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German Pages 122 Year 2023
Schriften zum Genossenschaftswesen und zur Öffentlichen Wirtschaft Herausgegeben von Prof. Dr. D. Budäus, Prof. Dr. W. W. Engelhardt (†), Prof. Dr. Dr. h. c. F. Fürstenberg, Prof. Dr. Dr. R. Hettlage, Prof. Dr. F. Schulz-Nieswandt, Prof. Dr. Th. Thiemeyer (†)
Band 48
Morphologie und Metamorphosen des Dritten Sektors Die Entelechie der Gemeinwirtschaft in der wirtschaftsorganisationsrechtlichen Disziplinarordnung
Von
Frank Schulz-Nieswandt und Philipp Thimm
Duncker & Humblot · Berlin
FRANK SCHULZ-NIESWANDT UND PHILIPP THIMM
Morphologie und Metamorphosen des Dritten Sektors
Schriften zum Genossenschaftswesen und zur Öffentlichen Wirtschaft Herausgegeben von Prof. Dr. D. Budäus, Hamburg, Prof. Dr. W. W. Engelhardt (†), Prof. Dr. Dr. h. c. F. Fürstenberg, Bonn, Prof. Dr. Dr. R. Hettlage, Regensburg, Prof. Dr. F. Schulz-Nieswandt, Köln, Prof. Dr. Th. Thiemeyer (†)
Band 48
Morphologie und Metamorphosen des Dritten Sektors Die Entelechie der Gemeinwirtschaft in der wirtschaftsorganisationsrechtlichen Disziplinarordnung
Von
Frank Schulz-Nieswandt und Philipp Thimm
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany
ISSN 0720-6925 ISBN 978-3-428-18937-3 (Print) ISBN 978-3-428-58937-1 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Abhandlung ist weder als ein hoch disziplinierter handbuchartiger Artikel noch als umfänglicher oder gar gesättigter Literatursurvey konzipiert, sondern bietet als fachlicher Essay (Adorno, 1988) eine dichte grundlegende Einführung in die komplexe Problematik des sog. Dritten Sektors. Die Art und Weise – Aspekte wie Duktus oder Stil bis hin zum Tenor der vorgelegten Schlussfolgerungen beachtend – spiegelt die typische Kölner Art der Verfassung von (unweigerlich Torso-artig mit unvollendeten Fragmenten erscheinenden) Analysen sozialer Wirklichkeit im Lichte epistemologischer Reflexionen und der dadurch ermöglichten Öffnung des Raumes, der erschlossen (aufgeschlossen, geöffnet und – unweigerlich selektiv – ausgeleuchtet) werden soll. Die Metapher Torso (aus der Bildenden Kunst – wie bei Auguste Rodin1 – entnommen) ist bewusst gewählt und spiegelt keineswegs ein negativ konnotiertes Defizit, sondern eine – eher weise – Einsicht wider: Das Leben ist immer unvollendet und somit ein Torso (Burdorf, 2020). Und dies gilt sodann auch für ein wissenschaftliches Werk und seine Wachstumsgeschichte. Die Abhandlung lebt von Bausteinen als Fragmente, was sich in der Gliederung, deren Kapitel viele Unterpunkte (als Paragraphen durchgegliedert) aufweist, wiederfindet. Genau dies ist aber kohärenter Ausdruck der poetischen2 Strategie (Bies/Mengaldo, 2020) der wissenschaftlichen Erzählstruktur der vorliegenden Abhandlung in ihrer mimetischen Rekonstruktion. Es ist eben die Modalität, wie wir an der Universität in der Lehre für Sozialpolitik und qualitative Sozialforschung und im Seminar für Genossenschaftswesen im Institut für Soziologie und Sozialpsychologie der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln daran arbeiten, die relevanten Phänomene der sozialen Wirklichkeit interdisziplinär3 (Schulz-Nieswandt, 2016b) 1
Wohlrab (2016). Nünning (2013); Burdorf/Fasbender/Moennighoff (2017). 3 Es geht einerseits um brauchbare traditionelle soziologische und sozialpsychologische Sichtweisen, aber auch um die Praxeologie des Habitus bei Pierre Bourdieu und ebenso um die Idee der gouvernementalen Dispositivordnungen bei Michel Foucault. So kann man die anwendbare Bedeutung des Poststrukturalismus und auch die Synthesemöglichkeiten von Hermeneutik (der Habitusformationen der Professionen) und Strukturalismus (der sozialen Rollenspielgefüge im institutionellen Setting von sektoralen Handlungsfeldern und Organisationskulturen) erfassen. Sogar den Zugang zu dem, was man eine Nano-Mikro-Ebene (im Sinne intra-individueller Arbeitsapparate) nennen konnte, kann man finden. Wir glauben, man kann so den Zauber spüren, der vom Erreichen dieser Tiefenbohrungen als atmosphärische Aura der Forschung ausgehen kann. Es geht demnach um Beiträge zur Theoriebildung hinsichtlich der Frage: Wie analysiert und versteht man einerseits die dynamischen Skript-artigen Strick2
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Vorwort
zwischen Hermeneutik und Strukturalismus, zwischen Rechtsphilosophie und Ethik, Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie, Psychodynamik und Kulturgeschichte zu erschließen und diese Schnittflächenperspektive auf die Gewebestruktur zu beziehen, die sich aus der Verknüpfung der Kategorien Lebenszyklus, Sozialpolitik, Daseinsvorsorge, Gabe, Genossenschaft, Gemeinwirtschaft, Dritter Sektor und bürgerschaftliches Engagement, Altern, Wohnen und Sozialraum ergibt.4 Worum wird es gehen? Dargelegt werden – knapp, skizzenhaft, dicht – theoretische Entwicklungslinien und aktuelle Fragestellungen zum Gegenstand, der als Dritter Sektor (Third Sector) bezeichnet wird, im Lichte des methodologischen Paradigmas der Morphologie sinn-strukturierter wirtschaftlicher Sozialgebilde als Formen des objektiven Geistes. Doch wird man nicht isoliert über den Dritten Sektor sprechen können. Er muss zwar (1) aus seiner endogenen Struktur-Sinn-Gestalt als Innenraum verstanden werden, muss aber (2) auch als Subsystem aus dem konfigurativen5 Kontext des Gesamtsystems des Wirtschaftens und des diesbezüglichen gewährleistungsstaatlichen Regulationsgefüges und somit (3) aus der Totalität der Gesellschaft als Interdependenz von Politik und Recht, Kultur und Person rekonstruiert werden. Im Kern tragen wir eigentlich keine Neuerungen vor, die sich nicht weitgehend auch schon – aber etwas verstreut – in verschiedenen Publikationen von Frank Schulz-Nieswandt finden lassen. Aber es gab Anlässe bei Frank Schulz-Nieswandt, doch diese Abhandlung vorzulegen. Ausgangspunkt war (1) ein einschlägiger Handbuchartikel6, der den Nukleus für die vorliegende breitere, tiefere und ergänzte Abhandlung darstellt, aber auch (2) ein Festschriftbeitrag (der im Kern der Überlegungen Eingang gefunden hat im Ausblick der vorliegenden Abhandlung) zur Zukunft der Gemeinwirtschaft jenseits des europäisierten Wettbewerbsrechts im Lichte eines transformativen Rechts (wobei die exemplarischen Bezüge zum Sektor der Langzeitpflege nochmals gesondert ausgearbeitet worden sind7), ferner (3) ein (für die weitere Denkentwicklung folgenreicher8) vorausgegangener Beitrag zur Theorie der Gabe infolge einer Tagung in Wien (Schulz-Nieswandt, 2023d), sodann muster der Akteure (m/w/d) und andererseits die Aufstellungs-Relationalität in den Akteursrollenkonstellationen in den performativen Prozessstrukturen in Organisationen, in Handlungsfeldern und in Sektoren? Für den Mainstream bringt der heterodoxe Blick überraschende, neuartige, mitunter sicherlich auch verunsichernde Erkenntnisse. Andere werden die Darlegungen im Rahmen der Lektüre als befremdlich einschätzen, den Buchdeckel schließen und sich ihrer eigenen epistemischen Ordnung von Wahrheit wieder routineartig zuwenden. 4 Die in interdisziplinärem Theoriebezug fundierten alternspolitischen Überlegungen im Kontext von Wohnen und Sozialraum finden sich verdichtet in Schulz-Nieswandt/Köstler/ Mann (2021b). 5 Praxeologisch: Echterhölter/Därmann (2013). 6 Demnächst in Brombach, Hartmut/Gille, Christoph/Haas, Benjamin/Vetter, Nicole/Walter, Andrea (Hrsg.) (2023): Zivilgesellschaftliches Engagement und Freiwilligendienste. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden: Nomos (i. V.). 7 Schulz-Nieswandt/Thimm (2023). 8 Schulz-Nieswandt/Moldenhauer/Micken (2022a); Schulz-Nieswandt (2023a).
Vorwort
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(4) ein Vortrag zur Gabe, Gemeinwirtschaft und Genossenschaft im März 2023 in Berlin9 und (5) ein Vortrag zur Kulturgeschichte und Aktualität der Form der Genossenschaft in Tutzing10 im März 2023. Köln, im März 2023
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Frank Schulz-Nieswandt und Philipp Thimm
Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft: Der Gesellschaft etwas schenken Tagung am 2. und 3. März 2023 in Berlin. 10 Commons-Ökonomie. Nachhaltig, resilient, effizient? Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik. 8. bis 10. März 2023 in der Evangelischen Akademie Tutzing.
Inhaltsverzeichnis I. Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 3. Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 II. Dynamische Strukturanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1. Morphologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2. Soziale Geometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3. Grammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 4. Transaktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 5. Organisationsdynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 III. Ausgänge zwischen Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3. Nachbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
I. Zugänge In drei Schritten (Vorbemerkungen, Einleitung, Grundlegung) soll der Zugang zum Themenfeld geschaffen werden.
1. Vorbemerkungen Bevor die Haupthypothese vorgestellt wird, soll kurz und knapp der Gegenstand charakterisiert werden: Es geht um die Gemeinwirtschaft, die sowohl öffentliche Träger des Wirtschaftens umfassen kann als auch freie Träger, hierbei sowohl die gemeinnützigen Unternehmen der Non-Profit-Wohlfahrtsunternehmen als auch die gemeinwirtschaftlich orientierten Genossenschaften, insbesondere in der Form der gemeinnützigen Genossenschaft, wobei auch die „normale“ hybride eG trotz ihrer dominanten Mitgliederlebenslagenförderpflicht (dabei auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Dimensionen der Lebenslage und dem Aspekt der Förderung der Subjekte abzielend) gemäß § 1 GenG zusätzlich gemeinnützige Ziele verfolgen kann und darf. Was ist unsere Hauptthese, die im Untertitel zum Ausdruck gebracht wird? Sie lautet, dass der Dritte Sektor der freien Träger der Gemeinnützigkeit als wirtschaftliche Sozialgebilde, die es morphologisch zu verstehen und zu rekonstruieren gilt, in eine Sackgasse – das meinen wir metaphorisch mit der Begrifflichkeit der Disziplinarordnung im Untertitel der vorliegenden Abhandlung – geraten ist. Die Gemeinwirtschaft steckt in einem regulativen Käfig, der als Objektivation des menschlichen Geistes eine Formwerdung einer ideologischen Weltanschauung geworden ist: Gemeint ist die Gestalt des bürokratischen Liberalismus. Dies gilt auch für die Gemeinwirtschaft in Form der öffentlichen Unternehmen der Daseinsvorsorge und auch für die gemeinwirtschaftlich orientierten Genossenschaften (Thürling, 2020; Beideck, 2020). Die Sackgasse der regulativen Disziplinarordnung des bürokratischen Markt-Besitz-Individualismus, die die Gemeinwirtschaft an den Rand der Sinn-erodierenden Mutation – so gesehen eine logotherapeutische (Riedel/Deckart/Noyon, 2015) Herausforderung – als transformative Konvergenz1 zum kapitalistischen Geist treibt, resultiert aus dem zwanghaften Eingestellt-Sein in den gleichbehandlungsrechtlichen Trägerpluralismus des wettbewerblichen Marktes. Damit treibt die hegemoniale, alle alternativen Pfade der 1 Hier durchaus interpretierbar im Lichte der Sozialisationstheorie der Übergänge im Lebenslauf: Schröer u. a. (2013).
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I. Zugänge
Wirtschaftskultur kolonialisierende Dominanz des Markt-religiösen Dogmas die Gemeinwirtschaft an den Rand des Abgrundes, der hier als Sackgasse, sozusagen als ein Fegefeuer (Merkt, 2011) der antizipierenden Verwesung eines vom Tode bedrohten Phänomens, bezeichnet wird. Diese harte Hypothesenformulierung scheint uns notwendig zu sein (Paoli, 2023; Lieberg, 2018), denn am Horizont der zivilisationsdiagnostischen Problemanzeige ist zu beachten, dass die prometheische Hybris des grenzenlosen Kapitalismus in seiner Turbo-4.0-Dynamik den Planeten und somit den kosmischen Allzusammenhang, in den der Mensch als ein Naturwesen mit Geist (Schulz-Nieswandt, 2023c; 2023b) eingelassen ist, zerstören wird. Der Kapitalismus als System: Das sind wir alle, die das Spiel mitspielen. Wenn das System – praxeologisch gesehen – ein Spiel ist, dann handelt es sich um eine komplexe Interaktionsordnung von mitspielenden Akteuren, die kollektiv geteilte Regeln zu verfolgen haben. Es handelt es sich um ein Akzeptanz-Kartell. Fraglich ist, ob alle Akteure diesen Gesamtzusammenhang verstehen oder ihn nicht vielmehr aus Gewohnheit als lebensweltliche Konvention bzw. als tradierte Selbstverständlichkeit praktizieren. Die Einwilligung erfolgt aus einem freien Willen heraus. Aber besteht Klarheit darüber, in was man einwilligt? Dies wäre auch eine Frage der Imagination von Alternativen. Und nun wird es für den Menschen schwierig. Solche Alternativ-Status-Quo-Vergleiche sind eine Herausforderung. Psychodynamisch betrachtet sind damit auch Ängste angesichts von Unsicherheiten verbunden. Ist der Zustand der Faktizität (F) besser/ gleichwertig/schlechter als der Alternativzustand (A), der ja erst herbeizuführen und somit auf die Zukunft projektiert ist? Wie steht es um die Komparatistik der sozialen Wohlfahrt (SW)? Die Frage ist also SW ðF Þ < SW ð AÞ? Dies wäre eine Voraussetzung für die Transformationspräferenzbildung. Doch hierbei wird ja nur ein möglicher Outcome-Vergleich imaginiert. Wer sichert (kontrolliert) wie den Übergang (die Transgression als Statuspassage)? Ist das Vertrauen im prozessualen Erreichen von A unsicher, dann könnte es zum Fehlen einer hinreichenden Bedingung der Transformationsbereitschaft kommen. Die Überlegungen können noch in komplexerer Weise fortgeführt werden. Worum es nun geht, ist allerdings ein anderer Aspekt. Ja, die Verantwortung, mitunter dann die Schuld für die fahrlässige Unterlassung der Transformation, tragen wir alle zusammen. Doch die Menschen haben auch etwas zu verlieren. Insofern benötigt die Bildung einer kollektiven Allianz eine kollektiv geteilte Idee über das „gute Leben“ in der Zukunft und Vorstellungen über die Pfade nach Utopia, als einen Reiseplan, der irgendwo zwischen Plausibilität und Evidenz angesiedelt ist und dennoch – als Rest-Risiko-Akzeptanz – auf der Fähigkeit basiert, die Möglichkeit des Scheiterns aus dem „Mut zum (Wagnis des) Sein(S)“ (eine Textkomposition aus
1. Vorbemerkungen
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Versatzstücken aus dem Werk von Paul Tillich2 und Peter Wust3) heraus anzunehmen. Wir replizieren im Alltag4 – Tag für Tag, jede Woche, jeden Monat, Jahr für Jahr über die Dekaden hinweg – die Normalität, die eigentlich a-normal ist, krank, von einer destruktiven Dynamik „daimonisch“ getrieben im Modus unendlicher Ketten von Innovationszyklen (Schulz-Nieswandt/Chardey/Möbius, 2023). Es ist ein Todestrieb, der den Kreislauf von Wiedergeburt und Sterben zum kollektiven Geschäftsmodell der Verausgabung und Vernichtung gemacht hat, wobei aus der Asche der Phönix (Henke, 2020) immer wieder neu hervorgeht (Kurz, 2018). Das Phänomen ist erstaunlich: Obwohl die volkswirtschaftliche Produktionsfunktion höchst effizient sein kann, produzieren wir eine kollektive Verschwendung und am Ende Berge des Mülls, machen den Lebensraum zur Deponie. Entsorgt wird dergestalt der Traum von der Wahrheit einer humangerechten Lebensqualität. Denn diese Prozesse rauben die Lebenszeit: Erwerbsarbeit statt vita activa5. Der Sinn ist die Sinnlosigkeit einer Maschine, die im ewigen Getriebe funktionieren muss: Sinnentleerter Funktionssinn als „Geist-loser Geist“, der von der Mainstream-Ökonomie des Marktes als Kreislauf einer Zirkulation des Geldes (das längst zur „Denkform“6 geworden ist), Produktion der Güter und Dienste, Distribution der Einkommen, Konsumtion der Güter und Dienste beschrieben wird. De-chiffriert ist es eine Geschichte der Warenproduktion mittels Waren (Sraffa, 1976). Gewiss: Die Einführung Geld-vermittelter Tausch-Märkte befreit die Menschen vom antiken (Strauß, 2022) Feudalismus (Wolff, 2010), doch die Hypertrophie des Kapitalismus in seinem Hyperbolismus versklavt die Menschen auf subtiler Entwicklungsstufe neu und ermöglicht auch neue Formen des Feudalismus des einerseits distinkten und andererseits marginalisierenden Lebensstils. Die Formen der Gemeinwirtschaft – vor allem die Idee der Form der Genossenschaft als freier Träger – müssen gerade in diesem existenziellen Lichte der Negativität und Regression (Schulz-Nieswandt, 2023c) in der Krise des Anthropozäns und somit im Lichte der Positivität und Progression einer Ehrfurcht vor dem 2
Tillich (2012). Zu Tillich vgl. auch Schulz-Nieswandt (2020b). Wust (2019). Frank Schulz-Nieswandt hat Peter Wust in vielen seiner Schriften immer wieder problemzentriert aufgegriffen und eingebaut. 4 Alltag meint, mit Blick auf das Geschehen im Leben, die Vorgänge aller Tage, also die gewohnte (eingewöhnte) Normalität der Wiederholungen und Rhythmen der Zeitstrukturierung durch Muster der Aktivitäten. Es ist der profane Alltag, denn die Feiertage – dies zeigt die anthropologische und kulturgeschichtliche Forschung zum transgressiven Fest als Alterität zum Alltag – und ihre sakralen Anlässe sind die Ausnahmezeiten (auch die Karnevaleske). Hier nun geht es nicht um die marxistischen Beiträge (Agnes Heller; Henri Lefebvre) zur kapitalistischen Formbestimmtheit der reproduktiven Alltagskulturen. Das Erkenntnisinteresse, das mit dieser Perspektive verbunden ist, verdichtet sich in der kritischen Nachfrage, wieviel Eros (Kreativität) hier im Alltagsgeschehen möglich ist (Leo Kofler) angesichts der Entfremdung in der sorgenvollen (Karel Kosik) Existenzführung der Menschen. 5 Aßländer (2005). 6 Brodeck (2022). 3
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I. Zugänge
Leben der Natur in ihrem Selbstzweck-Rechtsstatus (zu religionsgeschichtlichen Ursprüngen7) zur Grundlage der achtsamen nachhaltigen Sorge um die Gemeingüter werden. Die Entelechie (Hilgers, 2002) dessen, was in der sozialen Evolution des Menschen als „Naturwesen mit Geist“ (Schulz-Nieswandt, 2023c) angelegt ist, ist blockiert. Weitere Sinn-entfaltende Metamorphosen als Entwicklung in wachsenden Ringen8 – um an die Onto-Poetik in der Lyrik von Rainer Maria Rilke (gemeint ist das Gedicht „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen“ von 1899) anzuspielen – zeichnen sich derzeit nur sehr gebrochen ab. Die Gestalt der Gemeinwirtschaft erleidet im „stählernen Gehäuse“, von dem Max Weber sprach, als Umwelt des Waltens der instrumentellen Vernunft der Destruktivität des malignen kapitalistischen Geistes eine Stutzung ihrer Flügel – ein Bild, das hier als Metapher für die Negation ihrer Freiheit dienen soll – und lässt nur in einem wirtschaftsordnungsrechtlich disziplinierten Rahmen die tiefere humangerechte Kraftquelle des kooperativen Wirtschaftens als solidarische Sorgekultur brodeln. Für diesen regulativen Rahmen zur Nutzung der Potenziale des Marktes gibt es gute Gründe. Aber wenn man andere – höhere – Ziele von humangerechter Kulturbedeutung anvisiert, ist der gesteckte Rahmen zu eng. Er blockiert. Und letztendlich verhindert er den Zugang zu Transgressionen, für die es mehr als nur gute Gründe gibt. Dazu gehört auch die signifikante Steigerung der Bedeutung und somit die „Gestalt-bildende“ Wirksamkeit der Genossenschaft als freie Gemeinwirtschaft. Als Mythopoetik9 ist die Genossenschaft zum immateriellen UNESCO-Weltkulturerbe ernannt worden. Pan (Adami, 2000) ist also gar nicht wirklich tot! Er meldet sich auf seiner Pan-Flöte immer wieder zu Wort, wenngleich es eine Musik der Stille ist. Man muss für diese epiphane Melodie sinnlich offen sein. So gilt in der Folge: Offenbarung kann auch ein Erfahrungserlebnis im säkularen Alltag der Geschichte sein. Wer in die Musik der Stille hineinhört, mag den epiphanen Klang dieses Traums der Hoffnung (Manemann, 2021) auf ein Noch-Nicht spüren, weil Musik – ohne hier in die (neuerdings dynamisch anwachsende) Philosophie der Musik einzusteigen – in der Einheit von Geist, Seele und Körper erfahrbar ist: „Alle leben sie noch, die Heroenmütter, die Inseln“, so Hölderlin („Der Archipelagus“ von 1800/1801). Man mag uns hier pathetische – dabei die moderne, normativ negativ konnotierte Engführung der Begrifflichkeit beachtend – Romantik vorwerfen. Doch ist Pathos 7
Jäggi (2021). Dazu auch, durchaus nicht ohne philosophische Fundierung, aber dennoch primär individualentwicklungspsychologisch orientiert Kruse (2023); Warwitz (2021); Brandtstädter (2015); Schlögl (2014). Dies ist eine wichtige grundlegende Perspektive: Schulz-Nieswandt/ Köstler/Mann (2022). Hier nun – im Rahmen der vorliegenden Abhandlung, die ja die persönliche Ebene der Charakterbildung durchaus erfasst und integriert thematisiert – geht es aber um die Reifung als ein wachsendes Werden der Idee der Gemeinwirtschaft und ihrer Sozialgebilde als objektiver Geist. 9 Vgl. auch Häfner/Winkler (2020). 8
1. Vorbemerkungen
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ein Wesensmerkmal großer, erhabener Ideen. Daher kann man formulieren: Die Abhandlung argumentiert nur im Modus einer poetischen Strategie der Kritischen Theorie einer post-theologischen Geschichtsphilosophie der Befreiung (Manemann, 2021) einer endogenen Modalität als Teil der Wirklichkeit (P): R ¼ R ðR; aÞ: Das mag zwar – und hier fehlt, die komplexen Spiegelneuronen nicht aktivierend, das Empathie-fundierte Mitleid – den identitätslogischen Empirismus in den Verzweiflungswahn treiben, aber dieser Vorbehalt trifft nicht die dialektische Modallogik einer dynamischen Prozessontologie sozialer Wirklichkeit. Man könnte sogar in die Niederungen der Geldtheorie einsteigen, um eine der Voraussetzungen einer gemeinnützigen Volkswirtschaft zu definieren: Inflationsfrei im Sinne der FisherQuantitäts-Gleichung könnte die dem Wachstum des Sozialprodukts entsprechend bemessene Potenzial-orientierte Geldmengenerweiterung zum Teil über den für die Daseinsvorsorge existenzieller Infrastrukturgüter gewährleistungspflichtigen Staat als sozialen Rechtsstaat als Kapitalausstattung der gemeinnützigen Unternehmen im Rahmen einer dualen Wirtschaft ðPrivatwirtschaft j
Dualit-t ! j Gemeinwirtschaft Þ
fließen, um über deren Sachziel-orientierte Investitionspolitik die entsprechende Akzelerator-Multiplikator-Dynamik – und angesichts der Tätigkeitsfelder der gemeinnützigen Sorgearbeit re-allokativ (wobei Allokationsgerechtigkeit eine Form re-distributiver Lebenslagenverteilungspolitik ist10) Bezug auf die Bedarfsfelder nehmend – auszulösen. Doch solche einerseits volkswirtschaftspolitischen und andererseits geschichtsphilosophischen Themen sind keine raumgreifenden Bausteine der Darlegungen der nachfolgenden Abhandlung. Es wird uns – wenngleich immer wieder skizzenhafte 10
Dies gilt, weil die Begrifflichkeit der Verteilungspolitik in der Marktökonomie auf die einkommensabhängige Vermögenspolitik verkürzt ist. Es werden aber Lebenslagen verteilt. Verteilt werden demnach Chancen der partizipativen Befähigung. Dabei allerdings wird ein entsprechender Capability-Ansatz wiederum – etwa in der Theorie der Sozialarbeit – verkürzt, weil er nur Subjekt-zentriert als Kompetenz-bezogenes Empowerment konstruiert wird. In unserem Verständnis von Capabilty geht es aber um den transaktionalen Zusammenhang von Subjekt und Umwelt, von Kompetenz und Daseinsvorsoge in Bezug auf die infrastrukturellen Möglichkeitsräume. Der ursprüngliche Ansatz der Capability-Theorie bezog sich gerade auf die ablehnende Kritik des »Welfarism“ der utilitären Ergebnisse in der ökonomischen Wohlfahrtstheorie. Es geht vielmehr um die Befähigung der menschlichen Person zur Freiheit – unserer Ansicht nach allerdings nur im Rahmen der Miteinanderfreiheit durch Miteinanderverantwortung – in der lebenszyklischen Daseinsgestaltung. Dies ist aber – um etwa auf JeanPaul Sartre anzuspielen – keine Frage nur der subjektiven Entwurfs-Perspektive. Es muss auch die objektive Möglichkeit als Entfaltungsraum geben. Und dies sicherzustellen, das ist die Aufgabe des sozialen Rechtsstaates, der sich dazu aber auch der Freiheit der genossenschaftlichen Gemeinwirtschaft und der freigemeinnützigen Organisationen der Fremdhilfe für Dritte (hiermit eine freiwillige Fremdhilfe morphologisch unterscheidend gegenüber einer Mit-Sorge im Modus der Gegenseitigkeitshilfe) bedienen kann.
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I. Zugänge
Konturen einer Zukunftsvision angesprochen werden – die Diagnostik des besagten Käfigs – ganz anders als bei Rast (2022) – als subsidiäre Disziplinarordnung des wettbewerblichen Marktes interessieren, in die das der Sonne bedürftige Pflänzchen der Gemeinwirtschaft „artfeindlich“ als Schattengewächs, dürftig gegossen und kaum gedüngt, eingestellt wird. Das „Dritte“, nach dem – mitunter an das Werk von Werner Wilhelm Engelhardt (1926 – 1921) denkend11 – gesucht wird, ist, gemessen an der Formation der herrschenden wirtschaftskulturellen Verhältnisse, eine heterotope Gestalt, die in der Geschichtlichkeit der sozialen Wirklichkeit verwurzelt ist, sich aber nur begrenzt – eingehegt vom privatbesitzrechtlich dominierten Wirtschaftsorganisationsrecht – entfalten, wachsen, werden kann. Gegenüber dem Privatunternehmen ist insbesondere die gemeinnützige Genossenschaft eine deutlich stärker ausgeprägte demokratische Organisationsform, und gegenüber dem Rendite-Geist als Formalziel ist das Sachziel-Denken und Sachziel-Tun des gemeinnützigen Wirtschaftens eine deutlich stärker Gemeinwohl-orientierte Organisationsform. In der gemeinnützigen Genossenschaft kommen also dergestalt Demokratie und Gemeinwohl (Hiemann, 2022), morphologisch betrachtet, organisch als Entfaltung der Personalität als Gestaltform des Menschen zusammen. Angesichts der Krise der Demokratie12, die die Politiktheorie der letzten Jahre thematisch beschäftigt (Comtesse u. a., 2019), wäre eine solche gemeinwohlökonomische Kehre (Kühn, 2023; Göpel/Redecker, 2022) bedeutsam. Als weitere themeneröffnende Vorbemerkungen, die in das Themenfeld der vorliegenden Abhandlung einleiten sollen, sollen die im Vorwort angesprochenen Vorträge aufgegriffen und die dortigen Überlegungen kurz skizziert werden. Der Blick geht nunmehr etwas auf die Vortrags-bezogenen Anlässe zu der gegenüber diesen Anlässen stark erweiterten Abhandlung ein. § 1 Schenken als Akt der Konstitution der Sozialität Also zum Berlin-Vortrag. In Berlin ging es im eingereichten Thesenpapier von Frank Schulz-Nieswandt um folgenden Zusammenhang (der sich in die vorliegende Abhandlung eingelagert hat): (1) Als Ausgangspunkt ist zu konstatieren: Jahrzehnte multidisziplinärer Forschung haben gezeigt, dass die Kategorie der Gabe erfahrungswissenschaftlich zwar immer nur in konkreten Formbestimmtheiten beobachtbar, theoretisch aber als anthropologische Kategorie der Grammatik sozialen Zusammenlebens zu verstehen ist. Richten wir unseren Blick nicht auf die dunklen Seiten der Gabe (wenn sie zum Instrument von Praktiken sozialer Machtverhältnisse mit Aspekten der Dominanz und Abhängigkeit, Demütigung und Unterdrückung wird), so geht es um eine Kategorie der Praxis der Schaffung von Solidarität (Busen/ Wallaschek, 2023), sozialer Kohäsion und sozialer Kohärenz. Die Erkenntnisse aus solchen, die sozialen Beziehungen in den Fokus stellenden Betrachtungen können 11 12
Schulz-Nieswandt (2022a); Blome-Drees (2023a; 2023b). Merkel (2015); Michelsen/Walter (2013); Manow (2020); Agamben (2012).
1. Vorbemerkungen
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unter anderem auf die Gebiete der Soziologie, der Anthropologie und der experimentellen Verhaltensökonomie angewendet werden, um von dort und damit eng zusammenhängend die rechtlich-normativen Dimensionen in Form von Verantwortung, (solidarischer) Haftung und weiteren ethischen Aspekten zu beleuchten. Im Blick auf den Gegenstand als ein Feld der Dynamik von Strukturen und neuen Kristallisationen ist (2) festzuhalten: Für die Zukunft des Zusammenlebens in einer Multi-Sektoren-Figuration von sozialem Rechtsstaat, engagierter Zivilgesellschaft, primären Vergemeinschaftungsformen, definiert als „embedding cultures of relatedness“ (Familie, Freundschaft, Nachbarschaft, Carings Communitys), und einem einerseits komplex differenzierten und andererseits Gewebe-artig verknüpften Sektor des variationsreich konfigurierten Trägerpluralismus der For-Profit-Privatwirtschaft und der Non-Profit-Gemeinwirtschaft kristallisiert sich ein kompliziertes Feld der Klärung des Zusammenspiels der Kategorien der Gabe und der Reziprozität, der Netzwerke und der Kooperation sowie der Beziehung von Gemeinwirtschaft, Gemeinwohl, Genossenschaft und Commons (Gemeingüter) heraus. Das Problem ist ferner ein Problem der hybriden Gebilde-Bildung, aber auch eine Frage nach heterotopen Innovationen. Als eine Zukunftsvision wäre (3) zu imaginieren, dass sich im Lichte des Kölner Sozialgebilde-morphologischen Ansatzes zeigen lassen kann, dass die Gabe eine kulturgrammatische Nukleus-Kategorie ist, um Zukunftsperspektiven des Zusammenspiels kulturell eingebetteter Märkte, des normativ-rechtlichen Regulierungsregimes (des modernen Naturrechts der „Sakralität der personalen Würde“) des sozialen Rechtsstaates, der Zivilgesellschaft des bürgerschaftlichen Engagements13 und des Bedeutungszuwachses von Commons im Anthropozän durch Aufwertung der genossenschaftlichen Form der Gemeinwirtschaft zu diskutieren. Die Miteinanderverantwortung in Miteinanderfreiheit, wie sie hier entworfen werden soll (Habermann, 2016), als Bewusstsein der Abhängigkeit von anderen Mitmenschen und der daraus erwachsenden Verantwortungsübernahme für das Projekt „Gesell13 Womit das Themenfeld des Kommunitarismus mit angesprochen ist: Tam (2020); ReeseSchäfer (2019); Schulz-Nieswandt/Köstler (2011). Zu betonen ist hierbei die Vielfalt der Strömungen, die aber auch kombiniert eine faszinierende Alternative des kulturell eingebetteten Menschen in der Miteinanderfreiheit ergeben können, dann nämlich, wenn das dialogische Prinzip, die Tugendlehre und die Anerkennung in der gegenseitigen Wertschätzung zur Synthese kommen, also die kommunikative diskursive Meritorik, die Empathie, die Rücksichtnahme und die respektvolle Anerkennung des Mitmenschen in der Reziprozität aufgehen. Gemeinsamer Anker in der generativen Bildungsfähigkeit dieser Synthese ist die kollektiv geteilte Idee der personalen Würde. In ihrer universalen und komplex multilateralen (i = 1 … n) reziproken Anerkennung bedeutet diese Netzwerk-Hoch-Skalierung, dass der Art. 1 GG die Freiheit als individuelles Grundrecht in Art. 2 GG zwingend an das Sittengesetz bindet. Die Freiheit des Art. 2 GG erweist sich demnach als ein soziales, kooperatives, gemeinsames Grundrecht transpersonaler Art. Die Befähigung zur gemeinsamen Freiheit erweist sich als Rawlsianische Pareto-Lösung, die keine negativen Externalitäten als Kausalitätsinterdependenz zwischen Winner und Loser kennt, sondern nur positive Externalitäten als Allokationsgerechtigkeit mit einem gewissen Variationsspektrum durchaus problematisierbarer Verteilungseffekte.
