiert nach C-Dur): 17 Der Ton c erklingt bei einer Antizipation nicht erst auf der Tonikastufe, auf der er ein harmonieeigener Ton ist, sondern bereits kurz auf der Dominante, auf der er ein harmoniefremder und mithin dissonanter Ton ist. Mit dem Begriff der tension response kann die Wirkung der Antizipation so erklärt werden, dass sie die

bezieht: »Außerdem hängt der Musik ein gewisser Mangel der Urbanität an, dass sie, vornehmlich nach Beschaffenheit ihrer Instrumente, ihren Einfluss weiter, als man ihn verlangt (auf die Nachbarschaft), ausbreitet und sich so gleichsam aufdringt« (KdU, B221). 17 Vgl. Huron 2006, S. 306.

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Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel

Spannung der Stelle erhöht, weil die harmoniefremde Note die Tonika deutlicher erwarten lässt. Dabei wird der Ereigniszeitpunkt bei der Auflösung angesetzt. Mit dem Begriff der prediction response kann die Wirkung so erklärt werden, dass die Stelle uns überrascht und spannungsvoll erlebt wird, weil der Ton c harmoniefremd ist. Dabei wird der Ereigniszeitpunkt auf der Antizipation angesetzt. Huron bleibt eine Begründung dafür schuldig, weshalb der Ereigniszeitpunkt auf der Tonika anzusetzen ist. Ich halte es für einleuchtender davon auszugehen, dass wir im Fall der Musik ständig Ereignisse vorbewusst mit Erwartungen abgleichen. In Aufführungen musikalischer Werke wird uns meist ein Strom, eine Fülle von Ereignissen nacheinander dargeboten. (Anders verhält es sich oft im Alltag, an dem die ITPRA-Theorie entwickelt wurde. Die Situation bestimmt in dem Fall den Ereigniszeitpunkt. Der Ereigniszeitpunkt, der bei absoluter Musik auf tertiärer Ebene unbestimmt bleiben muss, ist inhaltlich festgelegt. Zum Beispiel gibt es beim Roulette einen klar festzulegenden Ereigniszeitpunkt, nämlich dann, wenn die Kugel fällt.) Es ist somit die prediction response, die für die Erklärung der Evokation affektiver Zustände im musikalischen Erwartungsspiel fruchtbar zu machen ist. Erfüllte Erwartungen, selbst formale, auf musikalische Werke gerichtete, lösen beim involvierten Hörer affektive Zustände positiver, enttäuschte negativer Valenz aus. 18 Diese afAuf eine umfassende und ausführliche Diskussion von empirischer Evidenz für diese These und methodologischer Probleme der entsprechenden Studien muss ich an dieser Stelle verzichten. Drei Arten von empirischen Studien, in denen affektiven Wirkungen des Erwartungsmechanismus bei der Rezeption von Musik untersucht werden, sind zu unterscheiden. Erstens werden Reaktionen mittels Fragebögen ermittelt und dann mit Blick auf musikalische Erwartungen und affektive Reaktionen ausgewertet. Vgl. etwa Sloboda 1991 und Feldmann 1998. Zweitens werden neuronale, mit affektiven Reaktionen in Verbindung gebrachte Aktivitäten gemessen, während Probanden musikalische Stimuli zugespielt werden. Vgl. etwa Koelsch et al. 2005, Koelsch et al. 2006, Tillmann et al. 2006, Steinbeis/Koelsch/Sloboda 2011 (in der Studie werden auch Veränderungen der Herzrate und der Hautleitfähigkeit gemessen) und Koelsch 2014. Drittens wird die Ausschüttung von Hormonen gemessen (durch bildgebende Verfahren), ebenfalls während Probanden musikalische Stimuli präsentiert werden. Vgl. etwa Salimpoor et al. 2011, dazu auch Panksepp 1995. Auch wenn die musikpsychologischen Befunde bisweilen nicht eindeutig sind, scheint die These doch empirisch robust. Eine empirische Prüfung des in enger Anlehnung an Huron entwickelten Modells eines musikalischen Erwartungsspiels birgt vor allem Probleme der Operationalisierung insofern, als es ein raffiniertes vielschichtiges Modell ist. (Möglicherweise gleichen sich etwa Effekte verschiedener Ebenen gegenseitig aus.) Es klafft oft eine erhebliche Lücke zwischen der fein ausgearbeiteten Theorie und

18

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Wesen musikalischer Expressivität

fektiven Zustände können im Fall der Musik nicht auf unseren Ertrag aus Sachverhalten zurückgeführt werden, die mit einem akustischen Ereignis kausal zusammenhängen, wie bereits erläutert. Vielmehr wird bei der prediction response das Funktionieren des Erwartungsmechanismus selbst affektiv evaluiert, das heißt sein prognostischer Erfolg. 19 Für das menschliche Dasein ist es überlebensnotwendig, dass der Mechanismus zuverlässige – vorwiegend subpersonale – Erwartungen liefert, dass er gut kalibriert ist, unbesehen davon, ob die erwarteten Ereignisse für uns nützlich oder schädlich sind. Deswegen, so der evolutionsbiologische Gedankengang Hurons, werden affektive Zustände negativer Valenz evoziert, 20 wenn wir erfahren, dass unsere Erwartungen nicht akkurat sind, affektive Zustände positiver der aufgrund methodologischer Probleme doch angesichts der Komplexität musikalischer Kunstwerke recht groben empirischen Befunde (zum Beispiel richtet sich Sloboda mit seinen Fragebögen an die Erinnerung von Probanden an vergangene Erfahrungen musikalischer Werke, nicht nur absolutmusikalischer). Die Attraktivität des Modells als ganzem beruht auch auf seiner evolutionsbiologischen, musiktheoretischen und introspektiven Plausibilität. Vgl. für einen Überblick der empirischen Forschung über Musik und menschliche Affektivität Juslin 2009, S. 131 f. (Juslin diskutiert insbesondere auch methodologische Probleme der Studien) und Koelsch 2013, S. 216–235. 19 Vgl. Huron 2006, S. 12 f., und S. 136–139. Huron sieht die prediction response gestützt durch den Ansatz des Psychologen George Mandler. Vgl. etwa Mandler 1975, insbesondere S. 111–152. Mandlers Ansatz stellt dabei einen Fortschritt zum klassischen Experiment von Schachter und Jerome E. Singer insofern dar, als er die Ursachen affektiven arousals bestimmt, nämlich als Durchkreuzen von Erwartungen oder Plänen. Bei Schachter und Singer wird das arousal bei den Probanden einfach hormonell induziert (durch Injektion eines Medikaments). Vgl. Schachter/Singer 1962. Während Mandler jedoch die Intensität von evozierten affektiven Zuständen ursächlich zu erklären vermag, kommt in seinem Ansatz der Interpretation von Situationen nach dem arousal noch wie bei Schachter und Singer systematisches Gewicht zu. Die Interpretation bestimmt den Inhalt von affektiven Zuständen, auch ihre Valenz. Es scheint deswegen unklar, inwiefern die Arbeiten Mandlers die Erklärung der Evokation affektiver Zustände beim Hören von Musik als Zustände mit positiver oder negativer Valenz als Evaluation der Zuverlässigkeit des Erwartungsmechanismus Hurons stützen. William W. Gaver und Mandler nehmen etwa an, dass die Erfüllung von Erwartungen beim Hören von Musik positiv erlebt werde, weil wir das uns Bekannte mögen. Vgl. Gaver/Mandler 1987, S. 266–270, und dazu auch mein Abschnitt 3.1.3.1. Huron hingegen erklärt auch diesen Effekt mit der prediction response. Es scheint sich somit bei der prediction response um einen Wirkmechanismus zu handeln, der von Huron neu postuliert wird. 20 Ich fasse diese Zustände als Spannungszustände auf, als moderate psychische Schmerzen. Nur das Ausbleiben von Lust dürfte kaum der Eigensanktionierung dienen, die die prediction response bei Fehlprognosen nach sich ziehen soll.

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Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel

Valenz (Lust), wenn unsere Erwartungen zutreffen. Dies trifft auch dann zu, wenn im Alltag die tatsächlich eingetretenen Ereignisse sich als für uns schädlich beziehungsweise nützlich herausstellen. Die prediction response ist auch dann positiv, wenn das korrekt prognostizierte Ereignis für uns schädlich ist. (Immerhin haben wir es dann – vorbewusst – erwartet und uns dadurch Vorbereitungshandlungen und -reaktionen ermöglicht.) Und sie ist auch dann negativ, wenn ein unerwartetes Ereignis für uns nützlich ist. Sie mindert unsere Freude an dem nützlichen Ereignis, und zwar nicht nur deswegen, weil wir womöglich von dem Ereignis nicht profitieren können, eben weil es uns unerwartet trifft, sondern auch deswegen, weil wir die Zuverlässigkeit unserer überlebensnotwendigen Zukunftsprognosen in Frage gestellt sehen. Biologischer Sinn und Zweck der prediction response ist es, die Zuverlässigkeit des Erwartungsmechanismus zu belohnen oder Anpassungen anzuregen, das heißt einen Lernprozess durch positive oder negative Verstärkung zu motivieren. 21 Dass wir den Wirkungen der prediction response unterliegen, ist ein factum brutum unserer biologischen Konstitution. Die prediction response kommt auch bei den für uns unmittelbar harmlosen Stimuli dargebotener musikalischer Werke zustande, weil sie Teil unseres »pessimistisch« kalibrierten, stets aktivierten Erwartungsmechanismus ist, der auch durch Aufführungen von musikalischen Werken erzeugte Stimuli erfasst, und weil in kontextuell situierten Werken die Stimuli qua musikalische mit Bedacht so geordnet sind, dass sie die Reaktion begünstigen. Sie besteht, wie dargelegt, aus der Evokation affektiver Zustände, die durch ihre Intensität und Valenz bestimmt sind. Die Zustände werden dann ausgelöst, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf musikalische Ereignisse und Verläufe lenken. Es handelt sich also um auf die Musik gerichtete, affektive evaluative Zustände. Zum Beispiel werden wir von einem Akkord überrascht, oder wir sind erleichtert über das Erreichen des Grundtones in einer Melodie, da er das erwartete Ziel einer Tonfolge darstellt. Somit könnte behauptet werden, dass die durch die prediction response verursachten affektiven Zustände Emotionen sind. Die affektiven Zustände sind auf musikalische Ereignisse gerichtet. Ferner habe ich im ersten Kapitel Emotionen als weltgerichtete Gefühle expliziert. 22 Es wären musikalische Emotionen, die wir nicht im All21 22

Vgl. Huron 2003, S. 361 f. Vgl. mein Abschnitt 1.2.3.1.

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Wesen musikalischer Expressivität

tag erfahren würden, sondern nur dann, wenn wir akustische Stimuli als solche fokussiert hörten und sie in einen sozial instituierten absolutmusikalischen Kontext stellten. Namentlich Geoffrey Madell wird nicht müde, in seinem Ansatz zur musikalischen Expressivität zu unterstreichen, dass auch absolute Musik affektive Zustände evozieren könne, die als vollwertige Emotionen zu betrachten seien: »Both the desire, or ›yearning‹, and the satisfaction, or ›joy‹ are emotions aroused by the music and having as their intentional objects features of the music. If the harmonic transition does not result in a resolution, the feeling evoked could well be sadness, but that sadness is not about ›everything‹ or ›nothing‹, but about the failure of the hoped-for resolution to come about.« 23

Es fällt auf, dass die Emotionen, die nach Madell Musik auslösen könne, deutlich komplexer sind als diejenigen, die ich mit Blick auf die prediction response erläutert habe. Weswegen Musik uns affiziert, wird bei ihm nicht erörtert. Vielmehr geht er schlichtweg von der Beobachtung aus, dass wir beim Hören vieler musikalischer Werke Folgen von Spannung und Entspannung erleben. Die nach Madell durch Musik evozierbaren Emotionen können nicht nur auf aktuelle Ereignisse mit Bezug auf deren Erwartungskonformität gerichtet sein, sondern auch in die Zukunft. Musik könne Wünsche oder Hoffnungen nach Auflösung evozieren, ebenso Traurigkeit, ja sogar komplexe Emotionen wie Schuld oder Liebe (auf tertiärer Ebene, wohlgemerkt), nicht nur Überraschungen über unerwartete musikalische Ereignisse oder Erleichterung (Madell spricht bisweilen gar von »Triumph«) über die Erfüllung musikalischer Erwartungen. 24 Madell zufolge sind es diese beim aufmerksamen Hörer evozierten, auf die Musik gerichteten Emotionen, die den in Zuschreibungen von Affektprädikaten suggerierten Zusammenhang von Musik und

Madell 2002, S. 49. (Die meisten der in dieser Monografie versammelten Gedanken hat Madell schon in einem Aufsatz veröffentlicht. Vgl. Madell 1996.) 24 Vgl. Madell 2002, etwa S. 50 (»Triumph«) und S. 126–135 (»Liebe«). Allerdings umfassen die von Madell in Anschlag gebrachten Beispiele, etwa für den Ausdruck von Liebe, repräsentationale Elemente, zum Beispiel im Titel (Tschaikowskys Ouvertüre Romeo und Julia), oder es handelt sich nicht um absolute Musik im von mir in Abschnitt 1.1.1. stipulierten Sinne, wie im Fall von Wagners Tristan und Isolde. (Vgl. zum Ursprung des Begriffs der absoluten Musik bei Wagner Dahlhaus 1978d, S. 24– 32.) 23

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Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel

menschlicher Affektivität erklären lassen, nicht Ähnlichkeiten oder Projektionen auf imaginierte Personen. 25 Madell hat klare Antworten auf beide Varianten der philosophischen Problemstellung zur musikalischen Expressivität zur Hand, wie ich sie im ersten Kapitel rekonstruiert habe. 26 Einerseits argumentiert er, wider Hanslick, dass absolute Musik Emotionen ausdrücke (im Sinne von Expressivität tertiärer Ebene), insofern sie affektive Zustände evoziere und insofern diese Zustände genau bestimmte intentionale Objekte aufweisen würden, nämlich rein formale musikalische Ereignisse oder Verläufe. Für Madell ist ein Bezug zu außermusikalischen Gedanken also gar nicht nötig, um die von Musik ausgedrückten Emotionen zu bestimmen. Hanslicks Problem der Objektbestimmung der von musikalischen Werken ausgedrückten Emotionen sieht Madell damit gelöst. 27 Andererseits sind ihm gemäß wir es, die Träger der Emotionen sind, die wir den musikalischen Werken zuschreiben, nicht Komponisten, imaginierte Personen oder animierte Gesten. Die für die Zuschreibung von Emotionen notwendigen Lebewesen fungieren in seinem Ansatz nicht als Projektionen oder Imaginationen. Vielmehr werden sie mit dem Hörer identifiziert: Die ausgedrückten Emotionen werden von ihm aus der Perspektive der ersten Person erlebt. 28 Wenn wir der Musik genau folgen, empfinden wir die durch ihre formalen Verläufe evozierten Emotionen. Wir sind dann eins mit der Musik. Madell bringt dazu folgendes Zitat des Lyrikers T. S. Eliot: »You are the music, while the music lasts.« 29 Ich werde im Folgenden meine Position von Madell abgrenzen. Jedoch gilt auch für meinen Gedankengang: Dieses Einswerden ist das Ziel, das wir mit einer involvierten Hörhaltung erreichen können. 30 Auch Carroll erwähnt auf musikalische Verläufe gerichtete affektive Zustände, allerdings nur Überraschung und Spannung: Vgl. Madell 2002, S. 8–16 und S. 37 f. Vgl. mein Abschnitt 1.5. 27 Vgl. Madell 2002, S. 45–50. 28 Vgl. Madell 2002, S. 58 f. 29 »The Dry Salvages«, in: T. S. Eliot, Four Quartets, London 1944, zit. nach Madell 2002, S. 40. Vgl. dazu auch M. Morris 2012, S. 579 (M. Morris vertritt allerdings keine Evokationstheorie musikalischer Expressivität). 30 Vgl. dazu auch die Erfahrungsberichte von Probanden in Gabrielsson/Lindström 2003, S. 174 f., zum Beispiel die von Alf Gabrielsson und Siv Lindström Wik identifizierten Unterkategorien »The world around disappears«, »Experience of wholeness« oder »Enter into the music, feel one with the music, merge with the music«. 25 26

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Wesen musikalischer Expressivität

»in virtue of its structural organization, pure instrumental music may surprise and possibly startle us, and, as well, engender certain varieties of suspense and frustration. To the extent that we are willing to call these formally induced states emotions–emotions whose objects are the music– instrumental music can be said to elicit emotional responses« 31

In der Passage lässt Carroll durchblicken, dass er zögert, die von der Musik evozierten affektiven Zustände wie Madell mit Emotionen gleichzusetzen, und dies aus gutem Grund. Freilich sind die von musikalischen Ereignissen evozierten affektiven Zustände, die ich mit der prediction response erkläre, objektgerichtet. Außerdem folge ich Madell und Robinson in ihrer Kritik an klassischen kognitivistischen Urteilstheorien der Emotionen (wie sie etwa auch vom frühen R. C. Solomon vertreten worden sind). 32 Trotzdem scheue ich davor zurück, die bei der prediction response evozierten affektiven Zustände als vollwertige Emotionen zu klassifizieren. Dies liegt vor allem an der Vielzahl der beim involvierten Hören musikalischer Werke evozierten affektiven Zustände. Nur schon in einer kurzen Passage, in einem Takt etwa, werden unzählige Erwartungen unterschiedlicher Art auf verschiedenen Ebenen aktualisiert. 33 Meistens werden gleichzeitig manche Erwartungen erfüllt, manche enttäuscht. Denn erst dadurch wird die musikalische Faktur als kohärent, gleichzeitig aber nicht als monoton wahrgenommen. Dem Hörer werden dabei die aus Aktualisierungen einzelner Erwartungsspiele resultierenden affektiven Zustände nicht voneinander separiert gewahr, sondern eher als hedonisch konfigurierte Summen (oder Differenzen) der Vielzahl evozierter Gefühle. Er gibt sich einem Fluss, einem Strom von hedonischen Summen evozierter affektiver Zustände hin. Mir scheint daher der Begriff der Emotion für die seinem affektiven Erleben von Verläufen musikalischer Werke zugrunde liegenden Einzelaffekte

Carroll 2003, S. 546 f. Carroll beschränkt aber seine Explikation musikalischer Expressivität nicht auf die Evokation der erwähnten affektiven Zustände. Ich werde auch gegen eine Beschränkung plädieren, vor allem im folgenden Abschnitt 4.2. Darüber hinaus umreißt Carroll genau die Position, gegen die Madell vehement opponiert. Er nimmt an, Musik könne (objektlose) Stimmungen ausdrücken, jedoch keine Emotionen. Vgl. Carroll 2003, S. 521–525 und S. 545–552. 32 Carroll erwähnt in der zitierten Stelle explizit den startle-Effekt. Robinson nimmt diesen Effekt zum Anlass einer Kritik an allzu kognitivistisch ausgerichteten Emotionstheorien. Vgl. Robinson 1995. Zu meiner Diskussion von R. C. Solomons Emotionsphilosophie vgl. Abschnitt 1.2.2. 33 Vgl. dazu mein Abschnitt 3.1.3. 31

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Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel

unangemessen. Deswegen werde ich für die evozierten Einzelaffekte in der Folge den Begriff der Mikroemotionen verwenden. 34 Ich fasse zusammen: Verfolgt ein Hörer formale Verläufe musikalischer Werke involviert, so wird er affiziert, sofern ein Erwartungsspiel in Schwung kommt, das heißt, sofern das Werk weder zu monoton noch zu chaotisch organisiert ist. Evoziert werden zahlreiche Mikroemotionen unterschiedlicher Intensität und Valenz, die aus der Aktualisierung verschiedener Arten von Erwartungen auf verschiedenen musikalischen Ebenen resultieren. Empirisch kann die Evokation in Anlehnung an Huron mit der prediction response erklärt und anhand einiger aktueller Studien auch belegt werden. Selbst akustische Stimuli, die wie im Fall der Musik in der Regel unmittelbar nicht auf eine Gefahr für uns hindeuten, können affektive Zustände (Mikroemotionen) auslösen. Mikroemotionen erleben wir, weil wir für unser Überleben auf die Verlässlichkeit unserer Erwartungen selbst angewiesen und weil der für uns basale Erwartungsmechanismus so sensitiv kalibriert ist, dass er auch beim Hören musikalischer Werke vorbewusst aktiv ist.

4.1.2. Evokation starker Reaktionen: Lachen, Schrecken und Schauder Im vorhergehenden Abschnitt habe ich die Evokation von Gefühlen diskutiert, die alleine auf die prediction response zurückzuführen sind. Beim Hören musikalischer Werke werden bisweilen aber auch Reaktionen ausgelöst, an denen die reaction und appraisal response beteiligt sind. Diese Reaktionen kommen zwar eher selten vor. Jedoch sind sie meist, weil sie mit starken physiologischen Reaktionen einhergehen, dermaßen intensiv, dass wir sie besonders gut erinnern. 35 Deswegen können sie in Beschreibungen von Musik, die der musikalischen Erfahrung gerecht werden sollen, nicht außer Acht gelassen Zu Hurons Verwendungsweise des Begriffs der Mikroemotion vgl. Huron 2003, S. 417. Levinson spricht von »›subemotional‹ reactions«, »microfeelings« oder »microresponses«, die Musik evozieren könne. Vgl. Levinson 1996b, S. 112–115. Matthias Vogel hat mir vorgeschlagen, von »propriozeptiven Gefühlen« zu sprechen. 35 Vgl. Huron 2003, S. 25 f. Starke Reaktionen beziehungsweise ihre physiologischen Korrelate weisen empirisch nach (allerdings pauschal auf Musik bezogen, nicht nur auf Werke absoluter Musik, ermittelt durch Fragebögen): Sloboda 1991, insbesondere S. 123, und Gabrielsson/Lindström Wik 2003, insbesondere S. 210. 34

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Wesen musikalischer Expressivität

werden. In diesem Abschnitt möchte ich daher kurz drei solche Reaktionen besprechen, die für unsere musikalische Erfahrung charakteristisch sind, und zwar die Evokation von Lachen, Schrecken und Schauder. Dabei müssen die den Reaktionen entsprechenden Ausdruckskorrelate beim Hören nicht zu beobachten sein. Auch dann werden aber die Reaktionen vom Hörer erlebt. Dabei richten sich die Reaktionen, wie die bereits erörterten Mikroemotionen der Überraschung und Freude, auf musikalische Ereignisse. Da es sich beim Schrecken (mit anschließender Bewunderung) und dem Schauder um Reaktionen handelt, die als Einzelereignisse signifikant sind, sind sie als musikgerichtete Emotionen zu klassifizieren. Kant schreibt: »Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.« 36

Kant verwendet den Begriff der Erwartung im Zusammenhang einer Erklärung der Evokation des Lachens. Auch in absolutmusikalischen Werken wird mit, allerdings vorbewussten, Erwartungen gespielt. Es verwundert deshalb nicht, dass mit Aufführungen absolutmusikalischer Werke bei einen aufmerksamen Hörer Lachen evoziert werden kann. Die Reaktion ist dann zu beobachten, wenn Erwartungen massiv verletzt werden. 37 Häufig wird die Reaktion mit deutlichen Brüchen der musikalischen Faktur herbeigeführt (als Beispiel denkbar wäre etwa, dass unvermittelt in die Trauer ausdrückende, schleppende Sarabande der Flötenpartita in a-Moll BWV 1013 von Johann Sebastian Bach ein rasantes Thema aus dem Bebop eingefügt würde). Ebenfalls wird die Reaktion oft durch Verletzungen von veridischen Erwartungen verursacht, die meist zu vielfältigen Brüchen mit der eigentlichen Faktur eines Werkes führen. Eine massive Verletzung von Erwartungen führt zu einer stark negativen prediction response. Jedoch steht diese vor allem mikroemotional wirksame Reaktion nicht im Vordergrund einer Erklärung der heftigen Reaktion des Lachens. Vielmehr ist Lachen als Reaktion auf Musik mit der ITPRA-Theorie aus dem Widerspruch zwischen einer deutlich KdU, B225 [hervorgehoben bei Kant]. Vgl. Huron 2003, S. 26 f. Am Beispiel dreier Streichquartette Haydns diskutiert das Phänomen Clemens Kühn. Kühn spricht ebenfalls von einem Spiel mit Erwartungen. Jedoch verwendet er den Begriff des Erwartungsspiels nur für diese Beispiele, das heißt nicht in so weitreichendem Umfang wie in der vorliegenden Untersuchung. Vgl. Kühn 2007, S. 195 f.

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Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel

negativen, schnellen reaction response (die massive Überraschung lässt Unheilvolles erwarten) und einer positiven, deutlich beruhigenden, langsamen appraisal response (musikalische Stimuli haben in der Regel keine Kausalzusammenhänge zu Gefahren) zu erklären. 38 Die physiologische Reaktion des Lachens kann evolutionsbiologisch dadurch erklärt werden, dass wir unseren Organismus rasch in höchste Leistungsbereitschaft bringen, sich zugleich aber ein Entspannungserlebnis durch die langsamere Bewertung (appraisal response) einstellt, sodass die angestaute Energie durch stoßweises Ausatmen abgebaut wird. Überdies wollen wir, da Lachen insbesondere auch soziale Funktionen hat, mit unserem Gesichtsausdruck und unseren Lauten zeigen, »es schon begriffen zu haben«, dass kein Unheil droht. 39 Die Schreckreaktion kann im Fall der Musik so beschrieben werden, dass wir nach einer überraschenden Wendung rasch einatmen, dann aus Furcht erstarren, den Atem anhalten, und dass die Furcht dann nach und nach langsam nachlässt und sich in Verwunderung wandelt. Dabei raubt uns das Wahrgenommene für einen Moment buchstäblich unseren Atem. 40 Wiederum scheint die Ursache dieser Reaktion darin zu liegen, dass die reaction von der appraisal response aufgewogen wird. Huron räumt ein, dass die Reaktion von Musik nur sehr selten evoziert werde: 41 Über Eigenschaften musikalischer Passagen, die die Reaktion mit sich brächten, könne nur spekuliert werden. Er vermutet, dass sie begünstigt werde durch eine hohe Lautstärke, »große« Instrumentierungen und (auf dem Ereigniszeitpunkt) ausgehaltene Akkorde. Maßgeblich für die Abgrenzung zur Schreckreaktion (mit anschließender Bewunderung) vom Lachen scheint zu sein, dass beim Lachen die Auflösung des Widerspruchs zwischen reaction und appraisal response vergleichsweise rasch erfolgt, wohingegen bei der Schreckreaktion der Fokus eine Weile auf dem überraschenden Stimulus bleibt, der unsere Wahrnehmung für einen Moment überfordert und dadurch in seinen Bann zieht, beispielsweise auf einem irisierenden, »kolossalen« 42 , lauten und lange ausgehaltenen Akkord. Vgl. Huron 2003, S. 29. Vgl. Huron 2003, S. 28–31. 40 Vgl. Huron 2003, S. 31–33 und S. 288 f. Kant spricht von einem Gefühl des Erhabenen. Vgl. KdU, insbesondere B74–B102. 41 Vgl. Huron 2003, S. 289 f. 42 Konečni 2005, S. 27. Vgl. dazu auch KdU, B89. 38 39

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Wesen musikalischer Expressivität

Bei der Schauderreaktion wird bei uns ebenfalls zunächst auf die Musik gerichtete Furcht ausgelöst, und zwar durch musikalische Überraschung und insbesondere durch eine plötzlich auftretende oder mit einem Crescendo angezielte sehr hohe Lautstärke. Es läuft einem dann kalt den Rücken hinunter, und wir bekommen bisweilen eine Gänsehaut. 43 Die Lautstärke befördert die Furcht insofern, als wir mit ihr hohe Energie in Verbindung bringen und damit eine physische Bedrohung für uns. 44 Im Extremfall kann es sogar sein, dass sich die Furcht dadurch erklärt, dass wir uns angesichts der Lautstärke um unser Gehör sorgen. In einem solchen Ausnahmefall wird die kausale Entkoppelung, die unsere musikalische Erfahrung kennzeichnet, aufgehoben. Denn unsere Furcht konzentriert sich dann auf die kausale Quelle von musikalischen Klängen, beispielsweise auf Instrumente. Auch die musikalische Schauderreaktion transformiert sich aber ins Angenehme dadurch, dass uns durch die appraisal response gewahr wird, dass für uns keine Gefahr besteht, wie sie uns die reaction response affektiv bekundete, und dass wir uns in der Folge entspannen.

4.1.3. Kontrastive Valenz und das Problem negativer affektiver Zustände Die drei eben erörterten starken Reaktionen haben folgende Gemeinsamkeit: Sie werden unter dem Strich deutlich als lustvoll erlebt. Ihnen geht die Evokation affektiver Zustände negativer Valenz voraus (Überraschung und/oder Furcht), die dann aber zeitnah aufgewogen wird von einer Reaktion positiver Valenz, aus einer Erleichterung darüber, dass die ästhetische Rezeptionssituation sich uns üblicherweise als sichere, geschützte präsentiert, frei von den Tücken und Gefahren des Alltags. 45 Kontrastive Valenz, das heißt die Aufhebung von Schmerz in Lust, kennzeichnet die beschriebenen starken Reaktionen. Kant sieht in kontrastiver Valenz das kennzeichnende Merkmal des Gefühls des Erhabenen, das ihm zufolge zwei affektive

Vgl. Huron 2003, S. 34. Die Schauderreaktion wird in zahlreichen empirischen Studien nachgewiesen, die sich allerdings nicht immer nur auf absolutmusikalische Passagen beziehen. Vgl. etwa Goldstein 1980, Sloboda 1991, Panksepp 1995, Blood/ Zatorre 2001, Gabrielsson/Lindström Vik 2003, Craig 2005 und Grewe et al. 2007 44 Vgl. Huron 2003, S. 35. 45 Vgl. dazu auch KdU, etwa B104. 43

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Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel

Momente umfasst: 46 Einerseits ein Gefühl der Unlust (nach dem erläuterten Ansatz wäre eher von psychischem Schmerz zu sprechen), das dadurch entstehe, dass wir von einem Gegenstand überwältigt werden, ihn nicht als ganzen überblicken oder kontrollieren können, andererseits ein Gefühl der Lust, das dadurch ausgelöst werde, dass uns dann unser »Vermögen zu widerstehen« 47 , unsere Fähigkeit zur Transzendenz, gewahr werde. Je schmerzvoller das erste Gefühl der Ohnmacht ausfalle, desto intensiver erlebten wir die darauf folgende Lust. Die positive Komponente in Kants Erklärungsansatz ist eine reflexive, auf ein distinkt menschliches Vermögen gerichtete Lust. Huron erläutert die Lustkomponente demgegenüber nicht transzendentalphilosophisch, sondern evolutionsbiologisch. Dabei ist es eine Annahme seiner Überlegungen, dass sich die den ästhetischen Reaktionen zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen evolutionär an Alltagssituationen ausgeprägt haben. 48 Die Verarbeitung affektiver Prozesse findet nicht alleine im limbischen System statt. Doch es spielt dabei eine prominente Rolle. Die Funktionsweise des Systems ist antagonistisch. 49 Die starken positiven Reaktionen bei der Rezeption von Musik sind deswegen so intensiv, weil in ihnen erwartete Schmerzen als Verstärker auftreten. Huron bringt zur Erklärung der Reaktionen ein Beispiel aus dem Alltag: 50 Wir werden von einem Wolf überrascht, der uns plötzlich gegenübertritt. In dem Augenblick – wir empfinden dabei Furcht vor dem Wolf – werden in aller Eile massenhaft Ressourcen aktiviert. Zum Beispiel wird unsere Konzentration gesteigert, die Durchblutung von Muskeln und damit die Herzrate erhöht. Diese unvermittelte (oder auch länger anhaltende) Anstrengung der Mobilisierung dürfte der physiologische Hintergrund der negativen hedonischen Valenz der Furcht sein. Entscheidend ist aber, dass vorsorglich auch schmerzlindernde oder euphorisierende Hormone

Vgl. KdU, insbesondere B96–B110. KdU, B104. 48 Vgl. dazu auch Rozin 1999. 49 Vgl. insbesondere R. L. Solomon 1980, und Rozin 1999. 50 Vgl. Huron 2011, S. 152 f., dazu auch Rozin 1999 und Huron 2006, S. 23. Rozins Standardbeispiel ist die Einnahme von Chilipfeffer als Nahrungsmittelzusatz. Chilipfeffer löst durch Reizung oder geringfügige Schädigung des Gaumengewebes ein brennendes Gefühl aus. 46 47

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Wesen musikalischer Expressivität

ausgeschüttet werden, Endorphine, Dopamin 51 und, wie Huron vermutet, auch Prolaktin. Der evolutionäre Zweck dieser Hormone ist folgender: Die Situation lässt eine erhebliche körperliche Anstrengung erwarten, die mit Schmerzen verbunden ist, und in extremis auch schmerzvolle körperliche Verletzungen. Die Hormone steigern unsere Überlebenschancen insofern, als sie die Qualen, sollten sie eintreten, so lindern, dass wir nicht durch Schmerzen gelähmt in der Gefahrensituation erstarren, sondern durch die Hormone befähigt werden, trotz aller Pein um unser Leben zu kämpfen. Mit der vorsorglichen Ausschüttung der schmerzlindernden und euphorisierenden Hormonen soll sichergestellt werden, dass selbst in der extremen Stresssituation das hedonische Gleichgewicht gewahrt bleibt. Was geschieht aber in der nicht-alltäglichen Situation der Rezeption musikalischer Werke? Wie gesagt handelt es sich um eine Situation, in der wir uns in bewusster Sicherheit vor alltäglichen Gefahrenpotentialen und der damit verbundenen Anstrengungen oder Schmerzerfahrungen befinden. Daraus folgt ein Ungleichgewicht zu unseren Gunsten. Denn die vorsorglich ausgeschütteten Hormone werden in der Rezeptionssituation gerade nicht kompensiert durch Schmerzen aus der Bekämpfung von Gefahren. Bei den starken Reaktionen resultiert ein massiver »Überschuss« an schmerzlindernden oder euphorisierenden Hormonen. Da der Subtrahend in der nichtalltäglichen Situation verschwindend klein ist, ist die Valenz der bei den starken Reaktionen evozierten affektiven Zustände unter dem Strich deutlich positiv. Und je stärker die kurzfristigen Zustände negativer Valenz ausfallen, desto stärker werden Ressourcen zur Gefahrenabwehr mobilisiert, unter anderem auch Glückshormone zur Linderung der in der Alltagssituation erwarteten Schmerzen, das heißt, umso intensiver sind die resultierenden affektiven Zustände positiver Valenz. 52 Durch bewusste Manipulation von Situationen versuchen wir, den Mechanismus der kontrastiven Valenz so zu kontrollieren, dass der Ausgang mit großer Wahrscheinlichkeit deutlich positiv ist. Der Fall der Musik wie auch der Kunst ist nur ein Beispiel einer solchen Manipulation, allerdings ein subtiles. Andere Beispiele sind etwa das Vgl. Salimpoor et al. 2011. Die kurzfristigen evozierten Zustände dürfen nur innerhalb bestimmter Grenzen negativ ausfallen. Ein allzu heftiger Schmerz würde uns nachhaltig beeinträchtigen und die positive Folgewirkung überdecken. Vgl. Rozin 1999.

