Ovids Enzyklopädie der Liebe: Formen des Eros, Reihenfolge der Liebesgeschichten, Geschichtsphilosophie und metapoetische Dichtung in den ,Metamorphosen' 9783825347222, 3825347222

Das Buch bietet eine Interpretation von Ovids Hauptwerk, die sich nicht auf einzelne Episoden beschränkt, sondern im Zus

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German Pages [300] Year 2020

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Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. Hat es überhaupt Sinn, nach einer Ordnung in den ‚Metamorphosen‘ zu suchen? Die metapoetische Funktion der Arachne-Episode
2. Bisher hervorgehobene Ordnungsprinzipien. Anspielungen auf die Pentadenordnung innerhalb der ‚Metamorphosen‘?
3. Die Zentralität der Liebe in Ovids Werken von den Anfängen bis zu den ‚Metamorphosen‘. Ovids Geschichtsbewußtsein
4. Ordo amorum: Die Reihenfolge der Liebesgeschichten
4.1 Formen der Metamorphose. Direkte und indirekte Erzählung. Fiktion und Wahrheit
4.2 ‚Metamorphosen‘, Buch 1. Vom Chaos zum Kosmos…
4.3 Metamorphosen, Buch 2. Das erstmalige Auftreten von Vater-Sohn-, Bruder-Schwester-Beziehungen und Beziehungen zwischen Freunden…
4.4 ‚Metamorphosen‘, Buch 3. Die Selbstzerstörung der reinen Männerwelt: Die Drachensaat Thebens. Weibliche Prüderie und Lieblosigkeit…
4.5 ‚Metamorphosen‘, Buch 4. Väter, Gatten und Zuträger als externe Hindernisse symmetrischer Liebesbeziehungen: Pyramus und Thisbe, Mars und Venus, Sol und Leucothoe…
4.6 ‚Metamorphosen‘, Buch 5. Aeneis-Parodie. Die metapoetische Bedeutung des Haupts der Medusa. Das erste homosexuelle Paar…
4.7 ‚Metamorphosen‘, Buch 6. Kunstbesessenheit ohne Maß: Arachne. Mutterstolz ohne Liebe: Niobe. Die Grausamkeit göttlicher Rache…
4.8 ‚Metamorphosen‘, Buch 7. Der Monolog zu erotischen Fragen als weibliche Form. Leidenschaft, Analyse und quasitragischer Konflikt…
4.9 ‚Metamorphosen‘, Buch 8. Verrat am Vater aufgrund asymmetrischer weiblicher Begierde: Scylla, Nisus und Minos…
4.10 ‘Metamorphosen’, Buch 9. Intrasexuelle männliche und weibliche Rivalität und Hercules’ Apotheose…
4.11 ‚Metamorphosen‘, Buch 10. Cyparissus, Ganymedes, Hyacinthus: Ovids Bewertung verschiedener Formen männlicher Homosexualität…
4.12 ‚Metamorphosen‘, Buch 11. Die Zerfetzung des Orpheus und sein Triumph im Tode. Die rächenden Götter werden milder…
4.13 ‘Metamorphosen’, Buch 12. Ein Vater opfert die Tochter in einem tragischen Konflikt: Agamemnon und Iphigenia…
4.14 ‚Metamorphosen‘, Buch 13. Der Triumph der Redekunst über die Tapferkeit: Aiax und Ulixes…
4.15 ‚Metamorphosen‘, Buch 14. Interesselose Eifersucht: Circe. Apollos Zähmung, langes Leben ohne Jugend, Überleben durch die Stimme:
4.16 ‚Metamorphosen‘, Buch 15. Ein römischer König studiert griechische Philosophie: Numa Pompilius und Pythagoras’ Verteidigung des Vegetarismus innerhalb einer Theorie universalen Wandels…
5. Schlußbetrachtung
Abkürzungen der Werke Ovids und Vergils
Bibliographie
Personenregister
Rückumschlag
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Ovids Enzyklopädie der Liebe: Formen des Eros, Reihenfolge der Liebesgeschichten, Geschichtsphilosophie und metapoetische Dichtung in den ,Metamorphosen'
 9783825347222, 3825347222

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vittorio hösle

Ovids Enzyklopädie der Liebe hösle Ovids Enzyklopädie der Liebe

hösle

Ovids Enzyklopädie der Liebe

as Buch bietet eine Interpretation von Ovids Hauptwerk, die sich nicht auf einzelne Episoden beschränkt, sondern im Zusammenhang detaillierter Deutungen aller einzelnen Mythen die Ordnungsprinzipien herausarbeitet, die der Reihenfolge der Geschichten zugrunde liegen. Die zentrale These ist, daß Ovid eine Geschichtsphilosophie des erotischen Verhaltens entwirft und dabei den ganzen Kosmos erotischer Formen systematisch ausbreitet. Neben den intra- und intertextuellen Bezügen auf die griechische und lateinische Dichtung wird die Kritik an Platons Liebesphilosophie in den Vordergrund gerückt. Eine vollständige Analyse der metapoetischen Passagen erlaubt die Rekonstruktion von Ovids komplexer Philosophie der Kunst, die Ovid als einen der größten philosophischen Dichter der Weltliteratur erweist.

Formen des Eros, Reihenfolge der Liebesgeschichten, Geschichtsphilosophie und metapoetische Dichtung in den Metamorphosen

b i b li oth ek d e r klassisch en a ltertu m sw issen sch a f t en Herausgegeben von

j ürg en paul s chwindt Neue Folge · 2. Reihe · Band 161

vittorio hösle

Ovids Enzyklopädie der Liebe Formen des Eros, Reihenfolge der Liebesgeschichten, Geschichtsphilosophie und metapoetische Dichtung in den Metamorphosen

Universitätsverlag

w i n ter Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gedruckt mit freundlicher Unterstütung des Institute for Scholarship in the Liberal Arts des College of Arts and Letters der University of Notre Dame.

u m s c hl agb il d Venus Italica von Antonio Canova

i s b n 978-3-8253-4722-2 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2o20 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Umschlaggestaltung: Klaus Brecht GmbH, Heidelberg Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de

Mario Geymonat (1941–2012), primo praeceptori litterarum Latinarum, avunculo carissimo, amico fideli, grato animo

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Hat es überhaupt Sinn, nach einer Ordnung in den Metamorphosen zu suchen? Die metapoetische Funktion der Arachne-Episode . . . 3 2. Bisher hervorgehobene Ordnungsprinzipien. Anspielungen auf die Pentadenordnung innerhalb der Metamorphosen? . . . . . . . . . . . . . 11 3. Die Zentralität der Liebe in Ovids Werken von den Anfängen bis zu den Metamorphosen. Ovids Geschichtsbewußtsein . . . . . . . . . 25 4. Ordo amorum: Die Reihenfolge der Liebesgeschichten . . . . . . . . 51 4.1 Formen der Metamorphose. Direkte und indirekte Erzählung. Fiktion und Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4.2 Metamorphosen, Buch 1. Vom Chaos zum Kosmos. Sprachmalerei. Urelternpaar ohne sexuelle Fortpflanzung: Deucalion und Pyrrha. Asymmetrische männliche Begierde: Apollo, Jupiter, Pan. Das Problem der Ambiguität . . . . . . . 60 4.3 Metamorphosen, Buch 2. Das erstmalige Auftreten von Vater-­ Sohn-, Bruder-Schwester-Beziehungen und Beziehungen zwischen Freunden: Phaethon. Die jungfräuliche Daseinsform und ihre Grenzen sowie von der Gewalt zur Täuschung: Callisto. Der Zuträger, männliche Eifersucht und weibliche Solidarität: Coronis, Corvus und Cornix. Erotischer Neid: Aglauros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 4.4 Metamorphosen, Buch 3. Die Selbstzerstörung der reinen Männerwelt: Die Drachensaat Thebens. Weibliche Prüderie und Lieblosigkeit: Diana und Actaeon. Selbstzerstörung durch Begierde nach göttlichem Sex: Semele. Männliche und weibliche Lust: Tiresias. Interne Hindernisse symmetrischer Liebe: Erotische Begierde ohne eigenes Selbst und Verliebtheit in das eigene Abbild. Platonismus und Antiplatonismus in der Narcissus-Echo-Episode. Warum ist Ovids Pentheus so anders als derjenige des Euripides? . . . . . . . . . 86

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Inhaltsverzeichnis

4.5 Metamorphosen, Buch 4. Väter, Gatten und Zuträger als externe Hindernisse symmetrischer Liebesbeziehungen: Pyramus und Thisbe, Mars und Venus, Sol und Leucothoe. Die erste unglücklich liebende Frau: Clytie. Die Vergewaltigung durch eine Frau und der Vorzug des sexuellen Dimorphismus gegenüber dem Zwittertum: Salmacis und Hermaphroditus. Die erste Verwandlung eines liebenden Paares: Cadmus und Harmonia. Gewalteinsatz zur Befreiung bedrohter Frauen: Perseus als Held der Ritterlichkeit . . . . . . . . . . . . . 102 4.6 Metamorphosen, Buch 5. Aeneis-Parodie. Die metapoetische Bedeutung des Haupts der Medusa. Das erste homosexuelle Paar: Athis und Lycabas. Die Scharnierfunktion der Pyreneus-Geschichte. Cyanes grundsätzliche Verurteilung von Vergewaltigung. Ein Selbstvergleich Ovids mit Vergil mithilfe eines Vergleichs Vergils. Solidarität unter Frauen nach dem Raub der Proserpina. Bericht in erster Person über einen Vergewaltigungsversuch: Arethusa . . . . . . . . . . . 113 4.7 Metamorphosen, Buch 6. Kunstbesessenheit ohne Maß: Arachne. Mutterstolz ohne Liebe: Niobe. Die Grausamkeit göttlicher Rache. Treubruch und Sadismus: Tereus; Solidarität als gemeinsame Rache und der erste Keim tragischer Konflikte: Procne und Philomela . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.8 Metamorphosen, Buch 7. Der Monolog zu erotischen Fragen als weibliche Form. Leidenschaft, Analyse und quasitragischer Konflikt: Medea. Vatertötung und fast erfolgte Sohnestötung: Variationen desselben Themas. Die metapoetische Bedeutung Medeas als eines Anti-Perseus. Interne Hindernisse bei der Bewahrung der Liebe: die Rolle der Eifersucht in der Geschichte von Cephalus und Procris . . . 134 4.9 Metamorphosen, Buch 8. Verrat am Vater aufgrund asymmetrischer weiblicher Begierde: Scylla, Nisus und Minos. Sodomie: Pasiphae. Die metapoetische Bedeutung des Labyrinths und des Ariadnefadens. Künstlerneid: Daedalus und Perdix. Die den Männern überlegene Jägerin und der mütterliche Sohnesmord: Atalanta, Meleagros und Althaea. Ein zweites greises Ehepaar: Philemon und Baucis als moralisches Ideal. Baumfrevel und Zuhälterei der eigenen Tochter: Erysichthon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4.10 Metamorphosen, Buch 9. Intrasexuelle männliche und weibliche Rivalität und Hercules’ Apotheose. Geburtsnot und Mutter-Säugling-Beziehung: Alcmene und Dryope. Sehn-

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sucht nach Zwillingsinzest, moralische Grenzen des Eros und Theorie des Unbewußten: Byblis und Caunus. Lesbische Liebe bzw. im falschen Geschlechte gefangen: Iphis . . . 164 Metamorphosen, Buch 10. Cyparissus, Ganymedes, Hyacinthus: Ovids Bewertung verschiedener Formen männlicher Homosexualität. Die ersten Prostituierten: die Propoetiden. Zwischen Kunstwerk und Sexpuppe: Pygmalions Statue. Inzest mit einem nichts ahnenden Vater: Myrrhas Verrat. Erotische Attraktivität und riskantes Verhalten: Venus und Adonis. Weltvergessenheit der Verliebten und Verletzung der Gottheit: Hippomenes und Atalanta . . . . . . . . . . . . . . . 176 Metamorphosen, Buch 11. Die Zerfetzung des Orpheus und sein Triumph im Tode. Die rächenden Götter werden milder: Midas und Pan. Ein Sterblicher vergewaltigt eine Göttin: Peleus und Thetis. Zwillinge zweier Väter: Chione und ihre Kinder. Unterschiedliche Wirklichkeitswahrnehmung als internes Hindernis symmetrischer Liebe: Ceyx und Alcyone. Selbstmordversuch wegen der Folgen eines Vergewaltigungsversuches: Aesacos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Metamorphosen, Buch 12. Ein Vater opfert die Tochter in einem tragischen Konflikt: Agamemnon und Iphigenia. Geschlechtsumwandlung aus Angst vor Vergewaltigung: Caenis / Caeneus. Die symmetrische Liebe eines Kentaurenpaars im Wahnsinn einer Schlacht: Cyllarus und Hylonome. Das beredte Schweigen des Erzählers: Nestor und Hercules . . . 201 Metamorphosen, Buch 13. Der Triumph der Redekunst über die Tapferkeit: Aiax und Ulixes. Leiden ohne Sinn: Hecuba und ihre Kinder. Eine kalte Pietà mit göttlicher Mutter und sterblichem Sohn: Aurora und Memnon. Enttäuschung von Lesererwartungen in Ovids „Aeneis“. Vater­ leid um die Töchter: Anius. Tod und Auferstehung: Die Coronen und ihre symbolische Bedeutung. Asymmetrische Eifersucht: Galatea, Acis und Polyphemus. Unerwiderte Liebe zu einer Spröden: Glaucus und Scylla . . . . . . . . . . . . 209 Metamorphosen, Buch 14. Interesselose Eifersucht: Circe. Apollos Zähmung, langes Leben ohne Jugend, Überleben durch die Stimme: Die Cumäische Sibylle und ihre meta­ poe­tische Bedeutung. Verwandlung und Rückverwandlung in erster Person berichtet: Macareus. Liebe schlägt in Haß um: Circe und Picus. Canens als Symbol der Dichtung. ­Aeneas als Dichter. Von den Fesceninnae zur Augusteischen

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Inhaltsverzeichnis

Dichtung: Eine metapoetische Deutung des apulischen Hirten und der Nymphen. Konsens statt Gewalt: Pomona und Vertumnus. Das Postulat einer Liebe jenseits von Standesschranken: Iphis und Anaxarete. Die metapoetische Bedeutung der Diskussion von Jupiter und Mars und die PaarApotheose von Romulus und Hersilia . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 4.16 Metamorphosen, Buch 15. Ein römischer König studiert griechische Philosophie: Numa Pompilius und Pythagoras’ Verteidigung des Vegetarismus innerhalb einer Theorie universalen Wandels. Erotische Leidenschaft und Verleumdung: Phaedra. Die Verteidigung der Republik durch den Sieg über sich selbst und die Vollendung der Liebe durch Entsagung: Cipus. Die beiden Epidauri: Aesculapius und Augustus. Panegyrik und Subversion. Selbstvergöttlichung 241 5. Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Abkürzungen der Werke Ovids und Vergils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

Vorwort Braucht es ein neues Buch zu Ovids Metamorphosen, noch dazu von einem Philosophen, der kein zünftiger Latinist ist, auch wenn vielleicht dieses Werk beweist, daß er sowohl mit der lateinischen Sprache als auch mit der klassi­ schen römischen Dichtung eine gewisse Vertrautheit besitzt? Nun, vielleicht ist gerade das Ungewöhnliche am Hintergrund des Autors eine Rechtferti­ gung der Vermehrung der Titel der Ovidbücher um einen weiteren. Denn manchmal erlaubt der philosophische Blick die Fokussierung auf Fragestel­ lungen, die einem Philologen möglicherweise eher entgehen, wie etwa das System der Liebesformen, die poetische Deutung der historischen Entwick­ lung und die höchst komplexe Theorie der eigenen Dichtung. Vermutlich sind es folgende frühere Studien, die mich für die Abfassung dieses Buches prädisponiert haben. Sowohl mein Werk Hegels System als auch Dantes Commedia und Goethes Faust zeigen eine Neigung für enzy­ klopädisches Denken und Dichten; und kein poetisches Werk der Antike ist so enzyklopädisch angelegt wie die Metamorphosen. Bei der Abfassung meines Buches Éric Rohmer. Einführung in seine Filme und Filmästhetik habe ich eine Systematisierung von Rohmers Theorie des Eros vorgenommen, bei der ich oft an Ovid denken mußte und die mich zu diesem Buche ermuntert hat. In Zur Geschichte der Ästhetik und Poetik habe ich mit Selbstinstantiierun­ gen in poetischen Poetiken der Antike und der Neuzeit eine Form des ästhe­ tischen Selbstbezugs behandelt, die von der hier dargestellten Metapoetik zwar abweicht, aber ihr doch in vielem verwandt ist. Schließlich haben mich meine beiden Bücher zur griechischen Tragödie, Die Vollendung der Tragödie im Spätwerk des Sophokles und Die Rangordnung der drei griechischen Tragiker, ersteres schon vor einem Menschenalter, zu einem gründlichen Stu­ dium der literarischen Arbeit am Mythos geführt. Danken will ich an dieser Stelle erstens meinen vorzüglichen Lateinleh­ rern am Regensburger Albertus-Magnus-Gymnasium, insbesondere Klaus Karl und Günter Kornprobst; zweitens meinem Onkel, dem Latinisten Prof. Dr. Mario Geymonat, der mir schon früh eine Liebe zu lateinischer Dichtung vermittelte, die für ihn freilich in Vergil gipfelte; drittens meinem Sohn Paul Hosle, mit dem ich viele Ideen besprechen konnte und der mir zahlreiche Hinweise gab; viertens dem Nestor der deutschen Latinistik Prof. Dr. Michael von Albrecht, der mit enormer Großzügigkeit und kluger Kritik dieses noch im Werden befindliche Manuskript las und eines Abschlusses für würdig be­

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Vorwort

fand; fünftens schließlich Dr. Luigi Miraglia, dem Leiter der Academia Viva­ rium novum in Frascati, an der ich die Grundgedanken dieses Buches erst­ mals vortragen konnte – in der dort gesprochenen Sprache, Latein – sowie meinen Kollegen im Classics Department der University of Notre Dame, zu­ mal Martin Bloomer und Luca Grillo, mit denen ich sie ebenfalls öffentlich diskutieren konnte und deren Hinweise und Kritik sehr hilfreich waren. Auch dem Italianisten Theodore Cachey verdanke ich bei dieser Gelegenheit Be­ lehrung.

1. Hat es überhaupt Sinn, nach einer Ordnung in den Metamorphosen zu suchen? Die meta­ poetische Funktion der Arachne-Episode Diejenigen historischen Epochen sind besonders faszinierend, in denen ge­ schichtlicher Wandel sich beschleunigt vollzieht und innerhalb nur einer Ge­ neration ein mentaler Umbruch erfolgt, der Werke hervorbringt, die einen ganz anderen Geist atmen als diejenigen der Vorgängergeneration. Dabei können freilich die besten Werke beider Epochen bei allen Unterschieden gleichermaßen herausragend sein. Aus der griechischen Antike wäre etwa der Gegensatz von Herodot und Thukydides, aus dem italienischen Mittelal­ ter derjenige zwischen Dante und Petrarca zu nennen; und aus der lateini­ schen Literatur ist derjenige zwischen Vergil und Ovid vielleicht am auffäl­ ligsten. Wird bei Thukydides der theologische Rahmen Herodots beseitigt und die ausschließlich menschliche Motivation geschichtlicher Ereignisse vorurteilsfrei analysiert, sprengt Petrarca den theologisch-kosmologischen Ordungsrahmen Dantes und beginnt, mit schwindelerrgender Originalität die Empfindungen der eigenen Subjektivität auszuloten. In verwandter Weise verhält sich Ovid zu Vergil. Das gilt zumal, wenn wir ihre Hauptwerke ver­ gleichen – die Aeneis und die Metamorphosen. Unterschiede bestehen auf vielen Ebenen, etwa was das Thema, die Charakterzeichnungen, die Land­ schaftsschilderungen, die zugrundegelegten moralischen Normen und den Stil betrifft, aber am auffälligsten ist der Verlust der klaren Ordnung der ­Aeneis in Ovids Hauptwerk. Bei Vergil ein zwingender logischer Aufbau, in den auch die Analepse in Aeneas’ Bericht plausibel integriert ist, ja, eine ein­ heitliche, unerbittlich fortschreitende Handlung, die teleologisch auf die Grün­ dung Roms und des Römischen Reiches ausgerichtet ist; und intertextuell, gewiß neben vielen anderen Referenzen, eine glasklare Bezugnahme auf die Grundepen des Abendlandes Ἰλιάς (Ilias) und Ὀδύσσεια (Odyssee), wenn auch in umgekehrter Ordnung: Die ersten sechs Bücher wetteifern mit der Odyssee, die letzten sechs mit der Ilias. Dabei wird freilich die Zweiteilung durch eine Dreiteilung in jeweils vier Bücher überlagert.1 Auch die homeri­ Am chaotischsten scheint die Folge der Erzählungen im zweiten und dritten Buch zu sein; aber auch hier waltet eine ringkompositorische Ordnung, wie Paul Hosle (2020) überzeugend gezeigt hat.

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1.  Die metapoetische Funktion der Arachne-Episode

schen Epen sind durch strenge Bauprinzipien gekennzeichnet: Es genüge, hier an die Ringkomposition in der Ilias, in der z. B. das erste dem letzten, das zweite dem vorletzten, das dritte dem drittletzten Buch entspricht, bzw. an die strenge Proportionalität der drei Teile der Odyssee zu erinnern, die aus vier, acht und zwölf Büchern bestehen. Bei Ovid finden wir dagegen eine verwir­ rende Fülle von zwar literarisch oft höchst geistreich verknüpften, aber doch auf den ersten Blick zusammenhanglosen Verwandlungsgeschichten, verwir­ rende Buchgrenzen, die sicher den Eindruck der Kontinuität des Ganzen er­ höhen, kein wirkliches Telos (denn die Apotheose Caesars und der Übergang zu Augustus sind als Höflingsdichtung erkennbar und nicht wirklich ein ­natürlicher Abschluß des Werkes) sowie intertextuelle Bezüge auf zahllose, heterogene Texte, ohne daß eine klare Leitquelle deutlich würde. Schon bald ist der Mangel an Ordnung des Werkes beklagt worden. Quin­ tilian schreibt im Zusammenhang seiner Kritik an affektierten Übergängen: „wie Ovid in den Metamorphosen ausgelassen zu sein pflegt, den freilich die Notwendigkeit entschuldigen kann, da er sehr verschiedene Dinge in ein scheinbar einheitliches Gebilde zusammenfaßt.“2 Ja, schon der ältere Annaeus Seneca erwähnt in den Controversiae (Kontroversen), Ovid habe als Schüler des Rhetors Arellius Fuscus viel geistreicher als die anderen vorgetragen, „ab­ gesehen von der Tatsache, daß er ohne bestimmte Ordnung durch die Themen (der Rede) geschweift sei“.3 In seiner Dichtung habe ihm nicht die Fähigkeit gefehlt, Redundanzen zu erkennen, sondern der Wille, sie zu beseitigen.4 Der Einwand liegt auch für moderne Leser nahe: Wer mit Hegel und Lukács vom Epos die Darstellung einer geschlossenen Weltordnung erwartet, muß die Metamorphosen als in hohem Maße untypisches Epos empfinden, auch wenn es Versmaß und Länge zu einem solchen machen. Angesichts der etwa 250 Verwandlungsgeschichten mag man es viel eher mit einer Novellensammlung wie Boccaccios Decamerone als einem Roman wie Tolstois Krieg und Frieden als späterem Funk­tionsäquivalent in Prosa vergleichen. Will man an ein dichterisches Werk denken, kommt man am ehesten auf Dantes Commedia, die in der Fülle an Gestalten und Episoden, aber auch an integrierten Genres manchmal den Metamorphosen näher zu stehen scheint als der Aeneis. Aber „ut Ovidius lascivire in Metamorphosesin solet, quem tamen excusare necessitas potest, res diversissimas in speciem unius corporis colligentem“ (Institutio oratoria (Unterweisung in der Redekunst) 4.1.77). 3 „excepto eo, quod sine certo ordine per locos discurrebat“ (2.2.9). 4  Contr. 2.2.12. Zum Vorwurf der Selbstverliebtheit siehe auch Quintilian, Inst. or. 10.1.88 („nimium amator ingenii sui“, „einer, der sein Genie zu stark liebte“) und 10.1.98 („si ingenio suo imperare quam indulgere maluisset“, „wenn er seinem Genie zu befehlen statt ihm zu frönen vorgezogen hätte“). 2

1.  Die metapoetische Funktion der Arachne-Episode

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die Fülle der Commedia wird durch das taxonomische Korsett der scholasti­ schen Philosophie und Theologie gebändigt, zu der es bei Ovid kein Äquiva­ lent gibt.5 August Wilhelm von Schlegel irritierten besonders die Übergänge, die die Heterogenität des Stoffes verdeckten: Die mythischen Geschichten „haben nun keinen natürIichen Zusammenhang unter einander, Ovid erkün­ stelt aber einen, und erzählt sie an einem ununterbrochenen Faden fortlau­ fend. Diese sinnreichen Übergänge und Verknüpfungen … scheinen mir ge­ rade etwas durchaus verkehrtes und fremdartiges zu seyn.“ (1884; 300)6 Auch wenn zweifelsohne die innere Kohärenz der Metamorphosen derje­ nigen der Aeneis nicht so sehr nachsteht, als vielmehr mit ihr bewußt bricht, sollte man freilich zögern, bevor man etwa Reinhold F. Gleis Verdikt vom „Erzählchaos“ zustimmt, das „als poetologische Standortbestimmung ernst­ zunehmen“ sei (1998; 90). Dagegen sprechen der überwältigende ästhetische Eindruck, den das Buch macht, und die Tatsache, daß Organizität eine der wichtigsten Momente ästhetischen Wertes ist (ganz davon abgesehen, daß sich der Autor im Buch recht schnell vom Chaos des Anfangs verabschiedet). Da nie auszuschließen ist, daß eine Ordnung verborgen liegt, die einem nur nicht in die Augen springt, ist es methodologisch zudem stets ratsam, die Möglichkeit einer solchen Ordnung offen zu lassen; denn allein dadurch bleibt man motiviert, nach ihr zu suchen. Sicher wird man zugeben, daß das generische Thema der Verwandlung einem Ordnungsprinzip feindlicher ge­ sinnt ist als dasjenige der Gründung der Keimzelle eines Weltreiches, und gewiß ist es richtig, daß Ovid sich sehr bewußt von Vergil absetzt. G. Karl Galinsky etwa schreibt: „It would be counter to the essence of mutatas formas to fit them into a rigidly controlling structure. … There is a reciprocity of content and form, and the playful, associative manner in which Ovid tells many stories bears out this point. … The form of the Metamorphoses is to be as changeable as the subjects of the myths…“ (1975; 80) Während Vergils Und natürlich auch nicht bei Vergil. Die Klage der Sibylle, sie könnte auch mit hundert Mündern und Zungen nicht alle Verbrechensformen und Strafarten im Tartarus benennen (Aen. 6.625 ff.), wird durch Dantes Einsatz der scholastischen Systematisierungen gegenstandslos. 6 Anderer Art ist der Vorwurf, den Herder laut Dichtung und Wahrheit gegenüber dem jungen Goethe in Straßburg erhob, in den Metamorphosen „sei weder Grie­ chenland noch Italien, weder eine Urwelt noch eine gebildete, alles vielmehr sei Nachahmung des schon Dagewesenen und eine manierierte Darstellung, wie sie sich nur von einem Überkultivierten erwarten lassen.“ (1981; 9.413) Herder habe damit Goethe seine frühe Liebe zu Ovid (9.35, 107) fast verleidet. Herders Urteil basiert auf einer Hochschätzung ursprünglicher Poesie, zu der Ovids, aber auch Vergils Epos nicht gehören. Doch nichts spricht dafür, nur ursprüngliche Dichtung könne vollkommen sein. 5

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1.  Die metapoetische Funktion der Arachne-Episode

Aeneis ebenso wohlgeordnet sei wie sein Kosmos und die zeitgenössische Augusteische Architektur, seien die hellenistische Inspiration (deren von der Klassik abweichende Eigenart auch in der Skulptur hervortrete7), die bewuß­ te Reaktion gegen Vergil, Ovids eigener Charakter und das funktionale Prin­ zip der Verwandlung die Faktoren, die die objektive Abwesenheit einer Ord­ nung – keineswegs nur unsere derzeitige subjektive Unfähigkeit, eine solche zu finden – erklärten (82). Ja, die Arachne-Episode der Metamorphosen (6.1–145) zeige deutlich, daß sich Ovid mit der menschlichen Weberin identifiziere. Die Zerstörung ihres Werkes durch Minerva entspringe einem Neid, der gerade nicht ästhe­ tisch argumentieren könne, ja, der bloßen Übermacht der Göttin, die sich über die Darstellung göttlicher Verbrechen empöre (6.129 ff.).8 Denn Arachnes Ge­ webe sei ein bildliches Äquivalent der Metamorphosen, veranschauliche es doch 21 Liebesgeschichten der Götter, wie sie Ovid selbst behandelt, und es mache deren inneren Zusammenhang nicht deutlich. Minerva dagegen stelle auf ihrem Webstuhl die olympischen Götter in klassischer Symmetrie dar, daneben den Wettstreit zwischen ihr und Neptunus um das Privileg, Namen­ geber Attikas zu sein – wohl angelehnt an den Westgiebel des Parthenon –, sowie an den Ecken vier Episoden der Bestrafung menschlicher Hybris, all dies umsäumt von Ölzweigen. „A set of loosely ordered tales can be as much of a masterpiece as an imposing – augusta gravitate (6.73) – classicistic, soberly ordered composition.“ (83) Galinsky hat nicht unrecht mit seiner Parallelisierung des Arachnegewebes und des Ovidischen Epos: Arachne verfolgt innerhalb der von Ovids Metamorphosen konstituierten Welt ein in manchem ähnliches Ziel wie Ovid in unserer Welt mit seinem Hauptwerk. Die Schilderung Europas 6.103 ff. knüpft kunstvoll an Ovids eigene Erzäh­ lung 2.833 ff. an, ja, gibt Details, die dort noch ausgespart waren.9 Das deutet freilich erstens auf eine Wesensverwandtschaft von Dichtung und bildender Kunst, wie sie Horaz mit den berühmten Worten „Ut pictura Der Vergleich findet sich schon bei L. P. Wilkinson (1955; 159), der auf das Fries des Pergamonaltars verweist. 8 „caelestia crimina“ (6.131) bedeutet in für Ovid typischer Ambivalenz sowohl „Beschuldigungen gegen die Götter“ als auch „Verbrechen der Götter“; ersteres meint Minerva, letzteres wohl Ovid. 9 Ulrich Schmitzer sieht auch eine politische Dimension der Kritik Ovids: Er lehne „den offiziellen repräsentativen Kunst und vor allem Architekturstil ab, den gerade eine Überhöhung der Politik durch mythologische Bezüge zu allge­ meinen Aussagen charakterisiert. Zum anderen wehrt er sich vehement gegen ein Eingreifen politisch Mächtiger … in die Welt der Kunst und besonders der Dich­ tung.“ (1990; 237) 7

1.  Die metapoetische Funktion der Arachne-Episode

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poesis“ ausgedrückt hatte10 – in einem Werk freilich, dessen zentrale poetolo­ gische Lehren nach Galinsky (81) denen Ovids entgegengesetzt sein sollen. Zudem räumen die Metamorphosen auch der Musik, Architektur und Skulp­ tur einen wichtigen Platz ein (die Arachne-Episode entspricht dem Gesang­ wettstreit der Pieriden und Musen im fünften Buche, und von Daedalus und Pygmalion wird noch auführlich die Rede sein), lehren also einen inneren Zusammenhang der Künste, was mit einer Position, die ästhetische Ordnung ablehnt, nicht ohne weiteres in Übereinstimmung zu bringen ist.11 Zweitens muß man die Reflexivität der Stelle bewundern – die Arachne-Episode ist nicht zufällig in den Erzählsog geraten, sondern erfüllt die Funktion, Licht auf Ovids eigenes ästhetisches Programm zu werfen. Schon die Ilias kennt mit der Beschreibung des Schilds des Achilles im achtzehnten Buch eine aus­ gedehnte Ekphrasis;12 aber Ovids Ekphrasis ist reflexiv. Sie, wie auch die zahlreichen anderen Passagen zu Künstlern, erläutern den Plan des Gesamt­ werks.13 Doch drittens – und das ist der entscheidende Punkt – stimmt es einfach nicht, daß Ovid sein eigenes Werk nur mit demjenigen Arachnes identifiziert. Sicher, im allgemeinen Thema entsprechen die beiden Werke einander; aber die Europa-Geschichte ist von den Einzelepisoden, die Arach­ ne darstellt, die einzige, die Ovid selber ausführlich behandelt. Vermutlich ist ihre Position am Anfang dafür verantwortlich, daß so viele Interpreten auf  Ars poetica (Dichtkunst) 361. Zur inneren Verwandtschaft von Bildhauerei, Male­ rei und Dichtung siehe Carmina (Oden) 4.8.5 ff. (Die Einwände gegen die Echt­ heit der ganzen Ode sind nicht schlagend.) 11 Sicher haben die Alten noch kein Wort, das nur die schönen Künste bezeichnet – „ars“ etwa deckt auch das Handwerk ab. Aber es ist kein Zufall, daß in der Rei­ henfolge der von Minerva geschützten Künste die Dichtung die letzte bildet und selbst unmittelbar auf die bildenden Künste Bildhauerei und Malerei folgt (F. 3.831 ff.). Zur Verwandtschaft von Dichtung und Malerei siehe auch Tr. 2.521 ff., zu derjenigen von Dichtung und Architektur EP. 4.8.31 ff., zu derje­ nigen von Dichtung und Tanz EP. 4.2.33 f. Die Malerei wird in den Metamorphosen offenbar durch das Weben repräsentiert, das ebenfalls eine zweidimensionale, Farben einsetzende Form ikonischer Repräsentation ist. 12 Eine Schilderung eines gewebten Kleides, das einen Mythos darstellt (den Raub des Ganymedes), gibt ferner das Vergilische Epos (5.250 ff.), das im achten Buch ebenfalls eine Schild-Ekphrasis bietet. Auch Catull, Carmina 64 bietet den The­ seus-Ariadne-Mythos in Form einer Ekphrasis. 13 Gleichsam um eine Reflexivität zweiter Ordnung handelt es sich bei Dante, Purgatorio 12.43 ff., wenn Dante auf den Fußboden tritt, in dem u. a. Arachne, und zwar im Moment ihrer Metamorphose in eine Spinne, dargestellt wird. Einerseits weist Dante damit auf die Verwandlungen der Seele, die sich im Fegefeuer, auch und gerade bei ihm als Jenseits-Pilger, ereignen, andererseits spielt er auf die ver­ wandelnde Aneignung seiner Vorgänger, u. a. Ovids, in seinem eigenen Werke an. 10

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die Analogien von Ovids und Arachnes Werk weisen; und wahrscheinlich hat der Dichter mit einer gewissen maliziösen Freude diesen naheliegenden Irr­ tum seiner Leser vorhergesehen, ja, beabsichtigt. Doch man muß weiterlesen. Denn zwar werden einige wenige der anderen von Arachne abgebildeten Ge­ stalten auch sonst von Ovid genannt, z. B. Medusa (6.119 f. und 4.798 ff.), aber die allermeisten erscheinen nur an diesem Platz in den Metamorphosen. War­ um? Nun, Arachne liebt es, temporäre Selbstverwandlungen der Götter in Tiere darzustellen, Ovid spart solche hingegen mit Ausnahme der Europage­ schichte aus, vermutlich weil diese Mythen einerseits die Götter, andererseits die Menschen zu sehr erniedrigen.14 Ovid will die Komplexität menschlicher Liebe verstehen, Arachne grelle Bilder produzieren. Aber nicht nur inhaltlich sind die Metamorphosen ziemlich anders als das Gewebe Arachnes. Auch formal ist das Ordnungsprinzip, das Arachne befolgt, recht schlicht: Sie be­ handelt die Verführungen durch die einzelnen Götter in der Reihenfolge von deren Rangordnung (ihr entspricht die Zahl der Verführungen, die sie sich jeweils gestatten), also zuerst diejenigen Jupiters, dann diejenigen seines Bru­ ders Neptunus, darauf diejenigen seiner Söhne Apollo und Bacchus, schließ­ lich diejenige seines abgesetzten Vaters Saturnus. Nun, die Metamorphosen sind gerade nicht so strukturiert. Die einzelnen Götter erscheinen wiederholt, doch nicht hintereinander, sondern an ganz unterschiedlichen Plätzen. Zwar könnte man daraus die Schlußfolgerung ziehen wollen, Ovid überbiete eben Arachne im Mangel an Ordnung. Aber vielleicht will Ovid uns zu verstehen geben, daß seine Ordnung komplexer ist als diejenige Arachnes, die eher der­ jenigen eines Hesiod zu folgen scheint. Minerva auf der anderen Seite schildert in ihrem Kunstwerk einen Wett­ kampf – ganz so wie Ovid an dieser Stelle seines Werkes denjenigen zwischen Minerva und Arachne. Und um Bestrafungen durch die Götter wie in Miner­ vas Gewebe geht es auch in den Metamorphosen, und gerade in dieser Episo­ de, die mit der Verwandlung Arachnes in eine Spinne endet. Die von Galinsky erörterte Episode steht also in Wahrheit Minervas Werk näher als demjenigen Arachnes.15 Ja, auch und gerade die Reflexivität Ovids, die ich eben hervorge­ hoben habe, hat einen Vorläufer keineswegs in Arachnes, sondern in Minervas Werk. Denn nur Minerva stellt erstens einen Wettkampf, wie er gerade zwi­ schen ihr und Arachne abläuft, und zweitens auch ausdrücklich sich selbst dar, mit einer Victoria über ihrem Kopf (6.78 ff.) – so wie Ovid zwar nicht von sich als Person spricht, aber doch Hinweise gibt auf die Eigenart seiner Kunst. Re­  EH. 17.45 ff. wird dagegen die Verführung Ledas durch Jupiter als Schwan kurz behandelt. 15 Das heißt nicht, daß Gleis Vergleich von Minervas Gewebe mit Vergils Aeneis abwegig ist (1998; 95 f.). Er ist nur einseitig. 14

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flexiv sind nur Minervas und Ovids Werke, nicht Arachnes, und während Arachne sich außerhalb ihres Werkes selbst preist, tut das Ovid, wie Minerva, indirekt innerhalb seines Kunstwerks. Da ihm zudem Neid fern ist und er seine Konkurrenten nicht zerstört, sondern in sein Werk integriert, kann man sogar sagen, daß er das Göttliche an Minerva noch überbietet. Eine genaue Lektüre macht, denke ich, klar, daß Ovids ästhetisches Pro­ gramm ebensowenig auf dasjenige Arachnes reduziert werden kann wie auf dasjenige Minervas (denen beiden, anders als Ovid, das Interesse an rein menschlichen Ereignissen abgeht). Die Episode zeigt vielmehr: Ovid hat er­ stens einen klaren Sinn für den Unterschied ästhetischer Stile, einen klassizi­ stischen und einen dagegen sich auflehnenden – das ist an sich schon eine bedeutsame intellektuelle Leistung, die fast schon an die frühromantische Poetik erinnert, die den Unterschied von Klassik und Romantik paradigma­ tisch ausarbeitete. Zweitens macht aber Ovid deutlich, daß er selber die Tu­ genden beider Stile zu verbinden weiß. Er will eine Synthese.16 Er fühlt sich – darin haben Galinsky und seine Nachfolger recht – keineswegs dem starren Ordnungsgerüst früherer epischer Dichtungen verpflichtet. Aber das bedeutet keineswegs, daß er „Erzählchaos“ produziert. Wenn er poetische Ordnungs­ prinzipien hat, weichen sie von denen der homerischen Epen und der Aeneis ab – sie sind komplexer und versteckter. Denn Ordnung kommt in vielen For­ men. Die Arachne-Episode sollte uns auf jeden Fall nicht von der Suche nach ihnen abhalten.

Dies ist durchaus schon gesehen worden, wenn auch mit weniger detaillierten Argumenten als den meinen. Eleanor Winsor Leach etwa schreibt: „As the creator of the poem, Ovid maintains a vision embracing both points of view. A balance between them is essential to the temper of the poem. Thus it is impossible to iden­ tify Ovid’s perspective entirely with Arachne’s…“ (1974; 104). Ihr folgt D. C. Feeney, der hinzufügt: „Minerva’s work is an exaggerated picture of divine epic decorum, Arachne’s an exaggerated picture of neoteric divine abandonment.“ (1991; 192) Ähnlich schon Italo Calvino (1979), X: „Chi ne inferisse che l’intero poema deva esser letto nel primo modo – dato che la sfida d’Aracne è crudelmente punita – o nel secondo – dato che la resa poetica favorisce la colpevole e vittima – sbaglierebbe…“

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2. Bisher hervorgehobene Ordnungsprinzipien. Anspielungen auf die Pentadenordnung innerhalb der Metamorphosen? Ziel dieser Abhandlung ist es, auf ein Ordnungsprinzip aufmerksam zu ma­ chen, das, soweit ich sehe, bisher noch nicht in dieser umfassenden Form vorgeschlagen wurde. Vorwegnehmend sei gleich eingeräumt, daß es sich da­ bei nur um ein partielles Ordnungsprinzip handelt, da es bloß die erotischen Geschichten betrifft, die nur einen Teil der Metamorphosen ausmachen – al­ lerdings den zumindest qualitativ wichtigsten. Es handelt sich ferner um ein materiales, kein formales Gliederungskriterium. Ebendeswegen erhebe ich auch keineswegs den Anspruch, dabei handle es sich um das einzige Ord­ nungsprinzip. Die meisten der bisher hervorgehobenen Kriterien erhellen durchaus Teile der komplexen Ordnung Ovids; meines will sie ergänzen, nicht ersetzen. Doch die Berücksichtigung des hier vorgeschlagenen Prinzips wirft, denke ich, ein neues Licht auf die Architektur der Metamorphosen und läßt zudem neue Aspekte der Liebestheorie Ovids hervortreten. Bevor ich es im einzelnen ausführe, sollen die wichtigsten bisherigen Versuche, Ordnungs­ prinzipien zu finden, kurz zusammengefaßt werden. Offenkundig ist natürlich das chronologische Kriterium. Das Werk be­ ginnt mit der Weltschöpfung und reicht bis zur Gegenwart, wie schon die Eingangsverse behaupten: „primaque ab origine mundi/ ad mea perpetuum deducite tempora carmen“ („Vom Uranfange der Schöpfung/ Führt bis auf un­ sere Zeit des Gedichts fortlaufenden Faden“, 1.3 f.)17 und wie Ovid Tr. 2.559 f. Augustus gegenüber wiederholt. Damit ist eine Art enzyklopädischen An­ spruchs verbunden – das Werk deckt gleichsam die Grundstrukturen der Als Übersetzung zitiere ich in der Regel Martin Vosselers Revision der Übertra­ gung von Reinhart Suchier in Goldmanns Klassikern, die ich korrigiere, wenn es auf die Wörtlichkeit der Übersetzung ankommt. Dabei greife ich immer wieder auf die vorzügliche Übertragung Michael von Albrechts in Prosa zurück. Doch es schien mir wichtig, denjenigen, die des Lateins nicht mächtig sind, zumal bei län­ geren Stellen ein akzentuierendes Äquivalent des Ovidischen Metrums gerade bei diesem Hauptwerk zu vermitteln, außer wenn Suchier sich zu sehr vom Original entfernt. Daß ich von Albrecht folge, erkennt man bei längeren Stellen am Fehlen von Versmarkierungen (/). Übertragungen aller anderen Texte stammen von mir und sind stets in Prosa, weil diese anderen Werke hier nicht im Zentrum stehen.