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I. Zugänge
schaft“ setzt hinreichend geklärte Vorstellungsräume voraus. Der Ansatzpunkt ihrer Ermöglichung muss daher einerseits bei der Lebenslage der Individuen beginnen und, sich berufend auf die ontologische Wahrheit (Schrenk, 2017) des menschlichen Daseins, zunächst diejenigen Defizite in den Lebenslagen identifizieren, die prinzipiell die Entstehung der personalisierenden Daseinsführung im Modus sozialer, gemeinsamer Freiheit im gelingenden Miteinander (Bedford-Strohm, 2018) verhindern. Auf der anderen Seite soll die Betonung der gemeinsamen Selbsthilfe, des Machtausgleichs und des Sozialkapitals sowie der Partizipation, mit der kooperative (wirtschaftliche, sich auf ökonomische, soziale und kulturelle Zwecke bezogene) Gebilde wie Genossenschaften mittels horizontaler Strukturierung von Sozialbeziehungen auf eine Wendung14 von herrschaftlichen (z. B. sakralköniglichen15) zu horizontal-egalitären16 Lebensformen zielen, in Augenschein genommen werden. Schließlich soll gezeigt werden, inwieweit diese Gebilde einen potentiellen und gangbaren Weg zur Beseitigung dieser Hemmnisse darstellen können, hin zu einer auf Kooperation und Solidarität beruhenden Gesellschaft, die hier als Möglichkeitsraum bzw. Anderssein-Können als Werden eines Neuen (im Sinne von Heterotopien) verstanden wird. (4) Die letztendliche Absicht der Darlegungen besteht dergestalt im Lichte des personalistischen Menschenbildes auf einem theoretisch-abstrakten Niveau in der skizzierten Vision einer Kritischen Theorie der Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung, die als eidgenössischer Bund einer inkludierenden Gesellschaft der Diversität mit Blick auf den morphologisch fassbaren Schnittbereich zwischen Genossenschaft, Gemeinwirtschaft, Commons und Gemeinwohl als Thema der Sozialraum-Bildung konkretisiert werden muss.
14 In der Genealogie dieser Wende wird man archäologisch tief graben müssen. In religionsgeschichtlicher Perspektive mag man – dies haben vielen Abhandlungen von Frank SchulzNieswandt thematisiert – einen (in der Religionsphänomenologie behandelten) Archetypus der Opferkultpraxis erkennen können, der aus der keineswegs Magie-freien „do ut des“-Beziehung des Menschen zu den Göttern resultiert. Aus der Opferpraxis kann eine Mahlgemeinschaft resultieren, die die liturgische Huldigung (christlich: eucharistisches Herrenmahl) an ein Sättigungsmahl solidarischer Art knüpft. Damit vollzieht sich die Achsendrehung der vertikalen Gabe-Beziehung zur horizontalen Mitmenschlichkeit. Dadurch kristallisiert sich der Nukleus einer sozialen Evolution der Kultur profaner solidarischer Nächstenliebe heraus, sofern sich diese Gegenseitigkeitshilfe abkoppelt vom ursprünglichen Zusammenhang der Gott-Mensch-Beziehung (Berti, 2017). Diese Achsendrehung hat Frank Schulz-Nieswandt in einigen seiner Schriften immer wieder expliziert. 15 Im Fall der nach-exilischen alt-israelitischen Kulturgeschichte ging das Sakralkönigtum im Kontext der politischen Entstaatlichung Israels zur reinen Königsprädikation von JHWE über. 16 Die im alttestamentlichen Kontext auch in den königskritischen Schriften enthalten sind und thematisiert wurden.
1. Vorbemerkungen
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§ 2 Die Thesen im Lichte von Fragmenten und Reflexionen der Berliner Diskussion Die Vorträge und Diskussionen dieser Symposium-artigen Tagung haben einige Dimensionen und Aspekte der Argumentation in die vorliegende Abhandlung integrierbar gemacht, aber auch ergänzt und bestätigt. (1) Dies gilt beispielsweise für die Erweiterung der Idee des Schenkens als Gabe als anthropologische Fundierung der Bildung der Sozialwelt durch die weitere Ausdehnung auf den Naturzusammenhang. (2) Nicht nur für zukünftige Generationen, auch für die Natur benötigen wir eine advokatorische Ethik (Brumlik, 2017), die aus Ehrfurcht heraus der Natur ein eigenes Recht zugesteht. Dann wäre die Natur ein DU, nicht ein ES. Es wurde – mitunter auf Bruno Latour17 Bezug nehmend – positiv eingeschätzt, wie den Dingen (Mühlherr u. a., 2016) doch wieder animistisch ein innewohnender Geist zugestanden wird. (3) In Bezug auf die Sozialwelt bestätigte sich der Fokus auf das Problem, Antworten auf die Frage zu finden, wie aus der Ich-Erfahrung wachsend eine Wir-Fähigkeit werden kann, die die meritokratische18 Ideologie des Besitzrechtsindividualismus als Objektbesetzungszwang (Waltz, 2020) als Habitus der negativen Freiheit (Taylor, 1992) zugunsten einer sozialen Freiheit des Miteinanders transformieren kann. Deutlich wurde auch die Position des Anderen und somit die Alterität als Entwicklungsaufgabe der Identität betont. (4) Schenken erscheint (Werbick, 2022) in einem ganz anderen Licht, wenn kritisch hinterfragt wird, wie man das bekommen hat, was man hat: „Was hast du, was du nicht empfangen hättest?“ (1 Kor 4,7). Wem verdankt man das eigene „Haben“, sofern es nicht ohnehin gewaltsam angeeignet, gar geraubt (Waltz, 2020) ist? (5) Zaghaft deuteten sich theologische Positionen (epiphane Erfahrungen des Angerufen-Seins19 durch ein verdankendes Bekommen eines vorgängigen Gegeben-Seins) einer Ethik des Schenkens20 an. Das Böckenförde-Diktum21 wurde zu einem allgemeinen sozialtheoretischen Thema erweitert: Wie ist Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft möglich? Kommt man (Rosa, 2022) ohne die Werte-Generativität der Religion in der Demokratie aus? (6) Wohnt der Steuer im Staat (Steuern und parafiskalische Sozialbeiträge sowie die Verteilungswirkungen der Staatsverschuldung differenzierend diskutierend) nicht doch auch eine Gabe inne? Würden nicht auch Steuern mit Blick auf die Reziprozität von Abgabenlast und Staatsausgaben – experimentell gedacht – in gewissen Umfang sicherlich auch freiwillig gezahlt? Historische Mentalitätsprägungen wurden daher angesprochen: Wie ist das Staatsverhältnis als Funktion 17
Laux (2016); Bogner/Schüßler/Bauer (2021); Schmidgen (2019). Young (1958); Sandel (2020); Hadjar (2008); Schwinn (2018); Distelhorst (2014); Heßdörfer (2021); Faßauer (2007); Reh/Ricken (2018). 19 Allerkamp (2005). 20 Das Schenken wird seit Dekaden breit abgehandelt zwischen Kulturanthropologie/Ethnologie einerseits und Theologie/Religionswissenschaft andererseits. In dieses Spektrum reihen sich soziologische u. a. Sichtweisen ein. 21 In jüngster Zeit liegt neue Sekundärliteratur zu Böckenförde vor, was ein Indikator für die Aktualität und Relevanz des strittigen Themas ist. 18
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I. Zugänge
eines Staatsverständnisses wirksam: Ist es mein Staat oder ist der Staat der Räuber? Bin ich gegen bzw. trotz Staat ein Bürger oder im und durch den Staat? Auf die Präpositionen kommt es an, und auch auf die adverbialen Bestimmungen des Ortes der eigenen Subjekt-Positionierung hinsichtlich des Staates als der Andere. (7) Wann wird Reichtum sittenwidrig? Wie ist mit der Erbschaft als unverdientes Vermögen umzugehen? (8) Was sind die Zeithorizonte und die damit verknüpften moralischen Zeithorizonte, wenn mein Handeln immer auf die Zukunft im Sinne von Möglichkeiten und Erwartungsbildungen ausgerichtet ist (Sprenger, 2019)? (9) In der GabeForschung geht es nicht nur um das WAS und das WARUM, also um die Substanz und um die Motive des Schenkens, sondern auch um das WIE des WAS, um das WO, WANN und WEM. Auf dem Weg zu einer Ästhetik des Gebens der Gabe als ein Schenken wurde auch der strukturelle Paternalismus zum Thema: Ist das Schenken ein gemeinsames Projekt der asymmetrischen Beziehung des Gebens und Nehmens oder eine einseitige milde Gabe als Almosen? Dann wäre das Objekt ein DU auf Augenhöhe der respektvollen Achtung, nicht mehr ein ES meines ICH-Zentrums. (10) In Gesprächen war das Thema der Romantik als Quelle solcher Denkzusammenhänge strittig. Es zeichnete sich eine Übereinstimmung ab, die die Ambivalenz der Romantik (Safranski, 2020) in ihren vielen Strömungen und Rezeptionsgeschichten betonte. Die Romantik hatte Konturen einer Kritik der Modernisierung bis hin zur Reflexion der Entfremdung des Menschen (in der Sozialwelt und in Bezug auf die Natur) anzubieten. Sie wurde aber auch in sehr verstiegener Weise rezipiert und bahnte dunklen Formen der Anti-Moderne den Weg. (11) Trotz aller differenzierender Diskussionen kam dennoch immer wieder die Frage auf, wie denn der Egoismus im Schenken in Relation zum Altruismus bzw. zum Gemeinsinn steht. Dies berührt den Derrida-Impact (Panteliadou, 2015) im Gabe-Diskurs, mit dem nachfragend der Gedanke eingebracht wird, ob es überhaupt eine unbedingte, reine Gabe gibt, wenn die Obligation der Gegen-Gabe mitgedacht wird. Hiermit wird angedeutet, dass strikter zwischen der Gabe und der Reziprozität zu unterscheiden wäre. Das Thema hat theologische Tiefenstrukturen, die hier nicht diskutiert werden müssen, und die in der Tagung nur knapp angedeutet worden sind, bezugnehmend etwa auf Veronika Hoffmann (2013). So kam (12) mit Blick auf die Bedeutung der Laienmusik genau diese Frage auf: Geht es um Selbstverwirklichung oder um gemeinnützige Leistungen für Dritte (das Publikum)? Wer wird beglückt? Dass Musik beglücken kann, wissen wir. Musik – ist es Zufall, dass gerade in jüngster Zeit die Musikphilosophie22 aufblüht, auch z. B. der Blick auf die Rolle der Musik im Denken von Ernst Bloch? – ist eine universale Sprache: Sie kann alle Stimmungen, also Leidenschaften zum Ausdruck bringen, kann den Tod ebenso wie die Liebe vertonen, das Lachen wie die Traurigkeit, sie kann Landschaften oder die Dynamik des Wassers vertonen. Ihre Kunst beglückt den Künstler (m/w/d), aber zugleich das (mehr oder weniger einbezogene) Publikum. So wird neuerdings auch das (für die Funktion in der Polis ja in seinen Ursprüngen erforschte) Theater als Gabe diskutiert (Hentschel, 2019), auch als Commons. War das öffentliche Musizieren in der An22
Jankélévitch (2021); Fuhrmann/Mahnkopf (2021).
1. Vorbemerkungen
21
fangsphase der Corona-Quarantäne-Krise nicht ein Beispiel für die Gemeinnützigkeit? Ist der wahre Musiker nicht immer nur dann glücklich, wenn er sein Publikum glücklich macht? Oder ist dies reiner Narzissmus? Ist das klatschende Publikum nur der Spiegel von Lacan, der die Ich- als eine Selbst-Erfahrung konstituiert? Und hat dies nicht auch etwas zu tun mit der Suche nach Lebensfülle (Heidemann, 2021) in der dergestalt dann eben auch erfüllten Zeit im sozialen Mit-Sein? Die theologischen Assoziationen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Thema vollumfänglich auch von einer psychodynamisch (z. B. bindungspsychologisch) fundierten Sozialpsychologie der Selbsttranszendenz (Löschburg, 2019) in gelingenden sozialen Beziehungen behandelt worden ist. Und auf der Tagung endete Frank SchulzNieswandt auch wieder mit seinen üblichen Verweisen auf Antoine Saint-Exupéry: Es käme immer auf die Haltung an, der Mensch sieht nur mit dem Herzen gut und er sei als Individuum schlicht nur als Knotenpunkt seiner sozialen Beziehungen zu verstehen, wodurch er sein Leben als eine Erzählung verstehen lernt. § 3 Von der Gabe zur Form der Genossenschaft Nun also zum Tutzinger Vortrag: In Tutzing ging es – enger, anders akzentuiert, aber durch die Einordbarkeit in den signifikanten Schnittflächen zum Themenfeld des Vortrages in Berlin und zu der vorliegenden Abhandlung begreifbar – um die Thematisierung der Genossenschaften als Institutionen kooperativen Wirtschaftens, wobei einige historische Erfahrungen und heutige Perspektiven herausgearbeitet worden sind. Der Vortrag von Frank Schulz-Nieswandt ordnet sich dabei in den breiteren Kontext der Frage nach der Bedeutung einer Commons-Ökonomie ein. Die Kernüberlegungen, wie sie in dem Thesenpapier von Frank Schulz-Nieswandt vor der Tagung eingereicht wurden, sollen hier nun ebenfalls kurz skizziert werden. Morphologische Überlegungen23 müssen (1) am Anfang stehen. Die Genossenschaften (seit einigen Jahren als immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe signiert) sind insofern eine Form kooperativen Handelns, weil die horizontale Gegenseitigkeit (im Sinne von Mutualität bzw. Reziprozität als kulturgrammatische Bausteine in Kulturgeschichte und Kulturvergleich) die Art der Selbsthilfe codierend charakterisiert, wobei dieses zentrale Merkmal der Selbsthilfe zusammen mit der Selbstorganisation und der Selbstverwaltung zu den drei Strukturprinzipien der Genossenschaft zählt. Der § 1 GenG im bundesdeutschen Rechtskontext betont den Förderauftrag für die Mitglieder der Genossenschaft als zentrale Sinnfunktion. Im Sinne des DraheimTheorems (Blome-Drees, 2022) ist der Doppelcharakter des Sinns von Genossenschaften hervorzuheben: Eine Genossenschaft ist einerseits Personalverband und somit eine Form der sozialen Gesellung, andererseits ein Zweckverband, nach dem reformierten bundesdeutschen GenG sowohl wirtschaftliche als auch soziale oder kulturelle (diese aber eben auch wirtschaftlich, aber nicht kapitalistisch realisierend) Zwecke verfolgend. Die Sachzieldominanz liegt in der Betonung der Förderung der 23
Blome-Drees (2022); Blome-Drees/Moldenhauer (2023).
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I. Zugänge
Lebenslagen der Mitglieder. Die übliche Markttheorie reduziert den Bedarf (eigentlich die Bedürfnisse, denn in der Theorie ist zwischen [objektiven] Bedarf und [subjektivem] Bedürfnis zu unterscheiden, woraus sich die Problematik der dialogischen Meritorik – z. B. im Modus des Post-Wachstums-Diskurses im Anthropozän, aber auch auf der Mikro-Ebene im Fall der durch Wahrnehmungsverzerrungen bedingten Minderschätzung von sozialen Dienstleistungen zur Förderung der Lebensqualität vulnerabaler Personen – entwickelt), der gedeckt werden soll, auf den Konsum. Genossenschaften sind u. a. deshalb als Hybrid (Raasch, 2022) zu verstehen, weil hier Gemeinwirtschaft und Privaterwerbswirtschaft eine Mischgewebestruktur eingehen. Trotz dieser förderwirtschaftlichen Mitgliederbeziehung können die Genossenschaften im Sinne einer sozialräumlich orientierten Stakeholder-Ethik auch gemeinnützige Aufgaben erfüllen. Sofern sogar explizit die Rechtsform der gemeinnützigen Genossenschaft angenommen wird, können diese auch den Sinn des Gebildes dominieren. Genossenschaften können sich öffnen, um im Mitgliederumfang zu wachsen. Insofern müssen Genossenschaften keine engen und distinkten24 (geschlossenen25) Clubgüter-Gebilde darstellen. Dies ist für die Commons-Debatte wichtig. Hinzu kommt, dass es sich bei der Bedarfsdeckung mit Blick auf die Förderung der Lebenslagen der Mitglieder um öffentlich relevante Aufgaben der Gesellschaftspolitik handeln kann, womit sich weitere gemeinwirtschaftliche Funktionskreise herauskristallisieren mögen. Folgt man den rechtsgeschichtlichen Studien von Otto von Gierke, so ist die Genossenschaft die horizontale Form der Gesellung im Gegensatz zur vertikalen Herrschaft (prototypisch im Sakralkönigtum26 manifestiert). In einem spezifischen Sinne der Hybridform können Genossenschaften als Gebilde genossenschaftlicher Herrschaft auch eingebunden werden in eine Instrumentalfunktion (Boos/Krönes, 1990) der Herrschaft (z. B. die öffentliche Aufgabenbindung im Fall von öffentlichrechtlichen Körperschaften in Selbstverwaltung). Genossenschaften werden überwiegend (a) als Einzelwirtschaftsgebilde (Kredit-, Konsum-, Wohn- und Produktivgenossenschaften), aber auch als Sozial- und Kulturgenossenschaften wie z. B. als Familiengenossenschaften (Hillebrandt, 2016), als Frauengenossenschaften (Göksu, 2020) und als Seniorengenossenschaften (Köstler, 2018; Zundel, 2016) diskutiert, jedoch (b) auch in der Vision einer regionalen Vollgenossenschaft als Netzwerkgebilde (Martignoni, 2022), (c) als Dachorganisationsform von Netzwerken und als (d) Vision einer Gemeindeordnung der Kommune als Polis (Schulz-Nieswandt, 2013c). Gierke diskutierte (e) auch den Staat (Voigt, 2018) als Genossenschaft (Kühne, 1984), Kant (Brunkhorst, 2002) träumte (f) von einer Weltgenossenschaft in weltbürgerlicher Absicht. 24
Dazu instruktiv: Bublitz (2022). Dazu instruktiv: Gibel (2020). 26 Dazu auch Haude (2023). 25
1. Vorbemerkungen
23
Die Selbsthilfegruppenbewegungen (etwa mit Bezug auf § 20h SGB V und § 45d SGB XI) sind genossenschaftsartige, aber nicht entsprechend genossenschaftsrechtlich verfasste Gebilde der gegenseitigen Hilfe als Form bürgerschaftlichen Engagements der Zivilgesellschaft. Die neuere Commons-Debatte kann mit Blick auf die genossenschaftliche Bürgerschaftsselbstverwaltung geführt werden, aber eben auch in Richtung marktorientierter Sharing-Modelle oder in Richtung auf staatlich sichergestellte reine öffentliche Güter. In kulturgeschichtlicher Perspektive (Kamphausen, 2022; Notz, 2021) ist (2) eine gewisse Ubiquität der Genossenschaft als organisatorische Form der in sozialer Gesellung eingebetteten Risikobewältigung27 im lebenspraktischen Rahmen der existenziellen Daseinsführung der (a) in der menschlichen Ontogenese (PortmannPhänomene28) veranlagten und (b) in der sozialen Evolution (Tomasello-Effekte29) entfalteten kooperativen Lebensführung im Lebenszyklus und im transgenerationellen Gefüge nachhaltiger Umwelteinfügungen (Mooslechner-Brüll, 2021) zu konstatieren. Für den judeo-christlichen Kulturentwicklungszusammenhang mag auf die bereits alttestamentlich verwurzelten Formen der ur- und frühchristlichen Gemeindeordnungen verwiesen werden. Sie orientieren sich an den hellenistischen Vereinsformen und sind satzungsmäßige Kultgenossenschaften. Der besondere pneumatische Gehalt der universalen Nächstenliebe verweist uns morphologisch auf den quasi genossenschaftssozialistischen Traditionszusammenhang dieser antiken Sozialgebilde. Vielfach diskutiert – auch im Kontext der römischen Spätantike und im altorientalischen Kulturkontext sowie im internationalen Kulturvergleich – werden die Gilden (Hellwege, 2020a). Mit einer gewissen Evidenz zeigt sich hier eine morphologisch fassbare Multi-Valenz (soziale und religiöse30 Gesellung, wirtschaftliche Zwecke und soziale Gegenseitigkeitshilfe). In den karolingischen Kapitularien – ein kontroverses Thema in der Mittelalterforschung, auch in Bezug auf die Strukturgeschichte der „langen Dauer“ – zeichnete sich wohl ein Spannungsverhältnis zur ansatzweisen großterritorialen und zentralisierenden Staatsbildung ab. Wenn man eine derartige genealogische Spurensuche im Sinne einer Archäologie nicht allzu streng historiographisch als Spuren einer Entwicklung im Sinne von Metamorphosen einer deterministischen und automatistischen Pfad-Entelechie (also 27 Zur modernen Komplexbildung von Risiko, Vorsorge und der der Modernen eigenen Mythopoetik des Unfalls u. a. Pelizäus/Nieder (2019); Hannig/Thießen (2017); Haupt (2021); Kassung (2009); Lieb (2008). Immer noch bedeutsam: Ewald (1993). Auf die Beck-Rezeption soll nicht eingegangen werden: Poferl/Sznaider (2020). 28 Schulz-Nieswandt (2023c). 29 Tomasello (2020); Albert/Greve/Schützeichel (2016). 30 Dazu auch in Tacke/Münch/Augustyn (2017).
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I. Zugänge
als programmlogische Keime und Vorläufer von reifenden Formentfaltungen im Sinne von kausalen Wachstumsketten) versteht, dann kann sich der Blick auf den Ursprung der modernen Genossenschaften in der Epoche der klassischen sozialen Frage in der krisenhaften Moderne nach der Französischen Revolution (mit der „Sattelzeit“-Wertestruktur des Dreigestirns von Freiheit, Gleichheit31, Solidarität) konzentrieren. Hier kristallisierten sich – auch im internationalen Vergleich – verschiedene sozialliberale, sozialkonservative und diverse sozialistische Strömungen der Genossenschaftsidee heraus. Insbesondere die Produktivgenossenschaften wurden mit Blick auf das Verhältnis zum Staat kontrovers in der Arbeiterbewegung und in der Sozialdemokratie diskutiert. Neben den in England, aber vor allem im Werk von Franz Oppenheimer (Willms, 2018) grundlegend diskutierten siedlungsgenossenschaftlichen32 Modellen genossenschaftssozialistischer Art dominierte in für uns hier nun relevanter Weise einerseits (a) die Werte-orientierte christliche Raiffeisen-Bewegung und andererseits (b) die Schulze-Delitzsch-Richtung, die vom Staat als Ordnungskraft schlicht eine rechtliche Ermöglichung funktionsfähiger Genossenschaften als Unternehmen besonderer Art im ansonsten erwerbswirtschaftlichen Kapitalismus erwartete und auch entsprechend die preußische Gesetzgebung prägte. Ob die an einer christlichen Soziallehre orientierte Raiffeisen-Bewegung als Werte-orientierte Sozialreformbewegung, die sicherlich in ihrer substantiellen Ausdrucksgestalt weit über den Marktordnungspragmatismus von Schulze-Delitzsch hinausragte, als religiöser Sozialismus33 charakterisiert werden kann, mag kontrovers bleiben.34 Hier ragt später doch eher der Paul Tillich-Kreis (SchulzNieswandt, 2020b) in der Weimarer-Zeit heraus, der u. a. Spuren in der Gerhard Weisser-Schule der Gemeinwirtschafts- und Sozialpolitiklehre hinterlassen hat. Gerade auch im jüdischen Denken des dialogischen Personalismus ist die Genossenschaftsidee verankert. Spuren dieser formativen Epoche der modernen Genossenschaftsentwicklungen prägen (3) auch heute noch aktuelle Strukturen und Entwicklungen. In der Praxis des Genossenschaftswesens im bundesdeutschen Wirtschaftskulturzusammenhang, um ein Fazit zu ziehen, haben sich – quasi als im objektiven Geist sedimentierte weltanschaulich orientierte Habitusformationen – die RaiffeisenRichtung und die Schulze-Delitzsch-Richtung bewahrt. Die verhaltensrelevanten Selbstkonzepte des Managements der strategischen Führung der Gebilde – wenn wir die Meso-Ebene betreten – verweisen auf eine 31 Gefragt werden muss, was gemeint sein kann: Gleichheit der Chancen? Aber wie steht es um die Verteilung der Chance zur Chance? Allen (2022) sowie vor allem Rendueles (2022). 32 Zu gemeinschaftlichen Wohnformen: Pearson/White (1988). 33 Interessante Beispiele: Maier (2009). 34 Zu Religion und gemeinschaftlichen Wirtschaften: Steinberg/Müller (2014).
1. Vorbemerkungen
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divergente Spaltung. Hier sollten wir unterscheiden lernen. (a) Die eine Richtung – und dies findet sich vor allem in der neueren gemeinwohlökonomischen Dynamik im Kontext der Caritas und noch stärker in dem der Diakonie35, aber auch mit Blick auf die Diffusion der Genossenschaftsidee in neue Felder, z. B. als Sozialgenossenschaften (Beideck, 2020; Thürling, 2020) – betont die Werte-orientierte Sozialreformpotenzialentfaltung. (b) Die andere Richtung versteht die Genossenschaften als normale, wenngleich – wobei die Authentizität dieser Sicht problematisierbar sein kann – besonders demokratisch verfasste privaterwerbswirtschaftliche Unternehmen in einem trägerpluralistischen Markt öffentlicher, freigemeinwirtschaftlicher und privatwirtschaftlicher Art. Wobei eben auch die genossenschaftsrechtlichen Unternehmen im Wettbewerb – als Ordnung der bundesdeutschen, aber auch der, mit Bezug auf Art. 3 (3) EUV, europäisch regulierten wettbewerblichen sozialen Marktwirtschaft (Haaf, 2022; Schäfer, 2020) – verstanden werden. Sollte – quasi als Variante von (a) – das gemeinwirtschaftlich orientierte Segment der Genossenschaften als Teil des sog. Dritten Sektors der Non-Profit-Organisationen verstanden werden, so erweist sich auch die regulierungsgrammatische Gewebeordnungsstruktur einerseits der vertikalen Subsidiarität (Trennung von Gewährleistungsstaat und Sicherstellungsmodi) und andererseits der horizontalen Subsidiarität (Gleichbehandlung gemeinwirtschaftlicher und privatwirtschaftlicher Unternehmen sowie die Betonung der Nachrangigkeit der von der SchrankentriasIdee der landesgesetzlichen Ordnungen des Kommunalwirtschaftsrechts eingeschränkten öffentlichen reinen oder gemischtwirtschaftlichen Unternehmen) als Ordnung des Trägerpluralismus im regulierten und öffentlich mitfinanzierten QuasiMarktwettbewerb in vergaberechtlichen Modi des obligatorischen Ausschreibungswettbewerbs und der nachrangigen marktorientierten Direktvergabe als Betrauungsakte. Zu all diesen Aspekten gibt es Berge von Literatur, die aber nicht aufgegriffen werden muss. Es geht uns ja primär um die landschaftskartographische Skizzierung, nicht um einzelne Diskussionen, die in die Tiefe von Dimensionen oder Aspekten führen. Diese Positionierung hängt von den Erkenntnisinteressen ab. Natürlich ist z. B. die begrenzte Möglichkeit der Politik des Betrauungsaktes bedeutsam. Aber es geht hier nicht um eine große, allumfassend umfängliche systematische Abhandlung aller verschachtelten Diskussionen. Gemeinwirtschaftliche Genossenschaften wären somit in einen Wettbewerbsrahmen transparenter Gleichbehandlung als Delegation der Sicherstellungserledigung öffentlicher oder öffentlich relevanter Aufgaben des Gewährleistungsstaates als sozialen Rechtsstaat eingefügt. (4) Mit Blick auf die Konturen einer zukünftigen Entwicklung und ihrer Pfadmöglichkeiten (mit Blick auf andere Akzentuierungen in den Debatten über Neu-
35 Unabhängig von diesem Aspekt vgl. auch die Reihe „Diakonie. Bildung-GestaltungOrganisation“ im Kohlhammer Verlag. Bei Nomos erscheint die Reihe „Diakoniewissenschaft/Diakoniemanagement“.
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I. Zugänge
adjustierungen von Staat, Markt und Zivilgesellschaft36) wäre nun abschließend nach den Perspektiven eines transformativen Rechts als transzendentale Voraussetzung der Förderung der Gemeinwohlökonomie in gemeinwirtschaftlicher und eben auch genossenschaftlicher Trägerschaft außerhalb dieses Konkurrenzprinzips der Gleichbehandlung der Gemeinwirtschaft und der Privatwirtschaft als marktliberale und besitzrechtsindividualistisch verengte Auslegung des Subsidiaritätsprinzips – etwa mit Blick auf die viel diskutierte Gesetzgebung des Burgenlandes in Österreich (Vergabe von Aufgaben im Sektor Pflege und Soziales ausschließlich an gemeinnützige Unternehmen) – zu fragen. Das Thema fügt sich in eine allgemeine Vision einer Förderung der Gemeinwohlökonomie im Kontext einer Postwachstumsgesellschaft (Herrmann, 2022) im Anthropozän (Wallenhorst/Wulf, 2023) ein. Soweit einige Diskurszusammenhänge aus der Vor- und Entwicklungsgeschichte der vorliegenden Abhandlung. Alle Dimensionen und Aspekte werden sich nachfolgend wiederfinden lassen. Aber alles wird nochmals anders geordnet, fokussiert auf die Morphologie des dritten Sektors. Aber diese morphologische Einschätzung ist nur angemessen darlegungskonzeptionell umsetzbar, wenn das Gesamtsystem der trägerpluralistischen Quasi-Märkte im Gewährleistungsstaat skizziert wird und das Wirtschaftsgeschehen insgesamt eingeordnet wird in eine Analyse der Gesamtgesellschaft als „Social System“. Dabei wird vor allem die Rolle der normativ-rechtlichen Regime-Ordnungen für die wirtschaftskulturgrammatische Gewebestruktur der Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse – mitunter bis hinein in die psychodynamischen Grundlagen der Sozialcharakter-Bildungen – herausgearbeitet. § 4 Die Thesen im Lichte von Fragmenten und Reflexionen der Tutzinger Diskussion Die Schnittflächen zwischen der Genossenschaftsidee und den Commons wurden im Verlauf dieser komplexen, lebhaften, von der Atmosphäre sehr liebevoll freundlichen Tagung mehrfach aufgerufen und diskutiert. Mag die Gabe-anthropologische Fundierung der Reziprozitätsbeziehungen in der Form der Genossenschaft zum Teil auch strittig gewesen sein, so wurde doch in dieser Tagung eine anthropologische Wende (wie es in der Geschichte der Theologie des 20. Jahrhunderts ähnlich der Fall war) in der Ökonomie durchgängig ein Thema. Gerade diese Fokussierung allerdings stellte die Commons-Thematik in einen planetarischen Kontext hinein. Es geht nicht nur um die Autarkie als Selbst-Befreiung des Subjekts angesichts seiner Sozialität (Sturn, 1997). Der Mensch steckt nicht nur in der SozioBlase, sondern in einer allumfassenden Bio-Blase, wobei das Entitlement in Richtung auf die Rechte der Natur zu debattieren war. Der Weg führt uns also vom Privatismus des Oikos über die Öffentlichkeit der Polis zum Universum des Kosmos. Diese Hoch-Skalierung steigert natürlich die Komplexität. Den Planeten als gemeinsames Erbe der Menschheit (wie es, wissenschaftlich, aber nicht ohne Lei36
Heinze (2020).
1. Vorbemerkungen
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denschaft, vom Völkerrechtler Stephan Hobe referiert worden ist) zu verstehen, warf sodann aber eine immanente Problematik auf: Das Miteinander-Nutzen der Natur ist ein humangerechter Fortschritt der Zivilisation, quasi dem Zivilisationsmodell von Dieter Senghaas (das Frank Schulz-Nieswandt37 in neueren Publikationen sinnadäquat weiterentwickelnd modifiziert hat) von der negativen Ego-Freiheit zur sozialen Freiheit des Miteinanders entsprechend. Aber damit wird die Natur nur gerechter aufgeteilt in Bezug auf die Nutzung. Die Natur bleibt hier Objekt der verteilungspolitisch demokratisierten und folglich gerechten (eben gemeinsamen) Kannibalisierung. Die Humangerechtigkeit ist eben eine konzentrische Kreislinie. Die nächste Ausdehnungslinie in dieser Dynamik ist die Naturgerechtigkeit. Erst dann kommt die Entelechie der Metamorphosen zu ihrer wahren Gestaltqualität. Hat die Natur nicht ein Recht auf ihren Selbstzweckcharakter? Verschieben sich daher nicht die Gleichgewichtspunkte38 einer optimalen ökonomischen Nutzung der Natur? Die exegetische Diskussion über Hardins Tragödie der Allmende (in ihrem modelltheoretisch problematischen Designing) und über die Neumodellierung der Tragödie als Drama im Werk von Ostrom (mit ihrer auf Kommunikation und Vertrauensbildung abstellenden Öffnung der theoretischen Modellierung in Verbindung mit einem kontext-sensiblen subtilen Regulationsregime) wollen die Verfasser hier nicht darlegen. Interessant waren andere Perspektiven. Kann die ORDO-liberale Idee (Biebricher/Ptak, 2020) der konstitutiven Voraussetzungen der nachhaltigen Funktionsfähigkeit der sozialen Markwirtschaft (Goldschmidt/Wolf, 2021) als Commons – im Sinne des Böckenförde-Durkheim-Diktums, wonach solidarische Kohäsion von transzendentaler Bedeutung sei – verstanden werden? Muss – die Diskussion der Tagung mündete auch in einer Rezeptionsdiskussion der neueren französischen und italienischen Theoriebildung über den agonalen Charakter des Politischen (als onto-anthropologische Kategorie) in Differenz zur Politik als empirisches Phänomen – der kontraktuelle Raum der Interessen nicht geordnet werden durch eine kollektiv geteilte Idee (der personalen Würde als Anker der Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung), die den heiligen – eidgenössischen – Bund der Kontraktgesellschaft transzendental stiftet? Bedarf die moderne Gesellschaft – das erinnert auch an die Abhandlung von Ralf Dahrendorf (1979) über das Thema der Lebenschancen – in der Ordnung der Optionen nicht auch Ligaturen? Diese Idee ist kulturgrammatisch wie psychodynamisch viel tiefer zu verstehen als eine ORDOliberale Anknüpfung an Buchanans (2001) konstitutionelle Ökonomik. Wie sonst wäre der Kitt des Zusammenhalts der Gesellschaft zu rekonstruieren? Wie kann der Egoismus humangerecht bis hin zu seiner Steigerung zum homo abyssus eingeschränkt werden? Wo und wie kann dies sozial erlernt werden? Und wieder kommt die Komplexitätssteigerung der Wachstumsdynamik der konzentrischen Kreise – vom Oikos über die Polis zum Kosmos – zur Thematisierung: Und ist nicht die 37
Schulz-Nieswandt (2021b; 2021i). An der Tutzinger Tagung nahm auch Fritz Reheis teil, dessen Buch (Reheis, 1986) Frank Schulz-Nieswandt 1989 besprochen hatte. Siehe hierzu in Politische Vierteljahresschrift 30 (4) 1989): S. 700 – 701. 38
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I. Zugänge
Familie, bindungspsychologisch mit Blick auf die prosozialen positiven Externalitäten als Commons-Effekte analysiert, die Keimzelle dieser Solidarität in der SozioBio-Sphäre? Die Tagung war überaus fruchtbar. Die Verfasser haben, zumal interpretativ und somit durch ein Framing selektiv, einige Aspekte hervorgehoben. War schon die Berliner Tagung von einer Atmosphäre geistreicher Gemeinsamkeit geprägt, so steigerte sich die Erfahrung in Tutzing, dort, wo Frank Schulz-Nieswandt als junger Assistent (in Regensburg, dort „un-eingebettet“ in einer unfreundlichen neoklassischen Dogmatik, die sich auch als Sozialcharakterprobleme von Ordinarien entpuppte) um die 1990er Jahre herum mehrfach aktiv dabei war. In dieser Hinsicht war die Tutzinger Tagung geprägt von einem anderen intellektuellen Niveau. Die Rückkehr war durchaus beglückend.