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Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel

Fallschirmspringen (und andere Risikosportarten), Sport allgemein, sadomasochistische Praktiken oder bestimmte Ernährungsgewohnheiten (Rozins Beispiel: Chilipfeffer). 53 Jedoch sind die Praktiken insofern im Vergleich zur musikalischen Praxis oder zur Kunstpraxis unvollkommen, als sie körperliche Risiken einschließen oder Schäden nach sich ziehen. 54 Die Ablösung von der Kausalität des ungeschützten Alltags gelingt in den Praktiken nicht ganz. Dagegen müssen im Fall der Musik in der Regel keine der genannten Nachteile in Kauf genommen werden, um starke positive Reaktionen erfahren zu können. Diese werden ermöglicht durch die Kunstfertigkeit von aufführenden und komponierenden Musikern, die es zustande bringen, den Mechanismus auch mit harmlosen Stimuli zu aktivieren, wobei ihnen seine pessimistische Kalibrierung entgegenkommt. Darüber hinaus scheint die Musik als Praxis zur Evokation starker Reaktionen abwechslungsreicher zu sein als etwa das Fallschirmspringen oder die Einnahme von Chilipfeffer. Denn die zur Evokation erforderlichen Stimuli präsentieren sich bei der Musik in mannigfaltigen Formen und Gestalten. Bei den in Abschnitt 4.1.1. erörterten Mikroemotionen kann die appraisal response keine kompensierende Wirkung entfalten. Denn die prediction response richtet sich auf die Zuverlässigkeit des Erwartungsmechanismus ungeachtet der praktischen Folgen der (korrekt oder falsch) prognostizierten Ereignisse. Die bei der prediction response evozierten Mikroemotionen sind überdies nicht immer nur negativer Valenz. Es ist aber denkbar, dass einige Mikroemotionen nacheinander negativ ausfallen, auch wenn sie in der Regel – bei der Ich behaupte nicht, dass der Wert der Praktiken für uns allein in den Gratifikationen aus kontrastiver Valenz liegt. Andere mögliche Wertkomponenten behandle ich aber aus Platzgründen nicht, außer Wertkomponenten von Musik in Abschnitt 5.1.1. 54 Überraschungsaffekte spielen bei all den genannten Praktiken eher eine untergeordnete Rolle. Beim Fallschirmspringen, wenigstens bei einem der ersten Sprünge, dürfte die Furcht vor dem Absturz deutlich intensiver sein als im Fall der Schreckreaktion auf musikalische Ereignisse. Zudem besteht ein echtes Unfallrisiko. Beim Sport kommen wir zwar in den Genuss von euphorisierenden Hormonen, allerdings nicht ohne uns davor angestrengt (und uns dabei kleinste Muskelverletzungen zugezogen) zu haben. Bei sadomasochistischen Praktiken, die ebenfalls mit echten Risiken behaftet sind, werden buchstäblich Schmerzen zugefügt. Der Überschuss an euphorisierenden oder schmerzlindernden Hormonen wird auch durch die Sexualisierung der Szenen und damit der Überblendung von Schmerzen erzielt. Bei den Ernährungsgewohnheiten werden ebenfalls – auch wenn vernachlässigbare – temporäre Schädigungen (des Gaumengewebes) in Kauf genommen. 53

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Wesen musikalischer Expressivität

Musik handelt es sich meist, wie erläutert, um ein vielschichtiges Geschehen – begleitet werden von positiven Mikroemotionen auf anderen musikalischen Ebenen. Somit könnte gesagt werden, dass sich die Mikroemotionen, die für die (affektive) Erfahrung von Musik insofern wesentlich sind, als starke Reaktionen nur selten auftreten, einfach aneinanderreihten und am Ende eines Stückes sogar eine negativ konfigurierte hedonische Summe ergeben könnten. In dem Fall lohnte sich die musikalische Erfahrung hedonisch nicht. Doch wird ein solcher Fall in praxi nicht zu beobachten sein. Vielmehr behaupte ich, dass die erlebten Mikroemotionen unter dem Strich immer positiv ausfallen. Ich erlebe zum Beispiel diejenigen Bachchoräle als »am schönsten«, das heißt als am lustvollsten, in denen vielfach musikalische Erwartungen verletzt werden, deren Text meist von Schmerzen oder Trauer handelt und deren Expressivität auf tertiärer Eigenschaftsebene mit diesen affektiven Zuständen identifiziert werden kann. Erstens ist zu vermuten, dass ein positiver Überschuss nur schon deswegen resultieren muss, weil ansonsten ein musikalisches Werk nicht als kohärent wahrgenommen werden könnte. Damit ein Spiel mit musikalischen Erwartungen in Schwung kommen kann, muss die Mehrzahl der gehegten Erwartungen sich erfüllen. Enttäuschte musikalische Erwartungen sind nur möglich, wenn sich musikalische Erwartungen mehrheitlich erfüllen. Musikalische Werke werden durch die Erfüllung von Erwartungen zusammengehalten (beispielsweise durch wieder aufgenommene Motive, schematische Wendungen oder repetitive rhythmische Muster). Zweitens ist insbesondere tonale Musik dadurch geprägt, dass wenigstens am Ende von Werken meist Auflösungen stehen. Der Gang durch zahlreiche tonale Räume führt zurück zur Ausgangstonart, die oft mit markanten Schlusskadenzen befestigt wird. Auch Melodien werden häufig auf die erste Tonartstufe zurückgeführt. Mit den Auflösungen werden außerdem insbesondere formale Erwartungen erfüllt. Die Auflösungen wirken umso intensiver, je weiter der tonale oder harmonische Weg ist, der zum Ziel der Ausgangstonart zurückgelegt werden muss. Je weiter die Distanz zum Ziel ist, desto stärker sind unsere Erwartungen nach einer Rückkehr, das heißt, desto intensiver werden uns die Rückführungen affektiv gewahr, die sich oft als eine Kaskade erfüllter Erwartungen zeigen, als eine Klammer, die ein Werk zusammenhält. Wir erleben sie als Reihe schrittweiser Entspannung. Wird ein Stück unvermittelt an einem beliebigen Punkt abgebrochen (ein Beispiel wäre 216 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel

etwa durch einen plötzlichen technischen Defekt an einem Radio), so erleben wir dies als unangenehm. Wir ärgern uns über den Abbruch, weil er Schmerzen verursacht. Denn in dem Augenblick werden auf verschiedenen musikalischen Ebenen zahlreiche Erwartungen gleichzeitig enttäuscht, wodurch zahlreiche Mikroemotionen negativer Valenz evoziert werden. Schließlich kann drittens der Schluss eines Werkes insofern entspannend wirken, als das Erwartungsspiel damit abgeschlossen wird, und zwar selbst wenn ein Werk ohne aufwendig inszenierte Schlussauflösungen endet. Es könnte gesagt werden, dass die beim Hören eines Werkes gebildeten Erwartungen dann ultimativ aufgelöst werden. Oder anders gewendet: Es wird dann die basale formale Erwartung erfüllt, wonach ein Stück an einem Punkt endet. Das Erwartungsspiel kommt damit zur Ruhe, was auch zu einer merklichen kognitiven Entspannung führt, da das involvierte Hören unsere Aufmerksamkeit stark beansprucht und auf die Dauer ermüdet. 55 Die Valenz sowohl der beim Hören musikalischer Werke evozierten starken Reaktionen als auch Mikroemotionen fällt in der für die Musik als Kunstform gängigen Rezeptionssituation unter dem Strich mithin immer positiv aus. Daraus folgt eine Auflösungsperspektive auf ein kunstphilosophisches Problem, das insbesondere Ansätze zur musikalischen Expressivität betrifft (wie etwa den in der vorliegenden Untersuchung propagierten), in denen der Evokation affektiver Zustände wesentliches systematisches Gewicht zukommt. Das Problem besteht darin, dass sich Zuhörer freiwillig affektiven Vgl. Goldman 1992, S. 42. Wie Grüny am Beispiel der Musikfolter zeigt, kann die ermüdende Wirkung darauf zurückgeführt werden, dass wir uns Musik als akustischem Medium nicht entziehen können. Denn im Gegensatz zu unseren Augen können wir unsere Ohren nicht schließen. Zudem wirke »Musik als Musik« insofern ermüdend, als sie invasiv sei. Wir sind so disponiert, dass wir sie kognitiv verarbeiten und dann vor allem zwingend bewusst affektiv erleben. Grüny spricht davon, dass Musik durch die Evokation affektiver Zustände »diffus« Ansprüche an uns stellt, vor allem wenn sie laut dargeboten wird, die wir aber in der von ihm diskutierten Foltersituation nicht erfüllen können. Vgl. Grüny 2011. Wir können den Ansprüchen in der Regel auch in der Konzertsituation nicht nachkommen. Nur ist diese durch Begrenzung und daher durch kontrastive Valenz gekennzeichnet. Ich habe in diesem Kapitel einige biologische Mechanismen erörtert, die die Ansprüche bewirken könnten. Musikfolter zeichnet sich dadurch aus, dass die Hörer denselben Werken über eine sehr lange Zeit ausgesetzt werden. Was in der Foltersituation zum Schaden des Opfers über eine lange Zeit ausbleibt, ist die Entspannung durch den Abschluss eines Werkes und die damit verbundene kontrastive Valenz.

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Wesen musikalischer Expressivität

Zuständen negativer Valenz aussetzen, das heißt, wenn auch moderaten, Schmerzen. Lust und Schmerz haben die biologische Funktion von Motivatoren. Dies wirft die Frage auf, aus welchen Gründen wir uns musikalische Werke anhören, ja gerade diejenigen Werke besonders schätzen, die affektive Zustände negativer Valenz evozieren. 56 Dieses Problem stellt sich einem Theoretiker nicht, der einen kognitivistischen Ansatz befürwortet, etwa einem Konturtheoretiker wie Kivy. Zwar würde auch er nicht bestreiten, dass Musik affektive Zustände negativer Valenz ausdrücken könne, zum Beispiel Traurigkeit. Doch erblickt er den wesentlichen Zusammenhang zwischen der Musik und den ihr zugeschriebenen affektiven Zuständen nicht in der Evokation (von Mikroemotionen), sondern einzig in einer Ähnlichkeit von musikalischen und affektiven Konturen. Das Erkennen solcher Ähnlichkeiten verursacht keine Schmerzen, im Gegenteil: Es wird lustvoll erlebt. Der Ausdruck negativer affektiver Zustände hat nach dem konturtheoretischen Ansatz keine demotivierenden Effekte auf den Hörer. Eine Stärke des konturtheoretischen Ansatzes kann also darin gesehen werden, dass das Problem negativer affektiver Zustände gar nicht erst aufkommen kann. 57 Doch wie dargelegt halte ich den konturtheoretischen Ansatz für eine Explikation musikalischer Expressivität tertiärer Ebene für ungeeignet. Welche Lösungen sind zu dem Problem evozierter negativer affektiver Zustände vorgeschlagen worden? Da es sich um ein einschlägiges musikphilosophisches Problem handelt, bin ich gezwungen, mich auf eine Auswahl von Ansätzen zu beschränken. Ich möchte auf die Positionen von Alan Goldman, Levinson und S. Davies eingehen. Für eine erste Art von Lösungsvorschlägen typisch ist, dass sie sich auf den Unterschied zwischen alltäglicher und ästhetischer Situation stützen. Für Goldman etwa liegt der Reiz absoluter Musik darin, dass sie – insbesondere im Vergleich zu repräsentationalen Vgl. zu der Problemstellung Kivy 1989, S. 235 f., S. Davies 1994, S. 307 und Levinson 1997a, S. 215 f. Die klassische Formulierung des allgemeinen kunstphilosophischen Problems negativer affektiver Zustände stammt von Jean-Baptiste Dubos. Vgl. Dubos, Avant-propos. Dubos bringt unter anderem einen Lösungsvorschlag, den ich hier nicht weiterverfolge. Er besagt, dass wir bei uns evozierte negative affektive Zustände in Kauf zu nehmen bereit sind, da (auch solche) Kunst uns vor unserer Langeweile zu befreien vermag. (Der Vorschlag ist den Kosten-Nutzen-Positionen zuzuordnen, die ich unten beschreibe; allerdings ist dies nur eine Lösungsmöglichkeit, die Dubos anspricht.) 57 Vgl. Kivy 1989, S. 245, und S. Davies 1994, S. 307. 56

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Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel

Kunstformen – »eine alternative, aber immer noch menschliche Welt« 58 darstelle und damit eine Art Flucht von unserer alltäglichen gegenwärtigen Welt erlaube. In der Musik stoße der menschliche Geist nicht an alltägliche Widerstände, sondern könne sich frei entfalten: »[Music] is a world that can be completely satisfying and fully revealing of the creative powers of other minds« 59

Goldman betont, dass Musik eine ihr eigene Teleologie aufweise, keine alltäglich praktische. In der Welt der Musik seien wir zwar aktiv involviert, aber nicht praktisch. 60 Goldmans nur implizit formulierter Lösungsansatz kann so verstanden werden, dass er annimmt, ähnlich wie bei den obigen Überlegungen zu starken ästhetischen Reaktionen, dass musikalisch evozierte negative affektive Zustände dadurch aufgehoben würden, dass Musik keine wirklichen praktischen Konsequenzen auf unser Leben habe. Goldmans eskapistische Werttheorie der absoluten Musik setzt bei deren Abstraktheit an. Freilich ist seine Hörtheorie als präskriptive verständlich. Absolute Musik begünstigt ein Hören ohne Weltbezug dadurch, dass ihr repräsentationaler Gehalt nicht unmittelbar erschlossen werden kann, wenn überhaupt. Angesichts der vielen Defizienzen gesellschaftlicher Zustände ist überdies das Bedürfnis nachvollziehbar, absolute Musik als autonomes Medium, als Medium der Weltflucht aufzufassen. Absolute Musik muss nicht notwendigerweise repräsentational gedeutet werden, um ein (insbesondere affektives) Verstehenserlebnis zu ermöglichen und dadurch für uns ästhetisch wertvoll zu werden, weil sie einen Sinn bereits auf tertiärer Ebene besitzt. Dennoch entstehen auch Werke absoluter Musik in sozialen, politischen oder ökonomischen Kontexten, und diese schlagen sich häufig auch in den abstrakten Strukturen und Prozesse nieder. Ja gerade absolute Musik selbst als Medium der Weltflucht ist als musikalische Entwicklung des späten 18. und dann des 19. Jahrhunderts nur vor dem Hintergrund der damaligen gesellschaftlichen Umwälzungen zu verstehen (zunehmende soziale Verelendung, Folgen der IndustrialiGoldman 1992, S. 42. Die Welt des Musikalischen ist Goldman zufolge deswegen menschlich, weil sie Affektivität umfasst. Darin sieht er den Unterschied zwischen seinem Ansatz und einem rein formalistischen. Vgl. Goldman 1992, S. 44, FN 17. 59 Goldman 1992, S. 43. 60 Vgl. Goldman 1992, S. 39 f. 58

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Wesen musikalischer Expressivität

sierung und Vereinsamung des Individuums). Nur sind Einflüsse wie diese im Rahmen eines Kontextes weiterer Werke absoluter Musik, das heißt einer sozial instituierten Hörpraxis, nicht intersubjektiv nachweisbar – im Gegensatz zu den Strukturen und Prozessen selbst und der von ihnen in der Regel evozierten affektiven Zustände bei einem involvierten Hörer. Allerdings – dies habe ich in meiner Diskussion der Unvollendeten im zweiten Kapitel erörtert – sind bestimmte repräsentationale Kontexte für Deutungen von Werken absoluter Musik plausibel und können sich im Rahmen von offenen Werkdiskursen verfestigen. Goldman blendet in seinem Ansatz die quartäre Ebene musikalischer Eigenschaften absichtlich aus. Von diesem Einwand unbeeinträchtigt bleibt aber Goldmans Lösungsvorschlag zum Problem negativer Emotionen. Levinson schlägt eine ähnliche Lösung des Problems negativer affektiver Zustände wie Goldman vor. Er formuliert sie etwas expliziter als Goldman: »Emotional responses to music typically have no life implications, in contrast to their real counterparts. The ›sadness‹ one be made to feel by sympathetically attending to music has no basis in one’s extramusical life, signals no enduring state of negative affect, indicates no problem requiring action, calls forth no persisting pattern of behavior, and in general bodes no ill for one’s future« 61

Zunächst stößt auf, dass wir nach Levinson zwar sympathetisch auf (absolute) Musik reagieren – dies erklärt seines Erachtens die musikalische Evokation affektiver Zustände bei uns –, aber dass gleichzeitig diese Reaktionen, so sie negativ ausfallen, gelindert werden dadurch, dass Musik keine praktischen Konsequenzen für uns habe. Es wäre schlicht kohärenter, die Linderung für evozierte affektive Zustände positiver und negativer Valenz zu behaupten. Auf Levinsons Personentheorie bin ich bereits kritisch eingegangen. 62 Der Lösungsvorschlag Goldmans und Levinsons deckt sich mit der Antwort, die auch von der Evolutionsbiologie zur kontrastiven Valenz starker Reaktionen auf Musik gegeben wird. Negative affektiven Zustände wer-

Levinson 1997a, S. 231 [Hervorhebung von Levinson]. Levinson diskutiert eine Reihe von Lösungsvarianten zum Problem der durch Musik evozierten negativen affektiven Zustände, darunter auch solche, die unter die folgende zweite Kategorie fallen (Kosten-Nutzen-Erwägungen). 62 Vgl. mein Abschnitt 2.2.2.3. 61

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Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel

den unmittelbar in positive umgewandelt, wenn uns bewusst wird, dass uns musikalische Stimuli keine Gefahren signalisieren. Anders verhält es sich mit den durch die prediction response evozierten Mikroemotionen. Wie ich schon mehrfach unterstrichen habe, hängt diese Reaktion nicht davon ab, ob Ereignisse für uns praktisch relevant sind oder nicht. Mit ihr wird einzig und allein die Zuverlässigkeit unserer Erwartungen evaluiert und, indem die Reaktion affektive qua motivationale Zustände mit sich bringt, gesteuert. Die Reaktion initiiert einen vorbewussten Lernprozess als evolutionsbiologisch gesehen überlebensnotwendige praktische Konsequenz, eine permanente Nachjustierung unseres Erwartungsmechanismus, ohne dass dabei grundsätzlich zwischen musikalischen (oder allgemein ästhetischen) und alltäglichen Erwartungen unterschieden wird. Entgegen Levinson hat die prediction response überdies ihren Ursprung in unserem (für die Selektion der ihr zugrunde liegenden Module relevanten) Alltag. Wenn, wie ich es tue, angenommen wird, dass die evozierten Mikroemotionen als uns bewusste Bestandteile des musikalischen Erwartungsspiels nicht nur unsere musikalische Erfahrung allgemein prägen, sondern auch die Expressivität musikalischer Werke auf tertiärer Eigenschaftsebene bestimmen, so scheinen Goldmans und Levinsons Vorschläge das Problem negativer affektiver Zustände nur mit Blick auf die evozierten starken Reaktionen, also nicht vollständig zu lösen. Ich komme damit zu einer zweiten Art von Lösungsvorschlägen. Bei diesen wird eingeräumt, dass Musik affektive Zustände evoziert, die wir als negative erleben. Es wird nicht angenommen, dass ihre Valenz aufgehoben wird. Proponenten solcher Lösungsvorschläge haben jedoch eine Antwort auf die Frage, weswegen wir uns negativen affektiven Zuständen aussetzen sollten. Sie verweisen dabei auf eine grundlegende Eigenheit des Menschen. Wir seien nämlich in der Lage, im Unterschied zu weniger entwickelten Tieren, Gratifikationen anzustreben, die wir erst verzögert, häufig erst nach langfristigem Einsatz erhalten können. 63 Wir vermögen es, langfristige Durststrecken auszuhalten und Schmerzen in Kauf zu nehmen für einen Gewinn, der kurzfristig nicht zu erlangen ist. Wenn wir uns somit nach Auch die Phasen der Erarbeitung können mit lustvollen Momenten einhergehen. Sie müssen es in der Regel auch, wie ich unten argumentieren werde. Intrinsische Motivation setzt diese voraus. Die formale Gratifikation erfolgt aber häufig erst am Schluss des Arbeitsprozesses.

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Wesen musikalischer Expressivität

der zweiten Art von Lösungsvorschlägen durch Musik evozierten negativen affektiven Zuständen aussetzen, so tun wir dies aus KostenNutzen-Erwägungen. 64 Eine Variante eines solchen Lösungsvorschlages wäre die folgende: Es könnte auf die Sinnerlebnisse verwiesen werden, die absolute Musik schon auf tertiärer Ebene ermöglicht. Es könnte also behauptet werden, dass auch musikalische Werke, die negative affektive Zustände evozierten, Sinnerlebnisse tertiärer Ebene ermöglichten. Dabei sticht der Einwand nicht, dass doch auch Werke, die keinerlei Affekte negativer Valenz evozierten, Sinnerlebnisse ermöglichten und dass daher unverständlich bliebe, weswegen wir uns Werke anhörten, bei denen negative affektive Zustände evoziert würden. Denn das Erwartungsspiel, das den Sinnerlebnissen zugrunde liegt, kommt nur in Schwung, wenn Erwartungen nicht allesamt erfüllt und damit positive Mikroemotionen ausgelöst werden, sondern wenn sie bisweilen auch enttäuscht werden, das heißt, wenn uns Verläufe musikalischer Werke bisweilen überraschen. Die von uns in Kauf zu nehmenden negativen Mikroemotionen wären mithin die Kosten des Erwartungsspieles und der evozierten Sinnerlebnisse tertiärer Ebene. Mit Blick auf eine ganzheitliche Rezeption musikalischer Werke, das heißt auch unter Berücksichtigung ihrer quartärer Eigenschaften, könnte eine weitere Variante formuliert werden. Wenn in Kunstwerken (auch) soziale, ökonomische und politische Themen verhandelt werden oder sie zumindest sich in den Werken niederschlagen, dann ist offensichtlich, dass mit den Werken nicht nur positive affektive Zustände ausgedrückt werden können, sondern häufig auch menschliches Leiden in all seinen Erscheinungsformen. Wenn absolute Musik, wie ich zum Beispiel gegen Goldman vorgebracht habe, nicht ein von der Wirklichkeit entrückter Kosmos, nicht ein Domizil für Weltflüchtige sein kann, dann muss sie auch schmerzvolle Aspekte des menschlichen Lebens umfassen. Mikroemotionen negativer Valenz sind nach dieser Variante der Preis dafür, dass Werke absoluter Musik, wenngleich in epistemisch prekärer Weise, auf quartärer Ebene Bezüge zur gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Wirklichkeit aufweisen können. Dadurch bieten sie uns eine Möglichkeit zur Verständigung über diese Wirklichkeit. S. Davies ist ein Proponent dieser Art von Lösungsvorschlag. Vgl. S. Davies 1994, S. 310–320. Meine im Folgenden ausbuchstabierten Varianten weichen von seiner Position ab.

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Evokation von Gefühlen im musikalischen Erwartungsspiel

Ich bin mit Proponenten von Kosten-Nutzen-Argumenten darin einig, dass Musik, namentlich auch absolute Musik, für uns nicht nur als Quelle von Lusterlebnissen wertvoll ist. Jedoch scheint es mir unplausibel anzunehmen, bei allen denkbaren kompensatorischen Wertaspekten, dass sich eine kulturelle Praxis längerfristig etablieren kann, die von uns systematisch abverlangt, affektive Zustände negativer Valenz hinzunehmen. Denn es ist zu bedenken, dass systematisch evozierte Schmerzgefühle stark demotivierend wirken. 65 Proponenten der Lösungsvariante des Kosten-Nutzen-Kalküls haben bisweilen ein klischeehaft heroistisches, wirklichkeitsfernes Menschenbild. 66 Zwar sind wir in der Lage, Durststrecken auf uns zu nehmen und auszuhalten, aber in der Regel nur in begrenztem Maß. Ab einem bestimmten Punkt werden wir schmerzvolle Erfahrungen systematisch zu vermeiden suchen. Meine These lautet, dass Musik als persistente Praxis deswegen so verbreitet ist, weil sie vom involvierten Hörer sowohl – unter dem Strich immer – lustvoll erlebt wird, als sie auch Wertaspekte umfasst, die über unmittelbar verfügbare hedonische Gratifikationen hinausgehen. Es ist diese Kombination aus hedonischen Gratifikationen 67 und weitergehenden Wertaspekten, die Musik für uns dermaßen attraktiv macht, dass sie als kulturelle Praxis kaum mehr wegzudenken ist. Dass die Persistenz der Praxis auf einer Kombination von Wertaspekten beruht, scheint nicht zuletzt unser alltäglicher Umgang mit Musik zu belegen. Wir genießen sowohl die synchrone Erfahrung der Musik (affektive Wahrnehmung tertiärer Eigenschaften musikalischer Werke), als wir auch von dieser Erfahrung dazu angeregt werden, über das musikalisch Geschehene nachzudenken, es in absolutmusikalische und in verschiedene repräsentationale Kontexte zu Vgl. zur biologischen Funktion von Lust und Schmerz als Motivatoren Rozin 1999. S. Davies behauptet etwa, dass wir die Anstrengungen und Schmerzen beim Sport aushalten, weil uns langfristige extrinsische Erträge winken, zum Beispiel eine bessere Gesundheit, Frische im Alltag und eine längere Lebenserwartung. Vgl. S. Davies 1994, S. 318 f. Ich bezweifle, dass die Praxis sich weltweit verbreitet hätte ohne die entspannenden hedonischen Wirkungen des Mechanismus der kontrastiven Valenz, die der Sport mit sich bringt – neben weiteren intrinsischen Erträgen (etwa der Lust am Spiel). Wir sind nicht so masochistisch, wie es uns S. Davies unterstellt. 67 Solche Gratifikationen wie auch das Gefühl der Ganzheitlichkeit, das mit vollkommen involviertem Hören einhergeht, könnten deswegen für uns so attraktiv sein, weil sie Kompensationen für die Fragmentierung des modernen Lebens in nicht mehr in Einklang zu bringenden Sphären des Ökonomischen, Politischen, Privaten und Politischen bieten. Vgl. Houlgate 2010. 65 66

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Wesen musikalischer Expressivität

stellen und es darin zu deuten (reflexive Erschließung quartärer Eigenschaften musikalischer Werke). Die kritische wie auch die musikwissenschaftliche Betrachtung musikalischer Werke berücksichtigt in der Regel beide Eigenschaftsebenen. Musikalische Werke enthalten eine Palette von Aspekten, die für uns in unterschiedlicher Weise wertvoll sind. 68

4.2. Musikalische Evokation von Gefühlen und musikalische Expressivität 4.2.1. Probleme der Identifikation von Evokation und Expressivität Im vorangehenden Abschnitt habe ich die Frage erörtert, welche Gefühle beim involvierten Hören (absoluter) Musik evoziert werden. In Anlehnung an Hurons ITPRA-Theorie menschlicher Erwartungen habe ich die biologischen Mechanismen beschrieben, die zur Evokation von Gefühlen und affektiven Reaktionen beim Hören führen. Dabei habe ich unterschieden zwischen Mikroemotionen unterschiedlicher Valenz und Intensität (Überraschung und Erleichterung), die aus der prediction response auf musikalische Stimuli erfolgen, und starken Reaktionen (Lachen, Schrecken und Schauder), die aus dem Nacheinander der schnellen und groben reaction response und der langsameren, aber präziseren appraisal response erfolgen. Weiter habe ich den Mechanismus der kontrastiven Valenz erläutert, der bewirkt, dass unter dem Strich die hedonische Summe der evozierten Gefühle immer eine positive Valenz aufweist. Auf diesen evozierten Gefühlen und (affektiven) Reaktionen beruhen nicht nur unsere metaphorischen Zuschreibungen von Eigenschaften der Räumlichkeit, Bewegung oder Gerichtetheit zu musikalischen Werken, sondern auch von Eigenschaften der Spannung oder der menschlichen Affektivität. Doch wie genau hängt musikalische Expressivität mit den genannten evozierten Gefühlen und Reaktionen zusammen? Allein mit der Evokation einzelner Mikroemotionen lässt sich die wenigstens grobe Bestimmtheit von Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken nicht erklären, noch nicht einmal die Zuschreibungen an sich. Denn im musikalisch induzierten Spiel mit Erwartungen wird ständig eine Vielzahl von Mikroemotionen 68

Vgl. mein Abschnitt 5.1.1.