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Wirklichkeit und ihres Wandels vom Beginn der Zeit bis in die Gegenwart auf. Statt der homerischen Epen sind Hesiods Θεογονία (Theogonie) und der ihm in der Antike zugeschriebene Γυναικῶν Κατάλογος (Katalog der Frauen)18 inspirierend,19 freilich mit einer psychologischen Vertiefung, die die geistesgeschichtliche Entwicklung während der vorangegangenen sieben Jahrhunderte ermöglicht hatte, zu der als besonders einschneidende Höhe­ punkte die Entstehung der Philosophie, die griechische Tragödie, das gelehr­ te und geistreiche hellenistische Spiel mit den nicht mehr geglaubten Mythen, die römische Rezeption der fremden griechischen Kultur und die lateinische Liebesdichtung gehören. Zu Beginn des ersten und in der großen PythagorasRede des letzten Buches knüpft Ovid an das Genre des philosophischen Lehr­ gedichtes an und wetteifert mit Empedokles und Lukrez, auch wenn er selber keine originäre philosophische Begabung hatte; und in den beiden letzten Büchern deckt er einen Zeitraum ab, den Vergil in der Aeneis bzw. teilweise Ennius in den Annales behandelt hatte. Inspiration zu seinem unvergleichlich umfassenderen Projekt fand er sicher in der sechsten Ekloge Vergils, da der Gesang des Silenus ebenfalls mit den verschiedenen Elementen einsetzt (31 ff.), alsdann Mythen – und zwar primär Verwandlungsmythen – erzählt (41 ff.) und voller direkter und indirekter metapoetischer Anspielungen ist. Trotz des viel größeren Umfangs hat Ovid freilich nicht alle von Vergil be­ rührten Mythen übernommen: Von Hylas ist bei ihm nicht die Rede.20 Versucht man die riesige Stoffmasse der Metamorphosen zu gliedern, so scheint eine Dreiteilung in Verwandlungsgeschichten erstens der Götter, zweitens der Heroen und drittens der Menschen aus geschichtlicher Zeit na­ hezuliegen.21 Diese Kategorisierung ist von Wilkinson (1955; 147 f.) vorge­ schlagen worden, für den die drei Hauptteile von 1.452 bis 6.420, von 6.421 Auch wenn einige Philologen das Werk, von dem nur Fragmente erhalten sind, zumindest in die Zeit Hesiods rücken, schreibt Martin West (1985; 130 ff.) es dem sechsten Jahrhundert zu. 19 Schlegel spricht daher von „einem mythischen Lehrgedicht“ (1884; 300). – Die Ἔργα καὶ ἡμέραι (Werke und Tage) Hesiods stehen eher für die Fasti Pate, wie die zweifache Anrede „vates operose dierum“ („fleißiger Dichter der Tage“) 1.101 und 3.177 beweist. 20 Die meisten der für ihn maßgeblichen Dichter (merkwürdigerweise nicht Euripi­ des) nennt Ovid Am. 1.15: Homer, Hesiod, Kallimachos, Sophokles, Aratos, Men­ andros, Ennius, Accius, Varro, Lukrez, Vergil, Tibull, Gallus. Catull fehlt aller­ dings, doch Am. 3.15.7 f. wird er mit Vergil und Ovid zusammen genannt, was wohl eine noch größerer Ehre ist. Er ist es auch, der zusammen mit Calvus und vielleicht Gallus Tibull in der Unterwelt willkommen heißt (Am. 3.9.62). Hesiod und Homer will Ovid AA. 2.3 f. übertroffen haben. 21 Diese Dreiteilung reicht von Varro zu Giambattista Vicos drei Zeitaltern (der Göt­ 18

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(wo die mit Athen verknüpften Mythen beginnen) bis 11.193 sowie von 11.194 (wo der Trojazyklus einsetzt) bis 15.870 reichen. Aber er selbst räumt ein, daß es sich um keine scharfe Unterscheidung handelt, sondern viele Exkurse sie immer wieder untergraben; und in der Tat ist angesichts der Verbindungen von Göttern und Heroenfrauen die Trennung zwischen den beiden ersten Epochen recht künstlich. Neben dem chronologischen spielt das geographi­ sche Kriterium eine Rolle – ich erwähnte eben die mit Athen verknüpften Mythen, die sich vom sechsten bis zum neunten Buch erstrecken, so wie die thebanischen im dritten und vierten (und ein Nachtrag im sechsten) thema­ tisch sind. Und schließlich begründen gelegentlich genealogische Abstam­ mungsverhältnisse den Übergang von einer Geschichte zur anderen. Doch kann man diese unter das chronologische Ordnungsprinzip subsumieren, da Ovid, anders als der Autor der Katalog der Frauen, „in einheitlicher Durch­ führung des chronologischen Prinzips die Geschlechterreihen miteinander verband und die jeweils zu einer Zeitebene gehörenden Sagen vereint zur Darstellung brachte“ (Ludwig (1965), 75). Es ist Walther Ludwig gewesen, der Wilkinsons Dreiteilung anders ausgestaltet hat. Für ihn bilden 1.5–451 die Urzeit, 1.452–11.193 die (Wilkinsons Epochen der Götter und Heroen übergreifende) mythische sowie der Rest die historische Zeit.22 Dabei wird der zweite Teil in sieben, der dritte in vier Epochen unterteilt (1.452–2.835: Liebe der Götter; 2.836–4.606: thebanischer Mythenkreis; 4.607–5.249: Per­ seus; 5.250–6.420: Zorn der Götter; 6.421–9.97: athenischer Mythenkreis; 9.1–446: Hercules; 9.447–11.193: Orpheus’ Erzählungen; 11.194–795: Vorge­ schichte des Trojanischen Krieges; 12.1–13.622: Trojanischer Krieg; 13.623– 14.440: Aeneas’ Schicksal; 14.441–15.870: Geschichte Roms) unterteilt. (Man beachte die Überschneidung 11.194–215, wo wieder von Hercules die Rede ist.) Anders als bei Vergil seien die Buchgrenzen nicht für die Einteilungen konstitutiv; Ovid habe eine „ganz andere Kompositionsform gewählt“ (83). Entscheidend ist nach Ludwig Ovids Anknüpfung an die universalhistori­ schen Bemühungen des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, wie sie ange­ sichts der Expansion des Römischen Weltreiches verstärkt wurden, etwa bei Kastor von Rhodos, der orientalische, griechische und römische Geschichte ter, der Heroen und der Menschen), in die er jeden Zyklus einteilt. Vgl. das vierte Buch in der dritten Auflage seiner Scienza nuova von 1744. 22 Ob die Epistulae heroidum eine ähnliche Struktur haben sollten, läßt sich wegen der separaten Überlieferung des Briefes Sapphos, der einzigen geschichtlichen Figur, nicht entscheiden – von der Echtheitsfrage bei diesem Brief einmal ganz abgesehen. Verteidigt wird die Echtheit etwa von Heinrich Dörrie (1975) sowie in seiner Ausgabe der Briefe 287 f. Ovid habe bewußt den Sapphobrief aus der gän­ gigen Ausgabe ausgeschieden, um Augustus nicht zu provozieren.

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aufeinander folgen ließ, bei Diodor und bei Varro. „Ovid wollte als Dichter etwas für die Dichtung erfüllen, was die Universalhistoriker im Bereich der Geschichtsschreibung leisteten.“ (80) Die Bewegung gehe vom Chaos bis zu der von Augustus gestalteten Ordnung.23 Das eigentlich Innovative – auf das Ovid schon in den ersten vier Worten des Werkes stolz Anspruch erhebt – sei die Verknüpfung der Hesiodeischen Lehrgedichte mit der hellenistischen Verwandlungsdichtung und der universalhistorischen Perspektive. Mit Ludwig stimmt in manchem Brooks Otis überein, der zu Recht darauf verweist, „perpetuum … carmen“ in 1.4, am Ende des kurzen Prologs, sei in bewußter Absetzung vom Anfangsgedicht in Kallimachos’ Αἴτια (Ursprungsgedichte) ausgesprochen, wo in V. 3 von Frg. 1 der alexandrinische Dichter erklärt, kein einheitliches und durchgehendes Gedicht vorzulegen (οὐχ ἓν ἄεισμα διηνεκὲς…). „Ovid, in spite of his discontinuous subject-matter, did in fact regard his poem as one continuous narrative.“ (1970; 46) Anders als in den in elegischen Distichen abgefaßten Fasti (Festtage), die viel eher dem Kallimachischen Modell folgen, seien die Metamorphosen chronologisch ge­ ordnet und zudem in einheitlich epischem Stil verfaßt.24 Allerdings ist zu Recht darauf verwiesen worden, von Einheit, dem anderen Attribut, das Kallimachos zurückweist, sei bei Ovid nicht die Rede, der keinen einzelnen Helden hat; ferner erinnere das „deducite“ in demselben Vers an Vergils „de­ ductum … carmen“ („leises … Gedicht“) B. 6.5, das Kallimachos fortsetzt – Ovid bleibt auch im Bruch mit Kallimachos diesem partiell treu.25 Aber der Ähnlich Luigi Alfonsi (1958), 272: „dal disordine cosmico all’uomo e dal disordi­ ne umano all’armonia dell’impero augusteo, unica certezza tra tante realtà peritu­ re.“ Auch wenn Ovid eine solche Entwicklung faktisch anerkannt haben wird, fehlt ihm freilich der Enthusiasmus, mit dem Vergil die Errichtung des Römischen Reiches als Telos des Fatums begrüßt. 24 Dies zeigt, daß der Bruch mit der „großen“ Dichtung bei den Alexandrinern, zu­ mal bei Kallimachos (dazu immer noch lehrreich Bruno Snell (1946), 217 ff.), für die Späteren nicht unwiderruflich war. Aber eine kreative Wiederaufnahme der alten und umfassenden, nicht wie bei Apollonios verspielt-gelehrten epischen Tra­ dition erfolgte nicht mehr in der griechischen, sondern in der römischen Literatur, denn eine solche Wiederbelebung bedurfte des Zuflusses vitaler geschichtlicher Erfahrung und eines neuen Sendungsbewußteins. Dabei haben die Metamorphosen, in anderem Maße als die Aeneis, die Miniaturmalerei der Alexandriner in ein neues Konzept des Epos integriert. – Kulturzyklentheorien scheitern, wenn sie Interferenzerscheinungen zwischen Kulturen übersehen. Die Verbindung von Fri­ sche des Empfindens und Raffinesse der Reflexion macht die augusteische Dich­ tung zu etwas weltgeschichtlich Neuem. Am ehesten kommt ihr in dieser Synthe­ se nahe die russische Literatur des 19. Jahrhunderts. 25 Bei Joachim Latacz heißt es: „Ovid will nicht der römische Antikallimachos sein, 23

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entscheidende, über Ludwig hinausführende Punkt ist, daß nach Otis die Ein­ heitlichkeit nur oberflächlicherweise durch die chronologische Ordnung her­ gestellt wird. „Ovid’s variety has method in it. His problem was to arrange his episodes so that they together represented some sort of sequence and plan. … he is concerned with two very different types of continuity. One is the super­ ficial narrative connection of the episodes; the other is the much more signi­ ficant movement or sequence of motifs and ideas.“ (80) Nach ihm zerfällt das Werk in vier Hauptteile: Die beiden ersten Bücher behandeln die „göttliche Komödie“ (in einem nicht-Danteschen Sinne), 3.1–6.400 die rächenden Göt­ ter, 6.401 bis zum Ende des elften Buches das Pathos der Liebe und die letz­ ten vier Bücher Rom und die Apotheosen seiner Herrscher. Otis erkennt an, daß die beiden ersten Teile nicht so scharf abgegrenzt sind wie die anderen (315) und sieht einen starken Bruch zwischen den ersten drei und dem vierten Teil: „The real problem of its unity … is the ‚gap‘ between the last four books (the Augustan portion) and the preceding eleven books or…the discrepancy between the amatory plan … and the Augustan or heroic-epic plan“ (310 f.). Zwar habe Ovid sich darum bemüht, Querverbindungen zwischen den beiden Teilen zu gestalten,26 aber das ändere nichts an der Dualität beider Pläne (354). Ovid habe den heroischen Plan nur dadurch in das Gesamtwerk inte­ grieren können, daß er ihn komisch und letztlich antiepisch umgestaltet habe, zumal in den Vergil-Parodien. „Ovid can be serious … but he is never serious when he echoes or recalls Vergil.“ (334) Eine scharfe Kritik an dem Versuch, der Interpretation der Metamorphosen ein chronologisches Ordnungsprinzip zugrunde zu legen, entstammt der Feder Ernst A. Schmidts. So weist er etwa darauf hin, Ovid sei unbekümmert um Chronologie (1991; 43).27 Im ersten Buch töte Apollo den Drachen Python sondern der römische Überkallimachos.“ (1979; 145) Heinz Hofmann hebt (1985; 224) hervor, schon Ennius habe in den Annales Homer, Hesiod und Kallimachos zu verknüpfen gesucht. 26 Siehe zu 1.199 ff. und 560 ff. als Antizipationen der späteren Behandlung von Cae­ sar und Augustus Vinzenz Buchheit (1966). Auch wenn die Bezugnahme auf der Hand liegt, ist ihre Bewertung freilich eine andere Sache. Da Jupiter sicher ambi­ valent geschildert wird, mag dadurch auch Augustus zwielichtig erscheinen. Vgl. Gareth D. Williams (2009), 157 f. und schon Viktor Pöschl (1976). 27 Dagegen hat Pierre Grimal (1958) versucht zu zeigen, daß Ovid sich sehr wohl um eine Übereinstimmung mit der traditionellen Chronologie der Mythographen be­ müht hat. Das mag freilich nur darauf zurückzuführen sein, daß er Diskrepanzen zu Lesererwartungen vermeiden wollte. Allerdings sind die Anachronsimen im Werk so zahlreich, daß sie wohl absichtlich eingesetzt werden; vgl. Joseph B. Solodow (1988), 75 ff. Die Argo etwa wird 6.721 „das erste Schiff“ („prima … carina“) genannt, obwohl kurz vorher von Schiffahrten die Rede war (6.444 ff.,

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(1.416 ff.), die Geschichte von Latona, die ihn und Diana eben geboren habe, finde sich allerdings erst 6.331 ff. Nun handelt es sich dabei, was Schmidt natürlich weiß, um keinen Widerspruch im logischen Sinne. Denn die Ge­ schichte von den in Frösche verwandelten lykischen Bauern wird gerade nicht auktorial erzählt, sondern von jemandem, der Niobes und ihrer Kinder Unter­ gang erlebt hat; ja, er selber hat sie von jemand anderem gehört. Sie muß also lange vorher erfolgt sein, und nichts impliziert, sie könne der Tötung Pythons nicht vorhergegangen sein. Es gibt viele Gründe für Ovids kunstvollen Wech­ sel zwischen direkter Erzählung durch den Dichter und indirekter Erzählung durch einen vom Dichter geschaffenen Charakter (siehe unten S. 55 ff.); einer von ihnen ist, daß Ovid damit chronologischen Widersprüchen entgehen kann, ohne in seiner Kompositionsfreiheit beschränkt zu sein. Genau darauf zielt Schmidt ab: Ovid hat keine Scheu, im Rahmen der traditionellen und auch von ihm nicht vollständig zurückgewiesenen Chronologie Episoden spä­ ter erzählen zu lassen, wenn sie besser in den poetischen Zusammenhang passen – die Bestrafung der lykischen Bauern etwa in den Rahmen der Ge­ schichten göttlicher Bestrafungen. Denn diese sind nach Schmidt neben der Götterliebe zu Menschen, der Liebe von Menschen und den Apotheosen eines der vier Hauptthemen des Werkes. Mit dieser Einschätzung der Themen weicht Schmidt von Otis nicht stark ab, und auch seine Bemerkungen zur Chronologie sind mit Otis’ Anerkennung des bedeutsameren Zusammen­ hangs unter dem oberflächlichen chronologischen durchaus vereinbar. Viel weiter geht Schmidts These, den Metamorphosen sei jeder Entwicklungsge­ danke fremd, da Ovid ein zyklisches Geschichtsbild habe und die menschli­ che Natur als konstant annehme. „Ovid hat kein Interesse an Geschichte; er denkt nicht geschichtlich.“ (45) Denn „die Verbindung ewigen Wandels mit einem teleologischen Geschichtsprozeß“ sei unmöglich (41). Nun muß man Schmidt sicher zugeben, daß Ovid kein Organ für Politik hatte (46), zumal Schmidt zugesteht, dies bedeute keineswegs, Ovid sei sich der friedensstiften­ den Lei­stung des Augustus nicht bewußt gewesen – fast alle seine intelligen­ ten Zeitgenossen waren es nach mehr als einem halben Jahrhundert der Bür­ gerkriege, er selbst eingeschlossen (F. 1.67 f., 285 ff., 701 ff.28, EP. 1.2.124). Und erst recht gab sich Ovid darüber Rechenschaft, daß die imperiale Herr­ 511 ff.). Die plausibelste Korrektur der verderbten Stelle 14.325 nimmt mit „Eli­ de“ auf die Olympischen Spiele Bezug, die es damals noch gar nicht gegeben ha­ ben kann. Zumal bei der Schilderung der Geschichte Roms „verstößt der Dichter … mehrfach und in unterschiedlichem Ausmaß gegen die überlieferte Chronolo­ gie“ (Roland Granobs (1997), 41). 28 Beachtlich an der letztgenannten Stelle der Fasti ist, daß Ovid nur Verteidigungs­ kriege zu legitimieren scheint (715) und, anders als in Caligulas „Oderint dum

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schaft Roms29 seinem Hauptwerk eine räumliche und zeitliche Ausbreitung ermöglichte, auf die es sonst nicht hoffen konnte (M. 15.877 ff.; Tr. 3.7.50 ff.). Von dem dysteleologischen Geschichtsbild Lukans ist Ovid noch weiter ent­ fernt als von dem teleologischen Vergils. Anders als die Aeneis behandeln die Metamorphosen allerdings nicht den mühsamen Versuch einer Staatswer­ dung, aus dessen Gefährlichkeit sich allein die Leistung plausibel machen läßt, die ein Weltreich darstellt. Und sicher hatte der junge Ovid selbst einen möglichen Triumphzug über die Parther, nach wortreicher Panegyrik, primär als Gelegenheit zu erotischer Eroberung gewürdigt (AA. 1.177 ff.) – was Augu­stus schwerlich goutiert haben wird.30 Es ist daher kaum zu bestreiten, daß der scheinbar triumphierende Abschluß des Werkes sich nicht natürlich aus dem Vorhergehenden ergibt. Aber daß Ovid nicht geschichtlich zu denken vermöge, ist eine viel weiter­ gehende Behauptung als die These von seinem Desinteresse an Politik, ob­ gleich auch Hermann Fränkel in seinem klassischen Ovidbuch beide ver­ mengt. „Ovid took little pride or interest in the Imperial State. … In progress he could not believe … politics left him cold.“ (1945; 92) Warum handelt es sich um Verschiedenenes? Nun, ewigen Wandel lehrt auch Lukrez, und doch bietet das fünfte Buch von De rerum natura (Vom Wesen der Dinge) eines der eindrucksvollsten Entwicklungsmodelle der antiken Philosophie, innerhalb dessen die Vorgeschichte der Menschheit eine wichtige Rolle spielt (5.925 ff.). Zunahme an kultureller Komplexität ist durchaus vereinbar mit dem periodi­ schen Zusammenbruch von Kulturen, wie schon Platon wußte; denn techni­ scher Fortschritt kann von moralischem Niedergang begleitet sein.31 Aber metuant“ („Sollen sie mich hassen, wenn sie mich nur fürchten“), die Liebe zu Rom der Angst vor ihr vorzieht (718). 29 Zu deren Einzigartigkeit siehe Tr.  2.231 f. 30 Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob hier bewußte Provokation und Subversion des Ruhms Augustus’ oder nur ein Nebeneffekt von Ovids Konzentration auf den Eros vorliegt, der ihn stets mehr interessiert hat als die Politik. Ich plädiere für einen dolus eventualis, da bei einem unpolitischen Autor wie Ovid kein dolus di­ rectus vorauszusetzen ist. Eher scheint er mir bei Augustus vorzuliegen, der, an­ ders als Ovid vermutet oder zu vermuten vorgibt (EP. 1.2.71 f.), genau gewußt haben wird, wohin er den Dichter des Eros schickte, der nun „in procinctu“ („zum Kampf gegürtet“, 1.8.10) dichten muß und, so mag Augustus gedacht haben, in einer Garnisonsstadt wie Tomis die politische Leistung des Reiches und die Gefährdung der „pax Augusta“ (2.5.18) zu begreifen Gelegenheit haben würde. Aber auch das panegyrische Gedicht an Germanicus mit der Schilderung eines Triumphes, der diesmal nicht mehr erotischen Interessen dienstbar gemacht wird (2.1), vermochte es nicht, eine Aufhebung der Relegation zu erreichen. 31 Die beiden Anspielungen auf das goldene Zeitalter in der Aeneis (7.203 f. und

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wenn Ovid nicht daran interessiert war, Wandel in den politischen Institutio­ nen aufzudecken, auf welche Entwicklung sollte er sich dann konzentrieren? Vielleicht auf diejenige innerhalb des anderen Plans, den er nach Otis neben dem heroisch-­­epischen verfolgte? Nur wenig hilfreich ist die Behauptung, Ovids jeweilige Anordnung folge seiner Vorlage.32 Denn da er erstens nicht nur eine Vorlage hatte, sondern zahlreiche Quellen, mußte er aus ihnen auswählen;33 ja, selbst wenn er der Ordnung der einen für einen längeren Zeitraum folgte, war es stets eine be­ wußte Entscheidung, dies zu tun.34 Denn Vollständigkeit hat Ovid nicht ange­ strebt. Er hat Mythen breiten Raum gegeben, die nicht mit Verwandlungen (zumindest der Hauptfigur) enden, und er hat mythische Figuren von größter literarischer Bedeutung wie Prometheus und Oedipus (der ihn vermutlich mehr interessiert hätte, wenn sein Inzest mit der Mutter Absicht gewesen wäre) nur gestreift.35 Er scheint zudem bewußt vermieden zu haben, einiges sei es von Vergil, sei es von ihm selbst anderswo schon ausführlich Behandel­ te erneut darzustellen, wie etwa die Verführung Helenas durch Paris oder die Liebesgeschichte zwischen Aeneas und Dido. Und zweitens zirkulierte der­ selbe Mythos immer wieder in verschiedenen Versionen. Manchmal liebt Byblis Caunus, manchmal Caunus seine Schwester;36 ja selbst die unter dem Namen des Hyginus überlieferten zwei mythographischen Handbücher stim­ men nicht darin überein, wer denn Callisto in eine Bärin verwandelt habe. Nach Fabulae (Mythen) 177 war es Juno, nach De astronomia (Von der Astronomie) 2.1 Diana selber bzw., nach einer anderen dort erwähnten Variante, 8.314 ff.), wenn auch nicht ohne Widerspruch, was die Existenz von Gesetzen betrifft, schildern analog ein technisch sehr schlichtes, aber friedfertiges und sitt­ liches Zeitalter. Ihm gegenüber stellt das Zeitalter des Latinus und Euandrus eine spätere Entwicklungsstufe dar, die aber noch primitiv ist, wenn sie mit dem mit Vergil zeitgenössischen Rom verglichen wird (vgl. 8.346 ff.). 32 Eine gelehrte Rekonstruktion meist verlorener alexandrinischer Quellen bot Luigi Casti­glioni (1906). 33 Vgl. Georges Lafaye (1904), 66 ff. 34 In den Fasti war die Kalenderordnung viel unflexibler. Das ist einer der Gründe, warum das Werk den Metamorphosen literarisch so deutlich unterlegen ist. Ein anderer ist, daß Ovid an den römischen Riten, anders als an der Liebe, kein exi­ stenzielles Interesse hatte. 35 Nur kurz werden Prometheus 1.82 ff. und Oedipus 7.759 ff. genannt. 36 Nach Konons Διηγήσεις (Erzählungen) 2 liebt Kaunos Byblis, aber sie erwidert seine Liebe. Parthenios berichtet in den Ἐρωτικὰ Παθήματα (Liebesleiden) 11.1 f., nach Nikainetos habe Kaunos Byblis geliebt, nach der Mehrzahl sei jedoch die Beziehung umgekehrt gewesen. So ist das auch in Antoninus Liberalis’ Μεταμορφώσεων συναγωγή (Sammlung von Verwandlungen) 30.3.

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Jupiter. Ovid mußte also entscheiden, was zu seinem Unternehmen besser paßte, das z. B. Wiederholungen nicht mochte. Ohnehin sind viele der Quellen Ovids – etwa Nikandros’ ῾Ετεροιούμενα (Wandlungen) und Boios’ von Ovids Freund Aemilius Macer ins Lateinische übertragene Ὀρνιθογονία (Entstehung der Vögel) – nicht erhalten. Wir können zwar etwa dank der Μεταμορφώσεων συναγωγή von Antoninus Liberalis aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert manche der von ih­ nen erzählten Geschichten rekonstruierten, und der Vergleich mit Ovids Fas­ sung ist dort, wo er möglich ist, lehrreich. Aber erstens sind viele von Antoni­ nus’ Verwandlungsgeschichten von Ovid nicht übernommen worden – denn sie mußten, wie gesagt, sich in seinen Gedankengang einfügen –, und zwei­ tens besteht große Dichtung nur zu geringem Teil aus dem Inhalt. Auf dessen Gestaltung kommt es an. Die Gestaltung durch die hellenistischen Vorgänger ist verloren; und was sonst von Nikandros erhalten ist, verleiht der Vermutung höchste Wahrscheinlichkeit, sein Metamorphosenwerk habe bei weitem nicht an das Ovidische herangereicht. Dieses ist also aus sich selber und nicht auf­ grund von Vermutungen zu würdigen, wieviel Ovid von anderen abgezweigt habe.37 Denn Kunstwerkästhetik ist auf Produktionsästhetik irreduzibel. Sicher ist bewußte Intertextualität, anders als bloßer Einfluß,38 kunstwerk­ ästhetisch relevant – hier gehört es eben zur expliziten Botschaft des Werks, Ich kann Wilhelm Vollgraff nicht folgen, der Nikandros’ Einfluß auf Ovid maßlos überschätzt. Zwar gibt er zu, trotz der Nennung des bei Nikandros’ Heimatstadt Kolophon gelegenen Klaros 1.516 lasse sich „nicht entnehmen, dass die ganze Rede, welche Ovid den Gott bei der Verfolgung an die Nymphe richten lässt, ein­ fach aus Nikander übersetzt ist“ (1909; 67); doch dies auch nur ernsthaft zu erwä­ gen ist absurd. Und nicht weniger abwegig ist die „ohne Zögern“ (68) vorgebrach­ te Annahme, für Daphnes an den Vater gerichtete Bitte um Jungfräulichkeit (1.486 f.), die offenkundig Kallimachos’ Artemishymnus (3.6) nachgebildet ist, sei Nikandros verantwortlich; denn Ovid sei „nicht wirklich gelehrt“ gewesen. Es mag hier offen bleiben, ob er gelehrt war im Sinne eines alexandrinischen Biblio­ thekars oder eines deutschen Universitätsprofessors des frühen 20. Jahrhunderts; aber er war – ohne Zögern! – ein erhabener Dichter und wußte, daß Kallimachos Nikandros überlegen war. Anders als jener und Aratos wird Nikandros in der Liste der großen Dichter Am. 1.15 gar nicht aufgeführt. 38 Der Unterschied ist schon der antiken Rhetorik klar gewesen. Siehe Seneca, Suasoriae (Ratschläge) 3.7 zu Ovid: „itaque fecisse illum, quod in multis aliis versi­ bus Vergilii fecerat, non subripiendi causa sed palam mutuandi, hoc animo ut vel­ let agnosci“ („So habe jener das getan, was er mit vielen anderen Versen Vergils getan hatte, nicht um zu entwenden, sondern um offen zu entlehnen, und zwar mit der Absicht, als solcher erkannt zu werden“). Siehe auch die auf Suetonius zurück­ gehende Vergilvita des Donatus 46. Der volitive intentionale Akt, die eigene Ent­ lehnung deutlich werden zu lassen, ist entscheidend, 37

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einen Vorgänger z. B. zu kritisieren. Aber wenn dieser verloren ist, läßt sich die konkrete Ausrichtung der intertextuellen Bezugnahme, wenn sie über­ haupt vorlag, nur selten rekonstruieren. Da zahlreiche Geschichten über die Buchgrenzen hinwegschreiten, sind zwei Versuche besonders erwähnenswert, die Ordnung der Metamorphosen mit Buchgrenzen zu verknüpfen. Rudolf Rieks hat (1980) die wichtigsten Ein­ schnitte im Werke am Ende des fünften, zehnten und fünfzehnten Buches angesetzt. Er kann sich dafür auf Ovid selber berufen, der in den Tristia (Klageliedern) zweimal von „mutatae ter quinque volumina formae“, „dreimal fünf Bänden verwandelter Form“ spricht (1.1.117, 3.14.19). Auffallend ist auch, daß die drei Pentaden, anders als die einzelnen Bücher, von fast gleicher Län­ ge sind. Aber entscheidend ist, daß die Pentaden mit einer langen Rede im letzten Buche enden – der Muse Calliope im fünften, Orpheus’ im zehnten, Pythagoras’ im fünfzehnten Buch, das alsdann mit Ovids eigenem Epilog auf das ganze Werk schließt. Calliopes Rede ersetzt gleichsam die Musenanru­ fung, die im Prolog des Werkes (1.1–4) überraschenderweise fehlt, jedoch zu Beginn von Orpheus’ Rede erfolgt (10.148 f.) und von Ovid selber erst am Ende (15.622–625) nachgeholt wird. Auch dadurch, daß das Wort „Musa“ nur im fünften, zehnten und fünfzehnten Buch vorkommt, wird auf die Pentaden­ einteilung verwiesen.39 Diese erinnert zudem an die Dreiteilung der zwölf Bücher der Aeneis in jeweils vier Bücher. Die drei Pentaden statt der drei Tetraden übertreffen Vergil; und vielleicht liegt bei der Wahl der Fünfzahl sogar eine Erinnerung an pythagoreische Zahlensymbolik vor – denn die Fünf steht für die Ehe, da sie die Summe von Zwei und Drei ist, die Frau und Mann repräsentieren, um deren Bund es in dem Buch geht.40 Rieks übersieht jedoch, daß es nicht nur in den Tristien, sondern auch in den Metamorphosen selber wahrscheinlich eine, vielleicht sogar zwei An­ spielungen auf die Pentadengliederung gibt. Der Baumfrevel des Erysichthon richtet sich gegen eine heilige Eiche, die folgendermaßen beschrieben wird. „Stabat in his ingens annoso robore quercus,/ una nemus; vittae mediam me­ moresque tabellae/ sertaque cingebant, voti argumenta potentis./ saepe sub hac dryades festas duxere choreas/ saepe etiam manibus nexis ex ordine trun­ ci/circuiere modum, mensuraque roboris ulnas/ quinque ter inplebat, nec non et cetera tantum/ silva sub hac omnis, quantum fuit herba sub omni“ („Dort vieljährigen Stamms war eine gewaltige Eiche, selber ein Wald. In der Mitte umgaben Erinnerungstafeln,/ Bänder und Kränze den Baum, Denkzeichen Auch Michael von Albrecht, der Meister deutscher Ovidforschung, hebt „die pen­ tadische Makrostruktur“ hervor (2014; 102). 40 Siehe Pseudo-Jamblichos, Τὰ θεολογούμενα τῆς ἀριθμητικῆς (Theologie der Arithmetik) 5.24 (S. 30, Z. 17 ff. in der Ausgabe von De Falco). 39

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erhörter Gelübde./ Unter ihm drehten sich oft die Dryaden im festlichen Rei­ gen;/ Oftmals auch, aneinander gereiht mit verschlungenen Händen,/ Gingen sie rund um den Stamm, und fünfzehn Ellen im Umfang/ Füllte der Eich­ baum aus. So tief auch unter der Eiche/ Lag der übrige Wald, wie unter dem Walde der Rasen“, 8.743 ff.). Gewiß, die Geschichte handelt von einem Baum, der auch ohne jede weitere Bedeutungsdimension eine wichtige Wahrheit auszudrücken hilft, von der bei der Besprechung des achten Buches die Rede sein wird. Aber nur davon? Hat nicht große Dichtung oft gleichzeitig mehrere Bedeutungsebenen? So darf und muß man sich fragen: Warum die Umfangs­ angabe, die ja außerordentlich bescheiden ausfällt, wenn man die Aussage wörtlich nimmt, die eine Eiche habe einen ganzen Hain dargestellt, und zu­ mal ihre ungeheure Höhe berücksichtigt?41 Ist es nicht naheliegend, die Zahl „ter quinque“ auf die drei Pentaden der Metamorphosen zu beziehen?42 Ist nicht dieses Werk zwar eine Einheit, aber doch zugleich ein ganzer Wald von Geschichten? War sich nicht dieser Dichter in durchaus angemessener Selbst­ einschätzung dessen bewußt, sein Werk überrage dasjenige der großen Mehr­ zahl seiner Kollegen, etwa des Kallimachos, so wie dieses dasjenige der Mas­ se? (Auch wenn nicht jeder, der sich für groß hält, groß ist, weiß doch fast jeder Große um die eigene Größe.) Ist nicht der Dichter bei Ovid heilig?43 Und war es nicht leicht für den von seiner Unsterblichkeit überzeugten Dich­ ter vorherzusehen, daß sein Werk in der Zukunft geehrt werden würde und daß andere Künste sich an ihm orientieren würden? Es liegt mit unserem Wissen nahe, in den tanzenden Dryaden eine geniale Vorwegnahme eines bedeutenden Teils der abendländischen Kunst-, Musik- und Literaturge­ schichte zu sehen, jenen nämlich, der sich von den Metamorphosen inspirie­ ren ließ. Caravaggio, Bernini und so viele andere als Dryaden, die Metamorphosen als Baum – ist das nicht zu gewagt? Nun, Ovid hatte ein großes Vorbild. Es ist bekannt, daß Vergils Schilderung des Pfropfens im zweiten In seinem Kommentar zum achten Buch der Metamorphosen, der die metapoeti­ sche Bedeutung der Umfangsangabe nicht sieht, gibt Adrian S. Hollis (1970; 135) 18 inches, also etwa 46 cm, für die Elle an. Bei einem Umfang von knapp sieben Metern wäre der Durchmesser des Baumes etwas mehr als zwei Meter – groß, aber kein Hain. Daß EH. 15.160 ein Lotosbaum ebenfalls als „una nemus“ be­ zeichnet wird, ist mir bewußt, aber teils ist das wohl ein Nachklang aus den Metamorphosen, und teils ist auch hier eine metapoetische Bedeutung denkbar, da in diesem Brief durch Sappho oft der Dichter selbst spricht – sei es Ovid, sei es ein begabter Nachahmer. 42 Das gilt auch dann, wenn man zugibt, daß „ter quinque“ sich leichter in den Hexa­ meter schmiegt als „quindecim“. Denn die Wahl der Zahl 15 ist selber erklärungs­ bedürftig. 43 Siehe unten S. 27. 41

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Buch der Georgica (Der Landbau) (73 ff.) auf höchst subtile Weise auf die intertextuelle Arbeit des Dichters anspielt; ja, John Henkel (2014) hat kürzlich gezeigt, daß die ganze Passage 2.9—82 metapoetisch gelesen werden kann und soll.44 Dies ist im übrigen ein interessantes Beispiel dafür, daß Ovid sich durchaus von Vergil inspirieren lassen kann, ohne an Parodie zu denken. Mehr noch, Ovid selber hat in den Liebesgedichten (Amores 3.1) die Ausein­ andersetzung zwischen Tragödie und Elegie um seine zukünftige poetische Arbeit in einem alten Wald stattfinden lassen, in dem viele Jahre lang nichts gefällt worden war: „Stat uetus et multos incaedua silua per annos…“, lautet der Eingangsvers. Von diesem metapoetisch aufgeladenen Wald zu Ery­ sichthons Eiche, die zugleich ein Hain ist, ist es nur ein kleiner Schritt. Ich erwähnte eben Kallimachos, und zwar mit Bedacht. Auch ein Ver­ gleich mit dem Demeterhymnus des Kallimachos, dem die Erysichthonge­ schichte entnommen ist, stützt meine Interpretation. Denn obgleich auch in diesem ein besonderer Baum eine zentrale Rolle spielt, weicht doch Ovid von seinem Vorbild in drei gewichtigen Punkten ab, und meine Deutung kann diese Abweichungen alle erklären (was nicht heißt, eine andere könne es nicht). Erstens nennt Kallimachos neben dem zentralen Baum vier weitere Baumarten (6.27 f.), während sich Ovid mit generischen Ausdrücken wie „ne­ mus“ („Gehölz“, 741), „lucos“ („Haine“, 721), „silva“ („Wald“, 750) begnügt. Das mag man damit erklären, daß eine viel längere Baumliste 10.90 ff. folgt. Doch vielleicht will Ovid jede Ablenkung von dem zentralen Baum vermei­ den, der seine eigene Dichtung symbolisiert. Zweitens ist Kallimachos’ Schil­ derung des wichtigsten Baumes viel knapper als bei Ovid – nur zwei Verse lang (6.37 f.). Weder das „una nemus“ noch die Erinnerungstafeln und Kränze noch die Umfangsangabe haben ein Vorbild bei dem alexandrinischen Dich­ ter, der nur die tanzenden Nymphen erwähnt, und zwar mit einer Zeitangabe, die Ovid nicht übernimmt: Bei Kallimachos tanzen sie nur zur Mittagszeit, die auch bei Ovid in anderem Zusammenhang eine Rolle spielt (1.592, 3.145), aber eben nicht hier – da tanzen sie oft, was die Ausstrahlungskraft des Bau­ mes steigert. Und drittens ist der Baum, an dem Erystichthon seinen Frevel begeht, bei Kallimachos eine Pappel (αἴγειρος), bei Ovid dagegen eine Eiche. Warum diese Änderung? Nun, wir sprachen erst von den Georgica. Was lesen wir 3.349 f.? Die Ernte darf erst beginnen, nachdem man, die Schläfen mit Man denke auch an Stephen Hinds’ brillante Deutung von Aen. 6.179 ff. (1998; 11 ff.). Daß das „itur in antiquam silvam“ („man geht in einen alten Wald“) inter­ textuell Ennius’ Annales aufgreift (Frg. VI.IX Skutsch), ist offenkundig; aber Hinds liest die Passage auch meta­poetisch: So wie die Trojaner in einen alten Wald gehen, so greift der Dichter altes Material (das kann „silva“ ja auch bedeu­ ten) auf, nämlich dasjenige seines Vorläufers Ennius.

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gewundenem Eichenlaub bekränzt („torta redimitus tempora quercu“), un­ geregelte Tanzbewegungen ausführt und Lieder singt. Die Eiche, nicht die ­Pappel, ist der Kunst wesensverwandt.45 Aber „ter quinque“ kommt nicht nur in räumlicher, sondern auch in zeitli­ cher Hinsicht in den Metamorphosen vor, und zwar bei der Altersangabe für Arcas, Callistos und Jupiters Sohn (2.497).46 Man mag einwenden, fünfzehn Jahre sei ein angemessenes Alter, um auf die Jagd zu gehen (bei der er fast die eigene Mutter tötet). Aber warum nicht vierzehn? Immerhin war dies das Al­ ter, in dem etwa die Prokulianer bei Knaben die „pubertas“ eintreten ließen.47 Oder sechzehn wie Narcissus, der halb Knabe, halb Jüngling erscheinen konnte („poteratque puer iuvenisque videri“, 3.352), und Athis (5.50)?48 Kann auch die Arcas-Stelle metapoetisch gedeutet werden? Immerhin wird er in diesem Alter mit seiner Mutter unter die Sterne versetzt. Katasterismen sind in den Metamorphosen sehr selten,49 und sie kommen der Apotheose relativ nahe. Die Stelle „inposuit caelo“ 2.507 erinnert an „accedat caelo“ 15.870 zur zukünftigen Apotheose des Augustus; und da unmittelbar darauf Ovids eige­ ne Apotheose sogar über die Sterne hinaus (15.875 f.) folgt, kann man sich fragen, ob wie bei Erysichthons Eiche eine metapoetische Deutung möglich ist. Sind auch Arcas’ Lebensjahre eine Anspielung auf die fünfzehn Bände der Metamorphosen, auf die die Erhebung zu den Sternen folgen wird? Und sollten die Stellen im Exil revidiert sein, sind Callistos Verbannung und ihre Ortlosigkeit ein Symbol von Ovids eigenem Leiden und analog das Fällen der Gewiß kann die Eiche auch ein Symbol der Staatsgewalt sein (man denke an die corona civica aus Eichenblättern), aber Erysichthons Angriff richtet sich offenkun­ dig nicht gegen die Staatsgewalt, so daß diese Interpretation hier nicht naheliegt. 46 Es ist vermutlich Absicht, daß die Parallelerzählung in den Fasti „ter quinque“ vermeidet und von „tria lustra“ („drei Lustren“) spricht (2.183). 47 Vgl. Gaius, Institutiones, 1.196 und Max Kaser (1983), 75. Die Sabinianer ließen den Eintritt der „pubertas“ vom Einzelfall abhängen. 48 Hermaphroditus ist allerdings fünfzehn Jahre alt, doch vielleicht ist es kein Zufall, daß die Wendung „ter quinque“ 4.292 vermieden wird. Diese Wendung kommt sowohl in den Metamorphosen als auch in den Tristia jeweils genau zweimal vor, wie ein Blick in Roy J. Deferrari/M. Inviolata Barry/Martin R. P. McGuire (1939) bestätigt. 49 Vgl. Alan Cameron (2004), 21: „There is very little star lore in the Metamorphoses.“ Spätestens durch Catulls Kallimachosadaptation Carmina 66 war der Kat­ asterismos in die lateinische Dichtung eingedrungen. In den Fasti als einem Werk zum Kalender spielt er naturgemäß eine wichtige Rolle. Von einem weiteren ­Katasterismos in den Metamorphosen werde ich unten (S. 151) ebenfalls eine meta­ poetische Interpretation vorschlagen. Nur ganz beiläufig erwähnt sind die Kat­ asterismen von Icarus und Erigone 10.450 f. 45

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Eiche ein Symbol des Angriffs gegen den Dichter? Diese letzte Frage läßt sich nicht beantworten, da wir nicht wissen, wieviel Ovid im Exil an seinem Hauptwerk geändert hat.50 Weiter als Rieks geht Thomas Gärtner (2004) in seiner detaillierten und insgesamt überzeugenden Analyse. Nach ihm bilden nicht die Pentaden, son­ dern auch die einzelnen Bücher einen gewissen Einschnitt – gerade in der Heterogenität der Themen. Denn die große Mehrzahl der Bücher – wenn auch nicht alle – sei einerseits durch eine ganz bewußte Alternanz eines episch geschlossenen und eines episodisch-elegischen, meist erotischen Teiles ge­ kennzeichnet, und andererseits sei die Buchgrenze auch dann relevant, wenn eine und dieselbe Geschichte über sie fortgesetzt werde. So folgten im ersten bzw. zweiten Buch auf die Weltschöpfung bzw. den Phaethonmythos jeweils zahlreiche göttliche Liebesaffairen. Und die sich von IV 604 bis V 249 er­ streckende Perseusgeschichte hat nach dieser Deutung am Ende des vierten Buches eine durchaus plausible Zäsur, da auf einen odysseischen Teil ein gleichsam iliadischer folge, auf Abenteuerfahrten eine Schlacht. Vergils Un­ terscheidung zwischen odysseischem und iliadischem Teil der Aeneis charak­ terisiere analog das vierzehnte Buch. In allgemeinerer Form spricht Isabelle Jouteur von der „loi du contraste“ als Bauprinzip der Metamorphosen (2001; 178 f.).51 Ja, angesichts der Tatsache, daß der Kontrast zwischen elegischem und heroischem Motiv mit dem Geschlechtergegensatz zu tun hat (denn auch wenn dieser selbstredend auch dem elegischen Motiv immanent ist, ist doch das heroische Motiv rein männlich), ist ein Vergleich mit der Sonatensatzform naheliegend, in der oft neben dem Haupt- ein Seitenthema auftritt. Das An­ klingen, An- und Abschwellen von Motiven und deren Kontrast ist der tiefste Grund für den höchst musikalischen Eindruck, den die Metamorphosen machen.

Daß das meiste, aber eben nicht die Endreaktion bei der Relegation 8 n. Chr. fertig war, ergibt sich aus Tr. 1.7.11 ff., 2.555 f. und 3.14.20 ff. 51 Ähnlich schon von Albrecht (1962/63), 68 ff. zum Wechsel von Ernst und Heiter­ keit.

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3. Die Zentralität der Liebe in Ovids Werken von den Anfängen bis zu den Metamorphosen. Ovids Geschichtsbewußtsein Der Durchgang durch die wichtigsten Behandlungen der hier thematischen Frage hat, glaube ich, ergeben, daß die Metamorphosen zwar keine derjeni­ gen der Aeneis vergleichbare, klar strukturierte Ordnung aufzuweisen haben, daß dies aber keineswegs bedeutet, es liege Chaos vor. Die Ordnung dieses Werkes, wenn es sie gibt, muß ohnehin viel komplexer sein, da Ovid kein Werk vorgelegt hat, das einem einzigen Genre angehört. Von der Zwischen­ stellung zwischen Epos und Lehrgedicht war schon die Rede; daneben finden wir hymnische Götteranrufungen (4.11 ff., 5.341 ff.), Götterburlesken (z. B. 2.508 ff., 4.171 ff.) eine Nachahmung des elften bukolischen Gedichts Theo­ krits (13.750 ff.), einen Brief wie in den Heroiden (9.530 ff.), zahlreiche ele­ gische Partien, die erotische Sehnsucht beschreiben (z. B. 7.672 ff., 11.410 ff.), mehrere Epyllia (etwa 4.603 ff.), Monologe, die aus Tragödien entnommen sein könnten (7.11 ff.),52 einen Rede-Agon (13.1 ff.) sowie einzelne Epigram­ me auf Grabsteinen bzw. in einem Tempel (2.327 f., 9.794, 14.443 f.) – alles freilich in Hexametern, die nie variiert werden. Michael von Albrecht nennt die Metamorphosen stofflich ein „Weltgedicht“ und formal „ein Großgedicht eigener Prägung, das im intertextuellen Dialog nicht nur mit der ‚hohen‘ Epik, sondern mit der gesamten literarischen Tradition steht“ (2014; 145). Vermut­ lich ist es keine Übertreibung, wenn man das Werk als das komplexeste ­Gedicht der Antike ansieht. Der Fülle an in das Werk integrierten Genres, der von den größten Werken der Weltliteratur vielleicht nur Dantes Commedia gleichkommt, entspricht eine Fülle an Themen, unter denen die erotischen eine Vorzugsstellung ­haben. Sicher alterniert Ovid sie mit heroischen Gegenständen, göttlichen Strafen ebenso wie Kampfhandlungen, sowie zahlreichen Apotheosen; von ihnen sind ausgearbeitet diejenigen von Hercules (9.239 ff.), Aeneas (14.581 ff.), Helmut Seng (2007; 179) sieht besonders in den Episoden zu Phaethon, zu Tereus, Philomela und Procne, zu Scylla, zu Byblis und zu Myrrha Äquivalente von Tra­ gödien. Jouteur, der wir die umfassendste Monographie zum Genrepro­blem der Metamorphosen verdanken, nennt auch die Hecuba- und Pentheus-Partien (2001; 129 ff.) und sieht den tragischen Botenbericht 11.346 ff. nachgeahmt.