2. Einleitung Dimensionen und Aspekte aus den orientierenden Vorbemerkungen – zum Teil in produktiver Redundanz, zum Teil aber eben auch in erweiternder, übersteigender Weise – aufgreifend, soll nun einleitend das Thema (der Gegenstand unserer theoriegeleiteten Rekonstruktion) vertieft werden. Man mag immer wieder staunen, dass andere Menschen in der Wissenschaft über komplexe Interdisziplinarität überrascht sind, sofern ihnen diese nicht sogar suspekt erscheinen mag. Andere Disziplinen und ihre theoriegestützten oder Theorie-bildenden Konzepte können aber auch helfen, die Entwicklungsdynamiken der sozialen Wohlfahrtsproduktion (sozWP) des Dritten Sektors (SD) in den Konfigurationssystemverschiebungen des Trägerpluralismus (TP) im wettbewerblichen Markt (wM) im Rahmen der Instrumentalfunktion (IF) der Aufgabendelegation (AD) der öffentlichen Aufgaben (öA) des sozialen Gewährleistungsstaates (sozG) im EURechtsregime (Hatje/Müller-Graff, 2021; dazu Schulz-Nieswandt, 2014; 2023b) besser zu verstehen. Diese Thematik ist ohne diese Komplexität der Mehr-EbenenVerschachtelung nicht zu haben: sozWP ¼ f fðDS
ðTG ½wMA
½çA
AD
IFA
sozG
EU @ RÞg:
In dieser formalisierten Darstellungswiese wird (1) die kumulative Verschachtelung, also: fð½AÞg deutlich, (2) die Mehr-Ebenen-Schichtung der Mikro-, Meso- und Makro-Ebene und (3) die Wirkungsrichtung ( ) mit Blick auf das finale Outcome-Konstrukt (der sozialen Wohlfahrtsproduktion) der Strukturation über die kumulativ verschachtelten Ebenen hinweg. !
2. Einleitung
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Nochmals: Der Dritte Sektor ist – derzeit – eingebettet in den trägerpluralistischen wettbewerblichen Markt und ist infolge der Logik einer Instrumentalfunktion der formalen Privatisierung als Delegation (dazu auch Burgi, 1999) öffentlicher oder öffentlich relevanter Aufgaben des sozialen Gewährleistungsstaates in seiner konstitutionellen Einbettung im europäischen Regime des Binnenmarkts und des Sozialmodells des Strukturwertes der Dienstleistungen (im Sinne des Art. 36 Europäische Grundrechtscharta im Lichte von Art. 28 GG und daher im Konvergenzpunkt von Art. 3 [3] EUV und Art. 20 GG) vor dem Hintergrund der Staatsaufgabenbestimmung in den UN-Grundrechtskonventionen von allgemeinem Interesse. § 5 Über die normale Nicht-Selbstverständlichkeit der Interdisziplinarität Im vorliegenden Wirklichkeitszusammenhang wird das als Sektor klassifizierte Feld der Non-Profit-orientierten Praxis sozialen Handelns in den größeren StrukturFunktions-Zusammenhang des Sozialsystems gestellt, aber das sind Konstruktionen als Abstraktionen. Immer sind es – allerdings vergesellschaftete – Subjekte, die eingestellt (Cultural Embeddedness-Theorem) sind in Mikro-Arrangements in institutionellen Meso-Settings im Wandel des strukturierenden Makro-Kontextes, wobei die Kontexte zu verstehen sind als figurative Anordnungen von vertikalen und horizontalen Interdependenzketten, in die die Subjekte eingegliedert (Social Connectedness-Theorem) sind. Diese von positiven wie negativen Externalitäten geprägten Figurationen sind ebenso zu verstehen wie die inneren (habituellen) Arbeitsapparate der Subjekte. Es gibt gesellschaftliche Drehbücher der kollektiv mehr oder weniger geteilten Wirklichkeitscodierungen, institutionelle Drehbücher der Organisationen sowie ihren inneren Prozessstrukturen und sodann Drehbücher im tiefen Innenraum der Subjekte. Und diese nur analytisch zu verstehenden Ebenen sind in hoch komplexer Weise verschachtelt (Verwebung durch Struktur-bildende Mechanismen der Innen-Außen-Innen-Faltungen zur holistisch39 verstandenen dynamischen Gewebestruktur). § 6 Der Dritte Sektor im Sozialsystem Im Lichte dieser epistemologischen Grundlegung sozialontologischer Art ist auch der erfahrungswissenschaftliche Zugang zum Dritten Sektor geprägt: Es geht um (1) einen analytisch abgrenzbaren Sektor in (2) einem strukturell geordneten Funktionsgefüge von weiteren analytisch abgrenzbaren Sektoren, die (3) wiederum das Subsystem der Wirtschaft ergeben, welches sodann (4) eingestellt ist in reziproke Interpenetrationsinterdependenzen von Politik, Recht und Kultur. Die menschliche Person ist dabei in der Mitte dieser dynamischen Gewebestruktur zu positionieren. Gleichwohl ist es die mittige Positionierung eines – an poststrukturales Denken anknüpfend – methodologisch de-zentrierten Subjekts. Denn er ist ein – allerdings kreativer und in der Folge performativer – Akteur in diesem gesamtgesellschaftlichen Sozialisationszusammenhang (Hurrelmann u. a., 2015). 39
Bertram/Liptow (2002).
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I. Zugänge
Im vorliegenden Themenzusammenhang geht es daher nicht nur um die Logik und um die Grammatik, also um Sinn-Struktur-Zusammenhänge von institutionellen Kulturen der Sorgearbeit, sondern auch um die Wirtschaftsgesinnung und um die entsprechenden Sozialcharakter-Skripte. Es geht um das Wirtschaftsorganisationsrecht im Lichte des „Geistes der Gesetze“, dabei diese Regime als objektiver Geist verstehend und diese wiederum als Objektivierungen des menschlichen Geistes definierend. In diesem Geist der Gesetze sedimentieren sich „Gestalt-bildende“ Menschenbilder und in der Folge dergestalt auch Ordnungsbilder über die Grammatik und Logik der Kultur der sozialen Relationen, in die die Menschen eingestellt sind und die diese Figurationen durch die Verhaltungsmuster ihrer Lebensführung als Daseinsbewältigung konkret leben. Man mag im Sinne einer Morphologie der Ausdrucksgestalt erkennen, wie hier sozialtheoretisch generative Grammatiken und performative Praktiken synthetisiert werden. § 7 Komplexe Wirtschaftskulturlehre statt skotomisierte Marktökonomie Wie funktioniert das Wirtschaftsleben? Die Mainstream-Text-Ökonomie ist immer noch nur eine reine (Jäger, 1999) Markttheorie privaterwerbswirtschaftlicher Logik. Abgesehen davon, dass auch diese Marktökonomie in der sozialen Wirklichkeit eigentlich ein Gegenstand interdisziplinärer Kultur- und Sozialwissenschaft sowie der Psychologie des sozialisierten Subjekts im geschichtlichen Kontext und im Kontext des politischen Systems (Schmidt, 2022) sowie der rechtlichen Regulierungsregime sein sollte, wobei es nicht um einen Datenkranz von externen Rahmenbedingungen, sondern um Durchdringungen einer Gewebestruktur als Faltungen von „Außen-Innen“-Räumen geht, ist im vorliegenden Zusammenhang (1) der Markt ein wohlfahrtsträgerpluralistisches (Evers/Olk, 1996) Spiel verschiedener kultureller Logiken des Wirtschaftens und (2) ist innerhalb dieses Spiels die spezifische Logik des Non-Profit-orientierten Dritten Sektors der freien Gemeinwirtschaft zu explizieren, um ihn sinnhaft zu verstehen. Es wird – im Rahmen der (hier: sozialökonomisch-hermeneutischen) Methodologie des Idealtypus – um bestimmte Formen der Reziprozität als relationale Codes der Transaktionalität des Wirtschaftens in Abhängigkeit von der relativen Unbedingtheit der Gabe als Motiv der relativ unbedingten Solidarität in einem bedarfswirtschaftlichen Sinne gehen. § 8 Solidarität und Zusammenhalt Während gerade in letzter Zeit die Literatur zur Kategorie der Solidarität inflationär anmutet, gehen wir den Weg, diese auf der Grundlage einer Gabe-theoretisch (Schulz-Nieswandt, 2023a) fundierten Mutualität als genossenschaftsartiges Füreinander (Helfritzsch, 2020) als ein Miteinander (Schulz-Nieswandt, 2022b) zu verstehen, womit dergestalt auch die neuerdings ebenso inflationär anmutende Literatur zum Thema „Zusammenhalt“ in ihrem Wesenskern kohärent verstehbar wird als kohäsive Solidarität des Miteinanders der Freiheit und Verantwortung (und zwar uno actu) im Lichte der Form der Genossenschaftlichkeit, dabei die Offenheit der
2. Einleitung
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Insider für die Noch-Outsider, hierbei die Kritik am exkludierenden Club-Charakter zugunsten der Idee des öffentlichen Gutes im Sinne der solidarischen Freiheit als Commons betonend. Nochmals sei angesichts der systemtheoretischen Kritik der Unmöglichkeit der universalistischen Inklusion (in verborgener Tiefe dabei das Carl Schmitt-Diktum40 der Freund-Feind-Binärik als politische Theorie von Identität/ Alterität mittransportierend) betont, dass es uns hier im Lichte der Methodologie des Idealtypus um die (Rechtsphilosophie und Ethik der) Minimierung der Differenz zwischen Idee und sozialer Wirklichkeit geht. Es geht in der konkreten Utopie der Kritischen Theorie, die in ihrer ersten Generation auch noch in hoffender Weise geschichtsphilosophisch dachte, nicht um göttliche Perfektion. Eine solche „demiurgische deus ex machina“-Ideologie des Marktes ist ja gerade das Objekt der Kritik. Die an kosmologische Mythen ewiger Kreisläufe von Geburt und Tod im Kosmos in uralten Zeiten erinnernde und dabei Fruchtbarkeits-Theologeme aufnehmende Vorstellung von Wandel als permanente Entwicklung zum Neuen hin ist ja gerade dem Geist des kapitalistischen Innovations-Todestriebes eigen, wobei in der Abfolge der Produkt-, Prozess-, Geschäftsmodell- und neuen Märkte-schöpfenden Sprunginnovationen quasi ein Phönix eingebaut ist. Aus dem Magma der menschlichen Kreativität ist eine Geldschöpfungsmaschine geworden. Ein Korrelations-Komplex – die Korrelationsmethode der, von der „anthropologischen Wende“ geprägten Onto-Theologie von Paul Tillich (Schulz-Nieswandt, 2020b) wird hier missbraucht – von Wunschmaschine der Konsumenten einerseits und Gottmaschine der Marktangebote andererseits ist in die Welt gesetzt worden (Schulz-Nieswandt, 2019b). Als ein ganz anderes wirtschaftskulturelles Paradigma zu dieser psychoanalytisch de-chiffrierbaren animistischen Religion des Kapitalismus ist die moralökonomische Gemeinwirtschaft zu begreifen. Dieser Motiv-Verhaltens-Komplex einer Sachzielorientierten und solidarischen Bedarfsdeckungswirtschaft als Sorgekultur wird als Ökonomik eigener Art, nämlich als Moralökonomik zu begreifen sein. § 9 Der Dritte Sektor im Lichte des objektiven Geistes der Rechtsregime Wenn der vulnerable Mensch hierbei im Rahmen einer Sorgepraxis einer personenzentrierten sozialen Dienstleistungsökonomik im Lichte von § 1 SGB I zum zentralen Bezugspunkt wird, so kann infolge des kategorischen Imperativs der personalen Würde des Art. 1 GG eine passungsoptimale Ökonomik nur als Sachzieldominante Gemeinwirtschaft kohärenzlogisch geschlussfolgert werden, da hier die Gewinnerzielung nicht zum Fetisch werden41, sondern sodann nur als Nebenziel40
Mehring (2021). Hinsichtlich der begrifflichen Kategorie der Profitmaximierung wird man sorgfältig differenzieren müssen. Wird eine grenzenlose absolute Maximierung oder eine Optimierung im Sinne eines Spektrums verschiedener möglicher Optima je nach Settings an Restriktionen gemeint? Eine Anmerkung vertiefender Art ist angebracht. Eine grenzenlose Maximierung des Profits steht sogar im Widerspruch zur Mehrwerttheorie, wenn man diese empirisch fassen will: Die Senkung des Kapitalkoeffizienten als Kehrwert der Kapitalproduktivität (Arbeitsproduktivität in Relation zum Bruttoanlagevermögen als Kapitalstock) kann die Arbeitsproduktivität nicht destruktiv auf den Nullpunkt absenken, indem das Humankapital zerstört wird 41
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I. Zugänge
bedingung einer effektiven, nachhaltigen und niedrigschwelligen freien Zugänglichkeit von sozialen Dienstleistungen (Evers/Heinze/Olk, 2011) von allgemeinem Interesse im Sinne des Art. 36 der unionsbürgerschaftlichen Europäischen Grundrechtscharta im Lichte der Daseinsvorsorge des Art. 28 GG vor dem Hintergrund des Sozialstaatsgebots des Art. 20 GG und des Art. 3 (3) EUV angemessen verstanden werden kann. Unser Thema ist also in die Rechtsphilosophie (Mahlmann, 2022; Hilgendorf/ Joerden, 2021) und in die Ethik (Düwell/Hübenthal/Werner, 2011) des positiven und überpositiven Rechts der Gewährleistungsidee des sozialen Rechtstaates vor dem Hintergrund der modernen menschenrechtskonventionell (Nußberger, 2021; Pfordten, 2023) verankerten Naturrechtslehre der inherent dignity der UN-Grundrechtskonventionen – kohärent als Sinn einer rechtlichen Sinn-Text-Struktur – eingelassen. Ganz im Sinne der Wertestruktur der Französischen Revolution – deren „Sattelzeit“-Bedeutung für die Moderne und die heutige („spätmoderne“?) Zeit im Lichte der kontroversen geschichtswissenschaftstheoretischen Kontroversen über Epochendefinitionen und Epochenabgrenzungen hier nicht debattiert werden soll – geht es (1) um das finale Ziel der Freiheit im Lebensverlauf im Sinne des § 1 SGB I. Doch die (2) Gleichheit der Chancen zu dieser Freiheit in universalisierter – und eben dann auch „de-kommodifizierter“ – Art der sozialen Freiheit und nicht nur im besitzrechtsindividualistischen, also „negativen“ Sinne42 setzt (3) die Solidarität als transzendentale Voraussetzung der gemeinsamen Freiheit aller im Modus der Miteinanderverantwortung (Schulz-Nieswandt, 2022b) voraus. (körperlich, seelisch, geistig). Ein Reproduktionslohn als Minimum muss gezahlt werden. Sodann sind – in entsprechend von einem anderen Geist eroberten Organisationen (Herzog, 2022) – auf diesen Sockel des Existenzminimums zur Reproduktion der Arbeitskraft moralische (auf die Bedürfnispyramide von Maslow im Rahmen der Humanistischen Psychologie verweisend) Aufschläge im Sinne der Ermöglichung von erweiterter Lebensqualität (als Sozialinvestment in die Capability der Menschen) möglich. Es gibt immer hinreichend niedrige Profildaten je nach deliberativer Konstruktion des Verständnisses von Lebensqualität im Allzusammenhang von Oikos, Polis und Kosmos. Zu erinnern ist auch an die Kontroverse zwischen Karl Marx und Ferdinand Lassalle über das Recht auf den vollen Arbeitsertrag. Dieses Recht kann nicht vollumfänglich umgesetzt werden, weil es neben der grundsätzlich notwendigen Reinvestionen u. a. auch Finanzierungsbedarf an Infrastruktur gibt. In dieser Betrachtung muss der Mainstream-Rahmen der Optimierung der Gewinne als Punkt (die marginalistische Methode ermöglicht ja dieses ästhetische Theorie-Designing, weil sich dergestalt Tangentialpunkt von Kurven oder von Kurven mit Geraden ergeben können) innerhalb des allgemeinen Marktgleichgewichts (Chaloupek, 2014; Napoleoni, 1972) der Unternehmen und Haushalte, der Vermögens-, Güter-und Arbeitsmärkte bei geschlossener oder offener Volkswirtschaft mit oder ohne Staat modelliert werden. Das ist oenonomica pura (Jäger, 1999). Es gibt auch eine optimale (gemeinnützige) Rendite unter der Bedingung der achtsamen Beachtung der Komplexität aller moralischen Externalitäten im systemischen Bezug auf Stakeholder, auf die Interdependenz der Generationen in unterschiedlichem Zeithorizont (Staab, 2022) und mit Blick auf die relevanten Daseinsthemata im sozialen Zusammenleben. 42 Schulz-Nieswandt (2022c).
2. Einleitung
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Die Freiheit – ohnehin immer eine relative Autonomie angesichts der conditio humana – des Menschen ist nicht nur „gegen“ den Staat oder „trotz“ des Staates, sondern „im“ und „mit“ sowie letztendlich „durch“ den Staat als sozialen Rechtsstaat im Rahmen einer transzendentalen Rechtsphilosophie zu verstehen. Das ist nicht als ein Minimum an „leviathanischem“ Rest zu verstehen, obgleich die moderne parlamentarische Idee der Repräsentation des Volkes an die absolutistische Idee der von göttlicher Gnade beseelten Herrschaft anknüpfen mag. In psychoanalytischer Tradition ist die Metapher vom „Vater Staat“ hier durchaus nicht ohne Signifikanz, auch dort, wo es um das Vertrauen auf die politische Verantwortungselite geht. So halten sich in manchen westlichen Demokratien Traditionen der konstitutionellen Monarchie, bei uns die Vaterfigur des Bundespräsidentialamtes. Die alte Tradition des Körpers des Königs lebt offensichtlich in subtilen Tiefenstrukturen der Mentalitäten weiter. Doch will die Erörterung wieder zum roten Faden zurückkehren, wenngleich zur Gewebestruktur der vorliegenden Torso-artigen Abhandlung im Modus von nicht völlig unzusammenhängenden Fragmenten auch die Querverästelungen zum Umfeld des roten Fadens gehören. Zu diesem Zwecke ist der vorliegende Text in viele Paragraphen differenziert. An sich ist die Erfindung der Fußnoten – geschichtlich ermöglicht im Übergang vom Papyrus (Vallejo, 2022) zum Buch (Giesecke, 1998; Hilz, 2022) – der Ort, um diese Verästelungen jederzeit zur Sprache zu bringen. Im Vergleich zu sonstigen Publikationen von Frank Schulz-Nieswandt ist diesmal diesbezüglich eher sparsam vorgegangen worden. Zurück also zum nicht nackten, von Verästelungen freien roten Faden. Die drei Ziele von 1789 dürfen nicht als sinnlose Reihung verstanden werden: Sie sind nach ihrer Dringlichkeit und hierarchischen Wertigkeit funktionslogisch geordnet. In dynamischer Prozessbetrachtung der generativen Grammatik der Performanz ist in der Folge aber die Reihenfolge umzukehren: Solidarit-t ! Gleichheit der Chancen ! Freiheit: Dergestalt (Heerdt/Schulz-Nieswandt, 2022) knüpft sich im Art. 2 GG das Grundrecht auf freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit vor dem Hintergrund von Art. 1 GG an das im Art. 2 GG zugleich eingeforderte Sittengesetz, das nur im Rekurs auf die Fähigkeit der Bürgerschaft zur empathischen Rücksichtnahme als Haltung der respektvollen Achtung auf die Personalität des Mitmenschen zu verstehen ist (Schulz-Nieswandt, 2023a; Leisner, 2015). Aus der prozesslogischen Interpretation der Wertestruktur von 1789 resultiert im Themenzusammenhang der vorliegenden Abhandlung die Moralökonomik der Gemeinwirtschaft als transzendentale Wirtschaftskultur der Freiheit, die allein durch die Privatwirtschaft nicht zu haben sein wird, sondern von ihrer Hegemonie gefährdet wird. Deswegen endet die Abhandlung auch (1) mit einem Blick auf die Notwendigkeit eines transformativen Rechts, das der Gemeinwirtschaft zu ihrem nachhaltigen Impact angesichts der nur begrenzt humangerechten Logik des Kapitalismus
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I. Zugänge
der Privatwirtschaft als Gemeinwohl-Generator (Hiebaum, 2022) – dieser Begriff bringt das technizistische Markt-Theologem zum Ausdruck – verhelfen soll. Und deshalb wird (2) mitunter auch die gesellschaftspädagogische und letztendlich psychodynamische Frage der hinreichenden Gesinnung im Sinne einer Sozialcharakterlehre zu einem integrierten Thema (Hall, 2022). Damit werden (3) zugleich anspruchsvolle Funktionsvoraussetzungen des Dritten Sektors (ebenso wie im Fall der Öffentlichen Wirtschaft oder auch der gemeinwirtschaftlichen Typen der Genossenschaften) deutlich, denn auch das Management des Dritten Sektors kann versagen. § 10 Wissenschaftliche Methode der Idealtypik jenseits der Romantik Die Studien von Frank Schulz-Nieswandt (und auch Schulz-Nieswandt/Thimm, 2023) zum Sektor der stationären Langzeitpflege – oder auch zur Öffentlichen Wirtschaft der Daseinsvorsorge43 – haben gezeigt, dass es hier nicht in unkritischer Weise um eine naive (Kapitalismus-kritische44) Romantik in Beziehung zum Geschehen der sozialen Wirklichkeit gehen kann. Nun liegt wohl eine letztendlich nie vollends eliminierbare Differenz zwischen Ideal und geschichtlicher Wirklichkeit des Menschen und seinen Formen der Gesellung in der conditio humana begründet. Daher hat die nachfolgende Abhandlung diese Relation von Idee und Wirklichkeit durchaus im Auge, die sich auch in der Methodologie der Rekonstruktion als epistemische Differenz zwischen Idealtypus und realtypologisch fassbarer Empirie spiegeln mag.
3. Grundlegung In der Grundlegung geht es unter anderem um die Fragestellung, um den Gegenstand und um die Methodologie der geistigen Klassifikation der Wirklichkeit. Mittels des morphologischen Paradigmas der Analyse von Gestaltfiguren wirtschaftlicher Sozialgebilde (methodologisch positioniert zwischen Hermeneutik des Sinns einerseits und Strukturalismus des relationalen Gewebes andererseits) kann die Gemeinwirtschaftlichkeit des Dritten Sektors im Rahmen einer umfassenden multisektoralen Systemanalyse im Kontext der Form der Gewährleistungsstaatlichkeit und der Sicherstellungsmechanismen der regulierten Quasi-Märkte (Cremer/Fritz/ Goldschmidt, 2018) öffentlich relevanter45 Infrastrukturen im Sozialraum unter 43
Schulz-Nieswandt (2015b). Luks (2019); jedoch auch Pulcini (2004). 45 Man sollte daher von öffentlichen und öffentlich relevanten Aufgaben sprechen. Die liberalistische Ökonomie restringiert das Potenzial der öffentlichen Aufgabe, die ihr suspekt erscheint. Die heilige Reinheit des Marktes würde dergestalt gefährdet. Richtig ist sicherlich, dass man auch Grenzen ziehen muss. Diskutierbare Übergangsräume zwischen öffentlicher und privater Zuständigkeit deuten sich mit dem Begriff der öffentlich relevanten Aufgaben an. Es ist der Gegenstand einer politischen Theorie der deliberativen Demokratie zu bestimmen, 44
3. Grundlegung
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Einbezug der Formen des zivilgesellschaftlichen Engagements fruchtbar erschlossen werden (Schulz-Nieswandt, 2023g). § 11 Daseinsvorsorgender Wohlfahrtsstaat und zivile Wohlfahrtsgesellschaft, Gemeinwirtschaft und Privatwirtschaft Mit dieser sektoralen Analyse der sozialen Wohlfahrtsproduktion im Kontext einer Systemanalyse von Politik, Recht, Kultur und Person kann sich – praxeologisch (mit Blick auf die Performativität) wie auch hinsichtlich der Bedeutung von wirtschafts- und unternehmensethischen Codierungen (definiert als generative Strukturen) – das Verständnis des komplexen Zusammenspiels von Wohlfahrtsstaat, Wohlfahrtsgesellschaft und der Dualität von Gemeinwirtschaft und Privatwirtschaft verbessert entfalten. § 12 Gemeinwirtschaft nur im marktorientierten Trägerpluralismus möglich? Die multi-sektoralen Klassifikationsmodelle erweisen sich allerdings zunehmend als weiterentwicklungsbedürftig. Dies betrifft die Stärkung der Gemeinwirtschaft im Kontext des regulierten trägerpluralistischen Quasi-Marktes sowie die Gestaltung der freien Gemeingüter angesichts der Nachhaltigkeitsprobleme im Anthropozän46. § 13 Methode und Realität Die Dritte Sektor-Forschung ist ein internationales Feld.47 Zu verweisen ist beispielsweise auf die „International Society for Third Sector Research“. Zu herausragender Bedeutung ist „The Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project“ mit seinen über 40 Länderstudien avanciert. So kann in Bezug auf die mimetische48 Funktion der Wissenschaft in Relation zur Wirklichkeit im Sinne einer Wissenschaftstheorie des rekonstruktiven Realismus49 davon ausgegangen werden, dass der Dritte Sektor auch ein internationales Phänomen in der Realität der untersuchten Gesellschaften darstellt. Es gibt also den
wie die Grenze als Definitionsakte sozialer Konstruktion zu ziehen ist. Technisch kann man alles dem Markt überlassen. Doch muss man einerseits nach den allokativen und distributiven Auswirkungen in der sozialen Raum-Zeit-Wirklichkeit schauen, und andererseits gibt es sittliche Grenzen der Vermarktung von daseinsthematischen Anliegen. 46 Laux/Henkel (2018); Manemann (2014); Wallenhorst/Wulf (2023). 47 Anheier/Toepler (2010); Enjolras u. a. (2018); Taylor (2010). 48 Mimetik ist phänomenologisch nicht als schauende Abbildung, sondern im Rahmen eines rekonstruktiven Realismus als kreative Reflexion objektiv gegebener Wirklichkeit zu verstehen, die man aber eben nicht unmittelbar hat, sondern nur im Modus der Re-Konstruktion erlangt. Die Methodologie dieser Re-Konstruktion ist in Wissenschaft, Kunst und Mythos/Religion als symbolische Formen der Erkenntnisgewinnung unterschiedlich, ihnen gemeinsam ist aber dieser symbolische Status: Obwohl die Realität objektiv (auch ohne den Menschen) gegeben ist, hat der Mensch diese Realität nur im Modus der kognitiven Rekonstruktion, die immer auch eine poetische Erzählstruktur aufweist. 49 Schulz-Nieswandt u. a. (2022); Schulz-Nieswandt (2021c).
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I. Zugänge
Dritten Sektor als objektive Realität. Dennoch haben wir ihn nur im Modus wissenschaftlicher Klassifikationen. § 14 Non-Profit und Voluntarismus Der Begriff besagt allerdings bereits, dass es sich (1) um einen abgrenzbaren Sektor eines umfassenderen Systems (des Wirtschaftens) handelt und (2) infolge der Durchnummerierung vorauszusetzen ist, dass es mindestens zwei weitere – typologisch distinkte – Sektoren gibt. Die Zeitschrift „Voluntas – International Journal of Voluntary and Nonprofit Organizations“ (Springer Verlag) verweist uns wiederum (1) auf den Akteurstypus der Non-Profit-Logik des Wirtschaftens, bezieht aber auch (2) das Merkmal des Voluntarismus (hier definiert als Wille zur Bildung von Gesellschaft50) mit ein, womit auch die in deutschrechtlicher Tradition wichtige Begrifflichkeit des selbstorganisierten, mitunter als professionalisierte Organisationsentwicklung aus ehemals bürgerschaftlichen Engagements resultierenden (emergierenden) freien Trägers akzentuiert wird. Damit sind die zivilgesellschaftlichen Wurzeln der Gebilde – und ihre Signatur, findend z. B. in den „Nonprofit and Civil Society Studies“ (Springer Verlag) – angedeutet.51 § 15 Staat und zivilgesellschaftliches Non-Profit-Wirtschaften: Gewährleistung freigemeinwirtschaftlicher Sicherstellung Mit diesen beiden Verweisstrukturen wird die reale sektorale und rekonstruktive sektorlogische Distinktion gegenüber dem For-Profit-Markt einerseits und dem Staat andererseits bewirkt.
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Sutter (2015). Anzuführen als akademische Diskursquelle ist das „Jahrbuch Recht und Ökonomik des Dritten Sektors (RÖDS)“ (Nomos Verlag). Gemeinnützige Unternehmen werden auch praxisnah in den Zeitschriften „Sozialwirtschaft“ (Nomos Verlag) und „Sozialwirtschaft aktuell“ (Nomos Verlag) behandelt. Wissenschaftlich orientiert sind die „Annals of Public and Cooperative Economics“ (bei Wiley-Blackwell) im Auftrag des International Centre of Research and Information on the Public, Social and Cooperative Economy (CIRIEC). Die Themen werden auch behandelt in der „Zeitschrift für Gemeinwirtschaft und Gemeinwohl“ (NF ZögU im Nomos Verlag). Themen der Zivilgesellschaft („Journal of Civil Societes“ bei Routledge) bzw. Themen der Sozialen Bewegungen („Forschungsjournal Soziale Bewegungen“ bei De Gruyter; Vey/Leinius/Hagemann, 2019) werden in vielen verschiedenen Journalen thematisiert. Die freie Wohlfahrtspflege (u. a. „Blätter der Wohlfahrtspflege“ im Nomos Verlag) ist in der Tradition des „Deutschen Vereins für öffentliche und Private Fürsorge“ (Berlin) maßgeblich (und dort auch in dem Journal „Nachrichtendienst“ des DV [NDV] bei thematisch) vertreten. Herausragendes Nachschlagewerk ist das „Fachlexikon der Sozialen Arbeit“ (aktuell in der 9. Aufl. von 2022 im Nomos Verlag). Dort auch die Schriftenreihen „Edition Sozialwirtschaft“, „Studienkurs Sozialwirtschaft“, „Sonderheft Sozialwirtschaft“, „Zukunftsfragen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft“, „Forschung und Entwicklung in der Sozialwirtschaft“, „Studienkurs Management in der Sozialwirtschaft“, „Kölner Journal“ (Wissenschaftliches Forum für Sozialwirtschaft und Sozialmanagement). Mit Blick auf die Non-Profit-Organisationen ist auf die Schriftenreihe „NPO-Management“ im Springer-Verlag zu verweisen. Ferner ist auf die „Internationalen NPO-Colloquiums“ zu verweisen. 51
3. Grundlegung
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Der Voluntarismus verweist uns auf einen vor-staatlichen Raum der Organisation sozialer Wohlfahrtsproduktion, angekoppelt an eine uralte Figur des „Helfens“ (Böhringer/Hitzler/Richter, 2022). Diese Vor-Staatlichkeit als ein „Außerhalb“ des politischen Systems der (legitimen) Herrschaft ist aber kein Raum reiner Autonomie. Eine Theorie des subsystemischen Sektoralismus ist nur eine analytische Leistung der Klassifikation. In Wirklichkeit liegen komplexe Interpenetrationen vor, die man in die Theorie der Dynamik der subsystemischen Figurationsordnung einbauen muss. Diese Verflüssigung der Strukturen ist eine sozialontologisch begreifbare Notwendigkeit empirischer Theoriebildung. Letztendlich gibt es nicht das System, die Gesellschaft und das Individuum: Es gibt nur vergesellschaftete Menschen in sozialen Relationalitäten in unterschiedlicher Komplexität. Man kann einen beliebigen konkreten Sachverhalt als Anfangstatbestand (z. B. die häusliche Situation einer Pflege-Dyade) aufgreifen: Die Analyse zieht dann Kreise, die die ganze komplexe Totalität der gesellschaftlichen Realität erschließt. Und wenn dann noch die dritte Figur einer angeworbenen ausländischen Pflegekraft die Dyade ergänzt, dann signieren die Globalisierung und die weltweiten Zentrum-Peripherie-Strukturen die konkrete Lebenswelt einer privaten Häuslichkeit in einer Kleinstadt in einem Landkreis in der Bundesrepublik Deutschland. Ziehen wir ein Zwischenfazit, bevor die Reise weitergeht. § 16 Zwischenfazit Die vorliegende Abhandlung bietet eine Problematisierung verschiedener MehrSektoren-Modelle in der Entwicklung der Idee des Dritten Sektors auf der Grundlage einer morphologischen Analyse52 an. Die Komplexität des Themas ist hoch. Letztendlich wird man das ganze Sozialsystem (im Sinne des „Social System“) erschließen müssen, denn Wirtschaft, Politik, Recht, Kultur und Person hängen in einer komplexen Faltungs-Dynamik wie ein Gewebe zusammen. Dabei wird man sodann auch aktuelle Perspektiven zur Zukunft gemeinwirtschaftlichen Handelns mit Bezug auf die trägerpluralistische Aufhängung und in Bezug auf die Positionierung in der komplexen Konfigurationsdynamik staatlich regulierter wettbewerblicher Marktordnungen – mit dem normativ-rechtlichen Fluchtpunkt der Frage, wie, anders als im Mainstream des Denkens (Zimmer/ Hallmann, 2016), aus dem Käfig des Wettbewerbs (Gehrlach/Bergen/Eiler, 2022) herauszufinden sein könnte – ansprechen werden können und müssen. § 17 Numeriken der Sektor-Modelle Um den Dritten Sektor morphologisch zu fassen, müssen auch der Erste und der Zweite und – je nach Komplexitätsdynamik der Modellvariationen – zudem ein Vierter Sektor und dergestalt also das ganze multi-sektorale System morphologisch erfasst werden, dies allein deshalb, weil es in Bezug auf die relationale Struktur der
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Blome-Drees/Moldenhauer (2023); Blome-Drees u. a. (2023).