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Musikalische Evokation von Gefühlen und musikalische Expressivität

evoziert. Im Verlauf eines Stückes werden verschiedene Arten von Erwartungen auf verschiedenen musikalischen Ebenen erfüllt oder verletzt. Wie dargelegt ist es darüber hinaus häufig so, dass gleichzeitig Mikroemotionen gegensätzlicher Valenz evoziert werden, sodass sich deren Wirkung gegenseitig aufhebt. Selbst musikalische Werke, die wir nicht als expressiv bezeichnen würden, evozieren zahlreiche Mikroemotionen. Die kontinuierliche Evokation von Mikroemotionen durch eine geschickte Anlage eines musikalischen Erwartungsspiels ist eine Mindestvoraussetzung formaler Gelungenheit musikalischer Werke, nicht aber eine hinreichende Bedingung für musikalische Expressivität. Unsere Praxis der Zuschreibung von Affektprädikaten zu musikalischen Werken spricht dagegen, musikalische Expressivität mit der Evokation einzelner Mikroemotionen gleichzusetzen. Wenn wir beispielsweise behaupten, ein Stück drücke Freude aus, so beziehen wir uns kaum auf die Evokation einzelner Mikroemotionen. Die Zuschreibung betrifft nicht nur die Übereinstimmung von nur einer Erwartung und dem aktuellen Verlauf der Musik. Noch deutlicher wird der Punkt an der Mikroemotion der Überraschung. Wenn wir zum Beispiel von einer überraschenden Wendung sprechen, dann meinen wir, dass die Wendung unter Berücksichtigung ihres absolutmusikalischen Kontextes unwahrscheinlich ist und daher buchstäblich überraschend wirkt. Nur aus der Wendung folgt nicht, dass der Passage gerechtfertigt Überraschung als Ausdrucksprädikat zugeschrieben werden kann. Formal gelungene musikalische Werke enthalten notwendigerweise überraschende Wendungen. Nicht alle formal gelungenen musikalischen Werke drücken aber Überraschung aus. Es kann sogar bezweifelt werden, ob mit musikalischen Werken überhaupt Überraschung ausgedrückt werden kann. Denn wir sagen kaum, dass Musik Überraschung ausdrücke, genauso wenig Ekel oder komplexe Emotionen wie zum Beispiel Eifersucht, Schuld oder Liebe. 69 WähÜberraschung wird in der Liste der am häufigsten musikalischen Werken zugeschriebenen (perceived in the music, nicht: durch Musik evozierte affektive Zustände, die in der Erhebung auch untersucht werden) Affektprädikate von Marcel Zentner, Didier Grandjean und Klaus Scherer nicht aufgeführt. Vgl. Zentner/Grandjean/Scherer 2008, S. 498 f. Die Faktoranalyse in der Erhebung führt zu einem ähnlichen Resultat wie meine Unterscheidung der durch Musik evozierten affektiven Zustände. Zentner/Grandjean/Scherer unterscheiden drei Gruppen von evozierten Gefühlen. Ein Gefühl des Erhabenen (übereinstimmend mit meiner Kategorie der starken affektiven Reaktionen auf Musik, aufgehoben durch kontrastive Valenz), ein Gefühl posi-

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Wesen musikalischer Expressivität

rend wir Musik häufig vor einer repräsentationalen Deutung übereinstimmend Freude, Euphorie, Heiterkeit oder Fröhlichkeit zuschreiben (wohlverstanden: nicht im Sinne einzelner evozierter Mikroemotionen), so zählen zu den einschlägigen Prädikaten der Expressivität affektiver Zustände negativer Valenz meistens Traurigkeit, Sehnsucht, Melancholie, Depression, und darüber hinaus (seltener) auch Wut, Aggression oder Angst. 70 Ich möchte versuchen, die Pointe des vorangehenden Absatzes etwas technischer zu erklären. Madell liegt in seiner Bestimmung der intentionalen Objekte der durch Musik evozierten affektiven Zustände freilich richtig. Die Zustände richten sich auf formale musikalische Ereignisse. Auf die durch die prediction response ausgelösten Mikroemotionen bezogen: Die Mikroemotion der Erleichterung richtet sich auf ein musikalisches Ereignis, das unsere subpersonalen musikalischen Erwartungen bestätigt, die der Überraschung auf ein Ereignis, das unsere Erwartungen enttäuscht. Ebenso richten sich die starken affektiven Reaktionen auf musikalische Ereignisse. Lachen wird etwa evoziert durch ein unsere Erwartungen stark verletzendes musikalisches Ereignis, und es richtet sich auf dieses. Doch Madell übersieht, dass sich die inhaltlichen Objekte der bei der Rezeption musikalischer Werke evozierten Gefühle und Reaktionen (musikalische Ereignisse, die genau identifiziert werden können) unterscheiden von denjenigen der Zuschreibungen, mit denen wir die Expressivität eines Werkes charakterisieren (diese Objekte sind auf tertiärer Ebene nicht genau bestimmt). Wenn wir zum Beispiel sagen, ein Stück drücke Traurigkeit aus, dann meinen wir nicht, dass sich diese Traurigkeit auf musikalische Ereignisse richtet. Die Zuschreibung ist zum Beispiel nicht so zu verstehen, dass sich die Traurigkeit auf einen Dominantseptakkord richtet. Vielmehr ist – wenigstens auf tertiärer Ebene, das heißt vor einer repräsentationalen Deutung der Musik – offen, worauf sich die ausgedrückte Traurigkeit richtet. 71 Mit tiver (übereinstimmend mit meiner Kategorie der Mikroemotion der Erleichterung) und ein Gefühl negativer Valenz (übereinstimmend mit meiner Kategorie der Mikroemotion der Überraschung). Die Unterscheidung dieser drei Arten von durch Musik evozierten Gefühlen scheint empirisch robust. Vgl. Zentner/Grandjean/Scherer 2008, S. 507. 70 Vgl. zu der Liste Ellsworth 1994a, S. 195. 71 Die Offenheit ist kein exklusives Merkmal der durch Musik ausgedrückten affektiven Zustände. Ich habe im ersten Kapitel betont, dass affektive Zustände ein Spektrum bilden, das von Emotionen – affektiven Zuständen mit genau bestimmten inten-

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Musikalische Evokation von Gefühlen und musikalische Expressivität

absoluter Musik lässt sich auf tertiärer Eigenschaftsebene keine intentional genau bestimmte Traurigkeit ausdrücken, etwa die Traurigkeit über eine bestimmte verpasste Chance, sondern nur ein grob bestimmter affektiver Zustand der Traurigkeit (was das heißt, werde ich in Kürze näher erläutern) – nicht die Emotion der Traurigkeit über einen bestimmten Sachverhalt. Die Offenheit, das heißt die nur grobe Bestimmtheit expressiver Zuschreibungen auf tertiärer Eigenschaftsebene, ist Bedingung für einen wesentlichen Teil unseres Umganges mit musikalischen Werken, nämlich der Praxis ihrer repräsentationalen Deutung. Die Offenheit regt zu einer näheren Bestimmung der expressiven Zuschreibungen an. Nach dem Ansatz Madells erübrigte sich die weitergehende Beschäftigung mit beim Hören rezipierten expressiven Eigenschaften. Es finden sich in seinen Schriften keine Anhaltspunkte für eine theoretische Integration der Praxis repräsentationaler Deutung von Werken absoluter Musik, ebenso wenig ein Versuch, sie »wegzuerklären«. Madells Position liegt insofern nah am (großzügigen) extended formalism Kivys, als er anerkennt, dass absolute Musik expressive Eigenschaften auf tertiärer Eigenschaftsebene enthalten kann (Madell vertritt allerdings eine Evokationstheorie tertiärer expressiver Eigenschaften, keine Konturtheorie), aber bestreitet, dass sie (expressive) Quartäreigenschaften aufweise. Gemäß Madell drückt das Adagietto aus Mahlers fünfter Sinfonie »bedauernde Nostalgie« aus. Zum Beginn des Satzes schreibt Madell: 72 »The base [!] note at the beginning of the third bar resolves the ambiguity and conveys a sense of arriving home … but this is counterbalanced by the yearning appogiatura in the treble line, which itself finally resolves … creating an intense feeling of fulfilment. But again the melodic line departs on another yearning quest, and sinks into other points of repose, and so on. The sense of luxuriating in the present state followed by longing for some

tionalen Objekten – bis zu Stimmungen – affektiven Zuständen mit unbestimmten beziehungsweise allumfassenden intentionalen Objekten – reicht. Die durch Musik (im Sinne von Expressivität) ausgedrückten affektiven Zustände erfordern keine Sonderexplikation. Sie sind keine affektiven Zustände sui generis. Vgl. mein Abschnitt 1.2.3.1. 72 Um es zu unterstreichen: Madells These ist es dabei gerade nicht, dass diese genaue Bestimmung aus der repräsentationalen Deutung grob bestimmter expressiver Eigenschaften folgt, sondern dass allein die auf die Musik gerichteten, beim Hörer evozierten Gefühle die Bestimmung der Expressivität von Musik ermöglichen.

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Wesen musikalischer Expressivität

other point of repose matches exactly the emotional pattern of feeling which is distinctive of regretful nostalgia. And it expresses this distinctive quality of emotion, not in evoking a sort of regretful nostalgia in general without determinate object, but in evoking a pattern of emotional response of which all the strands are directed to features of the music … Music, in evoking a pattern of emotion, mirrors the essential shape and substance of human experience« 73

4 & b4 Ó



molto rit.

œ œ -œ -œ -

pp

,

a tempo (sehr langsam)

pp

Ϫ

œ œ œ seelenvoll

, œ ™ œ œ nœ ™ & b œ œ ™ œ œ œ œ™ œJ J espress.

Abb. 8: Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 5, 4. Satz, Beginn der Violinen (T. 2–6)

Der entscheidende Begriff in der zitierten Stelle ist der des »Musters«. Madell nimmt an, dass affektive Zustände mit genau bestimmtem Objekt, das heißt Emotionen wie etwa »bedauernde Nostalgie«, so etwas wie paradigmatische »Muster« von Gefühlsfolgen aufweisen. Im Grunde genommen ist Madells Gedankengang vergleichbar mit dem von S. Davies, der ebenfalls den Ausdruck (selbst) komplexer Emotionen auf tertiärer Ebene in musikalisch arrangierten Abfolgen einfacherer affektiver Zustände begründet sieht. (S. Davies zufolge sind die einfacheren affektiven Zustände aber musikalisch nicht durch Evokation, sondern durch Ähnlichkeiten bestimmt.) 74 Ich bin skeptisch, ob es verbindliche Muster einfacher affektiver Zustände gibt, die komplexe Emotionen bestimmen können. Komplexe Emotionen können uns in der Form vieler verschiedener »Muster« widerfahren. Darüber hinaus bestimmen tertiäre Eigenschaften die Expressivität der Passage nicht so spezifisch, wie er behauptet. Er flunkert mit Scheinpräzision, die so auf tertiärer musikalischer Eigenschaftsebene nicht nachzuvollziehen ist. Die Kombination von sich erfüllenden 73 74

Madell 2002, S. 127 f. [Hervorhebungen: S. Z.]. Vgl. zum Ansatz von S. Davies mein Abschnitt 2.2.2.3.

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Musikalische Evokation von Gefühlen und musikalische Expressivität

und verletzten Mikroemotionen sind in musikalischen Werken in der Regel ubiquitär. Ebenso finden sich in musikalischen Werken häufig Rückführungen auf vorher etablierte tonale Zentren. Außerdem reicht der Verweis auf die musikalische Evokation von Gefühlen und affektiven Reaktionen nicht aus, die komplexe Emotion der »bedauernden Nostalgie« zu bestimmen. Es verwundert nicht, dass Madells Schilderung teilweise auf einer Deutung beruht, die er vor einem repräsentationalen Kontext vornimmt. So interpretiert er die Stelle vor dem Hintergrund der Metapher der Heimat, des Aufbruches und der Ankunft (»home«, »quest«, »arriving«). Ich kann hier aus Platzgründen nicht weiter diskutieren, ob seine Deutung plausibel ist oder nicht. Jedenfalls sind die repräsentationalen Elemente, die seine Schilderung enthält, nicht Teil der tertiären Eigenschaftsebene des Werkes. Allenfalls könnte gesagt werden, dass die Ausgangstonart eine Art vorbewusste »tonale Heimat« darstelle, da in der Passage starke subpersonale Erwartungen nach einer Rückkehr zu der Tonart gebildet werden. Bewusst gewahr wird uns in der Passage eine Mischung einer Vielzahl von Mikroemotionen, das heißt von Mikroemotionen der Überraschung (darüber, dass die harmonische und melodische Bewegung nicht ganz zur Ruhe kommt) und der Erleichterung (über harmonische und melodische Auflösungen). Madell verbindet in seiner überpräzisen affektiven Charakterisierung der Stelle synchrone und asynchrone Momente der Rezeption musikalischer Werke miteinander.

4.2.2. Signifikanz der evozierten Gefühle im absolutmusikalischen Kontext Mein Haupteinwand gegen Madells Ansatz ist, dass die unmittelbare Gleichsetzung von Evokation und Expressivität nicht unserer Praxis der expressiven Zuschreibung von Prädikaten der menschlichen Affektivität zu musikalischen Werken entspricht. Madell könnte seinen Ansatz als philosophisches Korrektiv zu einer aus seiner Sicht unverständlichen Praxis verstehen. Jedoch bleibt er eine einsichtige Erklärung dafür schuldig, wie – seinem Ansatz gemäß – allein die durch musikalische Werke evozierten Gefühle (und nicht eine präzisierende repräsentationale Deutung) deren Expressivität derart genau zu bestimmen vermögen, wie er es in seinen eigenen präzisen expressiven Charakterisierungen suggeriert. 229 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Wesen musikalischer Expressivität

Nichtsdestotrotz behaupte ich, dass die durch Musik evozierten Gefühle deren Expressivität fundamental bestimmen. Nur ist der Zusammenhang von Evokation und Expressivität nicht so unmittelbar wie bei Madell zu denken. Durch Evokation ist die Expressivität von Musik nur grob bestimmt. Ich möchte im Folgenden den Zusammenhang herausarbeiten, indem ich auf unsere affektive Erfahrung von Musik zurückkomme. Wie dargelegt liegen sämtliche formal gelungene Werke, das heißt Werke, bei deren involviertem Hören ein vorbewusstes Erwartungsspiel in Schwung kommen kann, in einem Bereich zwischen formaler Monotonie und formalem Chaos. Sämtliche formal gelungenen Werke evozieren, innerhalb dieses Bereiches, im Rahmen des Erwartungsspiels unzählige Mikroemotionen sowohl negativer (Überraschung) als auch positiver Valenz (Erleichterung). Innerhalb des Bereiches besteht aber ein diskretionärer Gestaltungsspielraum: Je geordneter ein Werk gestaltet ist, desto mehr Mikroemotionen positiver Valenz werden evoziert, je chaotischer, desto mehr Mikroemotionen negativer Valenz. Ferner kann sich die Intensität der evozierten Mikroemotionen unterscheiden. Es ist dieser Spielraum, der es Komponistinnen und Komponisten erlaubt, die Expressivität ihrer Werke auf fundamentaler Ebene zu gestalten. Musikalisch evozierte Mikroemotionen nehmen wir summarisch wahr. Als einzelne sind sie nicht salient und expressiv kaum signifikant, im Gegensatz zu den evozierten starken affektiven Reaktionen. Unsere Erfahrung musikalischer Werke ist geprägt von dynamischen Verläufen von Summen akustischer Ereignisse, im Erwartungsspiel folglich von salienten hedonischen Summen evozierter Mikroemotionen, die durch ihre Valenz und Intensität hedonisch konfiguriert sind. Wir erleben musikalische Werke als ein affektives Auf und Ab. Auch dies reicht jedoch nicht aus, um sie als expressiv zu bezeichnen. Denn das Auf und Ab kann sich so präsentieren, dass die Spannung aufrechterhalten wird, aber Schwellen der Signifikanz um die »Mittelachse« zwischen Ordnung und Chaos nicht überschritten werden. Erst wenn die Schwellen der Signifikanz überschritten werden – die Möglichkeit besteht nach beiden Seiten bis zur Schwelle des Bereichs zwischen formaler Monotonie und formalem Chaos – sprechen wir von expressiven Werken. 75 Wo die erwähnten Grenzen liegen, wäre empirisch zu untersuchen. Ich habe in Abschnitt 4.1.1. betont, dass der alltägliche Erwartungsmechanismus äußerst sensitiv (übersensitiv) kalibriert sei, und dies (unter anderem) Voraussetzung dafür sei, dass

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Musikalische Evokation von Gefühlen und musikalische Expressivität

Der Begriff der expressiven Signifikanz ist für meine Explikation musikalischer Expressivität zentral. Mit dem Begriff soll der Unterschied zwischen expressiver und nicht-expressiver Evokation von Mikroemotionen auf fundamentaler tertiärer musikalischer Eigenschaftsebene musikalischer Werke markiert werden. Dabei handelt es sich um einen quantitativen Unterschied. Momente der mikroemotionalen Überraschung und Erleichterung prägen auch nicht-expressive Werke. Expressive musikalische Werke sind dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen die hedonischen Konfigurationen von Summen evozierter Mikroemotionen zeitweise deutlich einseitig geprägt und deswegen in unserer idealen Wahrnehmung salient sind. Durch Übergewichtung von Mikroemotionen negativer Valenz werden negative affektive Zustände musikalisch ausgedrückt, durch dir Übergewichtung von Mikroemotionen positiver Valenz positive affektive Zustände. Madell überschätzt die Signifikanz einzelner Mikroemotionen. Erst eine Menge von zeitweise in der hedonischen Summe deutlich positiv oder negativ ausfallender Mikroemotionen, das heißt ein deutlicher Überschuss entweder an erfüllten oder an verletzten musikalischen Erwartungen, lässt uns ein Werk als expressiv bezeichnen. Expressive Signifikanz wird geschaffen durch zeitweise einseitige Übergewichtung der Evokation von Mikroemotionen entweder positiver oder negativer Valenz. Kompositorisch kann die Gewichtung durch eine entsprechende formale Anlage eines Werkes gestaltet werden, da die affektive Erfahrung von Musik bei Normalbedingungen der Wahrnehmung tertiärer Eigenschaften von Aufführungen musikalischer Werke meist nicht maßgeblich von subjektiven Faktoren abhängt, sondern zwischen den Hörern übereinstimmend mit der Struktur der gehörten Werke korreliert. Der absolutmusikalische Kontext spielt somit auch bei der Bestimmung musikalischer Expressivität eine wichtige Rolle. Denn schematische musikalische Erwartungen werden in einem Kontext ausgeprägt. Verletzte oder erfüllte schematische Erwartungen stehen immer – als Abweichungen oder konforme Verläufe – in Bezug zu idealtypischen Formen einer bestimmten musikalischen Epoche oder eines bestimmten musikalischen Stils. Um die expressive Signifikanz Aufführungen musikalischer Werke den Mechanismus aktivieren können. Insofern wäre zu vermuten, dass der musikalisch (in engerem Sinne) fruchtbare Bereich sehr weit ist. Akustisches Chaos und akustische Monotonie sind buchstäblich per definitionem nur als »Anti-Musik« erfahrbar. Vgl. FN 1 meines dritten Kapitels.

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Wesen musikalischer Expressivität

evozierter Gefühle zu beurteilen, bedarf es bisweilen nicht nur eines Gespürs für ihr Maß – im Vergleich mit dem Maß evozierter Gefühle bei expressiver Insignifikanz. Insbesondere, wenn wir zwar grundlegend mit einem Kontext vertraut sind, aber nicht in der Tiefe, scheint es unerlässlich, unsere aufgrund der evozierten Gefühle getroffenen Urteile bewusst zu reflektieren und weitere Werke aus dem Vergleichskontext heranzuziehen. Dazu ein Beispiel: Angenommen, ein Hörer, vertraut besonders mit der Musik der Klassik und Romantik, trifft zum womöglich ersten Mal auf eine picardische Terz am Ende eines Bach-Chorals. 76 Zunächst wird er dieses harmonische Ereignis als deutlich überraschend affektiv wahrnehmen und sich fragen, ob der Akkord allein expressiv signifikant sei. Erst der Vergleich von mehreren Moll-Chorälen wird ihm zeigen, dass die Durtonika üblicher Akkord am Ende eines MollChorales ist. Sie entspricht dem idealtypischen Verlauf eines Mollchorales. Hat der Hörer also erst einmal mehrere Choräle in Moll gehört, wird ihn der Schlussakkord, auch wenn er ihm weiter auffallen wird, nicht mehr derart stark überraschen, sondern er wird ihn eher als stilistisches Mittel der Abwechslung erleben. Er wird den Akkord allein dann kaum als expressiv signifikant beurteilen. Während wir also häufig ohne Weiteres in der Lage sind, die expressive Signifikanz musikalischer Ereignisse angemessen zu beurteilen, so sind wir bisweilen darauf angewiesen, unsere Erfahrungen intersubjektiv diskursiv zu teilen, bevor wir Urteile über die Expressivität musikalischer Werke fällen. Denn wir sind eben keine idealen Hörer, die sämtliche Ebenen und Arten musikalischer Erwartungsspiele von komplexen Werken vollständig erfassen und auch die passenden Kontexte absoluter Musik ständig greifbar haben. Insofern sind Urteile über die Expressivität musikalischer Werke irrtumsanfällig. Diskursiv lassen sich aber Aspekte der Werke, die in Urteilen nicht hinreichend gewürdigt oder gar ganz überhört wurden (im Zweifelsfall kann hier auch auf die wegen ihrer einfacheren Reduzierbarkeit in der Regel weit weniger kontroverse Form eines Werkes referiert werden), einholen, und ebenso unangemessene Kontextualisierungen vermeiden. Streite über die Expressivität musikalischer Werke auf tertiärer Eigenschaftsebene sind jedoch insofern von Streiten über Quartäreigenschaften musikalischer Werke verschieden, als Die picardische Terz ist die Durterz im Tonikaschlussakkord eines Stückes in Moll, ein im Barock gängiger harmonischer Verlauf.

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Musikalische Evokation von Gefühlen und musikalische Expressivität

sie wegen der erforderlichen Deutlichkeit zeitweise einseitiger Evokation intersubjektiv meist abgeschlossen werden können, nämlich dann, wenn Urteilen angemessene absolutmusikalische Kontexte zugrunde gelegt werden und wenn die Vielschichtigkeit des musikalischen Erwartungsspiels berücksichtigt wird. Es wäre merkwürdig, nur schon zur Diskussion zu stellen, dass der Schlusssatz von Beethovens fünfter Sinfonie auf fundamentaler tertiärer Eigenschaftsebene Melancholie ausdrücke. Lang anhaltende Streite über die fundamentale Expressivität eines musikalischen Werkes könnten Hinweise expressiver Insignifikanz sein. 77 Zur weiteren Klärung des Gesagten möchte ich drei Einwände diskutieren: Erstens könnte mir vorgehalten werden, mein Begriff der expressiven Signifikanz sei vage. Ein quantitatives Kriterium der Unterscheidung zwischen expressiver Signifikanz und Insignifikanz sei nicht genannt worden. Ein quantitatives Kriterium werde ich auch nicht vorschlagen. Doch scheint mir das Problem der Vagheit in praxi kaum virulent. Expressive Zweifelsfälle sind die Ausnahme und häufig nicht auf unklare musikalische Verhältnisse als vielmehr auf mangelnde Kenntnisse der relevanten Werkaspekte oder -kontexte zurückzuführen. Es ist Teil des Wesens musikalischer Expressivität, dass sie in unserer Wahrnehmung salient ist und deswegen auf tertiärer Ebene zwischen verschiedenen Hörern meistens rasch übereinstimmend erkannt wird. Ich werde im folgenden Abschnitt am Beispiel von Schuberts Unvollendeter zeigen, dass die Expressivität der Sätze sich in der Struktur zahlreicher musikalischer Ebenen niederschlägt und daher deutlich evoziert wird. Eine Vielzahl von Mikroemotionen weist bei expressiver Signifikanz in ein und dieselbe Richtung, selbst wenn einzelne Mikroemotionen immer gegensätzlich zur evozierten Mehrzahl ausfallen, und zwar deswegen, weil ansonsten, wie erwähnt, die Form eines Werkes auseinanderbräche. Apriorisch eine allgemeingültige scharfe Linie zwischen expressiver Signifikanz und Insignifikanz zu ziehen, wäre sachfremd. Zweitens scheinen meine Überlegungen zu expressiver Signifikanz und Bestimmtheit dem zu widersprechen, was ich zur kontrastiven Valenz von durch Musik evozierten Gefühlen erläutert habe. Mein Ansatz könnte dahingehend missverstanden werden, dass ihm Vgl. zur Fruchtbarkeit von Streiten über Tertiäreigenschaften musikalischer Werke auch mein Abschnitt 3.2.2.

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Wesen musikalischer Expressivität

gemäß die hedonisch konfigurierten Summen der beim Hören eines Werkes evozierten Mikroemotionen dessen Expressivität grob bestimmten. Denn ich habe ja argumentiert, dass musikalische Expressivität nicht vom Ausgang einzelner Erwartungsspiele abhängt, sondern durch einseitig hedonisch konfigurierte Summen evozierter Mikroemotionen grob bestimmt ist. Stimmt mein Gedankengang zum Mechanismus der kontrastiven Valenz, so werden die hedonischen Summen jedoch immer positiv ausfallen. Wenn aber die evozierten Mikroemotionen unter dem Strich immer eine positive Valenz aufweisen, und wenn (unter anderem) die hedonischen Konfigurationen der Summe der evozierten Mikroemotionen die Expressivität musikalischer Werke namentlich durch ihre Valenz bestimmen, so wäre nicht zu erklären, wie negative affektive Zustände musikalisch ausgedrückt werden könnten. Jedoch schreiben wir negative affektive Zustände musikalischen Werken oft zu. Ich bleibe dabei: Unter dem Strich weist die hedonische Summe der in einem musikalischen Werk evozierten Mikroemotionen eine positive Valenz auf, weil der Mechanismus der kontrastiven Valenz auch bei der Evokation von Mikroemotionen greift, und zwar spätestens am Schluss des Werkes. Doch zeitweise können die hedonischen Summen deutlich positiv und eben auch deutlich negativ konfiguriert sein. Es sind diese Passagen zeitweise einseitig konfigurierter summarischer Evokation, die die Expressivität eines Werkes oder von Werkteilen bestimmen. Selbst Werken, die in ihrem Verlauf teilweise oder ultimativ am Schluss aufgelöst werden und bei denen deswegen unter dem Strich eine positive Summe evozierter Mikroemotionen resultiert, können mithin negative affektive Zustände zugeschrieben werden. Drittens 78 verändern sich die Parameter des musikalischen Erwartungsspiels bei wiederholtem Hören. Allerdings verändert sich dabei unsere Bestimmung der Expressivität eines Werkes nicht. Wir schreiben musikalischen Werken stabil expressive Eigenschaften zu, nicht etwa beim ersten Hören eine andere als beim zehnten Hören. Meine Erwiderung auf diesen Einwand ist mehrteilig. Zunächst ist zu bedenken, dass schematische Erwartungen, die insbesondere unsere Erfahrung tonaler Musik, aber nicht nur, prägen, sich bei wiederholtem Hören nicht signifikant verändern. Unsere tonalen Erwartungen bilden wir vor dem Hintergrund aller jemals gehörten Werke. Das wiederholte Hören eines Werkes wird schema78

Der Einwand stammt von Matthias Vogel.

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Musikalische Evokation von Gefühlen und musikalische Expressivität

tische Erwartungen nicht groß verändern. Deswegen wird sich auch die Evokation affektiver Zustände im Spiel schematischer musikalischer Erwartungen kaum markant verändern. Was ferner viele gelungene musikalische Werke auszeichnet, ist ihre formale Tiefe. Damit meine ich, dass bei vielen Werken das Erwartungsspiel auch bei wiederholtem Hören lebendig bleibt, und zwar dadurch, dass uns ein Werk immer wieder neue Aspekte zu erkennen gibt. Somit könnte wenigstens entgegnet werden, dass das Erwartungsspiel so schnell in seiner Wirkung nicht verblasst. Darüber hinaus aber räume ich schlichtweg ein, dass das Erwartungsspiel mit der Zeit verblassen kann. Es entspricht den Phänomenen, dass wir Werke, wenn wir sie sehr oft in einem kurzen Zeitraum anhören, weniger intensiv erfahren. Dass wir dabei die Expressivität der Werke stabil beurteilen, dürfte daran liegen, dass wir dann die Expressivität distanziert betrachten. Allerdings setzt die distanzierte Betrachtung entweder voraus, dass wir das Werk schon einmal oder mehrmals intensiv wahrgenommen haben, oder sie setzt voraus, dass wir über entsprechende analytische Mittel der distanzierten Beurteilung musikalischer Expressivität verfügen. Ich habe aber einige Zweifel daran, dass eine Beurteilung musikalischer Expressivität alleine in einem distanzierten Wahrnehmungsmodus überhaupt möglich ist. Denn viele expressive musikalische Mittel verbergen sich in der musikalischen Faktur. Sie werden formal nicht ausgestellt und sind in Echtzeit nur affektiv wahrzunehmen.