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3.  Die Zentralität der Liebe in Ovids Werken

Romulus und Hersilia (14.772 ff.) sowie Caesar (15.745 ff.), anti­zipiert wer­ den dagegen am Ende diejenige von Augustus (15.861 ff.) und die eigene (15.871 ff.). Aber wir haben von Otis schon gehört, daß Ovid den heroischen Plan antiepisch umgestaltet hat – manche Kampfszenen sind geradezu ko­ misch. Ebensowenig moralisch ernst zu nehmen sind die göttlichen Rache­ aktionen, wenn sie, wie nicht immer, aber oft genug der Fall ist, fragwürdigen Motiven entspringen. Ohnehin kann kein Ovid-Leser annehmen, Ovid habe ernsthaft an die Wahrheit der Mythen geglaubt. Wer Jupiter offen bekennt, die geschlossene Türe der Geliebten schrecke ihn mehr als der Blitz des Gottes (Am. 2.1.20),53 wer seine Geliebte für größer als Venus hält (Am. 3.2.60), wer die rituellen Keuschheitsvorschiften vor den Cerealia hinterfragt, weil Ceres selber mit Iasius eine Affaire gehabt habe (Am. 3.10.25 ff.), wer auf das Gebet eines Kaufmannes, Mercurius möge ihm bei seinen Betrügereien und Mein­ eiden gewogen sein, den Gott mit einem herzlichen Lachen reagieren läßt, da er selber ein Dieb sei (F. 5.691 f.), wer Zweifel an den Mythen (Am. 3.6.17 f.),54 ja, sogar an der Existenz der Götter bekennt (Am. 3.3.1 f. und 23 ff. sowie 3.9.35 f.),55 wer dazu auffordert, zu glauben, die ewigen Götter hätten kein Gewicht (RA. 688), und höchstens zugibt, man solle an die Götter glauben, weil es nützlich sei (AA. 1.637), der ist nicht religiös im traditionellen Sinne. In den Metamorphosen schert sich Ovid nicht im mindesten um Konsistenz: Sein Jupiter ist Serien-Vergewaltiger und Wahrer der moralischen Ordnung zur gleichen Zeit,56 während Vergils Jupiter gleichsam die persönliche Stim­ me des Fatums ist und seine sexuellen Eskapaden in der Aeneis nur gelegent­ Gewiß spricht Ovid zunächst von den Noemata seines geplanten Gedichtes, aber unter der Hand verwandelt sich sich ihm Jupiter in ein reales Wesen, das er anspre­ chen kann – freilich so, daß deutlich wird, daß er nicht an ihn glaubt. 54 Ähnlich bezweifelt Helena Paris’ Bericht, er habe über die Schönheit der drei Göttinnen geurteilt, denn Unsterbliche würden sich nicht dem Urteil eines Sterb­ lichen unterwerfen (EH. 17. 121 ff.). Zumindest nimmt Helena nicht an, sie sei Paris als Preis versprochen worden. Die Wendung in V. 123 „wenn das wahr ist, dann doch sicher nicht das zweite“ ist eine witzige Umkehrung des zweifachen Verfahrens Gorgias’ in der Abhandlung Περὶ τοῦ μὴ ὄντος (Über das Nichtsei­ ende) „wenn das nicht wahr ist, dann doch sicher das zweite“. Ähnliche Zweifel am Mythos äußert Hero EH. 19.131 ff. – Bei welchen der Briefe die Authentizität sinnvollerweise bestritten werden kann, muß hier offen bleiben. 55 Witzig ist der kunstwerkinterne performative Widerspruch, wenn Mars in der Göt­ terversammlung darüber klagt, es gebe noch Menschen, die an die Götter glaubten (F. 6.366). 56 Besonders abrupt ist der Übergang 2.405–410: Der die Schäden des durch Phaethon verursachten Weltenbrandes begutachtende und reparierende Jupiter trifft auf Callisto und vergewaltigt sie. 53

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lich kurz anklingen (1.28, 4.198 ff., 12.140 ff., 878). Daß in seinem Hauptwerk die Körper in nicht zu glaubende Formen verwandelt würden („in non cre­ dendos corpora versa modos“), sagt Ovid selbst (Tr. 2.64). Doch bedeutet dies keineswegs, daß Ovid eines Sinnes für das Göttliche ermangelte, das sich ihm durchaus in der Ordnung der Welt manifestiert (zu der wesentlich Wandel gehört), und zwar sowohl in schrecklichen als auch in faszinierenden außerordentlichen Gestalten und Ereignissen, wie etwa der Schönheit (F. 6.807 f.) und der Liebesleidenschaft, und in erhabenen Werken, wie etwa denjenigen der Dichter, die eigenen selbstredend eingeschlossen. Tr. 3.2.3 f. nennt Ovid sich einen Priester der Musen und Apollos; 4.1.29 ist von den „sacra“, den heiligen Bräuchen, der Dichtung die Rede, die ihn fes­ seln.57 „Est deus in nobis…“, „ein Gott ist in uns“, heißt es sowohl AA. 3.549 als auch F. 6.5 im Zusammenhang mit der poetischen Inspiration; und analog heißt es über schöne Natur: „credibile est illi numen inesse loco“ („es ist glaubwürdig, daß in diesem Orte ein göttliches Wesen waltet“, Am. 3.1.2; vgl. 3.13.8, F. 3.296, EP. 1.1.43 f.). Ja, AA. 1.640 – nur einige Zeilen nach der scheinbar rein funktionalistischen Rechtfertigung des Glaubens an die Götter durch dessen sozialen Nutzen – fährt Ovid fort: „Innocue vivite, numen adest“ („Lebt ohne Schuld, denn eine Gottheit ist gegenwärtig“). Es ist daher einseitig, wenn Richard Heinze in seiner meisterhaften Abhandlung Vergil und Ovid dadurch unterscheidet, zwar hätten beide Dichter nicht an die Rea­ lität der mythischen Götter geglaubt; „aber während der Dichter der Aeneis sie als Vertreter der nicht sichtbaren und nicht darstellbaren einen Gottheit, an die er glaubte, in einem Abglanz der dieser wahren Gottheit zukommenden Erhabenheit sah und darstellt, bedeuteten sie für Ovid nichts als ein poeti­ sches Spiel, das mit den Gottheiten des römischen Kultus, an dessen Nütz­ lichkeit er glaubte, nur durch ein loses Band verknüpft war.“ (1919; 315) Es sind eher Literaturwissenschaftler als große Dichter, die der Dichtung einen Bezug zur Wirklichkeit und damit eine kognitive Leistung absprechen, deren ästhetische Unabdingbarkeit m. E. auch durch noch so geniale Intra- und In­ tertextualität nicht ersetzt werden kann. Sicher hat Ovid nicht mehr Vergils Vertrauen in ein moralisches Grundprinzip der Wirklichkeit. Seine Religiosi­ tät ist polytheistischer als diejenige Vergils, aber ohne die Annahme überwäl­ tigender Erfahrungen ausgezeichneten Seins in Natur, Menschenseele und menschlichen Begegnungen und ohne einen Glauben an ein den Menschen transzendierendes Prinzip der moralischen Normen lassen sich m. E. auch die Metamorphosen nicht verstehen. Ja, selbst das aus den Georgica vertraute Theodizeeargument, die Notwendigkeit der Arbeit sei von Gott gewollt, weil nur sie den Menschen zu geistigen und moralischen Leistungen erziehe Siehe auch Tr.  5.3.15 f., Ib. 95 ff., EP. 3.4.67.

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(1.121 ff.), kehrt in den Tristia in der Form wieder, nur das Leiden lasse die Tugenden hervortreten (1.5.17 ff., 4.3.71 ff., 5.5.45 ff., 5.14.23 ff.). Doch das komplexe religiöse Gefühl der Intellektuellen der Generation Ovids, die nicht mehr klassische Polytheisten und noch nicht Christen sind und in eklektischer Form aus Bestandteilen der hellenistischen Philosophien ihrer Zeit unter Rückgriff auf klassische Positionen ihre Weltanschauung bilden, näher zu analysieren ist hier unmöglich.58 Gesagt sei nur, daß die Psychologisierung des Götterkosmos in den Metamorphosen Hand in Hand geht mit einer Divi­ nisierung des Psychologischen, das dank der Ersetzung konkreter Menschen durch mythische Archetypen Würde und Tiefgang gewinnt.59 Arbeit am Mythos bedeutet sowohl Rationalisierung überlieferter Geschichten als auch Wiedererringung verschütteter Sinnquellen. Liebe und Kunst, nicht göttliche Rache und auch nicht die Apotheose von durch Tapferkeit ausgezeichneten Helden, sind das, worum es in den Metamorphosen eigentlich geht.60 Gegenüber Vergil als politischem Dichter ist das eine Beschränkung,61 aber sie erlaubt eine Intensivierung des erotischen The­ Zu Recht schreibt Lothar Spahlinger, Ovid sei „kein eigenständiger philosophi­ scher Kopf“, aber auch kein Agnostiker, sondern verbinde „stoische Elemente … mit platonischem Gut“ (1996; 325). Nicht zu vergessen ist der Neupythagoreis­ mus des ersten Jahrhunderts v. Chr. Zwar war Ovid sicher kein formeller Anhän­ ger der Schule (siehe Tr. 3.3.59 ff., 4.10.85 f. und EP. 1.2.111 und 2.2.98 die Zweifel an der Unsterblichkeit), aber schon Wilkinson (1955; 215) weist zu Recht die Idee zurück, die Pythagorasrede im 15. Buch sei eine Burleske. Dazu siehe unten S. 243 f. 59 Einseitig hebt Schmidt (1991), 77 „die infolge ausschließlichen Interesses am Menschen menschlich gedeutete Welt“ hervor. 60 Vgl. die Verse über seine Tendenz, sich leicht zu verlieben, in der autobiographi­ schen Elegie Tr. 4.10.65 ff. und das von ihm für sich entworfene Epitaph 3.3.73 f. Gleichzeitig war es Ovid wichtig zu betonen, sein Lebenswandel sei moralischer gewesen als seine Dichtung (1.9.59 f., 2.349 ff., 3.2.6). Auch wenn der Zweck die­ ser Erklärungen nach der Verbannung offenkundig ist und auch wenn er dabei in einer literarischen Tradition von Catull (16.5 f.) bis Martial (1.4.8) steht, bedeutet das nicht, daß man ihm nicht glauben soll. 61 Das hat Ovid anerkannt: Tr. 2.531 f. Adressat und Zweck des Schreibens an Au­ gustus erwecken freilich Zweifel an der Ehrlichkeit Ovids, der gleich darauf so­ gar Vergil als wesentlich erotischen Dichter darstellen will. Aber ob ehrlich oder nicht, Ovids Selbstkritik ist berechtigt. Bei den Stellen 3.14.33 f. und EP. 3.4.11 scheint mir teils Koketterie, teils Bitterkeit vorzuliegen. Letztere überwiegt EP. 1.5, 3.9, 4.2 und etwa 3.3.33 f. Ovid muß gespürt haben, daß das Exil, zumal die beständige Notwendigkeit, Bettelbriefe und unehrliche Panegyrik zu schreiben, seiner Kreativität nicht förderlich war. Auch wenn seine Wiederholungen und seine Larmoyanz den Genuß zumal der Briefe Ex Ponto trübt, was schon die Zeitgenossen beklagten (3.7.3 ff., 3.9.1 f.), ist die zugleich aufrichtige (3.9.49 f.) 58

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mas. Alles andere ist teils Rahmen, teils Beiwerk, das einerseits durch Ab­ wechslung Überdruß und Langeweile verhindert; andererseits sind Kampf­ handlungen immer wieder mit erotischer Werbung verbunden, besonders deutlich im Perseusmythos. Das kann angesichts der früheren Werke Ovids nicht im mindesten überraschen. Die Amores, die Epistulae heroidum (Briefe von Heldinnen), die Ars amatoria (Liebeskunst), die Remedia amoris (Heilmittel gegen die Liebe), auf die deswegen kurz einzugehen ist, handeln alle von der Liebe.62 Im ersten Gedicht, das wie die Aeneis mit „arma“ („Waffen“) beginnt, der allein erhaltenen zweiten Auflage der Amores schildert Ovid, wie ihn Amor von der Abfassung epischer, gewaltsamen Kriegen gewidmeter Werke durch die Beraubung eines Versfußes abgehalten habe, so daß er statt in Hexametern in elegischen Distichen gedichtet habe (1.1.1 ff.63; ähnliche recusationes finden sich 2.1.11 ff., das mit Properz, Elegi (Elegien) 2.1.17 ff. wetteifert, 64 und 2.18.13 ff.).65 Gewiß bezieht sich das zunächst einmal auf die Amores und die anderen Werke in elegischer Form; denn zu Beginn des dritten Buches kämpfen Tragödie und Elegie um ihn, 66 und auch wenn die Elegie als zweite spricht und ihre Gegenspielerin maliziös auf einen perfor­ mativen Widerspruch in ihren Aussagen aufmerksam macht,67 ja, Ovid selbst einstweilen der Liebesdichung treu bleiben will, plant er doch, sich bald, und dann für immer, der Tragödie zu ergeben, und kündigt ein größeres Werk an („gran­dius … opus“, 3.1.70; ähnlich 3.15.17 ff.), von dem ihn Amor 2.18.4 noch zurückgehalten hatte: „Et tener ausuros grandia frangit Amor“ („Und und literarische Gestaltung der Exilerfahrung eine bedeutende Leistung und der Versuch, dank des eigenen Geistes nicht unterzugehen („ingenio nitor non peri­ isse meo“, 3.5.34; vgl. Tr. 3.7.47 f.), aller Achtung wert. 62 Schmitzer schreibt zu Recht, daß kein anderer Autor seiner Epoche, auch nicht Vergil, das eigene Werk als derart einheitlich konzipiert habe, wie es Ovid getan habe (2013; 631). 63 1.1.17 f. zum Wechsel von Hexameter und Pentameter hat eine offenkundige ­sexuelle Nebenbedeutung. 64 Bei Horaz findet man recusationes Carmina 1.6, 2.12 und 4.2. 65 In seinem letzten Werk greift Ovid dies wieder auf: Wegen der Inspiration durch Amor, der ihm in Tomis erscheint und den er direkt anredet, habe er in seiner Jugend keine epischen, sondern nur elegische Werke verfassen können (EP. 3.3.29 ff.). Kein Gott sei ihm vertrauter als Amor (21). Vgl. auch 3.4.85 f. zur Schwierigkeit, einen Triumph in elegischen Distichen zu besingen. 66 Eine knappe Behandlung der Genres vom Epos über Tragödie und Komödie zu Iambos und Elegie findet sich RA.  373 ff. 67 3.1.38: „In me pugnasti uersibus usa meis“ („Du hast unter Verwendung meines Versmaßes gegen mich gekämpft). Denn unweigerlich hat auch die Tragödie in elegischen Distichen gesprochen.

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der zarte Amor zähmt diejenigen, die dabei sind, Großes zu wagen“). Es liegt nahe, dabei an die Ovid schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert zuge­ schriebene, leider verlorene Medea zu denken.68 Freilich ging es auch in die­ ser Tragödie um enttäuschte Liebe und ihre furchtbaren Folgen – der Wechsel des Genres zog keinen Wechsel des Themas nach sich.69 Und doch bedeutet das Gleichbleiben des Themas in den vier oben ge­ nannten Werken in elegischen Distichen keineswegs eine gleiche Sichtweise auf das Phänomen der Liebe, das seit Catull die römische Dichtung zu einer unerhörten Erweiterung der Empfindungs-, Denk- und Ausdrucksweise ein­ geladen hatte. Die neue Intensität der Liebeserfahrung in Glück und Leid, auch in der Widersprüchlichkeit der Emotionen, wie Liebe und Haß gegen­ über derselben Person, so wie sie Catull in seinem berühmten Distichon (Carmina 85) in unüberbietbarer Prägnanz ausgesprochen hatte,70 ist einer der bewußtseinsgeschichtlichen Wendepunkte der Antike. In den Amores – die in Ansätzen eine durchgehende Liebesgeschichte mit einer verheirateten Frau bieten – spricht das männliche elegische Ich. Es ist nicht mit Ovid zu identifizieren,71 aber es handelt sich bei ihm um einen Dichter, der mit vielen Niklas Holzberg (1998; 43 ff.) bezweifelt zwar ihre Authentizität, doch sind seine Argumente nicht zwingend. Tr. 5.7.27 f. zeigt m. E. nur, daß die Medea entweder als Lesedrama konzipiert worden war oder wenigstens nicht mehr aufgeführt wur­ de. Siehe Dan Curley (2013), 40 f. Und Tr. 2.553 f. wird man am ehesten auf die­ ses Werk beziehen, da die Überlieferung keine andere Tragödie Ovids erwähnt. 69 Im zweiten Prolog der Fasti interpretiert Ovid dagegen die elegische Form als mit neuen, größeren Themen vereinbar (2.3 ff.); doch auch hier betont er seine antimi­ litärische Einstellung (2.9 ff.). Selbst Mars wird aufgefordert, seine Waffen beisei­ tezulegen und an seine Liebesabenteuer zu denken (3.1 ff.). Das ihm zugesproche­ ne Prädikat „inermis“ („unbewaffnet“) wird später auch auf den jungen Jupiter bezogen (3.440), den Ovid zu Unrecht mit Veiovis identifiziert. Die Göttin Robigo („Getreidebrand“, „Rost“) wird aufgefordert, ihre zerstörerische Macht nicht am Getreide, sondern an den Waffen auszulassen (4.923 ff.). – Das Scheitern des Ibis als Kunstwerk zeigt, daß Ovid selbst verbale Aggression nicht lag, wie er selber wohl wußte (Ib. 1 ff., 56 ff.). An Augustus lobt er (ob ehrlich oder nicht, bleibe offen), daß er ungerne gestraft habe (EP. 1.2.121 ff., 2.2.117 f.). Theoretisch er­ kennt er an, Milde gegenüber Schuldlosen sei mit Strenge gegenüber Schuldigen kompatibel (4.6.31 f.). 70  Am. 3.11b.33 f. und 3.14.39 schwächt Ovid den Widerspruch in für ihn charak­ teristischer Weise zugunsten der Liebe ab: Er kann nicht hassen. Doch Catulls Distichon wirkt weiter, auf Furcht und Begierde bezogen, Tr. 1.4.23 und 1.11.24. 71 Das heißt nicht, daß der Gedichtzyklus keine autobiographischen Ereignisse ver­ arbeitet. Ovid hatte eine Geliebte, deren Name allerdings nicht Corinna war (Tr. 4.10.60). Die Autonomie des Kunstwerks wächst nur dank Erlebnissen, die sich auf eine Wirklichkeit beziehen, die das Kunstwerk dann transzendiert. 68

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herrschenden Stereotypen der Virilität bricht.72 Liebe ist ihm deswegen so wertvoll, weil sie anders als der Krieg, mit dem sie manches gemeinsam hat, nicht mit Blutvergießen verbunden ist (2.12.5 ff.; ähnlich RA. 25 ff.) und der erotische Eroberer seinen Ruhm nicht mit anderen teilen muß. Deswegen schämt sich Ovid ganz besonders dafür, daß er einmal gegen seine Geliebte Corinna gewalttätig gewesen ist (1.7.19 ff.) – Gewalt und Liebe sollten einan­ der ausschließen. Das elegische Ich haßt die Waffen und zieht die Liebe mit­ ten im Frieden vor (3.2.49 f.), weiß allerdings um die erotische Anziehungs­ kraft des militärischen Rivalen (3.8.9 ff.; ähnlich zur Faszination mancher Frauen durch gewalttätige Männer AA. 2.713 ff.). Doch möchte er selber lie­ ber beim Geschlechtsverkehr sterben (2.10.35 ff., 2.14.21). Dieser Wunsch hält ihn jedoch nicht davon ab, ein ganzes Gedicht seinem sexuellen Versagen bei einer anderen als Corinna zu widmen.73 Er erkennt, daß die Scham über die Impotenz diese verstärkt habe (3.7.37), ja, daß auch seine Partnerin ihren Sklavinnen vorgegeben habe, ein Bad nehmen zu müssen, um ihre eigene Schande geheim zu halten (3.7.83 f.). Erotische Leidenschaft und deren Ironi­ sierung gehen bei Ovid, in ganz anderem Maße als bei Catull, Properz und Tibull, schon in den Amores Hand in Hand. Bezeichnend für sein elegisches Ich ist, daß selbst die aufrichtige Reue in der Elegie 1.7. begleitet ist von der Reflexion, das zerzauste Haar habe der Geliebten gut gestanden (12).74 Ana­ log bekennt er, daß Corinnas Scham darüber, von ihm bei einem Treuebruch er­tappt worden zu sein, ihrer Hübschheit nicht geschadet habe (2.5.42 f.). Mo­ ralische Kategorien lösen sich in ästhetische auf. Wenn auch vom Standpunkt des Mannes geschrieben, bestechen die Amores u. a. durch ein besonderes Verständnis der weiblichen Seele, wie es seit Euripides wohl kein antiker Autor mehr besessen hatte; und von deren Stand­ punkt sind 18 der 21 Briefe geschrieben. Vielleicht am brillantesten ist Hele­ nas Brief an Paris, in dem in 268 Versen der Übergang von der schärfsten Ablehnung des Liebesantrags Paris’ zum schließlichen Einverständnis führt, Sicher lesen wir auch EH. 13.82: „Bella gerant alli: Protesilaus amet!“ („Andere sollen Kriege führen: Protesilaus soll lieben!“). Aber es ist dort nur seine Frau, Laodamia, die so spricht. (Ähnlich Helena EH. 17.256.) Das bekannte Distichon zur Heiratspolitik der Habsburger geht darauf zurück. – Tr. 2.529 wird der Vers aus EH 13 abgewandelt, um Ovids Unfähigkeit (und Unwilligkeit) hervorzu­ heben, militärische Themen zu besingen. Ähnlich Properz 1.6.29 f. 73 Man kontrastiere mit Ovids geradezu exhibitionistischer Ausführlichkeit die kur­ ze Andeutung bei Tibull 1.5.39 f. Horaz’ zwölfte Epode ist anders gelagert, weil hier der Liebhaber seine Partnerin nur dadurch frustriert, daß er den Geschlechts­ verkehr bloß einmal statt, wie von ihr erhofft, dreimal vollziehen kann. 74 Vgl. dazu Duncan F. Kennedy (1993), 56: „a remorse undercut by the excitement he expresses at the effect of his blows“. Ganz anders Tibull 1.6.73 f. und 1.10.55 f. 72

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in subtilen psychologischen Modulationen, die der Autor nicht ohne ein star­ kes Gefühl ihrer objektiven Komik entfaltet (vgl. die theoretische Analyse AA. 1.483 ff.). Aber Ovids Sinn für Komik hindert ihn nicht daran, die subjek­ tive Aufrichtigkeit weiblicher Leidenschaft und ihres Leidens an unerfülltem erotischem Verlangen, zumal nachdem die Frau verlassen worden ist, mit gro­ ßer Empathie zu erfassen. Daß Ovid den mythischen Frauen die Empfind­ samkeit zeitgenössischer Römerinnen und die eigene Vertrautheit mit Rhe­ torik zuschreibt, ist zweifelsohne wahr; eine Figur wie Pushkins Tatjana mit ihrer bezaubernden Mischung von Verwurzelung im russischen Volkstum und emanzipatorischem Wagnis wäre seiner Gestaltungskraft noch nicht möglich gewesen, u. a. weil dieser Frauentyp noch gar nicht existierte. Aber diese Grenzen ändern nichts an der Tatsache, daß Ovid durch dieses Werk, auf dessen Originalität er besonders stolz war,75 bewies, daß er sich in die weibli­ che nicht minder als die männliche Form der Liebeserfahrung hineinzuden­ ken, ja, hineinzuempfinden vermochte – offenbar eine Voraussetzung seines späteren Weltgedichts über die Liebe und ihre Formen. Vorher aber waren noch die Ars amatoria und die Remedia amoris abzu­ fassen, in denen das erotische Thema sich mit dem Genre des Lehrgedichts verbindet, das in den Metamorphosen mit dem Epos verschränkt wird.76 Aber auch wenn das spätere Werk das Genre mit den früheren partiell teilt, ist ein Unterschied von enormer Wichtigkeit. Lehren kann man teils Wissen­ schaften, teils Techniken, also entweder die Ordnung der Welt aufzeigen oder beibringen, wie man sie den eigenen Absichten unterwerfen kann. Die Ars amatoria und die Remedia gehören, anders als Lukrez’ oder Aratos’ theoretisch-wissenschaftliche Lehrgedichte, zu den technischen. Diese Ein­ teilung bezieht sich auf die Natur des Stoffs. Daneben kann man Lehrgedich­ te danach einteilen, wie ernst es ihnen um den Lehrinhalt ist. Steht dieser im Mittelpunkt wie bei Lukrez, spricht Bernd Effe (1977; 30 ff.) von sachbezogenem Lehrgedicht; ist die formale Gestaltung entscheidend und der Stoff nur Vorwand wie bei Nikandros, handle es sich um ein formales Lehrgedicht. Zwischen beiden vermittelt in Effes begriffich überzeugender Dreiteilung das transparente Lehrgedicht, bei dem das Sachthema durchaus wichtig ist, allerdings durch es hindurch anderes durchscheint – Aratos’ Φαινόμενα (Himmelserscheinungen) und Vergils Georgica sind Beispiele dafür. Von der metapoetischen Bedeutung der Baumzucht etwa im zweiten Werk war schon die Rede (S. 21 ff.).  AA. 3.346. Ob „novavit“ eine Neuschöpfung oder eine Erneuerung meint, ist dem­ gegenüber weniger wichtig. 76 Die Parallele mit Vergils Entwicklung von den Hirtengedichten über das Lehr­ gedicht zum Epos ist oft gezogen worden. 75

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Um mit der Einteilung nach dem Stoff zu beginnen, so wollen die zwei Werke Ovids dabei helfen, einen Partner zu finden und an sich zu binden bzw. sich von der unglücklichen Liebe zu einem Partner zu befreien („dediscere ama­ re“, RA. 211, 297). Die Tatsache, daß die Remedia als Unterhöhlung der Ars erscheinen – ein Vorwurf, gegen den sich Ovid gleich zu Beginn Amor gegen­ über mit den Worten verteidigt, er habe immer geliebt, liebe auch heute noch und habe weder Amor noch seine Kunst verraten (7 ff.) –, ist paradoxerweise nichts als eine Konsequenz der Natur der Ars als eines technischen Lehr­ gedichtes. Denn wer weiß, wie man etwas zusammensetzt, weiß in der Regel auch, wie man es auflöst: Die eine Operation ist nur die Negation der anderen (vgl. Tr. 2.265 ff.). „Una manus vobis uulnus opemque feret.“ („Eine einzige Hand wird euch Verwundung und Hilfe bringen“, RA. 44; ähnlich 557)77 Ein­ zelne Ratschläge der Remedia sind geradezu Umkehrungen derjenigen der Ars – man kontrastiere, um nur ein Beispiel zu nennen, AA. 3.807 f. und RA. 411 f. Ja, aufgrund des sexuellen Dimorphismus ist die Eroberung eines Partners für Mann und Frau verschieden; daher beraten die beiden ersten Bücher der Ars den Mann, das dritte die Frau. Die beiden ersten Bücher dif­ ferenzieren sich danach, wie man eine Frau erobert (zuerst findet (1.41–262) und dann zur Liebe überzeugt s(1.265–768)) bzw. wie man sie bewahrt. Ovid hebt hervor, der Kunstcharakter sei im zweiten Fall größer, da im ersten der Zufall seine Hand im Spiel habe (2.11 ff.). Gewiß ist der Lehrgedichtcharakter angesichts des Themas ungewöhnlich (AA. 1.25 ff.), und zwar aus drei Gründen. Erstens scheint das Thema der Ver­ führung weniger ernst und gewichtig als etwa das der Landwirtschaft in Ver­ gils Georgica. Sicher wurde auch dieses Werk nicht als Einführung in die Landwirtschaft konzipiert – aber es will, neben manchem anderen, in voll­ kommener sprachlicher Form die Würde der Arbeit in und an der Natur ­herausstellen. Manches, was in der Ars gesagt wird, verletzt dagegen das Schamgefühl (AA. 3.769 f.; vgl. RA. 359 f., 407 f.); und eine Parasiopese wie RA. 437 ff. ist, wie stets, performativ widersprüchlich, weil das, was angeb­ lich verschwiegen werden soll, in Wahrheit ausgesprochen wird. Immerhin sind Fischerei und Jagd beliebte Lehrgedichtsthemen – man denke an die schon vom älteren Plinius Ovid zugeschriebenen, doch wahrscheinlich nicht von ihm stammenden, nur fragmentarisch erhaltenen Halieutica (Der Fischfang), an das ebenfalls nur fragmentarisch erhaltene Cynegeticon (Die Jagd) seines Zeitgenossen Grattius Faliscus (auf das Ovid EP. 4.16.34 anspielt) so­ wie an die späteren Ἁλιευτικά Oppians von Anazarbos, die Κυνηγετικά Das zweite Hemistichion des Pentameters wird Tr. 2.20 wiederholt, und zwar mir Bezugnahme auf Telephus und in der vergeblichen Hoffnung, die lange Elegie werde die für den Autor desaströsen Folgen der Ars aufheben.

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Oppians von Apamea und die Cynegetica von Nemesianus. Und Ovid deutet die Suche nach einer Sexualpartnerin als Jagd. 1.45 wird dem eine Frau Su­ chenden noch der Jäger verglichen; 1.253 heißt die entsprechende Aktivität schon selbst Jagd, das Netzstellen wird zur Metapher für die erotische Suche (1.263, 270), das Mädchen wird explizit „Beute“ genannt („praeda“, 2.2). Um­ gekehrt legt die auf einen Mann erpichte Frau einen Angelhaken aus, an dem der Fisch anbeißen möge (3.425 f.). Zum Sich-Entlieben werden wirkliche Jagd, Vogelfang und Fischen empfohlen (RA. 199 ff.),78 explizit wegen der physischen Anstrengung, doch vermutlich schwingt im Hintergund die Idee mit, wegen ihrer Wesensverwandtschaft mit der erotischen Werbung handle es sich um ei­ nen angemessenen Ersatz.79 Ferner wird die Liebeswerbung dem Militärdienst verglichen (1.36, 2.233, 3.559 f.). Ja, die umgekehrte Reitstellung beim Ge­ schlechsverkehr wird der Kriegstechnik der Parther verglichen (3.785 f.). Zweitens ist die menschliche Natur schwerer zu beherrschen als die tieri­ sche; deswegen erkennt Ovid auch explizit an, den tausend verschiedenen Seelen seien tausend verschiedene Weisen des Fangens angemessen (1.753 f.; vgl. 3.772, RA. 425 f., 525 f.). Er zögert nicht, einen Rat, den er gerade gegeben hat, zurückzuziehen: „Nec leuitas culpanda mea est: non semper eodem/ im­ positos uento panda carina uehit“ („Und nicht ist meine Leichtfertigkeit anzu­ klagen: das gebogene Schiff fährt die Passagiere nicht immer mit gleichem Wind“, 2.429 f.). Drittens ist die erotische Leidenschaft derart, daß sie sich nur zum Teil Regeln zu unterwerfen bereit ist und letztlich auch der Regeln nicht bedarf. Über eine urzeitliche Begegnung eines Mannes mit einer Frau heißt es: „Quid facerent, ipsi nullo didicere magistro;/ arte Venus nulla dulce pere­ git opus.“ („Was sie tun sollten, lernten sie selbst ohne jeden Lehrer: Venus vollzog das süße Werk ohne jede Kunst,“ 2.479 f.; vgl. Tr. 2.347). A fortiori gilt das für die Tiere in der Luft, im Wasser und auf dem Lande, die allesamt sexuelles Verhalten auch ohne Unterweisung kennen (AA. 2.481–488). Damit ist Ovids eigenes Werk entwertet, denn nicht nur heißt es „ars“, Ovid selber nennt sich am Ende des zweiten und dritten Buches „Naso magister“ (2.744 f., 3.812). Ja, Ovid räumt ein, daß er sich selbst nicht an alle seine eigenen Regeln halte, da er seine Eifersucht nicht zu kontrollieren vermöge. „Hac ego, con­ fiteor, non sum perfectus in arte:/ quid faciam? monitis sum minor ipse meis.“ (Ich bin, ich bekenne es, nicht vollkommen in dieser Kunst:/ Was soll ich tun? Ich selbst bin meinen Ermahnungen nicht gewachsen“, 2.547 f.) Der Über­ gang vom Drang zur Methode, vom „impetus“ zur „ratio“ (RA. 10), gelingt Weniger zuversichtlich, was den Erfolg angeht, ist Gallus in Vergils B. 10.60 f.  EH. 4.87 ff. wird ebenfalls ein Gegensatz zwischen realer Jagd und erotischen Aktivitäten unterstellt; doch sucht Phaedra Hippolytus davon zu überzeugen, man könne beides alternierend ausüben.

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nicht vollständig. Beim Sich-Entlieben bedarf umgekehrt, wer enome Wil­ lensstärke hat, nicht der Ratschläge Ovids. Sie wenden sich an denjenigen, der es von alleine nicht schafft, aber es gerne schaffen möchte (RA. 297 f.). Schon zu Beginn oszilliert Ovid zwischen der Pose des Opfers und derjenigen des Lehrers Amors (AA. 1.21 ff.). Und doch wäre es falsch, die Wahl des Genres ausschließlich als ironi­ sches Spiel mit der Form des Lehrgedichts zu deuten.80 Die Ars amatoria ist kein sachbezogenes, aber auch kein formales, sie ist ein transparentes Lehrge­ dicht. Man könnte sagen, daß die manifeste und die latente Ebene besonders eng miteinander verbunden sind: Die erotischen Kunstgriffe sind zwar nicht alle ernst gemeint; denn Ovid weiß, daß Liebe mehr ist als eine Trickkiste. 81 Aber durch die Trickkiste hindurch macht Ovid Wesenszüge der Liebe sichtbar – er will nicht einfach mit der eigenen Sprachfertigkeit, Gelehrsam­ keit und einer Batterie intertextueller Anspielungen protzen. A. S. F. Gow und A. F.  Scholfield schreiben treffend zu Nikandros’ Θηριακά (Giftige Tiere) und Αλεξιφάρμακα (Gegengifte): „The victim of snake-bite or poison who ­turned to Nicander for first-aid would be in sorry plight.“ (1997; 18) Der Leser der Ars dagegen lernt über erotisches Verhalten nicht weniger Wichtiges, als etwa der indische Leser des Vātsyāyana zugeschriebenen prosimetrischen Kāmasūtra es tut. So stolz auch Ovid auf die formalen Qualitäten seiner Ver­ se ist (RA. 371 f.), so falsch wäre es zu bestreiten, Liebe sei für ihn ein höchst wertvoller Zeitvertreib, auf den sein Lehrgedicht Licht werfen will und wirk­ lich wirft.82 Malcolm Heath schreibt zwar, niemand nehme an, „that Ovid really wrote his poem in order to in­struct the youth of Rome in that art. Its real point lies wholly elsewhere: in the elegance, wit and sophistication with which the ostensible didactic programme is carried through“ (1985; 254). Aber die Entgegensetzung ist irreführend: Eleganz und Witz zeigen sich ge­ rade in der Kategorisierung eines Gebiets, auf dem sich der Liebhaber in­ stinktiv bewegt, aber ohne sein Tun in die Bewußtseinshelle zu heben. Sicher bildet sich Ovid nicht ein, einen plumpen Menschen zu einem geschickten Liebhaber umschaffen zu können – aber Analoges trifft auch auf Horaz’ Ars „Lusus“ („Spiel“) in 3.809 bezieht sich auf das Spiegeln des erotischen Spiels in der Dichtung, ganz so wie „lusit“ Am. 3.1.27 und „tenerorum lusor amorum“ („Spieler zärtlicher Liebesweisen“) Tr. 4.10.1. 81 Vgl. Fränkel (1945), 61 f.: „Everybody understands anyway that he is only giving himself airs, and that consummate love amounts to something more than a bag of tricks.“ 82 Dagegen kann man sich Ovids Grinsen bei der Lektüre von Horaz, Carmina 4.5.31 ff. mit ihrem Lob der unter Augustus angeblich wiederhergestellten ehe­ lichen Keuschheit unschwer vorstellen. 80

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poetica zu, und diese ist ebensowenig wie die Ars amatoria ein nur formales Lehrgedicht, sondern bietet eine vollkommene Balance von Form und Inhalt.83 Was Ovids Dichtung so turmhoch über die erhaltene alexandrinische er­ hebt, ist, daß sie mehr ist als Kunstfertigkeit – die er Kallimachos zusprach, ohne jedoch Erfindungsreichtum bei ihm zu finden: „Quamuis ingenio non ualet, arte ualet“ („Obgleich er nicht durch Erfindungsreichtum besticht, tut er das durch Kunstfertigkeit“, Am. 1.15.14),84 während er umgekehrt Ennius, dem ältesten römischen Dichter, den er anführt, „ars“ abspricht (Am. 1.15.19) und anderswo „ingenium“ zuspricht (Tr.  2.423 f.).85 Sicher will Ovid in sei­ nem Werke beides verbinden, Genie und Kunstfertigkeit.86 Er hat Freude an der Form und an der witzigen, Schopenhauer und Freud vorwegnehmenden Entlarvung der erotischen Motivation vieler Handlungen, die unter anderer Maske auftreten – Frauen gehen ins Theater nicht so sehr, um zu sehen, als um gesehen zu werden (AA. 1.99, 496, 3.394), sogar Augustus’ Nachstellung der Seeschlacht bei Salamis (1.171 ff.) und sein möglicher Triumphzug (1.229 ff.) sind Anlaß zum Anbandeln, ja, selbst auf Bestattungen kann die mit aufgelöstem Haare um den Mann wehklagende Frau erotisch anziehend auf einen neuen wirken wollen (3.431 f.).87 Doch geht es Ovid wirklich um einen Gehalt, nämlich um Eros, wenn auch sicher nicht um ausschließliche romantische Liebe, die eine christliche Schöpfung ist88: Er hat selber geliebt Vollkommen ist sie, weil sie in der Form den Inhalt instantiiert. Vgl. Vittorio Hös­ le (2009). 84 Ebendeswegen hätte sich Ovid nie wie Properz (4.1.64) einen römischen Kalli­ machos genannt. Er war ehrgeiziger. Und er hätte sich über das Prädikat gefreut, das, bei aller Kritik im einzelnen, der jüngere Seneca ihm in den Naturales quae­ stiones (Naturwissenschaftliche Untersuchungen), 3.27.13 gibt: „ille poetarum ingeniosissimus“ („jener erfindungsreichste der Dichter“). Noch mehr als Kalli­ machos hat Ovid den alexandrinischen Philologen Aristarchos von Samothrake Homer untergeordnet (EP. 3.9.23 f.). 85 Zu Ennius siehe auch AA. 3.409 f. und Tr. 2.259. 86  Tr. 2.316 spricht er von „ingenium“ und „iudicium“, also „Urteilsfähigkeit, was der „ars“ nahekommt. 87 Insofern kann ich Peter Toohey zustimmen: „Ovid’s flippant but easily endearing speaker offers a complete tonal inversion of the narrative voice of traditional, se­ rious didactic epic.“ (1997; 206) Aber die Inversion des Tones hat mit den burles­ ken Aspekten des Themas zu tun und bedeutet nicht eine Untergrabung des kogni­ tiven Anspruchs des Werkes. Eine ähnliche Inversion findet man in Machiavellis Il Principe (Der Fürst) gegenüber früheren Fürstenspiegeln – aber das heißt kei­ neswegs, Machiavelli sei es nicht ernst mit seinen neuartigen Aussagen. 88 Allerdings spielt bei diesem Prozeß im zwölften Jahrhundert die Rezeption Ovids neben anderen Faktoren eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es ist kein Zufall, daß Albrechts von Halberstadt mittelhochdeutsche Übersetzung der Metamorpho83

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(RA. 716), und seine Ratschläge wollen dazu beitragen, möglichst glückliche, vielleicht sogar dauerhafte erotische Beziehungen zu schaffen. Er ist Hedo­ nist, aber die Lust soll gestreut werden; er ist kein Egoist. Eros ist freilich nicht an die Ehe gebunden; ja, er kann sich im Grunde nur außerhalb ihrer entfalten, weil dann freie Anziehung anstatt einer rechtlichen Verpflichtung wirkt. „Non legis iussu lectum uenistis in unum;/ fungitur in uobis munere legis Amor.“ („Nicht auf Befehl des Gesetzes bestiegt ihr ein gemeinsames Bett;/ Amor erfüllt in euch das Amt des Gesetzes“, AA.  2.157 f.; ähnlich Am. 1.4.64: „iure coacta“, „vom Recht gezwungen“)89 Der streitsüchtigen Gattin („uxor“) wird die Freundin („amica“) entgegengesetzt (AA. 2.155 f.). Auch die Beziehung zur Freundin ist als offen konzipiert; zwei Geliebte zu haben wird ausdrücklich empfohlen (RA.  447 ff.; vgl. Am. 2.10.1 ff.). Von der späteren christlichen Hochschätzung der Monogamie ist Ovids Verteidigung von Ehe­ bruch und gewisser Formen von Promiskuität weit entfernt. Immerhin ver­ wirft Ovids elegisches Ich wie die frühen Christen90 mit großer Schärfe die Abtreibung in zwei aufeinanderfolgenden Gedichten – allerdings nicht um Verantwortung für das vermutlich von ihm gezeugte Wesen (Am. 2.13.5 f.) zu übernehmen, sondern weil man es nach der Geburt aussetzen könne (so ist Am. 2.14.25 f. zu verstehen).91 Eine Bluttat ist Ovid aber stets zuwider.92 Und ebensowenig mag er es, wenn man nicht fröhlich auseinandergeht, sondern Liebe in Haß umschlägt – wobei er zu Recht erkennt, daß dies ein Zeichen sei, daß man immer noch liebe (RA.  655 ff.). Sicher soll das Werk auch Ovids eigene erotische Anziehungskraft stei­ gern, z. B. wenn er sich als Dichter der Armen preist, der mit Worten, nicht mit Geld überrede (AA. 2.161 ff.), den Frauen allgemein die Dichter als Lieb­ sen etwa zeitgleich abgefaßt wurde wie Gottfrieds Tristan, das innovativste Werk des deutschen Mittelalters über die Liebe. 89 Diese Idee wirkt im Mittelalter weiter, etwa in Maries de Champagne Brief vom 1. Mai 1174 im sechsten Kapitel des ersten Buches von Andreas Capellanus’ De amore (Von der Liebe) (1892; 152 ff.). 90 Vgl. etwa Διδαχὴ τῶν δώδεκα ἀποστόλων (Lehre der zwölf Apostel) 2.2. 91  EH. 7.135 ff. schreibt Dido auch die Schuld am möglichen Tod eines mit ihr ster­ benden Embryos, den sie vielleicht in sich trage, Aeneas zu. Kritisch zur Abtrei­ bung auch EH. 11.41 ff. 92 Daher verwirft Ovid auch die Kastration als Verbrechen, meint allerdings, wer sie eingeführt habe, habe sie selber verdient (Am. 2.3.3 f.). Zum ius talionis als ge­ rechter Strafe siehe auch AA.  1.645 ff. und Tr. 3.11.39 ff., beide Stellen zu den Geschichten von Busiris und Phrasius bzw. Phalaris und Perillus. Tr.  5.12.47 f. wird die Phalarisgeschichte, die etwa auch EP. 2.9.44 erwähnt wird, auf den eige­ nen literarischen Niedergang als Strafe für unangemessene eigene Dichtung bezo­ gen. Ib. 397 f. und 437 f. geht es um den eigenen Tod von Busiris und Phalaris.