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I. Zugänge
Figuration der verschiedenen Sektoren zu Möglichkeiten des Neben-, des Mit- und des Gegeneinanders kommen kann. So sehr in der vorliegenden Abhandlung auch auf die freie Gemeinwirtschaft und hier insbesondere auf die gemeinwirtschaftliche Genossenschaft fokussiert wird, so deutlich darf dennoch betont werden, dass natürlich auch das öffentliche Wirtschaften sein gutes Recht hat. Manche Daseinsvorsorgeaufgabe mag auch als Bürgergenossenschaft sichergestellt werden können. Doch einige Infrastrukturaufgaben überregionaler Art sind derart komplex, dass der Staat nicht nur als Gewährleister fungieren kann, sondern selbst die Sicherstellungsrolle einnehmen muss. Aber auch auf regionaler Ebene ist verfassungsgemäß die Kommune (als Stadt oder Landkreis) gefordert. Sicherlich geht es aber gerade auf der kommunalen Ebene um Fragen der Welfare-Mix-Orientierung in der Sozialraumbildung. Gerade dort wird man allerdings auf gemeinnützige Partner und nicht auf transnationale Kapital-AnlegerModelle (etwa in der Langzeitpflegepolitik) setzen müssen. § 18 Multi-Sektoren-Theorie des Wirtschaftens und Sozialsystem-Analyse Dreht es sich bei diesen Mehr-Sektoren-Theorien um typologisch-klassifikatorische Modelle morphologischer (also hermeneutisch auf die Einheit von Strukturmerkmalen und Sinnfunktion abstellender) Analysen und um das Thema der Wohlfahrtsproduktion, so durchdringt noch eine andere – „Parsonsiansch“ (Parsons, 1991) geprägte – Systemanalyse diese Mehr-Sektoren Modelle: Es geht um die interpenetrative Gewebestruktur von Wirtschaft, Politik/Recht, Kultur und Person (Bögenhold, 2015). Das Wirtschaftssystem und seine unterschiedlichen Stile (als Funktion signifikanter Sektor-konstitutiver Merkmalsordnungen) des Wirtschaftens sind in die politische Gestaltung im Kontext der normativen Regime des positiven und überpositiven Rechts eingebettet und sind praxeologisch fassbare Räume der Performativität sozialer Praktiken der vergesellschafteten Subjekte, in die sich die heterogene Kultur als Faltung einschreibt.53 § 19 Themenweite und Tiefenthemen, die nicht behandelt werden Das Thema ist im Rahmen der vorliegenden Abhandlung jedoch mit Blick auf die internationale Weite nicht zu verarbeiten. Weltweit ist das Themenfeld nicht zu bewältigen, außer in dem Fall, dass eine Professur auf die internationale Komparatistik konzentriert ist. Dann kann man in vier Dekaden den weltweiten Blick souverän vertreten. Im vorliegenden Fall ist das zu erörternde Thema nur ein Teilgebiet der lebenslauforientierten Sozialpolitik im Schnittbereich zur gemeinwirtschaftlichen Daseinsvorsorge. Die Ausführungen fokussieren folglich exemplarisch
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Schulz-Nieswandt u. a. (2022); Schulz-Nieswandt (2021c).
3. Grundlegung
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auf die bundesdeutsche Situation, allerdings den europarechtlichen Kontext (SchulzNieswandt, 2014a; 2023b54) mitunter beachtend. Wie sehr sogar die historisch-soziologische55 Tiefe eine gewisse Berücksichtigung finden müsste, zeigen Befunde (Fix/Fix, 2005), wonach die Herausbildung eines Dritten Sektors im Zuge der nach-reformatorischen Nationalstaatsbildungen im heutigen europäischen Raum abhängig ist von den konfessionspolitischen Figurationen: Da dort – wie in Deutschland – gemischtkonfessionelle Strukturen bestehen, hat sich der Dritte Sektors auch als Folge des Wettbewerbs zwischen den verschiedenen kirchlichen Trägerschaften der freien Wohlfahrtspflege stärker entwickelt als beispielsweise im protestantisch dominierten Norden Europas. Aber auf genealogische Perspektiven der „langen Dauer“ der Kulturgeschichte56 von zivilgesellschaftlichen Assoziationen – z. B. auf die Rolle des antiken Vereinswesens und der mittelalterlichen Gildenentwicklung für moderne Genossenschaften und andere Körperschaften – kann in der vorliegenden Abhandlung ebenso wenig eingegangen werden.
54 Hegels Mythopoetik der Eule der Minerva wird – so wird in der Studie von SchulzNieswandt (2023b) argumentiert – aufgegriffen, um – auch mit Blick auf die eigene universitäre Entwicklung von Forschung, Lehre und Transfer von Frank Schulz-Nieswandt in diesem daseinsthematischen Feld – Bilanz zu ziehen und problematisierend nachzufragen, wohin der Weg der Europäischen Union wohl führen mag. In diesem Kontext der Sicht auf die Freiheit und auf die Friedensordnung eines Raumes des sozialen Rechtsstaates liegt der Fokus auf dem Schicksal der Daseinsvorsorge als Suche nach einer irenischen Formel von Binnenmarktordnung und Sozialmodell. Die öffentliche wie freie Gemeinwirtschaft erleidet dabei derart gravierende Einschränkungen ihrer Entfaltung im Wirtschaftsorganisationsrecht der gewährleistungsstaatlichen Delegation öffentlich relevanter Aufgaben an die Sicherstellung durch den regulierten trägerpluralistischen Wettbewerbsmarkt, dass sich die Formel von der wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft im Art. 3 (3) EUV als tiefgreifende Aporie erweist. Für die Idee einer inkludierenden Gesellschaft der Überwindung von sozialen Ausgrenzungen und der Entwicklungschancen der zukünftigen Generationen im Anthropozän benötigt die Gemeinwirtschaft fundierte Freiheitsräume ihrer Entfaltung. 55 Rokkan (2000). 56 Schulz-Nieswandt (2018a); Schulz-Nieswandt/Moldenhauer (2023).
II. Dynamische Strukturanalyse Dieser Teil II stellt nicht nur topgraphisch im Text den mittleren Teil dar, sondern ist auch der Hauptteil der morphologischen Abhandlung.
1. Morphologie Das Paradigma der Morphologie ist zu skizzieren als methodologische Einheit zwischen den beiden Polen des Strukturalismus und der Hermeneutik. Das wissenschaftliche Paradigma der Morphologie (Müller u. a., 2022) behandelt in Forschung und Lehre die Gestalt lebendiger Gebilde in den Natur- wie auch, ohne damit die Idee einer Einheitswissenschaft vertreten zu wollen, in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Eine entsprechende Gestaltlehre analysiert in den Wissenschaften der geschichtlichen Kultur der Gebilde sozialer Wirklichkeiten, den Menschen als Naturwesen mit Geist (Schulz-Nieswandt, 2023c) im Zentrum umfassend, die kohärente Einheit von Strukturmerkmalen als Bausteine der ornamentalen Ausdrucksgestalt (Form) und dem Sinn (als Stoff, Motivik und Telos) von „Gestalt-haften“ Gebilden. Eine Historische Epistemologie der Gestaltlehre kann, soll und braucht hier auch nicht geleistet zu werden. Die Ursprünge der morphologischen Gestaltlehre mit dem Fokus auf die Form-Frage liegen in der aristotelischen Ontologie (Urbich/Zimmer, 2020; Schrenk, 2017) des Hylemorphismus von Potenz und Akt, Entelechie, Energie und Dynamik, wobei Goethes Werk (Axer/Geulen/Heimes, 2021) der Metamorphosen-förmigen Entelechie (als geschichtlich kontingente Potenzialentfaltung bis hin zum Wirklich-Werden des Programmcodes des Telos) der Ausdrucksgestalt als Schaltstelle auch für moderne Strömungen gelten kann (Schulz-Nieswandt/Chardey/ Möbius, 2023). In der Frankfurter Kritischen Theorie (Bittlingmayer/Demirovi/ Freytag, 2019) und in sozialeschatologischen Geschichtsphilosophien (wie auch bei Strömungen des religiösen Sozialismus57 im judeo-christlichen Kulturzusammenhang) ist die Problematik der Entfremdung in dieser letztendlich sozialästhetischen Form-Frage, die die Darlegung eben nicht systemtheoretisch (Karafillidis, 2014) fasst, als „Daseins-wahre“ oder als abgründige „Daseins-verfehlende“ Existenzproblematik thematisiert worden.
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Schulz-Nieswandt (2020b).
1. Morphologie
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§ 20 Zur Soziologie des objektiven Geistes als symbolische Formen der Praxis Die Ideengeschichte dieser Denkkategorie des objektiven Geistes ist alt. Sie führt uns in der Philosophie u. a. zu Hegel (Vieweg, 2020; Kaube, 2020), in der wirklichkeitswissenschaftlichen Soziologie u. a. zu Hans Freyer58 zurück. Der bis heute ertragsreiche Historismus von Wilhelm Dilthey sei ebenfalls angeführt. Die Idee der symbolischen Formen führt unseren Blick zum Werk von Ernst Cassirer (Sandkühler/Pätzold, 2003). Doch soll es uns nicht um eine komparative Epistemologie von Wissenschaft, Mythos/Religion und Kunst gehen, sondern um soziale Gebilde unter dem maßgeblichen Aspekt der Form-Kategorie. Was ist der objektivierte Geist in den Formen? Es geht um Objektivationen des Menschen, in denen er sich – und somit seinen Geist – zum Ausdruck bringt, dem Geist also eine Gestalt als Form gibt. Es geht demnach nicht nur um epistemische Geist-Formen, sondern auch um wirtschaftliche Sozialgebilde, also die verbandlichen Organisationen und die betrieblichen Unternehmen als Sozialgebilde mit Blick auf die Sphäre der Politik des ideologischen Überbaus einerseits und der Privatwirtschaft sowie der Gemeinwirtschaft als Geist-Formen des Wirtschaftens mit Blick auf die Sphäre der Ökonomie als Basis der Gesellschaftsformation andererseits. Die Objektivierung des Geistes im Modus des Rechts – denn, versteht man das positive Recht doch nur angemessen, wenn neben der Dogmatik auch die Auslegungsordnung aus der Sicht einer normativen Rechtsphilosophie und der explikativen Rechtssoziologie erfolgt, aus dem Recht und ihrem Funktionswesenskerns der Gestaltung sozialer Relationen im Geist sozialer Gerechtigkeitsideen59 resultiert das Pneuma der zeitgeschichtlichen Gestalt der Gesellschaften einer Epoche – ist das Verbindungsgebilde zwischen der Politik und der Zivilgesellschaft in ihren Dimensionen der Familienformen, der freien Wohltätigkeit und des erwerbswirtschaftlichen Marktes. Im Allzusammenhang (Strasser, 2019) der kosmischen Natur – Wendt (2019) diskutiert die Wirtschaft als Sorgearbeit in diesem Sinne entlang der Ebenen von Oikos, Polis und Kosmos – führt der Mensch in seiner Existenz sein Dasein aus dem transaktionalen Zusammenhang heraus. Dieser Zusammenhang meint (1) die Herausbildung einer inneren Natur als Psychogenese im Zuge der Vergesellschaftung durch die zweite Natur seiner kulturellen Sozietät als ein sich objektivierender Geist und macht (2) zugleich deutlich, dass der Mensch von diesen Objektivationen des Geistes subjektiviert wird, und zwar in epochalen Formen, die sich im zeitgeschichtlichen Geschehen der Sozialstrukturbildung milieuspezifisch differenzieren und die Biographien der Subjekte prägen. Erneut zeigt sich der Blick auf die dezentrierte Mitte der menschlichen Person in der Gewebestruktur des Sozialsystems zwischen Politik/Recht, Wirtschaft und Kultur.
58 59
Üner (1992); Kruse (1994); Schulz-Nieswandt (2012a). Ladwig (2013); Goppel/Mieth/Neuhäuser (2016).
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II. Dynamische Strukturanalyse
Im vorliegenden Fall geht es – auf einer Ebene der Theorie mittlerer Reichweite, aber durchaus im geistigen Horizont sozialontologischer Überlegungen im ZeitRaum-Sozialwelt-Kontext – um wirtschaftliche Sozialgebilde, wobei es um das „essenziologische WAS“ (Moralökonomik von Stoff, Motivik und Telos), aber auch um das „praxeologische WIE des WAS“ (Modi der sozialen Wohlfahrtsproduktion als Care-Kultur des Wirtschaftens) geht. § 21 Stakeholder-Ethik: Außenräume und Innenräume als Wirkkreise In Anlehnung an neuere Ansätze der Wirtschafts- und Unternehmensethik (Aßländer, 2022; Aßländer, 2018) – das Thema selbst ist, kulturgeschichtlich betrachtet, eher uralt (Lütge, Christoph/Strosetzki, 2017) – könnte man mit Bezug auf die strategische Gebildepolitik und Organisationskultur auch von einer zwei-direktionalen Stakeholder-Ethik sprechen (Schulz-Nieswandt/Thimm, 2023). Einerseits geht es mit Blick auf den Außenraum der externen Stakeholder der wirtschaftlichen Sozialgebilde um die Zielfunktion und um die Gewichtung von (1) bedarfswirtschaftlicher Sachzielorientierung und (2) renditeorientierter Formalzielorientierung, andererseits geht es mit Blick auf den Innenraum der internen Stakeholder der wirtschaftlichen Sozialgebilde um die Arbeitsbedingungen und um die Arbeitsorganisation des Personals. Bei dieser Innenperspektive der morphologischen Analyse geht es um die Frage des Vorliegens und der Pflege einer achtsamen (Conradi/Vosman, 2016) Führung und systemisch (Wirth/Kleve, 2023) orientierten Personalentwicklung, u. a. unter dem Aspekt des nachhaltigen partizipativen Demographiemanagements, aber es geht auch um Diversity-Politik und um die Schaffung einer optimalen transparenten Vertrauens- und Gerechtigkeitskultur als organisatorische Atmosphäre. Diese, auf den Innenraum der Unternehmen bzw. Organisationen bezogenen Strukturmerkmale sind keine Alleinstellungseigenschaften der Organisationen des Dritten Sektors. Vielmehr handelt es sich um trägerübergreifende Dimensionen und Aspekte einer Corporate Social Responsibility-Orientierung, die nicht nur bürgerschaftlich auf externe, sondern im Sinne der arbeitsverfassungsrechtlichen Norm der Reziprozität von entlohnter Arbeiternehmer:innen-seitiger Leistungspflicht einerseits und Arbeitgeber:innen-seitiger Fürsorgepflicht andererseits auch auf interne Stakeholder bezogen ist. § 22 Zivilgesellschaft und Dritter Sektor: Politik der Öffentlichkeit und soziale Dienstleistungen Idealtypisch (ganz im Sinne der von der neu-kantianischen Wissenschaftslehre geprägten verstehenden Soziologie und Sozialökonomie60 von Max Weber61) sind die 60
Schulz-Nieswandt (2015c). Heute würde man sagen: Wirtschaftssoziologie (Maurer, 2008; Ebner, 2023; MiklHorke, 2011), denn Ökonomie ist nur eine spezielle Soziologie als Kulturanalyse Sorgeorientierten Handelns auf psychologischer Grundlage. Es geht ja um sehr verschiedene Or61
1. Morphologie
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Organisationen des Dritten Sektors62 als das primär wirtschaftliche Segment (Degens/Lapschieß, 2021) der deliberativen Zivilgesellschaft (Sektor freier Träger) in Abgrenzung zum primär politischen Segment der Zivilgesellschaft (als Teil des politischen Systems63 außerhalb der vom legitimen Gewaltmonopol geprägten staatlichen Regierung). Mehrere Kontexte verschachteln sich dabei: Hier ist (1) der Kontext der (Hegelschen Tradition des modernen Staates64) interpenetrativen Dualität von Staat und bürgerlicher Gesellschaft zu betonen. Dies wiederum ist nun (2) im Kontext der konstitutionellen Polity-Ordnung der Europäischen Union (Schulz-Nieswandt, 2023b) zwischen dem sozialen Rechtsstaat als Gewährleistungsstaat der Sicherstellung existenzieller infrastruktureller (Bonan/ Occhi, 2023) Dienstleistungen von allgemeinem Interesse im Sinne der Daseinsvorsorge (Schulz-Nieswandt, 2019c) zu verstehen. Die dazu notwendige Grundlage ist (3) das Regime des überpositiven Rechts der Rechtsphilosophie und Ethik der natürlichen Menschenrechte sowie der bürgerlichen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Grundrechte.65 § 23 Topographie der Relation von Zivilgesellschaft und Dritter Sektor Mitunter gibt es in der Literatur zur Theorie der Zivilgesellschaft auch graphische Visualisierungen, die den Menschen in der Mitte eines Dreiecks lokalisieren, dessen Eckpunkte (1) der Staat, (2) der Markt und (3) die Zivilgesellschaft darstellen. Man wird aber differenzierend beachten müssen, ob die Zivilgesellschaft nicht in verschiedene Teile zerlegt werden muss: Einerseits gibt es im Rahmen der Verbändebildung die an den Marktinteressen orientierten Verbände, andererseits gibt es in der Tradition bürgerlicher Assoziationen auch – wenn wir die Gewerkschaftsbildungen sowie die Bildung politischer Parteien hierbei ausblenden – die sozial engagierten Vereinsbildungen der Wohltätigkeit. Aus ihnen kristallisierten sich die Träger freier Wohlfahrtspflege66 heraus, die auf Wege zur Bildung eines Dritten Sektors verweisen. ganisationstypen: Apelt/Tacke (2023); Hübner (2013). Leistungsverwaltungssoziologie ist hier ebenso wie die Marktsoziologie nur ein Teilbereich der Wirtschaftssoziologie. Dies ist besonders signifikant der Fall in der Konsumsoziologie (Bögenhold 2016), die immer auch Konsumpsychologie ist. For-Profit- und Non-Profit-Sektoren der Märkte sind wiederum TeilTeil-Bereiche der Wirtschaftssoziologie, die sich auch auf informelle Lebenswelten der Sorgearbeit beziehen können. Die Soziologie analysiert Akteure in institutionellen Kontexten als relationale Gewebestrukturen figurativer Art, die Psychologie analysiert intra-individuelle Arbeitsapparate, ihre Mechanismen und ihre performativen Verhaltenseffekte, die Kulturanalyse behandelt die normativen Drehbücher der sozialen Praktiken. Alle drei Dimensionen kommen zusammen: Skript-gesteuerte vergesellschaftete Subjekte handeln in Kontexten. 62 Simsa/Meyer/Badelt (2013); Meyer/Simsa/Badelt (2022); Bumbacher/Gmür/Lichtsteiner (2018). 63 Schmidt (2022). 64 Avineri (1976). 65 Schulz-Nieswandt (2016a; 2017b); Heerdt/Schulz-Nieswandt (2022). 66 Wendt (2016); Heinze/Lange/Sesselmeier (2018).
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II. Dynamische Strukturanalyse
Diese Sozialgebilde der Wohltätigkeit zählen einerseits dort zur Zivilgesellschaft, wo es sich um öffentlich in der Politik wirksame Verbände handelt, zählen aber andererseits und insoweit zum Markt, wo es sich um unternehmerische Tätigkeiten im Wettbewerb des Trägerpluralismus handelt. So gesehen muss ein eher politischer und ein eher wirtschaftlicher Entwicklungszweig der Zivilgesellschaft unterschieden werden. Die organisierte Sorgearbeit freier Träger gilt der Produktion personenbezogener sozialer Dienstleistungen und ist den Lebenslagen (Schulz-Nieswandt/ Köstler/Mann, 2021a) der Zielgruppen gewidmet, während das soziale Marketing der sozialen Reformideen an den Diskursformationen des politischen Systems partizipiert. Folgt man dem traditionellen Basis-Überbau-Modell des unterkomplex denkenden orthodoxen Marxismus, so ist dieser Teil der Zivilgesellschaft sowohl Teil der ökonomischen Basis wie Teil des ideologischen Überbaus. Strukturell ist dies aber auch für die Verbände der privaterwerbswirtschaftlichen Interessen in analoger Weise zu verstehen: Diese Interessensverbände basieren mitgliedschaftlich auf Marktunternehmen, wirken aber auf die Politics- und Policy-Prozesse der Regierung des politischen Systems (Schmidt, 2022) ein. Dies galt z. B. auch für die Genossenschaftsgesetzgebung im Kontext der Schulze-Delitzsch-Bewegung (Schulz-Nieswandt, 2002c). In diesem Licht betrachtet ist das Dreiecks-Modell unterkomplex. Mit Blick auf den Staat als realer Idealfaktor der Rechtsgebung (Legendre, 2011; 2012a; 2012b; 2016) im ideologischen Überbau ist (1) in der Vertikalität der topographischen Geometrie des Sozialsystems der dynamische Übergangsraum zwischen Privaterwerbswirtschaft und Staat ebenso zu beachten wie der dynamische Übergangsraum zwischen freier Gemeinwirtschaft der organisierten Sorgearbeit und Staat. Ferner ist (2) in der Horizontalität des trägerpluralistischen Wirtschaftens die Emergenz des Konkurrenzraums der öffentlichen, der freigemeinwirtschaftlichen und der privaterwerbswirtschaftlichen sowie der, von Hybridität geprägten, genossenschaftlichen Produktion sozialer Dienstleistungen zu beachten. Damit wird die figurative Relationalität von Staat, Markt und Zivilgesellschaft in einer Perspektive politischer Vertikalität und in der Perspektive einer wirtschaftlichen Horizontalität als Landschaft mit spezifischen Konturen transparent. Es gibt aber auch noch die Notwendigkeit, das Dreieck zur Gestalt einer Raute zu entwickeln. Das Dreieck wird also als Spiegelung verdoppelt und „nach unten“ geklappt. In diesem sich so herauskristallisierenden vierten Eckpunkt der sozialgeometrischen Figur ist die Familie67 in ihrer Formenvariation privater Lebensführungsarrangements angesiedelt. Der Staat und die zivilgesellschaftlichen Assoziationen in der vertikalen Perspektivität der Ideenpolitik und in der horizontalen Perspektivität der Interessenspolitik im Markt von Gemeinwirtschaft und Privatwirtschaft sind als mehr oder weniger wirksame sekundäre Sozialisationsagenturen (der staatsbürgerlichen politischen Bildung der Humankapitalbildung, der allgemeinschulischen Bildung, der Werbung, der Berufspädagogik, der arbeitsweltlichen 67
Ecarius/Schierbaum (2022); Hill/Kopp (2016).
1. Morphologie
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Vertragsbeziehungen als Reziprozität von Leistung und Fürsorge, des bürgerschaftlichen Engagements) relationiert auf die familiale Lebenswelt als primäre und – in der frühen Ontogenese des Menschen als Naturwesen mit Geist, der definiert ist als physiologische Frühgeburt und sekundärer Nesthocker mit einer längeren extrauterinen Embryonalphase (Schulz-Nieswandt, 2023c) – wichtigste kulturell heterogene Sozialisationsagentur. Die sozialkonservativ anmutenden Deutungsmuster der Familie als „Keimzelle“ der Sozialität sind im Sinne dieser psychodynamisch fundierten entwicklungspsychologischen Sicht auf den Menschen im Lebenszyklus (Schulz-Nieswandt/Köstler/Mann, 2022) nicht falsch. Das ABC-Dreieck von Staat, Markt und Zivilgesellschaft hat sich somit zum ABCD-Rauten-Viereck von Staat, Zivilgesellschaft, Markt und Familie erweitert. Hier steht der Mensch im Mittelpunkt einer dynamischen Gewebestruktur der wechselseitigen subsystemischen Interpenetrationen, fassbar in den Modi der Faltungen und der Einschreibungen. Die Zivilgesellschaft weist dabei dynamische Übergangsräume auf: (1) zum Markt (der Interessen) in seiner Dualität von Gemeinwirtschaft und Privatwirtschaft, (2) zur Politik (als agonalen Raum der Ideen als Drehbücher des „Geistes der Gesetze“) im Modus der sozialen und wirtschaftlichen Verbandspolitik und, dies ist nun noch anzufügen, (3) zur familialen Lebenswelt durch die formellen und informellen Kommunikationswelten der politischen und wirtschaftlichen Sozialisation. Ergänzend ist schlussendlich noch anzumerken, dass die Sozialstrukturbildungen in den Modi der Ungleichheit (Rehbein, 2015; Piketty, 2018), der Heterogenität und der Differenzierungen, der Diskriminierungen (Mangold/Payandeh, 2022), der Ausgrenzungen und der Demütigungen das interpenetrative Sozialsystem nicht nur zur kohäsiven Systemintegration und zur kohärenten Sozialintegration führen, sondern auch zur endogenen Modallogik des Noch-Nicht imaginierter Anderswelten im Modus konkreter Utopien der Transformation im Sinne parametrischer Sozialreformen oder sogar im Sinne mutativer (die kulturelle DNA verändernde) Pfadabhängigkeitstransgressionen (Schmidt, 2023; Vögeli, 2023) führen können, da aus der Dialektik von apollinischer Statik (Identität) und dionysischer Dynamik (Alterität) ein Ringen von Faktizität und Negativität entsteht (Schulz-Nieswandt, 2021b). Die Geist-Durchdrungenheit der Sozietät als zweite Natur des Menschen ist in allen Subsystemen des Sozialsystems – auch in der Wirtschaft – als pneumatische Kraft-Substanz in den Formen der „Praxis sozialer Praktiken“ zu begreifen. Auch dann, wenn man die Wirtschaft in kulturkritische Metaphern der Mechanik unterteilt und ihre betrieblichen Unternehmungen (1) als Maschinen, ihre Steuerungen (2) post-struktural als optimierende Psychopolitik und als dispondierende gouvernementale Regime (Boltanski/Chiapello, 2006), (3) die Lebenswelten der Gesellschaft als kolonialisiert durch die Herrschaft von Wissenschaft und Technik versteht, so ist doch auch (4) die Wirtschaft ein Geschehen eigener kultureller Codierung von dispositiven Ordnungen (Bührmann/Schneider, 2018) der Praktiken (Gertenbach, 2008).
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II. Dynamische Strukturanalyse
§ 24 Rechtsphilosophie und Ethik der Daseinsvorsorge Im Sinne des Kant’schen Sittengesetzes (Vermeidung negativer und Förderung positiver Externalitäten) geht es im Falle der Sachziel-dominierten Non-Profit-Organisationen des Dritten Sektors um die wohlfahrtsökonomisch fassbare gemeinwirtschaftliche Aufgabe der personenzentrierten niedrigschwelligen Bedarfsdeckung der Zielgruppen der „Social Citizenship“-Population und um die auf der Tugend (Halbig/Timmermann, 2021; Runge, 2023) der prosozialen Empathie basierenden unbedingten Solidarität als Daseinsvorsorge (Art. 28 GG vor dem Hintergrund des Sozialstaatsgebots des Art. 20 GG i. V. m. dem raumordnungspolitischen Axiom der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Raum in Art. 72 GG) freier Zugänglichkeit (Art. 36 der Europäische Grundrechtscharta als Kernelemente des Europäischen Sozialmodells als soziale Marktwirtschaft gemäß Art. 3 [3] EUV) der räumlich und zeitlich hinreichend verfügbaren Infrastruktur öffentlich relevanter Güter und Dienstleistungen. Man beachte auch hier die Kontextverschachtelungen. Die inkludierende Rechtsphilosophie der Minimierung sozialer Ausgrenzungen verweist auf die konsequenzenethische Sittlichkeit, die Förderung von WohlstandsInsidern nicht ursächlich auf Kosten der sozialen Konstruktion von WohlstandsOutsidern zu generieren. In dieser komplexen Synthese von Regelethik, Tugendethik und Konsequenzenethik des Art. 2 GG vor dem Hintergrund von Art. 1 GG liegt die Idee der sozialen Freiheit des gelingenden Miteinanders als Miteinanderverantwortung in einem personalistischen Sinne (Schulz-Nieswandt, 2022b) als Überwindung einer negativen Freiheit des Besitzrechtsindividualismus (Schulz-Nieswandt, 2022a) begründet. § 25 Die zentrale „Form-Frage“ der Morphologie Wenn man die Morphologie sozialer Gebilde der Performativität des wirtschaftlichen Handelns als Form-Frage versteht, also verstehen will, wie eine kulturelle Grammatik der codierten Logik in der performativen Praxis der sozialen Wohlfahrtsproduktionsfunktion als Ordnung des Drehbuch-artigen Tuns wirksam wird, dann muss die Funktionsweise individueller wie institutioneller Habitusformationen hermeneutisch aus der Struktur ihrer kulturellen Codierung durch soziale Skripte verstanden und dadurch ursächlich erklärt werden. Im Wirtschaftssektor sedimentieren sich – als Wirtschafts- und Sozialordnung, als „Geist der Gesetze“ im Sinne einer symbolischen Objektivierung – komplizierte, aber in ihrer Wirkungsweise eindeutig kräftige Dispositiv-Regime-Ordnungen (im Sinne von Michel Foucault68 bzw. Giorgio Agamben69) als Habitusformationen (im Sinne von Pierre Bourdieu70) ab. Der Mensch ist bei diesen Einschreibungsprozessen der Vergesellschaftung als Einheit der Strukturschichtung von Körper, Seele und Geist zu verstehen. 68
Kammler/Parr/Schneider (2020). Geulen (2016). 70 Fröhlich/Rehbein (2014). 69
1. Morphologie
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Dieser morphologische Ansatz der Analyse von Sinn (als Aufgabe der Hermeneutik) und Struktur (als Aufgabe eines Strukturalismus der performativen Verfassung des generativen Sinns) in der synthetischen Einheit der Form-Analyse gilt universalistisch für alle Formen des Geist-vermittelten Tuns. Dies ist ontologisch zwingend, wobei jedoch die erfahrungswissenschaftlichen und somit historistisch fassbaren Formen von kreativer Plastizität geprägt sind: Es gibt eben keine Wirklichkeit des Menschen als Naturwesen mit Geist ohne Vergesellschaftung, also jenseits der – wie Adolf Portmann (Schulz-Nierswandt, 2023c) es nannte – langen extrauterinen Embryonalphase des Menschen als sekundärer Nesthocker. Wohl aber existiert der Mensch im Wandel der Geschichte und somit im Kulturvergleich im Modus von epochal unterschiedlichen Subjektivierungsformen. Ist die Sorge als anthropologische Kategorie des Wirtschaftens ein universales Existenzial, so gibt es eben differentielle Formen der Care-Kulturen und der kulturgrammatischen Logik des Wirtschaftens, die sich tief einschreiben in die Psychodynamik der Subjekte und ihrer Institutionen. § 26 Statt eines Fazits: Zur Notwendigkeit einer Morphologie Seibel (1992) hat in den frühen 1990er Jahren vom funktionalen Dilettantismus des Dritten Sektors gesprochen. Die Darlegung will hier – auch mit Blick auf die zahlreichen damaligen Besprechungen – die Theorie von Seibel nicht diskutieren. Herausfordernd ist für die Position der vorliegenden Abhandlung allerdings die These von Seibel, wonach man auch auf eine Morphologie verzichten sollte. Dies sieht die vorliegende Analyse ganz anders. Nicht, dass in der Tat eine hinreichend und insofern vollumfänglich befriedigende Morphologie in reiner Eindeutigkeit machbar ist. Der Gegenstand ist in seiner flüssigen Form zugleich sperrig, weil die soziale Wirklichkeit höchst dynamische relationale Konfigurationen der verschiedenen subsystemischen Sektoren mit ihren jeweiligen Eigenlogiken darstellt. Aber die vorliegende Erörterung ist nicht bereit, die Eigenheit des Sektors nur oder vor allem in seinem permanenten Wandel zu erkennen. Sozialontologisch wäre dies auch kaum plausibel: Denn es gibt keinen Wandel ohne eine vorgängige Identität, die sich (mitunter über kritische Statuspassagen hinweg) abwandelt. Der Blick muss sich auf die diesbezüglichen Metamorphosen richten. Aber welche Gestalt verändert sich denn? Das ist die relevante Frage. Die Funktionalität des Sektors in der Flexibilität und in der Transaktionalität in Beziehung auf den Wandel der Herausforderungen im Zeitfluss der Geschichte zu erkennen, ist nicht falsch, aber ersetzt keine – eben notwendige – Morphologie zwischen Idealtypus und empirischer Formenvielfalt im Wandel. Die Erörterung will sich nicht über die Terminologie-Wahl bei Seibel (1992) auslassen. Viele Aspekte wären anzubringen, die man im Lichte der seit der Publikation verflossenen Zeit einbringen müsste. Dies betrifft die Professionenforschung, aber auch die komparative Sicht auf institutionelle Arrangements der Allokation. Dies gilt für die Vielfalt der Versagens-Theoreme (Markt-, Unternehmens-,
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II. Dynamische Strukturanalyse
Management-, Staats-, Bürokratie-, Familienversagen etc.). Man wird heute auch stärker die Kosten-Ziel-Relation als Differenz von Effizienz und Effektivität im Blick haben müssen. Doch interessiert uns (im Sinne eines Erkenntnisinteresses) ein anderer Zugang als Blick auf den Theoriebeitrag von Seibel (1992): Inwieweit ist dieser Beitrag zu verstehen als reflexiver Ausdruck einer Steuerungsdebatte der sozialen Marktwirtschaft nach dem Auslaufen der sog. Nachkriegsrekonstruktionsphase (Abelshauser, 2011)? Nach zwei Jahrzehnten (der 1970er und 1980er Jahre, was schon Geschichte ist71) der Krise (Plumpe, 2017) als BSP-Wachstumsschwäche72 im Verlaufsmuster ausgeprägter asymmetrischer Konjunkturzyklen, verbunden mit einer ebenso ausgeprägten Dauer-Massen-Sockel-Arbeitslosigkeit und der Zunahme der Einkommensarmut (Lepenies, 2017), geprägt von Hysteresis-Effekten und definierbar als Komplexmischung typologisch fassbarer Formen von Arbeitslosigkeit73, sowie verbunden mit dem rasanten Anstieg der Staatsverschuldung74 und dem Anstieg der Beitragssätze in den Sozialversicherungen? Denn der Dritte Sektor – zwischen Markt (und seinem Versagen) und Staat (und seinen Steuerungskapazitätsgrenzen und Finanzierungsproblemen) angesiedelt (womit ja zumindest eine morphologische Negativdefinition vorgenommen ist) – greift ebenjene Defizite auf und verarbeitet sie, wenngleich ebenso nicht ohne Defizite. In diesen Dekaden hat sich – als Metamorphosen des Kapitalismus (Kocka, 2022) – das Akkumulationsregime ebenso geändert wie die Staatlichkeit. Historisch ist der Dritte Sektor damals nicht neu entstanden. Er wurde nur stärker wahrgenommen, thematisiert und eben funktionalisiert. Seitdem hat sich der Sektor, überhaupt die konfigurative Ordnung von Staat, Markt, intermediärem Sektor und Familie stark gewandelt. Der Dritte Sektor hat sich aus nationalen Modernisierungsbestrebungen (Neue Steuerung, New Public Management etc.), aber auch aufgrund der europäischen Binnenmarktordnungsdynamik in einem regulierten wettbewerblichen Quasi-Markt wiedergefunden.