4.2.3. Dimensionale Bestimmtheit menschlicher Affektivität und musikalische Expressivität Unsere Affektivität stellt sich im Alltag nicht so dar, dass ausschließlich intentional fein bestimmte Emotionen aufeinanderfolgen, über deren Objekte wir uns vollkommen gewahr sind. Viele unserer alltäglichen affektiven Zustände erfahren wir als weniger genau bestimmt. Ich habe deshalb in Abschnitt 1.2.3.1. von einem Spektrum affektiver Zustände gesprochen, die uns widerfahren können, und ich habe in Abschnitt 1.5. das Problem des Wesens musikalischer Expressivität so ausbuchstabiert, dass es nicht nur Emotionen umfasst. Nichtsdestotrotz erfahren wir auch diffuse affektive Zustände als – 235 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Wesen musikalischer Expressivität

wenigstens grob – bestimmt. Wir sind in der Lage, sie tentativ grob zu individuieren (das heißt möglicherweise bis zu dem Zeitpunkt, an dem uns die Objekte der affektiven Zustände genauer bewusst werden), und zwar anhand ihrer hedonischen Konfiguration. Es könnte gesagt werden, dass wir dabei einem Prinzip der Einfachheit folgen. Denn wir greifen in unseren tentativen Individuierungen auf Begriffe möglichst einfacher affektiver Zustände zurück. Grob tentativ individuieren wir affektive Zustände nach den beiden Dimensionen der Valenz und der Erregung (arousal), wie eine Faktoranalyse von James A. Russell zeigt. 79 Dabei stimmen die ermittelten Dimensionen und die Positionen der affektiven Zustände weitgehend bei zwei unterschiedlichen Messungen überein. Die zweidimensionale Kategorisierung resultiert sowohl aus der Analyse von rein semantischen Einordnungen von Affektprädikaten als auch aus der Analyse von subjektiven Verbalisierungen erlebter affektiver Zustände. 80 Die Anlage unserer tentativen groben Individuierung affektiver Zustände folgt ihren beiden herausragenden subjektiven Erfahrungsdimensionen. Russell selbst räumt ein, dass sein Vorschlag einer Kategorisierung Phänomene der menschlichen Affektivität nur grob erfasse und unvollständig sei. 81 Dies liegt daran, dass Intentionalitätseigenschaften affektiver Zustände unberücksichtigt bleiben. Allein aufgrund der beiden Dimensionen kann zum Beispiel kaum trennscharf zwischen Schuld und Traurigkeit unterschieden werden. Die beiden Dimensionen reichen aber dazu hin, etwa Traurigkeit von Zufriedenheit abVgl. Russell 1980, S. 1173. Das Schema von Russell in adaptierter Fassung diskutieren Prinz und Scherer. Vgl. Prinz 2004, S. 160–163, und Scherer 2005, S. 719– 721. Die Studie von Russell ist theoriehistorisch im Zusammenhang mit der Ablösung des emotionsphilosophischen Kognitivismus zu sehen. Die Studie widerspricht insofern den Ergebnissen des auch für den emotionsphilosophischen Kognitivismus richtungsweisenden Experiments von Schachter und Singer, als die hedonischen Dimensionen affektiver Zustände nach Russell diese grob bestimmen. Vgl. zu den Defizienzen des Experiments von Schachter und Singer etwa Prinz 2004, S. 70 f., Reisenzein 1983, und mein Abschnitt 1.2.3.2. 80 Vgl. Russell 1980, S. 1176 f. Bei der zweiten Messung wurde zuerst die grobe Einordnung subjektiv erlebter affektiver Zustände anhand von Dimensionen (etwa der Valenz und der Erregung) abgefragt, dann ihre verbale Charakterisierung verlangt. Es könnte mit Prinz gesagt werden, dass unsere tentativen Bestimmungen nur den »Alkohol« der affektiven Zustände berücksichtigen, nicht den darauf montierten »Geschmack«. Vgl. Prinz 2004, S. 178. 81 Vgl. Russell 1980, S. 1165 (»fuzziness«) und S. 1175 (»content factors«), und Scherer 2005, S. 721. 79

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Musikalische Evokation von Gefühlen und musikalische Expressivität

zugrenzen. Weil bei der dimensionalen Kategorisierung intentionale Objekte vernachlässigt werden, können komplexe Emotionen, etwa Schuld, Liebe oder Eifersucht, in der Kategorisierung nicht verortet werden. Mit der Angst und der Wut fallen überdies zwei unterschiedliche affektive Zustände in dieselbe Region der Kategorisierung (mittlere negative Valenz, hohe Intensität). Die Abgrenzung dieser beiden affektiven Zustände erfordert den Blick auf deren Intentionalität. Der Kategorisierungsvorschlag von Russell ist jedoch für meine Zwecke nützlich. Denn auf tertiärer Ebene können intentionale Objekte musikalisch nicht dargestellt werden. Komponisten können aber die Valenz und Intensität hedonischer Konfigurationen von Summen evozierter Mikroemotionen durch Gestaltung der Form musikalischer Werke gestalten. Die Dimension der Intensität ist mit Blick auf die summarische Evokation von Mikroemotionen durch Musik adaptiert (bei Russell arousal). Die Intensität ist abhängig von der zeitlichen Dichte der evozierten Mikroemotionen. Diese musikalisch evozierten Konfigurationen entsprechen dabei den Konfigurationen grob bestimmter alltäglicher affektiver Zustände. Darauf gründen unsere Zuschreibungen affektiver Zustände zu Werken absoluter Musik. Die folgende Abbildung illustriert diesen Kerngedanken meiner Untersuchung (vgl. S. 238). Die Abbildung zeigt in Übereinstimmung mit Russells Schema die Dimensionen Valenz und Intensität sowie die Positionen einzelner Affektprädikate, die musikalischen Werken häufig zugeschrieben werden vor ihrer repräsentationalen Deutung. Der gepunktete Innenkreis steht für eine Zone expressiver Insignifikanz. Grau unterlegt sind drei Zonen, die anhand der hedonischen Konfigurationen der zeitweisen summarischen Evokation von Mikroemotionen, so meine These, auf tertiärer musikalischer Eigenschaftsebene bestimmt sind: Erstens eine Zone, in die der Ausdruck affektiver Zustände wie etwa der Traurigkeit, Sehnsucht, Depression, Niedergeschlagenheit oder Melancholie fallen. Sie ist gekennzeichnet durch deutlich negative Valenz, aber nur mittlere Intensität (relativ zum Zeitintervall der Evokation). Zweitens eine Zone, die Wut- und Angstaffekte enthält (weniger deutlichere negative Valenz als bei der ersten Zone, dafür aber höhere Intensität). Drittens schließlich eine Zone von affektiven Zuständen positiver Valenz wie etwa der Freude, Ausgelassenheit, Begeisterung, Heiterkeit, Zufriedenheit, Entspanntheit oder innerer Ruhe. Prima facie mag die These ernüchternd erscheinen, dass anhand 237 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

.. . .. .... . . .. .... .. .. . . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . .. . .. . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . .. . .. . .. . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . .. . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . .. . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . .. . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .. .... .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .. .. .. . . .. .... .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .. .. . .. .... .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. .. .. .. .... .. .. .. . .. .... .. .. .. .. .. .. .... .. .. . .. .... .. .. .. .. .. .. .... .. .. .... .. .. .. .. .. .. ... .. .... .. .. .. .. .. . .. .... .. .. .. .. . .. .... .. .. .. .. .... .. . .. .... . .. . Wesen musikalischer Expressivität

Intensität hoch

Angst

Wut



Begeisterung

Freude

Sehnsucht

Heiterkeit

Depression Traurigkeit

+

Entspannung

Zufriedenheit

Valenz

Ruhe

tief

Abb. 9: Dimensionale Bestimmtheit musikalischer Expressivität auf tertiärer Eigenschaftsebene

von Tertiäreigenschaften musikalischer Werke nur drei Zonen von Expressivität klar unterschieden werden können. Epistemisch robuste Unterscheidungen sind nur zwischen den drei Zonen möglich, wobei sich die beiden Zonen in der Hälfte der negativen Valenz überlappen. Mir scheint aber die Möglichkeit einer lediglich groben expressiven Differenzierung auf tertiärer Eigenschaftsebene unserer Erfahrung im Umgang mit musikalischer Expressivität zu entsprechen. Auf tertiärer Eigenschaftsebene lassen sich Streite darüber schlichten, ob ein musikalisches Werk oder eine Passage daraus Traurigkeit, Heiterkeit oder Wut ausdrücke, nämlich, indem die Form eines Werkes in seinem absolutmusikalischen Kontext, das heißt die konkrete Anlage der Erwartungsspiele eines Werkes betrachtet wird. 82 Eine Einigkeit

82

Dies zeigen beispielhaft die Beschreibungen von Schuberts Unvollendeter, die ich in Abschnitt 1.1.2. diskutiert habe. Den Beschreibungen gemeinsam ist die grobe Cha-

238

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Musikalische Evokation von Gefühlen und musikalische Expressivität

über die Feindifferenzierung der Expressivität innerhalb der Zonen zu erreichen scheint auf tertiärer Eigenschaftsebene weit schwieriger, auch wenn sie im Einzelfall gelingen kann. So könnte etwa der Werkkontext vertieft werden, um dann zum Beispiel Passagen der Heiterkeit von Freude abzugrenzen aufgrund des unterschiedlichen Maßes der Intensität der evozierten Mikroemotionen. (Die Unterscheidung etwa von ausgedrückter Begeisterung und Zufriedenheit scheint in epistemisch robusterer Weise hingegen eher möglich wegen des markanten Intensitätsunterschieds.) Besonders brisant wird eine Feinunterscheidung in der Zone der Angst- und Wutaffekte. Auf tertiärer musikalischer Ebene ist die Unterscheidung nicht griffig darstellbar – so ein Korollar aus meiner These der groben Bestimmtheit musikalischer Expressivität tertiärer Ebene. Und auch vertiefende Vergleiche zwischen einzelnen Werken können das Problem nicht beseitigen. Epistemisch robuste Unterscheidungen sind, wie dargelegt, nur zwischen den Zonen möglich, und auch nur, wenn es sich nicht um Grenzfälle handelt, die im Bereich der Überlappung der beiden Zonen negativer affektiver Zustände liegen. Abgesehen von einer – teilweise allerdings auch nur bedingt hilfreichen – Verfeinerung des Gespürs durch Heranziehung weiterer Werke für das Maß evozierter Mikroemotionen gibt es zusätzlich noch Indikatoren, die einer weiteren Präzisierung musikalischer Expressivität auf tertiärer Eigenschaftsebene dienen können. Bislang habe ich in diesem Abschnitt nämlich systematisch bloß die beim involvierten Hören musikalischer Werke evozierten Mikroemotionen einbezogen, nicht aber die evozierten starken Reaktionen (Lachen, Schrecken und Schauder), die per se stets expressiv signifikant sind. Eine mikroemotionale Evokation von Positivität könnte durch die Evokation von Lachen auf tertiärer Ebene weiter präzisiert werden. So könnte beispielsweise die anhand der evozierten Mikroemotionen expressive Bestimmung einer Passage als »Positivität« ausdrückend anhand der evozierten Lachreaktion als Heiterkeit ausdrückend präzisiert werden. Oder die Evokation von Schrecken und Schauder könnte die brisante Ambivalenz der Unbestimmtheit in der Zone mittlerer negativer Valenz, aber hoher Intensität in Richtung des Ausdruckes von Angst entscheiden. Ob solche Kombinationen mirakterisierung der Expressivität des Werks. In der Feinbestimmung sind sich die Kommentatoren nicht einig.

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Wesen musikalischer Expressivität

kroemotionaler Evokation und der Evokation starker Reaktionen allerdings zu einer auf tertiärer Ebene epistemisch robusten Feinunterscheidung führen können, wage ich zu bezweifeln. 83 Die Schwierigkeit einer intersubjektiv übereinstimmenden verbalen Feinbestimmung musikalischer Expressivität auf tertiärer Eigenschaftsebene ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass die evozierten Mikroemotionen und starken Reaktionen nicht für eine Präzisierung hinreichend sind, sondern ebenso darauf, dass die verbalen Unterscheidungen verschiedener affektiver Zustände allein aufgrund von deren hedonischen Konfigurationen auch nur sehr unscharf möglich sind. Das veranschaulicht die Nähe der dimensionalen Kategorisierung der beiden überaus unterschiedlichen affektiven Zustände der Angst und der Wut. Die hedonische Unterbestimmtheit unserer alltäglichen affektiven Zustände bedingt die Unterbestimmtheit musikalischer Expressivität tertiärer Ebene.

4.2.4. Fallbeispiel: Schuberts Unvollendete, Exposition erster Satz In diesem Kapitel habe ich bisher vorwiegend abstrakt die Mechanismen hinter der Evokation von affektiven Zuständen beim Hören musikalischer Werke erörtert und, darauf aufbauend, einen Ansatz der musikalischen Expressivität tertiärer Ebene begründet. Im Folgenden möchte ich dies an meinem Schubert-Beispiel, und zwar der Exposition des ersten Satzes der Unvollendeten, illustrieren. Ich komme aus Platzgründen nicht umhin, mich auf einige wenige Aspekte zu beschränken, die exemplarisch für den Satz sind. Schon in der Einleitung werden formale Erwartungen deutlich verletzt. Sie ist nicht symmetrisch organisiert. Die Erwartung von Symmetrie ist aber eine, die wir an musikalische Formen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts am stärksten hegen. Denn sie ermöglicht einen nach leichter und schwerer Zählzeit gewichteten harmonischen Rhythmus. Wie verliefe die Einleitung symmetrisch? Der Dominantton fis am Schluss des Satzes (nach Ratz) wäre um einen Takt zu kürzen, dafür die Töne im Takt davor zu einer punktierten Halben zu verlängern. So könnte der begonnene zweitaktige rhythmische Wie im einleitenden Abschnitt 1.1.1. erläutert, vertrete ich dementsprechend eine bloß moderat affirmative Position zur expressiven Bestimmtheit auf tertiärer musikalischer Eigenschaftsebene.

83

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Musikalische Evokation von Gefühlen und musikalische Expressivität

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Abb. 10: Franz Schubert, Sinfonie Nr. 7 in h-Moll, 1. Satz, Beginn der Celli und Kontrabässe (T. 1–10)

Duktus weitergeführt werden. Dadurch veränderte sich der expressive Charakter der Stelle spürbar. Die Einleitung würde als voranschreitender, energiegeladener, als »positiver« wahrgenommen. Schubert aber hat die Einleitung ungleichmäßig gegliedert (nicht 8 = 4 + 4 = 2 + 2 + 2 + 2, sondern, nach der syntaktischen Analyse von Steinbeck, 8 = 3 + 2 + 3). 84 Von Anfang an wird also dem Hörer der expressive Charakter des Satzes wie auch des Werkes affektiv gewahr, evoziert durch die musikalisch asymmetrische Komposition der Einleitung. 85 Gleichzeitig wird mit der Verschiebung der (umgedrehte) Quintfall der Bassstimme herausgestrichen. Das Intervall der Quinte wird dabei (zusammen mit der komplementären Quarte) sowohl das erste als auch das zweite Thema des Satzes kennzeichnen. Die »Deformation« wird kompositorisch somit auch dazu eingesetzt, dem Satz musikalische Kohärenz und Einheitlichkeit insofern zu verleihen, als damit rudimentäre motivische lokale Erwartungen geschürt werden, die dann im weiteren Verlauf (teilweise) erfüllt werden. Steinbeck nennt die Einleitung denn auch eine »doppelt eröffnende Bildung … die satzbestimmende Substanz ebenso wie den Ton des Ganzen vorgibt« 86 . Erwartete Symmetrien durchbricht Schubert in der Exposition regelmäßig auch zwischen Formteilen. Das neuntaktige erste Thema setzt nach einem nur viertaktigen Vorspiel ein. Daraus ergibt sich eine Folge von ungleichen Formteilen (nicht 8 + 8 + 8, sondern 8 +

Vgl. Steinbeck 1997, S. 636. Der Hörer muss dazu die Asymmetrie der Form nicht analytisch gewahr sein. Die wenigsten Hörer werden außerdem von Anfang an »mitzählen«. Dennoch können sie die fundamentale Expressivität der Passage erfassen. 86 Steinbeck 1997, S. 636. 84 85

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Wesen musikalischer Expressivität

4 + 9). Auch das Vorspiel zum zweiten Thema ist asymmetrisch gebaut, insbesondere wenn Takt 38 noch zur Erweiterung des Hauptthemas gezählt wird. Das Vorspiel zum neuntaktigen zweiten Thema umfasst so fünf Takte. Am heftigsten dürfte die formale Hörerwartung das akzentuierte Orchestertutti im Forte-Forzato in Takt 63 nach der unvermittelten Generalpause davor erschüttern. Gewiss haben die genannten Unregelmäßigkeiten zwischen den einzelnen Abschnitten des Satzes auch den Zweck, Einsätze nicht allzu vorhersehbar und dadurch »frisch« klingen zu lassen. Mit ihnen wird aber vor allem die Expressivität des Satzes unterstrichen. Sie haben expressive Signifikanz. Die »Deformationen« der Zwischenglieder wie auch der beiden Themen verhindern, dass Schuberts Musik Fahrt aufnimmt. Eine gleichmäßig voranschreitende Bewegung wird gezielt kompositorisch unterbunden, bisweilen zerdehnt, oft plötzlich abgebrochen. Dem Hörer wird unterschwellig, das heißt durch Verletzung vorbewusster formaler Erwartungen affektiv vermittelt, dass er sich auf unsicherem Grund befindet, nicht durch akustisch plakative Ausstellung von »Deformationen«. Mit Ausnahme des Forte-Forzato stellt Schubert die Längenverhältnisse nicht nachdrücklich aus. Musikalisch wird nicht extra auf sie hingewiesen. Sie werden vielmehr kompositorisch so eingebettet und kaschiert, dass sie einem bewusst formal oft gar nicht auffallen. Dem involvierten Hörer werden sie kaum bewusst gewahr. Dennoch entfalten sie ihre affektive Wirkung. So kann gesagt werden, dass die Expressivität in die Form der Musik – situiert in einem absolutmusikalischen Kontext – einbeschrieben ist. Sie ist »in« der Musik. Nicht nur auf formaler, sondern auch auf instrumentatorischer, rhythmischer, harmonischer und melodischer Ebene greift Schubert in der Exposition oft zu Mitteln, um Hörerwartungen zu verletzen. Bereits in Abschnitt 3.3.4. habe ich auf einige harmonische und melodische Eigenheiten der beiden Themen hingewiesen, insbesondere mit Bezug auf deren Gerichtetheitseigenschaften. Das erste Thema gewinnt seinen Antrieb aus der Chromatik, die bereits in den 16teln der einführenden Takte wirkt. Es wäre unverhältnismäßig, der Chromatik in diesen Takten expressive Signifikanz zuzuschreiben. Im Gegensatz dazu steht die Chromatik im ersten Thema, namentlich die dynamisch und rhythmisch markierte tiefalterierte Quinte f in Takt 18. Das f überrascht insofern, als die Melodie zuvor zweimal auf fis begonnen hat. An der Stelle hat die Chro242 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Musikalische Evokation von Gefühlen und musikalische Expressivität

matik nicht in erster Linie eine energetische Funktion. Vielmehr prägt sie die Expressivität des Themas. Dem zweimaligen chromatischen Anlauf der Achtel folgt nicht eine aufhellende Öffnung des Themas, sondern eine markante Trübung der Stimmung, und mit der Synkopierung verpufft auch die Kinetik der melodischen Aufwärtsbewegung. Weiter fällt die ungewöhnliche Unisono-Koppelung von Oboe und A-Klarinette im ersten Thema auf. Eine Oktavdoppelung würde mehr Strahlkraft entfachen. Der herbe Unisonoklang hingegen passt zur gedämpften Stimmung, die das Thema ausdrücken soll. Noch einmal sei die doppelte Bedeutung der Chromatik und der besonderen Unisono-Koppelung auf tertiärer Ebene herausgestrichen: Einerseits haben diese kompositorischen Mittel den Zweck, eine Balance zwischen musikalischer Abwechslung und Kohärenz zu wahren. Andererseits werden, durch gezielte Enttäuschungen lokaler und schematischer Erwartungen auf verschiedenen musikalischen Ebenen, Gefühle evoziert, denen expressive Signifikanz zukommt. Charakteristisch für das zweite Thema ist die Drehbewegung der Melodie. Das Thema ist melodisch so angelegt, dass es sich nicht zu einem Ziel hinbewegt und somit nur durch plötzlichen Unterbruch abgeschlossen werden kann. Der Unterbruch überrascht uns deutlich, das heißt, wenn mit ihm nicht sogar eine Schreckreaktion evoziert wird, dann wenigstens Mikroemotionen negativer Valenz, die expressiv signifikant sind. Zudem wird bereits während des Themas eine Spannung aufgebaut, da unseren Erwartungen nach melodischer Entwicklung nicht entsprochen wird. Steinbeck betont in seiner Analyse die Gegensätze zwischen erstem und zweitem Thema (»Drängen« versus »Behaglichkeit«). 87 Beide Themen haben aber auch Parallelen, vor allem in der Gestaltung ihrer inneren Bewegung und damit in ihrem expressiven Gehalt. Beide setzen erst ein, nachdem eine regelmäßige Begleitbewegung etabliert worden ist. Sie beginnen außerdem beide mit prägnanten Motiven (Quint- beziehungsweise Quartfall). Doch die Ausgangskinetik läuft ins Leere. Die Motive werden bloß unverändert erneut gebracht – die Takte 15/16 entsprechen 13/ 14, die zwei ersten Schläge von Takt 44 denjenigen in Takt 47. Auch die in ihrer überleitenden Entwicklung aufgenommene Energie wird nicht in eine nachhaltig mitreißende Vorwärtsbewegung umgesetzt, die durch ihre formal repetitive Anlage Mikroemotionen positiver 87

Vgl. Steinbeck 1997, S. 637.

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Wesen musikalischer Expressivität

Valenz evozieren würde. Das wieder aufgenommene zweite Thema löst sich in Schwindel erregender, ständiger Drehbewegung auch nicht klar auf, sondern wird kurz vor Ende der Exposition einmal mehr brüsk mit einem Akzent forte-forzato abgebrochen. Schubert sucht kompositorisch mithin sogar den Mechanismus der kontrastiven Valenz zu unterdrücken. Die Kompensation der evozierten negativen affektiven Zustände unterbleibt, zumindest teilweise. Mit diesem Kunstgriff vermag er die Expressivität des Satzes zu intensivieren. Ich habe in der obigen Diskussion die deutlichsten expressiven Momente im Fallbeispiel der Exposition des ersten Satzes von Schuberts Unvollendeter hervorgehoben und auf formale Eigenheiten der Komposition zurückgeführt: »Deformationen« innerhalb wie auch zwischen Formteilen, die Chromatik innerhalb des Hauptthemas, die Drehbewegung des Seitenthemas und die fehlenden Auflösungen thematischer Entwicklungen (Abbrüche). Es sind vor allem diese formalen Aspekte, mit denen wieder und wieder, das heißt systematisch und daher in signifikanter Weise, Hörerwartungen unterlaufen werden und mit denen die hedonische Summe der beim Hörer evozierten Mikroemotionen zeitweise ins Negative gewendet wird. Die Expressivität der Exposition schlägt sich in den aufgezählten formalen Aspekten nieder. Es sind vor allem diese Aspekte tertiärer musikalischer Ebene, die Zuschreibungen affektiver Zustände negativer Valenz (»Melancholie«, »Verzweiflung«, »Klage«, »Zorn«) 88 , wie ich sie in Abschnitt 1.1.2. zitiert habe, intersubjektiv nachvollziehbar rechtfertigen lassen.

4.3. Fazit: Expressivität als tertiäre und quartäre Eigenschaft musikalischer Werke Wie formale Eigenschaften die Expressivität musikalischer Werke vor einer repräsentationalen Deutung grob bestimmen können, unter der Bedingung, dass die Werke im Rahmen eines angemessenen abso88 Die Zuschreibungen beziehen sich auf den ganzen ersten Satz der Unvollendeten, sodass sie streng genommen auch vor diesem Hintergrund zu kritisieren wären. Ich habe dargelegt, dass sich bereits in der Exposition Aspekte verdichten, die die Zuschreibungen angemessen erscheinen lassen. Der Ausdruck von Zorn wird insbesondere in den Takten 63–71 dem Hörer mikroemotional gewahr. In der Passage werden Mikroemotionen beschränkt negativer Valenz evoziert, aber in großer Zahl.

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Fazit: Expressivität als tertiäre und quartäre Eigenschaft musikalischer Werke

lutmusikalischen Kontextes involviert gehört werden, habe ich in diesem Kapitel dargelegt. Meine These lautet, dass die beim Hören evozierten affektiven Zustände (Mikroemotionen und starke Reaktionen) die Expressivität grob bestimmen. Ich vertrete somit eine Version einer Evokationstheorie musikalischer Expressivität auf tertiärer Eigenschaftsebene, allerdings keine direkte: Die ausgedrückten affektiven Zustände sind nicht mit den evozierten gleichzusetzen. Die evozierten affektiven Zustände hängen von der Form der Musik und Normalbedingungen der Wahrnehmung ab.89 Durch die Manipulation der Form eines in einem Kontext situierten Werkes kann eine Komponistin oder ein Komponist die Expressivität von Musik gestalten. Insofern ist die Expressivität in die Musik einbeschrieben. Ansatzpunkt meiner Überlegungen ist das Modell des Erwartungsspieles, dessen Gang die formalen Eigenschaften eines musikalischen Werkes bestimmen. Ich habe zu Beginn des Kapitels die vorbewussten Mechanismen erörtert, die die Evokation von affektiven Zuständen beim involvieren Hören musikalischer Werke mit sich bringen. Diese Mechanismen wurden evolutionär ausgeprägt. Die zuverlässige Antizipation alltäglicher Situationen erhöhte (und erhöht) unsere Überlebenschancen. Weil der für uns basale Erwartungsmechanismus überaus sensitiv kalibriert ist (nach dem Motto: »lieber ein Alarm zu viel als zu wenig«) und namentlich weil musikalische Werke durch zahlreiche Wiederholungen so strukturiert sind, dass sie den Mechanismus zielgerichtet ansprechen, wird er selbst beim Hören von Musik aktiviert, das heißt beim Hören akustischer Stimuli, die keine unmittelbare alltägliche Relevanz für uns haben. An dieser Stelle seien zwei für meinen Gedankengang entscheidende Punkte hervorgehoben: Einerseits die auch durch empirische Studien erhärtete Beobachtung, dass die Affekte bei Vorliegen von normalen Rezeptionsbedingungen bei verschiedenen Hörern musikalisch übereinstimmend evoziert werden, da wir die zugrunde liegenden (biologisch basalen) Mechanismen gemeinsam besitzen. Die Mechanismen kennzeichnen das menschliche Sein. Aus diesem Grund kann bei Streiten über die Expressivität der Blick auf die Form der Musik gerichtet werden, da Zu den Bedingungen zählen insbesondere die Einsozialisierung in angemessene Hörkontexte, die Fokussiertheit auf die Musik, die Abwesenheit von störenden Geräuschen und die Unversehrtheit perzeptiver, kognitiver und affektiver Anlagen zur Verarbeitung von Musik. Vgl. mein Abschnitt 2.1.

89

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Wesen musikalischer Expressivität

angenommen werden kann, dass bestimmte Strukturen bei unterschiedlichen Hörern vergleichbare affektive Zustände evozieren. Und weil eine Verständigung über die Form eines Werkes in der Regel kaum Schwierigkeiten bereitet, sind stabile, epistemisch robuste Aussagen über die Expressivität musikalischer Werke auf tertiärer Ebene möglich, während Aussagen über die Expressivität musikalischer Werke auf quartärer Ebene nur aus einem epistemisch prekären, dynamisch-offenen Prozess folgen können, da absolute Musik unmittelbar per definitionem keine klärenden repräsentationalen Elemente enthält. Das affektive Erleben absoluter Musik, insbesondere die Erfahrung musikalischer Expressivität (auf tertiärer Ebene), ist deswegen ein so wichtiger Aspekt ihrer Rezeption, weil sie keine repräsentationalen Elemente unmittelbar umfasst. 90 Dieser erste Punkt darf aber andererseits nicht missverstanden werden. So könnte fälschlicherweise der Verweis auf die Form als Möglichkeit der Streitschlichtung als Plädoyer für eine distanzierte Hörhaltung aufgefasst werden. Freilich ist es so, dass, wie ich das am Schubert-Beispiel demonstriert habe, expressive Momente in der musikalischen Form nachgewiesen werden können. Doch expressive Musik ist meist nicht so komponiert, dass beim synchronen Hören expressive Formen zur Kontemplation ausgestellt werden. Musikalische Expressivität wird in der Komplexität absoluter Musik unterschwellig dargeboten. Bewusst gewahr wird uns die Expressivität affektiv. In den herausgearbeiteten Möglichkeiten der Evokation affektiver Zustände liegt auch eine Lösungsperspektive für das ontologisch ausbuchstabierte Problem musikalischer Expressivität. Die Praxis von Zuschreibungen affektiver Zustände (die buchstäblich nur Lebewesen haben können) zu absolutmusikalischen Werken (die keine Lebewesen sind) ist deswegen so persistent, weil absolutmusikalische Werke, so wir sie involviert hören, bei uns affektive Zustände auslösen können, das heißt kurz gesagt: weil wir sie affektiv erleben, und weil die hedonischen Summen der evozierten affektiven Zustände von Komponisten markant durch Organisation musikalischer Formen in absolutmusikalischen Kontexten gestaltet werden können, sodass wir die musikalisch evozierten hedonischen Konfigurationen mit hedonischen Konfigurationen tentativ grob bestimmter alltäglicher affektiver Zustände in Verbindung bringen können. Der Verweis 90

Vgl. dazu auch mein Abschnitt 5.1.2.

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Fazit: Expressivität als tertiäre und quartäre Eigenschaft musikalischer Werke

auf einzelne evozierte Mikroemotionen reicht nicht aus, um Zuschreibungen affektiver Zustände zu einer Passage auf tertiärer Eigenschaftsebene zu begründen. Vielmehr sind es hedonisch konfigurierte Summen evozierter Zustände, die in unserer Wahrnehmung salient sind und die dann Zuschreibungen affektiver Zustände rechtfertigen, wenn sie zeitweise deutlich einseitig ausfallen. Die evozierten Zustände werden dann expressiv signifikant. Im SchubertBeispiel etwa: In der Exposition des ersten Satzes werden auf verschiedenen musikalischen Ebenen wieder und wieder zum Teil elementare formale Erwartungen enttäuscht, etwa durch ständiges Durchbrechen von Symmetrien oder durch mangelnde melodische Vorwärtsbewegung der Themen. Bündig lässt sich die in dieser Untersuchung vorgeschlagene Position zum Wesen musikalischer Expressivität auf tertiärer Eigenschaftsebene wie folgt fassen: Ein musikalisches Werk W drückt den affektiven Zustand A dann aus (im Sinne von Expressivität), wenn: (C1) W formal so gestaltet ist, dass es beim (idealen) involvierten Hörer H in dem durch eine sozial instituierte Praxis gegebenen Kontext anderer Werke absoluter Musik die Mikroemotionen M auslöst. (C2) Die hedonische Summe der durch W bei H evozierten Mikroemotionen M vorübergehend signifikant negativ oder positiv ausfällt. (ad C1) Die Mikroemotionen M weisen eine Valenz V sowie eine Intensität I auf. Sie sind auf formale Prozesse in W gerichtet. (ad C2) Die hedonische Konfiguration (bestimmt durch Valenz und Intensität) der vorübergehend signifikanten Summe der durch W bei H evozierten Mikroemotionen M entspricht der hedonischen Konfiguration des alltäglichen affektiven Zustandes A. Die Position ist moderat affirmativ. Expressivität ist ihr gemäß auf tertiärer absolutmusikalischer Ebene bestimmt, allerdings nur grob. Anhand der mikroemotional evozierten hedonischen Konfigurationen können lediglich drei Zonen musikalischer Expressivität klar differenziert werden, eine Zone von Affekten der Freude, eine Zone von Affekten der Traurigkeit und eine Zone der Wut- und Angstaffekte. Eine feinere Bestimmung auf tertiärer Ebene ist insofern möglich, als die angemessenen werkrelevanten Kontexte vertieft be247 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Wesen musikalischer Expressivität

trachtet und überdies evozierte starke Reaktionen berücksichtigt werden könnten. 91 Jedoch sind Feinunterscheidungen epistemisch kaum so robust wie die Unterscheidungen zwischen den Zonen. Eine weitere, bei absoluter Musik epistemisch allerdings prekäre Möglichkeit der Feinbestimmung besteht auf quartärer Eigenschaftsebene, und zwar, indem die Zuschreibungen durch die Wahl plausibler repräsentationaler Kontexte einer Deutung angereichert werden. Auf quartärer Ebene können insbesondere genau bestimmte intentionale Objekte die auf tertiärer Ebene nur grob bestimmten affektiven Zustände präzisieren. Im Schubert-Beispiel: grobe Bestimmung der Expressivität als Traurigkeit, Feinbestimmung auf quartärer Ebene als Schuberts Trauer über den Tod seines Vaters – die Musik wäre dann Mittel seines persönlichen Ausdrucks –, oder als Traurigkeit über gesellschaftliche Rückschritte der Restauration. Somit lassen sich zwei Ebenen des Wesens musikalischer Expressivität unterscheiden. Sie gehen einher mit zwei Arten des Verstehens von Musik, nämlich dem Verstehen musikalischen Sinnes (tertiäre Ebene) und musikalischer Bedeutung (quartäre Ebene). Durch Evokation, das heisst Entsprechung hedonischer Konfigurationen, wird Expressivität auf fundamentaler tertiärer Ebene grob bestimmt. Sie wird uns beim involvierten Hören affektiv gewahr, genauso wie Momente musikalischen Sinnes, etwa Distanz, Bewegung und Gerichtetheit. Die Erfahrung musikalischer Expressivität (wie auch musikalischen Sinnes) bei der synchronen Rezeption von Musik hat einen eigenen Wert, der nicht nur in einem Lustgewinn besteht. Ich werde im folgenden fünften Kapitel eine Perspektive auf eine Wertkomponente entfalten, die ich darin sehe, dass uns die Erfahrung musikalischer Expressivität zur Erschließung unseres Selbst durch eine Vertiefung unseres affektiven Selbstbewusstseins als Möglichkeit der Distanzierung von uns widerfahrenden affektiven Handlungsimpulsen dienen kann. Musikalische Expressivität tertiärer Ebene wirft beim Hörer FraIch würde die Möglichkeit nicht ausschließen, dass alleine musikalisch evozierte starke Reaktionen die Expressivität von musikalischen Werken auf tertiärer Eigenschaftsebene bestimmen können. Der Einfachheit halber habe ich die Möglichkeit bei den oben dargestellten Bedingungen C1 und C2 vernachlässigt. Deswegen handelt es sich bei C1 und C2 nicht um notwendige, sondern um hinreichende Bedingungen musikalischer Expressivität. Ich sehe darüber hinaus allerdings keine weiteren Möglichkeiten der Bestimmung musikalischer Expressivität auf tertiärer Eigenschaftsebene.