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haber empfiehlt (3.533 ff.), kokett der Befürchtung Ausdruck gibt, er selber werde Opfer der den Damen gegebenen Ratschläge werden (3.590, 667 ff.),93 ja, denjenigen, die sich entlieben wollen, empfiehlt, keine Elegiker mehr zu lesen, unter denen er ausdrücklich auch sich selber einschließt (RA.  757 ff.).94 Da er weiß, daß das, was erlaubt ist, nicht willkommen ist (Am. 2.19.3, 25 f., 52 ff.) und daß man weniger sündigt, wenn sündigen erlaubt ist („cui peccare licet, peccat minus,“ Am. 3.4.9),95 dürfen wir annehmen, daß dies eine ge­ schickte Werbestrategie ist. Denn das Prinzip gilt nicht nur für die Liebe, sondern auch für das Lesen von Liebeselegien. An anderen Stellen empfiehlt er seine Ars direkt (AA.  3.341 f., RA. 487 f.). Wenn Ovid betont, der Liebhaber müsse seine eigenen Kräfte verbergen und nicht allzu offenkundig beredt sein („sed lateant uires, nec sis in fronte disertus“, 1.463), denkt man unwei­ gerlich an sein ästhetisches Prinzip „ars adeo latet arte sua“ („So vollkommen verbirgt sich im Kunstwerk die Kunst“, M. 10.252). Dieses ist zwar mit Bezug auf Pygmalions Statue ausgesprochen, findet aber sicher auch auf die eigene Dichtung Anwendung. Große Dichter und große Liebhaber dürfen nicht so talentiert erscheinen, wie sie wirklich sind – das verbindet beide. Eros ist ein Reich des Spiels,96 des Scherzes97 und der Ausgelassenheit,98 Täuschung spielt in ihm eine wichtige Rolle (AA. 1.643 f., 3.291 f., RA. 689 f.; Ähnlich schon Am. 2.19.34. Am. 3.12.9 ff. findet sich der verwandte Gedanke, Ovids Liebesgedichte auf Corinna hätten diese erst bekannt und wegen der vielen Verehrer ihm abspenstig gemacht. Zumindest die veröffentlichte Dichtung, scheint es, scha­ det der Liebe. Siehe auch Tr. 2.449 f. mit expliziter Bezugnahme auf Tibull (1.6.9 ff.). 94 Zwar muß man zwischen dem Autor Ovid und dem lehrenden Ich, also dem in erster Person sprechenden praeceptor amoris, begrifflich unterscheiden, aber Ka­ tharina Volk hat recht, daß in diesem konkreten Falle beide in der Realität nicht getrennt sind. Ovid distanziert sich nicht von ihm. „No one is making fun of the praeceptor amoris except the praeceptor amoris himself.“ (2002; 193) In den Metamorphosen ist die Unterscheidung zwischen Autor und epischem Erzähler schärfer; vgl. Fritz Graf (1994), 41 f. 95 Die Elegie Am. 3.4 stimmt in der Aussage, erst das Verbot schaffe die Lust zur Übertretung, auf faszinierende Weise mit zentralen Ideen Paulus’ im Römerbrief (4.15, 7.7 ff.) überein. Doch will Ovid mit seinem an den Ehemann gerichteten Gedicht sich selber den Zugang zu dessen Ehefrau erleichtern; der Zweck des Gedichts widerspricht also dem Gesagten. Doch heißt das nicht, daß Ovid die Aussage für völlig falsch hält. 96 „Ludere“ und „lusus“ kommen etwa 1.99, 641, 2.389, 600, 3.62, 368, 372, 382, 809 und RA. 23, 433 vor. Hier ist direktes erotisches Verhalten, nicht Dichtung darüber gemeint, wie oben Anm. 80. 97 „Iocus“ und „iocosus“ kommen z. B. 2.600, 724, 3.328, 367, 381, 580, 640, 787, 796 und RA. 387 vor. 98 „Lascivus“ und „lascivia“ kommen 3.27 und RA. 385 vor. 93

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man denke auch an den Kontrast zwischen den Elegien Am. 2.7 und 2.8). Die Frau, die sich schminkt, erfindet sich für jemanden („cum se non finxerit ulli“, RA. 341); nur ein winziger Teil ist wirklich sie selbst: „pars minima est ipsa puella sui.“ (RA. 344) Frauentränen sind selten ehrlich (AA. 3.291 f., RA. 689 f., Am. 1.8.83 f.), ebensowenig Männertränen (EH. 2.51, 12.93); von Nutzen ist nicht ehrliches, sondern nur vorgemachtes Erröten (Am. 1.8.35 f.). Nicht minder bedarf diese Sphäre der Selbsttäuschung (RA.  211 f., 513 f.), die durch Eitelkeit unterstützt wird (RA. 685 f.).99 Dieses Rollenspiel macht frei­ lich das Wesen des Eros aus: „If you want to be a lover, you must play the role of a lover.“100 Daher kann aus vorgespielter Liebe wahre Liebe erwachsen (AA.  1.613 ff., RA. 501 ff.); Analoges kann auch beim Sich-Entlieben vorkom­ men (RA. 497 ff.). Der Scheincharakter der Welt der Ars ergibt sich sicher auch daraus, daß ihre Personen nicht individualisiert sind. Zwar muß jeder Liebhaber der Geliebten vormachen, sie sei etwas ganz Einzigartiges. Aber da der Leser der Ars das Besondere nicht in den Blick bekommt (denn in ei­ nem Lehrgedicht geht es unweigerlich um das Allgemeine), wird er den Ein­ druck nicht los, diese Welt sei nicht real. „Unlike Delia, Cynthia, and even Corinna, these women are not special, are not individualised, and the wouldbe elegiac lover is urged only to act as though the girl he has in his sights were unique, and not to think that she really is.“101 Paradoxerweise bieten nur die Mythen, die in das Werk eingewoben werden, Menschen aus Fleisch und Blut – und dies erklärt, warum sich Ovid in seinem Hauptwerk auf diese my­ thischen Gestalten beschränkt, wobei er zahlreiche Mythen der Ars aufgreift und ausarbeitet. Ovids Zurückweisung undifferenzierter Verleumdungen der Frauen (AA. 3.9 ff.), sein Mitleid für die von Iason, Theseus, Demophoon und Aeneas verlassenen Frauen (3.31 ff.) scheinen echt – auch wenn er im zweiten Buch männliche Promiskuität verteidigt hat (2.387 ff.). Aber das heißt schwerlich, jede Form der Auflösung einer Beziehung sei nach Ovid akzeptabel. Auch ist es nicht überzeugend zu sagen, Passagen, die Frauen verteidigten, fänden sich nur im an Frauen gerichteten dritten Buch. Ganz davon abgesehen, daß man durchaus davon ausgehen kann, die beiden ersten Bücher seien auch Frauen bekannt geworden, hat seine Verteidigung der Gattenmörderin Clytemestra, Die Selbsttäuschung gilt nicht nur, was das eigene Selbstbild angeht, sondern auch, was das Bild des bzw. der Geliebten betrifft. Tr. 4.3.58 antizipiert geradezu Stendhals Kristallisationstheorie. 100 Kennedy (2000), 166. 101 Rebecca Armstrong (2005), 87, die u. a. darauf hinweist, daß Ovid gelegentlich von den weiblichen Objekten der erotischen Jagd sogar im Neutrum spricht (AA. 1.35, 91 f.).   99

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die erst durch das Laster ihres Mannes ungerecht geworden sei („vitiost im­ proba facta viri“, 2.400), im zweiten Buch ihren Platz. Wenn Ovid Aeneas, der Dido verlassen hat, nur eine „fama pietatis“, einen Ruf der Frömmigkeit, attestiert (3.39), könnte die Absetzung von Vergil nicht schärfer sein,102 wie sie auch schon in Didos Brief an Aeneas EH. 7 (zumal V. 84 zu Creusa) vor­ kommt, dort freilich noch nicht in des Dichters eigener Stimme. Ob die Vergil­ kritik berechtigt ist oder nicht, ist eine andere Frage. Ovid ermangelt einerseits der ethisch-politischen Kategorien, um das Verlassen Didos im Sinne Vergils zu würdigen, und scheint andererseits bewußt zu übersehen, daß dieser durch­ aus eine besondere Empathie für die Opfer des Geschichtsprozesses hat: Es genüge, an die Begegnung Aeneas’ mit Dido in der Unterwelt Aen. 6.450 ff. zu erinnern.103 Aber sosehr man die These vertreten kann, die Autonomisierung des Eros bei Ovid führe zu einer Entmoralisierung, die den zwischenmensch­ lichen Beziehungen, auch den erotischen, nicht guttut, und den Frauen sei mehr gedient, wenn die Liebe ihren wohlbestimmten Platz in einer komplexen Hierarchie sozialer Beziehungen behält, Ovids Kritik an Vergil ist sicher ern­ ster zu nehmen als diejenige an Homer, dem Ovid nicht glauben will, Aga­ memnon habe sich nicht an Briseis vergangen, nachdem er sie zu sich genom­ men habe – „certe ego fecissem“ („sicher hätte ich es getan“, RA. 781). Wer will, mag Ovid sogar einen Platz in der Vorgeschichte des Feminis­ mus zuschreiben: Denn Mann und Frau sollen gleichermaßen („ex aequo“, AA. 2.682) sexuelle Lust empfinden (vgl. 3.793 f., 800, RA.  413 f. und Am. 2.3.2: „mutua gaudia“, „wechselseitige Freuden“). Auch wenn sich die Ein­ nahme der jeweiligen sexuellen Position durch die Frau nach dem männlichen Blick richten soll (3.769 ff.), ist dies nicht an sich antifeministisch, da das Be­ wußtsein zu gefallen luststeigernd sein kann.104 Uns Heutigen unerträglich ist freilich die Empfehlung von Gewalt, auch wenn sie damit gerechtfertigt wird, sie sei den Frauen willkommen (1.671 ff.). Ähnlich lesen wir Am. 1.5.15 f.: „Cumque ita pugnaret tamquam quae vincere nollet,/ uicta est non aegre pro­ ditione sua“ („Und da sie kämpfte wie eine, die nicht siegen will, wurde sie durch eigenen Verrat nicht ungerne besiegt“). Bei aller Privilegierung des Mannes in der Ars wenden sich jedoch die Remedia explizit an beide Ge­ Das ändert nichts an dem Lob der Aeneis, „Quo nullum Latio clarius extat opus“ („bedeutender als welche kein Werk in Latium ist“, AA. 3.338; vgl. EP. 3.4.83 f.). Immerhin glaubt Ovid, die Elegie verdanke ihm ebensoviel wie das edle Genre des Epos Vergil (RA. 395 f.). 103 Was den Verlust Creusas im ersten Buch angeht, siehe die feinsinnige Interpreta­ tion von Luca Grillo (2010). 104 Ovid betont daneben auch die Freude der Frau, die sich selber gefällt (vgl. MFF. 23 und 31). 102

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schlechter (RA. 49 f.). RA. 608, charakterisiert durch einen strengen Paralle­ lismus der Glieder, richtet sich ebenso an den von der Geliebten verlassenen Mann wie an das vom Geliebten verlassene Mädchen: „Laese uir a domina, laesa puella uiro!“ Und der letzte Vers des Werkes vereint in großartiger Sprachmalerei einer Umarmung durch das sie heilende Gedicht Ovids Frau und Mann: „Carmine sanati femina uirque meo.“ (RA. 814)105 Angesichts von Schmidts Kritik an einer geschichtsphilosophischen Di­ mension der Metamorphosen lohnt es darauf aufmerksam zu machen, daß Ovid in der Ars ein sehr klares Bewußtsein davon hat, daß die erotische Frei­ zügigkeit seiner Zeit – die ja schon Augustus einzudämmen versuchte, mit bekannten Folgen für Ovid selber – sich keineswegs von selbst versteht, son­ dern das Resultat eines langen geschichtlichen Prozesses ist. Der Lukrezleser Ovid weiß, daß, als sich nach dem ursprünglichen Chaos die Welt zu ordnen begann, das ursprüngliche Menschengeschlecht „bloße Kraft und roher Kör­ per war“ („idque merae uires et rude corpus erat“, AA. 2.474); seine sexuellen Aktivitäten bedurften keiner Ars amatoria. Und doch war bei aller Primitivi­ tät ein starkes Schamgefühl vorherrschend – als die Urmenschen noch keine Behausung hatten, „erfolgte die Lust der Vereinigung nicht unter freiem Him­ mel, sondern in einem Hain oder in einer Höhle – so ernst nahm das rohe Volk das Schamgefühl“ („in nemore atque antris, non sub Ioue, iuncta uolup­ tas:/ tanta rudi populo cura pudoris erat“, 2.623 f.).106 Abgesetzt davon wird die eigene Zeit mit ihrem starken Bedürfnisse, über die eigenen nächtlichen Ausschweifungen zu reden, die geradezu deswegen erfolgen, um Wildfrem­ den erzählen zu können, auch mit dieser Frau habe man geschlafen, auf die man dann offen mit dem Finger weist. Ja, wenn man sich ihres Körpers nicht bemächtigen könne, beschmutze man ihren Namen, indem man eine nie ge­ schehene Verführung erfinde (2.625 ff.). Ovid zieht Diskretion vor; und sein Ekel an dem kritisierten Gebaren ist offenkundig. Das heißt nicht, daß er zur früheren Zeit zurückkehren möchte – Ovid ist kein laudator temporis acti. Ganz im Gegenteil enthält die Ars ein starkes Bekenntnis zur Gegenwart: „Prisca iuuent alios, ego me nunc denique natum/ gratulor: haec aetas mori­ bus apta meis…“ („Die alten Bräuche mögen andere erfreuen, ich beglück­ wünsche mich, daß ich jetzt erst geboren bin: Dieses Zeitalter entspricht mei­ nem Wesen“, 3.121 f.).107 Und doch lohnt es, genauer zu lesen: Vor diesen Versen schildert Ovid den enormen Gegensatz zwischen den griechischen Die metrische Klausel wird wiederholt Tr. 2.6. Diese Stelle hat sicher Vico beeinflußt – vgl. den dritten Abschnitt des zweiten Buches der Scienza nuova von 1744, insbesondere Absatz 504 in der kanonischen Absatz-Numerierung Fausto Nicolinis. 107 Eine auf derartige Stellen gegründete einseitige Hervorhebung von Ovids positi­ 105 106

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Helden und ihren Frauen sowie dem wesensverwandten primitiven Rom auf der einen und der Hauptstadt des Kaiserreiches auf der anderen Seite. Er be­ trachtet, was aus Kapitol, Curia und Palatin geworden ist. „Simplicitas rudis ante fuit, nunc aurea Roma est/ et domiti magnas possidet orbis opes.“ („Die rohe Einfalt war früher, jetzt ist Rom golden und besitzt den großen Reichtum des unterworfenen Weltkreises“, 3.113 f.) Nun könnte die Wendung „aurea Roma“ suggerieren, Ovid meine, das goldene Zeitalter sei eigentlich erst jetzt angebrochen (in Analogie zu Aen. 8.348). Aber wer den Dichter so versteht, hat die Stelle 2.277 f. vergessen. Denn dort heißt es: „Aurea sunt uere nunc saecula: plurimus auro/ uenit honos, auro conciliatur amor“ („Golden sind wahrlich jetzt die Zeiten: Die größte Ehre wird dem Gold erwiesen, mit Gold wird Liebe gewonnen“). Für den Interpreten mit gutem Gedächnis ist das Lob Roms also durchaus zweischneidig: Wirtschaftlicher, politischer und techni­ scher Fortschritt gehen einher mit moralischem Verfall, der sich darin erweist, daß Geld das entscheidende Kriterium geworden ist. Und in der Tat sagt Ovid nach den Versen, in denen er sich mit dem eigenen Zeitalter zu identifizieren scheint, der Grund dafür seien gerade nicht das Gold, das ausgegraben werde, oder die neuen Deiche, die das Wasser zurückdrängen, sondern die Kultiviert­ heit (offenbar des Geistes und der Seele): „Sed quia cultus adest, nec nostros mansit in annos/ rusticitas108 priscis illa superstes auis“ („Sondern weil Kulti­ viertheit vorliegt und sich nicht bis unsere Zeit durchgehalten hat jene Plump­ heit, die unseren alten Vorfahren gegenwärtig war“, 3.127 f.).109 Ovid weiß, daß seine Dichtung im zweiten vorchristlichen Jahrhundert nicht hätte entstehen können. Das ist der Hauptgrund, warum er nicht früher hätte geboren sein wollen. (Ebenso weiß er, daß die von ihm geschätzte sexu­ elle Freizügigkeit der Römerinnen seiner Zeit in anderen Ländern nicht ge­ duldet würde: Am. 3.4.34.) Aber das bedeutet keineswegs, er habe die frag­ würdigen Aspekte des Luxus der eigenen Zeit nicht gesehen – denn nach den angeführten Versen wendet er sich an die Frauen und warnt sie vor zu kostba­ ver Einstellung zur Gegenwart findet sich etwa bei Armstrong (2005), 120 ff., die andere Stellen ignoriert. 108 Der analoge Gegensatz zwischen spartanischer „rusticitas“ und phrygischer Raf­ finesse spielt eine Rolle im Briefwechsel zwischen Paris und Helena (EH. 16.287, 17.14 f., 188). 109 In den Fasti zeigt Ovid ein klares Bewußtsein davon, daß auch die Wissenschaft ein spätes Resultat der Entwicklung ist. Die frühen Römer hätten zwar die Gestirne für göttlich gehalten, aber vor dem Kontakt mit den Griechen keine Astronomie betrieben (3.101–114, mit Zitat von Horaz’ Epistulae 2.1.156), wie sie Caesars Ka­ lenderreform zugrunde liege, die selbst Numa Pompilius noch unzugänglich gewe­ sen sei (3.151 ff.). Die erhabene Natur der astronomischen Wissenschaft als Aus­ druck reiner Theorie wird 1.295–310 in Anlehnung an Vergils G. 2.490 gepriesen.

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rer Kleidung (wiederum erscheint „aurum“ AA. 3.131). Und er endet den Ab­ satz mit der Aussage, damit würden sie nur die Männer vertreiben, die sie suchten. Auffallend ist das Verb „fugatis“ (3.132), das sich sechs Verse vorher auf das Wasser bezog: „Nec quia caeruleae mole fugantur aquae“ („Und nicht weil das blaue Gewässer vom Deich zurückgedrängt wird“).110 Luxus in der Kleidung und technische Unterwerfung der Natur erweisen sich als verwandt, und sie enden mit der Flucht potentieller Liebhaber bzw. des Urelements. Zwar deutet das einschränkende „vielleicht“ („forsitan“) MFF. 11 darauf hin, man solle nicht zu schnell die Vergangenheit idealisieren; ob die Sabinerin­ nen unter Tatius wirklich vorzogen („maluerint“, 12), die Felder zu bearbeiten als sich selbst zu pflegen, dessen ist sich Ovid nicht sicher.111 Aber das bedeu­ tet nicht, daß er bezweifelt, ihr ländliches Leben sei hauptsächlich der Haus­ arbeit und der Sorge um die Haustiere gewidmet gewesen; die erotischen Ak­ tivitäten der Zeitgenössinnen Ovids waren ihnen fremd, damit aber auch das Bedürfnis nach komplexer Liebesdichtung.112 Molly Myerowitz (1985; 51) behauptet zu einseitig, anders als bei Ovid sei in Lukrez’ Kulturentstehungstheorie Venus ein die ursprüngliche Energie schwächender Faktor gewesen. Zwar schreibt Lukrez 5.1017 f., Venus habe die Kräfte geschwächt und die Kinder hätten mit ihren Liebkosungen mühelos den hochmütigen Geist der Eltern gebrochen: „et Venus imminuit viris pue­ rique parentum/ blanditiis facile ingenium fregere superbum.“ Aber schon das Wort „superbum“ deutet an, daß Lukrez diese Bändigung primitiver Ro­ heit durch familiäre Zärtlichkeiten positiv sieht; ja, die folgenden Verse (1019–1027) machen über jeden Zweifel deutlich, daß erotische Liebe der Be­ ginn aller komplexeren moralischen Gefühle ist, wie des Respekts vor den Rechten des anderen, des Haltens des gegebenen Wortes und des Mitleids mit den Schwächeren – wie angesichts der Anrufung von Venus zu Beginn des Werkes kaum anders zu erwarten war.113 Aber Myerowitz hat recht, wenn sie Hier liegt wohl eine bewußte Anspielung auf Horaz, Carmina 3.1.33 ff. vor. Die Kupplerin der Amores erklärt, die Sabinerinnen unter Tatius seien wegen ihres Schmutzes zur Promiskuität nicht in der Lage gewesen, heute hingegen „spielten“ die schönen Frauen; keusch sei nur, wen niemand gefragt habe: „ludunt formosae: casta est quam nemo rogauit“ (Am. 1.8.43). Janus erklärt Ovid analog, nach Geld gierig seien auch die alten Römer gewesen; doch sei mit dem Reichtum die Hab­ sucht gewachsen (F. 1.193 ff.). Man kontrastiere damit Horaz, Carmina 3.6.21– 44, wo in der Entgegensetzung der alten und der neuen Generationen keine Ironie vorzuliegen scheint. 112 Daß unter den Zeitgenossinnen Livia der Schamhaftigkeit der alten Zeit nicht nach­ stehe (EP. 3.1.115 f.), ist schamlose Schmeichelei. Einige haben diese Verse athetiert. 113 Wohl von Erinnerungen an diese Lukrezpassage geprägt ist F. 4.107–114 über die zivilisierende Wirkung der Liebe, der sich auch Dichtung und Redekunst verdan­ 110 111

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die große Bedeutung des geschichtsphilosophischen Exkurses der Ars her­ vorhebt: „The cosmogonic excursus provides a kind of anthropological per­ spective, necessary for resolving the ambivalent status of that blanda voluptas, the erotic instinct that once civilized primitive men ‘artlessly’ and yet is now … itself in need of the civilizing which art effects.“ (53) Und recht hat sie ebenfalls mit der These, der Dichter setze die Zivilisierungsleistung des Eros fort: „Both lover and artist face a challenge of a similar kind – that of impo­ sing form and restraint on a particularly seductive type of natural energy, called eros in the case of the lover, inspiration, talent, or ingenium in the case of the artist.“ (73) Ovids ambivalente Bewertung geschichtlichen Wandels findet sich schon bei Platon. Denn wenn auch das achte und neunte Buch der Πολιτεία (Politeia) einen moralisch-politischen Verfall darstellen, präsentiert deren zweites Buch das Modell einer langsamen Entwicklung einer primitiven Gesellschaft, die an die der Sabinerinnen unter Tatius bei Ovid gemahnt, hin zur Hochkul­ tur, wie sie im Athen Platons vorlag, das wiederum an Ovids Rom erinnert. (Im dritten Buche der Νόμοι (Gesetze) wird die Entwicklung zu komplexeren Gesellschaftsformationen noch viel detaillierter rekonstruiert.) Natürlich wa­ ren sich gebildete Athener und Römer dessen sehr wohl bewußt, daß ihre Kultur eine lange Vorgeschichte voraussetzte und komplexer war als das Vor­ angegangene. Diese Überzeugung ist allerdings mit zweierlei kompatibel. Im Rahmen eines zyklischen Modell kann man erstens annehmen, jede Hoch­ kultur werde einst dank einer sozialen oder natürlichen Katastrophe zusam­ menbrechen und die Kulturentwicklung mit einer primitiven Menschheit neu einsetzen. In der Tat wird auch im ersten Buch der Metamorphosen die Menschheit durch die große Flut fast vollständig ausgelöscht, und die durch Phaethon ausgelöste Feuer-Katastrophe zu Beginn des zweiten Buches hat vor Jupiters Eingriff durchaus das Potential, die Menschheit erneut zu vernichten. Und man kann zweitens die These vertreten, sozialer und geistiger Fortschritt innerhalb eines Zyklus sei mit Verfall in anderer, besonders moralischer Hin­ sicht durchaus kompatibel. Konrad Gaiser hat Platons Geschichtsphilosophie in diesem Sinne (1961) eindrucksvoll herausgearbeitet. Auch wenn die erste, in der Antike allgemein geteilte Annahme in Ovids Hauptwerk nach der Phae­ thon-Katastrophe im zweiten Buch keine Rolle mehr spielt, zeigen doch die ken (zu deren Unterschieden und Beziehungen siehe EP. 2.5.65 ff.). Zur Milde­ rung der Sitten durch die Künste vgl. EP. 2.9.47 f. im Brief an den griechisch dichtenden Thrakerkönig Cotys III. (VIII.), dem Ovid als neuem Orpheus schmei­ chelt. Das Venuslob F. 4.91 ff. spiegelt den Venushymnus zu Beginn von De rerum natura, da beide Dichter die das Leben erhaltende und die den Frieden stiften­ de Rolle der Göttin hervorheben.

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Passagen aus der Ars, daß der Dichter einen soziokulturellen Wandel in der geschichtlichen Zeit annahm, der sich auch auf das erotische Verhalten des Menschen erstreckt, und daß er diesen Wandel ambivalent bewertete. Denn er führt zu höherer Komplexität der Institutionen, der Naturbeherrschung durch den Menschen, des Empfindens und der Kunst; aber er legt auch Abgründe der menschlichen Natur frei, die früheren Epochen unbekannt waren, wie etwa den Wunsch, die eigenen sexuellen Aktivitäten publik zu machen. Mit diesem Durchgang durch die den Metamorphosen vorausgehenden Werke sind die Kategorien erworben worden, die für meine Antwort auf das Problem der Ordnung des Werkes entscheidend sind. Meine These besteht aus zwei zentralen Aussagen. Erstens sind die Metamorphosen primär ein Werk über die Fülle an Liebesformen, die es in der Welt gibt.114 Mythen wer­ den erzählt, weil sie auf poetisch einprägsame Weise Strukturen erotischen Verhaltens veranschaulichen; das ist bei den meisten von ihnen der Grund, warum sie aus dem viel größeren Schatz der Tradition ausgewählt worden sind. Beim Vorliegen ähnlicher Mythen, von Dubletten, ist es wichtig, die Un­ terschiede in der zugrunde liegenden Struktur aufzudecken; denn es spricht viel dafür, daß Ovid sie nur dann in sein Werk aufnimmt, wenn sie ihm erlau­ ben, strukturelle Differenzen zu erhellen. Wir werden auch sehen, wie die Abfolge der Geschichten oft durch formale Prinzipien bestimmt wird, etwa die Spiegelung einer Beziehung an unterschiedlichen Achsen.115 Dabei sind der Generationen-, der Geschlechts- und der Gegensatz von Göttern und Sterblichen die wichtigsten polaren Beziehungen, hinsichtlich deren eine Spiegelung erfolgen kann (manchmal auch in mehreren Dimensionen). Ovid interessiert sich für fast alle Formen des Eros – glückliche wie un­ glückliche (letztere sind in der deutlichen Mehrzahl, vermutlich aus Respekt vor der Wirklichkeit), normale wie abweichende. Hetero- und homosexuelle Liebe, Narzißmus, Sadismus, Inzest mit Bruder und Vater, Fetischismus, So­ domie, Sehnsucht nach einem Körper anderen Geschlechts – vermutlich hat kein anderes Werk der Antike soviel von dem Material behandelt, das Richard von Krafft-Ebing in der Psychopathologia sexualis von 1886 erstmals systema­ tisiert hat.116 Die Metamorphosen sind also ein Lehrgedicht, doch ganz anders So schon Alan H. F. Griffin (1977), 62: „It is very important to grasp that the ­Metamorphoses is not about metamorphosis, but about love.“ 115 Versucht man, eine thematische Ordnung in den Fasti zu finden – keine sehr aus­ sichtsreiche Aufgabe –, wird man auch da gelegentlich auf dieses Prinzip stoßen. Tullias Überfahren des eigenen Vaters (6.585 ff.) entspricht Phaedras Auslösung des Todes des eigenen Stiefsohnes (737 ff.). 116 Die Forschung hat dieses Material oft ignoriert. Alison M. Keith schreibt am Ende ihrer eigenen Abhandlung zur Sexualität bei Ovid: „Ovid’s interest in the psycho­ 114

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als die Ars kein technisches. Es ist kein Handbuch, das beim Verführen helfen soll; es ist ein theoretisches Lehrgedicht, allerdings kein wissenschaftliches, sondern ein mythisches. Und es ist transparent, weil die Verwandlungsmythen Einsichten in Wesen, Formen und individuelle wie historische Entwicklung der Liebe ermöglichen. Damit erreicht Ovid eine einzigartige dichterische Wir­ kung. Sicher enthält auch die Ars eine Fülle erotischer Geschichten aus der antiken Mythologie, von denen manche im Hauptwerk wiederkehren, das sie vermutlich inspirierten; aber sie sind nur Episoden und bilden keinen gewalti­ gen Strom wie im späteren Werk, denn Ziel der Ars ist das Spielen mit der Liebe. Verführer(in) und Dichter wollen die erotische Situation beherrschen. Das ist ein Bruch mit der elegischen Tradition, der zwar ansatzweise schon in den Amores beginnt, deren elegisches Ich forscher und autonomer ist als das­ jenige Properz’ und Tibulls, der aber erst in der Ars vollendet wird. Mit Bezug auf Vergils B. 10.69 schreibt Volk: „In the elegiac world, love conquers all … The Ars amatoria also deals with amor, but with an amor that has been tacitly redefined: what used to be an affliction has become a social skill, what used to be wholly irrational can be taught and learnt. The life-shattering experience of the elegiac lover has been replaced by the calculated behavior of the doctus amator.“ (2002; 172) Überspitzt könnte man dagen, daß der „praeceptor“ der Ars Erbe der Kupplerin von Amores 1.8 ist. In den Metamorphosen dagegen kehrt die Macht des elegischen Eros zurück, und zwar mit der Wucht eines epischen Schicksals, das die ganze Welt erfaßt und die Entwicklung der Welt bestimmt. Amor ist keine Technik mehr, sondern ein Ereignis, das Götter und Menschen ganz unabhängig von ihrem Willen ergreift und in Beschlag nimmt. Ebendeswegen eignet ihm eine tragische Dimension, die der Ars völlig fremd ist. Das Werk unterrichtet nicht nur auf enzyklopädische Weise über die For­ men des Liebens,117 es erzeugt Empathie, wie das nur der Dichtung, aber nicht pathology of love … receives scant attention in these pages…. Nor has this study considered instances of myths of homosexuality and transsexuality in Ovid’s poetry.“ (2009; 369) In meiner Analyse gebrauche ich im folgenden die modernen Kategorien, auch wenn ich natürlich weiß, daß etwa der Begriff ‘Sadismus’ nicht antik ist. Aber gerade Dichter erfassen oft erstmals Phänomene, die zu ihrer Zeit noch nicht kategorisiert sind. Analog habe ich keine Scheu, von „Homosexualität“ zu reden, auch wenn die Römer in ihrer Bewertung männlicher Homosexualität scharf zwischen dem penetrierenden und dem penetrierten Partner unterschieden. Vgl. dazu das wichtige Buch von Craig A. Williams (2010), 19, 137 ff., 177 ff. 117 Eine totale Enzyklopädie wie Dantes Commedia ist das Werk nicht, weil es sich auf die Liebesformen konzentriert; aber die zahllosen Vergleiche erlauben ihm (so wie auch der Commedia) eine enorme Expansion des thematischen Horizon­ tes. Vergleiche findet man etwa 1.405, 422 ff., 492 ff., 2.163 f., 623 ff., 716 ff., 727 f., 808, 810 f., 825 f., 3.111 ff., 183 ff., 373 f., 483 ff., 487 ff., 568 ff., 704 ff.,

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der Wissenschaft vergönnt ist, weil konkrete Wesen und nicht Fallstu­dien vor­ geführt werden, deren Ängste und Hoffnungen wir miterleben. Zweitens bestimmt das erotologische Interesse zu einem nicht unwesent­ lichen Teil die Ordnung der Geschichten mit, also den „ordo amorum“, wie man in Abwandlung des theologischen Begriff des „ordo amoris“, d. h. der normativen Präferenzordnung, sagen könnte.118 Die Liebesformen sind im großen und ganzen, wenn auch nicht ausnahmslos, so geordnet, daß auf ein­ fachere psychologisch komplexere Formen folgen. (Daneben spielen Kon­ trastwirkungen und der Wunsch, die traditionelle Chronologie nicht zu offen­ kundig zu verletzen, eine deutliche Rolle.) Dieses Ordnungsprinzip entspricht demjenigen von Lukrez’ Lehrgedicht – nur geht es nicht mehr um Zusam­ menballungen von Atomen, sondern um Formen des Eros, die teils an Tiefe des Empfindens, teils an Kompliziertheit der einschlägigen sozialen Bezie­ hungen zunehmen. Orpheus selber erklärt, er werde sich auf Knabenliebe und unerlaubte weibliche Leidenschaften konzentrieren (M. 10.152 ff.) – und daß im zehnten Buche männliche Homosexualität und Inzest besonders thema­ tisch sind, ist ebenso offenkundig wie die Tatsache, daß am Ende des neunten Buches beide Themen vorbereitet werden, der Vater-Tochter-Inzest durch die Liebe der Schwester zum Bruder, die männliche durch die nur durch ein Wunder verhinderte weibliche Homosexualität. Schmidt muß man darin recht geben, daß die Ordnung des Erzählens, nicht diejenige des Erzählten zählt – die Cyparissus- und Hyacinthus-Episoden mögen zeitlich auseinan­ derfallen (wir wissen es nicht, aber es ist denkbar), doch Ovid rückt sie zu­ sammen, weil sie sachlich zusammengehören. Aber ist nicht der Unterschied von Götter- und Menschenliebe für Ovid entscheidend? Da Ovid nicht an die geschichtliche Wahrheit der entsprechen­ den Mythen geglaubt hat, ist es wichtig zu verstehen, welcher Liebestypus in den ersten zwei Büchern vorherrscht. Anders als Otis würde ich nicht von „divine comedy“ sprechen. Was dort behandelt wird, ist in Wahrheit die Bru­ 729 ff., 4. 122 ff., 135 f., 331 ff., 347 ff., 354 f., 362 ff., 375 ff., 440 f., 714 ff., 722 f., 5.5 ff., 164 ff., 570 f., 604 ff., 626 ff., 6.47 ff., 62 ff., 230 ff., 455 ff., 515 ff., 527 ff., 559 f., 636 f., 7.79 ff., 106 ff., 125 ff., 585 f., 8.35, 162 ff., 189 ff., 213 f., 338 f., 357 ff., 470 ff., 835 ff., 9.39 ff., 46 ff., 170 f., 205 f., 220 ff., 266 ff., 589 ff. (was al­ lerdings eher eine lange Metapher ist), 641 ff., 659 ff., 10.190 ff., 283 ff., 372 ff., 594 ff., 654 f., 733 f., 11.24 ff., 73 ff., 334 f., 508 ff., 525 ff., 554 ff., 771 ff., 12.49 ff., 102 ff., 248 ff., 274, 276 ff., 435 ff., 480 f., 520 f., 13.547 ff., 601 ff., 871 f., 14.207, 767 ff., 824 ff., 15.169 ff., 179 ff., 303 ff., 603 ff. Sie gestatten Ovid, zumal natur­ historisches Wissen einzubauen und zu vermitteln. 118 Vgl. Augustinus, De doctrina Christiana (Über die christliche Lehre), I 27.28 und Thomas von Aquin, Summa theologiae (Summe der Theologie), II/II q.26, die allerdings von „dilectio“ bzw. „caritas“ sprechen.

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talität asymmetrischen männlichen Begehrens und hemmungsloser Gewalt, und diese ist nicht komisch, sondern schrecklich. Auch wenn sie den Anfang der Entwicklung unvermeidlicherweise bestimmt, hat kaum ein antiker Autor so eindringlich das Leid und das Unrecht geschidert, das einer geschändeten Frau widerfährt, auch wenn der Schänder ein Gott ist.119 Heinze hat zwar Heinrich Peters’ These, der Mangel an Subtilität göttlichen Empfindens erge­ be sich daraus, daß hier Ovid vorhellenistischen Vorbildern gefolgt sei (1908; 70, 73), mit dem schlagenden Argument zurückgewiesen, Ovid wäre durch­ aus in der Lage gewesen, den Geschichten modernes Raffinement einzuflö­ ßen. Er hat recht: Die philologische Besessenheit mit Quellen ist oft genug eine Beleidigung der erforschten kreativen Geister, die autonom entscheiden, welchem Einfluß sie sich aussetzen und wie sie ihn transformieren. Aber Heinzes eigene Erklärung erscheint mir ebenfalls falsch: Um die göttliche Ho­ heit nicht herabzuziehen, habe Ovid nicht bei der psychischen Seite der Liebe, ihrem Enstehen und ihrem Konflikt mit anderen Empfindungen verweilen wollen (1919; 383). Richtig ist m. E., daß Ovid eine frühe Form erotischen Be­ gehrens vorführen will, die noch nicht die seelische Komplexität späterer Zei­ ten erreicht hat. „Plus on descend … de l’échelon divin à l’échelon humain, plus on se rapproche du véritable amour“, schreibt Jean-Marc Frécaut zu Recht in seiner meisterhaften Studie zu Witz und Humor bei Ovid (1972; 254). Männliche Gewalt wird abgelöst einerseits durch weibliches Begehren, das einen ganz anderen seelischen Tiefgang hat als das männliche120 und dabei zu nicht weniger verwerflichen Taten führen kann, andererseits durch konsensuelle Liebe, die schließlich sogar die Götter akzeptieren (die auch in der Art ihrer Bestrafungen milder werden). Denn die Liebe zwischen Ver­ tumnus und Pomona ist der Schlußpunkt einer langen Entwicklung, die mit Apollo und Daphne begann und glücklicherweise inzwischen in ihr Gegen­ teil umgeschlagen ist, in Konsens statt Gewalt. Analog wird im Vergleich von Augustus und Romulus in den Fasti dieser deswegen kritisiert, weil er die Sabinerinnen geraubt und Gewalt eingesetzt habe, während Augustus die Ehen und das Recht schütze (2.139 ff.).121 Sicher bleiben die primiveren For­ So zu Recht Holzberg (1998), 134.  AA. 1.342. Das hängt sicher auch damit zusammen, daß in einer vormodernen Welt Frauen Aktivitäten außerhalb des familiären Bereiches weitgehend ver­ schlossen waren – „quod faciam, superest praterer amare nihil“ („nichts bleibt übrig, was ich tun könnte, außer der Liebe“), wie Hero klagt (EH. 19.16). 121 Sicher muß man bei Panegyrik vorsichtig sein; und es ist möglich, daß durch den Kontrast mit Romulus auch Kritik an Augustus durchschimmern soll. Aber daß das spätere Rom der Herrschaft des Rechts geneigter ist als das frühere, war wohl Ovids aufrichtige Überzeugung. Schon Numa Pompilius gilt in dieser Hinsicht als Fortschritt gegenüber Romulus (F.  3.277 ff.). 119

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men erhalten und kehren in bedrohlicher Gestalt immer wieder; aber das ändert nichts daran, daß die komplexeren Formen am Anfang der Entwick­ lung nicht auftreten konnten. Die geschichtliche Entwicklung des Eros ist dabei durchaus ambivalent – ganz wie die Ars gelehrt hat. Auf der einen Seite ist der Weg von der Gewalt zum Konsens begrüßenswert – man könnte die Metamorphosen geradezu ein erotologisches Gegenstück zur Ὀρέστεια (Orestie) des Aischylos nennen, auch wenn die Geschichtskonzeption des attischen Tragikers viel stärker in der traditionellen Religion verankert ist als diejenige Ovids. Andererseits hat Ovid das Pathologische an der modernen Erotik sehr deutlich gesehen; denn er weiß, daß Subtilität selbstzerstörerisch sein kann. „Contra te sollers, hominum natura, fuisti/ et nimium damnis in­ geniosa tuis.“ („Gegen dich selbst, o Menschennatur, bist du kunstfertig ge­ wesen,/ und allzu erfinderisch zu deinem eigenen Schaden“, Am. 3.8. 45 f.) Daher spielen zwei altehrwürdige Paare, die ein traditionelles Religions- und Eheverständnis repräsentieren, in seinem Werke eine architektonisch ent­ scheidende Rolle. Ihm selbst, der dreimal verheiratet war, war diese Form der Liebe nicht mehr möglich, aber er wußte um ihre Größe und Würde. Damit sind einige zentrale Ordnungsprinzipien für das erotische Material genannt, das Ovid vor seinen Lesern ausbreitet. Die strukturelle Analyse der Eigentümlichkeiten zumal der einzelnen erotischen Episoden ist die zentrale Aufgabe des Hauptteils dieser Abhandlung.122 Ein weiterer Fokus liegt auf den metapoetischen Anspielungen Ovids, weil diese das Selbstverständnis des Dichters erhellen. Denn Ovid hat, wie wir schon am Anfang gesehen haben, innerhalb der Metamorphosen durch die Behandlung zahlreicher an­ derer Künste immer wieder Licht geworfen auf seine eigene poetische Lei­ stung. Ich bin mir bewußt, daß einige meiner Interpretationen gezwungen erscheinen können; aber alle zusammen stützen einander, und es ist nicht leicht, in einem Falle die metapoetische Deutung anzunehmen und sie im anderen abzulehnen. Auch als Versuch einer Gesamtdeutung von Ovids me­ tapoetischer Konzeption mag dieses Buch eine kritische Prüfung verdienen; denn Ovid scheint mir in seinem Hauptwerke eine komplexe Theorie der Dichtung, ihres Verhältnisses zu den anderen Künsten und der Interpretation vorzulegen. Man beachte, daß ich Ovids Dichtung keineswegs auf intertex­ tuelles und metapoetisches Spiel reduziere – Ovid ist ein Dichter der Welt. Aber zu dieser Welt gehört die Kunst, die eigene und diejenige anderer; und wenn Ovid gleichzeitig eine wunderbare Eiche beschreiben und auf das ei­ gene Werk anspielen kann, dann trifft er zwei Fliegen auf einen Schlag. Bei meinen Analysen folge ich der Reihenfolge der Geschichten in den einzelnen Das den Episoden des Sich-Verliebens Gemeinsame, wie etwa die körperlichen Symptome, sind schon so oft behandelt worden, daß ich sie hier ignorieren kann.

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Büchern, denn diese Reihenfolge gilt es ja zu erhellen. Da das erotische Thema in den späteren Büchern nachläßt, sind diese etwas kürzer behan­ delt. Doch gibt dieses Werk einen Überblick über alle wichtigen Erzählun­ gen der Metamorphosen. Die Fragestellung, die mich leitet, erklärt, warum mich intratextuelle Be­ züge mehr interessieren als die zahllosen intertextuellen Bezugnahmen, von denen ich nur die wichtigsten herausgreifen kann und die meist faszinierend sind, aber nicht immer Licht werfen auf den inneren Zusammenhang der ein­ zelnen Episoden, den ich zu begreifen wünsche. Doch habe ich eine gewisse Balance zwischen Gesamtschau und Detailinterpretation angestrebt und da­ mit vielleicht Vorzüge der deutschen und der angelsächsischen Interpreta­ tionskultur verbunden. Was die Sekundärliteratur angeht, so habe ich weniger zitiert, als ich eingesehen habe, um Bibliographie und Fußnotenapparat nicht übermäßig anschwellen zu lassen, aber angesichts ihrer außerordentlichen Fülle und Qualität kann ich nicht ausschließen, etwas für meinen Gedanken­ gang Wesentliches übersehen zu haben. Die Entscheidung, älterer Literatur nicht weniger Raum zu geben als derjenigen der letzten zwei Jahrzehnte, in denen sie außerordentlich gewachsen ist, ist bewußt getroffen worden. Beson­ ders habe ich jene Literatur vernachlässigt, die den Text Ovids nicht auf seine literarischen Qualitäten hin analysiert, sondern ihn als Steinbruch benutzt, um teils frühere Quellen, teils religionsanthropologisch bedeutsame ältere Mythenfassungen zu rekonstruieren.123 Meine Grundthese, das Werk biete eine enzyklopädische Ordnung der Liebesformen, ist neu. Das gilt auch für manche Einzelinterpretationen, doch zahlreiche andere wiederholen unweigerlich Bekanntes, ohne stets auf dieje­ nigen, manchmal zahlreichen Interpreten einzugehen, die Bestimmtes schon gesehen haben. Aber im Rahmen der Gesamtinterpretation erhält auch das Bekannte oft neue Facetten. So mag dieses Buch sowohl Ovidkennern als auch Allgemeingebildeten, die sich einen Gesamtüberblick über eine der großartigsten, weil reichsten und subtilsten Dichtungen der Menschheit ver­ schaffen wollen, von Nutzen sein.

Ein Beispiel für letzteres ist etwa Max Nelson (1999/2000). So lehrreich der Auf­ satz für die Geschichte der Kristallomantie auch ist, Ovids Intentionen und den Text der Narcissusepisode erhellt er kaum.

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4. Ordo amorum: Die Reihenfolge der Liebesgeschichten 4.1 Formen der Metamorphose. Direkte und indirekte Erzählung. Fiktion und Wahrheit Vor der Analyse der Einzelmythen sei kurz etwas Grundsätzliches zu drei Themen bemerkt, die das ganze Buch durchziehen. Strukturelle Probleme dagegen, die zwar mehrfach auftauchen, aber weniger allgemein sind, be­ handle ich dort, wo sie erstmals auftreten. Man hätte sie zwar auch separat einleitend erörtern können, aber die Diskussion wird konkreter, wenn sie an einem Beispiel einsetzt. Das erste der drei Themen betrifft den Grundvor­ gang, die Verwandlung, das zweite die Weise der Präsentation der Mythen teils in direkter, teils in indirekter Erzählung, das dritte den Wahrheitsan­ spruch Ovids. Schon die erste Metamorphose, diejenige Daphnes, macht deutlich, daß das Thema des steten Wandels nicht das einzige, vielleicht nicht einmal das entscheidende Anliegen des Buches ist, wie immer wieder behauptet wird.124 Es geht Ovid vielmehr in den meisten Verwandlungsgeschichten darum, im Wandel die Konstanz hervorzuheben, und nur weil diese in der Verwandlung noch stärker hervortritt, steht letztere im Vordergrund. Das wird in der gro­ ßen Rede des Pythagoras im letzten Buch ausdrücklich gesagt: Auch wenn nichts seine eigene Gestalt behält und steter Wandel alles bestimmt, geht doch im Ganzen nichts verloren (15.252 ff), „summa tamen omnia constant“ („bleibt doch insgesamt alles bestehen“, 15.258). Dauer im Wandel ist das eigentliche Thema des Buches, das ebendeswegen die Todesangst überwin­ den will (15.153 ff.) – in der Zielrichtung nicht anders als Lukrez125, jedoch dank der ganz anderen These der Seelenwanderung, die Lukrez ablehnt.126 Wie Empedokles127 will Ovid den phänomenal gegebenen Wandel mit einer Vgl. etwa Pierpaolo Fornaro (1994), 112: Ovids Botschaft sei „labilità dell’essere nostro nella molteplicità di forme“. Das ist eine grobe Vereinfachung, auch wenn das Verwandlungsthema wichtig bleibt: Ovid hat auch den eigenen Sturz im Sinne des Verwandlungsmotivs gedeutet (Tr. 1.1.119 ff.). 125 Vgl. De rerum natura 3.41 ff., 830 ff. 126 3.776  ff. 127  Die Fragmente der Vorsokratiker, 31 B 8, 11, 12. 124

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parmenideischen Lehre der Bewahrung des Kerns des Seins versöhnen – dies ist anzuerkennen, auch wenn man einräumen muß, daß jede Theorie darüber fehlt, was die Identität einer Seele konstituiert.128 Eine gemeinsame Eigen­ schaft kann dafür ja nicht ausreichen. Doch suggeriert Ovid immer wieder, daß mit der Metamorphose der Wesenskern eines Menschen oder im Falle von Liebespaaren die wesentliche Beziehung zweier Menschen besonders deutlich hervortritt, während alles andere als überflüssig abfällt.129 In diesem Falle bringt die Verwandlung den Menschen gleichsam in seine Wahrheit, sei diese schrecklich, sei diese erhebend.130 Die Metamorphosen vermitteln da­ mit eine komplexe Ontologie: Die Welt ist flüssig, weil aus Gegensätzen zu­ sammengesetzt; die meisten Dinge sind mehr, als sie zu sein scheinen; ein geheimnisvolles Band verknüpft zumal die belebte Natur: Menschen, Vögel und Bäume sind einander verwandter, als der prosaische Blick auf die Wirk­ lichkeit suggeriert. Und doch ist Ovid mindestens ebensosehr Platoniker wie Herakliteeer: Im Wandlungsprozeß schält sich das Wesen der Dinge heraus. Der Dichter ist derjenige, der durch diesen Prozeß hindurch das Wesen einer Sache erfaßt und etwa die Treue zwischen Menschen besingt, die dem durch­ gängigen Wandel abgetrotzt wird.131 Ja, von sich selbst sagt der verbannte Dichter: „Tempus edax igitur praeter nos omnia perdit/ cessat duritia mors quoque victa mea.“ („Daher zerstört die gefräßige Zeit alles außer mir; sogar der Tod ist untätig, da durch meine Zähigkeit besiegt“, EP. 4.10.7 f.) Das Selbst kann trotz allem Wandel beharren; und die Welt ist intelligibel und abgründig zugleich.132 Fragt man sich, welche moderne Philosophie Ovids Intui­ Das bleibt auch dann wahr, wenn man mit Dörrie (1959) den Metamorphosen­ begriff Ovids mit Kategorien der Mittleren Stoa rekonstruiert: Trotz Wandels der Materie bleiben einige Qualitäten konstant. Manchmal behalten sie sogar den glei­ chen Namen, trotz des ganz anderen Kontextes, in dem sie sich nun finden (1.410). 129 Einen ähnlichen Gedanken drückt Odysseus aus, wenn er in dem Plutarch zuge­ schriebenen Dialog Περὶ τοῦ τὰ ἄλογα λόγῳ χρῆσθαι  (Über den Vernunft­ gebrauch der Tiere) 2 (986 E) dem in einem Schwein verwandelten Gryllos unter­ stellt, er sei wegen einer schon vorher bestehenden Wesensverwandtschaft in dieses Wesen transformiert worden. Der brillante Dialog berührt sich mit Ovid auch in der Verteidigung des Vegetarismus (8, 991 C/D). 130 Solodow (1988; 174) spricht von „clarification“. Man versteht, warum Dante, dessen Jenseitsgestalten ein Konzentrat ihres irdischen Daseins sind, trotz ganz anderer theologischer und moralischer Vorstellungen von Ovid so tief beeinflußt sein konnte. Franz Kafkas „Die Verwandlung“ ist dagegen antiovidisch, weil die Metamorphose Gregor Samsas mit dem Zusammenbruch aller seiner sozialen Beziehungen einhergeht. 131 Vgl. Tr. 4.7.19 f., 5.13.19 f. 132 Siehe die feinen Reflexionen bei Andrew Feldherr (2002; 173 f.). Dieser unter­ 128

4.1  Formen der Metamorphose

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tionen am ehesten auf den Begriff bringt, drängt sich diejenige Hegels auf, eines heraklitisierenden Platonikers.133 Statt Gestalten sind es jedoch Begriffe, die Hegel verflüssigt und geordnet auseinander hervorgehen läßt. Das Bewahren eines gemeinsamen Kerns gilt allerdings nicht für alle Verwandlungsgeschichten. Nach Robert Porods sehr nützlicher Typologie (2000) gilt das Bewahren einer in der Vorgeschichte hervorgehobenen Ei­ genschaft zwar „in der überwiegenden Mehrheit der Fälle“ (121), daneben gebe es aber auch Einzelfälle, in denen überhaupt keine Beziehung vorliegt (er nennt Hippomenes und Atalanta 10.681 ff.),134 der durch die Verwandlung erreichte Zustand unstabil ist, so daß z. B. eine Rückverwandlung wie bei Io (1.738 ff.) oder eine weitere Verwandlung wie bei Callisto (2.505 ff.) erfolgt, die bewahrte Eigenschaft gerade nicht charakteristisch ist (man denke an ­Hyacinthus 10.209 ff.), der letzte Moment des Lebens das konstante Element ist (­Cygnus 2.377 ist ein gutes Beispiel) bzw. eine wesentliche Eigenschaft in ihr Gegenteil verkehrt wird. Porod nennt ihn zwar nicht, aber Actaeon, der aus einem Jäger zu einem Gejagten wird (3.138 ff.), exemplifiziert diesen Fall perfekt.135 Ferner hebt Porod hervor, wie manchmal nicht so sehr das Resultat als vielmehr der Vollzug der Verwandlung die Wesenseigenschaft am klarsten hervortreten läßt, etwa im Fall der lykischen Bauern (vgl. 6.361 ff. und 370 ff.).136

streicht, daß Ovid eine Sphäre poetisch erschlossen habe, vor der Vergil zurückge­ schreckt sei: „The bleeding bush that manifests the presence of Polydorus … at the beginning of book 3, and the howling of the bestialized inhabitants of Circe’s realm (Aen. 7.10–24) signpost regions where neither Aeneas’ mission nor Virgil’s narrative should go.“ (168) 133 Dieser synthetischen Ontologie entspricht die synthetische Poetologie, die Ovid, wie anfangs gezeigt, in Auseinandersetzung mit Minerva und Arachne als die ei­ gene suggeriert. 134 Dies scheint mir allerdings eine Übertreibung, da zumindest die Tiermetamorpho­ se sich aus dem Verhalten der beiden ergibt; siehe unten (S. 190). Die Löwennatur freilich hat nur mit Cybele selber zu tun. 135 Ferner richten sich einige Verwandlungen nach den Namen der Gestalten – Cygnus etwa wird ein Schwan, „dessen Namen er schon trug“ („cuius modo nomen habe­ bat“, 12.145). Zu dieser (und mancher anderen) etymologisch begründeten Ver­ wandlung (obgleich selbstredend der Name im Mythos erst nach der angenomme­ nen Verwandlung geschaffen wurde) siehe Andreas Michalopoulos (2001), 64 f. 136 Den Rahmen dieser Untersuchung würde eine Analyse der außerordentlich diffe­ renzierten Typologie der Verwandlungen bei Ovid in der den russischen Formalis­ mus weiterführenden umfassenden Studie Yuri Schtscheglows (2002) sprengen.