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Geppert (2021). Lepenies (2013); Reuter (2000). 73 Heute ist die Situation umgekippt in Problemlagen der Facharbeitsmangelsituation. Und auch in Segmenten geringerer Qualifikation und niedrigerer Entlohnung bestehen Engpässe. Davon unberührt bleibt die mangelnde Sog-Wirkung auf die betroffenen Menschen im Kontext des Hartz-IV-Regimes des SGB II. Dort ist insbesondere die Ambivalenz des Disziplinierungsregimes von „Fördern und Fordern“ die Herausforderung, zumal die re-integrative Aktivierung eher eine Chimäre geblieben ist. Die Fallberatung i. V. m. effektiver Fallsteuerung ist als Kulturwandel der Jobcenter nicht gelungen. Auf die diesbezügliche – z. T. ethnographische – Forschungsliteratur geht die vorliegende Analyse nicht weiter ein. 74 Beck/Prinz (2013). 72
2. Soziale Geometrie
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2. Soziale Geometrie Soziale Geometrie dient hier als begriffliche Klammer, um die Dimensionen und Aspekte einer formalen Soziologie von Gebilden in figurativen Ordnungen systematisch zu erfassen. Denn um den nächsten Schritt einer morphologischen Erschließung des Zugangs zur Analyse des Dritten Sektors zu gehen, bedarf es einer sozialgeometrischen Strukturanalyse. § 27 Euklidische Vektoren und post-euklidische Dynamiken Diese Geometrie ist zum Teil euklidischer Art, wenn es (1) um vertikale FrontalAchsen (oben-unten) und (2) um horizontale Frontal-Achsen (links-rechts) und (3) um perspektivische Achsen (vorne-hinten) geht. Diese Geometrie ist sodann (4) post-euklidisch, indem nicht nur die chronologische Zeit der menschlichen Geschichtlichkeit (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) einbezogen wird, sondern auch bedacht wird, dass sich die Raum-Zeit-Ordnung der personalen Erfahrungs-Erlebnis-Geschehensordnung durch normative Vektoren transformiert. Das Myopie-Problem der Minderschätzung von Zukunftsgütern als Verletzung des Nachhaltigkeits-Axioms ist ein Problem der trans-generationellen Allokationsgerechtigkeit, die die Qualität des guten Lebens aus der Endo-Kosmo-Genität des objektiven Geistes der Kultur des Miteinanders in Raum (Günzel, 2010) und Zeit (Gloy, 2006) als euklidisch nicht erfassbare Substanz des Daseins prägt. § 28 Existenz und Recht Wir haben argumentiert, dass die Daseinsvorsorge auf existenziell relevante Bedarfe als Politik der Daseinsgestaltung (Weippert, 1938) reagiert. Am Beispiel der Wasserversorgung (Schulz-Nieswandt, 2010b; 2012b; 2010c) haben wir dies an anderer Stelle verdeutlicht. Nicht ganz deckungsgleich damit ist die rechtsphilosophische Debatte um „Existenz und Recht“ (Peter, 2019; Kirste/Sprenger, 2010). Wenn jedoch das Phänomen der Zeit in der Rechtstheorie berücksichtigt wird (Kalscheuer, 2022), dann würde sich hier (weniger auf die Frage der Endlichkeit75 im individualbiographischen Sinne) vor allem auch die Frage der gegenwartsbezogenen Kollektivverantwortung in Bezug auf Existenzialbedarfe und in Bezug auf die transgenerationellen Verantwortungskonstellationen stellen. Im zweiten Fall ist mit der Zukunft eine besondere Form der Zeitlichkeit in der Daseins-Vor-Sorge angesprochen. Hierbei geht es um moralische Horizonte als Funktion der Imagination zukünftiger Möglichkeitsräume, die erwartet werden könnten. Damit betreten wir durchaus den Boden ontologischer (Kubesˇ, 1986) Überlegungen zur Fundierung des Verständnisses von Recht. Und wir vertreten auch die Meinung (Ferreira Leite de Paula, 2020), dass die Fundierung des Rechts in den Prinzipien des überpositiven Rechts zwingend notwendig ist. Sodann sind wir auch der Auffassung, dass dieser metaphysische (ontologische) Status der naturrechtli75
Bihrer/Franke-Schwenk/Stein (2016).
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chen Grundlagen des sozialen Rechtsstaates mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein deutlich herausgestellt werden sollte. In der Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union lautet es: „Die Ausübung dieser Rechte ist mit Verantwortlichkeiten und Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegen über der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen verbunden.“ Schwieriger erweist sich die Einschätzung einer phänomenologischen Rechtstheorie: Natürlich erwächst – in explikativer Hinsicht, das hatte schon die Hegelsche Theorie im Lichte der Historischen Rechtsschule (Haferkamp, 2018) gezeigt (Loidolt, 2011) – das Recht aus der Geschichte der konkreten Menschen heraus (Mährlein, 2000). Es spiegelt (so letztendlich auch die Theoriebildung der klassischen deutschen historisch-ethischen Nationalökonomie76) Epoche, Zeitgeschichte, Ideen, Weltanschauungen, Sozialstrukturen und Interessenslagen wider (ferner auch Lampe, 2022). Diese Sicht hat Frank Schulz-Nieswandt schon im Studium der Sozialwissenschaft am Werk von Montesquieu (1986) fasziniert. Ihren Wert kann man aber nur ermessen – vermessen – am Referenzsystem der Metaphysik des überpositiven Rechts im Lichte der conditio humana des Menschen. Die Schnittfläche Existenzphilosophie/Daseinsvorsorge/Recht ist in der Tat zu bedenken, wenn ein Handbuch der Daseinsvorsorge (Neu, 2022) konzipiert wird (Schäfer, 2014). Denn die Güter und Dienstleistungen, um die es hier geht, sind deshalb Gegenstand öffentlicher oder öffentlich relevanter Aufgaben, weil sie eben geradezu fundamental wichtig sind für die Existenzsicherung im Lichte personaler Würde. Dies gilt nicht für alle Bereiche der Bedürfnisse, die außerhalb einer Metaphysik des Naturrechts des Menschen liegen. Auf weitere aufsteigende Kreise von Konsumgütern (Bögenhold, 2016) gibt es kein Menschenrecht. Der Mensch hat kein Grundrecht auf einen Sportwagen, auch nicht auf das Fehlen eines Tempolimits auf der Autobahn. Aber er hat ein Grundrecht auf Bildung und auf den freien Zugang zu den Gesundheitsgütern. Er hat ein Menschenrecht auf eine Wohnung. Da die Sicherstellung allein in den Sphären von Oikos und Polis nicht gewährleistet werden kann, zählt die Gewährleistung von Infrastruktur zur Ermöglichung erweiterter Stufen der Produktion, Distribution und Konsum gewisser Austauschbeziehungen mit zur öffentlich relevanten Aufgabe des Gewährleistungsstaates. Diese Dynamik findet ihre natürliche Grenze allerdings in der Stabilität des Kosmos, also im Gleichgewicht des Allzusammenhangs. Genau diese Einheit der äußeren Natur mit dem Menschen als Naturwesen mit Geist – hierzu mag der Theorieinnovationsbeitrag von Bruno Latour (Gertenbach, 2015) instruktiv sein – wird in der Eskalation des Anthropozäns (oder ist alles nur panische77 AngstMache?78) verletzt, weil die innere Natur (Geist und Seele), die sich signierend im Dispositiv der Statusinszenierung und der Selbstoptimierung des Körpers einfaltet, von der prometheischen Hybris des kapitalistischen Geistes dergestalt regiert wird, 76
Priddat (1998). Walter (2001); Herbig (1949). 78 Bolz (2020); Viveiros de Castro/Danowski (2019).
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dass die Ehrfurcht vor dem Leben (Luther, 2021; Oermann, 2011) als Verantwortungsaufgabe (Bongardt u. a., 2021) verloren gegangen ist. Diese Problematik wurde und wird meist konkretisiert am Beispiel der fiskalischen Nachhaltigkeit der sozialen Schutzsysteme der Sozialversicherungen und an der ambivalenten79 Staatsverschuldung, beides als abhängig vom Wachstum des Sozialprodukts (Lepenies, 2013) und seinen Korrelaten, aber erst seit einiger Zeit intensiver mit Blick auf das planetarische Gleichgewicht.80 Dieses zu erhalten, erfordert ein neues Verständnis von Wachstum im Lichte eines neuen Verständnisses von Lebensqualität, dessen Semantik nicht auf einen Konsum-Güter-Utility-Index reduziert werden darf, sondern als ein „gutes Leben“, als Einheit der inneren, der zweiten und der äußeren Natur des Menschen verstanden werden muss.81 Diese Einheit „des Menschen“ (Noller, 2023) klingt, sprechakttheoretisch kritisierbar, immer noch als cartesianische Selbst-Referentialität anthropomorpher Zentralität, soll aber hier durchaus in responsiver Achtsamkeit de-zentriert verstanden werden. Mit Blick auf die euklidische Konzeption sozialer Geometrie werden wir lineare Kopplungen verschiedener Sektoren A, B, C, D klassifizierend erkennen können, aber auch figurative Anordnungen in Dreiecks- und in Rauten-Mustern. Post-euklidische Sichtweisen verweisen uns modallogisch auf endogene Transformationen, die im Laufe der Zeit im Sinne von identitätslogisch relevanten Transgressionen82 zu substanziellen Mutationen der Kultur innerhalb dieser Raum-Zeit-Sozialwelten werden. § 29 Formale Soziologie der Figurationen Hier ist im Sinne einer formalen Soziologie (1) die Soziologie der Formen der Gesellung (Aron, 1969: S. 2 ff.), wie sie u. a. in den Werken von Georg Simmel, Leopold von Wiese und Alfred Vierkandt sowie in der Ökologie des Geistes in der Schismogenese-Analyse von Gregory Bateson (Lutterer, 2020) oder in der Analyse von Spaltungen, Lagerbildungen und Dominanzrelationen in soziometrischen Analysen, wie sie in der Tradition von Jacob Levy Moreno83 entwickelt worden ist, hervorzuheben. Dabei ist u. a. das Miteinander, das Nebeneinander und das Ge79 Die Staatsverschuldung ist solange kein Problem, wie das Wachstum des Sozialprodukts höher ist als das Wachstum der Verschuldung. Und die Staatsverschuldung ist (entgegen der negativen Auslegung des Mackenroth-Theorems, wonach der Sozialaufwand immer nur aus dem laufenden Sozialprodukt finanziert werden kann) legitimiert, wenn sie nachhaltige Zukunftsinvestitionen in die für die Reproduktion des Systems notwendige Infrastruktur ermöglicht. Dabei ist allerdings auch zu bedenken, dass die Zinstilgungen des Staates an den Geschäftsbankensektor infolge der Einkommensabhängigkeit des Sparens als Funktion eine Umverteilung von „unten nach oben“ bedeutet. 80 Nachhaltigkeit ist nicht vereinbar mit dem Fetisch des permanenten Wachstums des Sozialprodukts, an das jedoch die Akkumulationslogik des Kapitalismus gekoppelt ist. Dazu auch Reheis (2022). 81 Laux/Henkel (2018); Manemann (2014); Wallenhorst/Wulf (2023). 82 Löschburg (2019). 83 Buckel/Reineck/Anderl (2021); Wittinger (2005).
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geneinander in den sozialen Figurationen, wenn man an die Historische Soziologie von Norbert Elias (1991), aber auch an die transaktionalen Feldanalysen auf mikrosoziologischer Ebene von Kurt Lewin (Binder, 2023) anknüpfen will, zu differenzieren. Sodann ist (2) anzuknüpfen an die in diesem Sinne oftmals als relationale Soziologie bezeichnete Soziologie der Klassenlagen und Klassenverhältnisse auf der Ebene der Makrosoziologie von Pierre Bourdieu (1987), der allerdings das Distinktionsgeschehen – hierbei die Kategorien der Marktlage und des Standes (als Stil der Lebensführung bei Max Weber zusammenführend) über Felder bis runter zum Subjekt im Sinne einer Totalitätsanalyse – habituell durchdekliniert hat. Ferner wird dann (3) auf die Differenzierung von Vertikalität und Horizontalität der Funktionsordnung – hierbei auf die rechtsgeschichtlichen Unterscheidungen zwischen Herrschaft einerseits und Genossenschaft andererseits bei Otto von Gierke84 aufbauend – sowie auf die Differenzierung von Symmetrie oder Asymmetrie als Sozialästhetik der Figurationen zu verweisen sein. Stellt man (4) auf die kognitiven Karten sozial codierter individueller Deutungsmuster und ihrer Skalierung zu kollektiv geteilten Weltbildern bzw. Weltanschauungen ab, so geht es immer auch um die Differenzierung zwischen hegemonialer Doxa der etablierten Insider und den konkret-utopischen Heterotopien (Schulz-Nieswandt, 2016d) der heterodoxen Outsider. Hinzu kommt implizit eine ebenso kulturvariable Demarkationslinie des Öffentlichen und des Privaten. § 30 Binäre Kulturgrammatik der Komplex-Vektoren-Bildung Wir können also ersehen, wie sich ein Archiv binärer Codes (die mitunter hybride Übergangsformen kennen) abzeichnet, die zu einer komplexen Gewebestruktur verschachtelt werden können. So entstehen Komplexbildungen von Ordnungen der Ethik=Moral ðgut $ bçseÞ; ¨ der Asthetik ðschçn $ h-sslichÞ; des Politischen ðgerecht $ ungerechtÞ; der Geschlechter ðm $ w $ dÞ; der Generationen ðjung $ altÞ; der Zeit ðgestern $ heute $ morgen; Linearit-t $ Zyklizit-tÞ; der Pathologizit-t ðgesund $ krankÞ; der radikalsten Differenz von Leben $ Tod; des Raumes ðInnen $ Außen etc:Þ;
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Simon (2000); Peter (2001); Schröder (2021); Schulz-Nieswandt (2003).
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des Selbst ðIdentit-t $ Alterit-tÞ; der Sozialit-t ðInsider $ OutsiderÞ usw: Ein Beispiel einer Komplex-Bildung ist der politische Raum der Insider-Outsider, der über vertikale Vektoren (oben $ unten und rechts $ links) beschrieben wird, die sich oftmals mit anderen binären Codes verknüpfen: so z. B. der Andere als das Monströse der bösen Hässlichkeit des Alten und/oder des Kranken. In Bezug auf Drei-Welten-Modelle (A, B, C) oder Vier-Sektor-Modelle (A, B, C, D) der sozialen Wohlfahrtsproduktion werden demnach verschiedene, den Raum binär definierende flexible Trennlinien eingezogen: çffentlicher Raum $ privater Raum informelle Ressourcen $ formelle Ressourcen SZ @ dominante GM $ FZ @ dominante PW: Hinzukommen noch Strukturationsprinzipien der Differenzierung von Gew-hrleistung $ Sicherstellung vertikale Subsidiarit-t $ horizontale Subsidiarit-t: Das Prinzip der Reziprozität, das allen Sektoren der sozialen Wohlfahrtsproduktion eigen ist, ist codiert zwischen den Polen positive Gabe @ Surplus unbedingter Solidarit-t l negative Exploitation des çffentlichen Gutes; wobei faire Märkte idealtypisch als ausbalancierte Äquivalenzgleichgewichte in der Mitte dieser beiden Extrempole topologisiert werden. § 31 Die besondere Figuration von Vulnerabilität und solidarischer Gabe Das Phänomen der negativen Exploitation des „neoplexianischen Besitzrechtsindividualismus“ (Schulz-Nieswandt, 2022c) als Form der Reziprozität ist aber nicht zu verwechseln mit der Figur der Sorge im Kontext einer asymmetrischen Vulnerabilität (Schulz-Nieswandt, 2021j): Ein Mensch in dieser Situation vulnerabler Bedürftigkeit kann weitgehend nur nehmen und nicht gebend erwidern, weil er das Bezugssubjekt der vom positiven Gabe-Surplus geprägten unbedingten Solidarität ist. Es handelt sich also um eine nicht-ausbalancierte asymmetrische Reziprozität, die aber moralisch positiv85 zu bewerten ist. Sie ist passungsoptimal, ohne pa-
85 Die böse Gabe (Verhezen, 2009) der Demütigung und aus Motiven der Begierde der Macht in Absicht auf Beherrschung des Anderen ist allerdings zu beachten: Schulz-Nieswandt/Micken/Moldenhauer (2022b); Schulz-Nieswandt (2023c).
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II. Dynamische Strukturanalyse
ternalistisch – also von der Demütigung der Erwartung einer huldvollen Dankbarkeit geprägt – zu sein. Die Ausbalancierung ist dennoch möglich, wenn Gabe und erwidernde GegenGabe nicht von einer homomorphen Tauschwährung, sondern von einer heteromorphen Tauschwährung geprägt sind: z. B. ein Lächeln als Ausdruck einer erzielten Verbesserung der Lebensqualität, die sich dergestalt zum Ausdruck bringt. § 32 Zwischenfazit: Kulturgrammatik auf psychodynamischer Grundlage Wir stellen also kulturgrammatische Überlegungen auf psychodynamischer Grundlage in einer allgemeinen anthropologischen86 Perspektive an und führen diese Überlegungen in Bezug auf die Morphologie in den Kapiteln 1 und 2 dieses Teils auch weiter. Diese knappen, dichten Ausführungen sind – entgegen dem nihilistischen Werterelativismus des radikalen Postmodernismus und entgegen dem falsch verstandenen Post-Strukturalismus in der dekonstruktiven Gegen-Erzählung vom „Tod des Subjekts“ – kohärente Bausteine einer allgemeinen Anthropologie in hermeneutischer Absicht. Doch bewegen wir uns hier auf einer Ebene der abstrakten (wenngleich immer leicht anschaulich konkretisierbaren) Sozialontologie. Hier sprechen wir daher von einer Onto-Anthropologie. Wir nutzen nun dieses epistemische Gewebe der Bausteine einer Morphologie und Geometrie der Kultur des Sozialen als geschichtliche Formen der Sozialität und ihren Subjektierungsformen der jeweiligen Paideia als Formung der Person – immer auch als variables Zusammenspiel von Selbst-, Mitund Fremdsorge (Schulz-Nieswandt u. a., 2009) – zur Applikation auf das Phänomen der Ökonomik des Dritten Sektors. Dabei werden alle Überlegungen, die bisher in der abstrakten und dichten Darlegung zur Sprache kamen, konkreter zur Anwendung kommen.
3. Grammatik Es geht nunmehr um die skizzenhafte Darlegung der Grammatik des Dritten Sektors im Mehr-Ebenen-System. Unter dem Dritten Sektors versteht man einen analytisch fassbaren Teil eines in identitärer Hinsicht signifikant abgrenzbaren Segments einer Mehr-Sektoren-Geschehensordnung, definiert über konstitutive Merkmalsausprägungen von theoretisch relevanten Kategorien. Wir bewegen uns dabei wiederum im Raum des Idealtypus, wohl wissend um die methodologisch ja gerade hoch bedeutsamen Differenzen zur phänotypischen Welt der realtypologisch rekonstruierbaren sozialen Wirklichkeit. Eine Bedeutungsanalyse der Realtypen ist aber erst mit Hilfe der Idealtypen möglich, da – so Max Weber 86
Pleger (2018); Bohlken/Thies (2009); Bayertz (2014); Graeber (2022).
3. Grammatik
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(1988) im Lichte einer neu-kantianischen Wissenschaftslehre auf dem Weg zum Kritizismus oder sogar zu einer personalistischen Rechtsphilosophie der Ethik der überpositiven Naturrechtslehre (als „inherent dignity“ in den UN-Grundrechtskonventionen bezeichnet87) der Würde (Heerdt/Schulz-Nieswandt, 2022) zwischen Autonomie und Teilhabe als einbettende Partizipation – Erkenntnis ohne transzendentale Wertbezüge von hoher Kulturbedeutung nicht möglich ist (Schulz-Nieswandt, 2018b). § 33 Zur Kulturbedeutung des Dritten Sektors Die Kulturbedeutung des Dritten Sektors, der seine eigene relative Unvollkommenheit der Funktionsfähigkeit im Sinne eines vergleichenden institutionellen Forschungsansatzes – nicht sehr überraschend aus der Sicht der Philosophischen Anthropologie der conditio humana des analogia entis-Status des Menschen (SchulzNieswandt, 2022b) im Gegensatz zur prometheischen Hybris des ikarischen Mythos (Schulz-Nieswandt/Chardey/Möbius, 2023) – aufweist, liegt in der unmittelbaren Hinwendung zur Bedarfsdeckung des vulnerablen Menschen begründet. Die Metaphysik des Marktes – als Theologem der unsichtbaren Hand des Wettbewerbs des Marktes in der Klassik und in der equilibrativen KurvenverlaufsÄsthetik der marginalistischen Methode der neoklassischen Optimierungsmechanik – hat viel Kritik erfahren. Sie drehte sich meist um Fragen des regulierbaren Marktversagens und der Auswege aus der Tragödie der (Allmende der) reinen öffentlichen Güter. Die Meritorik (Schulz-Nieswandt, 2022e) galt als paternalistische Radikalkritik, wird aber heute eher diskurstheoretisch im Rahmen der Theorie der deliberativen Demokratie – auch als transgenerationelle Allokationsgerechtigkeit im Anthropozän – dynamisiert. § 34 Logik der Wirtschaftskultur und post-euklidische Dynamik Im Diskurs über den Dritten Sektor geht es aber fundamental, mit Blick auf die Hegemonieordnung der eigenständigen Logik der Kultur des Wirtschaftens, um die uralte Vision einer Sorgekultur einer Moralökonomik jenseits der Logik des kapitalistischen Geistes. In der vorliegenden Rekonstruktion der wissenschaftlichen Diskursordnung kann es aber nicht um eine Gesinnungsethik und um einen linkspopulistischen Hypermoralismus gehen. Eine verantwortungsethisch brauchbare Einschätzung der modallogischen Spielräume – allerdings auch visionär bis hin zu konkreten Utopien – muss sich einbetten in die notwendigen epistemologischen, erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch sowie methodologisch fundierten Grundierungen und Rahmungen der Analyse. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei, die kulturelle Grammatik des Dritten Sektors in größeren Funktions-OrdnungsKontexten zu rekonstruieren.
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Schulz-Nieswandt (2016a).
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II. Dynamische Strukturanalyse
Diese Kontextanalyse erfolgte in Abschnitt 2 dieses Teils, nachdem zunächst in Abschnitt 1 die morphologische Analyse im Rückgriff auf strukturale Kategorien (Transaktionalität, Gabe88 und Reziprozität, Moralökonomik) erfolgt ist.
4. Transaktionalität Der Begriff der Transaktionalität klammert unsere Sicht der Wechselwirkung von Mensch und Umwelt in die Morphologie der Reziprozitätsformen und der Moralökonomik. Unter dem Dritten Sektor verstehen wir ein sektoral abgrenzbares Feld der Produktion öffentlich relevanter sozialer Dienstleistungen (in ambulanten, teilstationären und stationären Arrangements). Idealtypisch betrachtet ist dieses Feld von der, nicht nur auf vulnerable Zielgruppen in kritischen (prekären) Lebenslagen, sondern auf die gesellschaftstypische Normalbevölkerung mit der üblichen, aber biographisch wichtigen Entwicklungsaufgabenbewältigung hinsichtlich der Lebenslagen im Lebenslauf (Schulz-Nieswandt/Köstler/Mann, 2022) bezogenen bedarfswirtschaftlichen Sachzieldominanz geprägt. § 35 Mehr-Ebenen-Analyse: Care-Settings und Habitusformationen in der sozialen Interaktion personenzentrierter sozialer Dienstleistungen Die unternehmerischen Organisationen der Träger der gemeinnützigen89 Ökonomik des Non-Profit-Sektors sind auf der Meso-Ebene nur die institutionellen Settings der Arrangements der sozialen Wohlfahrtsproduktion auf der Mikro-Ebene der sozialen Interaktionsarbeit personenzentrierter Dienstleistungen. Diese wiederum müssen vor dem Hintergrund der relevanten normativ wirksamen Rechtsregime post-paternalistischen Skripten folgen. Dabei wird die neuere Ambivalenz-Diskussion der Care-Debatte abgebildet: Es geht um eine partizipative Teilhabe-Orientierung, die die Kultur der sozialen Praktiken der Demütigung durch Bevormundung (versus Selbstbestimmung), Kränkung (versus Selbständigkeit) und Ausgrenzung (versus partizipativer Teilhabe) minimiert. Der menschenrechtskonventionelle Leitstern des Naturrechts der personalen Würde90 konkretisiert sich also in den unbestimmten Rechtsbegriffen der Selbstbestimmung, der Selbständigkeit und der Teilhabe im Sozialrecht (§ 1 SGB I), eingebettet in das Verfassungsrecht des GG, in das grundrechtliche EU-Recht und in die UN-Grundrechtskonventionen. 88 Zur Entwicklung der Gabe-Theorie von Frank Schulz-Nieswandt siehe Schulz-Nieswandt (2023a); Schulz-Nieswandt (2014b); Schulz-Nieswandt/Micken (2021) und SchulzNieswandt/Micken/Moldenhauer (2022a). 89 Schauhoff/Kirchhain (2022); Schmidt (2020); Krummenacher u. a. (2019); Helmig/Boenigk (2019). 90 Schulz-Nieswandt (2022b); Schulz-Nieswandt/Chardey/Möbius (2023).
4. Transaktionalität
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Dabei ist immer wieder zu bedenken, dass es nicht um absolute Souveränität geht, wenn von der Autonomie des Subjekts gesprochen wird, weil Autonomie immer (1) eingelassen ist in soziale Beziehungen, (2) in Kontexte des auszuhandelnden verständigungsorientierten Miteinanders und daher (3) an die empathische Rücksichtnahme angesichts des Mitmenschen als Minimierung von negativen Externalitäten (a) in den Figurationen sozialer Interdependenz aus der Haltung der respektvollen Achtung des Anderen (Art. 2 GG) sowie (b) als advokatorische Ethik für Zukunftsgenerationen an die Ehrfurcht vom Allzusammenhang des Lebens (SchulzNieswandt, 2023c) gebunden ist. Diese Relativität der subjektiven Autonomie im Kontext relationaler Gewebestrukturen, sozialer Einbettungen und sozialer Verkettungen – mythopoetisch: eine Kulturkritik der ikarischen Hybris prometheischen Wahns des Subjekts der instrumentellen Vernunft (Schulz-Nieswandt/Chardey/Möbius, 2023) der Objektbesetzungen (Waltz, 2020) negativer Freiheit des Besitzrechtsindividualismus (SchulzNieswandt, 2022a) – verweist uns erneut auf das personalistische Menschenbild als Grundlage einer ausbalancierten Altruistik in der sozialen Evolution der Kooperation der Menschen. § 36 Ästhetik des Kapitalismus versus Staunen über die Schönheit der Natur In der vorliegenden Abhandlung wird an zwei Stellen die Ästhetik der marginalistischen Methode in der Mainstream-Ökonomik angesprochen. Göttliche Gleichgewichts-Optima werden dergestalt mathematisch möglich und geometrisch zur Visualisierung inszeniert. Doch es gibt noch einen weiteren Diskurs. Ohne die breit gestreute Literatur hier anzuführen, aufzugreifen und zu diskutieren, zeichnet sich das Verständnis des Kapitalismus als Kultur auch dergestalt ab, dass das Designing (Mareis, 2022; Seitz, 2022) zum Thema wird, ebenso, wie umgekehrt die Forschung zugenommen hat, die sich mit der langen reflexiven Entwicklungsgeschichte in der Literaturgeschichte (in verschiedenen Gattungen) beschäftigt. Von einem „Ästhetischen Kapitalismus“ ist ebenso die Rede wie von einem „Kapitalistischen Surrealismus“: in der Markenbildung und im komplementären Konsum, in der symbolischen Ausdrucksgestaltpraxis der unternehmerischen Organisationen (z. B. in der sakralisierten Machtdarstellung durch die Tempelarchitektur der Banken), im Büro-Designing usw. ist Kapitalismus als symbolische Kultur zu verstehen. Das ist mehr als reine Politische Ökonomie: Es geht um die mentalen, emotionalen, ornamentalen und mythisierenden Ausdrucksdimensionen des Systems des SelbstDesignings einer Ökonomie und seinen entsprechend subjektivierten Menschen. Wir sprechen, die Portmann-Abhandlung (Schulz-Nieswandt, 2023c) aufgreifend, diese Diskurse deshalb an, weil dieser Kapitalismus zugleich die Fähigkeit (Berzbach, 2021) zur staunend-ehrfürchtigen, aber freudvollen Erfahrung der Schönheit (Stahl, 2018) der Natur (Krebs, 2021; Müller, 2019) zerstört. Eine künstliche – und fetischisierte – Ästhetik der verdinglichten zweiten Natur substituiert im praxeologisch begreifbaren Modus epistemischer Gewalt die natürliche
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II. Dynamische Strukturanalyse
Schönheit der ersten Natur, in die der Mensch mit seiner inneren Natur der kulturell codierten Wahrnehmung eingestellt ist. Die Mit-Sorge als Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung im sozialen Dasein als ein Mit-Sein (Pépin, 2022) ist die Synthese von Selbst-Sorge und FremdSorge91, ohne dabei eine Position der jeweiligen Verstiegenheit zum charakterneurotischen Individualismus (der neoliberalen Selbstoptimierungs-Dispositivordnungen92) einerseits oder zum charakterneurotischen Kollektivismus (totaler Gemeinschaften93) (verdichtet in der autoritären Persönlichkeit) andererseits einzunehmen. § 37 Programmcode des Wirtschaftens Der dominante Programmcode der Gemeinnützigkeit ist die Sachzieldominanz im Programmcode des Wirtschaftens. Es handelt sich um eine Logik der organisierten Sorgearbeit (Schulz-Nieswandt/Thimm, 2023) der Nächstenliebe, die nicht dominiert wird vom Prinzip der Profitmaximierung (die im Kontext von KapitalAnleger-Modellen plausibel ist, wenngleich es auch gemeinnützige Aktiengesellschaften gibt). Somit geht es um alternative und in diesem Sinne konkurrierende DNA-Strukturen, die die Prozesse und dadurch letztendlich auch die Ergebnisse prägen. Was in der Genetik eine Mutation genannt wird, wird hier als kulturelle Transformation und somit als tiefengrammatische Veränderung begriffen. Eine Renaissance94 der Gemeinwirtschaft und die Diffusion (der Genossenschaftsidee als Formprinzip) in neue Felder kann hier wie ein erwünschter Virus verstanden werden, der in das System eindringt und sich ausbreitet. § 38 Gemeinnützigkeit in der Instrumentalfunktion der Daseinsvorsorge Die Förderung bzw. Nutzung (im Sinne einer Instrumentalfunktion) freier Träger des gemeinwirtschaftlichen Handelns ist der Kern der Daseinsvorsorge (SchulzNieswandt, 2017a) der Gewährleistungsstaatlichkeit des sozialen Rechtsstaates (Vaske, 2016). Dazu kann steuerrechtspolitisch das Konstrukt der Gemeinnützigkeit (Schauhoff/Kirchhain, 2022) dienen. Gemeinnützige Unternehmen müssen ihre Gewinne satzungsgemäß und somit auf das dominante Sachziel abstellend zeitnah reinvestieren. Gewinnausschüttungen gibt es nicht. Zweckgebundene Rücklagen im Kontext strategischer Planungen, etwa mit Blick auf die konzeptionelle Veränderung des Geschäftsmodells (z. B. Erwei-
91
Zur terminologischen Differenzierung: Schulz-Nieswandt u. a. (2009). Die post-strukturalistische und auch die mittels qualitativer Sozialforschung agierende Forschungsliteratur dazu ist mittlerweile Legende. 93 Sloterdijk (2013); Coser (2015). 94 Hier ist mit Blick auf die öffentliche Wirtschaft die Debatte um die Re-Kommunalisierung anzuführen, aber auch die neuere Gemeinwohlökonomie-Kontroverse sowie die Commons-Diskurse. 92
4. Transaktionalität
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terung der Zielgruppen, Erweiterung der Care-Settings etc.) sind möglich, unterliegen aber ebenso dem Monitoring der Finanzamtsaufsicht. § 39 Gemeinwirtschaft der Gewinnverwendung und die Unmöglichkeit nachhaltiger Wirtschaft ohne Gewinnerzielung Gemeinwirtschaftstheoretisch (Schulz-Nieswandt, 2021a) zeichnet sich hier die Einsicht ab, dass auch Non-Profit-Unternehmen durchaus Gewinne zum Zwecke interner oder zur Rückzahlung externer Finanzierungen von Investitionen generieren müssen.95 Der Gewinn-Bedarf richtet sich aber nach den bedarfsdeckungslogischen Dienstaufgaben, nicht nach den Dividendenerwartungen der Risikokapitalgeber in der kapitalgesellschaftlichen Rechtsform. Daher ist die unternehmenstypologische Begrifflichkeit des Non-Profits problematisch: Eigentlich müsste man von Non-Maximizing-Profit-Organisationen sprechen. Es kommt in der Gemeinwirtschaftslehre (Thiemeyer, 1970) auf die Modalität der Gewinnentstehung und sodann vor allem auf die Modalität der Gewinnverwendung ab. § 40 Praxeologie der Kultur des Wirtschaftens Wiederum geht es praxeologisch um die Kultur des Wirtschaftens: Es geht um das WIE des WAS. Dem WIE der Sachzieldominanz in Bezug auf die Zielgruppen- und Zielbedarfslandschaft geht es nicht um eine Selbstzweck-Mutation der maximierenden Gewinnerzielung, die in der marxistischen Theorie des Kapitalismus als Religion definiert wurde, die sodann mit dem Fetischismus des Konsums als Mechanismus in der Dynamik des Akkumulationsregimes korrespondiert. Mit der Gottmaschine der Produktion von Angeboten korreliert die Wunschmaschine (Schulz-Nieswandt, 2019b) der Bedürfnisse erträumter Konsumgüter, die sich als Objektbesetzungsstrategien in der symbolischen Lebensführung der alltäglichen konsumistischen Eucharistiefeier des Animismus der Warenwelt erweisen. § 41 Anthropologie des Wirtschaftens: Ökonomie der Sorge und pathogene Formbestimmtheit Mathematisch gesehen ist die Optimierung nicht das Problem einer kritischen Betrachtung: Auch ein gemeinwirtschaftliches Unternehmen muss eine optimale 95 Insofern geht es eher um eine Kritik der Privatisierung der Gewinne in Verbindung mit sozialen Kosten dieser Gewinnentstehung. Anders formuliert: Es geht um die gemeinwirtschaftliche Gewinnverwendung als Sozialisierung der Gewinne zugunsten der sozialen Nutzendiffusion. Dass Eigentum an soziale Verpflichtung geknüpft ist, kennen wir auch aus Art. 14 GG: „(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Daran knüpft sich Art. 17 GG: „Jede natürliche oder juristische Person hat das Recht auf Achtung ihres Eigentums. Niemand darf sein Eigentum entzogen werden, es sei denn, dass das öffentliche Interesse es verlangt, und nur unter den durch Gesetz und durch die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts vorgesehenen Bedingungen.“
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II. Dynamische Strukturanalyse
Gewinnerwirtschaftung – als eine dem dominanten Sachziel dienende Nebenzielbestimmung – einplanen. Dies ist eine notwendige Voraussetzung für die nachhaltige Effektivität des Unternehmens. Und dies impliziert eine betriebliche produktionstechnische Effizienz als Input-Output-Wirtschaftlichkeit. Aber auf dieser Grundlage geht es um die Optimierung der Zielerreichung (Effektivität). Und diese besteht nicht in der Gewinnmaximierung zum Zwecke einer rentierkapitalistischen Dividendenerwartungserfüllung des Managermodells der Unternehmensführung (Herzka, 2014). Insofern wird die kritische Diskussion auch die Differenzierung zwischen Ökonomisierung einerseits und der kapitalistischen Formbestimmtheit der Ökonomisierung andererseits leisten müssen. Das nachhaltige Wirtschaften ist anthropologisch eine konstitutive Eigenart der Sorge in der ontologisch begreifbaren Daseinsführung der menschlichen Existenz. Auch das Prinzip des Austausches ist universal im Naturzusammenhang und somit auch für den Menschen als Naturwesen mit Geist (Schulz-Nieswandt, 2023c). Aber nicht jeder Austausch (Habermann, 2018) ist Markttausch bzw. kapitalistisch dominierter Tausch. § 42 Gemeinnützige Sicherstellung der Gewährleistung der Daseinsvorsorge und die Risiken des Wettbewerbsdrucks Die gemeinnützige Form des Wirtschaftens ist demnach ein dienendes Instrument zur Deckung des Bedarfs öffentlich relevanter Güter und Dienstleistungen. Aber auch dieses Modell bedarf eines Startkapitals und bedarf einer effizienten Erwirtschaftung von re-investiv notwendigen Überschussressourcen. Hier liegen Risiken der Mutation der Logik des Wirtschaftens durch Selbsttransformation als Konvergenz der Wirtschaftsgesinnung in Richtung einer Orientierung am „kapitalistischen Geist“ verborgen. Dies resultiert u. a. aus dem Wettbewerbsdruck, dem die gemeinnützigen Unternehmen und ihre Träger infolge des Trägerpluralismus der Marktordnung ausgesetzt sind. Darauf wird nochmals zurückzukommen sein. Zugleich sei als Randbemerkung an dieser Stelle der Darlegungen eingefügt, dass deutlich wird, dass eine Postwachstumsökonomik (Roos, 2020), anknüpfend an die Idee eines ökologisch nachhaltigen qualitativen Wachstums (Opaschowski, 2023), eines neuartigen Programmcodes bedürftig ist, der allerdings von einer öko-sozialen (als um die Aspekte der ökologischen Dimension erweiterten sozialen) Marktwirtschaft solange nicht gedeckt werden kann96, wie der treibende Daimon ein wachstumsorientiertes Akkumulationsregime – inkarniert im Fetisch des Bruttoinlandsprodukts als mathematisches Totem-Symbol des Systems – ist.