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Fazit: Expressivität als tertiäre und quartäre Eigenschaft musikalischer Werke

gen auf (»Wieso weist der erste Satz von Schuberts Unvollendeter die Expressivität der Traurigkeit auf?«). Sie regt zu einer – wenn auch immer nur vorläufig zu vollziehenden – repräsentationalen Deutung des synchron erfahrenen, auf tertiärer Ebene grob bestimmten expressiven Geschehens auf. Die Deutung hat der groben Bestimmtheit der Expressivität tertiärer Ebene dabei Rechnung zu tragen. Ansonsten ist sie eine werkfremde Deutung. Mit Blick auf den aufführungspraktischen, kritischen oder wissenschaftlichen Umgang mit musikalischen Werken zeigt mein Ansatz auf, wie musikalische Form, Werkkontext, Expressivität und weitergehende soziale, politische oder ökonomische Deutungen zusammenhängen können. Beim Kommentar Steinbecks zu Schuberts Unvollendeter entsteht der Eindruck, dass diese Werkaspekte isoliert nebeneinander stehen. Steinbeck fügt in seinem Text biografische Informationen, formale Analysen, Charakterisierungen der Expressivität des Werkes und weitergehende Deutungen schlicht aneinander. Doch diese Werkaspekte sind eng miteinander verknüpft. Denn die Expressivität schlägt sich in der Form eines musikalischen Werkes nieder. Sie wird erlebt, wenn das Werk in angemessenem Kontext involviert gehört wird. Dabei wird uns ihre grobe expressive Bestimmtheit bewusst. Diese affektive Erfahrung musikalischer Expressivität regt weitergehende, beispielsweise biografische oder sozioökonomische, repräsentationale Deutungen an, und sie ist bei den Deutungen zu berücksichtigen. Bei der Integration der fundamentalen Ebene in die Explikation musikalischer Expressivität wird somit auch die Verknüpfung musikalischer Werkaspekte freigelegt.

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5. Wert musikalischer Expressivität: eine Perspektive

Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken enthalten einen Wertaspekt. Wenn wir musikalischen Werken affektive Zustände zuschreiben, charakterisieren wir sie mehr als nur deskriptiv. Mit den Zuschreibungen wollen wir meist auch sagen, dass wir die zugeschriebenen expressiven Eigenschaften schätzen. In diesem Kapitel möchte ich mich mit der Frage beschäftigen, wie dieser Wertaspekt gefasst werden könnte. Meine im vorhergehenden Kapitel ausgearbeitete Position zum Wesen musikalischer Expressivität ist eine indirekt evokationistische. Der Position zufolge ist es unsere affektive Erfahrung, die die Expressivität musikalischer Werke fundamental bestimmt. Die Erfahrung habe ich mit dem Modell des musikalischen Erwartungsspiels erläutert. Dabei habe ich behauptet, dass das Erwartungsspiel nur in Gang kommen kann, wenn wir akustische Stimuli so hören, dass wir von deren kausalen Relationen, von deren möglichen alltäglichen Bedeutungen für uns absehen. Dann erst sind wir in der Lage, auf ihre formale Anlage zu fokussieren, in das Erwartungsspiel involviert zu werden und sie als Musik zu hören. Eine psychologische Wertkomponente expressiver Musik auf tertiärer Eigenschaftsebene könnte darin liegen, dass wir bei der Rezeption ihrer Tertiäreigenschaften eine Fähigkeit vertiefen können, nämlich die Fähigkeit zur Distanzierung von unserer Affektivität. Dies dadurch, dass wir ein Bewusstsein zweiter Ordnung grob bestimmter affektiver Zustände erlangen. Dieses Bewusstsein ist für uns wertvoll namentlich in unserem Alltag, das heißt nicht in der besonderen musikalischen Rezeptionssituation, die eben gerade durch ihre Separation von alltäglichen Zusammenhängen gekennzeichnet ist. Die Wertkomponente lässt sich nur mit Bezug auf die alltägliche menschliche Affektivität erläutern. Mein Ziel ist es in diesem Kapitel, etwas zur Erhellung dieser psychologischen Wertkomponente musikalischer Expressivität beizutragen, aufbauend auf den Vorarbeiten in den ersten vier Kapiteln. 250 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Wert musikalischer Expressivität: eine Perspektive

Ich fasse Kunst als eine Praxis menschlicher Selbstverständigung auf, wobei Kunst am Beispiel zeigt (oder exemplarische Eigenschaften besitzt), während etwa die Philosophie allgemeine, meist argumentativ begründete Aussagen(-komplexe) anbietet. 1 Werden Quartäreigenschaften musikalischer Werke in den Vordergrund gerückt, so kann ihr Wert als Beitrag zur menschlichen Selbstverständigung genauso wie zum Beispiel derjenige eines Kunstwerkes erhellt werden, das unmittelbar repräsentierende Elemente umfasst, etwa eines Theaterstückes. Zu beantworten bleibt allerdings die Frage, inwiefern die Erfahrung (absoluter) Musik in der distinkten abgeschiedenen Rezeptionssituation, auf die sich Zuschreibungen affektiver Zustände zu musikalischen Werken ja nach meinem Explikationsvorschlag fundamental beziehen, vor einer repräsentationalen Deutung psychologisch wertvoll sein kann. Die Frage drängt sich nicht zuletzt deswegen auf, weil wir oft angesichts der bei absoluter Musik (wie indes etwa auch bei anderen abstrakten Kunstformen) prekären Bedingungen der Bestimmung ihrer Quartäreigenschaften sie gleichsam »unvollständig« rezipieren, und dies nicht selten – oft können wir gar nicht anders, weil uns die Quartäreigenschaften verborgen bleiben. Dennoch hält uns die Schwierigkeit nicht davon ab, musikalische Werke mit Gewinn zu hören. Und mir scheint, dass dies nicht nur auf Wertkomponenten zurückzuführen ist, die die Werke unmittelbar verfügbar machen, beispielsweise hedonische Gratifikationen (deren Bedeutung ich, wie im vorhergehenden Kapitel erörtert, nicht kleinrede). Insofern wäre die Kritik verfehlt, wonach eine auf Tertiäreigenschaften beschränkte Rezeption musikalischer Werke lediglich auf den Genuss affektiver, kompensatorischer Wirkungen zu reduzieren sei, die uns die Frustrationen unseres Alltags und unseres Lebens in der Moderne zu verdrängen oder zu übertünchen verhelfen würden. Bislang habe ich die Träger expressiver musikalischer Eigenschaften als musikalische Werke gemäß stipulativer Definition bezeichnet, ohne damit musikalische Gebilde, Stücke und ohne damit Formen von Musik auszuschließen, die üblicherweise nicht der Kunstmusik zugerechnet werden, und zwar einerseits deswegen, weil auch musikalische Gebilde wie zum Beispiel Improvisationen auf tertiärer Ebene expressiv sein können und damit die psychologische Ich lasse es an dieser Stelle bei dieser umrisshaften Unterscheidung bewenden, um den Blick auf meine Fragestellung nicht zu verlieren.

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Wert musikalischer Expressivität: eine Perspektive

Wertkomponente besitzen können, andererseits, weil ich mich in der vorliegenden Untersuchung nicht auf die Diskussion einlassen möchte, ob einzelne Musiken Kunstmusiken sind oder nicht. Denn diese Diskussion birgt immer auch die Gefahr einer verdeckten Diskriminierung. Ich neige zu einer im Zweifelsfall inklusiven Kategorisierung. Allerdings würden einige Proponenten von Musiken, deren Kunststatus umstritten ist, dies als ungewollte Umarmung ablehnen. 2 Vor dem Hintergrund der ästhetischen und ökonomischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte ist es heutzutage bei vielen Musiken alles andere als eine triviale Aufgabe, unter hinreichender Berücksichtigung der Praxis trennscharf abgrenzen zu können. Die paradigmatischen Bedingungen involvierten Hörens sind bei der typischen Rezeptionsweise von Kunstmusik gegeben, nämlich in der geschützten, vom Alltagsgeschehen abgeschiedenen Umgebung des Konzertsaales. Es ist aber denkbar, dass wir die Bedingungen auch bei anderen Musiken erfüllen. Die psychologische Wertkomponente kann daher auch bei Musiken zugänglich sein, die wir womöglich nicht zur Kunstmusik zählen. Doch wäre dann zu fragen, ob nicht mit der Zugänglichkeit der Komponente, die deswegen für uns wertvoll ist, weil sie unserer affektiven Selbstverständigung in elementarer Weise dienen kann, die Musik gerade zur Kunstmusik zu zählen ist. Auch hier, so scheint mir, sind Zwischenphänomene denkbar. (Zum Beispiel könnte eine durchdacht komponierte Introduktion eines Popsongs involviert gehört werden.) Im ersten Teil dieses Kapitels gehe ich allgemein auf den Wert von Musik ein. Ich diskutiere knapp sieben Wertkomponenten und behandle das Problem ihrer Musikspezifität (Abschnitt 5.1.). Im zweiten Teil entfalte ich umrissartig eine Theorie des Selbst, dessen Anlage ich als dynamisch-heterarchisch erläutern werde. Dabei soll insbesondere das Potential von Musik zur affektiven Selbstverständigung berücksichtigt werden. Was ich unter einer dynamisch-heterarchischen Anlage verstehe, möchte ich an der Problematik menschlicher Willensfreiheit (Abschnitt 5.2.1.) und an der Frage der Rationalität menschlicher Affektivität (Abschnitt 5.2.2.) darlegen. Die Rationalität ist dabei die fünfte Eigenschaft von Emotionen (und allgemeiner gesprochen menschlicher Affektivität). 3 In Abschnitt Vgl. etwa zum Jazz Baraka 1963, S. 222. Die Eigenschaften der doppelten Intentionalität, Phänomenalität, Opazität und Existentialität habe ich in Abschnitt 1.2.3. erörtert.

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Der Wert von Musik

5.2.3. fasse ich meine Einlassungen zu Moralpsychologie und affektiver Selbstverständigung kurz zusammen. Darauf aufbauend ziehe ich im dritten Teil mein Fazit zum Wert musikalischer Expressivität (Abschnitt 5.3.). Bei meinen Überlegungen zur Rolle des affektiven Potentials von Musik für unsere Selbstverständigung kann es sich nur um eine Perspektive handeln. Ihnen liegen moralpsychologische Prämissen zugrunde, die ich plausibel darstellen möchte. Eine argumentativ dichtere Erörterung würde aber den Umfang dieser Untersuchung sprengen, da meine Überlegungen einige der umkämpftesten Gebiete der theoretischen und praktischen Philosophie tangieren. Es wäre wünschenswert, meine vor allem spekulativ entwickelte Perspektive empirisch mit maßgeschneiderten experimentellen Designs zu überprüfen. Bereits im vorangehenden Kapitel habe ich unterstrichen, dass wir (absolute) Musik deswegen schätzen und sie deswegen eine persistente, kaum vom menschlichen Dasein zu abstrahierende Praxis ist, weil sie uns eine Vielzahl von Wertkomponenten anbietet. Die in diesem Kapitel zu entwickelnde Perspektive kann lediglich eine Wertkomponente des Reichtums der Musik erhellen.

5.1. Der Wert von Musik 5.1.1. Sieben Arten psychologischer Wertkomponenten von Musik Der Reichtum des Wertes der Musik wird etwa darin deutlich, dass in der Forschung über 500 verschiedene Wertkomponenten vorgeschlagen worden sind. 4 Während manche Komponenten rein spekulative Hypothesen darstellen, sind andere empirisch nachgewiesen worden. Spekulativ bleibt auch die Diskussion darüber, ob Musik eine evolutionäre Adaption ist oder nicht, und darüber hinaus, ob sich evolutionsbiologisch bestimmte Wertkomponenten identifizieren lassen: 5 Für die Adaptionsthese spricht nach Huron insbesondere das Alter der Praxis der Musik. Aus evolutionsbiologischer Sicht vermutet werde, dass Musik für den Menschen namentlich wertvoll sei wegen ihrer affektregulierenden und sozialen Funktion. (Diese Komponen4 Vgl. Schäfer et al. 2013, S. 2. Schäfer et al. bieten einen tabellarischen Überblick über zahlreiche Studien im Anhang. Vgl. Schäfer et al. 2013, S. 10–26. 5 Vgl. Huron 2001.

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Wert musikalischer Expressivität: eine Perspektive

tentypen werden auch heute noch hervorgehoben.) Im Folgenden betrachte ich zunächst eine Auswahl von sieben Komponentenarten, die aus meinen bisherigen Überlegungen plausibel erscheinen. Die Auswahl umfasst dabei die wichtigsten Arten der vorgeschlagenen Komponenten. Erstens hat Musik für uns einen kognitiven Wert. In Abschnitt 3.1.1. habe ich auf den Zusammenhang von Gedächtnisarten und Arten musikalischer Erwartungen hingewiesen. Die Bildung von nach unterschiedlichen Ebenen und Arten differenzierten musikalischen Erwartungen setzt die permanente vorbewusste Aktivität des Speicherns und Abrufens abstrakter musikalischer Informationen voraus. Die involvierte Rezeption musikalischer Werke kann insofern ein wirksames Gedächtnistraining sein. Allerdings lässt sich diese Komponente empirisch nur rudimentär belegen. 6 Eine weitere Voraussetzung des involvierten Modus ist unser ständiger Fokus auf die uns dargebotenen Stimuli als rein klangliche Geschehnisse. Wollen wir die dargebotenen Stimuli als Musik hören, so müssen wir unsere Aufmerksamkeit bewusst auf die abstrakten klanglichen Strukturen und Prozesse gerichtet halten, um nicht etwa in den zerstreuten Hörmodus abzudriften, und zwar über einen je nach Werk einigermaßen langen Zeitraum. Auch hier kann also gesagt werden, dass Musik uns als kognitives Training dienen kann, nämlich als Training unserer Konzentrationsfähigkeit. Dafür gibt es empirische Belege. 7 Gleichzeitig muss aber erwähnt werden, dass musikalische Werke, wie ich im dritten und vierten Kapitel mehrfach unterstrichen habe, deswegen so häufig Erwartungsspiele in Gang setzen und halten, weil sie so komponiert worden sind, dass sie involviertes Hören begünstigen, etwa durch ihre repetitive Anlage oder durch eine geschickte Balance von formaler Ordnung und Unordnung. Musik erfordert nicht nur konstitutiv unsere Aufmerksamkeit, sondern zieht sie durch ihren affektiv invasiven Informationsgehalt auch auf sich, wie am Extrembeispiel der Musikfolter oder am weniger drastischen Beispiel der Lärmbelästigung durch Musik gezeigt werden kann. Die zweite Komponentenart lässt sich unter Rückgriff auf Goodmans von Mahrenholz auf die Musik angewendeten Begriff der Exemplifikation erläutern. Musik hat für uns einen epistemischen 6 7

Vgl. Koelsch 2013, S. 237 f. Vgl. Koelsch 2013, S. 237.

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Der Wert von Musik

Wert insofern, als sie unsere Wahrnehmung vorbegrifflich, das heißt durch die Vermittlung von Labels, zu strukturieren verhelfen kann. Intramedial lässt sich diese epistemische Funktion (also die buchstäbliche Exemplifikation) empirisch für das aktive Musizieren belegen, insbesondere an der förderlichen Wirkung auf die Entwicklung unserer Fähigkeiten der akustischen Sprachwahrnehmung und -differenzierung. 8 Keinerlei empirische Evidenz gibt es hingegen für einen epistemischen Nutzen der metaphorischen Exemplifikation, das heißt für eine intermediale epistemische Funktion von Musik. Der Begriff der metaphorischen Exemplifikation scheint für eine experimentelle Operationalisierung auch allzu offen gefasst, wenn er sich überhaupt verständlich machen lässt. Die dritte Komponentenart habe ich vor allem im vierten Kapitel erörtert. Es handelt sich um den hedonischen Wert von Musik. Ich habe für die These argumentiert, dass Musik, verstanden als Erwartungsspiel, immer einen hedonischen Überschuss affektiver Zustände positiver Valenz evoziert, unter der Voraussetzung, dass eine Überlagerung durch evaluative oder projektive affektive Zustände ausgeschlossen werden kann. Dies ist namentlich auf das Phänomen der kontrastiven Valenz zurückzuführen. Zeitweise können musikalische Werke beim involvierten Hörer psychische Schmerzen evozieren. Durch das Ausbleiben von konkreten schädlichen Folgen und die, womöglich ultimative, Auflösung des Erwartungsspiels werden nach meinem Gedankengang die Schmerzen aber stets mehr als kompensiert. Ich habe ebenfalls dargelegt, dass der beim involvierten Hörer evozierte Lustgewinn ein nicht zu unterschätzender Motivator für unsere musikalische Praxis ist, die nach meinen Überlegungen nicht zuletzt dadurch aufrechterhalten wird, dass wir zahlreiche Werke rezipieren, oft vielfach. Nur so können wir uns einen musikalischen Erfahrungsschatz erarbeiten und schematische musikalische Erwartungen bilden. Mit der Evokation hedonischer Zustände der Lust und des Schmerzes oder der Spannung und Entspannung hängen Praktiken des Nachvollzugs von Musik und eine gesteigerte Selbst-Präsenz in Raum und Zeit zusammen. Dabei sind die Praktiken des Nachvollzugs geleitet von den Verläufen musikalischer Spannung und Entspannung. Somit kann Musik viertens somatische Praktiken, das heißt Nachvollzugspraktiken, anregen und organisieren, die uns un8

Vgl. etwa Sallat 2008.

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Wert musikalischer Expressivität: eine Perspektive

ser Körperbewusstsein vertiefen und unsere Körperkontrolle verfeinern lassen. In einem weniger anspruchsvollen, aber das heutzutage ubiquitäre steife Verharren vor Bildschirmen berücksichtigenden Sinn können Nachvollzugspraktiken auch insofern nützlich sein, als sie somatisch aktivierend wirken. Der somatische Wert von Musik kann mit vielen empirischen Studien belegt werden, in denen der Behandlungserfolg bei Patienten mit verschiedenen Körperkoordinationsproblemen (unter anderem auch der Stimmkontrolle) durch Musik ausgewiesen wird. 9 An dieser Stelle sei vorgemerkt, dass die Wertkomponente der Möglichkeit affektiver Distanzierung, die in diesem Kapitel näher erörtert werden soll, nicht unabhängig von somatischen Wertkomponenten zu denken ist. Im Hintergrund der vorliegenden Untersuchung steht die im ersten Kapitel schon umrissene These einer engen Verbindung zwischen dem Somatischen, dem Affektiven und dem Kognitiven. 10 Die fünfte Wertkomponentenart hängt mit der dritten und vierten zusammen. Musik hat für uns einen affektiven Wert. Betont wird in der empirischen Forschung die Rolle der Musik zur Regulierung unseres Affekthaushaltes. 11 Der Sachverhalt wird häufig unter dem Stichwort emotion regulation diskutiert. Damit gemeint ist meist weniger der Wert der Musik zur affektiven Selbstreflexion, das heißt nicht die Möglichkeit der Vertiefung unserer Fähigkeit zur Affektdetektion (dieser Aspekt allein könnte auch der epistemischen Komponentenart zugerechnet werden), Affektsuspension und damit der Entwicklung unserer Affektivität, die ich in diesem Kapitel noch näher betrachten möchte. Vielmehr wird der Wert darin erblickt, dass wir durch gezielten Einsatz von Musik uns unmittelbar im Alltag affektiv manipulieren, zum Beispiel dann, wenn wir beim Sport uns durch den Takt der Musik antreiben lassen oder wenn vor dem Flugzeugstart Musik zur Ablenkung erklingt. In beiden Beispielen können hedonische (Aktivierung durch Evokation von Spannung und Entspannung) wie auch somatische Komponenten (etwa Laufen im Vgl. Koelsch 2013, S. 238. Vgl. dazu insbesondere die Abschnitte 1.2.2. und 1.2.3. und zu somaästhetischen Praktiken Shusterman, der Musik aber enttäuschenderweise nur am Rande erwähnt. Vgl. Shusterman 2008. 11 Vgl. zu der Wertkomponente der Affektregulierung insbesondere die Arbeiten von DeNora, etwa DeNora 2000, und von van Goethem/Sloboda 2011 (van Goethem und Sloboda erwähnen auch die Möglichkeit der affektiven Selbstreflexion und -transformation). 9

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Der Wert von Musik

Takt oder ansatzweise Nachvollzugshandlungen im Flugzeug) zur gewünschten affektregulierenden Wirkung beitragen. 12 Namentlich Koelsch hebt die sechste Wertkomponentenart von Musik hervor, nämlich ihren sozialen Wert. Die Komponente wird auch häufig bei evolutionsbiologischen Erklärungen in den Vordergrund gerückt, wonach die musikalische Praxis sich etabliert habe, weil sie der sozialen Kohäsion und insbesondere affektiven Temperierung innerhalb von Gruppen von Menschen diene, die zum Überleben auf effektive und effiziente gegenseitige Kooperation angewiesen seien. 13 Koelsch nennt sozialen Kontakt schlechthin, soziale Kognition (gegenseitige Zuschreibung mentaler Zustände), »Ko-pathie« (Homogenisierung von affektiven Zustände in der Gruppe), (nonverbale) Kommunikation, Handlungskoordination, Einüben von Kooperation und gestärkte Kohäsion durch Musizieren oder gemeinsames Hören als die zentralen psychologischen Funktionen musikalischer Praxis (»The Seven Cs«). 14 Jedoch gibt es auch Zweifel nicht nur an der Sozialthese der evolutionären Entstehung musikalischer Praktiken, sondern auch an der These eines primär sozialen psychologischen Wertes von Musik. In der von Thomas Schäfer geleiteten Befragung rangieren etwa die Komponentenarten der Affektregulierung und namentlich die Komponente der Stärkung von affektivem Selbstbewusstsein, die Schäfer explizit mit der Erschließung unseres Selbst und affektiver Eigenwahrnehmung in Verbindung bringt, klar vor der sozialen Wertkomponentenart. 15 Dabei ist erheblich, dass das Resultat dieser Studie den gegenwärtigen, »westlichen« Umgang mit Musik abbildet. Musik scheint heutzutage eher zur Kultivierung des Privaten, Individuellen, zur Abgrenzung von der Gruppe verwendet zu werden. 16 Beispielhaft zeigt sich dies etwa, wenn in der U-Bahn sich Fahrgäste mit Kopfhörern in ihre eigene, private Welt zurückziehen. Mit der sechsten verwandt, aber dennoch nicht deckungsgleich ist die siebte Wertkomponentenart von Musik, ihr ritueller Wert. Die Komponentenart arbeitet Kivy in einem Essay heraus, der von der Frage nach der Legitimation der Auseinandersetzung mit absoluter Van Goethems und Slobodas Studie zeigt, dass Nachvollzugspraktiken die affektregulierende Wirkung verstärken können. Vgl. van Goethem/Sloboda 2011, S. 216. 13 Vgl. Huron 2001. 14 Vgl. Koelsch 2013, S. 208–212, und Koelsch 2014, S. 175. 15 Vgl. Schäfer et al. 2013, S. 5–7. 16 Vgl. Schäfer et al. 2013, S. 7. 12

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Wert musikalischer Expressivität: eine Perspektive

Musik in der höheren Bildung ausgeht. Die Frage stellt sich Kivy zufolge wegen der, um es in meinen eigenen Worten zu sagen, nur prekären epistemischen Zugänglichkeit von Quartäreigenschaften bei Werken absoluter Musik, wohingegen etwa der Beitrag zur menschlichen Selbstverständigung von Klassikern etwa der Literatur oder der Philosophie aufgrund ihrer offensichtlichen Repräsentationalität unproblematisch sei. 17 Kivy verneint, dass die Frage mit Verweis auf einen Beitrag der Musik zu unserer (affektiven) Selbstverständigung und -kontrolle beantwortet werden könne, und zwar auch, weil er, im Gegensatz zu meinen Überlegungen, das Potential von absoluter Musik zur Evokation affektiver Zustände anzweifelt: »Do musicians have a lower incidence of mental depression, divorce, or substance abuse? Are there fewer axe murderers among musicians than in the general population?« 18

Mir scheinen Kivys Fragen unnötig und irreführend rhetorisch zugespitzt. Dass Berufsmusiker eher mit einem erhöhten Risiko von psychischen und physischen Erkrankungen leben müssen, hängt mit den hohen Anforderungen und der übermäßigen Kompetitivität des professionellen Musikbetriebes zusammen und spricht nicht gegen das Vorliegen des affektiven Wertes von Musik. Kivys Fokus auf Musiker stößt auch insofern auf, als musikalische Beiträge zu unserer (affektiven) Selbstverständigung und -kontrolle auch nicht aktiv musizierenden Hörern zugutekommen können. Kivy schlägt vor, den Wert von Musik mit dem Begriff des Rituals verständlich zu machen. Sowohl das Hören von Musik als auch das Musizieren selbst fasst er als gemeinschaftliche, wiederkehrende Aktivität auf: »It is … somewhere within this ritualistic significance of the whole musical experience that the justification of music … must lie« 19

Allerdings muss auch Kivy einräumen, dass die soziale Komponente heutzutage nicht mehr notwendigerweise überwiegt. Er sieht die Ursache dafür vor allem in den Möglichkeiten der technischen Reproduktion von Musik. 20 Zu ergänzen wäre aber, dass auch ein Instrument zu üben in der Regel keine vorwiegend gemeinschaftliche 17 18 19 20

Vgl. Kivy 1999c, S. 19. Kivy 1999c, S. 22. Kivy 1999c, S. 26 [Hervorhebung von Kivy]. Vgl. Kivy 1999c, S. 26.

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Der Wert von Musik

Aktivität ist. Außerdem konzediert er, dass Rituale per se nicht unbedingt wertvoll, sondern im Gegenteil auch destruktiv sein könnten. 21 Kivy behauptet, dass der Wert von Musik nur ganzheitlich zu begreifen sei. Wegen dem prekären epistemischen Status musikalischer Bedeutung sei Musik durch aktive Partizipation an ihrem rituellen Sein 22 zu erschließen, das heißt weniger dadurch, dass repräsentationale Folien zur Deutung oder raffinierte Analysen der formalen Anlage musikalischer Werke vorgelegt und diskutiert würden (wie dies etwa in so genannten music appreciation classes geschehe), sondern vielmehr dadurch, dass selbst musiziert werde. 23 Während aber weder die rituelle Signifikanz von Musik noch der Nutzen aktiver Partizipation in musikalischen Praktiken (und Nachvollzugspraktiken) zu bestreiten ist, so muss doch anerkannt werden, dass Musik auch dann wertvoll sein kann, ohne dass wir an einem sozialen Ritual wie etwa einem Konzert teilnehmen. Die Wertkomponenten, die dann im Spiel bleiben, entgehen Kivy. Sein Ansatz ist insofern nicht ganzheitlich genug. Er vernachlässigt einzelne Aspekte des Reichtums der Musik.

5.1.2. Gibt es einen spezifischen Wert absoluter Musik? Die Gegenstandsbereiche von Musikphilosophie, Kunstphilosophie und Ästhetik überschneiden sich, sind aber nicht miteinander identisch. Ich habe zu Beginn dieses Kapitels unterstrichen, dass ich mich in der vorliegenden Untersuchung mit der Expressivität von Musik beschäftige, nicht allein von Kunstmusik. Insofern ist sie eine musikphilosophische Untersuchung, keine in erster Linie kunstphilosophische oder ästhetische. Die Auseinandersetzung mit Expressivität ist ein Kernthema namentlich der analytischen Musikphilosophie, über das nach wie vor lebhaft und ausführlich diskutiert wird. 24 Dies liegt Vgl. Kivy 1999c, S. 27 f. Ich würde ergänzen, dass aktive musikalische Praktiken (Komponieren, Arrangieren, Instrumentieren, Improvisieren, Interpretieren) stets ein für uns intrinsisch wertvolles Moment der Kreation beinhalten: Wir erleben uns in den Praktiken als schöpferische (oder entdeckende) Wesen. 23 Vgl. Kivy 1999c, S. 28–31. 24 Im Routledge Companion to Philosophy of Music und im Eintrag »Music Philosophy« der Stanford Encyclopedia of Philosophy werden der musikalischen Expressivität beispielsweise eigene Abschnitte gewidmet. Rinderles Monografie beleuchtet kritisch ausschliesslich Ansätze musikalischer Expressivität. Vgl. Gracyk/Kania 2011, S. 199–242, Kania 2012 und Rinderle 2010. 21 22

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Wert musikalischer Expressivität: eine Perspektive

nicht zuletzt daran, dass sich Musikphilosophen häufig aus der Erörterung musikalischer Expressivität einen Ertrag zur Erläuterung des spezifischen Wesens und möglicherweise auch eines spezifischen Wertes des Mediums Musik (aber bisweilen auch der Kunstform Musik) versprechen, wobei dann aus methodologischen Gründen auf absolute Musik fokussiert wird. Eine der zentralen Herausforderungen der Musikphilosophie kann demnach so verstanden werden, dass es das spezifische Wesen und den spezifischen Wert des Mediums Musik genauso zu erhellen gelte wie zum Beispiel in der Sprachphilosophie das spezifische Wesen und den spezifischen Wert des Mediums der Sprache. Doch diese Profilierung einer genuin musikphilosophischen Herausforderung führt unmittelbar in Schwierigkeiten, und zwar zum Problem wertmäßiger Spezifität. Dieses Problem wird insbesondere dann virulent, wenn, wie in der vorliegenden Untersuchung, Erfahrungsmomente absoluter Musik theoretisch pointiert werden. 25 Denn absolute Musik ist nicht die einzige abstrakte Kunst, und selbst repräsentationale Kunstformen weisen »musikalische« Aspekte auf, sodass sie womöglich ebenfalls dieselben Wertmomente umfassen könnten. 26 Die Evokation affektiver Zustände in einem Spiel mit formalen Erwartungen ist nach meinem Ansatz eine notwendige Bedingung fundamentaler musikalischer Expressivität. Jedoch kann argumentiert werden, dass zum Beispiel auch in einem Film, etwa in seiner Schnittfolge, ein Erwartungsspiel auszumachen sei und affektive Zustände evoziert würden. Oder ebenso etwa bei einem Gemälde, Ob sich mit ontologischen Herangehensweisen erster Ebene etwas Spezifisches zur Musik herausarbeiten lässt, kann allgemein bezweifelt werden. (Dabei steht weniger die Erhellung des Werts als vielmehr des Wesens von Musik im Vordergrund.) Levinson zum Beispiel illustriert seinen ontologischen Ansatz (er steht gleichzeitig für eine Erfahrungsdefinition der Musik ein) bezeichnenderweise nicht nur anhand verschiedener musikalischer Werke, sondern auch anhand eines initiated type, das nicht aus der Musik stammt, nämlich dem Ford Thunderbird. Vgl. Levinson 1980, S. 21 f., und meine FN 187 im ersten Kapitel. 26 James Shelley behauptet, dass selbst Werke der Konzeptkunst ästhetische Gefühle evozieren, und zwar nicht über ihre Gestalt, sondern über ihren – auch nur durch Beschreibungen der Werke vermittelten – Inhalt. Vgl. Shelley 2003. Ich halte Shelleys Überlegungen, aus denen folgt, dass sämtliche Kunstwerke ästhetische Erfahrungen ermöglichen und somit ästhetische Gefühle evozieren können, für plausibel. Jedoch ergibt sich daraus noch kein Kriterium zur Abgrenzung von Kunst und NichtKunst, weil Erfahrungsdefinitionen eben nicht zu eng, sondern zu weit sind. Auch mathematische Beweise, philosophische Traktate, Stierkämpfe (Dubos’ Beispiel) oder Baseballspiele können ästhetische Erfahrungen verursachen. 25