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Verwandlungen sind meist total, können aber auch partiell sein, wie im Falle der Ohren des Midas (11.174 ff.), und sie können nach unten bzw. nach oben stattfinden.137 Damit ist gemeint, daß sie entweder zu einer höheren oder zu einer niedrigeren Daseinsform führen. Der Begriff „höher“ oder „niedriger“ bezieht sich auf die „scala naturae“, wie sie der ganzen Antike selbstverständ­ lich war und die in folgende Stufen gegliedert ist: anorganische Sphäre (Mine­ ralien, aber gelegentlich auch Artefakte), Pflanzen, Tiere, Menschen, Gestirne, Götter. Nach unten verwandeln sich Menschen etwa in Steine, Bäume oder Vö­ gel, nach oben in Gestirne oder, im ausgezeichneten, religionsgeschichtlich be­ deutsamen Sonderfall der Apotheose, in Götter. Nach oben verwandeln sich sowohl Lebewesen (etwa Ameisen in Myrmidonen: 7.622 ff.) als auch Unbeleb­ tes: Pygmalions Statue wird zu einer Frau (10.243 ff.), die Schiffe des Aeneas zu Meeresnymphen (14.527 ff.). Selten ist die Umgestaltung von Anorganischem in Anorganisches, wie der Hütte Philemons und Baucis’ in einen Tempel (8.698 ff.), die der entscheidenden Metamorphose des Paares vorausgeht. Wichtig ist noch die Differenzierung nach dem Zweck der Metamorphose. Diese ist ja nicht ein­ fach ein Naturereignis, sondern dient in der Regel der Bestrafung, der Beloh­ nung oder der Rettung einer Person. Eine Metamorphose nach oben ist stets eine Belohnung, zumindest eine Kompensation für erlittenes Leiden (etwa die Rückverwandlung Ios). Allerdings kann man bei der Metamorphose nach oben unbelebter Wesen, Pflanzen oder Tiere nicht davon ausgehen, daß sie es sind, die belohnt werden. Vielmehr geht es um die örtlich mit ihnen Verbundenen, wie die Aegineten und Aeacus, denen die Myrmidonen die Verstorbenen erset­ zen, bzw. um die Eigentümer, wie die Trojaner, denen die Nymphen später hel­ fen sollen, die durch den Eingriff Cybeles, auf deren Berg die Bäume geschla­ gen worden waren, aus denen die Schiffe gezimmert wurden, aus den Schiffen entstehen. Die Metamorphose nach unten dagegen dient oft der Bestrafung,138 kann aber auch eine Rettung sein, etwa vor Vergewaltigung; und sie kann eine Bewahrung des eigenen Wesens in einer dauerhafteren, weniger riskanten Exi­ stenzform bedeuten.139 Dem liegt die Idee zugrunde, daß ein Leben als Vogel, aber auch als Baum einem solchen etwa als Raubtier vorzuziehen ist:140 eine Siehe den nützlichen Überblick bei Friedmann Harzer (2002), 7 f., der allerdings die Differenzierung nach Zwecken, also zwischen rettender und strafender Meta­ morphose, nicht macht. 138 11.233 wird die Verwandlung als Mittelglied zwischen Tod und Verbannung be­ zeichnet (s. auch 11.486 f.). 139 Daher bedauert der verbannte Dichter, daß ihm eine Verwandlung selbst nach Art Niobes oder der Heliaden versagt ist und er weiter leiden muß (EP. 1.2.29 ff.). 140 Dem Raubtier gleichgestellt ist die diebische Dohle, in die die aus Habgier ihr Vaterland verratende Arne verwandelt wird (7.465 ff.). 137

4.1  Direkte und indirekte Erzählung

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material bedingte Abweichung von der formalen Struktur der scala naturae. Denn innere Ruhe ist besser als Aggressivität. Was das auffallendste formale Merkmal der Metamorphosen betrifft, so be­ steht es darin, daß etwa ein Drittel des Werkes indirekt erzählt wird, und zwar von etwa vierzig verschiedenen Erzählern.141 Manchmal besteht mehrfache Schachtelung, wie etwa in Platons Συμπόσιον (Gastmahl), das Ovid in in­ haltlicher wie in formaler Hinsicht inspiriert. Die Binnenerzählungen haben, soweit ich sehe, mindestens sechs verschiedene Funktionen. Die erste, recht triviale ist die der Abwechslung. Darunter kann man auch die Abwechslung beim Übergang von einer Geschichte zu einer anderen subsumieren; Ovid bedarf zudem keines äußeren Anknüpfungspunktes mehr, und er hat eine psychologisch plausible Erklärung dafür, warum verwandte Geschichten auf­ einander folgen. Zweitens haben wir im Zusammenhang mit Schmidts Er­ wähnung der Geschichte von den lykischen Bauern schon bemerkt, daß die Ordnung des Erzählens ganz bewußt im Sinne des Dichters von der voraus­ gesetzten chronologischen Ordnung abweichen kann. Wichtiger ist drittens, daß der Vorgang des Erzählens, der sonst nur performativ vorgeführt, aber nicht thematisiert wird, nun selbst dichterisch reflektiert werden kann. Das geschieht schon in der Odyssee mit Odysseus’ Aufenthalt bei den Phaiaken und in der Aeneis mit Aeneas’ Aufenthalt bei Dido. Insbesondere können die Motive des Erzählers, vorgeschützte und wirkliche, bewußte und unbewußte, sowie die Reaktionen der Zuhörer dargestellt werden, die den Absichten des Erzählers entsprechen können, aber keineswegs müssen – bei Ovid tun sie es selten. Immerhin erreicht Mercurius innerhalb der Io-Geschichte sein Ziel: Argus schläft ein, und Ovid muß, da Mercurius an diesem Punkte sinniger­ weise seine Erzählung abbricht, ihr Ende selber nachtragen (1.700 ff.). Folgen mehrere Erzähler aufeinander, kann die Art der Geschichten, die sie aussu­ chen, sie persönlich charakterisieren. Viertens kann eine Distanzierung vom Binnen-Erzähler und damit eine Unterminierung der Glaubwürdigkeit der von ihm erzählten Geschichte erfolgen – auch wenn die Metamorphosen als „perpetuum … carmen“ m. E. eine inkonsistente Polyphonie von Stimmen vermeiden.142 Achelous etwa zögert, von seiner Niederlage zu berichten, aber Diese sind aufgelistet bei Stephen M. Wheeler (1999), 207–210. Einige der Erzäh­ ler sind homodiegetisch, berichten also über Ereignisse, an denen sie teilgenom­ men haben (so etwa Jupiter 1.182 ff.), andere sind heterodiegetisch. Zum Umfang dieser Erzählungen siehe Wheeler (1999), 49 und 162 f., wo darauf hingewiesen wird, daß der Anteil der indirekten Erzählungen mit dem Fortgang des Buches zunimmt (von ca. 30% in den ersten drei zu ca. 66% in den letzten drei Büchern). 142 So zu Recht Solodow (1988), 38 ff. 141

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4.  Ordo amorum: Die Reihenfolge der Liebesgeschichten

er tut es dann doch (9.4 f.); und die Lügen der Pieriden (5.318 ff.) werden als solche entlarvt, u. a. weil sie im Widerspruch zu Ovids eigener Stimme (1.151 ff.) stehen. Fünftens mag eine witzige Spannung zwischen den ver­ schiedenen Niveaus des Erzählens bestehen. Alessandro Barchiesi verweist (2002; 187) auf die Stelle, an der Venus Adonis von Hippomenes und Atalan­ ta erzählt, und zwar innerhalb von Orpheus’ Rede, die von Ovid berichtet wird. Hippomenes habe Atalantas Körper „quale meum, vel quale tuum, si femina fias“ („ein Leib wie der meine oder wie der deine, wenn du zur Frau würdest“, 10.579) gesehen und sich in sie verliebt. Die Einführung der kontra­ faktischen Geschlechtsumwandlung Adonis’ im Munde Venus’ ist eigenwil­ lig, aber sie gibt durchaus Sinn im Munde des Orpheus, der die gleich­ geschlechtliche Liebe befürwortet. Venus spricht als heterosexuelle Frau zu einem heterosexuell Liebenden, Orpheus als homosexueller Mann zu Pflan­ zen und Tieren, und Ovid als heterosexueller Mann primär zu heterosexuell, aber letztlich zu allen Liebenden. Sechstens kann das im Werk berichtete Schicksal der Erzählung reflexiv gelesen werden, also Licht werfen auf das, was der Dichter gerade selber tut. Ich komme darauf bei der Besprechung der Io-Geschichte zurück (siehe unten S. 69 f.). Was ist schließlich der Wahrheitsanspruch Ovids? Wie schon gesagt, glaubt Ovid nicht an die wörtliche Wahrheit der Mythen; sie sind, wie er in der groß­ artigen, viele Themen des Hauptwerks vorwegnehmenden Elegie Am. 3.12.23 schreibt, Erfindungen der Dichter: „Nos pedibus pinnas dedimus, nos crini­ mus angues.“ („Wir sind es, die den Füßen Flügeln, den Haaren Schlangen gegeben haben“; ähnlich EP. 4.8.55 f. sowie Tibull 1.4.63 f.) Historischer Wahrheitsanspruch, lesen wir einige Verse später (41 f.), bindet die dichteri­ sche Phantasie nicht. Ob der von Althaea ins Feuer geschleuderte Holzscheit wirklich gestöhnt hat oder dies nur so erschien („aut dedit aut visus gemitus est ille ­dedisse“), läßt der Erzähler der Metamorphosen bewußt offen (8.513; analog 9.688). Zur Entstehung von Menschen aus den von Deukalion und Pyrrha geworfenen Steinen stellt er in einer Parenthese die rhetorische Fra­ ge143 „(quis hoc credat, nisi sit pro teste vetustas?)“ („(wer glaubt’ es, wofern nicht zeugte das Alter?)“, 1.400), und das Erwachsen von Menschen aus der Drachensaat wird „fide maius“ genannt („mehr als man zu glauben vermag“, 3.106; ähnlich 4.394 und F. 2.113). Das Einnähen Bacchus’ in den väterlichen Schenkel wird berichtet mit der Einschränkung „si credere dignum est“ („wenn dies Glauben verdient“, 3.311). Sicher werden Bacchus’ Wundertaten Von Albrecht (1964), 61 f. weist darauf hin, daß mit der einzigen Ausnahme von 15.503 (und vielleicht 15.138) alle parenthetischen Fragesätze der Metamorphosen rhetorische Fragen darstellen.

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4.1  Fiktion und Wahrheit

57

mit den Worten erzählt „tam me tibi vera referre/ quam veri maiora fide“ („daß ich so gewiß dir Wahres verkünde,/ wie unglaublich es scheint“, 3.659 f.), aber es ist Bacchus selber, der dies in der Gestalt des Acoetes sagt, und das ist eine der Stellen, an denen wir die Stimme des intradiegetischen Erzählers von der­ jenigen des Autors des ganzen Werkes unterscheiden dürfen und müssen. Selbstbeglaubigungen eines fiktiven Charakters, wie z. B. auch 9.55 f. dieje­ nige des Achelous, ändern nichts an der Fiktionalität des Rahmens. Doch auch intradie­getische Erzähler äußern Zweifel an der Wahrheit der Mythen, seien es die Minyaden (4.272 f.), seien es Achelous’ Gäste (8.614 ff.). Sogar Aeacus hat angesichts der Pest in Aegina Zweifel an der Vaterschaft Jupiters ihm gegenüber (7.615 f.) Das bedeutet viel mehr, als wenn die liebestolle Scylla diejenige Jupiters Minos gegenüber bestreitet, der sie zurückgewiesen hat (8.122 ff.) – das wirft Licht nur auf sie, nicht auf Minos. Besonders skeptisch sind die zwei Konditionalsätze „si non omnia vates/ ficta reliquerunt“ („wofern nicht alles erfunden/ Was uns Dichter gesagt“, 13.733f.) und „(nisi vatibus omnis/ eri­pienda fides)“ („(wenn Glaube den Dichtern/ Nicht durchaus zu ent­ ziehn)“, 15.282 f.). Denn sie besagen, daß im besten der Fälle nicht alle Aussa­ gen der Dichter falsch sind. Pythagoras wendet sich ausdrücklich gegen den Irrglauben an „den Stoff der Dichter“ („materiem vatum“, 15.155) und führt einen konkreten Aberglauben an, den er selbst nicht teilt (15.359). Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß Ovid sich von dieser philosophischen My­ then- und Dichterkritik distanzieren wollte.144 Und doch finden sich auch gegenläufige Stellen. Bei der Iphisgeschichte heißt es in klarer Absetzung von den zu Anfang des letzten Absatzes zitierten Stellen: „Visa dea est movisse suas (et moverat) aras“ („Da schien ihren Altar zu bewegen die Göttin – und wirklich/ War’s auch so“, 9.782). Ob der Leich­ nam des ertrunkenen Ceyx vor seiner Verwandlung in einen Eisvogel die Küsse seiner schon zum Vogel gewordenen Gattin gespürt habe oder ob sein Gesicht nur von den Wellen gehoben worden sei, „war unkenntlich der Menge; doch Ceyx/ Hatt’es gefühlt“ („populus dubitabat; at ille/ senserat“, 11.741 f.). Gegen das Zweifeln der Menge, auf die es nicht ankommt, stellt sich der Dichter auf die Seite des Liebenden.145 Auch in der bezeichnenderweise im zentralen achten Buch angesiedelten Diskussion in der Achelous-Grotte über die Fähigkeit der Götter, Verwandlungen zu bewirken,146 stellt sich dem Man kontrastiere damit Vergils vorsichtigere Absetzungen von der Wahrheit des Mythos Aen. 3.551, 8.140 und 6.173, an letzterer Stelle zur Tötung des Misenus durch Triton, den jener, wie bei Ovid etwa Marsyas Apollo, zu einem Kunstwett­ bewerb herausgefordert hatte. Man denke auch an Aeneas’ Verlassen der Unterwelt durch das elfenbeinerne Tor, durch das die falschen Träume kommen (6.893 ff.). 145 Ähnlich F. 6.612 (und 632). 146 Wegen der Doppelfassungen ist es nicht leicht, die genaue Mitte des Gesamtwer­ 144

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4.  Ordo amorum: Die Reihenfolge der Liebesgeschichten

Skeptiker Pirithous Lelex entgegen, der die Geschichte von Philemon und Baucis erzählt, die er von glaubwürdigen Greisen gehört habe, die kein Motiv zur Lüge gehabt hätten.147 Zudem habe er selber die Bäume, in die sich das Paar verwandelt habe, gesehen (8.721 ff.). Es versteht sich, daß dies in Ovids Augen keinen Beweis darstellt; denn alte Bäume und leichtgläubige Alte gibt es gar viele. Und doch deutet die allgemeine Rührung, insbesondere von The­ seus (8.725 f.), darauf hin, daß Ovid – nicht anders als Platon im Φαῖδρος (Phaidros) (229c ff.) – die rationalistische Kritik am Mythos für seichter hält als den naiven Glauben an ihn. Es ist zwar richtig, aber doch nicht ausrei­ chend, wenn Feeney die Wahrheit der Position des Lelex darin bestehen läßt, man müsse die Macht der Götter durch diejenige der Dichter ersetzen: „What Lelex and Pirithous are talking about through their discussion of the power of the gods is the power of poets.“ (1991; 231) Denn der Inhalt der Dichtung darf nicht vergessen werden. Die Treue von Ceyx und Alcyone bzw. von Philemon und Baucis hat für Ovid Leuchtkraft, und der Glaube, daß Liebe den Tod überdauern mag, ist nicht etwas, das er als erledigt betrachtet. Die Mythen lehren erstens moralische Wahrheiten: Ein einfaches, dem Ehepartner gegen­ über treues, hilfsbedürftigen Fremden gegenüber gastliches Leben ist etwas Großartiges, in dem sich das Göttliche manifestiert. An den in seinen Dichtun­ gen vermittelten moralischen Idealen soll der Dichter auch als Person gemes­ sen werden, heißt es ausdrücklich EP. 4.10.73 ff., selbst wenn die Helden der Vorzeit in einigen ihrer Taten unerreichbar sind. „Est tamen ex illo nobis imitabile quiddam,/ inque fide Theseus quilibet esse potest.“ („Und doch gibt es von jenem etwas, das für uns nachahmbar ist, und in der Treue kann jeder ein Theseus sein“, 77 f.) In diesem Sinne bittet Ovid den Leser, ihm nicht die Geschichte von Myr­ rhas Inzest mit ihrem Vater zu glauben. Gewiß ist die Passage, ein frühes Exempel ironischer negativer Werbung gegen sich selbst, eine der witzigsten in den Metamorphosen; denn es bedarf keiner besonderen Vertrautheit mit der menschlichen Natur, um zu wissen, daß Verbotenes besonders anziehend ist (Ovid wußte es; siehe Am. 3.4.9, M. 15.138). „Procul hinc natae, procul este parentes“ („Von hinnen, ihr Töchter, von hinnen, ihr Väter“, 10.300) muß kes festzusetzen, aber sie dürfte in etwa dort gefallen sein, wo Pirithous seine Zweifel äußert (8.614 f.). Das schwierige textkritische Problem der Doppelfassun­ gen mancher Stellen bleibt „ungelöst“ (so von Albrecht (2012), I 682). 147 In erster Person verwendet auch Proteus dieses Argument – daß er kein Motiv zur Lüge habe –, um die eigene Glaubwürdigkeit zu erhöhen (13.935). Das Alter einer Tradition gelte, so wird F. 4.203 f. gesagt, als Argument für deren Wahrheit; doch Ovid spricht in dritter Person Passiv („creditur“) und scheint sich nur der prakti­ schen Maxime anzuschließen, derartige Traditionen nicht in Frage zu stellen.

4.1  Fiktion und Wahrheit

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auch diejenigen neugierig gemacht haben, die nicht sofort die Parodie der Worte der Sibylle Aen. 6.258 erkannt haben und in Lachen ausgebrochen sind.148 Nicht minder ironisch ist die Behauptung, derartige Vorgänge hätten sich, wenn überhaupt, nur fern von „diesem Land“ ereignen können, dem des­ wegen gratuliert wird (304 ff.). Da Orpheus spricht, bezieht sich das auf Thra­ kien (wo, wenn man an Tereus denkt, in der Tat eher die Vergewaltigung von Töchtern durch Väter zu erwarten wäre149 als deren Verführung durch in­ cognito auftretende Töchter); aber der Dichter spielt sicher damit, daß der schnelle Leser „huic terrae“ auf das Land Ovids bezieht. Und natürlich wuß­ te Ovid, daß auch in Italien Inzeste vorkommen.150 Und deswegen erzählt er von Myrrha. Denn wenn auch ihre Liebe moralisch derjenigen Philemons und Baucis’ entgegengesetzt ist, wirft dieser Mythos Licht auf den Menschen; er bietet ein Paradigma menschlicher Verirrung. Das ist die zweite Lehre, die der Mythos für die Menschen bereithält und deretwegen er weitergegeben und dichterisch weitergedacht und neu gedeutet werden muß. Das in den Mythen Erzählte, so wird Ovid mit den Worten des spätantiken Neuplatonikers Salu­ stios gedacht haben, geschah niemals, aber es ist immer.151 Er habe früher Kallimachos’ Mythen für falsch gehalten; „omnia nunc credo“ („nun glaube ich alles“), heißt es bezeichenderweise in den Tristia (5.5.39).

Nicht parodistisch ist die Nachahmung F. 2.623. Zur Bestrafung solcher Väter in der Unterwelt siehe Aen. 6.623. 150 Man denke nur an das verbreitete Gerücht von einer sexuellen Beziehung zwi­ schen Publius Clodius Pulcher und seiner Schwester (Catull, Carmina 79; Cicero, De haruspicum responso (Über das Gutachten der Opferschauer) 42 und 59 so­ wie Pro Sestio (Für Sestius) 16). Von einer Verurteilung zum Sturz vom Tarpeji­ schen Felsen wegen eines Inzestes zwischen Vater und Tochter, die unter Tiberius erfolgte, berichtet Tacitus, Annales (Annalen) 6.19. Allerdings war die Anklage gegen den in Rom lebenden, sehr vermögenden Spanier Sextus Marius wahr­ scheinlich haltlos und diente primär dem Zweck, Tiberius zu bereichern. 151 Vgl. Kap. 4 seiner ohne Titel überlieferten Schrift (S.8, Z. 14 f. in der Ausgabe von Arthur Darby Nock). 148 149

60 4.2

4.  Ordo amorum: Die Reihenfolge der Liebesgeschichten

Metamorphosen, Buch 1. Vom Chaos zum Kosmos. Sprachmalerei. Urelternpaar ohne sexuelle Fortpflanzung: Deucalion und Pyrrha. Asymmetrische männliche Begierde: Apollo, Jupiter, Pan. Das Problem der Ambiguität

Das Liebesmotiv schwellt erst in der Mitte des ersten Buches der Metamorphosen mit der Geschichte von Apollo und Daphne an. Allerdings ist das Einsetzen des Werkes mit der Entstehung des Kosmos aus dem Chaos nicht ohne Zusammenhang mit dem Hauptthema des Buches; denn das Chaos ist bestimmt u. a. als „congestaque eodem/ non bene iunctarum discordia semina rerum“ („zwistige Keime,/ trübe zusammengehäuft zu schlecht verbundenen Stoffen“, 1.8 f.). Zwietracht und schlechte Verbindung – das ist das Wesen unglücklicher Liebe, und insofern die Bändigung des Chaos durch die Schöpfung wohlbestimmter Gestalten sehr früh einsetzt, weckt das die Hoff­ nung, die wesentlich komplexere Aufgabe des Paarens von Menschen unter­ schiedlichen Geschlechts möge ebenfalls gelingen. Dieser Eindruck wird verstärkt, wenn nach der großen Flut die generatio aequivoca von Lebewe­ sen aus der Erde zwar noch nicht dem polaren Gegensatz der Geschlechter, aber doch demjenigen von Hitze und Feuchtigkeit, von Feuer und Wasser zugeschrieben wird und von „discors concordia“ („zwieträchtige Eintracht“, 433) die Rede ist.152 Ja, die Überwindung der Unordnung wird im Werk nicht nur erzählt, sie wird auch vorgemacht. Inwiefern? Nun, in dem oben zitierten Vers sind die zusammengehörigen Worte „iunctarum … rerum“ durch „discordia semina“ auseinandergerissen. Zwar kommen derartige Trennungen aus metrischen Gründen in der Dichtung einiger flektierender Sprachen (nicht des Deutschen) immer wieder vor; aber es kann kein Zufall sein, daß wir V. 25 lesen: „disso­ ciata locis concordi pace ligavit“ („schloß er gesondert im Raum sie zusam­ men zu friedlicher Eintracht“), wo mit „concors“ nicht nur das Antonym zu „discors“ auftritt, sondern eben auch die zusammengehörigen Wörter „concor­ di pace“ nicht auseinandergerissen werden. Eine weitere Trennung von Sub­ stantiv und Attribut kommt zudem in V. 21 vor, in dem es ebenfalls um Tren­ nung geht: „Hanc deus et melior litem natura diremit.“(„Aber dem Zwist gab Schlichtung ein Gott und die bessere Triebkraft.“) Das ist höchst kunstvolle Sprachmalerei, um einen von Paul Thieme (1972) primär zum Verständnis vedischer Dichtung geprägten, aber poetologisch allgemein höchst fruchtba­ ren Terminus zu benutzen – Eigenschaften des sprachlichen Gebildes, in die­ sem Fall die Trennung bzw. Verbindung von Wörtern, spiegeln Eigenschaften Vgl. F. 4.787 ff.

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4.2  Metamorphosen, Buch 1

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des Referenten dieses Gebildes.153 Eine großartige Systematisierung von Ovids Formen der Sprachmalerei durch mimetische Syntax verdanken wir Donald Lateiner (1990); hier genügt es deutlich zu machen, daß Ovid auch die Dich­ tung unter das Gesetz „Vom Chaos zum Kosmos“ subsumiert, ja, mehr noch, daß er dieses Gesetz, das er für eine ferne Vergangenheit beschreibt, in dieser Beschreibung selbst instantiiert. Der Dichter wiederholt gleichsam die Schöp­ fung in der Welt seines Kunstwerks. Dadurch verleiht er seiner Erzählung Glaubwürdigkeit; denn wir erleben direkt mit, was damals geschah. Sowenig Ovid an die konkreten Göttergestalten glaubt, von der Kosmos­ natur der Welt ist er überzeugt und wohl auch davon, daß sie ein Resultat ei­ nes geistigen Aktes ist. Großartig wird die philosophische Aufhebung, aber eben nicht Beseitigung des tradierten Glaubens in den Worten „quisquis fuit ille deorum“ („welcher der Götter es auch immer war“, 32) ausgesprochen; später ist vom „mundi fabricator“ („dem Weltenbauer“, 57) und „opifex rer­ um“ („Schöpfer der Dinge“, 79) die Rede.154 Erst nach der Schöpfung des Men­ schen, dessen aufrechter Gang und Fähigkeit zur Betrachtung seine Sonder­ stellung innerhalb der Natur begründen (82 ff.), und zwar im Zusammenhang der Lehre von den vier Zeitaltern, fällt der Name Jupiters, der zur Kennzeich­ nung der Eiche, von deren Früchten, neben anderen, sich die Menschen des goldenen Zeitalters nährten, erstmals genannt wird (106). Jupiter stürzt Satur­ nus (113 ff.), unter dem die Menschen ohne Gesetze, Richter, Kriege, Schif�­ fahrt und Arbeit in ewigem Frühling lebten. Deutlicher konnte Ovid kaum den Abstand zwischen dem Gott der Philosophen und dem Volksgott andeu­ ten – auch wenn allein der letztere, trotz oder gerade wegen der Widersprüche in den ihm gewidmeten Mythen, poetischer Gegenstand sein kann. Von der wissenschaftlich-philosophischen Kosmogonie wendet sich Ovid daher ab, um erst im letzten Buch zu ihr zurückzukehren, und dem Mythos zu. (Daß ein nicht anthropomorpher Gott Gift für die Poesie ist, beweist John Miltons Paradise Lost zur Genüge.) Die Integration der aus Hesiods Ἔργα καὶ ἡμέραι 109–201 übernomme­ nen Lehre der vier bzw. fünf Weltalter bietet ein Verfallsmodell der Geschich­ te. Aber es ist entscheidend, den Unterschied zum griechischen Dichter her­ vorzuheben. Hesiod glaubt, im vierten Zeitalter zu leben – nach Ovid hat mit der großen Flut ein Neuanfang eingesetzt, und an dessen Weiterentwicklung ist er interessiert. Die Geschichte, die er schildert, ist die eines kulturellen Fortschritts; doch auch die moralischen Gefahren nehmen zu, und insofern Man mag die Lautmalerei als Sonderfall darunter subsumieren – etwa M. 6.376, wo die Laute der Dichtung das Quaken der Frösche nachahmen, das sie beschreiben. 154 In den Fasti erklärt der erste Gott, Janus, er sei mit dem Chaos ursprünglich iden­ tisch gewesen, dem er sich erst allmählich entwunden habe (1.103 ff.) 153

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4.  Ordo amorum: Die Reihenfolge der Liebesgeschichten

sind Echos des Hesiodeischen Geschichtsmodells nicht ausgeschlossen. Doch zunächst geht es um den der Darstellung Hesiods entsprechenden Verfall vor der Flut. Der moralische Niedergang der Menschen im vierten Zeitalter155 wird verstärkt durch die Entstehung neuer Menschen aus dem Blut der nach ihrem Aufstand gegen die olympischen Götter erschlagenen Giganten (156 ff.). Lycaon versucht den als Gast zu ihm gekommenen Jupiter, der zwar Men­ schengestalt angenommen hat, aber seine Göttlichkeit nicht wirklich verbirgt, die Lycaon jedoch bezweifelt, zu ermorden und setzt ihm Menschenfleisch als Speise vor, bevor sein Haus durch einen Blitz vertilgt und er selbst in einen Wolf verwandelt wird, das seinem Wesen am meisten entsprechende Tier (232 ff.). Dies, von Jupiter selber berichtet, führt zu seinem vom Götterrat gebilligten Entschluß, die Menschheit mit einer großen Flut zu vernichten. József Krupp hat (2009; 59 ff.) zu Recht darauf verwiesen, die Argumente für diese summarische Exekution seien nicht gut. So gab es etwa erstens sogar an Lycaons Hof einzelne Gottesfürchtige (220 f.), und zweitens stimmt es nicht, wenn Jupiter schwört, er habe vorher alles versucht (190) – der Leser wenig­ stens kann diese Versuche nicht nachvollziehen. Intratextuell spricht für die Kritik an Jupiter auch die Tatsache, daß die Flut des achten Buches nur eine Gemeinde betrifft, in der alle, außer dem geretteten Paar, schuldig geworden sind (8.628 f.). Die göttliche Gerechtigkeit, so wird gezeigt, wird im Laufe des Werkes milder und geht weniger summarisch vor. Anders als Horaz, dessen Schilderung der großen Flut er nachahmt und ausführt (Met. 1.296 greift Carmina 1.2.9 auf), teilt Ovid daher nicht die Angst, die schwere Zeit Pyrrhas könne wiederkehren (1.2.5 f.). Aber das heißt keineswegs, Ovid habe die Strafwürdigkeit Lycaons bestritten und der ursprünglichen Menschheit nicht eine besondere Roheit zuschreiben wollen. Ihrer Roheit entspricht die Bruta­ lität der Strafe. Aus der Flut, die fast zum ursprünglichen Chaos zurückführt und dabei auch die Räuber-Beute-Beziehungen unter den Tieren auflöst, wird nur das greise, gottesfürchtige Ehepaar Deucalion und Pyrrha gerettet. Frömmigkeit und Menschenliebe machen sie zum Gegenpol von Lycaon, doch geht ihnen noch die Gastfreundschaft ab, die das zweite greise Paar auszeichnen wird, das eine Flut überlebt (siehe unten S. 158 f.). Deucalion und Pyrrha sind das erste Paar der Metamorphosen und doch wiederum auch nicht. Einerseits Daß Hesiod einen alten Mythos übernommen hat, in den Erinnerungen an den geschichtlichen Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit eingeschmolzen wurden und der in Buch VIII und IX der Politeia philosophisch umgedeutet wird, ist be­ kannt. West (2007; 23) lehnt trotz der Ähnlichkeiten mit der indischen Yuga-Leh­ re einen gemeinsamen indoeuropäischen Ursprung ab und vertritt einen beidersei­ tigen Import aus dem Nahen Osten.

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4.2  Metamorphosen, Buch 1

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hebt Ovid auch sprachlich die Harmonie zwischen beiden hervor und drückt in großartiger Weise die zentralen Kategorien erotischer Liebe aus: Exklusi­ vität und Dualität. Jupiter sieht, wie der Erdkreis versumpft „und daß übrig blieb von all den Tausenden Einer/ und daß übrig blieb von all den Tausenden Eine,/Beid‘ unsträflichen Sinns und beide Verehrer der Gottheit“ („et super­ esse virum de tot modo milibus unum/ et superesse videt de tot modo milibus unam,/ innocuos ambo, cultores numinis ambo“, 1.325 ff.). Auffallend ist dreierlei: erstens der genaue Parallelismus zwischen den beiden ersten Versen, zweitens die Benutzung von „unum“ bzw. „unam“, die einerseits die Aus­ schließlichkeit angesichts der Vernichtung aller anderer Menschen meint, an­ dererseits mit dem Wechsel des Genus auf die Komplementarität der Ge­ schlechter weist, ja, eine Komplementarität der beiden füreinander suggeriert, drittens die doppelte Verwendung von „ambo“, womit die anfangs isoliert be­ trachteten Alten eine gemeinsame Struktur bilden. (Die Verdoppelung von „ambo“ ist ebenfalls eine Form von Sprachmalerei.) Da die beiden fromm sind, freuen sie sich nicht über ihre durch niemanden gestörte Zweisamkeit – die erotische Traumsituation (vgl. Pseudo-Tibull 3.19.9 f.), die in der Ilias (16.98 ff.) von Achilles als Wunsch ausgesprochen wird, keiner der Trojaner und keiner der Griechen möge dem Tod entfliehen und nur er und Patroklos dem Tode entrinnen, damit sie alleine die heiligen Mauerzinnen Trojas einnähmen: μήτέ τις οὖν Τρώων θάνατον φύγοι ὅσσοι ἔασι, μήτέ τις Ἀργείων, νῶϊν δ᾽ ἐκδῦμεν ὄλεθρον, ὄφρ᾽ οἶοι Τροίης ἱερὰ κρήδεμνα λύωμεν. Nicht nur wäre Deucalion Pyrrha nachgesprungen und mir ihr gestorben, wenn das Meer sie erfaßt hätte, wie es 361 f. mit erneutem Parallelismus der letzten vier Wörter der beiden Verse heißt: „namque ego, crede mihi, si te quoque pontus haberet,/ Te sequerer, coniunx, et me quoque pontus haberet“ („Ich – das glaube gewiß –, wenn dich auch deckte die Meerflut,/ Folgte dir nach, o Weib, und mich auch deckte die Meeflut“). Die beiden wollen nicht alleine bleiben – „nos duo turba sumus“ („wir beide sind das Volk“) –, son­ dern fühlen sich dafür verantwortlich, die Erde wieder mit Menschen zu be­ völkern. Aber wie, da sie zu alt sind, um sich fortzupflanzen, und keine Kinder erwähnt werden?156 Ebendies ist der Grund, warum das Paar bei aller Fürsor­ ge füreinander nicht ein volles Paar bildet: Die sexuelle Bindung und erst recht die Reproduktion gehen ihnen nach der Flut ab. Ja, auch wenn früher sie ein gemeinsames Lager verbunden hat, wie es nun die Gefahr tut (353), redet Deukalion seine Frau erst mit „soror“ („Schwester“, hier: „Cousine“) und dann mit „coniunx“ („Gemahlin“) an. Er und sie sind Kinder der Brüder Pro­ Das ist keineswegs in allen Varianten des Mythos so. Bei Konon (27) hat Deuka­ lion Kinder, die ihn überleben.

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4.  Ordo amorum: Die Reihenfolge der Liebesgeschichten

metheus und Epimetheus – der Ehebund setzte nur das alte familiäre Band fort, es gab offenbar nicht jene Anziehung von Konträrem, die erotischer At­ traktion ihre besondere Spannung, aber eben auch das Konfikt- und Leidens­ potential gibt, das die Metamorphosen entfalten. Themis’ im Tempel auf die Frage der Alten gegebene Antwort, wie der Verlust zu ersetzen sei, lautet, die Gebeine der großen Erzeugerin rückwärts zu werfen. Pyrrha ist entsetzt an­ gesichts dieses scheinbar pietätlosen Gebotes, aber der Sohn des weiseren Bruders (hier erstmals „Promethides“ im Unterschied zur „Epimethida“ ge­ nannt) begreift, daß mit der Mutter die Erde und mit den Gebeinen somit Steine gemeint sind.157 Er stützt sich dabei auf die hermeneutische Regel: „Pia sunt nullumque nefas oracula suadent“ („Der Spruch ist gerecht und rät kein sträflich Beginnen“, 392). Es liegt nahe, diese Regel metapoetisch zu lesen, also nicht nur auf die Deutung von Orakeln, sondern auch auf die der in den Metamorphosen berichteten Mythen zu beziehen. Ovid will, wie wir gesehen haben, nicht, daß man wörtlich an sie glaubt, wenn sich auch in ihnen Wahrheiten über den Menschen und sein erotisches Verhalten, geglücktes wie scheiterndes, verbergen. Die Befolgung des richtig gedeuteten Gebotes führt zu einer diejenige Lycaons invertierende Metamorphose – statt daß aus Men­ schen Nicht-Menschliches wird, entstehen nun aus Nicht-Menschlichem Menschen, die freilich die Härte der Steine übernehmen (415 in deutlicher Entsprechung zu 162, wo es um die Entstehung aus Gigantenblut geht). Wich­ tig ist, daß das von Deucalion Geschleuderte zum Manne, das von Pyrrha Geworfene zur Frau wird (411 ff.) – damit wird eine Kontrastfolie geboten zur Entstehung einer reinen Männerwelt und ihrer Selbstvernichtung, die später berichtet wird (siehe unten S. 86). Garantiert dies eine weitere Fortsetzung des Menschengeschlechts durch sexuelle Fortpflanzung, bietet die feuchte Erde daneben reichlich Gelegenheit zu Urzeugungen aus anorganischem Material, unter anderem diejenige des Python, den Apollo mit seinen Pfeilen erlegt. Als dieser herablassend Amor, der sich an seinem eigenen Bogen zu schaffen macht, erklärt, diese Waffe zieme nicht ihm, sondern nur Apollo, beschließt Amor, ihm die eigene Macht zu zeigen. Die erste Liebesgeschichte158 ist also die Folge einer Rache, aller­ dings nicht, wie später so oft, wegen zurückgewiesener Liebe, sondern wegen Man vergleiche Brutus’ verwandte Interpretation von „Mutter“ als Erde F.  2.713 ff. Eine andere, aber ebenfalls nicht klar zu Tage liegende Bedeutung hat „mater“ F. 4.259 ff. 158 „Primus amor“ heißt es 452, wohl in doppelter Anspielung auf Vergils Aen. 1.1 und Properz 1.1.1., damit einerseits auf die elegisch-epische Doppelnatur der Metamorphosen verweisend, andererseits diesen Vers als den eigentlichen Beginn des Werkes andeutend. 157

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der Zurückweisung der Bedeutung des Prinzips der Liebe.159 Apollo möge mit seinem Bogen alles andere treffen, er werde mit dem eigenen ihn treffen, und das sei mehr wert, da ein Gott höher stehe als der Rest (463 ff.). Die Liebe erweist sich damit als universale, auch die Götter sich unterwerfende Kraft, und das Feuer, das den Liebenden von innen verzehrt (492 ff.), als viel be­ drohlicher als die von außen angreifende Urschlange. Ja, da das elegische Ich der Amores gleich zu Beginn ebenfalls von Amor getroffen worden war (1.1.21 ff.), erscheint Apollo – der Liebhaber ebenso wie der Beschützer der Musen – als Vorläufer Ovids.160 Amor trifft freilich nicht nur Apollo mit ei­ nem goldenen, sondern auch die Nymphe Daphne, Tochter des Penëus, mit einem mit einer bleiernen Spitze ausgestatteten Pfeil, der Liebe verscheucht. Wir haben damit eine völlige Umkehrung der symmetrischen, nahezu ge­ schwisterlichen Liebe Deucalions und Pyrrhas – heftiges Begehren auf der einen Seite, das auf der anderen nicht im mindesten erwidert wird. Daphne will ausdrücklich ihr Leben lang die Jungfräulichkeit Dianas nachahmen, die bezeichnenderweise nicht nur „Diana“ (487), sondern auch „Phoebe“ genannt wird (476)161 – man denkt damit unweigerlich an Apollo und die geschwister­ liche Beziehung der beiden Kinder Latonas, auch wenn Phoebus’ Verhältnis zur Verehrerin seiner Schwester ganz anderer Natur ist. Mit ihrer Ablehnung nicht nur Apollos, sondern auch aller Männer enttäuscht Daphne zwar zu­ nächst Penëus, der sich Schwiergersohn und Enkel erhofft hatte (481 f.; ganz ähnlich Inachus 1.659).162 Aber er gibt der Tochter nach, die „mit schmei­ chelndem Arm umschlingend den Nacken des Vaters“ ihn bittet („inque pa­ tris blandis haerens cervice lacertis“, 485). 163 Es ist naheliegend, die Stelle dahingehend zu interpretieren, nach Ovid breche sich auch in innerfamiliären Venus Rache an Sol (4.190 ff.) ist anderer Art, da er ihre Liebschaft mit Mars an den Tag gebracht hatte. Daß Cupido auf Venus’ Angeregung hin Dis mit seinem Pfeil trifft, dient dem Wunsch der Mutter, die eigene Herrschaft auch auf die Un­ terwelt auszudehnen (5.365 ff.), findet also keinen besonderen Anlaß in einem Verhalten Dis’. 160 W. S. M. Nicoll (1980) hat zu Recht darauf verwiesen, daß damit Ovid die Erset­ zung Apollos durch Amor in der ersten Elegie der Amores (siehe besonders V. 15 f.) gewissermaßen rückgängig macht und damit zu Kallimachos zurückkehrt, des­ sen neuartige Poesie von Apollon inspiriert sein will (Αἴτια, Frg. 1, V. 21 ff.). 161 Auf das Zitat aus Kallimachos’ Artemishymnus in ihrer Bitte an den Vater wurde oben Anm. 37 schon verwiesen. 162 Darin mag eine Anspielung auf die von Augustus erlassene Lex Iulia de maritandis ordinibus versteckt sein, wie Gerlinde Bretzigheimer (1994; 554 f.) vorge­ schlagen hat. 163 Verwandt ist, wie Phaethon seine Arme um den Hals der Mutter schlingt (1.762). Auch er hat noch keine sexuelle Erfahrung. 159

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Zärtlichkeiten Erotisches Bahn, ja, Ehescheu sei oft Ausdruck einer beson­ ders engen Vaterbindung. 1.651 f. umarmt Inachus umgekehrt den Nacken der in eine Kuh verwandelten Tochter, und Philomelas Umschlingen und Abküs­ sen des Vaters stacheln Tereus’ Begierde an (6.475 ff.). Die unterschwellige Erotik der Vater-Tochter-Beziehung kündigt, wie in der Ouvertüre einer Oper, das Inzestmotiv an, das, im zweiten Buch im Zusammenhang mit Nyctimene explizit, aber kurz ausgesprochen (2.591 ff.), im sechsten Buch wiederum nur, aber doch in gesteigerter Form, angedeutet wird und in der Myrrha-Geschich­ te des zehnten Buches zu vollster Entfaltung kommt.164 Das Ordnungsprinzip, nach dem der Inzest am Ende kommt, bestimmt auch die Reihenfolge der neun Metamophosen Jupiters in Arachnes Gewebe – die letzte ist, wie er als Schlange seine Tochter Deois, also Proserpina, begattet (6.114). Zwar ist Daphne das Oper unwillkommener Begierde. Aber Ovid gibt sich alle Mühe, auch den Gott als Opfer Amors darzustellen. Er wird damit ver­ menschlicht, ja, geradezu komisch; insbesondere ist sein Selbstlob komisch, da er die Parodie eines Götterhymnus, nun in erster statt in zweiter Person, darstellt.165 Freilich wird damit auch die beabsichtigte Vergewaltigung ver­ harmlost. Seine Faszination durch Daphnes Körper, zumal dessen verhüllte Teile („siqua latent, meliora putat“, „was sich verbirgt, dünkt schöner ihm noch“, 502), überwältigt ihn. Auch wenn der Gott sich Daphne gegenüber als jemanden rühmt, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt (517 f.), „trügt ihn sein eignes Orakel“ („suaque illum oracula fallunt“, 491), wie Ovid bemerkt; und Apollo selbst erkennt an, Amors Pfeil treffe sicherer als der seine und, obgleich Gott der Heilkunst, könne er sich selber nicht heilen (519 ff.). Apollo leidet daran, daß seine ungewollte Werbung, die Daphne zur Flucht zwingt, ihr Schmerzen verursacht, etwa wenn sie auf der Flucht stürzt oder sich an Dornen ritzt. Er, der nicht als Freßfeind, sondern aufgrund von Liebe sie verfolge, will nicht Ursache ihres Schmerzes sein: „ne … sim tibi causa doloris.“ (508 f.)166 Damit ist schon gleich bei der ersten Liebesge­ schichte ausgesprochen, Liebe und Schmerz seien eng verbunden. Schon die Epistulae Heroidum (13.29 f.) und die Ars lehrten es (1.735 f.),167 und die Metamorphosen werden es oft wiederholen. Das nächste Mal freilich erscheint das Thema mit einer bedeutsamen Verschiebung: Nicht die unglücklich Ge­ liebte oder der unglücklich Liebende sind gemeint, sondern eine dritte, durch Nyctimene und Myrrha werden, zusammen mit Pelopea, Ib. 357 f. genannt. Dazu siehe Therese Fuhrer (1999). Ganz anders gestimmt ist, wie sie zeigt, die Selbst-Aretalogie der Frevlerin Niobe 6.169 ff. 166 Ähnlich Acontius EH. 20.127. 167  EH. 1.12, 71 ff. geht es um die Beziehung zwischen Liebe und Furcht, eine der Quellen des Leidens. 164 165