96 Jansen (2023); Burgers/Den Outer (2023); Unger (2023); Noller (2022; 2023); Bourgeois-Gironde (2023); Rifkin (2022).
4. Transaktionalität
61
§ 43 Instrumentalfunktionale Delegation öffentlicher Aufgaben und das Risiko der materialen Privatisierung Auf die Rolle des Dritten Sektors kommen wir nunmehr dergestalt zu sprechen, als der Gewährleistungsstaat nicht in Eigenregie die faktische Sicherstellung aktiv übernimmt, sondern die Aufgabe der Sicherstellung an vorstaatliche freie (freigemeinwirtschaftliche) und private (erwerbsprivatwirtschaftliche) Träger delegiert. In einem gewissen Sinne ist dies eine formale Privatisierung von Staatsaufgaben, aber diese stellt solange keine materielle (substanzlogisch fassbare) Risikoprivatisierung dar, wie der Staat als Kontraktmanager das Pflichtenheft der Auftragserledigung souverän definiert und kontrolliert. Was mit Blick auf diese formale Privatisierung (Bahle, 2007) als Resultante der staatsrechtlich und sozialrechtlich konkretisierten Differenz von Gewährleistung und Sicherstellung aber deutlich wird, das ist die Konstituierung eines Trägerpluralismus öffentlicher, freigemeinwirtschaftlicher und privat-erwerbswirtschaftlicher Leistungsanbieter im regulierten und öffentlich – je nach Leistungsrecht mehr oder weniger – mitfinanzierten Marktwettbewerb. Und genau dieser Regulationskäfig ist eine wirtschaftsordnungsrechtliche Restriktion der Entfaltung des gemeinwirtschaftlichen Geistes. § 44 Die Faltung von vertikaler und horizontaler Subsidiarität Dieser Trägerpluralismus folgt der ordnungspolitischen Diktion der auf die Sicherstellung bezogenen vertikalen Subsidiarität (Markt vor Staat) als regulativen Ordnungsrahmen für eine horizontale Subsidiarität (gleichbehandelte freigemeinwirtschaftliche und privaterwerbswirtschaftliche Anbieter mit subsidiärer Nachrangstellung öffentlicher97 Leistungsanbieter als Lückenbüßer bei Marktversagen oder Nicht-Existenz von Marktlösungen, z. B. in strukturschwachen ländlichen Räumen). Es ist eine doppelte – vertikale wie horizontale – Regimeordnung der Blickverengten (skotomisierten) Auslegungsordnung des Prinzips der Subsidiarität (Porschmann, 2022) zugunsten des Privaten vor dem Öffentlichen als disponierende Ordnung von Verantwortungsrollenräumen in der existenziellen Daseinsvorsorge. Dies ist ein keineswegs Werte-freier, sondern geradezu Werte-getriebener Stil der Verantwortungsrollenallokation zwischen Individuum, Gemeinschaft (der Familie …), Gesellschaft (des informellen Sozialraums lokaler/regionaler Netze …) und (der föderalen98 Gebietskörperschaftsordnung des) Staat(es). Was sich gesellschaftsordnungsmorphologisch herauskristallisiert, das ist eine Dreiecksbeziehung zwischen Staat, Gesellschaft und Gemeinschaft bzw. zwischen Staat, Markt und Familie, wobei (1) der Staat in seiner marktorientierten Staatlichkeit konkretisiert werden muss, (2) der Markt als trägerpluralistische Wettbe-
97 98
Mühlenkamp u. a. (2019). Dazu grundlegend: Härtel (2012).
62
II. Dynamische Strukturanalyse
werbsordnung verstanden werden muss und (3) die Familie ein Variationen-reiches Kern-Gebilde im Spektrum privater Lebensformen darstellt. Dabei ist der Dritte Sektor in der Regel ein, in die Ordnung des trägerpluralistischen Marktwettbewerbs eingestelltes Segment mit eigener wirtschaftskultureller Logik oder auch ein – visionär anzudenkender – eher privilegierter Schutzraum einer eigenständigen Gemeinwohlökonomie. Empirisch auf die Faktizität der Verhältnisse abstellend, beschäftigt uns primär die erste Modalform, konkret-utopisch in transformativer Hinsicht (Schmidt, 2023), sodann aber auch die zweite Modalität.
5. Organisationsdynamik Zu betonen ist im System der Klassifikationen die multi-sektorale Organisationsdynamik der Gemeinwirtschaft und der Privatwirtschaft im Wandel der Geschichte. Auffallend dürfte in der Lektüre der bisherigen Darlegungen sein, dass wechselnd von einem Dritten Sektor und von Non-Profit-Organisationen, dies im Status der Unternehmungen, die Rede war. Dieser unternehmerische Status verweist auf die Einbettung der Non-Profit-Organisationen als Institutionen der sozialen Wohlfahrtsproduktion in den Kontext eines Marktwettbewerbs – gedeckt vom funktionellen Unternehmensbegriff und des Konstrukts der Konkurrenten-Klage (bei Verletzung des transparenten Gleichbehandlungsprinzips) des Europäischen Wettbewerbsrechts (Schulz-Nieswandt, 2014a; 2023b) der durch die Grundfreiheiten der Freizügigkeit von Kapital, Arbeit, Waren und Dienstleistungen codierend geprägten Binnenmarktordnung – und verdeutlicht damit die wirtschaftsordnungsrechtspolitische Situation der Konkurrenz zwischen Gemeinwirtschaft (GW) und Privatwirtschaft (PW) im Modus eines Trägerpluralismus: einerseits als Dualität (SchulzNieswandt, 2021a) von GW und PW, anderseits als interner Trägerpluralismus der GW, der öffentliche (Mühlenkamp u. a., 2019) wie auch freie (sozialwirtschaftliche99) Träger der GW kennt (Lilli, 2022). Auf die Genossenschaften100 als hybride Gebilde und auf den Typus der gemeinwirtschaftlichen und u. U. der gemeinnützigen Genossenschaft kommt die Abhandlung nochmals gesondert zurück. Vor dem Hintergrund dieser doppelten Trägerpluralität ðGW $ PWÞ und GW ¼ GW ðçffentliche þ freie Tr-gerÞ wird deutlich, dass nun im Sinne einer analytischen und typologischen Topologie ein Mehr-Sektoren-Modell-Denken dargelegt werden muss, um zu verstehen, wann, warum und wie von einem Dritten Sektor (Third Sector101) gesprochen werden kann, 99
Grunwald/Langer (2023); Olk/Rauschenbach/Sachße (1995). Blome-Drees (2022); Blome-Drees u. a. (2023). 101 Taylor (2010). 100
5. Organisationsdynamik
63
muss und darf. In der Sequenz der Numerik setzt dies ja zwingend einen Ersten und einen Zweiten Sektor voraus und macht eventuell einen Vierten bzw. Fünften Sektor denkmöglich. § 45 Stufen der Steigerung der Komplexität und Wissenschaftsprobleme der Klassifikation von Wirklichkeit Die Darstellung geht stufenartig mit steigender Komplexität vor und orientiert sich dabei am geschichtlichen Wandel der Auffassungen, die nicht immer einer einfachen traditionellen mimetischen Logik folgen, also nur abbildende Spiegelungen der sozialen Wirklichkeit der Wirtschaftsordnungen sind, wenngleich die Ideenwelt und die Deutungsmuster ja – epistemologisch betrachtet – selbst integrierter Teil dieser Wirklichkeit sind, aber in der Einheit von Einheit und Differenz. Diese epistemologischen und auf das zentrale Erkenntnisinteresse der vorliegenden Abhandlung abstellenden Reflexionen müssen immer wieder in das Bewusstsein der Lektüre gerufen werden. Die vorliegende Abhandlung ist auch in dem Sinne komplex, dass verschiedene analytische Ebenen, verschiedene Zeithorizonte, verschiedene fachdisziplinäre Zugänge, verschiedene Fragestellungen und Zugangspfade, vielerlei Aspekte – wie schon gesagt: fragmentarisch und Torso-artig – zur Anwendung kommen. § 46 Realität und Klassifikationen des menschlichen Geistes Die Wirklichkeit besteht ja als Faktizität immer auch zugleich aus endogenen Modalitäten des Noch-Nicht (Schulz-Nieswandt/Chardey/Möbius, 2023), resultierend aus der imaginativen Kraft kreativer Visionen oder aus der Negativität des Faktischen, resultierend aus reiner normativer Verweigerung oder auch aus krankhafter Blickverengung (Skotomisierung) bzw. aus wahnhaften Wahrnehmungsstörungen heraus. Nicht das Subjekt hat souverän die je eigene Wahrnehmung, sondern die Wahrnehmung hat das Subjekt im Zuge der subjektivierenden Vergesellschaftung. Daher fallen in der wissenschaftlichen Rekonstruktion die Realgeschichte und Idealgeschichte auseinander, können, müssen aber nicht konvergieren. Ferner muss dabei mit Blick auf die epistemologischen Grundsatzerörterungen betont werden, dass es verschiedene Modi der Erkenntnis (Mythos/Religion, Kunst, Wissenschaft) gibt, die einerseits Differenzen, andererseits – und somit die Frage von Wahrheit und Fiktion im Sinne narrativer Rekonstruktion problematisierend – auch Schnittflächen aufweisen. Dies gilt nicht nur für die Vermessung empirischer Wahrheit am Referenzsystem onto-anthropologischer Wahrheit in der Kritischen Theorie, sondern im Rahmen der erkenntnisleitenden Frage nach der „Bedeutung der Bedeutungen“ empirischer Befunde auch mit Blick auf die Hermeneutikbedürftigkeit empirischer Befunde im rekonstruktiven Realismus als Position zwischen Konstruktivismus und naturalistischen Objektivismus, da wir nie die objektive Realität unmittelbar selbst, sondern immer nur mittelbar haben, jede Wahrnehmung dabei also immer nur im Modus einer interpretativen Wahrnehmung zu haben ist.
64
II. Dynamische Strukturanalyse
Die Modelle, die nun skizzenhaft dargelegt werden, sind klassifikatorische Systeme des menschlichen Geistes (Kleineberg, 2012; Allen, 2001), nicht die Realität selbst. Die Realität hat eine objektive Struktur, die aber nur in diesen Modi der klassifikatorischen Rekonstruktion auf Grundlage des morphologischen Paradigmas eines hermeneutischen Strukturalismus erschlossen werden kann. Das betrifft in der Folge die relative Treffsicherheit der Modelle und deren Problematisierung. § 47 Zwei-Sektoren-Modelle Obwohl es vor dem Hintergrund der Französischen Revolution als Sattelzeit im 19. Jahrhundert (als Krise der Moderne, die bis in die Aktualität hineinreicht) jenseits (Ostrom, 2022) des Dualismus von Staat und bürgerlicher Gesellschaft bereits frühe Drei-Sektoren-Modelle (Staat als Zwangsgemeinwirtschaft, freie Gemeinwirtschaft des bürgerlichen Vereins- bzw. Assoziationswesens und Privaterwerbswirtschaft) gab (Thiemeyer, 1970) – und daher ein bipolares Denken (Gretschmann, 1981) eine problematische klassifikatorische Rekonstruktion der geschichtlichen Wirklichkeit darstellt (schon die Hegelsche Rechtsphilosophie102 thematisierte die intermediären Figuren der Sittlichkeit: die Familie103 und die Berufsstände104) – hat sich wohl aufgrund der Hegemonialkämpfe zwischen den sozialen Klassen im Kontext der klassischen sozialen Frage – also im Kontext von Staat und Arbeiterbewegung – ein sozialistisches Narrativ herausgebildet, das bis zu den frühen Konturen der Wohlfahrtsstaatstypusanalysen (Lessenich, 2003; Obinger/Schmidt, 2019) als bipolare Figuration Staat versus Kapitalismus (Politics against markets) durchgehalten hat. Aber schon die Genossenschaften als Wirtschaftsweise eigener Art, vor allem sodann auch in der Figur der Produktivgenossenschaften (Schimmele, 2019), haben die Kohärenzprobleme einer nachfragenden Haltung „Wem gehört der Staat?“ aufgeworfen. Und dieser binäre Code „Staat versus kapitalistische Wirtschaft“ wurde zunächst auch nicht theoriebildend durch die Gebilde sozialer Wohlfahrtsproduktion der Zivilgesellschaft105 bzw. des Sozialwesens der Kirchen aufgebrochen. § 48 Binäre Modelle: Staat versus Markt und Hegelsche Differenzierungen Das bipolare Modell von Staat und Markt ist ein vertikalisiertes AB-LinienModell. Es ist – ohne hier die Forschungsliteratur zur Sittlichkeit des Staates, zu Markt (Ellmers, 2015; Campello, 2015) und Armut (Schildbach, 2018), zu Familie und Berufsständen bei Hegel (und Analogien in der Lehre vom sozialen Königtum und seiner Sozialverwaltung bei Lorenz von Stein) aufzugreifen, anzuführen und zu diskutieren – die Hegelsche Dualität von Staat und bürgerlicher Gesellschaft, wie sie auch die Staatsrechtslehre der liberalen Demokratie bis in die jüngste Zeit hinein 102
Jaeschke (2016). Weber (1986). 104 Kustatscher (2016). 105 Strachwitz/Priller/Triebe (2020); Grande/Grande/Hahn (2021).
103
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geprägt hat. Es kann sich, in Anlehnung an Hegels Rechtsphilosophie, eine dreigliedrige ABC-Linie in vertikaler Anordnung entwickeln, wenn die intermediären Instanzen (Familie, Berufsstände) eingebaut werden: A ðStaatÞ # C ðFamilie þ Berufsst-ndeÞ " B ðvertragliche MarktgesellschaftÞ: § 49 Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsgesellschaft: Der Beginn neuer Kombinatorik Es haben dann aber vor allem nach 1945 – in einer Zeitgeschichte, in der der OstWest-Konflikt als Kalter Krieg auch die kognitiven Landkarten der Klassifikationsarbeiten und Typologiebildungen der Wirtschaftswissenschaften in ihrer ordnungspolitischen Wirklichkeitskonstruktionen strukturierend prägte – die seit den 1980er Jahren geführten wirkungsanalytischen Debatten um den Wohlfahrtsstaat (und seinen Grenzen) im (mehr oder weniger) dekommodifizierenden Charakter gegenüber der Marktwelt (Vermögens-, Güter-und Arbeitsmärkten) den Blick auf das Zusammenspiel von Wohlfahrtsstaat und Wohlfahrtsgesellschaft geöffnet (Kaufmann, 2003b). § 50 Drei-Sektoren-Modelle In der Folge etablierten sich immer mehr Drei-Sektoren-Modelle. Rekurriert wurde auf die wohlfahrtstheoretische Bedeutung der Familie und auf die freie Wohlfahrtspflege. Zwischen Staat und Markt schob sich der Blick auf einen intermediären Sektor. § 51 Emergenz der Relevanz von Familie und Wohlfahrtspflege So kristallisierte sich aus sozialkonservativer (Schulz-Nieswandt, 2018c) Sicht christlicher Soziallehre (Kaufmann, 2003a), aber auch infolge der Gender-Forschung sowie der Ungleichheitsforschung (Rehbein, 2015) insgesamt die Bedeutung der Familie als Ort und Akteur der sozialen Wohlfahrtsproduktion heraus. Aber auch die Rolle intermediärer Sozialorganisationen jenseits von Markt und Staat, also insbesondere die freie Wohlfahrtspflege (Heinze/Lange/Sesselmeier, 2018) als organisierte Sorgearbeit, nahm zu, ebenso wie andere Formen der sozialen, gemeinschaftlichen Selbsthilfebewegung.106 Außerdem gewann auch ein, das sogenannte traditionelle Ehrenamt überschreitende, Formenspektrum des bürgerschaftlichen Engagements (Olk/Hartnuß, 2011) sowie die Emergenz einer föderalen, öffentlichen, aber auch privaten Engagementförderpolitik (Neumann, 2016) zunehmend an 106
Schulz-Nieswandt (2019a); Schulz-Nieswandt/Micken/Moldenhauer (2023).
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II. Dynamische Strukturanalyse
Bedeutung. Insbesondere das Zusammenspiel von Non-for-Pofit-Organisationen freigemeinnütziger Wohlfahrtspflege mit den Formen des individuellen Ehrenamts und neue Formen des bürgerschaftlichen Engagements107 (auch im Kontext der Kooperation mit dem Gewährleistungsstaat und seiner kommunalen Gebietskörperschaft108) führten zur Konstruktion der klassifikatorischen Idee des sog. Dritten Sektors.109 § 52 Faltung zweier Drei-Sektoren-Modelle Es gibt also die Möglichkeit, ABC-Modelle im Modus einer dreischrittigen Synthese zu kombinieren: A; B; C : Staat; Markt; Familie þ A; B; D : Staat; Markt; Wohlfahrtspflege ¼ A; B; C; D : Staat; Markt; Familie; Wohlfahrtspflege: Weitere Figuren kristallisierten sich später in solchen Drei-Sektoren-Modellen (Staat – Markt- Familie oder Staat – Markt – intermediärer Sektor) deutlicher heraus: das, mitunter als „Philanthrokapitalismus“ diskutierte (Adloff/Degens, 2017) Stiftungswesen (auch im Schnittbereich zur CSR- und CC-Bewegung der Privatwirtschaft110) und die Diffusion von genossenschaftlichen oder genossenschaftsartigen Formen der Gegenseitigkeitshilfe in neue soziale Handlungsfelder (z. B. die Seniorengenossenschaften111 oder Familiengenossenschaften112) sind hier exemplarisch zu nennen. Die insbesondere gesundheitsbezogene Selbsthilfegruppenbewegung erlebte Transformationen infolge der Ausbildung von Selbsthilfeorganisationen (Landes-, Bundes- und Spitzenverbände), die bis hinein in die Strukturen der gemeinsamen Selbstverwaltung113 inkorporierten, aber auch kritische Nachfragen zur Kolonialisierung der Lebenswelten durch Systemregime indizierten.114 § 53 Vier-Sektoren-Modelle Verbindet man beide Drei-Sektoren-Modelle (Staat-Markt-Familie einerseits und Staat-Markt-intermediäre Organisationen andererseits) und abstrahiert bzw. gene107
Zum Freiwilligenengagement: Simonson u. a. (2022). Abt u. a. (2022). 109 Schulz-Nieswandt/Köstler (2011; 2012); Schulz-Nieswandt (2015c). 110 Raupp/Jarolimek/Schultz (2011); Dreesbach-Bundy/Scheck (2018). 111 Köstler (2018). 112 Hillebrandt (2016). 113 Dazu auch Schulz-Nieswandt (2011); Schulz-Nieswandt/Langenhorst (2015); SchulzNieswandt (2020d; 2020e); Schulz-Nieswandt u. a. (2018). 114 Schulz-Nieswandt (2019a); Schulz-Nieswandt/Micken/Moldenhauer (2023). 108
5. Organisationsdynamik
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ralisiert man die Sphäre der Wohlfahrtspflege zum Non-Profit-Sektor, so erhält man ein heute gängiges Vier-Sektoren-Modell der sozialen Wohlfahrtsproduktion, wobei in der graphischen Visualisierung der Dritte Sektor in der Mitte des Dreiecks zwischen Staat, Markt und Familie steht. Die Formen des Ehrenamts und des bürgerschaftlichen Engagements sind im Teilraum zwischen Familie und Drittem Sektor, quasi im Sozialraum (Kessl/Reutlinger, 2019) der nachbarschaftlichen Wohnumfelder des Wohnens (Köstler, 2020) zwischen Lokalität des Quartiers und der Regionalität relevanter Infrastruktur, gerade auch mit Blick auf die Thematik des Welfare-Mix-Arrangements (Ascoli/Ranci, 2002; Bode, 2012), angesiedelt, entweder in selbstorganisierter Selbstverwaltung relativ autonom außerhalb der organisierten Sorgearbeit oder unter Einbezug des organisierten Leistungsgeschehens (Weber, 2020) der Sozialwirtschaft. In der Dynamik der Sozialraumbildung und Sozialraumentwicklung geht es um Caring Community Building (Cnaan/Milofsky, 2019) im Sinne von lokalen, sorgenden Gemeinschaften (Schulz-Nieswandt, 2023g). Damit wird die Privatwelt der Familialität in häuslichen Kontexten überschritten. Und die Sorgearbeit wird zum Daseinsthema im hybriden Raum des nachbarschaftlichen Gemeindeordnungslebens der Quartiere im Sozialraum der Kommune als öffentlicher Raum der Polis. § 54 Funktionslogiken der Sektoren Die Logiken aller vier Sektoren sind nunmehr zu bestimmen. Offensichtlich muss es signifikante und die Multi-Sektoralität konstituierende Unterschiede in den jeweiligen Programmcodes als Funktionsgrammatik geben, sonst würde ja die analytische Sektoralisierung des Gesamtsystems klassifikatorisch keinen Sinn machen. § 55 Der Staat: Gewährleistungsrechtliche Herrschaft durch legitimes Gewaltmonopol und vertikale Reziprozität Der Staat wird über die Logik der (legitimen) Herrschaft mit Gewaltmonopol definiert und steht zur Gesellschaft der anderen drei Sektoren als Gewährleistungsstaat in Reziprozität und erfüllt als sozialer Rechtsstaat re-distributive und regulative Funktionen. § 56 Dritter Sektor der Sicherstellung Der Dritte Sektor als Mitte – auch als Dritter Weg (Schulz-Nieswandt, 2022a) der Gemeinwirtschaft zwischen Staat und kapitalistischer Marktwirtschaft zu denken – ist der Non-Profit-Bereich des Wirtschaftens, wie er weiter oben morphologisch skizziert worden ist. Der Dritte Sektor ist demnach in das regulative Regime des Staates – man denke an das Qualitätsmanagement, aber auch bereits an Zulassungsregelungen oder Anerkennungsmechanismen – eingefügt und auch in seiner Re-Finanzierung stark vom re-distributiven Sozialstaat als Gewährleistungsstaat im Zuge der Delegation öffentlich relevanter Aufgaben an den trägerpluralistischen Markt vergaberechtlich
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II. Dynamische Strukturanalyse
(obligatorischer Ausschreibungswettbewerb bzw. subsidiär nachrangige Ausnahmeregelung zum Betrauungsakt als marktorientierte Direktvergabe115) abhängig. § 57 Vertikale Reziprozität und Capability-Politik Die Reziprozität zwischen dem Staat und der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Sphären der Familie und des Marktes erfolgt als Austauschrelation zwischen Staatseinnahmen (Steuern, Gebühren, Sozialbeiträge, Staatsverschuldung) einerseits und Staatsausgaben im Rahmen eines sowohl wirtschafts- als auch sozialpolitischen Capability-Programms (von Amartya Sen, 2020 und Martha Nussbaum, 2015) gestaltender Gesellschaftspolitik (Förderung von Bildung, Ausbildung, Erziehung, Sozialisation im Sinne von Wissen und Kompetenzen als Humankapital und Daseinsbewältigungsressource sowie Bereitstellung von sozialen, politischen, wirtschaftlichen, technischen, kulturellen Infrastrukturen116, wobei die ideologische Differenz zu Programmideen einer „investiven Sozialpolitik“ des „enabling state“, eine neo-liberale Ideologie, die Eingang in die Modernisierung der Sozialdemokratie gewonnen hat, zu betonen ist) im Raum, dabei Fragen wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit im Anthropozän betreffend, andererseits. § 58 Rolle der Familie Die Familie in ihrem Formenspektrum ist eine primäre – von den Systemkontexten (Wirtschaft, Politik, Recht, Kultur) keineswegs unabhängige – Lebenswelt der bindungspsychologisch fassbaren formativen Phase der edukativen und sozialisatorischen Ontogenese (Schulz-Nieswandt, 2023c). Auch das Familienleben ist als eine Moralökonomik geprägt vom Prinzip der Reziprozität des Gebens und Nehmens, doch ist die Motivik anders als im Fall der Äquivalenztauschlogik des Marktes (Waren gegen Geld), die eine Welt der (fairen) Allokationseffizienz, in der keine negativen Externalitäten vorliegen, also sich kein Individuum (i) ursächlich dadurch im Wohlbefinden (W) besserstellt, dass es Dritte im Wohlbefinden schlechter stellt, sein soll. Eine Rawlsianische (Rawls, 2006; Frühbauer u. a., 2023) Selektion fairer Pareto-Lösungen würde darin bestehen, dass es zu gemeinsamen sozialen Besserstellungen (SW), also Win-Win-Sog-Effekten, kommt (Dethlefs, 2013): Es gilt, dann, dass @ SW=@ Wi > 0 ist f gr alle i ¼ 1 . . . : n: Dies kann man sozialstruktursoziologisch als „trickle-down“-Effekte ebenso analysieren und diskutieren wie wirtschafts- und sozialgeographisch als „spread“Effekte. Die Idee der universalistischen Inklusion, in der es – entgegen der Logik der Binärik von Identität/Alterität in der Systemtheorie – nur Insider und keine Outsider gibt, ist wissenschaftlich als Idealtypus zulässig und brauchbar. Das D zur ge115 116
Schulz-Nieswandt (2013a). Foundational Economy Collective (2019).