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sei es repräsentationaler oder abstrakter Art, in seiner perspektivischen Anlage, mit der der Blick des Betrachters gelenkt werde, ja sogar in der Natur, beispielsweise im dramatischen Verlauf eines Gewitters, oder im Alltag, etwa im Auf und Ab von Börsenkursen. 27 Somit könnte gesagt werden, dass die affektiven Wertmomente der Musik nicht nur in den Künsten allgegenwärtig seien, sondern schlechthin überall zu verorten seien. Würden sie zur spezifischen Qualität der Musik erhoben, so folgte die These, dass der ganze Kosmos als Musik zu kategorisieren sei. Der Begriff der Musik würde dann allumfassend. Dies ginge zu weit. Außerdem wäre dann der wertmäßige Spezifitätsanspruch klar als unberechtigt aufgewiesen. Die von mir erläuterten affektiven Wertmomente wären in den Augen ihrer Kritiker keine musikspezifischen, nicht einmal kunstspezifisch, sondern beträfen allgemein das Ästhetische. Das spezifische Wesen der Musik lässt sich mit einer disjunktivistischen Erfahrungsdefinition erfolgreich explizieren, die mit einer Absichtsbedingung und mit einer medialen Zusatzbedingung (akustische Stimuli) ergänzt wird. 28 Zu bedenken ist jedoch, dass das Problem wertmäßiger Spezifität nach dieser Präzisierung im Raum bleibt. Denn wie erwähnt können andere Medien oder schlicht alles Ästhetische dieselben Wertmomente offerieren, insofern auch sie uns in ein Spiel mit formalen Erwartungen verwickeln. Verwandt mit dem Problem wertmäßiger Spezifität, und ebenso weitreichend, ist ein weiteres Problem, das ebenfalls hauptsächlich bei Ansätzen diagnostiziert wird, in denen die Erfahrung von Musik hervorgehoben wird. Denn es könnte stets behauptet werden, dass sich die Erfahrung, oder sämtliche ihre einzelnen Momente, mit alternativen Mitteln hervorbringen ließen. Musik werde so ersetzbar. Am Ende bleibe bloß eine Theorie bestimmter freilich für uns wertvoller psychologischer Wirkungen übrig, in der Musik aber nicht notwendigerweise vorkommen muss, also keine musikphilosophische Theorie. Dies ist das Problem der Substituierbarkeit. 29 Zum Beispiel könnte vorgebracht werden, dass sich die epistemische Wertkomponentenart von Musik mindestens ebenso wirksam durch andere

Diese Formulierung des Problems lässt einen Einwand anklingen, der gegen die Konturtheorie ebenfalls geltend gemacht werden kann. Vgl. mein Abschnitt 2.2.2.2. 28 Vgl. dazu den Anfang meines dritten Kapitels, insbesondere FN 1. 29 Vgl. dazu etwa Budd 1985, S. 29–31, der das Argument Ludwig Wittgenstein zurechnet. 27

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Mittel gewährleisten ließe, etwa durch Vorlesen von Gedichten, oder dass hedonische Gratifikationen wesentlich wirksamer durch Drogen zu haben seien, mit deutlich geringerem kognitiven Aufwand als die durch Musik evozierten Lustgefühle. Sowohl aus dem Problem wertmäßiger Spezifität als auch aus dem Problem der Substituierbarkeit lassen sich Einwände herauspräparieren, die gegen Zuschreibungen von Spezifität zu bestimmten Wertkomponenten aus der Erfahrung absoluter Musik sprechen. Jedoch können die Einwände einerseits teilweise entkräftet werden, möglicherweise anhand empirischer Befunde umfassend. Andererseits kann aber auch die Suche eines spezifischen Wertes von Musik selbst hinterfragt werden. Im Folgenden möchte ich darlegen, wie beiden Problemen entgegengetreten werden kann, wobei ich mich besonders auf den erörterten Reichtum der Wertkomponenten von Musik berufen werde. Zunächst kann angeführt werden, dass wenigstens Erfahrungen von Naturphänomenen sich insofern von anderen Erfahrungen, sei es von alltäglichen Phänomenen, von Kunst oder Musik, unterscheiden, als ihre möglicherweise »als Musik« erlebten Tertiäreigenschaften kein Potential einer quartären, für uns im Rahmen unserer Selbstverständigung wertvollen Deutung bergen. (Allerdings nur, wenn es sich um tatsächliche Naturphänomene handelt, die nicht auf menschlichen Einfluss zurückgeführt werden können – die Erfahrung der formalen Gestalt der meisten Wälder Deutschlands beispielsweise gehört kaum dazu –, und wenn außerdem nicht angenommen wird, die Naturphänomene seien durch »Handlungen« supernatürlicher Wesen hervorgebracht worden.) Selbst wenn die Bestimmung der Quartäreigenschaften etwa bei absoluter Musik bisweilen schwer fällt, bisweilen gar kaum möglich ist, so kann doch mit dem Verweis auf das fehlende Potential der repräsentationalen Deutung immerhin die überzogene Ausweitung des legitimen Anwendungsbereiches von Erfahrungsansätzen zum Wert von Musik auf die Natur und auf den ganzen Kosmos eingedämmt werden. Nach diesem ersten Zug bleibt jedoch der Erweiterungsspielraum erheblich, da immer noch Alltagsphänomene und alle Kunstformen als Gegenstandsbereiche von Ansätzen im Rennen bleiben, mit denen eigentlich Musikspezifisches zutage gefördert werden sollte. Mit Blick auf meinen Ansatz zum Wesen musikalischer Expressivität kann ferner ein Unterschied zwischen der Ästhetik von Alltagsphänomenen und Kunstformen oder etwa dem Medium Musik 262 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

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als ganzem freigelegt werden. Ich habe herausgearbeitet, dass Musik dann expressiv ist, wenn das Erwartungsspiel so gestaltet wird, dass zeitweise ein deutlicher und darob im angemessenen Kontext signifikanter Überschuss affektiver Zustände einer bestimmten Valenz evoziert wird. Kunstformen oder etwa das Medium Musik können deswegen insofern von Alltagsphänomenen als Quellen von für uns wertvollen ästhetischen Erfahrungen abgegrenzt werden, als in ihnen ästhetische Erfahrungen mit Bedacht zugespitzt, verschärft und verdichtet werden. Wie könnte der Erweiterungsspielraum noch weiter eingeengt werden? Die klassische Antwort besteht darin, auf die besonders ausgeprägte Intensität der musikalischen Erfahrung zu verweisen. Schopenhauer zum Beispiel sieht den Grund für die Intensität der Musik eben darin, dass sie nicht Ideen abbilde, das heißt, dass sie nicht unmittelbar repräsentational sei. Ihre Wirkung sei deswegen »mächtiger und eindringlicher« als die anderer Kunstformen. 30 Aus Schopenhauers Gedanke ergibt sich aber kein triftiges Argument. Denn nicht nur (absolute) Musik kann abstrakt sein. Unter Rückgriff auf das Modell des Erwartungsspiels könnte die Vermutung einer besonderen Intensität der Erfahrung absoluter Musik vielleicht etwas plausibilisiert werden. Das musikalische Erwartungsspiel ist überaus komplex angelegt. Ich habe daher verschiedene Ebenen und Arten musikalischer Erwartungen unterschieden. So könnte angenommen werden, die Vielschichtigkeit des musikalischen Erwartungsspiels erkläre die besondere Intensität der musikalischen Erfahrung. Dies zeigte sich exemplarisch darin, dass wir Werke selbst dann intensiv erlebten, wenn wir sie wiederholt anhörten. Außerdem könnte mit der, allerdings nicht exklusiven, zeitlichen Gebundenheit der Rezeption von Musik argumentiert werden: Bei visueller Kunst hätten wir die Freiheit, bei einzelnen Teilen zu verweilen und uns dadurch dem Sog eines Werkes etwas zu entziehen. Nicht so bei der Musik. Ich bin allerdings skeptisch, ob wertmäßige Spezifitätsargumente aus der Intensität von Musik schlüssig sein können. Noch steht ein hinreichender empirischer Beleg dafür aus, dass die Erfahrung von Musik intensiver ist als die Erfahrung anderer Kunstformen oder alltäglicher ästhetischer Situationen. (Mir sind Künstler bekannt, die glaubwürdig von wenigstens genauso intensiven Erfahrungen visuel30

Vgl. etwa WWV I, S. 370.

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ler, also nicht zeitlich gebunden zu rezipierender Kunst berichten.) Überdies haben die eben gebrachten Argumente augenscheinliche Schwächen. Denn das Merkmal der Komplexität kann ebenso in der Ästhetik von Börsendynamiken erblickt werden, und zeitgebunden ist nicht nur Musik, sondern etwa auch der Filmschnitt. Kaum zu bestreiten scheint mir jedoch, dass das Ausmaß der Intensität der Erfahrung von Musik meist so erheblich ist, dass wir die Erfahrung überhaupt erinnern und weiter reflektieren können. Gleichzeitig ist die Erfahrung mit extrem ausgeprägten affektiven Erfahrungen kaum vergleichbar, etwa mit heftigem Zahnschmerz. Wenn ich vermuten werde, dass Musik (oder das Ästhetische allgemein) unser reflexives Bewusstsein alltäglicher affektiver Zustände schärfen kann, dann vor allem von Zuständen, deren Intensität nicht extrem hoch ist. Dies sind aber Zustände, in denen wir uns in alltäglichen Situationen unseres modernen Lebens häufig befinden. 31 Anstatt die Suche nach Spezifität fortzusetzen, möchte ich einen Gegenangriff auf Kritiker von Erfahrungsansätzen lancieren. Zunächst scheint mir Musik als Kunst nicht kategorial von anderen Kunstformen verschieden zu sein. Musikalische Kunstwerke dienen als Exemplare unserer Selbstverständigung. Freilich mag es sein, dass die epistemische Zugänglichkeit von Quartäreigenschaften bei absoluter Musik im Vergleich zu einer repräsentationalen Kunstform erschwert ist. Dies ist aber nur ein gradueller Unterschied, wenn überhaupt. Denn zum Beispiel bereiten auch Deutungen von Filmen eines David Lynch Mühe. Sie bleiben auch nach langer Auseinandersetzung mit seinen Werken prekär. Somit leitet die Frage nach dem ominösen spezifischen Wert der Musik ins Leere. Ebenso aussichtslos ist die Suche nach dem einen spezifischen psychologischen Wert des Mediums Musik. Spezifisch ist vielmehr der Reichtum an psychologischen Wertkomponenten, den Musik in einzigartiger, (noch?) nicht-substituierbarer Konzentration miteinander verbindet. Die Persistenz der musikalischen Praxis und die Ubiquität von Musik kann nur so erklärt werden. Darob werden aber weder der Nachweis noch die Erhellung einzelner psychologischer Wertkomponenten überflüssig, selbst wenn sich herausstellen sollte, dass sie isoliert nicht musikspezifisch sind. Den Wert fundamentaler musikalischer Expressivität sehe ich insbesondere in zwei Komponenten. Einerseits sind expressive (sig31

Eine typische Situation schildere ich in Abschnitt 1.2.1. (Sitzungsbeispiel).

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nifikante) Tertiäreigenschaften saliente Eigenschaften musikalischer Werke. Sie dürfen in einer angemessenen Deutung der Werke nicht vernachlässigt oder marginalisiert werden. Expressive Eigenschaften musikalischer Werke bestimmen deren Wert als Beiträge zu unserer Selbstverständigung, das heißt deren künstlerischen Wert. Der Wert musikalischer Expressivität kann auf der Ebene des Beitrages von Kunstmusik zur menschlichen Selbstverständigung erhellt werden. Andererseits kann expressive absolute Musik vor einer repräsentationalen Deutung unsere Fähigkeit der Reflexion und damit der Entwicklung unserer Affektivität, namentlich der Detektion und in der Folge der möglichen Suspension grob bestimmter affektiver Zustände, stärken. Noch einmal: Diese Thesen sind nicht als spezifische Bestimmungen aufzufassen. Auch andere abstrakte Kunstmedien haben das Potential von Expressivität, und die genannte psychologische Wertkomponente könnte auch dem Ästhetischen allgemein zugeschrieben werden. Die Möglichkeit einer Erweiterung des Anwendungsbereichs meiner Überlegungen ist aber ein theoretischer Vorteil, keine Ursache für philosophische Anspannung. Eine über die vorgeschlagene technische Bestimmung (Absicht, akustische Stimuli) hinausgehende, scharfe Abgrenzung des Musikalischen vom Ästhetischen, wie es auch in anderen Kunstformen, im Alltag oder der Natur vorzufinden ist, wäre nämlich unplausibel. Denn es ist keineswegs außergewöhnlich, beispielsweise alltägliche Klänge als Musik zu hören, etwa die partikulären Klangkomplexe herannahender U-Bahnen. Strukturen und Prozesse, die musikalische Werke inspirieren können, finden sich schlicht überall, auch in anderen Kunstmedien. Entsprechend ist es häufig so, dass Kunstwerke, die nicht der Musik zuzurechnen sind, mit musikalischen Termini beschrieben werden. Auch sie können Erwartungsspiele enthalten, wenn auch keine musikalisch induzierten. Wer diesen Umstand theoretisch leugnet, wird der Ubiquität musikalischer Potentiale nicht gerecht. Meinen Ansatz zum Problem der Substitution habe ich bereits dargelegt. Ich halte es für ein zu hastig formuliertes Problem, weil es der Gesamtheit der Wertkomponenten nicht Rechnung trägt, die Musik uns anbietet. Darüber hinaus könnte ich mich darauf einlassen zu bestreiten, ob sich einzelne Wertkomponenten substituieren lassen. Es gälte empirisch zu überprüfen, ob sich die hedonischen Gratifikationen etwa des Konsums von wie auch immer subtil synthetisierten Drogen in ihrer neuronalen Wirkung vergleichen lassen mit 265 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

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denjenigen aus der Rezeption eines musikalischen Werkes. Zu vermuten wäre, dass sich bei näherer Betrachtung Unterschiede feststellen ließen, zum Beispiel in der Art der körperlichen oder kognitiven Aktivierung während der Drogen- oder Musikerfahrung, in den möglichen Folgen der Erfahrung (Risiken von Schäden), nicht zuletzt auch in ihrer zeitlichen Dramaturgie.

5.2. Dynamisch-heterarchische Anlage unseres Selbst 5.2.1. Willensfreiheit Personalität impliziert Willensfreiheit. Wir sind, im Unterschied zu Tieren, Personen insofern, als wir für unser Handeln verantwortlich sind. Notwendigerweise setzt Verantwortung Willensfreiheit voraus. Dabei ist die Willensfreiheit als innere Freiheit zu verstehen und von äußerer Freiheit systematisch abzugrenzen. Äußere Bedingungen können uns daran hindern, unseren Willen umzusetzen, den wir völlig frei gebildet haben. Zum Beispiel könnte jemand eine Party besuchen wollen, aber am Türsteher scheitern. In dem Fall besitzt die Person die innere Freiheit, auf die Party gehen zu wollen, aber nicht die äußere Freiheit, an die Party gehen zu können. In der Philosophiegeschichte ist die menschliche Willensfreiheit ein viel diskutiertes Problem. Jedoch ist es nicht trivial, es auszubuchstabieren. Häufig wird es im Widerspruch der für unsere innere Freiheit erforderlichen Unbestimmtheit zukünftiger Weltverläufe und einem (Laplaceschen) Determinismus gesehen, in dem die Unbestimmtheit verneint wird. 32 Doch weshalb sollte am Determinismus festgehalten werden? Mit Blick auf die Quantenphysik ist der Determinismus keine plausible Ausgangshypothese. Eher abwegig scheint auch die Annahme, dass Gesetze existierten, die den Weltverlauf bis in alle Ewigkeit vorbestimmten. 33 Allenfalls könnte das Problem so formuliert werden, dass der Determinismus einfach vorsichtshalber als Möglichkeit zu berücksichtigen sei. Doch diese Vari-

Dennett sieht das Problem der Willensfreiheit allerdings nicht im Widerspruch zum Determinismus, sondern im Widerspruch zu der These begründet, wonach unsere Volitionen »mechanisch« hervorgebracht würden. Vgl. Dennett 1981b, S. 233 f. 33 Vgl. Keil 2007, S. 934–939. 32

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ante wirkt etwas dürftig angesichts des Gewichts, dass gemeinhin dem Problem beigemessen wird. Als Alternative zur agnostischen Variante möchte ich das Problem als dringlicher konturieren, auch wenn ich es dabei nur grob fasse. Selbst wenn auf neuronaler Mikroebene die Möglichkeit indeterministischen »Flackerns« besteht, kann angenommen werden, dass auf der Makroebene sich »Ausreißer« statistisch aufheben, sodass von vollkommen regelmäßigen Kausalbeziehungen zwischen komplexen mentalen Zuständen wie beispielsweise affektiven Zuständen, Motiven, aktualen Gründen, Bedürfnissen, Wahrnehmungen und unseren Volitionen auszugehen ist. 34 Trifft dies zu, dann könnte eine Spannung erblickt werden zwischen einer solchen mechanistischen Position auf Makroebene und dem Gedanken, dass nur dann von Willensfreiheit gesprochen werden könne, wenn es auch auf Makroebene Freiheitsspielräume gebe, das heißt, wenn auch auf der Makroebene Unregelmäßigkeiten möglich seien. Es könnten dann aufgrund der Regelmäßigkeit Volitionen vorhergesehen werden, lange bevor sie aufträten. Es könnte gar der Eindruck entstehen, dass unser phänomenales Erleben der Willensbildung nur ein Abglanz sei, ein Epiphänomen, eine Beobachtung eines unaufhaltsamen Vorgangs, den wir zu beeinflussen nicht eigentlich in der Lage sind. Um das Thema weiter zu entwickeln, möchte ich zwei Grundpositionen in der Willensfreiheitsdebatte skizzieren. Ich übergehe aus Platzgründen die Schwierigkeit, dass sie sich oft auf andere Varianten der Problemstellung beziehen, und rekonstruiere sie daher als Stellungnahmen auf die eben ausgeführte Variante: Kompatibilisten bestreiten, dass die Regelmäßigkeit auf Makroebene unserem Selbstverständnis als willensfreie Personen widerstrebe. Im Gegenteil: Für sie ist die Regelmäßigkeit eine notwendige Bedingung von Willensfreiheit. Libertarier (wie auch harte Indeterministen, auf die ich nicht weiter eingehe) akzentuieren die Spannung und halten Willensfreiheit für inkompatibel mit einem Determinismus auf Makroebene. Welches sind die zentralen Überlegungen der Antipoden? Libertarier stellen heraus, dass wir von Willensfreiheit streng Vgl. auch Dennett 1984, S. 77, FN 4. Der gegenwärtige Stand der empirischen Forschung erlaubt sogar, das Problem auf noch feinerer, »tieferer« Ebene anzusiedeln. Indeterminismus ist bereits auf der Ebene basaler neuronaler Zusammenhänge nicht mehr nachzuweisen. Vgl. Vargas 2007b, S. 143 f. Affektive Zustände sind oft Indikatoren von Motiven, Gründen oder Bedürfnissen, allerdings nicht immer in zuverlässiger Weise. Vgl. dazu mein Abschnitt 1.2.2 und mein folgender Abschnitt.

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genommen nur sprechen dürfen, wenn es uns stets möglich ist, die angesprochene Regelmäßigkeit zu durchkreuzen, das heißt, wenn uns im Willensbildungsprozess immer auch alternative Möglichkeiten offen stehen. Denn, so ihr Gedankengang, wäre dem nicht so, dann würde Personen auch keine Verantwortung zugeschrieben werden dürfen, da sie nicht willensfrei insofern sind, als ihnen eben keine echten Entscheidungsoptionen verfügbar waren. Die Aufgabe des Libertariers ist es, wieder und wieder Artikulationsformen dafür zu finden, dass zwischen der Annahme der Regelmäßigkeit von Beziehungen zwischen komplexen mentalen Zuständen und Zuschreibungen von Willensfreiheit Spannungen bestehen. Er fordert, dass der Willensbildungsprozess frei von inneren Einschränkungen verläuft, auch wenn diese aus unserer reflektierten Biografie folgen, und dass wir nur dann berechtigt für Handlungen verantwortlich gemacht werden dürfen, wenn im Willensbildungsprozess selbst die letzten Quellen der Volitionen unserer Kontrolle unterliegen. 35 Die Strategie des Libertariers gegen den Kompatibilisten ist es, die für Willensfreiheit erforderlichen Bedingungen stetig zu verschärfen, Freiheitsspielräume in »tieferen Schichten« oder weiter zurückliegenden Stadien von Willensbildungsprozessen dafür zu verlangen, dass berechtigt von willensfreien Handlungen gesprochen werden darf. Hier lauert ein Regressproblem, das zugleich ein attraktiver Ansatzpunkt für den Kompatibilisten ist. Die Position des Libertariers lässt sich kaum verständlich machen, wenn der Regress als infinit aufgefasst wird. Doch auch dem Abbruch des Regresses an einem Punkt haftet ein Makel an, nämlich derjenige der Beliebigkeit. Darauf hebt der Kompatibilist ab. Nach dem Kompatibilisten sind Zuschreibungen von Willensfreiheit und Verantwortung nur dann zu verteidigen, wenn der Willensbildungsprozess gerade auf regelmäßigen Beziehungen zwischen mentalen Zuständen beruht. Das alternative Bild wäre nach dem Kompatibilisten das einer chaotischen Willensbildung. 36 Dann aber würden wir keinesfalls von einem freien Willen Vgl. für eine ausführlichere Darstellung der Grundzüge des Libertarismus Kane 1996, insbesondere S. 32–39. 36 Demgegenüber sieht Henrik Walter unter Rückgriff auf die Chaostheorie die Möglichkeit einer »natürlichen Autonomie« darin begründet, dass bisweilen einzelne deterministische Ereignisse der Mikroebene verstärkt werden und die Makroebene bestimmen können, und dass wir so überhaupt erst zu Handlungsalternativen kommen, die unsere Willensfreiheit, revisionistisch-naturalistisch aufgefasst, ausmachen. Vgl. Walter 1998, S. 205–236. 35

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sprechen. Willensfreiheit bedingt gemäß dem Kompatibilisten, dass im Willensbildungsprozess zuverlässig bestimmte innere Einschränkungen wirksam werden. Es könnte gesagt werden, dass just diese in unserer reflektierten Biografie verankerten Einschränkungen uns letztlich ausmachen, nicht ein zufälliges »Aufflackern« von Freiheit ex nihilo, und dass unsere biografischen Voraussetzungen deswegen unsere Willensbildung beeinflussen sollen. Es scheint absurd, indeterminiertes »Aufflackern« als Charakteristikum eines Willens auszuzeichnen, den wir selbst kontrollieren. In den Augen des Kompatibilisten sind die Forderungen des Libertariers überzogen und führen daher in das geschilderte Dilemma. 37 Die Debatte um Willensfreiheit kennzeichnet, dass sowohl Libertarier als auch Kompatibilisten behaupten, ihre Positionen entsprächen unseren »natürlichen« Überzeugungen oder dem common sense. 38 In der Folge schieben sich die Opponenten gegenseitig die Beweislast zu und kritisieren dann die zur Verteidigung vorgebrachten Argumente. Diese Pattsituation (der besondere Reiz des Problems) entsteht, weil beide Positionen von starken Intuitionen getrieben sind, die die meisten Mitglieder wenigstens moderner westlicher Gesellschaften haben. 39 Beim Libertarier ist es die vortheoretische Überzeugung, dass wir »alle Fäden selbst ziehen müssen«, um willensfrei entscheiden und handeln zu können, beim Kompatibilisten die vortheoretische Überzeugung, dass wir nicht davor zurückschrecken, Personen Willensfreiheit zuzuschreiben, selbst (oder eben gerade) wenn sie ihren Willen unter bestimmten Einschränkungen bilden. Mir liegt der Kompatibilismus näher als der Libertarismus. 40 Vgl. Strawson 1974b, S. 25, und Dennett 1984, S. 6. Verweise auf angebliche »Intuitionen« finden sich zuhauf etwa in der Monografie von Robert Kane. Peter Strawson verteidigt den Kompatibilismus, indem er insbesondere auf die »unsere Natur ausdrückende« Praxis der Zuschreibungen von reaktiven Haltungen gegenüber anderen Personen verweist, die er durch inkompatibilistische Positionen gefährdet sieht. Vgl. Kane 1996, insbesondere S. 91–97, und Strawson 1974b, S. 25. 39 Vgl. zur Kulturrelativität des Problems der Willensfreiheit Kane 1996, S. 96 f. 40 Genauer gesagt habe ich Präferenzen für einen klassischen Kompatibilismus, keinen revisionistischen. Die klassischen Argumente für den Kompatibilismus sind triftig genug für eine Verteidigung der Position. Zu bedenken wäre auch Strawsons Sorge, dass mit einer Revision unserer kompatibilistischen Intuitionen für die menschliche Lebensform zentrale wertvolle Praktiken, Haltungen und Ideen (etwa diejenigen der Liebe und allgemeiner der gegenseitigen Zuschreibung von Verantwortung), wenigstens teilweise, sinnentleert oder gar abgesetzt werden könnten, mit un37 38

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Denn mir ist nicht einsichtig, wie ein zufälliges indeterminiertes »Aufflackern« auf quantenphysikalischer Ebene die Willensfreiheit einer Person, das heißt ihre innere Eigenkontrolliertheit, verständlich machen könnte. Kane setzt diesem Zufälligkeitseinwand entgegen, dass Personen durch eigene Anstrengung (effort) das »Aufflackern« ermöglichten, wobei bereits existierende mentale Zustände der Personen (etwa Motive oder Gründe) dies beeinflussten, allerdings nicht prädeterminierten. 41 Hier ist jedoch schlicht unklar, inwiefern der kausale Residualfaktor, der ja von sämtlichen bereits existierenden mentalen Zuständen abzugrenzen ist, der aber die für die Willensfreiheit maßgebliche Anstrengung mit sich bringen soll, nicht als ein zufälliger Residualfaktor aufgefasst werden soll. 42 Ich würde behaupten, dass gerade im Fall, in dem ein zufälliger Residualfaktor unseren Willensbildungsprozess maßgeblich beeinflusst, nicht einleuchtend von innerer Freiheit gesprochen werden kann. Darüber hinaus bleibt im Dunkeln, wie Motive oder Gründe das »Aufflackern« mit sich bringen können. Die Position des Kompatibilismus ist attraktiv, weil in ihr anerkannt wird, dass bei Willensfreiheit der Ausgang von Willensbildungsprozessen bestimmten inneren Einschränkungen unterliegt. Der Ausgang hängt ab von Motiven, Gründen, Bedürfnissen, die uns affektiv gewahr werden, von Wahrnehmungen, nicht zuletzt auch von (anderen) affektiven Zuständen. Im ersten Kapitel habe ich dargelegt, dass Entscheidungen letztlich stets affektiv herbeigeführt werden, und dass affektive Zustände uns an uns und die Welt binden. 43 Gäbe es im Willensbildungsprozess die affektiven Zustände nicht, dann wären die Resultate des Prozesses kaum mehr als die der Personen zu begreifen, die (leibliche) Träger der affektiven Zustände sind. Doch damit ist der Kompatibilismus nicht ausreichend verteidigt. Denn wären wir bei Willensbildungsprozessen unserer Affekabsehbaren Folgen – Strawson zweifelt bereits die Umsetzbarkeit solcher Reformen an. Weder der klassische Kompatibilismus noch der Libertarismus impliziert aber, dass gegenwärtige Praktiken nicht kritisiert werden könnten, etwa selbst in einigen westlichen Staaten verbreitete, per se menschenunwürdige und erzieherisch unwirksame Strafpraktiken (etwa die Todesstrafe, Isolationshaft oder der unangemessene Einsatz von Tasern). Vgl. Strawson 1974b, insbesondere S. 6–13, zum Revisionismus Vargas 2007b, insbesondere S. 151–164, sowie zu seinen Bemerkungen zur Strafpraxis Vargas 2007a, S. 206–208. 41 Vgl. Kane 2007, S. 173. 42 Vgl. auch Vargas 2007b, S. 149. 43 Vgl. mein Abschnitt 1.2.3.4.

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tivität nur wehrlos ausgesetzt, so wäre die Rede von Willensfreiheit nicht mehr als eine sprachliche Illusion. Daraus, dass unsere Willensbildungsprozesse nur dann gelingen können, wenn sie durch affektive »Schübe« abgeschlossen werden, folgt nicht, dass unser (vortheoretischer) Begriff der Willensfreiheit diesen Aspekt umfassen muss. Nichtsdestotrotz überzeugt die Position des Kompatibilismus. Der entscheidende Zug einer Verteidigung des Kompatibilismus liegt darin, zu spezifizieren, unter welchen Bedingungen ein Willensbildungsprozess zu willensfreien Entscheidungen und Handlungen führt. Der Schlüssel liegt dabei in einer Fähigkeit, deren Relevanz für unsere innere Freiheit sowohl Kompatibilisten als auch Libertarier hervorheben. Es ist dies die Fähigkeit der Affektsuspension. Libertarische und kompatibilistische Ansätze stimmen darin überein, dass das Vorhandensein und die Ausprägung dieser Fähigkeit zentrale Bedingung unserer Willensfreiheit ist. Keil, selbst Libertarier, schreibt etwa: »Willensfreiheit ist die Fähigkeit zur überlegten hindernisüberwindenden Willensbildung« 44

Die Fähigkeit ist so zu charakterisieren, dass sie uns erlaubt, die entscheidungs- und handlungsleitende Wirkung affektiver Zustände – unreflektiert wären sie in Keils Sprache »Hindernisse« einer freien Willensbildung – aufzuschieben oder bisweilen gänzlich unterdrücken zu können, um über die ihnen zugrunde liegenden Bedürfnisse, Gründe und Motive uns bewusst zu werden und über sie nachdenken zu können. Aus der Formulierung dieser Präzisierung wird deutlich, dass der Einfluss affektiver Zustände auf den Willensbildungsprozess nicht verneint werden soll. Ansonsten folgte aus der Fähigkeit ein ewiges Zaudern, eine vollständige Paralyse unserer Fähigkeit überlegten Entscheidens und Handelns. 45 Umgekehrt ermöglicht uns die Fähigkeit, nicht sämtlichen unseren affektiven Zuständen passiv ausgeliefert zu sein, sondern uns zu ihnen verhalten zu können, überlegen zu können, das heißt in den space of reasons einzutreten. 46 Die Fähigkeit der Affektsuspension macht uns zu Akteuren, zu Personen, Keil 2012, S. 132 f. Vgl. auch Dennett 1984, S. 86. So sind wir nach Dennett keine Engel, die Urteile all things considered fällen können. Vgl. Dennett 1984, S. 158, und mein Abschnitt 1.2.3.4. 46 Der Begriff des space of reasons geht auf Wilfrid Sellars zurück. Vgl. Sellars 1997, insbesondere S. 68–78. 44 45

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da wir dann notwendigerweise uns als aktive Wesen von unseren affektiven Impulsen distanzieren oder uns zu ihnen bekennen müssen. 47 Dass wir über die Fähigkeit verfügen, scheint phänomenal unbestritten. Wir sind schlichtweg, sofern die Fähigkeit unbeeinträchtigt ist, in der Lage, uns aktual virulenten affektiven Zuständen zu widersetzen und über ihre Rationalität nachzudenken, ohne dass allerdings die Resultate von Willensbildungsprozessen unbeeinflusst von unserer Affektivität blieben, die Entscheidungen und Handlungen letztlich an uns und die Welt bindet. Willensfrei entscheiden und handeln können wir nur dann, wenn die Fähigkeit der Affektsuspension unbeeinträchtigt operativ ist. Der eigentliche Hauptbeitrag Dennetts zur Willensfreiheitsdebatte ist es, innere Freiheit auf die Komplexität von Mechanismen unseres Gehirnes zurückzuführen, die evolutionär ausgebildet wurden, und nicht auf mysteriöses »Freiheitsflimmern«. 48 Die Komplexität ermöglicht etwa die Anwendung von Strategien, Hindernissen der freien Willensbildung auszuweichen: »When we look ahead to see what obstacles we are apt to encounter, we should of course include any obstacles we carry with us–such as craving for sweets, for instance, which might inspire us to adopt the higher-order strategy of not having sweets around the house, where the temptation would be too great. Higher-order strategies designed to maximize elbow room can in this way depend critically on the self-knowledge of the strategist« 49

Im Beispiel illustriert wird ein Hindernis, das unsere Fähigkeit der freien Willensbildung gefährden könnte, nämlich in dem Fall ein potentiell handlungsleitendes, alle anderen Erwägungen übertrumpfendes Hungergefühl, das sich auf Süßigkeiten richtet. Wir können uns aber, sofern wir uns dem Gefühl reflexiv gewahr sind, zu der Situation verhalten und beispielsweise Süßigkeiten von uns fernhalten. In dem Beispiel zeigt sich, wie uns ein geschärftes affektives Selbstbewusstsein unsere innere Freiheit zu bewahren helfen vermag, indem es uns Situationen durch bewusst gewählte Strategien vermeiden lässt, in denen die Fähigkeit der Affektsuspension nicht mehr operativ sein kann.