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Eifersucht gequälte Partei. „Numquam tibi causa doloris/haec erit“ („Nie soll Ursache des Schmerzes/ diese dir sein“, 1.736 f.), verspricht Jupiter Juno mit Bezug auf Io oder, um genauer zu sein, auf seine Liebe zu Io.168 Aber Apollos vielleicht dank Selbsttäuschung sogar ehrlicher Wunsch, Daphne nicht zu quälen, ändert nichts an der Fortsetzung seiner Verfolgung nach Art eines Jagdhundes (533 ff.)169 und derjenigen ihrer Flucht. Beide sind unterschied­ lich motiviert – jene durch Hoffnung, diese durch Furcht (539). Nur die Ver­ wandlung der Tochter in einen Lorbeerbaum durch Penëus kann sie vor einer Vergewaltigung retten. Während sich Daphnes Haare in Laub, ihre Arme in Äste verwandeln, bleibt nur die Schönheit als Identitätsmoment übrig, wie die Brutalität im Fal­ le Lycaons: „Remanet nitor unus in illa“ („Nichts bleibt als die glänzende Schönheit“, 552).170 Aber es bleibt auch Apollos Liebe zum verwandelten Ge­ genstand: „Hanc quoque Phoebus amat“ („So auch liebt sie der Gott“, 553). Daphnes Aversion gegen Erotik zeigt sich noch in der Ablehnung der Küsse, die Apollo auf das Holz drückt (556), doch Apollos Erklärung, sein Haar, seine Leier, sein Köcher und die römischen Triumphatoren würden mit ihrem immergrünen Laub geschmückt,171 findet ihre Zustimmung in Form einer Bewegung ihres Wipfels (566 f.). Es war also nicht so sehr die Bindung an Andere Stellen, die „amor“ und „dolor“ bzw. stammverwandte Wörter verknüp­ fen, finden sich etwa 4.278, 7.719 f., 10.198–201, 13.744–748. 169 Vergleiche der Verfolgung einer Frau durch einen Mann mit derjenigen eines Tieres durch einen Beutegreifer sind in den Metamorphosen zahlreich; vgl. etwa 2.716 ff., 4.361 ff., 5.605 f., 626 ff., 6.515 ff., 527 ff., 11.771 ff.; ähnlich F. 2. 799 f., 3.646. In der Aeneis – z. B. 9.59 ff., 339 ff., 730, 10.723 ff., 11.721 ff., 751 ff. – werden derar­ tige Vergleiche dagegen benutzt, um das Töten im Kriege darzustellen. Bei Horaz werden Raub- und Beutetiere mit militärischen (Carmina 1.37.17 ff.) ebenso wie mit erotischen Eroberungen verglichen, und zwar wird interessanterweise der Mann nicht immer mit einem Beutegreifer parallelisiert (so z. B. Carmina 1.23.9 f. in der vom Werber zurückgewiesenen Perspektive des Mädchens), sondern gele­ gentlich auch mit einem Beutetier – explizit gegenüber einer sexuell unersätt­ lichen Geliebten (Epodes 12.25 f.), implizit, wenn der Liebling „Lyciscus“ („klei­ ner Wolf“) genannt wird (11.24 ff.). Wir sahen, daß schon in der Ars Jagdmetaphern zahlreich sind, auch wenn dort die erotische Jagd nicht wirklich gewalttätig ist. In den Amores lesen wir: „Quod sequitur, fugio; quod fugit, ipse sequor.“ („Was folgt, vor dem fliehe ich; was flieht, verfolge ich selber“, 2.19.36) – Seine eigene Stellung im von Barbaren bedrohten Tomis vergleicht Ovid mit der eines Schafes in einem Stall, um den ein Wolf herumschleicht (EP. 1.2.17 f.). 170 Ähnlich zu Io 1.612: „(bos quoque formosa est)“ („(Auch als Kuh ist sie schön)“) und bei ihrer Rückverwandlung 1.743. Vgl. z. B. auch 4.270, 6.144 f., 7.656 f., 9.320 f., 11.293 f., 343, 742 ff., 14.93 ff., 393 ff., 524 ff., 555, 578 ff. 171 Siehe dazu EP. 1.2.80. 168

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Apollo, die ihr widerstrebte, als deren sexuelle Natur. Auf der anderen Seite mag man in der Metamorphose des sexuellen Begehrens Apollos u. a. in dich­ terische Inspiration frühe Anklänge an Freuds Sublimierungstheorie sehen, und Ovid mag von sich und dem eigenen Dichten sprechen. Zwar soll Jupiters Verwandlung der Io etwa gleichzeitig erfolgt sein, aber natürlich ist dieser fiktive chronologische Anknüpfungspunkt nicht der Grund dafür, daß diese Geschichte unmittelbar anschließt;172 und auch daß beide Väter Flußgötter sind, ist nebensächlich, auch wenn es einen hübschen Anknüpfungspunkt bietet (577 ff.). Nein, die Geschichten stehen nebenein­ ander, weil sie wesensverwandt sind: In beiden Fällen handelt es sich um asymmetrisches männliches Begehren. Aber der Jupiter-Io-Mythos ist nicht einfach eine Wiederholung derselben Konstellation, sondern deren höchst kunstvolle Variation und Verkomplizierung.173 Vier wesentliche Unterschie­ de fallen ins Auge: Erstens ist Jupiter, anders als Apollo, erfolgreich, ja, der Geschlechtsakt erweist sich als fruchtbar. Man merkt, daß Jupiter ein Routi­ nier ist, während Apollo noch als blutiger Anfänger wirkte. Das heißt nicht, daß Ovid die sexuelle Penetration schildert; er tut das nie, obgleich Leo C. Curran an die fünfzig Vergewaltigungen, Vergewaltigungsversuche und se­ xuellen Erpressungen im Werk gezählt hat (1978; 214), denn „Ovid is not writing pornography but a kind of epic“ (216).174 Zweitens setzt Jupiter nicht nur Gewalt ein, sondern auch List, und zwar produziert er zunächst Nebel, um seine stets wachsame Gattin zu täuschen. Doch sie ist zu klug, um nicht mißtrauisch zu werden. Die Einführung einer dritten Partei, in diesem Falle der in ihren Rechten verletzten Gattin, ist die dritte Neuerung – sie wird noch viele andere Geschichten kennzeichnen. Und viertens findet hier die Metamorphose (in eine Kuh) nicht statt, um die Jungfräulichkeit der begehr­ ten Nymphe zu retten, sondern nach erfolgter Vergewaltigung in dem vergeb­ lichen Wunsch, sie vor Juno zu schützen – das ist die zweite Stufe der Täu­ schung Junos. Doch auch diese funktioniert nicht. Als Juno die Kuh als Geschenk erbittet, ist die Scham größer als die Liebe zu Io (618 f.): Jupiter tritt sie an Juno ab, die sie durch den hundertäugigen Argus bewachen läßt. Ios Leiden ist viel länger und tiefer als dasjenige Daphnes; denn sie ist ihrem Zu Recht sieht Holzberg (1999; 319) eine „weniger chronologische denn motivi­ sche Anknüpfung“ am Werk. 173 Daß die Variierung der Fiktion einer der Wesenszüge von Dichtung sei, hat Ovid selber ausgesprochen (EP. 3.9.47 f.) 174 Vgl. EH. 19.64: „Quae fecisse iuvat, facta referre pudet“ („Man schämt sich, das als geschehen zu berichten, was getan zu haben einen freut“). Nur in der Ars gibt es einige wenige pornographische Stellen, doch ist Ovid weniger obszön als Catull und Horaz. 172

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neuen Körper völlig entfremdet und erschrickt, ganz anders als später Nar­ cissus, vor dem eigenen Spiegelbild im Wasser (639 ff.).175 Auch Inachus ist keineswegs froh, die Tochter, die, wie Philomela der Rede beraubt, sich ihm durch im Staub eingezeichnete Buchstaben zu erkennen gibt, endlich als Kuh verwandelt wiederzufinden. Ja, er beklagt sogar, daß er als Gott nicht sterben kann (651 ff.). Dieses Motiv ist vorgeprägt bei Juturna Aen. 12.879 ff. und kehrt mit anderem Tiefgang, weil nun nicht mehr auf ein Einzelereignis bezogen, wieder bei Chiron M. 2.649 ff. Befreit wird Io durch Mercurius, der im Auftrag Jupiters Argus tötet, ihn aber vorher einschläfern muß. Das bewirkt er, indem er Argus auf der Hir­ tenflöte vorspielt und ihm die Geschichte von deren Entstehung erzählt: Sie sei von Pan aus dem Schilfrohr geschaffen worden, in das die von ihm ver­ folgte Nymphe Syrinx verwandelt worden sei. Dieser Mythos ist dem Daph­ nemythos so ähnlich, daß man sich fragt, wieso ihn Ovid hier einführt. In­ haltlich besteht eine Variation darin, daß statt eines optischen ein akustisches Phänomen den Liebenden an die Geliebte erinnert – das Wehen des Windes im Schilf gibt ihm die Idee der Flöte ein, deren Musik als Gespräch mit ihr bleiben werde: „ ‚Hoc mihi conloquium tecum‘ dixisse ‚manebit‘ “ („ ‚Dieses Gespräch mir dir soll‘, habe er gesagt, ‚mir verbleiben‘ “, 710). Die Kunsttä­ tigkeit als Erinnerung an eine verschwundene Geliebte ist mehr als die bloße Verwendung des Lorbeers, und „conloquium“ deutet eine wenigstens postu­ me Symmetrie an, die über das Nicken des Wipfels des Lorbeerbaums hin­ ausreicht. Entscheidend ist freilich die formale Neuerung: Die Syrinxgeschichte ist die erste heterodiegetische Binnenerzählung. Gewählt wird diese Erzäh­ form, weil sie reflexiv gelesen werden soll: Ovid gibt augenzwinkernd zu verstehen, seine dritte Geschichte der Verfolgung einer Nymphe durch ei­ nen Gott beginne langweilig zu werden. Schon Fränkel hat dies gesehen;176 und Gianpiero Rosati hat in seiner eindrucksvollen Studie zu Ovids Erzähl­ technik darauf hingewiesen, Ovid signalisiere dem Leser, er wisse sehr wohl, daß einschläfernde Wiederholung ein Risiko seines Unternehmens sei, das aus der Tradition Dubletten aufgreife. Aber seine Erzählweise weicht von derjenigen Mercurius’ ab, u. a. durch die Einführung verschiede­ ner Erzählebenen; und daher kann Ovid gleichzeitig andeuten, seine for­ male Variation bewahre den intelligenten Leser vor Argus’ Schicksal. „By avoiding the replication of an all-too-similar story of frustrated erotic pur­ Noch ausführlicher schildert Hypermestra den Selbstverlust ihrer Ahnin Io EH. 14.89 ff. 176 (1945), 85. Er verweist auf 678 und 709, wo die bewußte Wiederholung (Ovids, nicht Mercurius’) den einschläfernden Effekt steigert. 175

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suit and of the metamorphosis of the pursued woman into a plant, the text also shows us how the same story can be narrated in completely different ways (for example, by changes in the times and rhythms of the narration, narrating voice, and point of view).“ (275) Gerade die Reflexion auf die Ähnlichkeit der Geschichten macht das Neue und Differente dieser beson­ deren Erzählung aus. Freilich ist damit auch die formale Variationsmöglichkeit erschöpft; und ein Themenwechsel ist nun wirklich erforderlich. Bekanntlich schließt mit der Phaethon-Geschichte ein Mythos erhaben-epischen Stils an. Gärtner (2004; 55) weist zu Recht darauf hin, erst mit der Schilderung der Sonnenburg 2.1 ff. setze die epische Handlung ein. Vorher ist ein elegisches Motiv vorherr­ schend, das das erste Buch abschließt: Phaethons Kränkung durch die Zweifel des Io-Sohnes Epaphus an seiner Abstammung von Sol. Die Vater-­Sohn-­ Beziehung ist eine natürliche thematische Weiterführung der Geschlechts­ beziehungen; und die Unsicherheit der Herkunft liegt bei einem Verhältnis mit einer Gottheit nahe, die, anders als ein Gatte, nur selten in Erscheinung tritt. Das gibt Ovid die Möglichkeit, zunächst (1.756 ff.) eine innige MutterSohn-Beziehung zu schildern, die die schon zweimal vorgeführten VaterTochter-Beziehungen an der Geschlechtsachse spiegelt.177 Phaethon erzählt Clymene von der Beleidigung, die er erfahren habe, und will einen Beweis der Vaterschaft Sols. In anderthalb Versen von enormer psychologischer Subtilität erklärt Ovid, warum sich die Mutter bereit findet, dem Sohne zu willfahren: „Ambiguum Clymene precibus Phaethontis an ira/ mota magis dicti sibi criminis…“ („Unklar ist, ob Clymene mehr folgte des Bitten des Sohnes/ Oder dem Zorn, den gab die Beschuldigung…“. 765 f.) Entscheidend ist „ambiguum“, ein Wort, das in den Metamorphosen einige Male erscheint und das die Empfindungs- und Denkweise Ovids wie kaum ein anderes cha­ rakterisiert. Ist Clymene altruistisch oder durch Eigenliebe motiviert? Denkt sie mehr an sich oder an den Sohn? Anders als Phaethon, der seine Zweifel hinsichtlich seiner Herkunft überwindet, aber dafür mit dem Leben zahlt, wissen wir es nicht, können es nicht wissen und brauchen es auch nicht zu wissen.178 Wheeler schreibt zu Recht: „Although Apollo’s love for Daphne leads to a narra­ tive dead end, Jupiter’s rape of Io continues the story of Daphne to the point w ­ here the object of divine love becomes a mother. The narrative then takes up the new subject of the sons of divine amores who are intent upon authenticating their di­ vine origin.“ (2000; 69) 178 Ohne Verwendung von „ambiguum“, das durch ein Fragezeichen ersetzt wird, wohl aber mit Übernahme von „magis“ kehrt die Unsicherheit hinsichtlich des Motivs von Phaedras Verleumdung des Hippolytus wieder: „(indiciine metu ma­ 177

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Ein kurzer Exkurs zur Verwendung des Wortes „ambiguum“ und zur Funk­ tion der Ambiguität in den Metamorphosen lohnt, weil er Licht wirft auf die Eigenart von Ovids Dichtung. Nach nur 23 Versen wird das Wort wiederholt, diesmal zur Kennzeichung des Wandlungskünstlers Proteus (2.9), der exem­ plarisch für das Oberflächenthema des Werkes steht. Analog wird das Prä­ dikat vom Werwolf ausgesprochen, „welcher verwandelt tierischen Leib zu Menschengestalt“ („inque virum soliti vultus mutare ferinos/ ambigui … lupi“, 7.270 f.) oder von den Wassern des Pheneos, die nachts schädlich, tags­ über gefahrlos sind (15.333). „Ambiguum“ referiert hier auf etwas Instabiles, Schillerndes, in sein Gegenteil Umschlagendes.179 Anders als 1.765 oder 11.235 f. („est specus in medio, natura factus an arte,/ ambiguum…“/ „Mitten darin ein Grottengewölb, ob natürlich gebildet,/ Oder durch Kunst, ist un­ klar“) handelt es sich bei der „ambiguitas“ Proteus’, des Werwolfs und des Laufs des Flusses Mäander (8.163) um eine ontologische Eigenschaft, nicht um eine epistemologische – um objektive, nicht subjektive Ambivalenz. Zwi­ schen der objektiven und der subjektiven Bedeutung gelagert ist 7.821 „voci­ bus ambiguis deceptam praebuit aurem/ nescio quis“ („Jemand aber vernahm mit betrogenem Ohre der Worte/ doppelten Sinn“). Denn zwar nicht in der Intention des Cephalus, aber doch in der lateinischen Sprache kann „aura“ ein Appellativ oder ein Eigenname sein, und diese objektive Ambivalenz ver­ führt durch den Bericht des Zuträgers Procris zu ihrer tödlichen Eifersucht. Natürlich steigert Ovid in seinem Bericht die Chance der Verwechslung, in­ dem er das zwar nicht homonyme, aber doch sehr ähnliche Wort „aurem“ einführt – auch dabei handelt es sich um eine Form von Sprachmalerei, da das Gefahrenpotential der Ähnlichkeit (deren Sonderfall die Gleichheit ist) durch ein weiteres ähnliches Wort ausgedrückt wird. Die Ambiguität der Worte des Cephalus lag, wie gesagt, nicht in seiner eigenen Intention. Wohl aber hat Byblis absichtliche Ambiguität im Sinne, wenn sie bereut, ihrem Bruder einen allzu deutlichen Brief geschrieben zu haben: „Ante erat ambi­ guis animi sententia dictis/ praetemptanda mihi…“ („Vorher mußt’ ich mir erst, wie jener gesonnen, erforschen/ Mit zweideutigem Wort…“, 9.588 f.). 11.666 f. erklärt der Alcyone im Traum erscheinende tote Gemahl Ceyx, er sei kein „auctor ambiguus“ („unglaubwürdiger Zeuge“); hier bezeichnet „ambiguus“ zwar eine ontologische Eigenschaft, freilich diejenige, Reden hervorzubringen, von deren Wahrheit man sich nicht überzeugen könne. gis, offensane repulsae?)“ („(ob aus Furcht vor Verrat, ob grollend gedenk der Verschmähung?)“, 15.503). Man vergleiche auch Tr. 4.4.69 mit dem Terminus „dubium“ („zweifelhaft“); hier geht es aber eher um die schwierige Bewertung der Handlung des Orestes als um die Festlegung seiner Motive. 179 So auch Tr. 5.8.15 mit Bezug auf die Fortuna.

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„Ambiguus … heres“ 13.129 bedeutet dagegen, daß der Erbe umstritten ist; das ist wiederum eine epistemologische Eigenschaft, die das Rededuell zwi­ schen Aiax und Ulixes zur Folge hat. Aber sosehr analytische Klarheit auf der Unterscheidung von objektiver und subjektiver Ambivalenz beharren muß, sowenig kann bezweifelt wer­ den, daß bei Ovid beide Aspekte miteinander verbunden sind.180 Weil Dinge in ihr Gegenteil umschlagen, ist es so schwierig zu entscheiden, was der Fall ist. Um auf Clymene zurückzukehren, wissen wir wohl auch deswegen nicht, welches Motiv sie bestimmte, weil mit der Möglichkeit zu rechnen ist, daß beide Motive einander abwechselten. Wenn man nicht weiß, was die Sach­ lage ist, ist kein stabiles Urteil möglich. Ja, selbst wo zu den Fakten Konsens besteht, mag er bei deren Beurteilung ausbleiben, weil unterschiedliche nor­ mative Prinzipien zugrunde gelegt werden. So heißt es zu Dianas Bestrafung von Actaeon 3.253 „Rumor in ambiguo est“ („Drob ist die Meinung geteilt“), obgleich an ihrem Motiv kaum ein Zweifel besteht. Auch wissen die bei Penëus eintreffenden Flußgottheiten nicht, ob sie ihm wegen der Metamor­ phose Daphnes gratulieren oder kondolieren sollen – Verlust und Erhöhung gehen Hand in Hand (1.578). Es ist letztlich das Verwandlungsmotiv, das nicht viel anders als in Platons Kratylos und Theaitetos die größere episte­ mische Unsicherheit Ovids gegenüber Vergil erklärt. Die Welt ist komplexer geworden, das Urteil unsicherer und schwankender. Und doch wäre es falsch, Ovid als einen postmodernen moralischen Relativisten zu deuten.181 Wir werden noch sehen (siehe unten S. 88 f.), daß trotz des faktischen Dissenses zu Diana er selber eine klare Meinung hinsichtlich ihrer grausamen Rache hat. Die Anerkennung der Komplexität unserer Motive, ihrer bewußten Ver­ bergung zum Zweck der Täuschung der anderen zumal durch Mittel der Rede, ja, der Selbsttäuschung, der der Handelnde selbst oft unterliegt, hin­ dert Ovid keineswegs, in vielen Fällen selber ein überaus deutliches morali­ sches Urteil auszusprechen. In anderen freilich hält er es für angemessener, die Waffen zu strecken und auf ein Urteil zu verzichten – so etwa bei Clyme­ nes Motivation. Es ist die seltene Verbindung von, erstens, höchster An­ Man vergleiche Tr.  1.2.31 f. Solodow (1988; 157 ff.) tendiert wie mancher andere moderne Interpret zu einer solchen Interpretation. Die enorme Popularität Ovids in den vier letzten Jahr­ zehnten hat viel damit zu tun, daß Ovids metaphysische und moralische Präferen­ zen der verspielten und in sich selbst verliebten postmodernen Sensibilität eher zusagen als diejenigen Vergils. Allerdings sollte gerade ein postmoderner Inter­ pret mit der Möglichkeit rechnen, daß manches an seiner Interpretation mehr Licht auf die Postmoderne als auf Ovid wirft. Man möge nicht vergessen, daß Ovid, wie etwa auch Platon (Phaidros 276 b), eine Balance von Spiel und Ernst angestrebt hat. Vgl. EP. 1.9.9 f., 2.4.9 f., 2.10.41 f., 4.3.13 f.

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schaulichkeit der Darstellung, zweitens Anerkennung der Abgründigkeit der Tiefenstruktur der Wirklichkeit (zumal der menschlichen Seele) und drittens außerordentlicher Geschmeidigkeit der Sprache, die Ovids Rang unter den größten Dichtern garantiert – noch ganz abgesehen von seiner enzyklopädi­ schen Kraft.

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Metamorphosen, Buch 2. Das erstmalige Auftreten von Vater-Sohn-, Bruder-Schwester-Beziehungen und Beziehungen zwischen Freunden: Phaethon. Die jungfräuliche Daseinsform und ihre Grenzen sowie von der Gewalt zur Täuschung: Callisto. Der Zuträger, männliche Eifersucht und weibliche Solidarität: Coronis, Corvus und Cornix. Erotischer Neid: Aglauros

Die Begegnung Phaethons mit seinem Vater hat tragische Konsequenzen, teils weil letzterer sich durch einen Schwur bei der Styx dazu verpflichtet, einen Wunsch Phaethons zu erfüllen, was auch immer dieser beinhalte (2.44 ff.) – ähnlich unbedacht wird auch Jupiter Semele gegenüber den glei­ chen Schwur leisten (3.289 ff.). Teils aber ist Phaethon selber schuld, der, ge­ nauso wie später Semele, etwas begehrt, was ihm als Sterblichem nicht zu­ steht.182 Das hartnäckige Verstoßen gegen den Rat des Vaters, dem Phaethon in Selbstüberschätzung an Fähigkeit gleich zu sein glaubt, antizipiert ferner den späteren Himmelssturz Icarus’ (8.183 ff.).183 Beide Ausbruchsversuche aus der väterlichen Autorität scheitern. Dem Lenken des Sonnenwagens ist Phaethon nicht gewachsen, und da er durch seine Unfähigkeit das ganze Weltall in Brand setzt, darf und muß Jupiter ihn, auf die Bitte Tellus’ hin, mit seinem Blitz erschlagen (2.304 ff.). Die Schilderung der durch das Feuer zer­ störten Erde (2.210 ff.) entspricht derjenigen der Überschwemmung der Erde durch die große Flut (1.262 ff.) – bezeichnenderweise hatte damals schon ­Jupiter eine Vernichtung der Menschheit durch das Feuer erwogen, hatte aber gefürchtet, der Äther könne dabei in Mitleidenschaft gezogen werden (1.253 ff.).184 Erinnern wir uns daran, daß nach der Flut nur das Zusammenwir­ ken von Hitze und Feuchtigkeit das Leben wiedererzeugt hatte, begreifen wir, daß der Triumph eines einzigen Prinzipes, sei es des Wassers, sei es des Feu­ ers, tödliche Konsequenzen haben muß.185 Während in Euripides’ Phaethon „male optatos …axes“ („die schlecht gewünschte Achse“, 2.148) erinnert an 11.102 „male usurus donis“ („schlecht sollte er das Geschenk nützen“) zu Midas’ törich­ tem Wunsch, alles, was er berühre, möge zu Gold werden. Ib. 470 heißt es bezüg­ lich Phaethons: „temere optatos … equos“ („die verwegen gewünschten Pferde“); „male“ qualifiziert dort deren Lenkung (vgl. M. 2.393: „non bene“). 183  Tr. 1.1.79 ff. spricht der verbannte Dichter, der sich mit Phaethon vergleicht, von dessen Dummheit; 3.4.21 ff. werden Icarus und Phaethon zusammen genannt. 184 In Hyginus’ Fabulae 152 A sind die beiden Mythen dadurch verschränkt, daß Deucalion und Pyrrha als einzige Menschen die Phaethon-Katastrophe überleben. 185 In diesem Sinne werden der Deucalion- und der Phaethonmythos F. 4.787–794 mit der polaren Ontologie von Feuer und Wasser verknüpft. Ovids Naturphilosophie, die das Mittelalter faszinierte, ist nicht Thema dieses Werkes, auch wenn sie u. a. aufgrund der ökologischen Krise der Gegenwart ein gründliches Studium verdient. 182

4.3  Metamorphosen, Buch 2

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der Schaden sehr begrenzt ist, so daß Klymene den Leichnam ihres Sohnes vor Merops zu verbergen versucht,186 ist die kosmische Ausweitung der Kata­ strophe bei Ovid, die das alte Chaos wiederherzustellen droht (2.299), sicher u. a. dem Wunsch geschuldet, eine Parallele zum ersten Buch aufzuweisen. Sie erlaubt ihm ferner, erstmals die Alpen, den Apennin, den Po und den Ti­ ber zu erwähnen (226, 258 f.), und damit das Land, das in den letzten Büchern ins Zentrum rückt. Man beachte allerdings, daß die erste Katastrophe durch Jupiter selber verursacht war – hier schafft es Jupiter, das Ausmaß der nicht durch ihn verursachten Zerstörung zu begrenzen: Aus einem vernichtenden wird ein wahrender Gott. Phaethons Tod ist keine eigentliche Metamorpho­ se, wohl aber handelt es sich um eine solche bei der Verwandlung seiner trauernden Schwestern, der Heliaden, in Bäume187 und seines Verwandten und Freundes Cygnus in einen Schwan.188 Hier treten erstmals BruderSchwester-­Beziehungen und Beziehungen zwischen Freunden auf, bezeich­ nenderweise nach der Behandlung von Vater-Tochter-, Mutter-Sohn- und Vater-­Sohn-Beziehungen.189 Die homoerotische Dimension, die bei Vergil (Aen. 10.189 ff.) in einer seiner wenigen Verwandlungsgeschichten die Bezie­ hung von Cycnus zu seinem Liebling Phaethon charakterisiert, wird fallenge­ lassen, weil diese Form der Liebe bei Ovid erst später ihren Platz hat. Die nächste Episode scheint auf den ersten Blick nur eine weitere Verge­ waltigungsgeschichte zu bieten: Jupiter begehrt in Arkadien die Gefährtin der Diana, Callisto. (Ihr Name wird nicht ausdrücklich genannt,190 wohl aber wird gesagt, daß sie die Tochter Lycaons ist: 2.496.) Da es ihm gelingt, sie zu schwängern, und sie dafür in ein Tier verwandelt wird (allerdings von Juno, Siehe V. 221 ff. des Φαέϑων in den Tragicorum Graecorum fragmenta selecta. Das Fließen von Blut aus den Wunden der Bäume, die die verzweifelte Mutter reißt, indem sie Zweige von den sich verwandelnden Töchtern abbricht (2.358 ff.), kehrt wieder beim Fällen der heiligen Eiche durch Erysichthon (8.762 ff.) und bei Dryopes Pflücken von Blüten des „lotos“-Baumes (9.344 f.). Daß die Tränen der Heliaden zu Bernstein gerinnen (2.364 f.), wird wiederaufgegriffen 10.262 f. 188 Darauf folgt eine Beschreibung der Trauer Sols, der allerdings nicht verwandelt wird. Dietz weist darauf hin, die Ordnung der Trauernden entspreche derjenigen von vegetativer, sensitiver und rationaler Seele (Günter Dietz / Karlheinz Hilbert (1970), 26 f.). 189 Die grundlegende Bedeutung familiärer Beziehungen im eigenen Leben führt Ovid Tr. 4.10 vor, wo seine beiden Eltern, der Bruder, seine drei Frauen, die Tochter und die zwei Enkel erwähnt werden, und zwar die Ursprungsfamilie besonders aus­ führlich. Von seinen Ehen war die dritte glücklich, wie zumal die Tristia zeigen. 190 Zu diesem Kunstgriff Ovids, der mehrfach vorkommt (bis zum Überdruß im Ibis), siehe Ernst Jürgen Berneck (1967), 47 ff., der hervorhebt, durch die Verschlüsse­ lung werde der Leser aktiviert. 186 187

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nicht von Jupiter, und zudem erst nach der Geburt ihres Sohnes Arcas), erin­ nert der Mythos an denjenigen von Io, und da Daphne als „aemula Phoebes“ („Nachahmerin Phoebes“, 1.476) bezeichnet worden war, mag man ihn als eine Verknüpfung der Daphne- und Io-Geschichte deuten. Aber handelte es sich nur um eine solche Synthese, wäre die Geschichte matt, und wir wissen, daß Ovid seine Leser nicht gerne einschläfert. Nein, die Geschichte wird hier eingefügt, weil sie viel komplexer ist als die früheren. Drei Unterschiede sind entscheidend: Erstens wird Callisto „miles … Phoebes“ genannt („Soldatin Phoebes“, 2.415). Das erinnert zwar an das Prädikat Daphnes, ist aber doch etwas ganz anderes – es handelt sich um mehr als ein abstraktes Bewundern aus der Ferne, es besteht vielmehr eine konkrete personale Beziehung.191 Cal­ listo gehört zum Gefolge Dianas, und daher reagiert diese so erbarmungslos, ja, grausam, als sie beim Bad die fortgeschrittene Schwangerschaft ihrer Ge­ fährtin entdeckt, die sie sofort verbannt, ohne ihr die Chance zur Rechtferti­ gung zu geben. Religionsgeschichtlich ist es sicher richtig, daß rituelle Verun­ reinigung von persönlicher Schuld unabhängig ist. Dianas Worte „nec sacros pollue fontes!“ („daß die heiligen Quellen nicht du entweihst“, 2.464) nehmen auf diese sakrale Dimension deutlich Bezug. Aber Ovid wäre nicht der ganz außerordentliche Psychologe des Eros, der er nun einmal ist, wenn er nicht andeutete, daß eine individuelle Enttäuschung Dianas eine zentrale Rolle spielt. Callisto war ihre Lieblingsgefährtin (415 f.), und die Verführung durch Jupiter deutet an, daß die beiden Frauen ein homosoziales Band verknüpfte, das vermutlich keine sexuellen Kontakte, aber doch körperliche Berührungen und starke affektive Zuneigung einschloß. Diana ist eifersüchtig auf diejeni­ gen, die ihr ihre Gefährtinnen entziehen wollen; und die arme Callisto hat sowohl unter ihrer als auch unter Junos Eifersucht zu leiden. Letztere ist na­ türlich direkt auf sie sowie auf die Tatsache eifersüchtig, daß sie Jupiter ein Kind geboren hat (2.471 ff.; ähnlich 3.268 ff. zu Semeles Schwangerschaft, während dieses zusätzliche Eifersuchtsmotiv in der Io-Geschichte noch nicht vorkam). Daphne wollte Jungfrau bleiben, aber ihre Absicht ließ sich in Nym­ phengestalt nicht lange verwirklichen; Diana und ihr Gefolge dagegen leben eine jungfräuliche Existenz, die hier erstmals als eigene Daseinsform er­ scheint. Einerseits beschreibt sie Ovid mit Sympathie, ja, er schildert die para­ doxerweise besonders starken erotischen Reize dieser dem Eros abgeneigten Frauen; Callisto erscheint (411–415) ähnlich zauberhaft wie ­Hippolytos in Euripides gleichnamiger Tragödie.192 Andererseits besteht kein Zweifel, daß Ovid die Grenzen dieser Lebensform schonungslos aufdeckt. In einer Apo­ Man denkt an Camilla Aen. 11.537 ff. 2.418 erinnert in der Schilderung unberührter Natur, die selbstredend die Jung­ fräulichkeit symbolisiert, an Euripides’ Ἱππόλυτος 75 f.

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strophe an die Göttin – das Stilmittel der direkten Anrede Abwesender findet in den Metamorphosen oft Anwendung, und zwar sowohl seitens des epi­ schen als auch intradiegetischer Erzähler, und erreicht eine konkrete Verge­ genwärtigung – wünscht sich Ovid, diese hätte die Vergewaltigung gesehen: „(adspiceres utinam, Saturnia, mitior esses)“ („(Hättest du es mitangesehen, Saturnia, du wärest milder)“, 435).193 Ja, er weist auf die Einschränkung der Beobachtungsgabe Dianas hin, die psychologisch geradezu als alte Jungfer erscheint, die trotz deutlicher Anzeichen der Verlegenheit acht Monate lang (453) nicht begreift, was mit Callisto los ist, bis sie sie beim gemeinsamen Baden nackt erblickt. Dieses Bad ist natürlich ein Präludium zu demjenigen, bei dem sie selber von Actaeon entdeckt werden wird; und in subtiler Antizi­ pation des Späteren ist es bei Ovid Diana, die allen Nymphen befiehlt, sich auszuziehen, und als Callisto zögert, ihr die Kleider abnehmen läßt (460 f.). Ein Vergleich mit Hyginus ist lehrreich. Denn in De astronomia 2.1. badet Callisto auf eigenen Antrieb und wird dabei von Diana überrascht.194 Warum paßt die Veränderung besser zu Ovids Werk? Sicher kann damit die Qual Callistos eindrucksvoller geschildert werden; doch daneben soll Dianas her­ risches Wesen noch stärker hervortreten. Dieselbe Göttin, die denjenigen er­ barmungslos tötet, der sie beim Bad erblickt, hat keine Hemmung, anderen die Kleider abreißen zu lassen. Nur so versteht Diana endlich Callistos Situa­ tion. „Et, nisi quod virgo est, poterat sentire Diana/ mille notis culpam; nym­ phae sensisse feruntur“ („Wäre sie Jungfrau nicht, wohl könnte Diana an tau­ send/ Zeichen erkennen die Schuld. Die Nymphen erkannten sie, sagt man“, 451 f.).195 Witzig an der auf eine unbestimmte Quelle zurückgeführten Schluß­ bemerkung ist natürlich, daß sie unterstellt, die Diana untergebenen Nym­ phen seien entweder klüger als die Herrin – oder sie seien keine Jungfrauen mehr, was freilich heißt, daß sie Diana mit größerem Geschick als Callisto zu täuschen gewußt haben. Bretzigheimer hat recht, wenn sie über die Callistound Actaeon-Geschichte urteilt: „Das Zeugnis, das Ovid in den beiden My­ then der virginitas ausstellt, ist nicht gerade schmeichelhaft.“ (1994; 531) An ihr absolut festzuhalten widerspricht dem Gesetz des Kosmos. Analog bestraft Minerva Medusa auf grausame Weise für die Vergewaltigung, die sie seitens Neptunus’ erlitten hat (4.788 ff.). Es ist beachtlich, wie Ovid Mitleid für eine physisch abstoßende Figur erweckt und dadurch den Glauben an die Gerech­ tigkeit göttlicher Strafen unterminiert. 194 Ebenso in Pseudo-Eratosthenes’ Καταστερισμοί (Versetzungen unter die Sterne) 1.1 (S.1, Z. 7 ff. in der Ausgabe innerhalb der Mythographi Graeci). 195 In der Parallelversion in den Fasti muß die Entdeckung wohl früher geschehen sein; denn vom zehnten Monat nach der Zeugung ist erst nach der Verstoßung die Rede (2.175). Aber auch hier steht die Unschuld Callistos außer Frage (2.178), auch wenn die Verführung nicht beschrieben wird. 193

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Aber es ist nicht bloß die Einführung Dianas, die die übliche Vergewalti­ gungsgeschichte kompliziert. Weil es Diana gibt, kann Jupiter Callisto zwei­ tens auf ganz andere Weise täuschen. Wie schon hervorgehoben, war in der Io-Episode gegenüber der Daphne-Episode neu die Einführung einer List. Doch war diese gegen Juno, nicht gegen Io gerichtet, die ein Opfer reiner Gewalt war. Gegen Callisto ist das Verfahren abgründiger: Jupiter verwandelt sich in Diana, die von Callisto aufrichtig verehrt wird – mehr als Jupiter, wie sie dem lachenden Gott bekennt, der sich darüber freut, sich selbst vorgezo­ gen zu werden („et sibi praeferri se gaudet“, 430). Die Küsse, die er ihr darauf gibt, sind zwar maßlos und nicht von einer Jungfrau zu erwarten,196 aber Cal­ listo begreift noch nicht ihre erotische Natur, denn sie beginnt von ihrer Jagd zu erzählen (431 f.). Diese Stelle ist aus verschiedenen Gründen genau an der richtigen Stelle des Buches angebracht. Apollo hatte auf Daphne nur lange eingeredet (1.504–524), aber sie nicht zu überzeugen vermocht; Jupiter dage­ gen hatte nur etwas mehr als sieben Verse (589–597) zu Io gesprochen, bevor er sie ihrer Jungfräulichkeit beraubte – ein durchaus einseitiger Akt. Wir er­ leben jetzt erstmals den wichtigen Zwischenschritt zwischen werbender Rede und Geschlechtsverkehr, den erotischen Kuß. Der Kuß ist als erotisch freilich nur von Jupiter intendiert; Callisto versteht seine erotische Natur nicht. Man darf vermuten, daß sie schon vorher gelegentlich Küsse mit Diana ausge­ tauscht hat, die ähnlich gemeint waren wie die Umarmungen zwischen Daph­ ne und Penëus, Inachus und Io bzw. Phaethon und Clymene, also nicht ero­ tisch, wenn auch als Ersatzbefriedigung erotischer Triebe.197 Ovid lenkt damit unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß auch im Eros dasselbe äußere Verhalten von unterschiedlichen mentalen Zuständen begleitet sein kann; erstmals taucht zudem das Thema gleichgeschlechtlicher Liebe auf, wenn sie hier auch nur eine Verkleidung ist. Freilich bleibt es nicht lange bei der Un­ klarheit; Jupiter gibt sich zu erkennen und vergewaltigt Callisto trotz ihrer Widerstände.198 Callisto ist dadurch nicht nur ihrer Ehre beraubt; auch ihr Zum Unterschied zwischen nicht-erotischen und erotischen Küssen vgl. schon Am. 2.5.25 ff. 197 Jen H. Oliver (2015), 288 geht weiter und unterstellt eine lesbische Beziehung zwischen Callisto und Diana: „In order to maintain that Jove’s kisses could not possibly resemble those of Diana, one must explain away Callisto’s response, which is certainly not one of terror or hostility.“ Der Text gibt das nicht her, schließt es allerdings auch nicht aus. Meine Interpretation ist vorsichtiger: Man­ gels Erfahrung übersieht Callisto die neue Qualität der Küsse. 198 Nur in der Komödie – nämlich in der Καλλιστώ des Amphis aus dem vierten Jahrhundert – konnte Kallisto auch nach der Schwängerung glauben, nur mit Ar­ temis getändelt zu haben, und dadurch die Göttin besonders verärgern, wie wir in De astronomia 2.1 lesen. 196

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kindliches Vertrauen in die Göttin wird ihr genommen, da sie, als sie ihr wie­ der begegnet, zunächst befürchten muß, es handle sich wieder um den ver­ wandelten Jupiter (443 f.). Zwar gelingt es ihr, sich durch die Anwesenheit der Nymphen davon zu überzeugen, die Gestalt sei wirklich Diana, aber sie wagt es nicht mehr, der Göttin an die Seite zu treten (449 f.), und wird schließlich von ihr verstoßen. Die Täuschung erweist sich deswegen als noch furchtbarer als die bloße Gewalt, weil sie ein Vertrauen zu einem anderen Menschen aus­ nutzt, das durch die in dessen Gestalt erfolgende Vergewaltigung gründlich untergraben wird. Nur in Arachnes Gewebe wird Jupiters Besuch bei Alc­ mene in Amphitryons Gestalt dargestellt (6.112); obgleich in den Metamorphosen Hercules eine große, Alcmene eine kleine Rolle spielt, erzählt Ovid selber die Geschichte nicht, vielleicht weil ihm Plautus’ Tragikomödie Amphitruo zu schlicht war und er für eine Neugestaltung nach Art Heinrich von Kleists noch nicht die Kategorien besaß. Aber Callistos Leiden erinnert an das Alcmenes, die sich einem Manne hingibt, den sie irrtümlicherweise für ihren Gatten hält. Immerhin weiß sie, worauf sie sich einläßt; sie täuscht sich nur hinsichtlich der Person. Die Küsse des in Dianas Gestalt verwandelten Jupiters bereiten dagegen Callistos unerwartete Entjungferung vor. Neu an der Geschichte ist, daß der vergewaltigende Gott, nicht sein Opfer verwandelt wird. Aber damit hat es nicht sein Bewenden. Denn Jupiters Handlung hat nicht nur den Haß Dianas, sondern auch den Junos zur Folge, die Callisto nach der Geburt ihres Sohnes in einen Bären verwandelt. Die Metamorphose ist hier nicht als Rettung vor der Vergewaltigung, wie bei Daphne, oder wenigstens als gutgemeinte Schutzmaßnahme nach der Entjung­ ferung vor der Eifersucht der Ehegattin, wie bei Io, sondern ausdrücklich als Strafe intendiert. Zwar erinnert der vergebliche Versuch Callistos, schutz­ flehend die Hände zu heben und zu sprechen (2.476 ff.), an denjenigen Ios (1.635 ff., 729 ff.), aber bei Io war nur der Prozeß der Rückverwandlung ge­ schildert worden (1.738 ff.), während bei Callisto die Verzerrung ihres liebli­ chen Gesichtes in eine Bärenfratze vorgeführt wird. Io mußte nicht länger, als ihre Schwangerschaft dauerte, leiden, Callisto, verstoßen von Diana, Men­ schen und Tieren, muß 15 Jahre in abgrundtiefer Einsamkeit und Angst war­ ten199 (von der Bedeutung dieser Zahl war schon oben S. 23 f. die Rede), bis sie ihren Sohn Arcas trifft, den sie zu erkennen scheint. Er freilich ist dabei, ohne es zu ahnen die eigene Mutter zu töten, als Jupiter endlich eingreift, Das Leiden Callistos, die von ihrer alten Heimat ebenso wie von der Tierwelt ausgeschlossen ist, wird durch die Anapher „a, quotiens“ 489 und 491 hervorge­ hoben. Die Interjektion „a“ ist aus der Sprache der Elegie übernommen und dem Epos eigentlich fremd; vgl. Peter E. Knox (1986), 31 f.