5. Organisationsdynamik
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schichtlichen Wirklichkeit ist so zu vermessen. Es wäre eine ideale Welt, in der es einen Fortschritt der sozialen Freiheit ohne negative Externalitäten als Rawlsianische Teilmenge aller möglichen Pareto-superioren Lösungen der Lebenslagen-bezogenen Allokationsgerechtigkeit (damit das marktökonomische Modellkonstrukt der strikten Trennung von Allokation und Verteilung, von Effizienz und sozialer Politik unterlaufend bzw. übersteigend) gäbe. In diesem Lichte wäre als Minimierung der Differenz (D) zwischen Idealtypus und Faktizität sozialer Wirklichkeit die klassische utilitaristische Formel von der Maximierung des Glücks (Henning/Thomä/Mitscherlich-Schönherr, 2011) der größten Zahl des Definitionsuniversalismus der Gesellschaftsmitglieder zulässig, wenn die Konstruktion der Glücks-Semantik G ¼ G ð.Þ zunächst offen ist, und sodann bestimmt wird in der Dialogizität117 einer optimal funktionsfähigen Kommunikationsgemeinschaft deliberativer Demokratie (dD) (sozialkonstruktiv generativer Mechanismen der post-paternalistischen Meritorik [genM]118) auf der transzendentalen Grundlage der menschenrechtskonventionellen Würde der Person und ihrer Grundrechte. Ohne eine Berücksichtigung der Verankerung der metaphysischen Voraussetzung des interaktiven Umgangs im Lichte der respektvollen Achtung in der Tiefe der psychischen Arbeitsorganisation kommt die Idee einer idealen Kommunikationsgemeinschaft nicht – hier entgegen Habermas argumentierend – aus (Bertschinger, 2019). Wir stören uns hier an dem reinen Aushandlungsbegriff, der uns zu vertragstheoretisch und rationalistisch klingt, und der die transzendentale Voraussetzung einer kollektiv geteilten Idee übergeht, eine Idee – vor allem die der „Sakralität der Personalität des Menschen“ als Naturecht der „inherent dignity“ – die, folgen wir Hannah Arendt, Martha Nussbaum u. a., nicht ohne inkorporierte Leidenschaft (Manemann, 2019) denkbar ist (Schulz-Nieswandt, 2022b). Eine vorläufige Verständigung zur Lösung der „offenen Schließung der Öffnung“ von G ist die Einschreibung des Konstrukts der Lebensqualität (LQ): G ¼ G ðLQ ½
genM=dDÞ:
Der Fortschritt der sozialen Wohlfahrt (sozW) als Miteinanderfreiheit und Miteinanderverantwortung (gemäß Art. 2 GG) – und dies auch in einem trans-generationellen Sinne (Neuberger, 2015) – wäre dann definiert als @ sozW=@ Gi ¼ 1 . . . n > 0 f gr alle i: Hier stimmt die demokratietheoretische Formel „Der Wille muss gebildet werden!“. Der volonté générale ist also nicht die additionslogische Aggregierung privater Interessen119 des Besitzrechtsindividualismus, gegen den sich die Gemein117
Zur Mikropolitikebene am Beispiel der Unterinanspruchnahme: Eckhardt (2022). Schulz-Nieswandt (2022bc; 2022e). 119 Lau/Reinhardt/Voigt (2018); Nida-Rümelin (1999). 118
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II. Dynamische Strukturanalyse
wohlidee der Gemeinwirtschaftslehre von Theo Thiemeyer gewendet hatte (Thiemeyer, 1970), sondern eine dialogische Syntheseleistung mit Fundamentalwerteorientierter Verankerung (Tiedemann, 2021). § 59 Bedeutung der Moralökonomik Unter Moralökonomik (Carrier, 2018; Götz, 2015) verstehen wir – ohne auf die auf proletarische Solidarstrukturen abstellenden sozialgeschichtlichen Forschungen und auf die auf Solidaritätskulturen in ländlichen Dorfstrukturen abstellenden ethnologischen Forschungen, die dieses Konzept der Moral Economy kreiert haben, einzugehen – die Praxis solidarischer Ressourcenströme in sozialen Beziehungen, die aus Motiven sozialer Verbundenheit (Liebe, Freundschaft, Pflicht, Tradition, Altruismus, Wohltätigkeit etc.120) heraus zu verstehen sind. Die Differenz zur individuellen Nutzenmaximierung, die als Verstiegenheit des Ego-zentrierten homo oeconomicus (Vogl, 2002) schon die aristotelische Philosophie als Neoplexia des homo clausus kritisiert hat und sich zu Persönlichkeitsstörungen der Gefühlsblindheit (Alexithymie) oder gar zur Ich-Anachorese entwickeln kann (Schulz-Nieswandt, 2022a), ist evident. § 60 Solidarische Gabe und Reziprozität Es liegen also verschiedene Logiken der Reziprozität vor. Die solidarische Gabe (Schulz-Nieswandt, 2023a) konstituiert eine gewollte re-distributive Reziprozität zwischen Netto-Nehmerschaft und Netto-Geberschaft. Die Beziehung ist demnach eine gewollte Asymmetrie in der Allokationsbilanz der relationalen Wohlstandspositionen. Sie kann sich als responsive Gabe (Schulz-Nieswandt, 2023a) aus der Haltung der respektvollen Achtung des Gegeben-Seins des mitmenschlichen Anderen als dessen Anerkennung erweisen. § 61 Netzwerkanalyse Skaliert man diese mikrologische Situation einer dialogischen Dyade der umkehrungsfähigen Relation von Ich und Du auf dem Weg zum nicht-kollektivistischen „Wir“ (Manemann, 2019; Hark, 2021) hoch zu komplexen Netzwerkstrukturen, so handelt es sich um kollektive121 Risiko-Sorge-Gemeinschaften auf mutualistischer (Van Leeuwen, 2016) Grundlage.122 In den Strong Ties-Netzwerken von Sozietäten (die Dichotomie von Gemeinschaft versus Gesellschaft begrifflich damit meidend) mit ihren kollektiv geteilten Ideen in den Wachstumsringen der Stufen primärer, sekundärer und tertiärer Netzwerke (Stegbauer/Häußling, 2011) kann man den idealtypologischen Gegenpol zu Weak Ties-Netzwerken von strategischer Allianz erkennen. Bewirken Ideen-orientierte Netzwerke der Solidarität inkludierende 120
Wiepkin/Handy (2015). Delitz (2018); Gloy (2009); Falb (2015). 122 Zum geschichtlichen Zusammenhang von Gilden und Versicherungswesen Hellwege (2020b). 121
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konzentrische Kreise positiver Externalitäten, besteht in Interessen-orientierten Weak Ties-Netzwerken immer das Risiko negativer Externalitäten infolge strategischer Rationalität von Winner-Positionen der Allokationsbilanz gegenüber LoserPositionen der Spielkonstellationen. Solidarische Netzwerke der komplexen Reziprozitätskristallgitter haben das Problem nicht-kontraktueller Voraussetzungen gesellschaftlicher Vertragsverständigungen in der apriorischen Anerkennung der Sakralität der Personalität (Schulz-Nieswandt, 2017b) gelöst. § 62 Äquivalenzlogik: Tausch im fairen Markt Die unbedingte Solidarität einer opferbereiten Gabe als Grundlage einer asymmetrischen Prosozialität ist der Kern einer Sachziel-dominierten Bedarfsdeckungswirtschaft. Die kalkulatorische Haltung der bilanzierenden Balance-Ökonomik der Äquivalenz von Geben und Nehmen ist idealtypisch der gleichgewichtsepistemische Programmcode eines fairen Marktes. Der Markt wird hier in seiner kapitalistischen Logik als Sektor der Privaterwerbswirtschaft verstanden. Auch hier sind interne Milieudifferenzierungen zu beachten, nicht nur nach Branchen und Wirtschaftssektoren (primärer, sekundärer123 und tertiärer Art124), sondern auch nach Größe, Rechtsform und Eigentumsmodi, Grad der Regionalisierung oder Internationalisierung etc. Die Herausbildung von CSR- und CC-Strategien ist ebenfalls zu beachten. § 63 Äquivalentgerechtigkeit in der sozialen Sicherung Äquivalenzgerechtigkeit kennt der deutsche Typus des Sozialstaates aber auch in der Arbeitslosigkeitsversicherung und als kollektive Teilhabeäquivalenzgerechtigkeit in der Gesetzlichen Alterssicherung (Bode/Wilke, 2014). Doch auch hier wirken (bedingte) existenzielle Grundeinkommensregelungen – bei denen (Heinze/Schupp, 2022) man hinschauen muss, für welches gesamtgesellschaftliche Modell sie als Ermöglichungs-Fundierung gelten sollen – modifizierend ein. § 64 Zwischenfazit: Die Klassifikation des Mainstream-Denkens Das ist der übliche Stand der klassifikatorischen Erschließung der Wirklichkeit als Mainstream125. Demnach kristallisieren sich morphologisch verschiedene analytisch unterscheidbare Teilräume der Wohlfahrtsproduktion heraus. Demarkationslinien sind (1) GW (als Funktion der SZ-Dominanz) und PW (als Funktion der FZ-Dominanz), (2) öffentliche versus private Sphären, (3) informelle oder formelle Art der Ressourcen als Funktion der Professionalität des Handelns. Dieses Mainstream-
123
Raphael (2021). Siebel/Häußermann (1995). 125 So auch Schulz-Nieswandt (2008); kritischer dann: Schulz-Nieswandt (2018d). In der 2023 anstehenden Aufl. von Schulz-Nieswandt (2018e) werden entsprechende Revisionen vorgenommen. 124
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II. Dynamische Strukturanalyse
Modell ist nun nicht nur in Bezug auf die Grenzen der Brauchbarkeit, sondern auch in Bezug auf schwerwiegende topologische Probleme zu beleuchten. § 65 Dynamik der Komplexmodelle Herauszuheben ist das Problem, dass der Dritte Sektor Teil der Marktwettbewerbsgeschehensordnung ist. So gesehen ist der Dritte Sektor kein wirklich eigener Sektor in der virtuellen Mitte der graphischen Konstruktion, sondern Teil des Marktes als Eckpunktteil des Dreiecks. § 66 Trägerpluralismus Genau dieser Markt ist trägerpluralistisch geprägt von öffentlichen, freigemeinwirtschaftlichen und erwerbswirtschaftlichen Unternehmungen, wobei den Genossenschaften (schon im Lichte des Draheim-Theorems, wonach Genossenschaften sowohl Personalverbände sozialer Gesellung als auch wirtschaftlich Zweckbetriebe sind126) ein hybrider Charakter zukommt. Sie sind nach § 1 GenG primär mitgliedschaftliche Fördergebilde, können aber auch gemeinnützig dominant die Lebenslage Dritter fördern. Außerdem können sie trotz der Dominanz der Förderwirtschaftlichkeit auch z. B. regionale Förderwirkkreise (Martignoni, 2022) im Sinne einer Stakeholder-Ethik des Wirtschaftens127 sein. Nochmals sei die Diffusion der Genossenschaftsform in neue soziale und kulturelle Felder angeführt, auch die Nutzung der Genossenschaftsidee als Dachorganisationsform von Netzwerken etc. § 67 Hybride Übergangsräume Man könnte auch verschiedene Cluster als teilräumliche Orte des flexiblen Übergangs in einem Vier-Sektoren-Modell (A: Staat, B: Markt, C: Familie und in der Mitte des Dreiecks der 3. Sektor als D), auf das die Abhandlung noch intensiver zurückkommt, differenzieren: (1) Das Wirken der Öffentlichen Unternehmen im Rahmen Sachziel-dominanter Daseinsvorsorge als Gemeinwirtschaft im Übergangsraum zwischen A und D. (2) Das Wirken von Widmungswirtschaftlichen Unternehmen als Privatwirtschaft in freier Selbstbindung (Heidenreich, 2023) im Übergangsraum von B und D. (3) Das Wirken informeller Selbsthilfegebilde der Mutualität in Selberverwaltung im Übergangsraum von C und D.
Kopplungspartner dieser Gebilde ist immer D und differenziert sich in die zonalen Hybride AD, BD und CD. § 68 Mimikry-Formen von hybriden Dynamiken Mit Blick auf die methodologisch wichtige Differenz zwischen Idealtypus und Empirie ist es wichtig, die fluiden Übergangsräume im Lichte der Zuspitzung des 126 127
Blome-Drees (2022). Zur Kernidee: Schulz-Nieswandt (2015a).
5. Organisationsdynamik
73
Idealtypus zu vermessen. So kann (1) eine soziale Orientierung eines privaterwerbswirtschaftlichen Unternehmens nur eine oberflächliche Makulatur sein, die nicht den eigenständigen Wert einer ornamentalen Form aufweist. Das mag für eine Kapitalismuskritik nicht allzu überraschend sein. Aber auch eine Werte-orientierte gemeinnützige Organisation mit Sachziel-Dominanz kann (2) im Sinne einer den Wesenskern mutierenden Metamorphose eine verhaltenswirksame Sinntransformation erleiden, sodass das Motto „Der Mensch steht bei uns im Mittelpunkt“ zur Maskerade wird. Verhaltenswissenschaftlich, wenn wir in die Lehre von den Mimikry-Strategien eintauchen, handelt es sich um zwei Formen von Positiverzählungs-Täuschungen. Einerseits wird eine Wirtschaftsmoral-Verbesserungs-Erzählung als Täuschung der Umwelt vorgespielt, andererseits eine Wirtschaftsmoral-Verschlechterung als Täuschungs-Erzählung verschleiert. Hier wird vernebelt, dort verblendet. Die Verbesserungs-Mimikry ist Praxis einer performativen Erscheinung als reiner Schein; die Verschlechterungs-Mimikry ist eine Positiverzählung der Kontinuität der institutionellen Identität trotz endogenem Wesenswandel. Wir bewegen uns mit diesen Sprachspielen in der dynamischen Prozessanalyse im Sinne einer phänomenologischen Hermeneutik von Institutionen. Diese ist eine hylemorphe Betrachtung von Tiefenkernen und Oberflächen, die jeweils Täuschungen sind: Täuschungen über angebliche Verbesserungen und Täuschungen über verborgene Verschlechterungen als angebliche Wesenskontinuität. § 69 Möglichkeit der Gemeinnützigkeit aller Rechtsformen Insgesamt gesehen sind alle gemeinwirtschaftlichen und privatwirtschaftlichen Organisationen oder Unternehmen in der Rechtsform der Gemeinnützigkeit möglich (GmbH, AG, Stiftungen etc.). Hier kann man erkennen, dass mittels der Rechtsformenbindung eine Skriptsteuerung als Verhaltenscodierung erfolgen kann und die Kultur der Gewinnentstehung und der Gewinnverwendung im Sinne einer Ertragspraxis möglich wird. § 70 Staatskapitalistische Fiskalunternehmen Öffentliche Unternehmen als gemeinwirtschaftliche Instrumente der Daseinsvorsorge im sozialen Bundesstaat können aber auch zu staatskapitalistischen Fiskalunternehmen mutieren oder als solche intentional gegründet werden. Insofern ist sogar die sektorale Differenz zwischen Staat und Markt problematisch. Die damit verbundenen Staatseinnahmen überschreiten dabei die üblichen Kanäle der Finanzierung von re-distributiven Staatstätigkeiten. § 71 Instrumentalfunktion, formale Privatisierung und „genossenschaftliche Herrschaft“ Dies gilt – Otto von Gierke (Schulz-Nieswandt, 2003) sprach hier von „genossenschaftlicher Herrschaft“, damit die Theorie der Instrumentalfunktion (abstellend auf nicht-staatliche Akteure als Instrumente staatlicher Politik als Form formaler,
74
II. Dynamische Strukturanalyse
aber nicht materialer Privatisierung als Strategie des Gewährleistungsstaates zur Sicherstellung durch Delegation der Erledigung öffentlicher oder öffentlich relevanter Aufgaben128) und auch die in diesem Sinne keineswegs neuartige Diskussion über öffentlich-private Partnerschaften (Schäfer/Rethmann, 2020) oder andere Formen der Gemischtwirtschaftlichkeit vorwegnehmend – auch dort, wo öffentlichrechtliche Selbstverwaltungen (wie im SGB V-Feld) trotz ihrer Staatsmittelbarkeit in eine mehr oder weniger solidarische Wettbewerbsordnung129 eingestellt sind (vgl. auch Schulz-Nieswandt, 2023d130). Dies gilt ebenso für die neure Entwicklung der Hochschule als Unternehmen im internationalisierten Wettbewerb in Lehre, Forschung und Transfer, mitunter als akademischer Kapitalismus und Neo-Liberalisierung der internen Governance-Kultur kritisch problematisiert (Schulz-Nieswandt, 2022d). § 72 Dualität von Gemeinwirtschaft und Privatwirtschaft Will man ein vorläufiges Fazit mit Blick auf die ordnungspolitischen Klassifikationsmodelle ziehen, so wäre es besser, die duale Struktur (Schulz-Nieswandt, 2021a) zwischen Sachziel-dominanter Gemeinwirtschaft (SZ) und Formalziel-dominanter Privatwirtschaft (FZ) mit jeweilig möglichem Trägerpluralismus zu diskutieren. Demnach gebe es öffentliche, freigemeinwirtschaftliche, genossenschaftliche und sonstige privatwirtschaftliche Träger der Sachziel-dominierten Gemeinwirtschaft einerseits und öffentliche, genossenschaftliche und privaterwerbwirtschaftliche Träger der Formalziel-dominierten Privatwirtschaft andererseits. § 73 Anthropologische Bedeutung der Familie Diese Dualität steht wiederum in einer Dreiecksbeziehung zur Familie als „mutationsfähige, nicht-autonome Keimzelle“ der Generierung des Humankapitals (in Interdependenz zum Schulsystem und zu weiteren Sozialisationsagenturen) für die Wirtschaft und als „mutationsfähige, nicht-autonome Keimzelle“ der Generie128
Vaske (2016). Schulz-Nieswandt (2023d); Schulz-Nieswandt (2010a; 2023c). 130 Was wird in Schulz-Nieswandt (2023d) argumentiert? Der soziale Wandel der Bevölkerungsstruktur erfordert eine neue Art von systemisch denkenden sowie multidimensional achtsam-sensiblen Versorgungsformen im Sinne einer multidisziplinären sowie transsektoral integrierten und quartiersbezogenen, lebenslagenorientierten Organisationskultur in Verbindung mit einer demokratisierten Arbeitsorganisation mit flachen Hierarchien, die eher als hybride Art (nach herkömmlichen Vorbildern weder ambulant noch stationär) aufgestellt sind. Die Realgeschichte der Umsetzung des § 140a-h, sodann 140a-d und heute 140a SGB V erweist sich ein als weitgehend gescheiterter Traum, der auf die endogene Selbstblockade der Politischen Ökonomik der Systempfadabhängigkeit verweist und als Problem der kulturellen Grammatik des medizinisch-technischen Komplexes und der psychodynamischen Unfähigkeit zur Selbsttranszendenz der habituell unbeweglichen Professionen verstanden werden muss. Die Politik betreibt sodann im Kontext der gemeinsamen Selbstverwaltung eine symbolische Politik des Integrationsfonds als sektorales Beispiel der Tradition des Rheinischen Kapitalismus des Neo-Korporatismus, wonach sich die ornamentale Makulatur sich dergestalt ändert, dass die soziale Wirklichkeit in ihrer wesentlichen Tiefenstruktur unverändert bleibt. 129
5. Organisationsdynamik
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rung von empathischer Prosozialität für die deliberative Zivilgesellschaft. Aber auch als transzendentale Voraussetzung des sozialen Rechtsstaates im Lichte seiner naturrechtlichen Axiomatik der personalen Würde in der Praxis der respektvollen Achtung des Anderen in der Reziprozität der Subjekte in der Rolle des Mitmenschen, der ex definitione die dialektische Einheit von Identität und Alterität als Teil der conditio humana inkorporiert (Schulz-Nieswandt, 2022b; 2023a), hat sie ihre Bedeutung. Die Familie in diesem Kontext ist eine primäre Erlebniserfahrungswelt für intergenerationelle Allokationsgerechtigkeit, dies aber auch im Modus des Scheiterns im Kontext der Prekarität des Kindeswohls. Man wird sich klarmachen müssen (Schulz-Nieswandt, 2017b), worum es hier – in der Idee der Paideia als Charakter-generierende edukative Praxis im Oikos der Polis in der modernen Gesellschaft – geht. Was Durkheim (1977) bereits in seiner klassischen Soziologie in Bezug auf die Kohäsion arbeitsteiliger Tauschgesellschaften als nicht-vertragliche Grundlagen der Vertragsgesellschaft – die Kategorie „Zusammenhalt“ wird in der neueren Sozialtheorie (Moffett, 2019) breit erörtert, ebenso wie es zu einer gewissen Thematisierungsdynamik zum Themenkreis „Daseinsvorsorge und räumliche Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ in der Fachliteratur (Kersten/Neu/Vogel, 2022), beides ist von Frank Schulz-Nieswandt in neueren Publikationen erörtert worden, soll aber hier nicht nochmals aufgegriffen, dokumentiert und diskutiert werden, gekommen ist – beschrieben hat, hat der Verfassungsrechtler Böckenförde (als sog. Böckenförde-Diktum) so formuliert, dass der Staat nicht aus sich heraus seine normativen Grundlagen generieren kann, sondern darauf angewiesen ist, dass die Zivilgesellschaft – quasi als Humus (Röpke, 2021) – diese staatsbürgerlichen Tugenden (Halbig/Timmermann, 2021; Runge, 2023) als moralische Grundlage der gesellschaftlichen Kohäsion, die man nicht – entgegen Stein (2007) argumentierend – zwingend als „verborgene Theologie“ (Hoye, 2018) des säkularen Staates (Böhr, 2016) de-chiffrieren muss, generiert (Böckenförde, 1976). Wo sind die hierzu in effektiver und nachhaltiger Weise fähigen Agenturen der Paideia als Bildung von sittlichen Tugenden (Hähnel, Martin, 2015)? § 74 Exploitatives Nehmen Ein Thema in der Gewebestruktur der sektoralen Reziprozitätsmechanismen sind die Phänomene von Moral Hazard (im Versicherungswesen) und Free-Rider (im Kontext öffentlicher Güter). Hierbei geht es um die Problematisierung der Paretoinferioren exploitativen Nehmerschaft auf Kosten Dritter, die im zweckrationalen Strategiekalkül der Akteure, im Sinne einer Ego-zentrierten Nutzenmaximierung, in anonymen Großgruppen angelegt und typisch für Konstellationen nicht hinreichend spezifizierter Eigentumsrechte (Tragödie der Allmende) ist und nur über Anreize (Regime der Verhaltensregulierung) oder Zwänge (Gewalt des Staates als Leviathan) behoben werden könnte. Die neuere (ideen- wie realgeschichtlich jedoch schon alte) Problematik der Gemeingüter (Commons) wirft hier mit Blick auf Modelle der Multi-Sektoralität
76
II. Dynamische Strukturanalyse
nochmals weitere Klassifikationsprobleme der analytischen sozialgeometrischen Sektor-Topologie der Wirklichkeit auf. § 75 Commons-Modelle: Formen und topologische Probleme Die in der Tradition reiner öffentlicher Güter bzw. begrenzter Kollektivgüter stehende Debatte der freien Gemeingüter betrifft natürliche wie artifizielle Gemeingüter. Das Thema der Commons131 soll und kann hier nicht vollumfänglich – u. a. in Bezug auf die Gemeinwohlökonomie (im Sinne der Theoriebildung von Christian Felber, 2018) – entfaltet werden. Auf Elinor Ostrom (2022) aufbauend ist der Beitrag von Silke Helfrich132 zu betonen. § 76 Organisationstypen (Wirtschaftsorganisationrecht der Commons) Relevant ist die Frage, wo derartige Gemeingüter überhaupt in solche MultiSektoren-Modelle der sozialen Wohlfahrtsproduktion typologisch und topologisch positional eingebaut werden können. Denn es gibt verschiedene Spielarten. So gibt es (1) Markt-orientierte Sharing-Modelle, (2) mehr oder weniger offene genossenschaftliche Organisationen der Bereitstellung und Nutzung im Identitätsprinzip von Eigentümerschaft und Nutzerschaft im Modus der bürgerschaftlichen Selbstverwaltung und (3) staatlich sichergestellte öffentliche Güter. Die Commons sind also im Mainstream-Modell der Vier-Sektoren-Theorie der Wohlfahrtsproduktion unterschiedlichen Teilräumen zuzuordnen. Offensichtlich sind die Ausprägungen der Merkmale der Konstrukte des Universalismus in der freien Zugänglichkeit und der Dekommodifikation im Sinne der unbedingten Anspruchsberechtigung in Unabhängigkeit von der Marktposition. § 77 Commons in Transgressionszonen im Mehr-Sektoren-Modell Die Commons könnten (1) in der transgressiven Zone AB als Sharing-Ökonomie zwischen Staat (A) und For-Profit-Markt der PW (B) angesiedelt sein. Der Staat würde regulierend die marktorientierte Sharing-Ökonomie fördern. Die Commons könnten (2) als öffentliche Güter in der transgressiven Zone AC zwischen Staat (A) und Familie (C) angesiedelt sein und somit Commons als reine öffentliche Güter für alle Bürger:innen, repräsentiert durch ihre Familien bzw. ihren anderen privaten Lebensführungsformen, darstellen. Und die Commons könnten (3) in der transgressiven Zone (BD) von B und D als genossenschaftliche Plattformen, als Hybride zwischen der Logik des Dritten Sektors (D) und den Förderwirtschaftlichen Genossenschaften als Teil des Marktes der PW (B) angesiedelt sein.
131 132
Micken/Moldenhauer (2021); Schulz-Nieswandt/Micken/Moldenhauer (2023). Helfrich/Heinrich-Böll-Stiftung (2014); Schulz-Nieswandt u. a. (2022).
III. Ausgänge zwischen Rückblick und Ausblick Das Fazit (Kapitel 1) ist ein Rückblick auf die Argumentationslandschaft der vorliegenden Abhandlung. Kapitel 2 dieses Teils wendet den Blick nach Vorne und stellt einen Ausblick dar. Es wäre aber keine dialektische Architektur der Abhandlung, wenn Kapitel 2 nicht endogen aus Kapitel 1 hervorgehen würde. Dennoch kommt die Abhandlung erst mit Kapitel 3 zum Abschluss, denn die herleitenden Argumentationen kommen nie zum Ende. Und so reflektieren wir hier nochmals die Idee der Kritischen Theorie als Figur, die diese endogene Dialektik zu fundieren hat. Erneut wird deutlich, wie wir uns an der Gründergeneration der Kritischen Theorie orientieren und uns nicht dem Wechsel zur Generation von Jürgen Habermas und Axel Honneth anschließen können. Nicht, dass man nicht auch an jüngste Denkbeiträge – wie im Werk bei Christoph Menke – anknüpfen kann. Manch eigenständige Fluchtpunkte finden sich auch bei Rainer Forst und bei Rahel Jaeggi. Aber die Analyse knüpft die Rückgriffe auf Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sowie an Ernst Bloch durch den Filter neuerer Beiträge zur Notwendigkeit einer modernen Metaphysik, die vor allem als Fundierung der Rechtsphilosophie und Ethik des sozialen Rechtsstaates und in der Tradition des Personalismus eben auch des Form-Prinzips der Genossenschaftsidee dienen muss.
1. Fazit Im Fazit geht es rückblickend um die Bestimmung der Positionierung des Dritten Sektors im Kapitalismus und außerhalb des kapitalistischen Marktes sowie um die Commons als Gemeinwohlökonomie. Die Wirtschaftsorganisationslehre hat sich im Lichte der Dritten-Sektor-Forschung fruchtbar differenziert. Die bipolare Welt von Staat versus Markt hat sich differenziert. Dabei erweist sich ein morphologischer Ansatz zur Analyse der wirtschaftlichen Sozialgebilde zwischen Hermeneutik und Strukturalismus als fruchtbar. Mit Schnittbereichen zur Wirtschafts- und Unternehmensethik hat sich das Verständnis der Heterogenität der kulturellen Logik des Wirtschaftens praxeologisch differenziert. § 78 Der Dritte Sektor als Teil des Marktwettbewerbs Dennoch bedürfen die Modelle zur topologischen Klassifikation der Wirklichkeit einer Weiterentwicklung, weil sich die differenzierenden Komplexitäten mit zu einfach gestrickten und entsprechend visualisierten Klassifikationsschemata nicht
78
III. Ausgänge zwischen Rückblick und Ausblick
erfassen lassen. Als Hauptproblem erweist sich die Gegenüberstellung von Drittem Sektor und Markt, weil die Non-Profit-Organisationen im Zuge der Betonung der Gewährleistungsstaatlichkeit in Abgrenzung zur Sicherstellung regulierte QuasiMärkte im Trägerpluralismus präferieren. § 79 Schutz des Dritten Sektors vor dem kapitalistischen Markt Neuere Reformdiskussionen einiger themenfeldspezifischer Kardinalfragen133 diskutieren die Möglichkeit eines transformativen Rechts, das eine Gemeinwohlökonomik freigemeinnütziger Gemeinwirtschaftlichkeit stärker vor dem wettbewerblich induzierten Korruptionsdruck des kapitalistischen Geistes schützen soll. Dabei wird mit Blick auf diese, auf Hegemonie abstellenden, Diskursformationen die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Methodologie der Methoden der Wirkungsmessungen von gemeinwohlökonomischen Formen alternativen Wirtschaftens (Maier/Simsa, 2019; Wolf, 2019) immer wichtiger. Dabei sollte die Kosten-Effektivität im Kontext des sozialen Rechnungswesens und der erweiterten Perspektivität des Werte-orientierten Controllings als Bausteine der politischen Theorie der strategischen Geschäftsmodelle (Thimm, 2021) des gemeinwirtschaftlichen Handelns auf signifikante epistemische Differenzen zur Formalziel-Effizienz des kapitalistischen Wirtschaftens verweisen. § 80 Commons als Fremdkörper der Multi-Sektor-Modell-Bildungen? Auch die neuere Commons-Debatte wirft Fragen auf, wie freie öffentliche Güter wirtschaftsorganisationsrechtlich ermöglicht und in Modellen der Multi-Sektoralität der Logiken des Wirtschaftens positioniert werden können. § 81 Gemeinwohlökonomie als Miteinander-Wirtschaften Betrachtet man das ganze Thema rechtsphilosophisch aus der Sicht einer umfassenden Idee der Daseinsvorsorge als Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung, so wird evident, wie die Idee des Sozialraums unter Einbezug der Zivilgesellschaft in politischer wie gemeinwohlwirtschaftlicher Hinsicht zum Brennpunkt humangerechter Innovativität von wirtschaftskulturellen Transformationen wird (Schulz-Nieswandt, 2023g).
2. Ausblick Der Ausblick skizziert den Bedarf eines transformativen Wirtschaftsordnungsrechts und die Pädagogik der charaktertugendlichen Wirtschaftsgesinnung. Es geht in vorliegenden Abhandlung mit Blick auf die Limitationen durch das Europäische Wettbewerbsrecht um die Frage nach den Möglichkeiten, gemeinwirtschaftliches Handeln gegenüber privatwirtschaftlichem For-Profit-Handeln im 133
Schulz-Nieswandt (2020a); Schulz-Nieswandt (2021d).
2. Ausblick
79
Sozialsektor zu bevorzugen. Dies wäre eine Ordnungsneuauslegung des Subsidiaritätsdenkens mit Blick auf den marktliberalen Gleichbehandlungsgrundsatz. Es geht also um höchst kontroverse verfassungsrechtliche Fragen zur Revision des Europäischen Sozialmodells im Bereich der grundrechtlich garantierten Dienstleistungen von allgemeinem Interesse im Sinne der Daseinsvorsorge. Mit anderen Worten: Es geht um eine Vision einer neuen Kultur des Wirtschaftens, hier nun bezogen auf die Care-Felder und mit Bezug auf die Vulnerabilität des höheren Alters als Grundlage einer Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung (Schulz-Nieswandt, 2022c). § 82 Die Wege in die wirtschaftsorganisationsrechtliche Sackgasse Es geht um die Frage der moralökonomischen und sozialökonomischen Voraussetzungen und Bedingungen eines „guten Lebens“ im Alter(n). Wir stellen hier weniger auf die sekundären verteilungspolitischen Fragen, sondern mehr auf die produktionspolitischen Fragen der Gewährleistung und Sicherstellung der sozialen Infrastruktur für ein gutes Altern in der „Polis“ der Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung ab. Die bundesdeutsche Situation, beherrscht von etablierten Interessen und von Gegenwarts-fokussierten Blickverengungen („Myopie“) in der Präferenzbildung, ist in einer gewissen ideenpolitischen Sackgasse. Infolge (1) der inneren „nationalen Modernisierung“ im Lichte „Neuer Steuerung“ und von „New Public Management“ und (korrelativ dazu) infolge (2) der externen europapolitischen und europarechtlichen „Modernisierung“ im Sinne der angeblich alternativlosen, anreizkompatiblen wettbewerblichen Marktöffnung steckt die Gemeinwirtschaft in der Zwangsjacke des Trägerpluralismus freier und privatwirtschaftlicher Leistungsanbieter sowie der nachrangigen öffentlichen Träger – eine verkorkste Konstellation eng ausgelegter vertikaler und horizontaler Subsidiarität – im wettbewerblichen Markt. Indikator dieser Entwicklung ist die diskursive Dominanz von schillernden Begriffen wie „Sozialwirtschaft“ oder „Sozialunternehmen“ (Grohs/Schneiders/Heinze, 2014). Ist hier noch Gemeinwirtschaft gemeint oder Privatwirtschaft mit angehangener sozialer Verantwortung (CRS) und bürgerschaftlichem Unternehmensengagement (CC), aber jenseits des For-Profit-Kerngeschäfts? CSR und CC der sozialwirtschaftlichen Unternehmungen sind pseudo-irenische Formeln, versprechen integrative Konsenslösungen, wo tatsächlich der Bedarfswirtschaft unbedingter Solidarität verloren geht. Das betrifft einerseits die auf den „Sinn“ abstellenden Gebildemorphologischen Blickverengungen in der kommunalen Daseinsvorsorge, andererseits aber auch die organisationskulturelle und strategiephilosophische Krise der freien Wohlfahrtspflege zwischen der ambivalenten Tradition des konservativen Paternalismus auf der einen und dem hegemonialen ideologischen Markt-Ökonomismus auf der anderen Seite. Dies hat zur Folge, dass unter Effizienz (im Rahmen eines unpolitischen technischen Controlling-Verständnisses) nur noch Wirtschaftlichkeit im Sinne von Kostenreduktionseffizienz und nicht mehr Ziel-orientierte Kosten-Effektivität als Gestaltung der Care-Kultur (Wendt, 2021) der Daseinsgestaltung (Wendt, 2022) verstanden wird.
80
III. Ausgänge zwischen Rückblick und Ausblick
Wir benötigen – zumindest in Infrastrukturbereichen von Gütern und Dienstleistungen im Sinne öffentlicher oder zumindest öffentlich relevanter Güter – neben der Privatwirtschaft und ihrem Pneuma des kapitalistischen Geistes wieder originäre Gemeinwohlorientierung durch gemeinwirtschaftliches Handeln in öffentlicher und freier, dabei auch in genossenschaftlicher Form. § 83 Superiorität der Non-Profit-Unternehmen in der stationären Langzeitpflege? Es kann hier134 nur grob paraphasierend eine Antwortrichtung angeboten werden (Schulz-Nieswandt/Thimm, 2023135). Die internationale Studienlage ist nicht sehr gut. Es gibt nicht sehr viele Studien, vor allem nur wenige, die methodologisch mit Blick auf das Design gut oder sogar sehr gut sind. Einerseits ist also die Evidenz problematisch. Andererseits gibt es demnach auch keine hinreichend validierbare Plausibilität für die Politik der Privatisierung. In diesem Rahmen sprechen einige Studien – übrigens auch mit Blick auf das Krisenmanagement in der Corona-Krise – dafür, dass die Non-Profit-Unternehmen mit Blick auf Parameter des Konstrukts der Lebensqualität im Durchschnitt besser sind als For-Profit-Unternehmen. Die Heterogenität im Gruppenvergleich ist allerdings hoch. § 84 Politik, Moral und Recht Es ist eine alte wirtschaftsliberale Tradition, die freie Marktwirtschaft als die beste Gemeinwirtschaft zu verstehen, weil sie ja den Konsumbedürfnissen der Bevölkerung gerecht wird. Die Frage der verteilungspolitischen Voraussetzungen dieser Konsumgüterbefriedigung wird dabei dezisionistisch oftmals immer noch (1) der „reinen“, im Modus der Wertfreiheit maskierten Ökonomie (Jäger, 1999), die nicht widerspruchsfrei in die gesellschaftsgestaltende Politik zu integrieren ist und (2) der normativen Moral zugeordnet. Beide Sphären der Zuordnung (Politik und Moral)
134
Zum Hintergrund: Schulz-Nieswandt (2021e; 2020f; 2023e). Die Studie Schulz-Nieswandt/Thimm (2023) behandelt am Beispiel der stationären Langzeitpflege in Deutschland die Frage der Entwicklungschancen des Dritten Sektors im wirtschaftsorganisationsrechtlichen Kontext des Europäischen Sozialmodells der gewährleistungsstaatlichen Delegation von Daseinsvorsorgeaufgaben an einen trägerpluralistischen regulierten Quasi-Markt. Die Analyse ist interdisziplinär orientiert und folgt einer Mehr-Ebenen-Differenzierung. Rechtsphilosophische Fundierungen einer Ethik des Sektors ermöglichen einen Soll-Ist-Vergleich und problematisieren die Frage, ob und inwieweit Non-ProfitOrganisationen im Durchschnitt, aber verbunden mit einer gewissen Heterogenität in der sozialen Wohlfahrtsproduktion, privaterwerbswirtschaftlichen Unternehmen bis hin zu KapitalAnleger-Modellen im Vergleich überlegen sind. Bei einer morphologischen Betrachtung erweist sich der gemeinwirtschaftliche Sinn-Code der bedarfswirtschaftlichen Sachzieldominanz als notwendige Voraussetzung dieser Überlegenheit. Hinreichende Bedingung ist aber eine entsprechende Organisationskultur der Führung und der Arbeitsorganisation in Bezug auf die vulnerable Zielgruppe der Sorgearbeit als ein Wirtschaften in der wettbewerblichen Marktordnung. 135
2. Ausblick
81
gelten dabei als außerwissenschaftliche Entscheidungssphären136, was angesichts des Wissenschaftscharakters der Rechtsphilosophie der Gerechtigkeit137 und der Ethik als praktische politische Philosophie unhaltbar ist, sich aber als Ideologie in den Diskursordnungen durchhält und sich eigentlich auch über die normativen Implikationen der überpositiven Rechtsideen der Rechtsregime (Herdegen u. a., 2021) vom Völkerrecht (Nußberger, 2009), über das Europäische Grundrechtssystem, über das bundesdeutsche Verfassungsrecht (Möllers, 2019) und über das System der Sozialgesetzbücher schlicht ignorierend hinwegsetzt. § 85 „Gutes Leben“ und „habendes Sein“ Das tieferliegende Problem ist jedoch die unhaltbare Reduktion des sozialen Fortschritts auf den ökonomischen Fortschritt, dem erkenntnisleitend eigentlich nur der Status der notwendigen Voraussetzung, aber nicht der Status der hinreichenden Bedingung für ein „gutes Leben“ in hoher Lebensqualität als ein genossenschaftsartiges Leben als Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung zukommt. Wie in der Psychoanalyse in der Tradition der Kritischen Theorie dargelegt werden konnte, geht es um die Frage: „Haben oder Sein“ (bei Erich Fromm, Gabriel Marcel usw.138). In der existenzialphilosophisch139 geprägten Philosophie des Personalismus140 – viele andere Werke wären unbedingt anzuführen: Romano Guardini, Gabriel Marcel, Peter Wust, Max Scheler, Martin Buber, Ferdinand Ebner, Franz Rosenzweig usw. – strebte die Analyse eine versöhnlich-integrative Idee des „habenden Seins“ an. Aber auch hier wird deutlich, dass es nicht um die hegemoniale Dominanz des besitzrechtsindividualistischen Denkens gehen kann. Das ist prometheischer Wahn als Hybris ikarischen Denkens. Das ist Ausdrucksgestalt einer charakterlichen Objektbesetzungsneurose. Es geht letztendlich und vielmehr um das gelingende soziale Miteinander auf personalistischer Grundlage: jenseits von Individualismus und Kollektivismus. Das war das große Thema der Zeit nach 1945, verflüchtigte sich aber im Zuge der Dynamik der konsumistischen Wohlstandsentwicklung. Heute stehen wir wieder vor dem Problem der zivilisatorischen Sackgasse: Klimakrise im Anthropozän, imperialer Krieg, Postdemokratie, Autoritarismus und Revitalisierung faschistoider und 136 Zur tragischen Logik der unvermeidbaren Freiheit der Entscheidung: Arlt/Schulz (2019). Zur Freiheit der Entscheidung als Wahl und Charakter in einem ontologischen Zugriff: Kienzle (2007). Zu verweisen ist sogar auf die Gottes-Theologie, die die Unvollkommenheit des Menschen als Grundlage der Freiheit der Entscheidungen zwischen Gelingen und Scheitern begreift. 137 Ladwig (2013); Goppel/Mieth/Neuhäuser (2016). 138 Herzhoff (2011). 139 Ein Feld von Positionierungen, das die Analyse ungern allzu postmodernistisch auslegen will: Bakewell (2017). Einzeln zu sein (Safranski, 2021) mag zwar die reale Herausforderung sein, ist aber noch nicht die philosophisch (onto-anthropologisch) hinreichende Antwort. Anders akzentuiert: Jullien (2022). Ferner Flynn (2017); Thurnherr/Hügli (2007); Sölch/Victor (2021); Langthaler/Hofer (2019). 140 Mounier (1936); Tarmann (2009); Thomas/Hattler (2012); Leisner (2015).