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Vgl. Korsgaard 1996, S. 113, und Moran 2001, S. 138–151. Vgl. etwa Dennett 1984, S. 61 und S. 107–115. Dennett 1984, S. 63.

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Es sind auch weniger drastische Situationen denkbar, in denen zwar Hindernisse bestehen im Sinne von affektiven Verlockungen, diese aber nicht alle anderen Erwägungen notwendigerweise übertrumpfen müssen. (Uns werden Süßigkeiten angeboten, wir greifen aber nicht zwanghaft zu.) Dass wir jedoch solchen Verlockungen nicht nachgeben müssen, dafür sind sowohl die Fähigkeit der Detektion affektiver Zustände als auch die Fähigkeit ihrer Suspension unabdingbar. Nur dank beiden Fähigkeiten können wir im Lichte eines weiter reichenden Überblicks über gewisse unserer Motive, Gründe, Bedürfnisse und Wahrnehmungen darüber befinden, ob uns nicht etwas uns Wichtigeres noch stärker bewegt. Überdies lässt uns die Detektionsfähigkeit affektive Zustände, die unser Verhalten ansonsten unterhalb der Schwelle reflexiven Bewusstseins beeinflussen würden, in den reflexiv bewussten space of reason einführen und, wenn sie uns nur diffus gewahr sind, möglicherweise ihr intentionales Objekt präzisieren. In beiden Beispielen wird die herausragende Bedeutung der Fähigkeit der Affektdetektion für unsere innere Freiheit ersichtlich. Sie geht der Fähigkeit der Affektsuspension voraus. Uns über affektive Zustände hinwegsetzen oder ihnen nach einem deliberativen Innehalten kontrolliert folgen können wir nur dann, wenn sie nicht »unter dem Radar« wirken, das heißt nur dann, wenn uns wie auch immer diffus intentional bestimmte affektive Zustände reflexiv bewusst werden. Setzten wir uns unreflektiert über die affektiven Zustände hinweg, verdrängten wir sie. Eine ausgeprägte und verfeinerte Fähigkeit der Affektdetektion im Zusammenspiel mit der Fähigkeit der Affektsuspension hat für uns mithin den Vorteil, dass wir vor einem vollständigeren Bild unserer Affektivität, die uns an uns und an die Welt bindet, unseren Willen reflexiv bewusst bilden können. Beide Fähigkeiten sind notwendige Bedingungen dafür, unser Selbst zu erschließen, zu entwickeln und so zu transformieren. 50 Allerdings ließe sich einwenden, dass, selbst wenn unsere Willensbildungsprozesse durch die beiden Fähigkeiten vor einem vollständigeren Bild unserer Affektivität reflexiv bewusst abliefen, deren Resultate doch einzig von mentalen Zuständen abhängen würden, die in den Prozessen gegeben seien. Letztlich seien diese Zustände zuDie Bedeutung unserer Vermögen der reflexiven Selbstkontrolle und die Abhängigkeit ihrer Ausprägung von sozialen Bedingungen im Zusammenhang mit Willensfreiheit hebt R. Jay Wallace hervor. Vgl. Wallace 1994, S. 232–235.

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rückzuführen auf unsere Biografie, über die wir, wenigstens über unsere Ausgangskonstitution, nicht befinden können. In ihrer Erwiderung dieses Einwandes stimmen Kompatibilisten und Libertarier ein zweites Mal überein. 51 Sie führen an, dass wir unser Selbst dynamisch erschließen. Wir sind durch eine Vielzahl von kleinen Schritten bewusst reflektierter Entscheidungen und Handlungen in der Lage, uns peu à peu selbst zu transformieren, unseren Charakter auszubilden, genauso wie unser Körper durch den Stoffwechsel peu à peu rundumerneuert wird. 52 Dadurch vermögen wir längerfristig auch das mentale Gegebene von Willensbildungsprozessen frei umzugestalten, dank der Fähigkeiten der Affektdetektion und -suspension immer mit geweitetem Blick auf unsere affektive Gegenwart. Freilich ist Dennett darin beizupflichten, dass Willensfreiheit komplexe physiologische Mechanismen erfordere. Auch die Fähigkeiten der Affektdetektion und -suspension setzen eine hohe Komplexität physiologischer Mechanismen voraus. Mit Blick auf den Wert von Musik möchte ich aber folgenden Punkt, den Dennett in seinen Texten zur Willensfreiheitsdebatte kaum diskutiert, weiter entfalten: Willensfreiheit beruht nicht nur auf der Komplexität physiologischer Mechanismen (in unserem Hirn), sondern auch auf einer Einsozialisierung in kulturelle Praktiken, auf der Koevolution von Gehirn und Medien. Das allererst zu nennende Medium ist dabei die Sprache. In den space of reasons eintreten können wir nur dann, wenn wir Normen der Sprache beherrschen. Nur dann sind wir in der Lage, im sozial instituierten Spiel der Gründe mitzumischen. Dabei ist die Reflexion auf Gründe notwendig für willensfreie Entscheidungen oder Handlungen. Worin könnte die Rolle expressiver Musik liegen? Ich behaupte, dass die Fähigkeiten der Affektdetektion und -suspension nicht entweder operativ sind oder nicht, sondern durch Vernachlässigung oder Manipulation geschwächt oder durch Vertiefung gestärkt werden können. Geschwächt oder gestärkt werden sie im Rahmen kultureller Praktiken. Namentlich die Fähigkeit der Affektdetektion kann durch involVgl. etwa Dennett 1984, S. 82–92, und Kane 1996, S. 196 f. Vgl. zum Punkt der Transformation durch viele kleinen Schritte Dennett 1984, S. 84. Die Transformation könnte auch mit einer musikalischen Transformation verglichen werden, wie sie etwa im Jazz zu beobachten ist, wenn ein Solist ein komponiertes Thema oder ein Melodiefragment einer seiner Mitmusiker aufgreift und dann zu seiner eigenen Improvisation abwandelt und entwickelt, oder wenn ein Komponist aus gegebenem musikalischen Material ein eigenes Werk schafft.

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viertes Hören expressiver Musik (oder durch die Erfahrung expressiver Medien allgemein) geschärft werden. Wir nehmen akustische Stimuli nur als von deren alltäglicher Situativität separierte als Musik wahr. Die musikalische Erfahrung ist dabei wesentlich eine affektive. Expressive Musik kann uns in geschützter Rezeptionssituation mit markanten hedonischen Konfigurationen affektiver Zustände vertraut machen. So kann sie uns ein vorsprachliches, musikalisches reflexives Bewusstsein affektiver Zustände vermitteln. Freilich sind diese Zustände auf tertiärer musikalischer Eigenschaftsebene nicht genau bestimmt. Doch gerade dies könnte für uns wertvoll sein. Expressive Musik kann uns auf tertiärer Eigenschaftsebene ein reflexives Bewusstsein von intentional noch nicht näher bestimmten affektiven Zuständen vermitteln, in denen wir uns im Alltag häufig befinden, und dadurch unsere Fähigkeit der Affektdetektion verfeinern. Die Fähigkeit der Detektion auch von diffusen affektiven Zuständen könnte namentlich deswegen unverzichtbar für unsere innere Freiheit sein, weil die dank der Fähigkeit umfassender aufgespürten affektiven Zustände in der Folge, bestenfalls, genauer bestimmt werden könnten. Wir kämen so zu einem umfassenderen, schärferen Bild unserer Affektivität, das sich dann im Willensbildungsprozess berücksichtigen ließe. Und wir hätten gleichzeitig durch den vollständigeren Überblick zusätzliche Optionen der Affektsuspension. Nicht detektierte unerwünschte affektive Zustände lassen sich nämlich kaum suspendieren, geschweige denn mit Gegenstrategien einhegen. Expressive Musik könnte uns dazu verhelfen, uns zu unserer Affektivität bewusster zu verhalten und dadurch unseren Freiheitsspielraum auszuweiten. Expressive musikalische Werke könnten nach meinem Gedankengang als externalisierte Katalysatoren unserer inneren Freiheit aufgefasst werden. 53 Zum Schluss dieses Abschnitts möchte ich einen weiteren Bereich der Konvergenz zwischen Kompatibilisten und Libertariern ansprechen. Der Bereich umfasst die praktische Relevanz der DiskussiDie Beobachtung unserer Tendenz der Externalisierung unseres Geistes – allerdings im Medium der Sprache – hat zwei bedeutende Theorien der analytischen Philosophie angeregt, und zwar den semantischen Externalismus (prominent vertreten durch Hilary Putnam und Tyler Burge) und die extended mind theory (prominent vertreten durch Andy Clark und David Chalmers, angedeutet auch von Dennett). Vgl. etwa Putnam 1975b, Burge 1979, Clark/Chalmers 1998 und Dennett 1981c. Die systematische Berücksichtigung der Tendenz ist ein zentrales Anliegen der Philosophie Hegels. Vgl. die Schlüsselstelle in PhG, S. 144 f.

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on um innere Freiheit. 54 Häufig wird der Bereich nur am Rande angesprochen. Und angesichts der technischen Subtilitäten, angesichts der bisweilen exzessiven Scholastik gerade in der Willensfreiheitsdebatte der analytischen Philosophie werden praktisch relevante Aspekte des Themas nur selten erörtert. Vielleicht könnte auch vermutet werden, dass in praktischen Kontexten vor allem äußere Freiheit sich zu verteidigen lohnt, während innere Freiheit, je nach metaphysischer Präferenz, existiert oder nicht. Doch auch unsere innere Freiheit ist von sozialen Bedingungen abhängig, und von sozialen Praktiken. Sie ist, ebenso wie unsere äußere Freiheit, ständig bedroht und muss deswegen ständig erkämpft werden. Stimmen meine Überlegungen, dann ist unsere innere Freiheit insbesondere dann bedroht, wenn die erforderlichen Fähigkeiten geschwächt oder uns Möglichkeiten ihrer Verfeinerung vorenthalten werden. Gerade in unserer heutigen Zeit sind durch die Weiterentwicklung massenmedialer Techniken die Möglichkeiten der Manipulation unseres psychischen Raumes, 55 das heißt unserer inneren Freiheit, massiv erweitert worden. Es ist ein Gemeinplatz, dass auch Musik als konstitutiv invasives, problemlos in der Masse zu verbreitendes Medium sich manipulativ einsetzen lässt. Mein Gedankengang zeigt aber eine Perspektive in entgegengesetzter Richtung auf: Musik kann, involviert rezipiert, als Medium affektiver Selbstverständigung, als Medium innerer Befreiung verstanden werden.

5.2.2. Rationalität von Emotionen Kant vertritt eine Extremposition mit Blick auf die Rationalität menschlicher Affektivität. Eine Handlung ist ihm zufolge nur dann gut (und damit im umfassenden Sinne rational), wenn sie nicht nur pflichtgemäß, das heißt nach kategorischem Imperativ, erfolgt, etwa motiviert durch affektive Zustände. Sie muss vielmehr aus der Pflicht erfolgen, genauer gesagt aus Achtung gegenüber dem obersten Sit-

Dennett und Kane sprechen wiederholt Szenarien der Unterwanderung innerer Freiheit an. Vgl. etwa Dennett 1981b, S. 255. Kane betont den Schutz vor psychischer Manipulation und die Bedeutung des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Vgl. Kane 1996, S. 204–206. 55 Auch Schuberts Unvollendete kann repräsentational als Thematisierung der Gefährdung innerer Freiheit verstanden werden. Vgl. mein Abschnitt 2.2.2.1. 54

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tengesetz. 56 Sämtliche uns affektiv gewahren Motive und Neigungen sind nach Kant bei der Bestimmung der guten Handlung zu vernachlässigen. Allein auf das oberste Sittengesetz komme es an. Uns affektiv gewahre Motive und Neigungen seien lediglich kontingent, instabil, zu ungleich verteilt, als dass auf ihnen das notwendig universell gültige, oberste Sittengesetz gründen könnte. 57 Kant würde somit Emotionen keinesfalls Rationalität (im umfassenden Sinne) zuschreiben. Doch in diesem Abschnitt behandle ich Rationalität als fünfte charakteristische Eigenschaft von Emotionen (und affektiven Zuständen allgemein). Denn häufig sind Emotionen rational und Streite über ihre Rationalität (oder Angemessenheit) nachvollziehbar. Doch handelt es sich bei der erwähnten Achtung nicht um einen affektiven Zustand, das heißt um eine Emotion? Kants Achtung ist nicht mit der Emotion der Achtung gleichzusetzen, die wir gemeinhin auf Personen richten, und zwar nicht nur insofern, als sich Kants Achtung auf einen abstrakten Gegenstand richtet, nämlich das oberste Sittengesetz. Die Achtung ist ihm gemäß weder passiv noch leiblich fundiert, kein »dunkles Gefühl«, sondern eher eine selbstgewählte Einstellung gegenüber dem obersten Sittengesetz, ein intelligibles Gefühl, das frei gewollt werden kann. 58 Die Kantstelle zur Achtung kann so gelesen werden, dass in ihr sich eine libertaristische Position offenbart. Der Schwierigkeit dieser Position war sich Kant sehr wohl bewusst. Seine Einlassungen ganz am Ende der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zeigen dies auf. Er bringt vor, dass auch die Position eines einheitlichen Naturalismus letztlich nicht mit Argumenten zu begründen sei, und dass die Spekulation über eine transzendentale Freiheit genauso in einem Grenzbereich menschlicher Vernunft erfolge. 59 Er versucht schlichtweg, die Beweislast auf die Gegenposition abzuwälzen. Außerdem bleibt in der Grundlegung das Problem unserer Motivation durch das oberste Sittengesetz und die möglichen Probleme seiner Zweiweltenontologie stehen. Eine moderatere Position als die Kants scheint vielversprechender. In der Position wird dem Vorurteil entgegengetreten, dass die menschliche Affektivität mit Irrationalität gleichzusetzen ist. Nach 56 57 58 59

Vgl. GMS, 397–401. Vgl. GMS, 398. Vgl. GMS, 401, insbesondere FN 2, und Demmerling/Landweer 2007, S. 42–46. Vgl. GMS, 450–463.

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der moderaten Position sind affektive Zustände bisweilen rational, und es ist bisweilen auch rational, aus affektiven Zuständen zu entscheiden und zu handeln. 60 Drei Fragen drängen sich dabei auf: (1) Inwiefern kann menschliche Affektivität rational sein? (2) Inwiefern kann menschliche Affektivität irrational sein? (3) Können wir rationale affektive Zustände (aus der Perspektive der ersten Person) von irrationalen unterscheiden, und wenn ja, wie? Zur ersten Frage im Folgenden drei Antworten – ohne Anspruch auf vollständige Beantwortung. Darauf bespreche ich die Möglichkeit irrationaler affektiver Zustände (zweite Frage). Die dritte Frage erörtere ich knapp im nächsten Abschnitt. Erstens sind affektive Zustände notwendige Bestandteile rationalen Überlegens, und insofern können sie nicht immer irrational sein. Denn wir kämen nie zu Entscheidungen ohne die kognitive Entlastung durch affektive Zustände, die Signifikantes in unseren Überlegungen hervorspringen lassen und die uns zur Konklusion »schieben«. 61 Wir wären ewige Zauderer, und unsere Entscheidungen, unser Handeln, wenn wir überhaupt dazu kämen, wäre kaum als rational zu bezeichnen. Zweitens erfüllen affektiven Zuständen zugrunde liegende Module eine biologische Funktion. Die Module sind evolutionär ausgeprägt worden. Affektive Zustände binden uns an uns und die Welt an. Sie zeigen uns, was uns wichtig ist, und sie sind Indikatoren für unsere unmittelbar nicht anders zugänglichen leiblichen Zustände. Sie können uns insofern »akteursrelative Gründe« gewahr werden lassen. 62 Es wäre evident irrational, diese affektiven WahrnehmunHandlungen aus affektiven Zuständen sind keine Handlungen, die wir gemeinhin als Handlungen »aus Affekt« bezeichnen. Bei teilweise zu entschuldigenden Handlungen »aus Affekt« versagen unsere Fähigkeiten der Affektdetektion und -suspension. 61 Vgl. de Sousa 1987, S. 190–194, und meine Abschnitte 1.2.3.3. und 1.2.3.4. De Sousa zweifelt in dem Abschnitt auch an, ob ein Kantianischer perfekter Deliberator als freie Person verstanden werden kann. Denn die Handlungen des Deliberators seien als vollkommen rationale vollkommen determiniert und vollständig vorherzusehen. Insofern könnte gesagt werden, dass uns unsere Affektivität dadurch einen strategischen Vorteil böte, dass sie unsere zukünftigen Entscheidungen und Handlungen unvorhersehbar mache. Jedoch sind nach dem Kompatibilismus, für den ich argumentiert habe, auch Entscheidungen und Handlungen von imperfekten Deliberatoren (grundsätzlich) vollständig vorherzusehen. 62 Vgl. de Sousa 1987, S. 178. 60

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gen bei unseren Entscheidungen und Handlungen stets auszuklammern, wie Kant es allerdings fordert. Drittens können affektive Zustände schnelle Indikatoren sein für die moralische Beschaffenheit von Situationen, und wir können aus ihnen aus der ersten Person bisweilen angemessenere Urteile fällen als nach reiflichen Überlegungen. Dieser Punkt wird vor allem in der neueren moralpsychologischen Literatur hervorgehoben, in der ein überzogener »Intellektualismus« kritisiert wird. 63 Nomi Arpaly diskutiert in ihrem Aufsatz dazu eine Reihe von subtil konzipierten Fallbeispielen, in denen gezeigt wird, dass uns bisweilen kühle Urteile aus der ersten Person auf den Holzweg führen, weil in ihnen affektive Wahrnehmungen nicht (hinreichend) berücksichtigt werden, bisweilen aber uns kühle Urteile auch vor affektiven Projektionen schützen können. In ihrer Replik auf Arpaly skizziert Karen Jones eine Position, die ein Gegenextrem zur Kantianischen darstellt. Folgten wir stets lediglich passiv unseren affektiv aktuell stärksten Wahrnehmungen, so wären wir bloß »reason trackers« oder affektive »Thermostate«. Doch dies entspreche nicht unserer Natur, sondern eher der Natur von Tieren. 64 Wir seien vielmehr »reason responders«, die sich zu den affektiven Wahrnehmungen in Beziehung setzten und die sich zu ihnen verhalten können. Jones betont in Anlehnung an den Kompatibilismus Gary Watsons, wie ich im vorangehenden Abschnitt genauso, dass bei »reason responders« bestimmte Fähigkeiten operativ sein müssen, insbesondere der Affektsuspension und der -reflexion. 65 Affektive Zustände sind schnelle Indikatoren für das, was uns wichtig ist. Und insofern binden sie uns an uns und an die Welt. Allerdings scheint unkontrovers, dass sie uns nicht selten in die Irre führen können. Entscheidungen und Handlungen, die wir allzu unreflektiert auf affektive Zustände stützen, fallen deswegen bisweilen irrational aus. Die Möglichkeit affektiver Irrationalität bedarf einer Erläuterung. Denn es könnte erstaunen, dass uns Zustände, deren zugrunde liegende Module evolutionär ausgeprägt worden sind, täuschen können. Ich beschränke mich auf zwei Punkte. Einerseits können die affektiven Zuständen zugrunde liegenden Vgl. Baumann/Döring 2009, Arpaly 2009 und Jones 2009. Vgl. Jones 2009, S. 556–561, und de Sousa 1987, S. 190–192 (»animal machines« – empiristisches mechanistisches Menschenbild). 65 Vgl. Jones 2009, S. 558, und Watson 1975. 63 64

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Module schlichtweg im Einzelfall versagen, oder sie sind allgemein defizient. 66 (Es gibt eine Vielzahl von Fehlermöglichkeiten. Eine Quelle affektiver Verzerrung kann auch in der Fehlsemantisierung affektiver Rohzustände liegen, also in der Schnittstelle zwischen den Modulen und unseren kulturell ausgeprägten sprachlichen Ressourcen der Etikettierung affektiver Zustände.) Andererseits können Situationen im Rahmen unserer modernen Gesellschaft von den evolutionsgeschichtlich einschlägigen Situationen abweichen, an denen die Module ausgeprägt worden sind. In dem Fall funktionieren die Module tadellos. Nur sind unsere affektiven Zustände den heutigen Situationen unangemessen, häufig systematisch. 67 Unsere Wut im U-Bahn-Beispiel könnte überzogen sein, da es im modernen Alltag schlicht zufällig geschehen kann, dass sich Passanten zu nahe kommen. Und unser Unbehagen im Sitzungsbeispiel dürfte deswegen so diffus sein, weil unsere evolutionär ausgeprägten Affektmodule mit der Wahrnehmung einer solch komplexen Situation an ihre Grenzen stoßen.

5.2.3. Affektive Selbsttransformation und Kultur Eine Ursache für Täuschungen durch affektive Zustände liegt in Störungen oder permanenten Defizienzen der ihnen zugrunde liegenden, evolutionär ausgeprägten Module. Dabei kann ihr Versagen nur im Verhältnis zu Standards ihres normalen Funktionierens festgestellt werden. Die Rationalität affektiver Zustände lässt sich also nur bestimmen, wenn sie mit normalen Reaktionen abgeglichen werden. Dabei kann allerdings umstritten sein, was als normale affektive Reaktion zu gelten hat. 68 Weiter kann darüber nachgedacht werden, ob die Situationen, in denen unsere affektiven Zustände ausgelöst werden, paradigmatischen (Normal-)Szenarien entsprechen, anhand deren wir affektive Zustände semantisch identifizieren. Mit den Szenarien werden wir in unserer Kindheit und Jugend sowie auch in repräsentationalen Kunstwerken vertraut gemacht. 69

Vgl. etwa die Aufsätze in Sinnott-Armstrong 2008 unter anderem zur Psychopathologie von Kriminellen und zum Autismus. 67 Vgl. Goldie 2008, S. 154–158. 68 Vgl. de Sousa 1987, S. 177. 69 Vgl. de Sousa 1987, S. 181–184. Auf die Bedeutung repräsentationaler Kunstwerke 66

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Aber droht hier nicht ein Kantianischer backlash? Denn angenommen, wir müssten unsere affektiven Zustände immer nach obigen Rationalitätskriterien überprüfen, da sie stets das Risiko der Irreführung bergen: Wäre dann nicht doch das Ideal das eines perfekten Deliberators? Werden affektive Zustände als Indikatoren von uns und der Welt durch die aufgezeigte Ambivalenz hinsichtlich ihrer Rationalität nicht epistemisch und praktisch vollkommen entwertet? Ich glaube nicht. Auf die Probleme der Kantianischen Extremposition habe ich bereits hingewiesen. Letztlich bleibt uns aber keine andere Wahl, als uns auf ein Spiel einzulassen, jeweils affektiven Impulsen, reflexiv bewusst, zu folgen oder diese, nach Überlegungen, zu suspendieren zugunsten anderer affektiver Impulse. Dies selbst dann, wenn wir uns Rat von außen holen. Denn der Rat von außen könnte uns möglicherweise genauso täuschen wir unsere eigene Affektivität. Insofern wir auch diffuse affektive Zustände berücksichtigen können, umfasst das Spiel auch die Möglichkeit, dem sozial etablierten Druck nach Normkonformität, insbesondere semantischen Normen affektiver Rationalität, radikal zu widerstehen. Über eine Gottesperspektive, die ein perfekter Deliberator besitzt, verfügen wir schlichtweg nicht. Für uns gibt es keine fixe Hierarchie unserer affektiven und deliberativen Fähigkeiten, das heißt für den Einzelfall in praxi keinen hierarchisch fixen Referenzpunkt für gute Entscheidungen und Handlungen. 70 Es gibt kein alltagspraktisches fixes optimales Verhältnis der beiden Arten von Fähigkeiten (80 % Nachdenken, 20 % Nachgeben? 20 % Nachdenken, 80 % Nachgeben? Aufteilung nach dem goldenen Schnitt?), auch kein solides Abbruchkriterium für unser Nachdenken. Die beiden Fähigkeitsarten stehen vielmehr in einer heterarchischen Beziehung. Das Verhältnis der Fähigkeiten muss ständig neu festgelegt werden. Goldie teilt in der folgenden Stelle einen Humeanischen Skeptizismus hinsichtlich unserer Fähigkeiten der Detektion, Suspension und Reflexion unserer Affektivität:

(inklusive repräsentational gedeuteter musikalischer Werke) für unsere affektive Selbstverständigung komme ich im folgenden Abschnitt zurück. 70 Das dynamisch-heterarchische Modell steht Frankfurts statisch-hierarchischem Modell des Selbst entgegen. Nach Frankfurt entfalten wir uns als freie Wesen, wenn höherrangige Wünsche tieferrangige (als affektive Zustände) bestimmen. Vgl. Frankfurt 1971.

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»there remains the central concern that emotion-based intuitive thinking does its dirty work … before deliberative thinking comes on the scene, so that when deliberative thinking does arrive, the epistemic landscape and the preferential landscape have already been skewed and the dirty work already covered up. … it is as if the defence lawyer, before he takes on the case, already believes that his obviously guilty client is innocent« 71

Ganz so pessimistisch wäre ich jedoch nicht. Die Furcht vor dem animalistischen Gegenextrem, dem Gespenst der menschlichen »animal machine« (Menschen als bloße »reason trackers«), ist unbegründet. Denn wir sind in der Lage, auf Fähigkeiten der Affektdetektion und -suspension zurückzugreifen. Die Fähigkeiten eröffnen uns einen Freiheitsspielraum, der es erlaubt, dass wir uns im Laufe der Zeit schrittweise selbst transformieren können. Unsere eigene innere Freiheit ist somit nicht als feste Größe bei allen Entscheidungen und Handlungen von Beginn bis zum Ende unseres Lebens gegeben, sondern sie muss, auch im Innern, stetig erkämpft werden, insbesondere durch Strategien der eigenen Verhaltenssteuerung (Dennetts Beispiel) und durch Kultivierung unserer Fähigkeiten der Affektdetektion und -suspension (Jones spricht von Kalibrierung). 72 Ich möchte zwei Gründe für eine optimistischere Haltung als diejenige von Goldie (und Hume) anführen. Einerseits erschließen wir unser Selbst nicht zuletzt geschichtlich. Wir können retrospektiv über Entscheidungen und Handlungen nachdenken, selbst wenn diese lange zurückliegen. Wir können langfristige Entwicklungslinien von Transformationen unseres Selbst registrieren und reflektieren. Dazu dienen uns namentlich auch paradigmatische Narrative, die uns oft über Kunstwerke vermittelt werden. Zu diesen Narrativen können wir uns verhalten. Die Reflexion größerer Zusammenhänge unserer Entwicklung kann uns dazu dienen, Inkonsistenzen unserer Entscheidungen und Handlungen oder bisweilen auch Brüche unserer Biografie aufzudecken und mit diesen spröden Momenten unseres Selbst umzugehen. Andererseits können wir zur Selbsterschließung kulturelle Ressourcen heranziehen. Die Ressourcen haben wir uns womöglich gerade zu diesem Zweck erarbeitet, nämlich zur Erweiterung unseres inneren Freiheitsspielraums. Die Ressourcen erweitern unseren Freiheitsspielraum, indem sie uns unsere Fähigkeiten der Affektdetektion 71 72

Goldie 2008, S. 162 [Hervorhebungen von Goldie]. Vgl. Jones 2009, S. 561–569.

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und -suspension schärfen lassen. Dadurch werden uns mehr affektive Zustände gewahr, denen wir nachgeben oder über die wir nachdenken (und die wir darauf allenfalls suspendieren) können. Die kulturellen Ressourcen können deswegen zu einer tieferen Erschließung unseres Selbst beitragen.

5.3. Musikalische Expressivität, die Unfreiheit des involvierten Hörers und menschliche Freiheit Werke absoluter Musik involviert zu hören ist eine notwendige Bedingung nicht nur für die Rezeption musikalischer Tertiäreigenschaften, darunter expressive Eigenschaften tertiärer Ebene, sondern auch von musikalischen Quartäreigenschaften. Denn in werkangemessenen repräsentationalen Deutungen sind Tertiäreigenschaften zu berücksichtigen. Dabei erfordert die involvierte Hörhaltung von uns, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf formale Verläufe der uns in Aufführungen dargebotenen akustischen Gebilde richten, das heißt insbesondere nicht auf die kausalen Quellen der Klänge und ihre mögliche Bedeutung für uns. In dem Moment sind wir zwar insofern befreit von unserer alltäglichen Situativität. Ansonsten sind wir aber – bestenfalls freiwillig – unfrei. 73 Wir sollen – so die »Zumutung« der involvierten Hörhaltung – nichts anderes tun als uns auf die Musik einzulassen. Und unsere Wahrnehmung wird bestimmt einzig durch die formale Anlage der Klänge und durch einen sozial instituierten absolutmusikalischen Kontext. Möglicherweise haben wir einen kleinen Freiheitsspielraum dahingehend, auf welche musikalische Tiefendimension wir gerade fokussieren (Vorder-, Mittel- oder Hintergrund). Doch legt die Faktur der Musik meist fest, wohin wir hören sollen. Hören wir Musik involviert, so bestimmen die Formen, auf die wir uns konzentrieren, unsere Erfahrung, vor allem auch unsere affektive Erfahrung. Ich habe herausgearbeitet, dass Musik in dieser Weise invasiv ist. Wir werden in der Erfahrung aus unserer alltägDie Ambivalenz musikalischer Expressivität diskutiere ich am Schluss dieses Abschnittes. Geraten wir unfreiwillig in den involvierten Modus des Musikhörens, so belästigt uns Musik (nicht nur als Lärmquelle, sondern namentlich als Musik). Bisweilen wird uns Musik auch einfach »untergeschoben«, ohne dass wir sie uns explizit wünschen, etwa im Café oder im Supermarkt. Meist hören wir dann Musik aber zerstreut, nicht involviert.

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lichen Affektivität herausgerissen – auch dies kann befreiend wirken –, und sind mit affektiven Zuständen konfrontiert, die vorderhand, das heißt auf tertiärer Eigenschaftsebene, für uns keine Alltagsrelevanz aufweisen. Unsere Aufmerksamkeit wird so bei der synchronen, idealen involvierten Rezeption expressiver Werke absoluter Musik auf hedonische Konfigurationen ohne repräsentationalen Gehalt gelenkt. Dabei entsprechen allerdings die Konfigurationen denjenigen alltäglicher affektiver Zustände. Deswegen sind wir nicht zuletzt in der Lage, die Expressivität absolutmusikalischer Werke auf tertiärer Eigenschaftsebene mit affektivem Alltagsvokabular grob zu charakterisieren. Gerade im Fokus auf hedonische Konfigurationen affektiver Zustände ohne repräsentationalen Gehalt, den uns die Rezeption musikalischer Tertiäreigenschaften bietet, könnte eine, wenn auch möglicherweise nicht exklusive, Wertkomponente absoluter Musik liegen. So ist zu vermuten, dass unser reflexives Bewusstsein für hedonische Konfigurationen durch die Rezeption absolutmusikalischer Tertiäreigenschaften geschärft wird. Dieses Bewusstsein kann unsere Fähigkeit der Affektdetektion und damit auch unsere Fähigkeit der Affektsuspension stärken. 74 Nach dem von mir skizzierten Modell des dynamisch-heterarchischen Selbst hängt unsere innere Freiheit von den beiden Fähigkeiten entscheidend ab. Es könnte somit gesagt werden, dass die Unfreiheit (unter anderem) bei der Rezeption musikalischer Tertiäreigenschaften eine Erweiterung unserer inneren Freiheit ermöglicht. Allerdings könnte die Schärfungsthese insofern angegriffen werden, als auf die Unterbestimmtheit der absolutmusikalisch auf tertiärer Eigenschaftsebene ausgedrückten affektiven Zustände hingewiesen würde. Kritiker könnten mir vorhalten, dass absolute Musik

An dieser Stelle könnte auf die Verwandtschaft des Gedankengangs mit der Aristotelischen Katharsistheorie hingewiesen werden. Die Verwandtschaft ist allerdings nur lose, wenn überhaupt. Ich behaupte nicht, dass wir uns bei der Rezeption von Musik affektiver Zustände entledigen, schon gar nicht spezifisch des Mitleids und der Furcht, sondern unser affektives Bewusstsein schärfen. Dies kann bisweilen gerade dazu führen, dass wir affektive Wahrnehmungen anerkennen und ihre Bedeutung für uns akzeptieren, indem wir ihren Entscheidungs- und Handlungsimpulsen, allerdings reflektiert, nachgeben. Mit vorliegender Untersuchung habe ich konkret dargelegt, wie absolute Musik auf tertiärer Eigenschaftsebene dazu beitragen könnte. Andere Lesarten der Katharsistheorie lassen eine Verwandtschaft noch weniger erkennen.