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beide an den Sternenhimmel versetzt und ihnen damit eine fast an die Apo­ theose grenzende Ehre erweist (2.496 ff.).200 Auf einen grotesken Eifersuchtsanfall Junos (508 ff.), der nach einer weit­ gehend tragischen Geschichte eine komische Einlage darstellt, die in ihrem Humor geradezu an Dickens erinnert, folgen die Geschichten von Corvus, Coronis und Cornix, Tochter des Coroneus. Offenbar sind die semantische (die Namen bedeuten lateinisch bzw. griechisch „Rabe“ bzw. „Krähe“) und die phonetische Ähnlichkeit der Namen gewollt – sprachmalerisch weist sie auf die Ähnlichkeit der Schicksale.201 Auch wenn von Coronis, der Hauptfi­ gur, nicht gesagt wird, sie sei Opfer einer Vergewaltigung durch Apollo gewe­ sen, deutet doch ihre Liebschaft mit einem thessalischen Jüngling darauf hin, daß sie für Apollo nicht viel empfand. Ob sie seiner Gewalt oder seinem über­ mächtigen Drängen nachgab, ist letztlich irrelevant; denn daß Apollo zur Ge­ walt neigt, wissen wir schon und werden es gleich bestätigt finden. Der Jüng­ ling bleibt ungenannt, und wir hören nur, daß sie beieinander lagen (658 f.) – aber zum ersten Male im Werke tritt die Möglichkeit auf, daß auch Frauen lieben und nicht nur geliebt werden, ein Thema, das noch zu ganz anderer Ausführung gelangen wird. Erstmals erlebt ein Mann (und zwar ein Gott!), daß eine Frau ihm einen anderen (und zwar einen Sterblichen!) vorzieht – Ei­ fersucht ist nun nicht mehr auf Juno beschränkt. Allerdings wendet sich Apol­ lo, anders als Juno, nicht gegen den Konkurrenten, sondern tötet Coronis, als ihm ihre Liebschaft vom damals noch weißen Raben, Corvus, zugetragen wird. Der Unterschied im Verhalten liegt sicher darin begründet, daß Juno sich nicht an Jupiter, sondern nur an dessen Geliebten rächen kann und daß in der Antike der Treuebruch der Frau als viel ernsthaftere Beleidigung galt als Heinze hat (1919; 387 f.) plausibel gemacht, warum die tragische Gefährdung von Ovid stammen muß. Allein der schon antike Name des Bärenhüters, also des Sternbilds nahe beim Großen Bären, griechisch Ἀρκτοφύλαξ, deute darauf hin, daß es sich ursprünglich nicht um den Sohn, sondern den Wächter des Tieres han­ delte, und von der offenkundigen Bedeutung des Namens wären hellenistische Dichter schwerlich abgewichen. 201 Das ist einer der wenigen Fälle, in denen Frederick Ahl mit seiner Analyse über­ zeugt: „We probably sense … a confusion of syllables verging on chaos, suitably centered on the CORvine COR sound.“ (1985; 198) Der Laut wird wiederholt in „cornibus“ (2.603), „corpore“ (606), „corpus“ (611), „corde“ (622). Im Engli­ schen wird das Krächzen der Krähen, deren deutscher Name vermutlich ebenfalls lautmalerischen Ursprung ist, „caw“ genannt. Aber Ahl übertreibt (auch sonst in seinem Buch), wenn er z. B. bei „color“ („Farbe“, 541) die Assoziation „olor“ („Schwan“) hat (197). Denn Ovid bezieht sich auf den Schwan 539 mit „cygno“, obwohl „olori“ metrisch möglich wäre; er selber hat also keine solche Assoziation herstellen wollen. 200

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derjenige des Mannes. Apollos erste Reaktion beim Vernehmen der Nach­ richt, das Fallen des Lorbeers von seinem Haupt (600), knüpft die Episode an seine erste unglückliche Liebe, und die Syllepse „et pariter vultusque deo plectrumque colorque/ excidit“ („und mit dem Schlägel verliert die Farbe zu­ gleich und die heitre/ Miene der Gott“, 601 f.) deutet sprachmalerisch die Ver­ wirrung Apollos an. Doch bereut er die voreilige Tötung, rettet das Kind, Aesculapius, der im 15. Buch so wichtig werden wird, aus dem Mutterleibe (damit das Semele-Bacchus-Motiv antizipierend), haßt sich, weil er seinem Zorn nachgegeben hat, und verabscheut den Zuträger, den er in einen schwar­ zen Raben verwandelt. Dieser war auf dem Weg zu Apollo von Cornix, der Krähe, umsonst ge­ warnt worden (549 ff.), die aufgrund ihrer eigenen Petzerei aus dem Gefolge Minervas verbannt worden war – sie hatte ihrer Herrin erzählt, Aglauros habe die Kiste mit dem ohne Mutter entstandenen Erichthonius geöffnet. Offenbar sind die Geschichten durch das Zuträgermotiv verknüpft, das 5.538 ff. mit der Ascalaphus-Geschichte noch einmal anklingen wird. Daß Ovid diesen Men­ schentypus verachtet, ist schon aus den Amores bekannt: „Quis minor est autem quam tacuisse labor?“ („Welche Arbeit ist geringer als die, den Mund gehalten zu haben?“, 2.2.28)202 Man beachte, daß, ganz wie im Fall der Ar­ gus-Geschichte, auch hier die Indirektheit der Erzählung eine Variation des gleichen Themas darstellt, das damit auch inhaltlich einen neuen Akzent er­ hält: Corvus unterscheidet sich von Coronis gerade dadurch, daß er einen klugen Rat bekommt und ausschlägt; er verdient somit weniger Mitleid. Und man bemerke, daß diese Form der Variation von derjenigen am Ende des er­ sten Buches abweicht. Das zeigt sich darin, daß die Corvus von Cornix er­ zählte Geschichte seinem eigenen Verhalten analog ist und daß der Zweck der Erzählung ihm offen mitgeteilt wird – beides trifft nicht auf die Situation zu, in der Mercurius Argus mit der Syrinx-Erzählung einschläfert. Es handelt sich also um eine Variation der Variierung von direkter zu indirekter Rede, um eine Variation zweiter Stufe. Die Kunstfertigkeit, die sich unter der Leich­ tigkeit von Ovids scheinbarem Plauderton verbirgt, ist immer wieder über­ wältigend. Die Elegie betont, der Zuträger von Treuebruch mache sich auch bei dem Infor­ mierten nicht beliebt (2.2.47 ff.). Der Vers „unde uir incestum scire coactus erat“ („von dem der Mann gezwungen wurde, die Unzucht zu erfahren“, 48) wirkt wei­ ter – oder wird vielleicht sogar bewußt zitiert – M. 2.615 „scire coactus erat“. Dieselbe Elegie nennt auch den „custos Iunionius“, also Argus, mit Antipathie, denn schon in den Amores erscheinen mythische Figuren als Repräsentanten typi­ scher erotischer Situationen. Ovid mag die Zuträgerin erst recht nicht, wenn es die eigene Geliebte ist, die über ihre Untreue berichtet (Am. 3.14.1 ff.).

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Cornix erzählt Corvus auch, wie sie, als Königstochter geboren, zu ihrer Krä­ hengestalt gekommen sei. Neptunus habe ihr wegen ihrer Schönheit nachge­ stellt, über die sie deswegen klagt („forma mihi nocuit“/ „Schönheit war mir Verderb“, 572), und als sie Menschen und Himmlische um Hilfe angefleht habe, habe ihr Minerva geholfen, indem sie sie in einen Vogel verwandelt habe (was ihr eine mobilere und bewußtere Form von Existenz gewährt als die Lorbeergestalt Daphne). „Mota est pro virgine virgo“ („Für die Jungfrau sorgte die Jungfrau“, 579). Verglichen mit der anderen Jungfrau unter den olympischen Göttinnen, deren Mangel an Empathie gegenüber Callisto Ovid kurz vorher vorgeführt hatte, ist diese zwischen Frauen geübte Solidarität ohne Zweifel ein bedeutsamer Fortschritt, und für ihre spätere Verstoßung trägt Cornix, anders als Callisto, selber die Verantwortung. Aber auch die Apollo-Coronis-Geschichte (die zusammen mit der Daphne-Erzählung zwei Liebesgeschichten Jupiters ringkompositorisch einrahmt) enthält manche subtile moralische Neuerung. Auch wenn hier erstmals ein Mann eine Frau, die ihm untreu geworden ist, tötet, wird Coronis mit einer gewissen Sympa­ thie geschildert – ganz anders als in zu Beginn von Pindars dritter pythischer Ode. Dort ist Koronis nicht nur treulos, sondern, was Pindar besonders miß­ billigt, sogar an einem Mann aus einem fremden Stamm interessiert (19); Apollo weiß, was vor sich geht, auch ohne Hilfe eines Raben (27); er schickt Artemis, die nicht nur Koronis, sondern auch viele andere tötet – so wie ein Feuerfunken einen ganzen Wald vernichtet (36 f.); und er selbst rettet auf ei­ genen Antrieb die Leibesfrucht (40 ff.). Zu einem Austausch zwischen ihm und seiner Geliebten kommt es nicht, und weder er noch Pindar haben irgend­ welche Zweifel an der Gerechtigkeit seiner Rache. Es ist bei Ovid dagegen Coronis, die Apollo suggeriert, das ungeborene Kind zu retten, indem sie ihm sagt, er hätte sie auch nach der Geburt strafen können – „duo nunc moriemur in una“ („Zwei sterben dir nun in der einen“, 609).203 Es sind diese Worte, die Apollos tätige Reue und die Rettung des Aesculapius auslösen, von dem Apollo im Grunde gar nicht wissen kann, ob er wirklich von ihm stammt. Die Verwerfung der Abtreibung in den Amores wird hier vertieft durch eine posi­ tive Verantwortung für ungeborenes Leben. Und Apollo straft Corvus wegen seiner Zuträgerei, die ihn zu einer unüberlegten Handlung hingerissen habe, während er ihn bei Hyginus umgekehrt deswegen bestraft, weil er seiner Auf­ gabe als Aufpasser, die er ihm nach der Schwängerung der Coronis auferlegt hatte, nicht gerecht geworden war.204 Ovid sieht einen moralischen Fortschritt Man kontrastiere Am. 2.13.15: „in una parce duobus“ („in einer Person schone zwei“); denn hier geht es um die Rettung von Ovid zusammen mit der wegen einer Abtreibung in Lebensgefahr schwebenden Corinna. 204  Fabulae 202. In Apollodoros’ Βιβλιοθήκη (Bibliothek) wird dagegen wie bei 203

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offenbar darin, daß man Ehebrecherinnen nicht mehr tötet, Frauen keine Auf­ passer an die Seite setzt und Zuträgereien nicht belohnt. Die kurzen Episoden von der Metamorphose der Aesculapius’ ruhmrei­ ches und zugleich problematisches Schicksal vorhersagenden, doch wegen ihres Vorhersagens der Zukunft in eine Stute verwandelten Kentaurin Ocy­ roe, der Tochter Chirons, und von der Bestrafung des Battus durch Mercurius, dem jener Schweigen hinsichtlich seines Rinderraubs versprochen, doch das Versprechen sogleich gebrochen hatte, als der Gott in verwandelter Gestalt zurückkehrte, dienen der Abwechslung. Immerhin ist das Thema der Prophe­ zeiung in den vorangehenden Geschichten schon zweimal angestimmt wor­ den (550, 597)205 und wird im dritten Buch mit Tiresias an Bedeutung zuneh­ men; zudem kann unerlaubte Prophezeiung leicht subsumiert werden unter das Verraten eines Geheimnisses, das so viele Geschichten des zweiten Bu­ ches charakterisiert.206 Auf die beiden Prophezeiungen zum eben geborenen Sohne Apollos und zum eigenen Vater wird noch einzugehen sein (S. 247 f. und S. 207); verknüpft sind sie durch den Übergang von der Sterblichkeit zur Unsterblichkeit und umgekehrt. Die Battus-Geschichte dagegen beginnt die Reihe der Rache der Götter an Menschen, die sie nicht als solche erkennen (bisher diente ihre Tarnung ausschließlich erotischen Motiven; und Lycaon hatte nur Zweifel an der Identität Jupiters). Ja, Mercurius’ zweifaches „me mihi … prodis?“ („mich verrätst du an mich?“, 704 f.) spiegelt Jupiters „sibi praeferri se gaudet“ („er freut sich darüber, sich selbst vorgezogen zu wer­ den“) und antizipiert das „quid me mihi detrahis?“ („Warum entziehst du mich mir selbst?“, 6.385) des Marsyas. Im Falle Jupiters und Mercurius’ er­ weist sich die Wendung gegen den Gott als machtlos, auf den man unweiger­ lich zurückfällt; im Falle des Marsyas liegt dagegen eine höchst schmerzliche Selbstspaltung vor, weil keine Übergabe, sondern eine Wegnahme vorliegt. Der Strom der Erzählung kehrt zu Aglauros zurück, die herausfindet, Mercurius liebe ihre Schwester Herse. Sie will ihm, der trotz seiner göttlichen Gestalt sich besonders hübsch macht (731 ff.), Zutritt zur geliebten Herse nur gegen Gold gestatten. Das mißfällt Minerva, die ihr schon wegen der Öffnung der Kiste mit Erichthonius grollte, und sie beschließt, sie dadurch zu vernich­ ten, daß sie sie von Neidregungen befallen werden läßt. Das geschieht auf­ Ovid der Rabe wegen der Nachricht, die er überbringt, verflucht (3.10.3.7). An­ ders als bei Ovid ist es in Pausanias’ Ἑλλάδος Περιήγησις (Beschreibung Griechenlands) (2.26.6) Hermes, der Asklepios rettet. 205 Vgl. Keith (1992), 67. 206 Darauf weist zu Recht John Heath (1994), 348 ff. Ebenfalls überzeugend ist seine Verknüpfung der Episode mit Achilles’ prophezeiendem Pferd Xanthos Ilias 19.404 ff.

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grund von Minervas Besuch bei der personifizierten Invidia (760 ff.), der er­ sten einer Reihe von Allegorien im Werke.207 Aus Neid verweigert nun Aglauros dem Gott den Zutritt zu ihrer Schwester, der sie deswegen verstei­ nert. Zweierlei ist an der Geschichte wichtig. Erstens wird der Neid Aglauros von außen eingeflößt, aber er ist die Strafe für ihre Neugierde und Habgier. Damit ist sicher suggeriert, beide Laster trügen zum Neid bei – eine These, die psychologisch nicht uplausibel ist. Aus Neid erwägt dann Aglauros, ihre Schwester beim Vater zu verraten (813) Zweitens führt Ovid hier die Kategorie des erotischen Neids ein, den er offenkundig von der Eifersucht unterscheidet, und zwar zu Recht, auch wenn beide oft verwechselt werden. Aber schon Ari­ stoteles unterscheidet im zweiten Buch seiner Τέχνη ῥητορική (Rhetorik) zwischen φθόνος und ζῆλος. Wer die entsprechenden Definitionen 1387b22 ff. und 1388a30 ff. vergleicht, sieht sofort, was den Unterschied ausmacht: Bei der Eifersucht geht es um Dinge, die man selber besitzen möchte, bei dem Neid dagegen geht es darum, dem anderen etwas nicht zu gönnen, an dem man selbst gar nicht interessiert ist (μὴ ἵνα τι αὑτῷ, ἀλλὰ δι᾽ ἐκείνους). Eifersüch­ tig ist Juno z. B. auf Io und Apollo auf den ungenannten thessalischen Jüng­ ling, weil jene Jupiter, dieser Coronis ganz für sich haben möchte. Aber Aglauros ist an Mercurius überhaupt nicht interessiert. Was sie stört, ist das potentielle Glück ihrer Schwester: „Felicisque bonis non lenius uritur Her­ ses“ („Nicht sanfter brennt in ihr das Glück der begünstigten Herse“, 809). Das ist Neid, nicht Eifersucht, und eine Funktion der Allegorie ist sicher zu zeigen, daß er viel schlimmer ist als die halbwegs natürliche Reaktion der Eifersucht. Das zweite Buch endet mit der Entführung der phönizischen Prinzessin Europa, ein Vorgang, der im dritten Buch die Suche ihres Bruders Cadmus nach ihr auslöst, die zur Gründung Thebens führen wird, der mythenreichsten Stadt Griechenlands. (Denn anders als Athen und Sparta war Theben, schon seit frühhelladischer Zeit besiedelt, in mykenischer Zeit ein wichtiges Zen­ trum.) Was ist neu an dieser nur angedeuteten Vergewaltigungsgeschichte, die dort abbricht, wo der Stier mit dem Mädchen auf dem Rücken ins Wasser steigt?208 Drei Aspekte scheinen mir wichtig. Erstens handelt Jupiter nicht Die drei anderen sind Fames, der Hunger (8.788 ff.), Fama, das Gerücht (9.137 ff.), und Somnus, der Schlaf (11.592 ff.). Die Fama wird nur sehr kurz skizziert, da Vergil sie schon ausführlich vorgestellt hatte (Aen. 4.173 ff.). Siehe auch Aen. 5.838 ff. zu Somnus. Eventuell mag man noch die Furien Allecto (Aen. 7.341 ff.) und Tisiphone (M. 4.432 ff.) anführen, wobei die weitgehende Identität des Verses 4.440 mit 8.835 wohl eine gewollte Brücke zur Behandlung der Fames schlägt. Zu Vergils und Ovids Allegorien vgl. Dunstan M. Lowe (2008). 208 In der Version der Fasti dagegen wird der Vollzug der Vergewaltigung kurz be­ nannt (5.617). Bei Horaz wird Europas Klage nach ihrer Schändung ausführlich wiedergegeben (Carmina 3.27.34 ff.). 207

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alleine, sondern bedarf der Hilfe des Mercurius (dem er allerdings nicht be­ kennt, worum es ihm geht: 836). Das hat damit zu tun, daß er sich zweitens selbst in ein Tier verwandelt – bisher waren es die Opfer göttlicher Vergewal­ tigungen, denen dies zuteil wurde, denn Callisto gegenüber hatte sich Jupiter nur in eine andere Gottheit umgestaltet. Und drittens scheint Europa den Stier zu mögen – sie umkränzt seine Hörner und besteigt ihn von selbst (866 ff.). Es fällt schwer, den Text nicht so zu lesen, daß hier das Mädchen am männlichen Tiere erotische Rollen spielerisch übt, von denen sie natürlich nicht weiß, daß sie bald Ernst werden sollen. Das setzt einerseits das Motiv der ihre Väter leidenschaftlich umfangenden Töchter fort und deutet wohl auf eine größere Empfänglichkeit Europas für den göttlichen Liebhaber, zumal da sich die Ab­ wehrhaltung dem Vergewaltiger gegenüber hier aufgrund des Abbruchs der Erzählung auf ein „pavet“ („sie ängstigt sich“, 873) reduziert (aufgrund des Meeres sind sowieso alle Fluchtmöglichkeiten versperrt). Andererseits kann die Lieblichkeit der Szene nicht darüber hinwegtäuschen, daß die pathologi­ sche Liebe von Europas Schwiegertochter Pasiphae zu einem Stier vorbereitet werden soll, bei der freilich männliches Begehren durch weibliches ersetzt werden wird. Ovids große Kunst besteht darin, daß die Einzelszenen zwar für sich genossen werden können, aber doch wie in einer Symphonie ihren wohl­ bestimmten Ort im Ganzen des Werkes haben, auf dessen andere Teile sie zurück- und vorverweisen.

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 etamorphosen, Buch 3. Die Selbstzerstörung der reinen Männerwelt: M Die Drachensaat Thebens. Weibliche Prüderie und Lieblosigkeit: Diana und Actaeon. Selbstzerstörung durch Begierde nach göttlichem Sex: Semele. Männliche und weibliche Lust: Tiresias. Interne Hinder­ nisse symmetrischer Liebe: Erotische Begierde ohne eigenes Selbst und Verliebtheit in das eigene Abbild. Platonismus und Antiplatonis­ mus in der Narcissus-Echo-Episode. Warum ist Ovids Pentheus so anders als derjenige des Euripides?

Die Suche nach der Schwester führt Cadmus nach Böotien, wo er einen Dra­ chen erschlägt, der einige Gefährten getötet hatte – sein Sieg verdankt sich anders als derjenige Iasons noch keiner weiblichen Hilfe. Auf Minervas Ge­ heiß (101 ff.) sät er dessen Zähne in die Erde, aus denen die zukünftigen Be­ wohner Thebens erwachsen sollen, und pflügt sie. Man beachte den Unter­ schied zu Deucalion und Pyrrha, die zusammen ihre Steine warfen, die deswegen zu Menschen beiderlei Geschlechts wurden. Nur bewaffnete männ­ liche Krieger erstehen dagegen aus der Drachensaat, und diese beginnen da­ mit, einander niederzumetzeln. Cadmus wird aufgefordert, sich nicht in deren „Bürgerkriege“ („civilibus … bellis“) einzumischen.209 „Atque ita terrigenis rigido de fratribus unum/ comminus ense ferit; iaculo cadit eminus ipse./ hunc quoque qui leto dederat, non longius illo/ vivit et expirat, modo quas acceperat, auras.“ („Und nahgehend durchbohrt er der erdentsprossenen Brü­ der/ Einen mit starrendem Schwert. Selbst fällt ihn ein Spieß aus der Ferne./ Der auch, welcher den Tod ihm sendete, scheidet vom Leben/ Ebenso bald und verhaucht den eben empfangenen Atem“, 118 ff.). Die menschliche Erfin­ dungskraft bei der Herstellung von Waffen – Nah- und Fernwaffen werden deutlich unterschieden – kontrastiert mit der Kurzlebigkeit einer allein von Aggression bestimmten Kultur, die sich unweigerlich selber vernichten muß. Erinnerungen an die langen Jahrzehnte des römischen Bürgerkrieges regen sich. Nur die letzten fünf Erdentsprossenen legen die Waffen nieder, schlie­ ßen Frieden und überleben. Offenkundig ist damit die Botschaft verbunden, eine reine Männerwelt sei kurzlebig; nur durch ein Miteinander der Ge­ schlechter, für das Cadmus’ Heirat mit Harmonia steht, der Tochter von Mars und Venus (132 f.), seien stabiles menschliches Zusammenleben und Kultur möglich. Symmetrisch zu dieser reinen Männerwelt kehrt Ovid mit der Ge­ schichte des Cadmus-Enkels Actaeon zur reinen Frauenwelt des Diana-Ge­ folges zurück, und auch diese erweist sich als mörderisch. Das ist anders bei Iasons Abenteuer, da die aus den Schlangenzähnen Erwachse­ nen sich zunächst gegen ihn wenden und erst durch Medeas Zauberei einander niederzumetzeln beginnen (7.130 ff.).

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Ovids Schilderung Actaeons und seines Endes, bei der sich der Dichter in einer Apostrophe an Cadmus wendet (138), ohne daß jedoch eine intradiege­ tische Erzählung vorliegt, ist ambivalent. Denn einerseits wird die Jagdlust des Prinzen als direkte Fortsetzung der Bluttaten der eben genannten Drachen­ saat dargestellt (143, 148) – Pythagoras’ spätere Anklage gegen den Fleisch­ konsum schwingt schon mit. Auch Actaeons triumphierender Satz „fortu­ namque dies habuit satis“ („und Glück brachte der Tag uns genug“, 149) erinnert an den bei Herodot (Ἱστορίαι (Historien) 1.32.9) beschriebenen Hochmut Kroisos’ und Solons weise Bemerkung, niemand solle vor seinem Tode glücklich gepriesen werden, was Ovid gerade mit Bezug auf Cadmus ausgesprochen hatte (136 f.). Actaeons Verwandlung aus einem Jäger in einen Gejagten, dem dasselbe widerfährt, was er anderen Lebewesen angetan hat, 210 erscheint damit als nicht an sich selbst ungerecht. Denn er würde selber gerne die wilden Aktionen seiner Hunde betrachten, nur nicht empfinden, was sich nun gegen ihn richtet: „velletque videre,/ non etiam sentire canum fera facta suorum.“ (247 f.) Und doch entspringt Dianas’ Fluch nicht der Liebe zu den Tieren – denn sie selber ist eine Jägerin. Actaeons unabsichtliches Erblicken der zum Bad entkleideten Göttin – in Wahrheit nur ihres Hauptes, da der Rest des Körpers von den um sie gescharten, ebenfalls nackten Nymphen verdeckt wird – bedeutet sein Todesurteil. Der Gegensatz zwischen der anmutigen Na­ turgrotte mit ihrem Quell und der wie eine reiche Römerin rokokohaft ihr Bad betretenden Göttin auf der einen und dem Zerfetztwerden des der Spra­ che, aber keineswegs des menschlichen Empfindens beraubten Hirsches auf der anderen Seite, und zwar durch die Meute seiner eigenen Hunde, die in epischer Ausführlichkeit mit sprechenden Namen einzeln genannt werden,211 ihn jedoch trotz ihrer eigenen Individualität und all seiner vergeblichen Versu­ che, sich zu erkennen zu geben, nicht als Actaeon zu erfassen vermögen (230), ist herzzerreißend.212 Jürgen Paul Schwindt hat sehr schön den Kontrast zwi­ schen der epischen Freude an der Benennung der vielen Hunde, die als Kollek­ tiv zusammenwirken, und der Einsamkeit ihres Opfers herausgearbeitet. „Der Jäger ist es, der den Hunden die Namen gegeben hat. Er ist die Kraft, die So schon 2.492 zu Callisto: „Venatrixque metu venantum territa fugit!“ („Floh sie dahin voll Angst, die Jägerin bang vor den Jägern“) Angelegt ist das bei Vergil, der nach vielen Vergleichen des Turnus mit einem Raubtier (siehe oben Anm. 169) ihn am Ende mit einem gejagten Hirschen vergleicht (12.749 ff.). 211 206–224 entspricht der allerdings viel kürzeren Nennung der fünf Dienerinnen Dia­ nas 171 f. Deren „Namenreihe vergegenwärtigt das Element Wasser unter wechseln­ den Aspekten zwischen Formlosigkeit und Form, Trübe und Klarheit.“ (Albrecht (2014), 106) Ovid ist vermutlich von den Namen der Nereiden in He­siods Theogonie 240 ff. inspiriert, die Eigenschaften des Meeres hervortreten lassen. 212 Siehe dazu Graf (1994), 34 f. 210

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machte, daß man an den Hunden die ganze Welt der Jagd erkennen könnte. … Er ist es jetzt, den die Hunde im Ansturm verfolgen. Er ist herausgefallen aus der Organisation, die er selbst eingerichtet hat.“ (93) Man mag dies meta­ poetisch lesen – was den einzelnen überlebt, sind die Namen, die er gestiftet hat. Sicher ist der Anblick der Gottheit, der in der gefährlichen Mittagsstunde geschieht (145),213 ein sakrales Vergehen. Das Thema wurde schon angespro­ chen, als Cadmus den von ihm getöteten Drachen betrachtete und eine Stim­ me ihm darauf verhieß, zur Strafe dafür werde er selber in eine Schlange verwandelt werden (95 ff; die Erfüllung folgt 4.569 ff.). Doch Ovid läßt auf­ grund seines Festhaltens an einer intentionalistischen Ethik keine Zweifel an der Unverhältnismäßigkeit von Dianas Strafe aufkommen.214 Denn nur die Tücke des Zufalls, nicht ein Verbrechen habe Actaeon zur Grotte geführt (141 f.), hieß es schon einleitend in direkter Anrede des Lesers, und abschlie­ ßend werden die unterschiedlichen Bewertungen referiert. „Aliis violentior aequo/ visa dea est, alii laudant dignamque severa/ virginitate vocant; pars invenit utraque causas.“ („Über das gerechte Maß hinaus gewalttätig scheint manchen Diana,/ Andere nennen ihr Tun der streng jungfräulichen Sitte/ Würdig und zollen ihr Lob. Grund finden so diese wie jene“, 253 ff.) Auf wel­ cher Seite Ovid steht, wird zwar nicht ausgesprochen, aber es ergibt sich aus dem, was oben zur Callisto-Episode gesagt wurde. In beiden Fällen erweist sich Diana als jeder Empathie bar; Entschuldigungsgründe für die ungewollte Profanierung des Sakralen kommen ihr nicht in den Sinn. Ihre Prüderie geht Hand in Hand mit Lieblosigkeit, ja, Grausamkeit – befriedigt wird sie nur durch den entsetzlichen Tod Actaeons (251 f.). Daß Ovid sich in den Tristia (2.105) selbst mit dem „inscius Actaeon“, dem „unwissenden Actaeon“, ver­ gleicht, macht vollends klar, wo seine Sympathien liegen. Das unterscheidet ihn von Kallimachos, der die Aktaion-Geschichte ohne jede Kritik an Arte­ mis berichtet (Hymnen 5.107 ff.), obwohl auch er die Unschuld Aktaions be­ tont (113). Kallimachos hat dadurch allerdings mit der Tradition gebrochen, die Aktaion als bewußten Frevler darstellt, so etwa Euripides in den Βάκχαι (Bakchen) – denen Ovid am Ende dieses dritten Buches in der Pentheus-Episo­ de folgt –, wo wir Kadmos das Schicksal seines Enkels beklagen, aber zugleich sagen hören, dieser habe sich gerühmt, bei der Jagd besser als Artemis zu sein (337 ff.).215 Man sieht hieraus erneut, wie selektiv Ovid mit seinen Quellen Vgl. F.  4.761 f. So zu Recht Bretzigheimer (530). 215 Diodor nennt in der Βιβλιοθήκη ἱστορική (Historische Bibliothek) neben dieser Motivation für die Strafe die weitere, Aktaion habe Artemis heiraten und die Ehe in ihrem Tempel vollziehen wollen (4.81.3–5). Siehe zu den frühen Behandlungen des Mythos den gelehrten Aufsatz von Schmitzer (2001). 213 214

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umgeht – er hat es wohlweislich vermieden, die Actaeon-Geschichte als Va­ riante der Arachne-Geschichte zu erzählen. Actaeon gegenüber ist Diana noch viel verderblicher als Callisto gegenüber. Denn diese wird nur verbannt; ihre Verwandlung geht ja auf Juno zurück, und selbst diese macht Callisto mit der Bärengestalt weniger verletzlich als Diana mit der Hirschengestalt Ac­ taeon. Auffallend ist freilich, daß hier zum ersten Mal eine Frau auf einen Mann entschieden reagiert. Bisher waren Frauen nur Objekte der Begierde (vielleicht mit der Ausnahme von Coronis), und wenn sie wie Juno aus Eifer­ sucht handelten, richtete sich ihre Rache gegen die Geliebten des Mannes, nicht diesen selber. Dianas Reaktion ist zwar das Gegenteil von Liebe, aber sie ist immerhin eine Reaktion auf einen Mann. Diese aus einer rächenden in eine liebende umzuformen ist Aufgabe der folgenden Bücher. Vorher aber behandelt Ovid eine Geschichte, die sich in der Oberflächen­ struktur natürlich anschließt, weil es sich um die Geburt eines anderen Cad­ musenkels, Bacchus’, handelt, die aber auch sachlich innig mit dem Actaeon­ mythos verknüpft ist. Denn auch hier geht es darum, daß ein Mensch einer Gottheit zu nahe kommt und dadurch vernichtet wird. Gleichzeitig findet eine Spiegelung an verschiedenen Achsen statt. Denn diesmal ist es erstens eine Frau, die einen Gott näher kennenlernt, als ihr guttut, nicht ein Mann eine Göttin; zweitens ist die Begegnung gewollt, kein Versehen (und Junos Wille zu schaden ist Teil eines Plans, keine Reaktion des Zornes wie bei Diana); drittens handelt es sich bei der Begegnung um von der Frau gewollte sexuelle Intimität, also das Gegenteil jungfräulicher Prüderie. Die Semele-Geschichte wiederholt ferner verschiedene Züge der Phaethon-Geschichte. Denn auch Semele erbittet sich etwas, was ihre Kräfte übersteigt, und läßt sich wie Phaethon die Gewährung einer Bitte zugestehen, bevor sie diese konkret be­ nennt (288 ff.). Damit sind Jupiter, wie früher Sol, die Hände gebunden, auch wenn er noch klarer als dieser weiß, daß die Erfüllung der Bitte verhängnis­ voll sein wird. Auch in der Motivation der zerstörerischen Bitte ist der Paral­ lelismus auffällig. Der konkrete Anlaß zur Bitte war im Falle Phaethons der Zweifel an seiner Sohnschaft, den Epaphus geäußert hatte; doch hat dieser dessen Konsequenz weder vorhergesehen noch gewollt. Semeles Bitte wird ihr dagegen ausdrücklich von der als ihre alte Amme auftretenden, eifersüch­ tigen Juno mit der Absicht suggeriert, sie zu vernichten. Auch diese teilt Se­ mele ihre angeblichen Zweifel daran mit, ob ihr Liebhaber wirklich Jupiter sei; nur wenn sie Jupiter sexuell so erlebe, wie er Juno gegenüber aktiv sei, könne sie sich sicher sein (283 ff., 293 ff.). Eine neue Wendung der Grausam­ keit ist es, daß Juno Semele nicht einfach tötet, sondern sie, ohne daß sie es weiß, um ihren eigenen Untergang bitten läßt, und zwar durch ihren eigenen Liebhaber. Im Vergleich zu Vergils Juno, schreibt Philip Hardie, „Ovid’s Juno works a more satisfying revenge, by tricking Jupiter himself into using his

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thunderbolt on his mistress“ (1990; 232).216 Für ihre beinahe erfolgte Tötung durch Arcas war dagegen Callisto nicht selber verantwortlich. Semele wird die sexuelle Begegnung nicht überleben, die passiver Art ist, während Phaethon den Sonnenwagen aktiv lenken wollte – der unterschiedliche Tod entspricht dem Unterschied der Geschlechter.217 Man kann sich zwar fragen, ob Ovid bei Semeles Wunsch, Jupiter in seiner ganzen Macht sexuell zu er­ fahren, jene Form von Sexualtrieb im Auge hatte, der sexuelle Lust durch physische Schmerzen und Unterwerfung zu steigern sucht, also den Maso­ chismus, aber der Text gibt das nicht her. Wie Apollo Aesculapius, kann Jupi­ ter den Sohn aus der toten Mutter retten, wodurch die erstaunliche göttliche Karriere Bacchus’ ermöglicht wird. Man kann nur die Kunst bestaunen, mit der Ovid in der Semele-­Episode Variationen der Phaethon-, Coronis- und Ac­ taeonmythen zu einer in sich plausiblen Geschichte zusammenführt und da­ mit die Einheit seines Werkes bestätigt. Zu Recht knüpft an Semeles Wunsch, den Orgasmus einer Göttin zu erle­ ben, die kurze „lis iocosa“ (332),218 der scherzhafte Streit Jupiters und Junos darüber an, ob die Frauen beim Geschlechtsverkehr mehr Lust empfänden als die Männer, was Jupiter behauptet und Juno bestreitet. Unterstellt ist sicher, daß Jupiters These einen Entschuldigungsgrund für seine häufigen Eskapa­ den bieten soll. Interpersonelle Lustvergleiche sind allerdings schwierig, da man Fremdseelisches nicht direkt erleben kann, und deswegen wendet sich das hohe Paar an Tiresias, der aufgrund der Berührung zweier kopulierender Schlangen mit seinem Stab zweimal sein Geschlecht umgewandelt hat – ein Thema, das am Ende des neunten Buches vertieft wiederkehren wird. Tiresias bestätigt Jupiters Vermutung und wird deswegen von Juno mit Blindheit ge­ schlagen, von Jupiter jedoch mit der Gabe des Voraussehens der Zukunft be­ lohnt, die Ocyroe dagegen zum Verhängnis geworden war. Man beachte, daß Ovids Tiresias wohlweislich die genaue quantitative Angabe vermeidet, die ihm seit der Hesiod zugeschriebenen Μελαμποδία (Melampodie) in den Mund gelegt wird: 90% der Lust fielen auf die Frau, 10% auf den Mann.219 Hardie zeigt in seinem Aufsatz die auffallenden Parallelen zwischen den beiden dem thebanischen Sagenkreis gewidmeten Büchern der Metamorphosen und der Aeneis. Insbesondere vergleicht er die beiden Eingriffe Junos Aeneis 1.34 ff. und 7.286 ff. mit den beiden Monologen M. 3.256 ff. und 4.420 ff. 217 Auf sublime Weise hat Dante im Paradiso die vernichtende sexuelle Begegnung mit dem heidnischen Gott in eine positive der Erkenntnis des christlichen Gottes transformiert, auch wenn zu Beginn ihn Beatrice vor Semeles Schicksal warnt (21.4 ff.). Vgl. Kevin Brownlee (1991). 218 Der Terminus zur Kennzeichnung dieses Streits kehrt wieder Ib. 261. 219 Vgl. Frg. 162 (190) Rzach, wo u. a. Apollodoros 3.6.7.4. angeführt ist. 216

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Die Tiresias-Episode paßt auch deswegen in den Zusammenhang, weil die nächste Geschichte zum ersten Mal ein von einer Frau ausgehendes positives Interesse an einem Mann darstellt. (Denn man hat keinen Grund anzuneh­ men, Semele habe sich von sich aus Jupiter genähert.) Man hat fast zweiein­ halb Bücher darauf warten müssen, doch nach der Erwähnung weiblicher Lust ist weibliche Begierde ein naheliegendes Thema. Allerdings wird dieses Begehren nicht nur unerfüllt bleiben, wie es so vielen anderen bestimmt ist, denn diesmal hat der männliche Pol Züge Dianas; es wird nicht einmal die Gelegenheit erhalten, sich zu artikulieren. Zwar ist die Nymphe Echo, anders als Io, Callisto, Actaeon, nicht durch die Verwandlung in ein Tier der Sprache beraubt worden. Aber als sie merkte, Echo habe sie immer wieder absichtlich in ein Gespräch verwickelt, um den Nymphen Gelegenheit zur Flucht zu ge­ ben, mit denen Jupiter gerade verkehrt hatte, hat Juno sie dazu verflucht, nur die letzten Worte, die zu ihr gesprochen werden, wiederholen zu können – als Echo eben. Sie ist die erste Frau, von deren Liebesleidenschaft die Metamorphosen erzählen. Es ist der Sohn der Nymphe Liriope und des sie vergewalti­ genden Flußgottes Cephisos, Narcissus, in den sie sich verliebt. Die Verknüp­ fung der Narcissus- mit der Echogeschichte findet sich nicht im 24. Kapitel der Διηγήσεις von Ovids Zeitgenossen Konon, der Narkissos’ Schicksal auf die Zurückweisung eines männlichen Verehrers, Ameinias’, zurückführt, den Narkissos provozierenderweise sogar zum Selbstmord aufgefordert habe, in­ dem er ihm ein Schwert übersandte; dieser habe sich damit vor Narkissos’ Türe getötet, doch nicht ohne vorher den Jüngling zu verfluchen. Nachdem er sich ausweglos in sich selbst verliebt habe, habe Narkissos unter Anerken­ nung der eigenen Schuld sich selbst getötet. Es gibt vor Ovid keinen Beleg einer Verbindung von Narcissus und Echo, und daher ist es sehr plausibel, darin eine Neuerung Ovids zu sehen.220 Zwar erwähnt auch Ovid, viele Jünglinge und viele Mädchen hätten Nar­ cissus begehrt; aber aufgrund von Hochmut habe er niemandem gestattet, ihn zu berühren. „Multi illum iuvenes, multae cupiere puellae“ (353) ist natürlich ein Zitat aus Catulls Epithalamium 62.42: „multi illum pueri, multae optauere puellae“ („viele Knaben, viele Mädchen wünschten ihn“).221 Aber während Catulls Gedicht zur Bewahrung weiblicher Jungfräulichkeit nur bis zur Ehe­ schließung einlädt und die Ehe als Ziel menschlichen Lebens feiert, hat Nar­ cissus kein Interesse am Eros. Ovid fährt in gewolltem sprachlichem Paralle­ lismus fort: „Nulli illum iuvenes, nullae tetigere puellae.“ („Keiner bewegte sein Herz von den Jünglingen, keines der Mädchen“, 355) Hier dient also die So zu Recht Bernd Manuwald (1975), 358, dem wir den ersten umfassenden Ver­ gleich von Konons und Ovids Mythenbearbeitung verdanken. 221 Der vorangehende Vers – 62.41 – wirkt weiter Am. 1.16.36. 220

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intertextuelle Anspielung dem Aufbau und der Enttäuschung einer Erwar­ tung – so wie wenn ein Komponist die Melodie eines Vorgängers zitiert und dann auf neuartige Weise abwandelt. Auch enthält Catulls Vers keine Anspie­ lung auf homosexuelle Liebe, denn „illum“ bezieht sich bei Catull auf eine Blume, deren Pflücken Symbol der Entjungferung ist. Ovid folgt dagegen dem griechischen Vorbild, indem er hier erstmals männliche Homosexualität erwähnt. Freilich paßt es zu Ovids Ordnung der Liebesformen, daß hier eine weibliche Verehrerin statt eines Mannes zu Tode kommt. Aber es ist nicht irgendeine Frau; es handelt sich eben um jene Echo, deren Redegabe sich auf die Wiederholung des eben Gesagten beschränkt.222 Sie kann daher Narcissus ihre Liebe nicht mitteilen; und die Echoeffekte, die sie hervorbingt, sind die Karikatur einer gelungenen Kommunikation. (Zwischen Syrinx und Pan war es postum immerhin zu einem „conloquium“ (1.710) gekommen.) Als Echo es schließlich schafft, ihre Arme um Narcissus’ Hals zu schlingen, weist dieser sie zurück. „Ille fugit fugiensque ‚manus complexibus aufer!/ ante‘ ait ‚emo­ riar, quam sit tibi copia nostri.‘/ rettulit illa nihil nisi ‚sit tibi copia nostri.‘“ („Aber er flieht und im Fliehn ‚Entreißt der Umschlingung die Hände;/ Eher‘, so ruft er, ,den Tod, als daß du mir nahtest in Liebe!‘/ Echo erwiderte nichts denn: ‚Daß du mir nahtest in Liebe!‘“, 390 ff.) Der Echoeffekt schafft es in diesem Fall immerhin, die Abweisung in einen Wunsch umzuwandeln, und zwar mit Umkehrung der Liebesrichtung aufgrund des indexikalischen Aus­ drucks „tibi“. Der Schmerz der Zurückweisung steigert nur die Liebe (395); Echo schwindet dahin, ihre Knochen werden zu Steinen, und allein ihre Stimme bleibt als Echo übrig. (Ähnlich wird sich die Nymphe Canens nach dem Verlust des Gatten 14.432 in Luft auflösen.) Anders als bei Konon ist es nicht die Person, die an ihrer Liebe am meisten gelitten hat, die Narcissus verflucht; dafür liebt ihn Echo zu sehr. Der Fluchende ist vielmehr einer der vielen verschmähten Liebhaber, aber Nemesis stimmt seiner gerechten Bitte zu, Narcissus möge sich ebenfalls nie des geliebten Objektes bemächtigen (404 ff.). Der Fluch verwirklicht sich dadurch, daß Narcissus sich an einer einsamen, bisher von keinem Lebewesen berührten Quelle (407 ff.), offenbar einem Symbol seiner selbst, in sein Spiegelbild verliebt. Die Abgeschiedenheit der Quelle erinnert an diejenige jener, in der Diana sich gebadet hatte – „puer … studio venandi lassus“ („der Knabe, müde von der Anstrengung der Jagd“, 413) spiegelt „dea … venatu fessa“ („die Göttin, müde von der Jagd“, 163). War Dianas Rückzugsort dem Eros feindlich, aber doch der Geselligkeit der Nymphen hold, ist Narcissus viel einsamer; denn er ist ganz allein. Aber in dieser Einsamkeit erwacht ein erotisches Begehren, Man kontrastiere damit Ariadne EH. 10.23 f., die durch aktives Rufen Echoeffekte hervorbringt.

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das nicht weniger verzehrend ist als dasjenige Echos und dem er wie diese erliegt. Beim Löschen des Durstes erfaßt ihn ein anderer Durst (415), das Begehren nach dem Knaben, den er im Wasser zu erkennen glaubt (ob auf­ grund des Fluches oder mangelnder Erfahrung mit spiegelndem Wasser bleibt ungesagt).223 Anfangs handelt es sich subjektiv um eine homosexuelle Ver­ liebtheit, aber warum die Geschichte nicht unter die später behandelten For­ men homosexueller Liebe subsumiert werden kann, ist nicht einfach die ob­ jektive Tatsache, daß Narcissus keine reale Person, sondern ein Spiegelbild liebt. Denn Narcissus begreift dies, zwar nicht sofort, aber doch nach einer Weile, durchaus; und dann handelt es sich wirklich um Selbstliebe, nicht mehr um Interesse an einem anderen Menschen gleichen Geschlechts. Die Identität des Liebenden mit dem Geliebten besteht allerdings anfangs nur an sich. „Se cupit inprudens et, qui probat, ipse probatur,/ dumque petit, petitur pariterque accendit et ardet.“ („Sich ersehnt er betört; der preist, wrd selber gepriesen,/ Der da strebt, erstrebt, und zugleich entzündet und brennt er“, 425 f.) Diese Aussagen gelten nur in der Perspektive ihres Autors; denn Narcissus hält sein Abbild noch für einen anderen Menschen und ist verwirrt, daß er es nicht greifen und küssen kann. Das Irren Narcissus’ besteht also auf zwei Ebenen. Auf der ersten handelt es sich um einen Tatsachenirrtum, allerdings um einen besonders tiefgehen­ den, weil Narcissus ein Bild mit der Wirklichkeit verwechselt. Die ontologi­ sche Defizienz des Bildes gegenüber der Wirklichkeit hat Platon erstmals im Liniengleichnis thematisiert, wobei er neben Schatten ausdrücklich Reflexio­ nen im Wasser (τὰ ἐν τοῖς ὕδασι φαντάσματα) (Politeia 510 a) anführt. In einer Apostrophe an Narcissus erklärt ihm Ovid, daß das Spiegelbild keine Substanz sei, nicht in sich bestehe, sondern von ihm abhängig sei: „Nil habet ista sui: tecum venitque manetque,/ tecum discedet, si tu discedere possis.“ („Nichts ist eigen daran; mit dir nur kam und verbleibt er,/ Weggehn wird er mit dir, wenn wegzugehen du vermöchtest“, 435 f.) Man beachte, daß von den beiden eben zitierten Versen der erste drei Daktylen hat, der zweite einen einzigen: Seine Langsamkeit gibt sprachmalerisch die Unfähigkeit Narcissus’ Die Implausibilität dieser Verwechslung stört Pausanias so sehr, daß er die Varian­ te für plausibler hält, Narkissos sei zu der Quelle absichtlich deswegen gegangen, um durch sein Spiegelbild an seine verstorbene Zwillingsschwester erinnert zu werden, in die er verliebt gewesen sei (9.31.7 f.). Es versteht sich, daß Ovid diese Version (wenn sie zu seiner Zeit schon existierte) nicht brauchen konnte, erstens weil er mit Caunus und Byblis schon ein Zwillingspaar mit einseitiger inzestuöser Neigung vorgesehen hatte und zweitens weil er nur durch die nach Pausanias un­ plausible Variante seine eigentliche Pointe vermitteln konnte. Pausanias weiß (wie auch Shakespeare in Twelfth Night, or What You Will) noch nicht, daß eineiige Zwillinge gleichen Geschlechts sein müssen.