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III. Ausgänge zwischen Rückblick und Ausblick
faschistischer Ideologien. Die berühmte Eule der Minerva der Vorrede der Hegelschen Rechtsphilosophie läutet nicht mehr im Klang von 1789 das Dreigestirn von Solidarität als Voraussetzung der Chancengleichheit „Aller“ zur inkludierenden sozialen, weil gemeinsamen Freiheit ein, sondern es wird schlicht – ohne visionäre Morgenröte – dunkel. Umso dringlicher ist eine neue Zeit des Erwachens und der Umkehr. Diese Umkehr betrifft den ganzen Menschen in seiner Strukturschichtung von Körper, Geist und Seele. Und sie betrifft alle Sphären des Sozialsystems: Wirtschaft und Politik/Recht, Kultur und Person. § 86 Die Sozialraumidee Zur Sicherstellung von Sozialräumen als Netzwerke der Moralökonomik von informellen Caring Communitys (Cnaan/Milofsky, 2019) einerseits und andererseits der Gemeinwohlökonomik der formellen professionellen Infrastrukturen als Einbettungen des Wohnens – um auf den obigen Diskurs zur Pflegepolitik141 exemplarisch zurückzukommen – als ein Leben in sozialen Beziehungen in das Wohnumfeld, in den lokalen Raum und in die regionale Mobilität zur Teilhabe an den ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Ressourcen benötigen wir eine Abkehr von der Dominanz der wettbewerblichen Marktöffnung der Landschaft der Sozialsektoren. Wir benötigen 1) eine Sozialraum-integrierte Differenzierung der nicht-stationären Wohnformen im Alter, wir benötigen Sozialraum-integrierte, Quartiers-bezogene Veränderungen der medizinischen Primärversorgung, die diversitätssensibel, multidisziplinär und sozial-, familien- und altersmedizinisch ausgerichtet ist in betrieblichen Versorgungsgebildeformen jenseits von Arztpraxis und Krankenhaus. Wir benötigen 2) ein „Commoning“ des ÖPNV, der als freies öffentliches Gut einen öffentlichen Teilhaberaum der Mobilität – deshalb ist Verkehrspolitik (Schwedes/ Canzler/Knie, 2016) immer auch eine instrumentelle Schlüsselvariable – darstellt. Wir benötigen 3), und darauf soll hier fokussiert werden, eine integrierte sektorübergreifende Sozialraumbildung der kommunalen Daseinsvorsorge (Dahme/ Wohlfahrt, 2011) in Finanzierungskooperation mit den Sozialversicherungen, in der die freigemeinwirtschaftlichen Träger im Sinne der gemeinnützigen Bindung und im Sinne vergabefremder Kriterien den Vorzug erhalten. § 87 Gemeinnützigkeit als Sinn-Kern und Sinnbindung verschiedener Rechtsformen Die entsprechende unternehmensethische Bindung im Modus anderer Rechtsformen (gemeinnützige GmbH, gemeinnützige AG, gemeinnützige Genossenschaft, Stiftungen) könnte, morphologisch gesehen, die Form an die Sinnfunktion bürgerschaftlichen Engagements als Demokratisierung des Wirtschaftens binden. Diese Gebilde wären in eine effektive Weiterentwicklung der kommunalen Konferenz141
Schulz-Nieswandt/Köstler/Mann (2021b; 2021c); Schulz-Nieswandt (2021g).
2. Ausblick
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strukturen zu bürgerschaftlichen Steuerungsparlamenten der Choreographisierung (Schulz-Nieswandt, 2013b) der visionsstrategischen Eckpunkte der Sozialraumplanungen zu integrieren. Das wären Pfade aus dem obligatorischen Leistungsanbieter-Kontrahierungszwang heraus zugunsten gesellschaftsgestaltungspolitisch erwünschter partizipations-zentrierter Wohn- und Versorgungslandschaften. Dergestalt wären gemeinnützig gebundene Unternehmen verschiedener Rechtsformen als Einzelwirtschaftsgebilde, als Bausteine einer regionalen Netzwerkentwicklung zu verstehen, die der Gemeindeordnung einer Kommune gewisse Charakterzüge einer Hilfe- und Rechtsgenossenschaft verleihen könnten. § 88 Transzendentales Recht und Transformation der Wirklichkeit Dazu benötigen wir ein „transzendentales Recht“, das solche Transformationen ermöglicht. Wenn das Recht responsiv sein soll in Bezug auf den (auch ideenpolitischen) Wandel der sozialen Wirklichkeit (Bizer/Führ/Hüttig, 2002), dann muss das Recht auch in Bezug auf seine inkorporierte Normativität (Forst/Günther, 2021) dekonstruierbar (Lodzig, 2015), also neu lesbar und auslegbar sein, jedenfalls in den Grenzen des überpositiven Rechts der Menschenrechte und der personalistischen Grundrechte im Sinne moderner Naturrechtslehre. Dann muss auch die Möglichkeit bestehen, über den Einbau von Gemeingütern und von gemeinwirtschaftlicher Dominanz in bestimmten Sektoren der sozialen Wohlfahrtsproduktion nachdenken zu dürfen, weil sonst ein ideologischer Bias-Effekt als selektives Skript der Exklusion bestimmter sozialer Präferenzen zugunsten der pfadabhängigen Herrschaft des Besitzrechtsindividualismus (Pistor, 2015) wirksam werden würde (Feichtner/ Wihl, 2022). Das vertikale Prinzip der Subsidiarität muss 1) dergestalt neu ausgelegt werden, dass die durch landesgesetzliche Ermächtigung fundierten Gewährleistungsaufgaben der kommunalen Daseinsvorsorge in Rollen einer direkten Beteiligung in die Sicherstellung (kommunale Aufhängung von lokalen/regionalen Agenturen der Sozialraumbildung142) eingebunden werden. Die horizontale Subsidiarität der Gleichbehandlung von Privatwirtschaft und Gemeinwirtschaft bei gleichzeitiger Nachrangigkeit öffentlicher Träger muss 2) zugunsten eines GemeinwohlökonomieBias neu ausgelegt werden. Das Europäische Modell des Wettbewerbsrechts der Grundfreizügigkeiten des Gemeinsamen Marktes einerseits und andererseits das Europäische Sozialmodell des freien Zugangs zu den sozialen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse dürfen 3) nicht als segmentierte Parallelprogramme unverbunden nebeneinander laufen, sondern müssen öffentlich an die gemeinwirtschaftliche Sinnfunktion der Träger des Leistungsangebots im Sinne einer wirtschaftskulturellen und unternehmensethischen Einbettung gebunden werden. Die Kommune würde sich wieder – das wäre eine ganz neue Art der remythisierenden Renaissance der antiken politischen Philosophie – als „Polis“ verstehen. War weiter oben von der Person als Strukturschichtung von Körper, Geist und Seele 142
Heerdt (2022); Cnaan/Milofsky (2019).
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III. Ausgänge zwischen Rückblick und Ausblick
die Rede, so wird nunmehr deutlich, dass die Schlüsselfrage für diese bürgerschaftliche Demokratisierung des Sozialraums der genossenschaftsartigen Kommune die gelingende „Paideia“ als sozialcharakterliche Formung der Person ist. § 89 Sozialcharakter und „Gesinnung“ Das wirft am Ende der skizzierten Vision die Frage nach der Qualität der Ausdrucksgestalt unseres Erziehungs- und Bildungswesens als Kulturpolitik der heute gefährdeten Demokratie einer immer noch unvollendeten Moderne auf, deren deliberatives Potenzial verlorengeht in linker wie rechter identitätspolitischer Affektkultur von Wut und Hass (Manemann, 2021), die in Formen der Gewalt umkippt. Worum geht es nun also? Es geht um die Frage der Legitimität einer gemeinwohlökonomischen Pädadogik als Arbeit am „Magma“ der Zivilgesellschaft. § 90 Externe oder endogene Sozialkritik? Es gibt – trotz der „Moralisierung der Märkte“ (Stehr, 2007) – keine ernste und mehrheitsfähige Kritik an der Manipulationsarbeit des Werbungs-Kapitalismus. Marketing ist ein etabliertes internationalisiertes Fach innerhalb der Betriebswirtschaftslehre an bundesdeutschen Universitäten. Theodor W. Adornos Aussprache aus „Minima Moralia“, wo er nach einer Magie fragt (die er in der Kunst verborgen sah), die es ermöglichen kann, dass die Lüge nicht mehr als Wahrheit (auf dem Jahrmarkt der Meinungen) verkauft wird, ist heute eher unverständlich geworden, weil in der Diskurslandschaft kaum noch Verständnis für die doppelte – ontologische und empirische – Wahrheitsauffassung vorhanden ist, die es ermöglicht, zu verstehen, was er mit der Frage meinte, ob nach Ausschwitz noch Poesie möglich sei und wie denn in dieser unwahren Welt ein wahres Leben möglich werden und sein sollte (Mittelmeier, 2021; Jeffries, 2019). Die mehrfache Nutzung des Wortes des Möglichen verweist uns auf die Skepsis gegenüber einem Automatismus einer sozialeschatologischen Entelechie des Heils im Lichte einer modallogischen dynamischen Prozessontologie des Noch-Nicht in der menschlichen Geschichte infolge einer der Faktizität endogenen negativen Dialektik. Bestimmte kognitive Formationen von Fiktionalität (Klauk/Köppe, 2016) wären also Teil der Faktizität. Die jüngere Kritische Theorie hat die Kritik ohnehin reduziert auf eine letztendlich an die neukantianische Wissenschaftslehre erinnernde Dualität von Faktizität und Geltung, wobei die Kategorie der (Rechtfertigung143 der) Geltung zur Performanz kommunikativer Verständigung einer deliberativen Demokratie reduziert wird. Die jüngste Generation Kritischer Theorie findet zwar kategorial-begrifflich wieder Zugänge zu der Idee der Entfremdung, kreist dennoch, zunehmend subtil, um Anerkennungsfragen und um kommunikative Inklusion in Resonanzräumen. Der nostalgischen Apologetik der klassischen Kritischen Theorie wird mehr oder weniger der Vorschlag unterbreitet, die radikale Kritik nicht mehr aus einer externen (transzendenten) Position der Wahrheit eines elitären Intellektualismus zu formulieren, sondern dies der Immanenz der kommunikativen Diskurse der gesellschaftlichen 143
Boltanski/Thévenot (2014).
2. Ausblick
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Meinungs- und Einstellungsbildung der normalen (Link, 2006) Alltagsmenschen (Boltanski, 2010) zu überlassen. § 91 Kommunikationismus als algorithmische Sozialtheorie Es geht der Auflösung der klassischen Kritischen Theorie in einen Kommunikationismus nicht mehr um die Grammatik der Politische Ökonomie und ihre Vergesellschaftungskultur bis hin zur Faltungsdynamik der tiefenpsychologisch fassbaren Einschreibungen – dies zeigen die diversen Diskurse (Honneth/Fraser, 2003; Fraser/Jaeggi, 2020; Honneth/Ranciére, 2021) – der Arbeit, sondern um kommunikative Diskurstheorie der rationalen Verständigung durch Sprache (deren fundamentaler Daseinscharakter hier von uns gar nicht geleugnet wird144). Diese Generation von Kritischer Theorie hat sich einer deliberativen Postmoderne der Diversität verschrieben. Ihre Kritik hat keine Maßstäbe mehr, sondern findet diese in den „kommunikativistischen Algorithmen“, ein Theorieverständnis, dass den Sozialwert zu einer lebendigen demiurgischen Maschine erklärt. Es geht nicht mehr primär um Umverteilung, sondern um Anerkennung, es geht nicht mehr um Entfremdung, sondern um Verdinglichung als Instrumentalisierung des Anderen in den Sprechakten. § 92 Philosophie als Dialog über Erzählungen des Lebens und Normativität des guten Lebens Nun ist die unversöhnlich anmutende Negativität von Adornos Dialektik, trotz der verborgenen Hoffnung seiner Ästhetischen Theorie mit ihren Maßstäben, die wir hier dem Grunde nach einklagen, in der Tat weit weg von der Lebenswelt der kleinen und einfachen Leute, deren Verblendung konstatiert wird. Aber auch der Kleinbürger träumt sehnsuchtsvoll vom Glück. Wie kann man ihn kritisch ernst nehmen? Die hermetische Sprache von Adorno mag selbst ein Kunststil sein, um dergestalt zu verfremden und – der Sprachwelt von Martin Heidegger oder der Hermetik der Trauma-Lyrik von Paul Celan analog – die Andersheit seiner Sozialtheorie zu sichern. Kritische Theorie müsste aus unserer Sicht dionysisch (Schulz-Nieswandt, 2015d; 2021b; 2019d) denken: Wie kann sie in den transgressiven Träumen der Alltagsmenschen, systemisch denkend, ihre eigene Modallogik der Hoffnung auf ein gutes Leben verankern? Dieses komplizierte Mischgebilde Kritischer Theorie aus Sozialphilosophie, Philosophie der Geschichte, Sozialtheorie und Alltagssoziologie müsste – wir folgen hier Michael Hampe (2016) – die Kluft zwischen Philosophie und Literatur, die traditionelle Systemphilosophie ablehnend, überbrücken im sokratischen Modus der Erzählungen, in der sich die Aufklärung, das Lernen der Selbstveränderung und die Wege zu einem neuen Weltverhältnis als Wesenskerne erweisen. Es geht einer solchen – narrativen und dialogischen – Philosophie durchaus um die Hoffnung auf und um die Suche nach dem Glück des guten Lebens. Und an 144
Angehrn (2021).
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III. Ausgänge zwischen Rückblick und Ausblick
diesem Punkt glauben wir schon, dass es auch eine Fundamentalphilosophie braucht, wenn Theorie vereinbar sein soll mit Kritik (Hindrichs, 2020). Könnte es doch sein, dass das Subjekt sich selbst transzendieren muss, auf ein Absolutes hin, das nicht Gott sein muss, aber der Allzusammenhang, in das der Mensch eingestellt ist (Hindrichs, 2011)? Und ist dies nicht das Paradigma der Musik als Klangwelt (Hindrichs, 2014), in der der verborgene Sinn sich in Raum und Zeit ausdehnend entfaltet und seinen Weltbezug im Horizont der Hörenden als Bezug auf ein NochNicht-Seiendes erkennbar werden lässt? Dieser Weltbezug ist keine externe Auferlegung, sondern resultiert aus der Endogenität der Autonomie des Klangs. Und zeichnet sich hier nicht eine Metaphysik der Revolution ab (Hindrichs, 2017), die geradezu dionysisch gedacht wird? Und – wie in der Theorie der Musik (Klang, Zeit, Raum, Sinn) – wird hier das Zusammenspiel von Kategorien (Recht, Macht, Schönheit, Gott) entfaltet. Das Recht muss durch die Kraft der Macht transformiert werden, wobei das Voranschreiten als schöne Bewegung – die Überschreitungen (Atwood, 2019) – empfunden werden muss, ein Enthusiasmus avantgardistischer Art, der nicht verstanden werden kann ohne die Idee des Bundes und seiner sozialeschatologischen Prophetie. Wenn die Gegenwart Wüste ist, so muss man aus ihr ausziehen. Und hatte nicht auch Paul Tillich (1991) ähnlich argumentiert: Der Mensch muss die demokratische Macht nutzen, um im Lichte der sozialen Gerechtigkeit aus der Kraftquelle der Liebe das geschichtliche Telos der Personalisierung des Menschen voranzutreiben (Schulz-Nieswandt, 2020b). Anders als Honneth-Schüler Martin Hartmann hat Christoph Menke (2018) das Werk von Gunnar Hindrichs (2017) positiv aufgenommen. Hier ginge es nicht um negativistische Utopie, sondern um endogene Hoffnung. Nicht allzu erfolgreich werden mitunter Versuche der Synthese von Kritischer Gesellschaftsanalyse und Normativität unternommen. Doch das Thema der Normativität, auch dann, wenn es nicht auf das unhaltbare erkenntnistheoretische Niveau einer naiven Werturteilsfreiheitslehre (Glaesser, 2014) der reinen (Jäger, 1999) Wissenschaft regressiert, bekommt die neuere kritische Sozialtheorie nicht wirklich in den Griff (Reckwitz/Rosa, 2021). § 93 Tiefenpsychologie der Vergesellschaftung Die psychoanalytische Theorie der Persönlichkeitsmuster als Korrelate von Macht und Herrschaft ist heute auch kein grundlegendes Thema der jüngsten akademisch etablierten Positionen Kritischer Theorie mehr. Sie findet – unserer Ansicht nach etwas randständig – in psychoanalytischen Fachverlagen ihren Platz, durchaus als kritische Sozialpsychologie und als kulturgeschichtlich und mythopoetisch interessierte Tiefenpsychologie, wird aber nicht – auch nicht in dem kritischen Diskurs zur Selbst-Optimierung des neoliberalen Subjekts (King/Gerisch/Rosa, 2021) – in der akademischen Arena einer Suhrkamp-Welt und vergleichbarer intellektueller Bildungsfelder rezipiert.
2. Ausblick
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Die Erziehungsfähigkeit von Familien145, auf die die Schulen146, trotz der sozialen Ungleichheit, ihre Erwartung auf Kooperation der Eltern mit dem Halbtagsprogramm des Unterrichts stützen, ist durchaus ein Thema, wenn es um die Güterabwägung des Kindeswohls (Richter/Krappman/Wapler, 2020) einerseits und des natürlichen Rechts der Eltern auf Erziehung (Sandfuchs u. a., 2012) ihrer Kinder seitens des rechtsstaatlichen Wächterstaates und seiner Agenturen des Jugendamtes, des Gesundheitsamtes, der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Familiengerichte (Böllert, 2018) andererseits geht. Familien sind eher im Fadenkreuz der Kritik des Versagens im Vergleich zur Wirtschaft, deren Unternehmen (Neuhäuser, 2011) und deren Management moralisiert wird, aber die Logik der Herrschaft (Anderson, 2020) in der kapitalistischen Wirtschaft kaum zum Thema wird in der breiten Öffentlichkeit. Das Phänomen des Reichtums147 wird mit Blick auf Ambivalenzen – mitunter wird, in subtiler Interpretation, wahrer Luxus zur Befreiung von der instrumentalisierenden Herrschaft der Zweckrationalität genannt, wobei nachzufragen ist, wie denn die Chancen zu diesem Luxus verteilt sind – durchaus immer mehr zu einem Thema. Wenn es jetzt um alternative Formen des Wirtschaftens geht, und hier geht es uns um die öffentliche und freie, auch genossenschaftliche Form der Gemeinwirtschaft, darf es nicht zu einer analogen Lücke in der fundierten Thematisierung der Psychodynamik, der Sozialisation, der prosozialen auf Empathie, Altruismus und Kooperativität aufbauenden Sozialcharakterbildung mit Blick auf das Szenarium von personaler Selbsttranszendenz148 und sozialem Mit-Sein kommen, weil sonst weder die Faktoren des Gelingens noch die Faktoren des Scheiterns in einem Modell der notwendigen Voraussetzungen und der hinreichenden Bedingungen der nachhaltig effektiven Gemeinwirtschaft vollumfänglich erfasst werden. § 94 Verblendung und Mündigkeit Denn wenn doch etwas an der Kategorie der „Verblendung“ der Menschen im Rahmen der Totalitätsanalyse von Theodor W. Adorno (Mittelmeier, 2013; Jeffries, 2019) dran sein sollte, und die neuere Dynamik der Wahnvorstellungen der Verschwörungstheorien (Butter, 2018) breiter Bevölkerungsteile verdeutlicht dies exemplarisch, so fragt man sich, wie denn die Menschen aus ihren schematischen Wahrnehmungs- und Interpretations-Konventionen (Diaz-Bone, 2011) in Richtung auf eine „Erziehung zur Mündigkeit“ herausfinden können. Sowohl das Werk von Pierre Bourdieu als auch das Werk von Michel Foucault sind in der Sekundärliteratur auf ihren Beitrag zur Theorie der Pädagogik befragt worden. Die „Erziehung zur Mündigkeit“ war – nach Auschwitz – eine nicht wegzudenkende Dimension der klassischen Kritischen Theorie. Wie steht es um eine normative Theorie der Päda145
Ecarius/Schierbaum (2022); Hill/Kopp (2016). Blömeke u. a. (2009); Helsper/Böhme (2013). 147 Neuhäuser (2018); Boltanski/Esquerre (2020). 148 Hell (2022); Mayer (2019); Löschburg (2019). 146
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III. Ausgänge zwischen Rückblick und Ausblick
gogik der Gemeinwirtschaftslehre? In der Kölner Gerhard Weisser-Schule (Petrak, 1999) der Gemeinwirtschaftslehre war dies noch ein Thema: Es ging (historisch, aber auch aktualisierend149 betrachtet)150 und es geht weiterhin (Kuh/Uhlendorff/Krappmann, 2000) um eine Gesellschaftspädagogik als Pädagogik der Gesellschaftsgestaltung151. Es ging um eine adäquate „Dienstgesinnung“ des öffentlichen Wirtschaftens und um (berufsmoralische152) Haltungsfragen im Feld der freien Gemeinwirtschaft und auch im Feld der Genossenschaften. Der Kritik fiel nur der Paternalismus-Einwurf ein. Doch dies ist der Ausdruck des normativen Individualismus als Kryptisches Geschwisterchen des methodologischen Individualismus, dessen Weg zur Rational Choice-Soziologie und zur homo oeconomicus-Lehre der neoklassischen Marktökonomie kurz und bündig ist. § 95 Der Kant’sche Geist in Art. 1 und Art. 2 GG Anthropologisch auf personalistischer Grundlage (Leisner, 2015) – das wäre der Bezug auf Art. 2 GG, in dem das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit im Lebenslauf (so § 1 SGB I) verfassungskonform und im Sinne des Sittengesetzes von Kant gebunden ist an die empathische Rücksichtnahme auf die Grundrechte des Mitmenschen vor dem Hintergrund der menschenrechtskonventionellen „Sakralität“ der Würde153 der Person (Schulz-Nieswandt, 2021i; 2021j) in Art. 1 GG – ist eine „reife“ Identität im Sinne einer humanistischen Ethik und Psychologie des „Selbstkonzepts“ an die Selbsttranszendenz hin zur unbedingten Solidarität zum Mitmenschen gebunden. Falls es in der kollektiven Gedächtnis-Erinnerungs-Kultur154 verloren gegangen und den nachwachsenden Generationen nicht mehr hinreichend vermittelt werden sollte: Dies nennt man „Liebe“. Mit diesem Satz leiten wir zu einem letzten Paragraphen über, mit dem die Abhandlung enden soll. Dies passt zu den obigen einleitenden Bemerkungen über Torso und Fragmente als Stilelemente der Erzählstruktur der vorliegenden wissenschaftlichen Abhandlung. § 96 Brauchen wir eine neue „Jugendbewegung“? Die Jugendbewegung im 20. Jahrhundert in der deutschen Geschichte ist umstritten. Neure Literatur – die Erörterung will sie hier nicht diskutieren – ist eher weniger differenzierend und fokussiert auf die These einer generativen Vorgeschichte des Faschismus. Damit wird man einigen wichtigen humanistischen Strö149 Zum Beitrag von Carl Mennicke, den Frank Schulz-Nieswandt im Kontext des TillichKreises rezipiert hat: Schulz-Nieswandt (2020b). Ferner Böhnisch (2022). 150 Pfützner (2017). 151 Anregungen in: Drerup u. a. (2022); Halbig/Timmermann (2021); Runge (2023); Bröcher (2021); Höft (2021); Trumann (2013). 152 Parche-Kawik (2003). 153 Und dies wiederum exemplarisch darlegbar im Rahmen der Langzeitpflegepolitik: Schulz-Nieswandt (2021f; 2021g). 154 Gudehus/Eichenberg/Welzer (2010); Pethes (2013); Sebald (2014).
3. Nachbemerkungen
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mungen sicherlich nicht gerecht. Wir denken da beispielsweise an das Wirken von Romano Guardini (Lerch, 2023; Gerl-Falkovitz, 2019), den Frank Schulz-Nieswandt in vielerlei Zusammenhängen in seine Theoriebildung eingewoben hat. Brauchen wir eine neue und sicherlich auch andere Jugendbewegung? Haben wir nicht bereits eine neue Jugendbewegung? Erste Literatur zur Kultfigur Greta liegt ebenso vor (Hurrelmann/Albrecht, 2020) wie zu „Friday for Future“ u. a. m. Daran erschließen sich teilweise auch Erziehungsfragen, wobei wir uns hier nicht nur an das Milieu der Linken halten würden (Birken/Schen, 2020), weil sich in mancher WutHass-Gewalt-Kultur – trotz Differenzen in der Werte-Kultur – die Positionen in der politischen Landschaft ohnehin an klaren Abgrenzungen verlieren. Aber dies soll hier nicht das Thema sein. Ja, wir brauchen eine neue Jugendbewegung, denn von der lebenszyklischen Abfolge ist die Jugend der Hoffnungsträger. Tote können als Ideenträger noch im Modus des Ahnenkultes wirken, aber sie müssen im kollektiven Gedächtnis der Lebenden in ihrer Verantwortungsrolle in Erinnerung gebracht werden. Und dies können nur die lebenden jüngeren Jahrgänge im Generationengefüge, die dazu aber eben auch Koalitionen mit der älteren Generation im dialogischen Austausch (Mead, 1971) eingehen müssen (Pantel, 2022). Doch welche Aktivitäten – also Praxisformen – muss eine neue Jugendbewegung treiben? Hessel (2011a) forderte „Empört Euch!“ und schlussfolgerte als nächsten Schritt: „Engagiert Euch!“ (Hessel, 2011b). Münkner (2014) wird aber konkreter: Organisiert Euch in Genossenschaften. Im Wohnen, im Arbeiten, im Konsum, in der Freizeit. Dies wären konkrete Kontexte sozialen Lernens (Wright, 2017). Dies ist etwas Anderes als die Museumsschändung – vorausgesetzt, man ist bereit, Museen ohnehin nicht nur als neokoloniale Anstalten zu verstehen – durch eine selbst ernannte „Letzte Generation“, die mehr Abwehr generiert als verständnisvollen Zuspruch. Mit diesem Paragraphen endet auch die Arbeit, die jetzt doch noch eine Nachbemerkung nach sich ziehen wird, die die Arbeit wiederum öffnet, weil das Thema gar nicht abgeschlossen werden kann. Die Problematik ist im Fluss und daher muss auch die rekonstruktive Sicht der Wissenschaft als poetische Strategie der Nacherzählung, der Erzählungen des Lebens immer offen für den Wandel sein.
3. Nachbemerkungen Die Nachbemerkungen thematisieren die Nachfrage, ob Kritische Theorie wirklich ohne Metaphysik der Wahrheit der Personalität auskommen kann. Die vielfach diskutierte Theorie der Resonanz ist alter Wein in modischer Inszenierung und das zweite Ende der Kritischen Theorie nach der Theorie der Demiugie der intersubjektiven Anerkennung.
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III. Ausgänge zwischen Rückblick und Ausblick
§ 97 Werte-freie Normativität durch Algorithmen der Anerkennung und der Resonanzräume: Das Leben als Beziehungen Mit dem von Rosa (2016) geprägten Begriff der Resonanz wird versucht, einen, von kulturellen Wertungen fundierender Art und anderen onto-anthropologischen Fundamentalannahmen freien, Zugang zu der Frage gelingender – auch der Entfremdungsbegriff (Jaeggi, 2016; Honneth, 2015) wird zum Baustein der Resonanztheorie, wenn es ihr um die Kritik der zweckrationalen Verfügungsgewalt (Rosa, 2020) geht – Beziehungen von Subjekt und Welt im Sinne des „guten Lebens“ zu finden. Schon die radikale deliberative Theorie der gegenseitigen Anerkennung (Honneth, 2018) als intersubjektive Erzeugung von Gesellschaft der kohäsiven Diversität, wobei bei Jürgen Habermas in seiner post-metaphysischen Vernunftszentriertheit (Habermas, 2022; Brumlik, 2022b) die herrschaftsfreie Kommunikationsgemeinschaft zur deus ex machina „demiurgischer“ Erzeugung der Sozietät wurde, verabschiedete sich von einer Metaphysik des modernen Naturrechts der personalen Würde – an der auch eine normative Theorie155 der Arbeitsorganisation nicht vorbeikommt – in ihrer Sakralität als transzendentale Voraussetzung des säkularen sozialen Rechtsstaates, die in leidenschaftlicher Art und Weise als kollektiv geteilte Idee die non-kontraktuellen Voraussetzungen der Kontraktgesellschaft der Moderne (also das Böckenförde-Diktum durch das Durkheim-Theorem im Geiste der UN-Grundrechtskonventionen neu interpretiert) darstellt (Schulz-Nieswandt, 2011b; 2022c; 2023a; 2017b). Es gibt diese metaphysische Ebene als Meta-Ebene gegenüber den Präferenzen der Privatsubjekte (nur in Grenzen der Approximation156). Bei Menke (2022) entdeckt man ansatzweise Reflexionen zu einer solchen archetypischen Bundesidee als Anker der Miteinanderfreiheit in Miteinanderverantwortung. Entsprechend wäre eine neue Form des Rechts (Menke, 2018a) als Recht der sozialen Freiheit des genossenschaftsartigen (Brunkhorst, 2002) Miteinanders zu denken. Deliberative Mechanismen der Rechtfertigung normativer Ordnungen (Forst/Günther, 2021) leiden an ihrer fehlenden Bereitschaft, einen letzten, nicht mehr begründungsfähigen, sondern nur glaubensfähigen Anker – die Metaphysik der Sakralität der Personalität – anzuerkennen und in die wissenschaftliche Theorie einzubauen. Der Heiligkeits-Status ist aber nicht mehr durch die kirchliche Religion und ihre Theologie autorisiert, sondern – in nicht-trivialer Weise (Nussbaum, 2020) – durch das leidenschaftliche (Nussbaum, 2016) Glauben an die rechtsphilosophische Ethik als Geist der Gesetze (Forst, 2021), die im Völkerrecht und im europäischen und bundesdeutschen Verfassungsrecht bis hinein in die Sozialgesetzbücher und in die Wohn- und Teilhabegesetze der Bundesländer als „Geist“ eingeschrieben ist (Schulz-Nieswandt/Köstler/Mann, 2021b).
155 156
Honneth (2023). Jaeggi (2023).
3. Nachbemerkungen
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§ 98 Maskierte Trivialität angesichts der multi-disziplinären Forschungsgeschichte Was ist – was in dem überaus breiten und differenzierten Rezeptionsdiskurs (Wils, 2018; Peters/Schulz, 2017) durchaus kritisch vermerkt wurde – mit Blick, und wir verweisen nur exemplarisch auf wenige Forschungsbestände, (1) auf die Natur unter dem Aspekt des Weltverhältnisses und der Modernitätskritik neu gegenüber der klassischen Romantik? Was ist (2) mit Blick auf die Sozialwelt als personales Erfahrungserlebnisgeschehen neu angesichts der psychodynamischen und entwicklungspsychologischen Bindungsforschung oder angesichts der Sozialpsychologie der Lebensqualität im Lichte der Erfahrung des Eingebettet-Seins in soziale Beziehungen (Bauer, 2019)? Was ist mit Blick auf die Erfahrbarkeit epiphaner Erlebnisse des atmosphärischen157 Licht-, Stille- und Landschaftserlebens als Allzusammenhang im Lichte einer responsiven Phänomenologie neu? § 99 Die Gretchen-Frage und die Achillessehne Der Beitrag zur performativen Theorie der Versammlung von Judith Butler (2018) leidet ebenso wie die Idee der partizipativen Kollaboration von Terkessidis (2015) darunter, dass sie keinen Wertbezug in der substanziellen, also wertrationalen Rechtfertigung einbringen. Die Gretchen-Frage lautet jedoch: In welchem Geist gehen Menschen auf die Straße (Brumlik, 2013; 2022a)? Eine Frage, die höchst aktuell und relevant ist, weil auch die dunklen Mächte der Zivilgesellschaft lautstark sind. Das ist die Achillessehne (Michelakis, 2002) der post-metaphysischen Kritischen Theorie nach dem Tod von Theodor W. Adorno. Die Unversöhnlichkeit von Adorno sollte man wieder einbringen, denn die personale Würde steht in ihrer unteilbaren Einheit nicht zur Verfügung. Sie ist in die Zukunft hinein zu retten angesichts des Systems, das zum Allesfresser (Fraser, 2023) geworden ist.
157
Rauh (2012).
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