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mangels ihrer expressiven Bestimmtheit eben gerade nicht einer Schärfung unseres affektiven Selbstbewusstseins dienen könne. Erwidern würde ich, dass nur schon die Erfahrung hedonischer Konfigurationen grob bestimmter affektiver Zustände, die uns die synchrone, involvierte Rezeption absolutmusikalischer Werke erlaubt, unser affektives Bewusstsein schärft, offensichtlich nicht in dem Sinne, dass uns (propositional) paradigmatische Situationen von genau bestimmten Emotionen vermittelt werden, sondern in dem Sinne, dass wir im Alltag bewusster mit affektiven Zuständen umgehen (oder überhaupt erst auf diese aufmerksam werden), deren inhaltliches Objekt wir, wenigstens reflexiv bewusst, nicht genau erfasst haben. Die von mir vermutete Wertkomponente könnte somit darin liegen, uns insbesondere auf im Alltag häufig vorkommende diffuse affektive Zustände aufmerksam zu machen und sie dadurch in den Raum der Gründe zu überführen. Die gesteigerte Aufmerksamkeit kann auch dazu führen, dass wir inhaltliche Objekte affektiver Zustände genauer bestimmen können. Im Sitzungsbeispiel: Der Schlüsselmoment der Situation ist unser reflexives Gewahrwerden – nach meiner vermuteten Wertperspektive möglicherweise aus der Erinnerung an einen musikalisch erfahrene hedonische Konfiguration – eines noch diffusen Unwohlseins. Ab dem Moment beginnen wir über die Situation nachzudenken und unterschreiben schließlich entweder das präzisierte affektive »Urteil«, oder wir distanzieren uns von ihm. Würde das Unwohlsein auf phänomenaler Stufe verharren, würden wir die affektive Wahrnehmung nicht in unser reflexives Entscheiden und Handeln miteinbeziehen, oder das Unwohlsein drängte uns zu einer unbedachten Reaktion. Mein Fokus auf die absolutmusikalische Erweiterung innerer Freiheitsspielräume ist nicht so zu lesen, dass Werke absoluter Musik nicht auch zu einer Verständigung über unsere äußere Freiheit beitragen können. Ich würde lediglich einwenden, dass sie dies nicht auf tertiärer, sondern auf quartärer Eigenschaftsebene tun. Schuberts Unvollendete ist auf tertiärer Eigenschaftsebene affektiv nur grob bestimmt. Sie drückt, in ihrer synchronen Erfahrung spürbar, Melancholie oder Traurigkeit aus. Wenn sie in den plausiblen repräsentationalen Deutungskontext der Restauration Metternichs gestellt wird, ließe sich die These verteidigen, sie drücke Ernüchterung über den Gang der Geschichte aus, Traurigkeit über die Repressalien der Zeit. Auch wenn die tertiäre Eigenschaftsebene der Sinfonie allein die repräsentationalen Kontexte ihrer Deutung kaum so eingrenzen lässt, 285 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

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kann das Werk ganzheitlich als (affektiver) Kommentar zur damaligen politischen Bedrohung äußerer Freiheit verstanden werden. Ich habe wiederholt betont, dass absolutmusikalische Werke als sinnvoll und expressiv nur schon auf tertiärer Eigenschaftsebene erlebt werden können. Ebenso habe ich die Verneinung der quartären Eigenschaftsebene absoluter Musik und die den damit verbundenen Traum der Weltflucht kritisiert, da auch Werke absoluter Musik von Menschen in einem bestimmten sozialen, politischen und ökonomischen Kontext in meist historisch imprägnierten Materialen geschaffen werden, selbst wenn die Erschließung ihrer repräsentationalen Eigenschaften schwer fällt oder bisweilen auch scheitert. Werke absoluter Musik ersparen uns nicht die Auseinandersetzung mit den (im weiten Sinne aufzufassenden) Kontexten ihrer Produktion. Insofern können sie uns nicht befreien. Es könnte behauptet werden, dass die Beschränkung der Rezeption absoluter Musik auf ihre Tertiäreigenschaften den Vorteil böte, dass sie uns eine freie Reflexion unserer Affektivität ermögliche, im Gegensatz zu unmittelbar repräsentationalen Kunstwerken, die immer gekennzeichnet seien durch interessengetriebene Standpunkte auf ein Thema (etwa in Anna Karenina auf die Liebe, die Ehe und die russische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts). Dafür aber zahlen die bloß Tertiäreigenschaften berücksichtigenden Rezipienten den Preis, dass sie keine paradigmatischen Szenarien der feinkörnigen semantischen Erfassung affektiver Zustände studieren können. In der fundamentalen Bestimmung musikalischer Expressivität auf tertiärer Eigenschaftsebene spielt die Evokation affektiver Zustände eine zentrale Rolle. In der Geschichte der Musikphilosophie wird dieses Moment von Musik eher argwöhnisch betrachtet, da es ein erhebliches Potential des Missbrauchs birgt. Nicht zuletzt zur Manipulation der Masse kann das unsichtbare, aber leicht zu verbreitende evokative Potential des hermetischen Mediums Musik benutzt werden, also zum genauen Gegenteil dessen, was nach meinem Gedankengang Musik uns unter anderem ermöglichen kann, nämlich einer inneren Befreiung. (Damit ist ein Extrembeispiel ihrer Verwendung wie etwa bei der Musikfolter noch gar nicht genannt.) Musik kann Medium der Unfreiheit ebenso sein wie Medium der Freiheit, je nach ihrer Verwendung. Bei aller Warnung vor den Gefahren des Potentials ist doch auch sein Wert für unsere Selbstverständigung nicht zu vernachlässigen. Das affektive Potential von Musik ist ambivalent. 286 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Literaturverzeichnis

Klassische Schriften werden mit Siglen zitiert. ÄI

Ä III

Arist. pol. Arist. rhet. Dictionnaire DLM

Dubos EpW

Ess Expr

GMS

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Caplan, Ben 81 Carroll, Noël 53, 80, 207 f. Chabanon, Guy de 27 f., 30, 32, 35 Chalmers, David 166, 275 Chomsky, Noam 185 Choudhury, Suparna 44 Clark, Andy 275 Clifton, Thomas 171, 175–177 Cohnitz, Daniel 119 Collingwood, Robin George 65 Cook, Nicholas 97–99, 110 f., 159 Cooke, Deryck 68–70 Craig, Daniel G. 212 Cruise, Tom 100 Dahlhaus, Carl 24, 30, 206 Dalgleish, Tim 46 Damasio, Antonio R. 61, 63 Danto, Arthur C. 139 Davidson, Donald 94, 96 f. Davidson, Richard J. 62 Davies, David 81 Davies, Stephen 36, 64–66, 70, 92, 94 f., 110–112, 118, 130, 218, 222 f., 228 de Sousa, Ronald 52, 61, 278–280 Deines, Stefan 167 Demmerling, Andreas 43 f., 53, 58, 277 Dennett, Daniel C. 140, 167, 266 f., 269, 271 f., 274–276, 282 DeNora, Tia 153 f., 256 Deutsch, Diana 185 Dibben, Nicola 98 f. Dick, Philip K. 100 Dickie, George 139 Dodd, Julian 81

303 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Personenregister Döring, Sabine A. 43 f., 49 f., 58, 279 Dowling, W. Jay 140 f., 149, 163, 172 Downing, George 48 Drayson, Zoe 140 Dubois, Pierre 26 Dubos, Jean-Baptiste 218, 260 Dunn, Barnaby D. 46 Effingham, Nikk 81 Einstein, Alfred 38, 72, 101, 143 Eisler, Hanns 155 f. Ekman, Paul 52 Eldridge, Richard 30 f. Eliot, T. S. 207 Ellsworth, Phoebe C. 43, 50, 61, 198, 226 Feldman, Matthias 203 Forte, Allen 22, 90 Frankfurt, Harry 281 Frege, Gottlob 86 Fritz, Tom 70, 160 Gabrielsson, Alf 151, 207, 209, 212 Gage, Phineas 61 Gagnon, Lise 136 Gaver, William W. 204 Georgiades, Thrasybulos 21 Gluck, Christoph Willibald 35 Goehr, Lydia 81, 86, 102, 105 f. Goldie, Peter 50, 56 f., 280–282 Goldman, Alan 217–220, 222 Gombrich, Ernst H. 121 Goodman, Nelson 73, 81, 85, 96, 118– 131, 134, 170, 254 Gorbman, Claudia 155 f. Gotlieb, Heidi 159 Gracyk, Theodore 259 Grandjean, Didier 225 f. Grewe, Oliver 212 Grey, John M. 178 Griffiths, Paul E. 46 Grüny, Christian 217 Gurney, Edmund 158, 189

Hacker, Peter M. S. 44 Hanslick, Eduard 34–41, 77, 79 f., 83, 102, 207 Harwood, Dane L. 140 f., 149, 163, 172 Haydn, Joseph 35, 210 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 29– 32, 174, 275 Heidegger, Martin 52–54, 173, 176, 198 Helm, Bennett 56, 61 Higgins, Kathleen Marie 86 Hobbes, Thomas 27 Hospers, John 77 Hotho, Heinrich Gustav 29 Houlgate, Stephen 223 Hume, David 62, 282 Huron, David 137 f., 140, 143, 146– 149, 179, 184, 198–205, 209–214, 224, 253, 257 Husserl, Edmund 175 f. Jackendoff, Ray 160, 185 Jackson, Frank 164 James, William 50, 56, 63, 66, 171, 173, 177 Johnson, Mark 179 Jones, Karen 279, 282 Juslin, Patrik N. 204 Kane, Robert 268–270, 274, 276 Kania, Andrew 25, 81, 135, 259 Kant, Immanuel 120, 201 f., 210–213, 276–279, 281 Karl, Gregory 105, 112 f., 115–117 Karno, Mitchell 159 Keil, Geert 266, 271 Kenny, Anthony 52, 55 Kerman, Joseph 97 Kessler, Edward J. 183 Kim, Jaegwon 89 Kirk, Robert 166 Kivy, Peter 38 f., 46, 53, 65 f., 77, 81, 86, 95, 102 f., 105 f., 109–113, 138 f., 201, 218, 227, 257–259 Koelsch, Stefan 70, 160, 199, 203 f., 254, 256 f.

304 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Personenregister Konečni, Vladimir J. 159, 211 Korsgaard, Christine M. 49, 272 Kramer, Jonathan D. 172 Kramer, Lawrence 97–99, 102, 105 Krumhansl, Carol 182–185, 187 Kühn, Clemens 22, 210 Lakoff, George 179 Landweer, Hilge 43 f., 49, 53, 58, 277 Langer, Susanne K. 73, 85, 115, 119 f., 122, 124, 126 f., 130 f., 134 Lazarus, Richard S. 55 LeDoux, Joseph 46, 58 Lehne, Moritz 143 f. Leppert, Richard 97 Lerdahl, Fred 160, 185 Levinson, Jerrold 23, 66, 81, 89, 108, 112–115, 117, 135, 158–160, 209, 218, 220 f., 260 Lindström Wik, Siv 207, 209, 212 Liptow, Jasper 167 Locke, John 127 Lynch, David 264 Lyons, William 52, 55 Madell, Geoffrey 206–208, 226–231 Mahler, Gustav 227 Mahrenholz, Simone 118, 125, 128– 131, 254 Mandler, George 204 Marks, Joel 47 Matheson, Carl 81 Matravers, Derek 130 f. McClary, Susan 97, 104–107, 110 McDowell, John 50, 60 Mendelssohn Bartholdy, Felix 113, 116 Mersenne, Marin 69 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 101, 105, 285 Mew, Peter 79 f. Meyer, Leonard B. 137, 140, 163, 178 Meyer, Wolf-Uwe 50 Mitchell, Elvis 101 Mobbs, Dean 46

Moran, Richard 45, 51 f., 272 Morris, Michael 207 Morris, William N. 62 Newbould, Brian 143, 180 f. Newcomb, Anthony 98 Nolt, John 94 f. Paddison, Max 21 Palestrina, Giovanni Pierluigi da 77 Panksepp, Jaak 203, 212 Parker, Charlie 75 Patel, Aniruddh D. 70 Peacocke, Christopher 80, 118, 187 Peretz, Isabel 136 Piaget, Jean 110 Platon 22 f., 32 Poulin-Charronnat, Bénédicte 160 Prinz, Jesse 47, 55, 59 f., 236 Pugmire, David 58 f. Putman, Daniel A. 111 Putnam, Hilary 275 Pythagoras 21, 35 Quine, Willard van Orman 46 Raichle, Marcus E. 200 Rameau, Jean-Philippe 26 Ratcliffe, Matthew 53 Ratz, Erwin 144, 240 Rebuchat, Patrick 182 Redding, Paul 50 Reich, Steve 141, 172 Reisenzein, Rainer 50, 236 Ridley, Aaron 81, 112 f. Rinderle, Peter 36, 70, 92, 112, 130, 259 Roberts, Robert C. 44 Robinson, Jenefer 60, 105, 112–117, 208 Rohrbaugh, Guy 81 Rohrmeier, Martin 182 Rorty, Amélie Oksenberg 45 Rossberg, Marcus 119 Rousseau, Jean-Jacques 26, 74 Rozin, Paul 213 f., 223 Russell, James A. 236 f.

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Personenregister Salimpoor, Valorie N. 203, 214 Sallat, Stephan 255 Sandell, Gregory J. 185 Sartre, Jean-Paul 57 Schachter, Stanley 55, 204, 236 Schaeffer, Pierre 178 Schäfer, Thomas 253, 257 Schaffer, Jonathan 89 Schenker, Heinrich 185 Scherer, Klaus R. 76, 225 f., 236 Schönberg, Arnold 192 Schopenhauer, Arthur 32–34, 263 Schostakowitsch, Dmitri 113, 116 Schubert, Franz 38, 42, 64, 71 f., 79, 91 f., 99–103, 105–108, 138, 143 f., 150, 162, 164, 168, 180 f., 186, 193 f., 233, 238, 240–242, 244, 246– 249, 276, 285 Schützwohl, Achim 50 Scruton, Roger 21, 86, 90, 94, 130, 135 f., 178, 187 f. Searle, John R. 94, 96 Seel, Martin 167 Seidel, Wilhelm 24, 35 Sellars, Wilfrid 271 Sergeant, Desmond C. 185 Shapshay, Sandra 33 Sharpe, R. A. 40 Shelley, James 260 Shepard, Roger N. 182 f. Shusterman, Richard 63, 256 Singer, Jerome E. 55, 204, 236 Sinnott-Armstrong, Walter 280 Sircello, Guy 65 Slaby, Jan 43 f., 50, 53, 55, 58 Sloboda, John A. 203 f., 209, 212, 256 f. Snyder, Bob 147 Solomon, Richard L. 213 Solomon, Robert C. 33, 47–50, 55, 60 f., 208 Steinbeck, Wolfram 38 f., 42, 64, 71 f., 105 f., 143, 193, 241, 243, 249 Steinbeis, Nikolaus 203 Stocker, Michael 55 f.

Stockhausen, Karlheinz 84 Strawson, Peter F. 269 f. Suddendorf, Thomas 200 Tanner, Michael 140, 160, 187 Tarasti, Eero 68, 73 Theunissen, Michael 170 Thomasson, Amie L. 81 Thorau, Christian 39 Tillmann, Barbara 203 Tormey, Alan 53, 64 f. Treitler, Leo 104 Trivedi, Saam 94 Tschaikowsky, Piotr Iljitsch 106, 206 Tugendhat, Ernst 50 Ulm, Renate 38 Urmson, J. O. 40 van Goethem, Annelies 256 f. Vargas, Manuel 267, 270 Vogel, Matthias 86, 88, 130, 161, 209, 234 Voss, Christiane 43, 63 Wagner, Richard 206 Wallace, R. Jay 273 Walter, Henrik 268 Walton, Kendall 89, 94 f., 102, 115, 134 Watson, Gary 279 Wellmer, Albrecht 72 f., 98, 170 f. Williams, Bertrand 47 Williams, John 100 Williams, Michael 62 Williamson, Timothy 60 Wittgenstein, Ludwig 261 Wolterstorff, Nicholas 81 Young, James O. 66, 81, 108 f. Zajonc, Robert B. 55 Zangwill, Nick 40, 94 f. Zatorre, Robert J. 212 Zentner, Marcel 76, 225 f.

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Sachregister

Aufgeführt sind vorwiegend zentrale Begriffe der Untersuchung. Absolute Musik –, historische Verwendung des Begriffs 24 –, Stipulation 24 Affektdetektion 256, 273, 275, 281 Affektive Irrationalität 279 f. Affektive Zustände, Stipulation 53 Affektsuspension 256, 271 f., 275, 281 Aktiver Ton 191 Aleatorik 135, 148 f. Alte Musik 92 Ambivalenz des affektiven Potentials von Musik 286 Amusie 136 Animismus 108 Anthropologische Differenz 120 Anti-Musik 135, 231 Antike 21–24 Antiskeptische Strategie 37–42 appraisal response 200, 202, 209, 211 f., 215, 224 arousal theory siehe Evokationstheorie Arten musikalischer Erwartungen 147–150 Atonalität 192 Auflösung, ultimative 27 Ausdruck, musikalischer, Stipulation 25 Ausdruckstheorie 37, 63–67, 126 Ausgebaute Konturtheorie 112

Bachchoral 216 Badinerie 68 Barock 24, 109–111, 113, 117 baseline mode 200 Bebop 210 Bedeutung, musikalische 86, 91, 93, 97, 159, 248 Bewegung, metaphorische musikalische 188–192 Bewusstsein zweiter Ordnung 23, 33, 57, 157 Buchstäbliche Eigenschaftszuschreibung 83 Chilipfeffer-Beispiel 213 chunks 172 Citroën ZX 16v 99 Deeper Than Reason 113, 117 default mode siehe baseline mode Deformation 145, 172, 241 f., 244 Determinismus 266 Dimensionale Bestimmtheit affektiver Zustände 236 Diskretionärer Gestaltungsspielraum 230 Dopamin 214 Drogen 265 Drumming 141, 172 DUDEN 94 Dynamisch-heterarchisches Selbst 281 f., 284

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Sachregister Ebenen musikalischer Erwartungen 143 Einfache Emotionen 111 Einsozialisierung 89 Elektroakustische Musik 178 emotion regulation 256 Emotionen –, Abgrenzung zum Begriff des Gefühls 43 f., 50 f. –, Abgrenzung zum Stimmungsbegriff 53, 62 Entspannung, musikalische 216 f. Erfahrungs-plus-Absicht-Definition 135 Ernährungsgewohnheiten 215 Eroica 112, 115 Eskapismus 219 Evokation negativer affektiver Zustände, Problem 34 Evokation von Gefühlen 197–224 Evokation von Lachen 146 Evokation von Mikroemotionen 197 Evokationstheorie 25, 37, 67 f., 95– 97, 114, 126, 207, 227, 245 Exemplifikation 73, 119, 123 f. –, metaphorische 125–129, 255 Existentialitätseigenschaft affektiver Zustände 60–63, 198 exposure effect 147 expression 24 f. Expressive Signifikanz 96, 111, 229– 235, 247 Expressive Spezifität 23 Expressiveness Siehe Expressivität Expressivität, Stipulation 25 Expressivität, evaluative 77 Expressivität, genuine 78 f., 155 Expressivität, performative 74 f. Expressivität, projektive 76 f., 154 Expressivity siehe Expressivität Extended Formalism 102–106, 227 extended mind theory 275 feeling theory siehe Gefühlstheorie affekiver Zustände Feinbestimmung musikalischer Expressivität 237–240

Filmmusik 99, 155 f. Flugangst-Beispiel 57 f., 156, 256 Folie, repräsentationale siehe Kontext, repräsentationaler Ford Thunderbird 260 Formale Objekte affektiver Zustände 45, 52, 114, 116 Formale Tiefe musikalischer Werke 235 Formalistische Musikauffassung 21 f., 34–36, 125, 129, 134 Freudige Überraschung 198 Fundamentale Eigenschaften musikalischer Werke siehe Tertiäreigenschaften musikalischer Werke garden-variety emotions siehe Einfache Emotionen Gedächtnissarten 147 Gefühle siehe Emotionen, Abgrenzung zum Begriff des Gefühls Gefühlstheorie affektiver Zustände 50 Gender Theory 97, 130 Gerichtetheit, musikalische 192–195 Glück 33 Grobe Bestimmtheit musikalischer Expressivität 36, 54, 90, 128, 196, 230, 235–237, 246 f., 284 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 277 Gruppen 84 Hanslicks Argument siehe Skeptisches Argument Hebriden-Ouvertüre 113, 116 Hedonische Konfiguration 142, 216, 230, 234, 247, 284 Hermeneutik 97 Heteronome Musik 99 Hollywood-Paradigma der Filmmusik 155 Horizontalität menschlichen Daseins 120 Horizontalität, musikalische 142, 172–177

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Sachregister Hörmodus, distanzierter 32, 151, 163–167 Hörmodus, idealer involvierter 168 Hörmodus, involvierter 32, 141, 151, 157–162, 169, 224, 230, 247, 274, 283 Hörmodus, zerstreuter 32, 151, 152– 157 Idiosynkratische Zugänge zu Musik 86 imagination response 199, 202 Imitation siehe Mimesis Improvisation 274 Informationstheorie 143 Inhaltliche Objekte affektiver Zustände 51 f., 54, 114 Institutionentheorie der Kunst 139 Integrativer Ansatz musikalischer Expressivität 196 Intensität 142, 230, 237, 239, 247, 263 Intentionale Objekte affektiver Zustände siehe Intentionalitätseigenschaft affektiver Zustände Intentionalitätseigenschaft affektiver Zustände 51–54, 207, 237 Intersubjektive Verständigung über Musik 87 ITPRA-Theorie 199, 202 f., 210, 224 Jazz 75, 252, 274 Katharsistheorie 284 Klassik 92 Ko-Intentionalität 186–188 Kognitive Ökonomie 184 Kompatibilismus 267 Komplexe Emotionen 112, 116, 128, 228 Konnotations-Argument 69 Kontext, absolutmusikalischer 89, 91, 96, 114, 133, 139, 160, 164, 182, 191, 197, 206, 244, 247 Kontext, repräsentationaler 27, 85, 88, 91, 99, 104 f., 108, 111, 114, 116, 133, 159, 197, 220, 285

Kontrakadenzielle Musik 149 Kontrametrische Musik 149 Kontrastive Valenz 212–224, 234 Kontratonale Musik 149 Konturtheorie 37, 65–67, 85, 95, 97, 108–111, 112, 114, 134, 189, 218, 227 Konzeptkunst 260 Korrespondenztheorie 119, 121 Kosten-Nutzen-Erwägung 222 Kunst und Philosophie, Auffassung 251 Label 120, 122 f., 128 Languages of Art 121, 125 Leviathan 27 Libertarismus 267–269 Lust und Schmerz, psychisch siehe Schmerz, psychischer Lust, psychische 22, 27, 33, 118, 205, 212, 216, 218, 221, 223, 248, 255, 262 Mary-Gedankenexperiment 164–167 Massenmedien 276 Matthäuspassion 72 Metaphorische Eigenschaftszuschreibungen 84, 94–117, 132 microfeeling siehe Mikroemotion microresponse siehe Mikroemotion Mikroemotion 209, 215, 217, 221, 224, 226, 230 f., 234, 237, 239, 243– 245, 247 –, Stipulation 209 Mimesis 22, 24, 27 minimal music 141, 172 Minority Report 100–102 Modell des musikalischen Erwartungsspiels 138–150 Music in the Moment 158 Musik als gestaltete Zeit 169–172 Musik als Medium innerer Befreiung 276 Musik an sich siehe Absolute Musik Musik und Sprache 70 f., 138 Musik, Definition 135, 141, 197 Musikalische Codes 156

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Sachregister Musikalische Differenz 135 Musikalische Erwartung, implizite siehe Musikalische Erwartung, subpersonale Musikalische Erwartung, lokale 141, 148, 150, 153, 164, 192, 241, 243 Musikalische Erwartung, schematische 149 f., 231, 243, 255 Musikalische Erwartung, subpersonale 32, 70, 139–141, 184 Musikalische Erwartung, unbewusste siehe Musikalische Erwartung, subpersonale Musikalische Erwartung, unterbewusste siehe Musikalische Erwartung, subpersonale Musikalische Erwartung, veridische 147 f., 149 Musikalische Erwartung, vorbewusste siehe Musikalische Erwartung, subpersonale Musikalische Erwartung, vortextuelle siehe Musikalische Erwartung, subpersonale Musikalische Evokation einer Schauderreaktion 212 Musikalische Evokation einer Schreckreaktion 211 Musikalische Evokation starker affektiver Reaktionen 209–212, 224, 245 Musikalische Evokation von Lachen 210 Musikalische Werke, Stipulation 24, 251 Musikfolter 217, 254, 286 Musikphilosophie, analytische 24, 37 MUZAK 153 Nachahmung siehe Mimesis Nachvollzug von Musik 75, 161, 164, 189 f., 255 Neue Musik 90, 92, 135, 148 f. New Musicology 97–99, 102–104, 106–108 Nominalismus 81, 123

occupant 188 Ökonomie, kognitive 146 Ontologie des musikalischen Werkes 80 f. Opazitätseigenschaft affektiver Zustände 57–60 OpenMusic 22 Paradigmatische Normalszenarien 280 Paradox des Trugschlusses 149 Paradox fiktiver Emotionen 52, 80 Paraphrasen, skeptische 40 Perfekter Deliberator 278 performance art 135 Persona 113 f. Personentheorie 37, 85, 97, 111–117, 134 Phänomenalitätseigenschaft affektiver Zustände 55 Phänomenologie der musikalischen Erfahrung 167–195 Philosophische Logik 167 Picardische Terz 232 Pierrot Lunaire 192 prediction response 199, 202–206, 208–210, 215, 221, 224, 226 preparatio 146 Primäreigenschaften musikalischer Werke 87 f., 93, 167 Probetonexperimente 182–186 Problem der Substituierbarkeit 261 Problem der Substitution 265 Problem negativer affektiver Zustände 212–224 –, dritte Art von Lösungsvorschlägen 223 –, erste Art von Lösungsvorschlägen 218–221 –, zweite Art von Lösungsvorschlägen 221–223 Programmmusik 99 Prolaktin 214 Propriozeptive Gefühle siehe Mikroemotion Protention 176

310 https://doi.org/10.5771/9783495817988 .

Sachregister Psychologische Wertkomponenten von Musik 253–259 Psychologismusproblem 142, 167 Quantenphysik 266 Quartäreigenschaften musikalischer Werke 64, 67, 86, 91–93, 104 f., 110 f., 116, 134, 136, 159, 166, 174, 196, 222, 224, 227, 232, 251, 258, 262, 283 Quartvorhalt 146 Rationalitätseigenschaft affektiver Zustände 60, 276–280 Räumlichkeit, filmische 99, 155 Räumlichkeit, metaphorische musikalische 177–188 Räumlichkeit, musikalische 30, 84 reaction response 200, 202, 209, 211 f., 224 reason responder 279 reason tracker 279 Redundanz, musikalische 152 Reflexives Bewusstsein siehe Bewusstsein zweiter Ordnung Reichtum der Wertkomponenten von Musik 262, 264 Repetitivitätseigenschaft von Musik 138, 152, 201 Repräsentation, musikalische 68 Repräsentationale Assoziationen von Instrumenten 178 resolutio 146 Romantik 92, 117 Romeo und Julia 206 Sadomasochistische Praktiken 215 Satz nach Ratz 144 Schmerz, psychischer 31–33, 44, 55, 59, 61, 117, 146, 187, 190, 195, 198 f., 202, 204, 212–214, 217 f., 223, 255 –, und musikalische Spannung 204 Sein und Zeit 173

Sekundäreigenschaften musikalischer Werke 88 f., 93, 136, 167, 197 Selbständige Musik siehe Absolute Musik Selbstdistanzierung, affektive 33, 61, 256 Selbstreflexion, affektive 256 Selbsttransformation, affektive 34, 49, 273, 280–282 Sinn, musikalischer 86, 89, 93, 97, 177, 190, 194, 222, 248, 286 Sinuston 178 Situativität, alltägliche 152, 156, 158, 174, 275, 283 Sitzungsbeispiel 46, 51, 59, 61, 280 Skeptische Position 34–42, 133 Skeptisches Argument 35 f., 79 f. Somaästhetik 256 space of reasons 271, 274 Spannung und Entspannung, musikalische siehe Spannung, musikalische Spannung, musikalische 69, 75, 143, 145 f., 150, 179 f., 186 f., 190 f., 194 f., 202, 204, 206 f., 224, 230, 243, 255 f. Spannung, musikalischer, und psychischer Schmerz 204 Spektralität 178 Spezifischer Wert von Musik 259– 266 Spezifisches Wesen von Musik 260 f. Sport 215 Sprache siehe Musik und Sprache Stimmungen siehe Emotionen, Abgrenzung zum Stimmungsbegriff Stimmungen und Philosophie 63 Streite über musikalische Werke 86 f., 115, 162 f., 168, 232, 238 subemotional reactions siehe Mikroemotion Supervenienz, bedingte 88 f., 91, 93 Supervenienzbegriff in der Philosophie 89 Symbol –, denotatives 122, 124, 127

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Sachregister –, diskursives siehe Symbol, denotatives –, exemplifizierendes 122–127 –, präsentationales siehe Symbol, exemplifizierendes Symboltheorie 37, 73, 118, 118 Synästhesie 40 tension response 199, 202 Tertiäreigenschaften musikalischer Werke 64, 86, 89–91, 93, 104, 107 f., 111, 114, 117, 133, 136, 151, 159, 162, 165, 180, 194, 196, 201, 218, 221, 223, 226, 228, 243 f., 247, 283 f., 286 The Corded Shell 38 theory building 45 Tiefe (Vorder- und Hintergrund) 186, 283 Tonabstand 180–186 Tonartencharakteristik, antike 22 f. Tonhöhe 178–180 Tristan und Isolde 206 U-Bahn-Beispiel 45–47, 51, 59, 280 Ubiquität musikalischer Potentiale 265 Ultimative Auflösung 217, 255 Unabhängige Musik siehe Absolute Musik Unheard Melodies 155 Unlust siehe Schmerz, psychischer Unterbestimmtheit musikalischer Expressivität 240 Unvollendete 38, 64, 71, 79, 92, 99– 101, 105 f., 138, 143 f., 150, 168, 180, 186, 193, 220, 233, 238, 240– 244, 249, 276, 285

Urteilstheorie affektiver Zustände 47–49, 55, 208 Valenz affektiver Zustände 34, 142, 199, 204, 214, 226, 230, 237, 243 f., 247 Visuelle Dynamik 170 Vollzug von Musik 161 Wahrnehmungstheorie affektiver Zustände 49 f. Werkfremde Deutung 249 Wert musikalischer Expressivität, Frage nach dem 23, 82, 132 Wertkomponentenart, affektive 256 f. Wertkomponentenart, epistemische 254 f. Wertkomponentenart, hedonische 255 Wertkomponentenart, kognitive 254 Wertkomponentenart, rituelle 257– 259 Wertkomponentenart, somatische 255 f. Wertkomponentenart, soziale 257 Wesen musikalischer Expressivität –, Frage nach dem 23, 39, 132 –, Position zum 247–249 –, Problem 79–81, 196 –, These 196 Willensfreiheit 100, 266 f. Winterreise 72 Zeitlichkeit, musikalische 169–177 Zombies 166 Zweite Wiener Schule 149 Zwölftonmusik 149, 185

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