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wieder, sich von seinem Abbild zu lösen.224 Der Gegenstand der Liebe Nar­ cissus’ ist Echo wesensverwandt; denn „Echo leistet akustisch dasselbe wie das Wasser optisch.“225 Beide reflektieren. Die involvierten Sinne sind die beiden Fernsinne, die die Antike stets besonders hochschätzte.226 Barbara E. Stirrup (1976; 99) hat auf den genauen Parallelismus zwischen V. 385 und V. 416 aufmerksam gemacht: Bleibt Narcissus zunächst stehen getäuscht von dem Abbild der erwidernden Stimme („perstat et alternae deceptus imagine vocis“), wird er beim Trinken aus der Quelle vom Bild der gesehenen Schön­ heit ergriffen („dumque bibit, visae conreptus imagine formae“). „Imagine“ steht zweimal an derselben Stelle des Verses. Dennoch sind Narcissus und Echo denkbar unterschiedlich. Denn nur Echo ist Reflexion und hat somit nichts Eigenes zu bieten; Narcissus ist dagegen durchaus ein Wesen eigenen Rechtes. Aber er liebt eine Reflexion, und zwar seine eigene, die er anfangs noch nicht als solche erkennt. Indem Ovid Narcissus direkt anspricht, ver­ sucht er, ihn gleichsam aus seiner Verlorenheit an dieses Bild zu reißen; er warnt ihn, daß er sich an etwas Irreales verliere, das allein dadurch eine scheinbare Realität, ja, sogar Macht über ihn gewinne. Man denkt unvermeid­ licherweise an das Höhlengleichnis Platons, das das Liniengleichnis weiter­ Sprachmalerisch ist auch der Chiasmus in Narcissus’ Rede „et placet et video, sed, quod videoque placetque“ („es gefällt, und ich sehe, doch was ich sehe und was gefällt“, 446), wie Hilbert zu Recht schreibt: „Die abbildende Wortstellung gibt hier das Spiegelphänomen … wieder…. Indem Narziß über die Täuschung, der er erliegt, rätselt, gibt sein Satzbild die Lösung (das Spiegelphänomen), ähnlich ei­ nem Stotterer, der stotternd fragt, was Stottern sei.“ (Dietz / Hilbert (1970), 57) 225 Manuwald (1975), 357. Die beiden Reflexionsphänomene hat schon Lukrez im vierten Buch von De rerum natura behandelt (4.98 ff., 269–323, 572 ff.), das mit seiner Liebestheorie endet. Ovid hat diese Erklärungen im Hintergrund präsent, wie Hardie (2006) präzise gezeigt hat. Aber es fällt auf, daß Ovid sich nicht im mindesten darum bemüht, die wissenschaftlichen Aspekte der Theorie zu erklä­ ren – sein Werk strebt nicht danach, Inhalte des wissenschaftlichen Lehrgedichtes in sich zu integrieren. Das unterscheidet ihn von Dante. Man kontrastiere mit Ovids Behandlung etwa Purgatorio 15.16 ff. und Paradiso 2.94 ff. Nur in seinen zahlreichen Vergleichen gibt Ovid gelegentlich nahezu wissenschaftliche Erklä­ rungen; siehe etwa 4.121 ff. 226  Am. 3.7.1 f. werden Gehör und Gesicht ebenfalls nebeneinander gestellt: „Quid iuuet ad surdas si cantet Phemius aures?/ quid miserum Thamyran picta tabella iuuet?“ („Was könnte es helfen, sänge Phemius zu tauben Ohren? Was könnte eine bemalte Tafel dem armen Thamyras nutzen?“) Man beachte, daß der erste Sänger das Objekt, der zweite das Subjekt der scheiternden Wahrnehmung ist; auf subtile Weise wird dadurch eine ausgedehnte Präsenz der Dichter erreicht. Daß Thamyris wegen seiner Prahlerei, er singe besser als die Musen, geblendet wurde, berichtet schon Homer in der Ilias (2.594 ff.). 224

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führt; doch ersetzt Ovid die Schatten durch das ontologisch äquivalente Bild im Wasser. So wie Narcissus zunächst von Echos Echoeffekten getäuscht wurde, miß­ versteht er anfangs das Verhalten des Spiegelbilds, das sich ihm zu nähern scheint, wenn er sich ihm naht, um es zu küssen, das ihm die Arme entgegen­ streckt, wenn er es tut, das lacht, wenn er lacht, und weint, wenn er weint (451 f., 458 ff.). Aber die Unmöglichkeit, es zu greifen (453), insbesondere aber die Stummheit seiner Lippenbewegungen (461) bringen ihn schließlich zu der entscheidenden Erkenntnis. „Erst die Verknüpfung mit einem weiteren Sin­ nesbereich, dem des Hörens, erlaubt also, das Bild als Bild zu identifizieren… “227 Die implizite erkenntnistheoretische Annahme, daß erst das Zusammen­ wirken einer Pluralität von Sinnen uns einen objektiven Zugang zur Wirklichkeit gewährt, ist dabei höchst bemerkenswert. Durch die Identifika­ tion des Bildes als Bild wird – in der Terminologie von Paul Zankers äußerst reichem ikonographischem Aufsatz (1966) – der naive zum bewußten Narcis­ sus. „Iste ego sum!228 Sensi; nec me mea fallit imago:/ uror amore mei, flam­ mas moveoque feroque./ quid faciam? roger, anne rogem? quid deinde roga­ bo?/ quod cupio, mecum est: inopem me copia fecit./ o utinam a nostro secedere corpore possem!/ votum in amante novum: vellem, quod amamus, abesset!“ („Ich bin, merk‘ ich, es selbst. Nicht täuscht mich länger mein Ab­ bild./ Liebe verzehrt mich zu mir; ich errege und leide die Flamme./ Was tun? Soll ich flehn? Mich anflehn lassen? Um was denn?/ Was ich begehre, ist mein. Zum Darbenden macht mich der Reichtum./ Daß ich vom eigenen Leib mich doch zu trennen vermöchte!/ Was kein Liebender wünscht, ich wünsche mir fern, was ich liebe“, 463 ff.). Die Erkenntnis, daß es sich um sein eigenes Spie­ gelbild handelt, ändert aber nichts an dem erotischen Verlangen; und in der Unfähigkeit, seine nun richtig verstandene Liebesform als absurd zu verwerfen und zu überwinden, liegt sein zweiter Fehler. Anders als Konons Narkissos ist Narcissus nicht einmal in der Lage, seine krankhafte Liebe als gerechte Strafe anzuerkennen und zu akzeptieren. Er steht zu seinem Narzißmus – denn nar­ zißtische Persönlichkeiten sind stolz auf ihre Laster. Als seine Tränen das Wasser aufrühren und das Bild verschwimmt, will er es unbedingt wiederher­ stellen, damit er wenigstens betrachten kann, was er nicht zu berühren ver­ mag, obwohl er weiß, daß dies nur Nahrung für seinen Wahn ist (476 ff.). Er schlägt sich selbst – nicht aus Masochismus, der höchstens unbewußt mitspie­ len mag, sondern um die Färbung seiner Haut zu verschönern, die das Wasser angeblich widerspiegelt. Deren Anblick steigert seine Verliebtheit bis zu je­ Gregor Vogt-Spira (2002), 36.  F.5.226 heißt es korrekter, Narcissus (gemeint ist wohl sein Bild) sei mit Narcis­ sus weder identisch noch nicht-identisch.

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nem Punkte, an dem sein Leib wie Wachs wegzuschmelzen beginnt, um schließlich in die nach ihm benannte Blume verwandelt zu werden.229 Ohne Zweifel ist die Narzissus-Episode eine der vollkommensten der Metamorphosen. Die Verschränkung der beiden Hauptcharaktere ist ein Ge­ niestreich, weil Ovid damit in einem Zuge deutlich zu machen vermag, daß glückende Liebe zwei Extreme vermeiden muß: Selbstaufgabe und Selbstbe­ sessenheit. Echo mag verzehrende Liebe empfinden, aber als Geliebte ist sie für einen Mann uninteressant, weil sie nichts Eigenes zu bieten hat. Narcissus ist umgekehrt von vollkommener Schönheit und höchst begehrenswert – aber er kann sich nur für das eigene Spiegelbild interessieren. „While Narcissus was caught in the net of mere sameness and was touched by nothing but his own unsubstantial reflection, Echo is mere otherness and is herself only an unsubstantial reflection. He is too much prepossessed with his own self to share it with others, and she has no self of her own which she might share.“230 Das Auftreten autonomen weiblichen Interesses an einem Mann ist ein be­ deutender Fortschritt und eine notwendige Voraussetzung für geglückte Lie­ be. Aber eine hinreichende Bedingung ist es nicht; viel mehr ist erforderlich, damit sich wahre Liebe entwickeln kann. Es bedarf zweier Iche, und trotz aller Arbeit an der jeweils eigenen geistigen Welt müssen beide Interesse an einem anderen Selbst haben. In komplexer Weise knüpft Ovid dabei an Platon an und setzt sich zu­ gleich von ihm ab. Es wurde schon bemerkt, daß die Ontologie des Spiegel­ bildes von Platon inspiriert ist. In der Tat hat Plotin den Narkissosmythos dahingehend gedeutet, wer die geistige Schönheit im Physischen suche, werde von Bildern statt der Wirklichkeit eingenommen und ertrinke im Wasser. Die Verwechslung der untersten Stufe der sinnlichen Welt mit deren zweiter wird also als Allegorie gedeutet der Verwechslung der sinnlichen Welt als ganzer mit der geistigen, der Proportion entsprechend, die Platon für die viergeteile Linie seines Gleichnisses aufstellt (Politeia 509d).231 Ovid hat statt des plötz­ Die antike Traumdeutung hatte den Traum, in dem man sich selbst im Spiegel er­ blickt, als gut für denjenigen, der heiraten wolle, interpretiert, doch denjenigen, in dem man sich selbst im Wasser sieht, als Antizipation des eigenen Todes oder desjenigen eines nahen Angehörigen (Artemidoros, Ὀνειροκριτικά (Traumdeutung), 2.7). Narcissus stirbt gleichsam, weil er nicht willens ist zu heiraten. 230 Fränkel (1945), 84 f. 231 Ἐννεάδες (Enneaden) 1.6.8 (1.115.8–16 Henry/Schwyzer). Narkissos wird zwar nicht genannt, aber nur er kann gemeint sein, nicht etwa Hylas (der nach Theokrits dreizehntem bukolischem Gedicht und Antoninus Liberalis 26.3 f. von Nymphen ins Wasser gezogen wurde; nach letzterem wurde er zudem in ein Echo verwan­ delt). Daß Narkissos, in sein Spiegelbild vergafft, ertrunken sei, behauptet auch das 9. Kapitel der Excerpta Vaticana wohl aus dem siebten Jahrhundert, die man 229

4.4  Metamorphosen, Buch 3

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lichen Ertrinkens das langsame Verschmachten Narcissus’ sicher gewählt, um eine Parallele zum Tode Echos zu haben. Auch wenn Ovid eine Form der Selbstverliebtheit im Auge hat, die heute zur narzißtischen Persönlichkeits­ struktur gerechnet wird, ist es höchst bezeichnend, daß er den eigentlichen Narzißmus erst mit Vers 463 einsetzen läßt. Denn vorher glaubt Narcissus, in einen anderen Knaben verliebt zu sein. Vermutlich ist damit eine Kritik an homosexueller Liebe impliziert, der Ovid wohl unterstellt, sich weniger auf das Andere einzulassen, als dies in heterosexueller Liebe geschieht; doch wird auf seine Einstellung zur Homosexualität noch ausführlicher einzuge­ hen sein. Aber sicher ist, unabhängig von der sexuellen Orientierung, Narcis­ sus’ Liebe schon in der ersten Stufe krankhaft, weil sie sich auf ein Abbild statt auf etwa Wirkliches richtet. Es ist diese ontologische Verirrung, die der Selbstverliebtheit vorausgeht; und daran zeigt sich in bezeichnender Weise, daß die Antike psychopathologische Phänomene noch nicht isoliert betrachten kann oder will, sondern diese metaphysisch fundiert. Nur weil er die Wirklich­ keitsschichten nicht auseinanderzuhalten vermag, wird Narcissus in einem zweiten Schritt zum Narzißten. Das ist gut platonisch. Aber antiplatonisch ist die schmerzliche Erkenntnis, daß zur Liebe unbedingt Differenz gehört. In seiner Rede im Platonischen Συμπόσιον (Gastmahl) hatte Aristopha­ nes232 betont, Wunsch der Liebenden sei es, aus zweien eins zu werden, um die ursprüngliche Einheit der einst kugelgestaltigen, vierarmigen und vierbei­ nigen, doch später von Zeus gespaltenen Menschen wiederherzustellen. Wür­ de Hephaistos anbieten, die jeweiligen Gegenstücke wieder zu verschmelzen, würde dies von den Liebenden dankbar angenommen: οὐδ᾽ ἂν εἷς ἐξαρνηθείη οὐδ᾽ ἄλλο τι ἂν φανείη βουλόμενος, ἀλλ᾽ ἀτεχνῶς οἴοιτ᾽ ἂν ἀκηκοέναι τοῦτο ὃ πάλαι ἄρα ἐπεθύμει, συνελθὼν καὶ συντακεὶς τῷ ἐρωμένῳ ἐκ δυοῖν εἷς γενέσθαι („nicht einer würde das ausschlagen und etwas anderes zu wollen scheinen, sondern er würde glauben, unbedingt das gehört zu ha­ ben, was er schon immer begehrt habe, mit dem Geliebten zusammenkom­ mend und mit ihm verschmolzen aus zweien einer zu werden“, 192 e). Aber Ovid zeigt, daß dies kein sinnvolles Ziel ist – mit der Aufhebung der Zweiheit wäre auch die Liebe aufgehoben. Die schon zitierten Verse 466–467 „quod cupio, mecum est: inopem me copia fecit./ o utinam a nostro secedere corpo­ re possem!/ votum in amante novum: vellem, quod amamus, abesset!“ sind geradezu eine Umkehrung des Wunsches, den der Platonische Aristophanes in den Mythographi Graeci ediert findet (III 2, S. 91 f.); es allegorisiert den My­ thos ganz wie Plotin. Eine andere Deutung findet man dagegen innerhalb des Her­ mes Trismegistos zugeschriebenen Corpus Hermeticum im Poimandres 1.14. 232 Auf diese Rede hat schon Hardie verwiesen (2006; 138, Anm. 35), allerdings ohne die antiplatonische Stoßrichtung Ovids zu sehen.

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den Liebenden zuschreibt, ein „votum … novum“ eben. Narcissus hat bei sich, was er liebt, und genau das ist das Problem. Sein „Besitz“ macht ihn arm – Narcissus greift das im erotischen Kontext seltene Wort „copia“ auf, das er und Echo in ihrem Austausch (391 f.) schon verwendet hatten. Echo sehnte sich damals nach einer „copia“, die ihr versagt war – aber Narcissus ist sie in einer solchen Form zuteilgeworden, daß sein Leiden nicht geringer ist als dasjenige Echos. Narcissus möchte aus seinem Körper heraustreten, damit er sich nicht nur als ein Spiegelbild, sondern als einen wirklichen Körper lieben könne. Zeus’ Spaltung der Kugelmenschen, nicht Hephaistos’ Verschmelzung ist das, was er eigentlich bräuchte. Vermutlich ist damit eine implizite philo­ sophische Kritik verknüpft, die in der Pluralität, zumindest der Dualität von Seelen nicht etwa einen Verlust einer ursprünglichen, perfekten Einheit sieht, sondern eine Bereicherung der Wirklichkeit, weil allein Zweiheit einen Er­ möglichungsgrund von Liebe darstellt. Den Abglanz einer realen Zweiheit erreicht Narcissus in seinem einzigen Satz, der seine Selbstbessessenheit transzendiert: Der Tod ist ihm nicht unwillkommen, da er durch ihn von sei­ nen Leiden befreit sein werde, aber seinem Geliebten wünscht er trotzdem ein längeres Leben, auch wenn er weiß, daß sie beide zusammen in einer einzigen Seele sterben werden: „Nec mihi mors gravis est, posituro morte dolores:/ hic, qui diligitur, vellem, diuturnior esset!/ nunc duo concordes anima moriemur in una.“ (471 ff.) Die Verschmelzung zweier Menschen zu einem, von der Ari­ stophanes träumt, bedeutet für Ovid nichts anderes als den Tod der Liebe. Noch ein anderer Aspekt der Geschichte ist antiplatonisch bzw. anti­so­ kra­tisch. Denn der xenophontische Sokrates erinnert Euthydemos an das Gebot des delphischen Gottes, sich selbst zu erkennen;233 und Platon zitiert das γνῶθι σεαυτόν in nicht weniger als sechs verschiedenen Dialogen.234 Tiresias dagegen weissagt zu Anfang der Episode über den jungen Narcis­ sus, er werde ein hohes Alter erreichen, „si se non noverit“ („wenn er sich selbst nicht erkennt“, 348). Das ist geradezu eine Umkehrung jenes Gebotes und an sich erstaunlich bei einem Mann, den die griechische Tragödie mit Apoll verknüpft. Bei Ovid wird diese Verbindung zwar nicht explizit ausge­ sprochen, aber als Hintergrundinformation vorausgesetzt. Die Kritik an Apollos Gebot durch Tiresias hat selbstredend ein berühmtes Vorbild. Denn auch wenn in Sophokles’ Οἰδίπους Τύραννος (König Oidipus) Teiresias Ἀπομνημονεύματα (Memorabilien) 4.2.24 ff. Und zwar im Χαρμίδης (Charmides) 164d ff., im Πρωταγόρας (Protagoras) 343b, im Φαῖδρος (Phaidros) 229e f., im Φίληβος (Philebos) 48c f., in den Νόμοι (Nomoi) 923a sowie besonders oft in dem vermutlich unechten Ἀλκιβιάδης αʹ (Ersten Alkibiades) (124a f., 129a, 132c). Im Philebos wird das Fehlen einer angemessenen Selbsterkenntnis als Ursache lächerlichen Verhaltens gedeutet.

233 234

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nicht ausdrücklich Oidipus dazu auffordert, sich selbst nicht zu erkennen – wer es explizit tut, ist Iokaste (1068) –, will er selbst am Anfang seines Auf­ tritts im ersten Epeisodion (316 ff.) nicht dazu beitragen, daß Oidipus die Wahrheit über sich erfährt.235 Narcissus’ Sich-Erkennen erfolgt, wie wir wis­ sen, in zwei Schritten – erst erblickt Narcissus das eigene Spiegelbild, und später identifiziert er sich mit dem, was ihn fasziniert. Der zweite Schritt be­ freit ihn nicht von seiner Passion, sondern unterwirft ihn ihr unwiederbring­ lich. Gewiß würde Platon hier einwenden, Narcissus vollziehe nicht den ent­ scheidenden dritten Schritt, der alleine vor Lächerlichkeit bewahre – er verliebe sich in sich, weil er seine Schönheit überschätze und das Krankhafte seines Verhaltens nicht begreife. Aber daß Ovid den delphischen Spruch und die auf ihn gegründete Denkform ablehnt, hat zu tun mit seiner Kritik am Einheitsdenken.236 Denn wenn Einheit die dominierende Kategorie ist, dann geht jede gültige Erkenntnis nicht aus sich heraus und verbleibt Selbsterkennt­ nis. Doch Ovid will, in einer entfernten Antizipation etwa der Kritik der Dia­ logischen Philosophen an der Identitätsphilosophie des deutschen Idealismus, warnen vor einer leeren Selbstbezüglichkeit, die so mit Selbsterkenntnis be­ faßt ist, daß sie darüber die Welt – und damit auch die wahre Liebe – vergißt. Erotische Liebe hat notwendig mit einem anderen Menschen zu tun, auch wenn dies bedeutet, daß sie ein Risiko eingehen muß.237 Selbstverstrickung und Selbstauslöschung sind beide mit Liebe unvereinbar. Zwar scheint das Ende der Geschichte eine gewisse Überlegenheit Echos anzudeuten. Wäh­ rend Narcissus’ Seele sich selbst in der Unterwelt im Wasser der Styx betrach­ tet (504 f.) – das Laster bleibt auch postmortal erhalten –,238 scheint Echo Empathie nicht abzugehen. Denn sie wird sich von dem sterbenden Jüngling verabschieden (501), sein Leiden (494 ff.) mitempfinden und seinen Tod mit­ betrauern (507). Freilich mag man sagen: Es bleibt ihr keine Wahl, denn sie Zu den Analogien zwischen dem Oidipus-Drama und der Narcissus-Episode, die jenes gleichsam im thebanischen Teil der Metamorphosen ersetzt, vgl. Ingo Gil­ denhard / Andrew Zissos (2000). 236 In anderem Zusammenhang betont Ovid durchaus, daß Selbsterkenntnis (in einem weiteren Sinn des Wortes, also ohne ausschließlichen Charakter) Voraussetzung gelingender Liebe ist: AA. 2.501, 3.771. 237 Keiner hat diese Pointe deutlicher erkannt als John Milton in seiner Integration der Narcissus-Episode Ovids in seine Geschichte des Sündenfalls: Eine vermutlich göttliche Stimme führt Eva, die dabei ist, sich in ihr Spiegelbild im Wasser zu verlieben, zurück zu Adam, dem eigentlichen Objekt ihrer Liebe (Paradise Lost 4.440–491). Darauf weist zu Recht Hubert Cancik (1967), 44, Anm. 9. 238 Vermutlich ist der Kontrast zu Aeneis 6.472 ff., wo eine wechselseitige Liebe Dido und ihren ersten Gatten Sychaeus in der Unterwelt verbindet, gewollt. Das ist Narcissus versagt, der im Leben nur sich geliebt hat. 235

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wiederholt papageienartig die Laute, die vor ihr geäußert wurden, und bleibt damit ebenfalls ihrem Wesen treu. Mehr als Empathie scheint bei ihr mecha­ nischer Zwang zu walten. Selten vermischt Ovid elegische Trauer und Spott so ununterscheidbar wie in dieser Geschichte, bei der man oft nicht weiß, ob Lachen oder Weinen mehr angebracht ist. Die letzte Geschichte des dritten Buches handelt von einem dritten Enkel­ kind des Cadmus, Pentheus, Sohn einer dritten Tochter, Agaues (vgl. 4.418 f.). Sein Tod entspricht demjenigen Actaeons, da beide zerfetzt werden; doch er ist noch schrecklicher, da nicht die eigenen Hunde, sondern die Mutter und Tanten ihn bewerkstelligen (3.710 ff.),239 deren Erwachen aus dem Wahn al­ lerdings, anders als in Euripides’ Drama, von Ovid ausgespart wird. Ver­ gleicht man das Ende der beiden Vettern, gibt es einen Fortschritt, aber es ist einer des Grauens. Immerhin läßt sich Pentheus anders als Actaeon von Schuld nicht freisprechen; die Unverhältnismäßigkeit der Strafe ist bei ihm daher geringer. Insofern vereint der Pentheus-Mythos Züge der Actaeon- mit denen der Narcissus-Geschichte; denn die Ablehnung des neuen Gottes erin­ nert an Narcissus’ starrsinniges Sich-Verschließen gegen jeden Eros, und in beiden Fällen spricht Tiresias Warnungen aus (346 ff., 514 ff.). Und da der neue Gott Bacchus ist, geht auch die Semele-Geschichte in die Pentheus-Epi­ sode ein. Die Reihenfolge ist also alles andere als beliebig. Für das Thema des Eros wirft die Pentheus-Episode allerdings wenig ab; denn Ovid hat den psychologisch höchst faszinierenden Austausch von Pen­ theus und Dionysos in mehreren Epeisodia der Βάκχαι des Euripides durch einen langen Monolog des als Schiffer Acoetes auftretenden Bacchus ersetzt. Dieser nimmt manches aus dem (siebten) homerischen Hymnus an Dionysos auf (wie die Bestrafung von Seeräubern, die ihn entführt hatten) und spricht so über sich, als ob er nicht selber Bacchus wäre – so wie Narcissus das an­ fangs mit seinem Spiegelbild getan hatte, allerdings dieser, ohne es zu wissen, jener ganz bewußt. Die Szene erlaubt Ovid, einerseits eine weitere indirekte Erzählung einzubauen, auf die Pentheus ebenso lernunwillig rea­giert wie Cor­ vus, andererseits neue Verwandlungen zu berichten. Dafür opfert Ovid freilich Euripides’ subtile Analyse der Faszination Pentheus’ vor dem, was er zugleich

239

Der Vergleich 3.729 f. spiegelt Aeneis 6.309–312, und man muß Charles Paul Segal zustimmen, daß Ovid die Schönheit von Vergils Naturbeschreibung auf den Kopf stellt. Aber er übertreibt, wenn er in seinem wichtigen Buch, das u. a. Höh­ len, Gewässer und Blumen behandelt, „the shallowness that underlies the unde­ niable grace of the Metamorphoses“ (1969; 84) angreift. Für Ovid ist auch menschliche Grausamkeit im Prinzip des Wandels gegründet, das die Natur allge­ mein bestimmt.

4.4  Metamorphosen, Buch 3

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bekämpft und verwirft (besonders deutlich in der Stichomyhtie 810 ff.240). Ovids Pentheus ist dagegen kein Voyeur, sondern hat entscheidende Züge des Wertesystems der aus den Drachenzähnen Entsprungenen geerbt. Von den fünfen, die damals überlebten, wurde nur Echion namentlich genannt (126); und als dessen Sohn, als „Echionides“, wird Pentheus das erste Mal bezeich­ net (513). Er erinnert die Thebaner an den Urspung der Stadt aus dem Dra­ chen (543 ff.) und befürchtet, der Bacchus-Kult werde eine Feminisierung des Staats nach sich ziehen und den Wehrwillen zersetzen (553 ff.). Ovids Pen­ theus zieht nicht wie der Euripideische in Frauenkleidern zum Kithairon, son­ dern wie ein Schlachtroß (704 ff.); er klettert nicht auf einen Baum, um neu­ gierig-lüstern zu beobachten, was vor sich geht; und sein Interesse an den sexuellen Aspekten des neuen Kultus ist minimal („obscenique greges“ 537 kann auch nur „schmutzige Haufen“ heißen). Kurz, er ist, besonders am An­ fang, mehr ein Erbe des Eteokles des Aischylos241 als des Euripideischen He­ ros. Wieso? Nun, wenn meine Zuschreibung einer Geschichtsphilosophie ero­ tischen Verhaltens an Ovid zutreffend ist, dann kann so früh in der Entwicklung jemand wie der Euripideische Pentheus, der eine spätzeitliche Figur ist, noch gar nicht vorkommen. Ovids Pentheus ist gar nicht so sehr von Diana ver­ schieden. Denn beide wollen Eindringlinge vernichten, die ihre Welt bedro­ hen – den Mann Actaeon die Göttin, den feminisierenden Gott der Mensch. Aber was der Göttin gelingt, schlägt beim Menschen nach hinten aus. Immer­ hin zeigt, trotz seines blutigen Untergangs, der Wahnsinn seiner Mutter und ihrer Schwestern, daß Pentheus’ Ablehnung des Bacchus-Kultes nicht jeder Grundlage entbehrte, auch wenn er völlig das Gewaltpotential unterschätzte, das der neuen Religion eignet und dem er trotz seiner militärischen Einstel­ lung nicht im mindesten gewachsen ist. Wahrscheinlich will Ovid darauf hinweisen, daß die neue Religiosität der Bacchusreligion, die zumal Frauen fasziniert, etwas bewußtseinsgeschichtlich Neues darstellt – sie ermöglicht die größere weibliche Autonomie, die die weiteren Bücher des Werkes cha­ rakterisiert.

V. 815 erinnert an Platon, Politeia, 439e f. Doch während Leontios vom Anblick von Leichen zugleich angezogen und abgestoßen ist, will Pentheus, der klassische Voyeur, die vermeinten Ausschweifungen der Bakchen beobachten, um sich so­ wohl zu empören als auch zu erregen. 241 3.531 ff. erinnern im Ton an die Rede des Eteokles in Aischylos’ Ἑπτὰ ἐπὶ Θήβας (Sieben gegen Theben) 181 ff. Ich bin daher skeptisch, ob Ovids Pentheus nur negativ zu sehen ist, wie in der Analyse von Micaela Janan (2004). 240

102 4.5

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Metamorphosen, Buch 4. Väter, Gatten und Zuträger als externe Hindernisse symmetrischer Liebesbeziehungen: Pyramus und Thisbe, Mars und Venus, Sol und Leucothoe. Die erste unglücklich liebende Frau: Clytie. Die Vergewaltigung durch eine Frau und der Vorzug des sexuellen Dimorphismus gegenüber dem Zwittertum: Salmacis und Hermaphroditus. Die erste Verwandlung eines liebenden Paares: Cadmus und Harmonia. Gewalteinsatz zur Befreiung bedrohter Frauen: Perseus als Held der Ritterlichkeit

Das vierte Buch beginnt ebenfalls in Böotien, allerdings in Orchomenos, wo sich die Töchter Minyas’ ebenfalls weigern, am Bacchuskult teilzunehmen, weil sie Minerva verehren (33, 38), und sich statt dessen beim Weben Ge­ schichten erzählen. Erst nach dem recht langen Intermezzo ihrer Erzählungen wird die Rahmengeschichte fortgesetzt. Die wörtliche Wiederholung von „aera sonant“ („lassen die Luft ertönen“, 30 und 393), auf die Instrumente der Bacchus-Verehrer bezogen, schlägt eine deutliche Brücke. Verschiedene Wunder wie das Grünen des Webstuhls (394) – das an das Wachsen von Efeu und Efeutrauben auf den Rudern bzw. Segeln des von Acoetes beschriebenen Schiffes erinnert (3.664 ff.) – bereiten die Verwandlung der Minyaden in Fle­ dermäuse vor. Vielleicht sah Ovid die Strafe als derjenigen der in Delphine verwandelten Seeleute analog an; in beiden Fällen handelt es sich, was die Antike wußte,242 um atypische Säugetiere, die nicht auf dem Land, sondern entweder im Wasser oder in der Luft leben. (Bei Antoninus Liberalis (10.4) werden zwei der Schwestern dagegen zu Vögeln.) Verglichen mit dem Tode des Pentheus ist diese Rache recht mild; und sie ist auch milder als das, was andere Quellen zu den Minyaden berichten. Denn bei Antoninus, der hier Nikandros folgt, zerriß Leucippe mit Hilfe ihrer Schwester, vor ihrer Ver­ wandlung, den eigenen Sohn Hippasos als Opfer an Dionysos (10.3). Wie man sieht, eliminiert Ovid, was nicht in seinen Gedankengang paßt; eine Dublette der Pentheusgeschichte interessiert ihn nicht. Das gilt sogar dann, wenn ein Mythos zu seiner Zeit kultisch noch lebte; denn Plutarch berichtet in den Αἴτια Ἑλληνικά (Griechische Fragen) 38 (299E-300A) nicht nur die Ver­ sion, die man bei Antoninus findet, sondern erklärt, in Orchomenos gebe es jährlich noch eine Verfolgung der angeblichen Nachfahrinnen der Minyaden durch den mit einem Schwert bewaffneten Dionysospriester, der diejenige, die er fange, umbringen dürfe, und er nennt einen Priester, Zoilos, der zu sei­ nen Lebzeiten eine Frau so getötet habe. Aber diese Gegenwart des Mythos im Ritus ist, so anthropologisch interessant sie auch ist, für die innere Kohä­ Vgl. Aristoteles, Τῶν περὶ τὰ ζῷα ἱστοριῶν (Naturgeschichte der Tiere), 511a28 ff. und 521b21 ff.

242

4.5  Metamorphosen, Buch 4

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renz der Dichtung ohne Bedeutung. Viel wichtiger als das, was den Minyaden widerfährt, ist, was sie erzählen. Dies ist das, was in den erotologischen Ent­ wicklungszusammenhang paßt. Diejenige Minyade, die zuerst spricht (sie bleibt bei Ovid namenlos), er­ wägt zunächst u. a. verschiedene mit Babylon zusammenhängende Geschich­ ten, die Ovid somit kurz benennen kann, und wählt die Geschichte von Pyra­ mus und Thisbe aus. Diese Geschichte ist nicht nur wegen ihrer enormen Wirkungsgeschichte berühmt – direkt wird sie, oder besser ihre Darstellung durch eine Laienschauspielergruppe, von Shakespeare in A Midsummer Night’s Dream parodiert, thematisch wird sie in Romeo and Juliet gespiegelt. Sie ist auch innerhalb der Metamorphosen von besonderer Bedeutung – „vul­ garis fabula non est“ („die Geschichte ist nicht gewöhnlich, 53), wird einlei­ tend gesagt. Warum? Nun, weil es sich, wenn man vom Urelternpaar absieht, um die erste symmetrische Liebesbeziehung zwischen zwei Sterblichen han­ delt. Mehr als drei Bücher hat man darauf warten müssen! Freilich heißt das keineswegs, daß den beiden Glück beschieden sei – das erste menschliche Liebespaar endet im Doppelselbstmord, ohne seine Liebe vollzogen zu haben. Das hängt mit einer Eigenart menschlicher Liebe zusammen, die anthropolo­ gisch von großer Bedeutung ist. In der Ehe zweier junger Menschen schließen sich zwei schon bestehende Familien zusammen, und daher haben sich die Familienoberhäupter bis vor gar nicht langer Zeit weltweit das Recht genom­ men, unwillkommene Ehen ihrer Kinder zu verbieten. Das vierte Buch gibt mehrere Beispiele von Verwandten, die eine Liebe zu verhindern suchen – während im ersten Buch Daphne Penëus nur mit Mühe überzeugen konnte, ihrer Jungfräulichkeit zuzustimmen. In keinem Fall ist die Frau in ihrer Ent­ scheidung frei. Die Hindernisse der Liebe sind hier externer Art, nicht wie in der Narcissus-Echo-Geschichte interner. Pyramus und Thisbe sind liebes­ fähig und -willig, aber ihre Väter stimmen nicht zu. „Tempore crevit amor; taedae quoque iure coissent,/ sed vetuere patres; quod non potuere vetare,/ ex aequo captis ardebant mentibus ambo.“ („Liebe wuchs mit der Zeit, und sie wären vereint in der Ehe,/ Ohne der Väter Verbot. Was die nicht konnten ver­ bieten:/ Beider Gemüt war gleich entzündet von heißem Verlangen“, 60 ff.). Daß nur der Körper, nicht aber der Geist der Liebenden kontrolliert werden könne, hieß es schon Am. 3.4.5, wo man auch lesen konnte, daß Liebesverbo­ te kontraproduktiv sind. „Quoque magis tegitur, tectus magis aestuat ignis.“ („Und je enger beschränkt, desto mächtiger wallet die Flamme“, M. 4.64) Erfinderisch wie die Liebe nun einmal ist (68),243 entdecken die Lieben­ den eine Ritze in der Wand ihrer benachbarten Wohnungen und verabreden Wir erfahren kurz darauf (96), daß Liebe auch Mut einflößt, und später, daß auch der Schmerz gelehrig macht (6.574 f.)

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sich für die Nacht am Maulbeerbaum beim Grabe des Ninus. Bei der Flucht vor einem Löwen verliert Thisbe ihren Schleier, den dieser mit seinen bluti­ gen Tatzen zerfetzt; und als Pyramus auf ihn stößt, beschließt er, der ver­ meintlich gestorbenen Geliebten in den Tod zu folgen, und stößt sich das Schwert in die Weichen. Die zurückkehrende Thisbe erhält seinen letzten Blick: „Ad nomen Thisbes oculos iam morte gravatos/ Pyramus erexit visa­ que recondidit illa“ („Als sie ‚Thisbe‘ gesagt, schlug wieder die brechenden Augen/ Pyramus auf und schloß, wie er Thisbe geschaut, sie für immer“, 145 f.). Sie erkennt, daß er aus Liebe gehandelt, und folgt ihm aus Liebe. Eindrucksvoll ist, wie Ovid diese Vereinigung der zwei Liebenden im Lie­ bestod sprachmalerisch unterstreicht. „ ‚Tua te manus‘ inquit ‚amorque/ per­ didit, infelix! Est et mihi fortis in unum/ hoc manus, est et amor…‘ “ („ ‚Dein Arm, Unglücklicher‘, ruft sie, ,und Liebe/ Haben den Tod dir gebracht. Auch mir sind der Arm zu dem einen/Stark und die Liebe‘ “, 148 ff.). Ovid hebt auf beiden Seiten in strengem Parallelismus jeweils zwei Momente hervor, die Liebe und die die Handlung vollbringende Hand, und fügt dazwischen „in unum“ ein. Damit ist zwar die eine Handlung gemeint, die Thisbe allein noch verbleibt – der Selbstmord –, aber als eigentlicher Zweck dieser Hand­ lung erscheint die Herstellung der Einheit der Liebenden, die auch durch den Tod nicht auseinandergerissen werden können (152 f., ebenfalls mit Paralle­ lismus, ja Identität der beiden letzten Worte der zwei Verse). Diese Einheit wenig­stens im Tode wird ihnen durch die Eltern vergönnt, welche die ster­ bende Thisbe trotz ihrer Entfernung bittet, die Kinder im gleichen Grab zu begraben. Thisbe fleht danach auch den Maulbeerbaum an, der jetzt eine, bald zwei Leichen decke („corpus/ nunc tegis unius, mox es tectura duorum“, 158 f.), von nun an in der Farbe seiner Beeren an das Blutvergießen, das unter ihm erfolgt sei, zu erinnern. Chiastisch zur Bitte folgt die Schilderung der Erfüllungen. Die Götter gestalten den Baum um, und die Bestattung durch die Eltern erscheint am Ende der ganzen Geschichte deswegen, weil im letz­ ten Vers der Episode die Einheit wiederhergestellt wird, die durch die Ver­ dopplung der Leichen zunächst einmal bedroht schien: „Quodque rogis su­ perest, una requiescit in urna.“ („Und was die Flammen verschont, das ruht in gemeinsamer Urne“, 166) Die gleiche Handlung, zwei Leichen, eine Urne – im Abzielen auf Einheit ist Ovid Platonischer, als er es im dritten Buch gewesen war. Aber es handelt sich um eine postume Einheit real Unter­ schiedener. Die auf diese tragische Geschichte unmittelbar folgende ist komischer Na­ tur, denn während es in der ersten um eine Beziehungen zwischen zwei Men­ schen ging, geht es jetzt um diejenige zweier Götter (und im nächsten Mythos um die Liebe eines Gottes zu einer Sterblichen). Die Minyade Leuconoe be­ ginnt mit der aus der Odyssee (8.266–366) wohlbekannten, von Demodokos

4.5  Metamorphosen, Buch 4

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am Hofe Alkinoos’ gesungenen Geschichte,244 wie Hephaistos, von Helios über Aphrodites Ehebruch informiert, in einem von ihm gewirkten Netz seine Frau mit ihrem Liebhaber Ares fängt, die in seinem Bette liegen, und beide den anderen Göttern vorführt. Sowohl Homer als auch Ovid lassen keinen Zweifel daran, daß derjenige, der sich lächerlich macht, alleine Hephaistos/Vulcanus ist, zumal da Hermes – bei Ovid ist es „aliquis de dis non tristibus“ („einer von den erheiterten Göttern“, 187) – ausdrücklich er­ klärt, er wäre gerne in derselben Lage wie Ares (8.335 ff.). Und doch ist bei allen Unterschieden in der Stimmung die Geschichte der vorangehenden ana­ log. Denn auch hier gibt es ein Paar, das sich liebt, und dem sich ein dritter entgegenstellt, der einen Rechtsanspruch zu haben glaubt, die Beziehung zu verhindern. Es ist diesmal nicht der Vater, sondern der Ehemann, aber Ovid nimmt dessen Anspruch nicht viel ernster, wie jeder Leser der Amores weiß. Da das Liebespaar göttlich ist, ist ein tragisches Ende ausgeschlossen, und da die olympischen Götter Humor haben, ist der einzige, der den Schaden trägt, der gehörnte Ehemann, der das Bedürfnis verspürte, seine nackte Frau allen anderen auch noch zu zeigen. Aber eine Gestalt in der Geschichte sorgt dafür, daß wieder eine tragische Dimension eintritt. Daß Ovid Petzer nicht mag, wissen wir schon aufgrund der Geschichte von Corvus,245 und Venus rächt sich an Sol ganz so wie ihr Sohn an Apollo, als dieser ihn nach der Tötung Pythons geschulmeistert hatte. Sie sorgt dafür, daß er sich in die orientalische Prinzessin Leucothoe verliebt und seine bishe­ rige Geliebte Clytie vergißt. „Nempe, tuis omnes qui terras ignibus uris,/ ure­ ris igne novo…“ („Du, des eigene Glut durchbrennt die sämtlichen Lande,/ Brennst von anderer Glut..,“ 194 f.). Wie nach dem Tode Phaetons vernachläs­ sigt Sol seine Pflichten als Sonnengott. Wie Jupiter Callisto, naht er Leuco­ thoe in weiblicher Gestalt, und zwar diesmal, was noch infamer ist, nicht als Herrin, sondern als Mutter, die die Tochter zunächst vor den Mägden küßt246 und diese dann wegschickt, bevor er sich zurückverwandelt und dem Mäd­ chen, das durch die Angst noch schöner wird (230)247, Gewalt antut. Zwar fügt sich Leucothoe, vom Glanz des Gottes überwältigt, und gibt ihre Klage Auf den homerischen Schwank bezieht sich Ovid in seiner Literaturgeschichte „sub specie amoris“ Tr.  2.377 f. Schon Am. 1.9.39 wird auf denselben Mythos, allerdings nicht seine literarische Gestaltung, Bezug genommen. 245 Vgl. auch AA. 2.575 mit Bezug auf Venus und Mars. 246 Zu zweideutigen Küssen als Frauen auftretender Götter siehe schon 2.430 f. und später 14.658 f. 247 Ähnlich 4.330 und 7.733, wo Scham und Schmerz es sind, die verschönern. Vgl. oben (S. 31) zu Am. 1.7.12 und 2.5.42 f. und siehe auch 3.7.82 sowie F. 2.757 und 5.608. 244

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auf, aber Ovid läßt in einem außerordentlich dichten Vers trotz der beiden Partizipialkonstruktionen keinen Zweifel daran, daß es Gewalt ist, die sie er­ duldet: „Victa nitore dei posita vim passa querella est“ („Überwältigt vom Glanz des Gottes, duldete sie, ohne zu klagen, seine Gewalttat“, 233; meine Hervorhebung). Aber wie bei Callisto hat damit Leucothoes Leiden noch kein Ende. Auch sie trifft die Eifersucht, nicht Junos, sondern Clyties, die sie (und das ist neu) allerdings nicht selbst bestrafen kann. Sie zeigt sie beim Vater Orchamus an, der sie lebendig begräbt, obwohl ihm die Tochter ausdrücklich sagt „Ille vim tulit invitae“ („Jener hat mir gegen meinen Willen Gewalt an­ getan“, 238 f.). Callisto hatte zu einer Verteidigung keine Chance bekommen; Ovid hatte sich vielmehr selbst in einer Apostrophe an die Göttin wenden müssen (2.435). Diana hatte Callisto zudem nur verstoßen. Das Verhalten des Vaters – der zudem der Vater ist! – ist also noch viel schrecklicher.248 (Wir sehen, wie Ovid hier mehrere Motive früherer Geschichten in eine einzige vereint und steigert.) Ovid, der vermutlich orientalische Sitten kritisieren will, kumuliert abwertende Adjektive wie „ferox“ („wild“) und „inmansuetus“ („erbarmungslos“, 237) sowie „crudus“ („grausam“, 240), um Orchamus zu kennzeichnen. Sol kann der Geliebten nicht helfen, sondern sie nur durch das Streuen von duftendem Nektar in einen Weihrauchbaum verwandeln: Nach der akustischen und der optischen Dimension des Narcissus-Echo-Mythos erscheinen hier erstmals olfaktorische Qualitäten. Sol schneidet Clytie seit­ dem, obwohl Ovid für ihre Zuträgerei mehr Verständnis hat als für diejenige Sols, denn das Petzen sei durch den Schmerz und dieser durch die Liebe entschuldbar – „quamvis amor excusare dolorem/ indiciumque dolor poterat“ (256 f.). Man beachte die chiastische Konstruktion, die die uns schon bekann­ te Formel „amor … dolor“ erzeugt, wobei diese Begriffe den ganzen Gedan­ ken einrahmen, was bei Parallelismus in der Konstruktion nicht der Fall wäre. Aus Schmerz fastet sich Clytie zu Tode und wird, ständig zur Sonne blickend (264 f.), zur Sonnenwende. Auf diese Weise bewahrt sie zwar ihre Liebe (270). Doch ist faszinierend, daß nicht einfach eine relationale Eigenschaft, eben die Liebe, verbleibt – das galt schon für Apollos Liebe zu Daphne (1.553) –, sondern daß die Liebe jetzt von der Frau und nicht vom Manne ausgeht. Clytie ist, nach der Nymphe Echo, an die sie erinnert, die erste unglücklich liebende Sterbliche, und da sie Sol an Kraft nachsteht, muß sie damit leben bzw. daran sterben. Anders im Fall der nächsten Geschichte, die von der dritten Minyade, Alcithoe, erzählt wird. Auch sie erwägt diverse Alternativen (genannt wird Kurz wiederholt wird das Motiv des um der Ehre willen tochtermordenden Vaters 8.593 ff. in der Geschichte von Perimele und Hippodamas. Siehe auch Ib. 571 f. zu Crotopus und Psamathe mit der deutlichen Verurteilung des Vaters.

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mit Sithon (280) jemand, der ebenfalls das Geschlecht gewechselt hat, und zwar anders als Tiresias immer wieder249), bevor sie sich auf die Nymphe Salmacis konzentriert.250 Wie Clytie ist diese Nymphe Subjekt, nicht Objekt des Begehrens; und wie die Götter der ersten Bücher holt sie sich, was sie braucht, mit Gewalt. Ja, ihre Vergewaltigung von Hermaphroditus ist die am detailliertesten beschriebene des ganzen Werkes. „The only rape scene in the Metamorphoses that involves explicit physical contact also involves a major role reversal.“251Aber nicht nur die Richtung, von der aus Gewalt geschieht, wird umgedreht; Salmacis wird explizit als Anti-Daphne oder Anti-Callisto beschrieben.252 Diana ist sie fremd, und auf die Jagd geht sie trotz der Auffor­ derung anderer Najaden nicht (302 ff.). Statt dessen badet, kämmt und schmückt sie sich. Wie Narcissus spiegelt sie sich gerne im Wasser (312), aber es ist nicht ihr eigenes Bild, in das sie sich verliebt, und sie begnügt sich nicht mit der Passivität Echos. Nachdem sie Hermaphroditus, den Sohn Mercurius’ und Venus’, erblickt hat, versucht sie sofort, ihn zur Verpaarung zu bewegen – die Unmittelbarkeit ihrer Begierde stellt sie viel eher den Göttern der ersten Bücher als den komplizierten Damen der späteren zur Seite, die in langen Monologen ihre Seelenqual reflektieren. Daß sie Hermaphroditus in dersel­ ben Weise anredet (320 ff.) wie Odysseus Nausikaa in der Odyssee (6.149 ff.), ist nicht beliebige Parodie; es soll zeigen, daß sie ebenso listig ist wie dieser und daß wie bei einem Mann die Initiative von ihr ausgeht. Zurückgewiesen, tut sie so, als ob sie sich zurückzöge, beobachtet aber mit zunehmender und kaum noch kontrollierbarer Lüsternheit den einen Teich mit dem Fuß testen­ den, sich ausziehenden und ins Wasser steigenden Knaben. Offenbar steht Salmacis mit diesem Teiche in einer besonders engen Beziehung.253 Sie stürzt Die Formulierung „naturae iure novato“ („durch Änderung des Gesetzes der Na­ tur“, 279) antizipiert 8.189 „naturamque novat“ („und er ändert die Natur“). Der Unterschied im Genus verbi ist wichtig – im zweiten Fall geht es um bewußte technische Leistung, nämlich die des Daedalus. 250 Ich abstrahiere hier von der ätiologischen Funktion der Geschichte, die angebliche Eigenart eines realen Teiches durch Hermaphroditus’ Fluch (285 ff., 385 ff., 15.319) zu erklären. F. 4.363 ff. wird dagegen eine Tendenz zur Selbstentman­ nung mit Eigenschaften eines Flusses erklärt. 251 Amy Richlin (1992), 165. 252 Vgl. Gregson Davis (1983), 63 ff. Davis’ Buch ist vorzüglich in der Analyse von Variationen, u. a. Spiegelungen, bestimmter erotischer Situationen. 253 Fränkel spricht von „half identity of naiad and pool“ (1945; 89) – kein sehr präzi­ ser Begriff. Einen wichtigen Fortschritt stellt Torsten Eggers (1984) dar, der bei Ovids Naturwesen fünf Identitätsstufen unterscheidet: Naturerscheinungen, Na­ turkräfte, bewußt wirkende Naturkräfte, lokale und verselbständigte Götter (18 f.). Bei Salmacis bestehe eine besondere Beziehung zwischen zweiter und fünfter 249

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sich, nun ebenfalls nackt, auf den badenden Jungen, dessen sie sich mit nicht minderer Gewalt bemächtigt als früher die männlichen Gottheiten der Nym­ phen: „Pugnantemque tenet luctantiaque oscula carpit/ subiectatque manus invitaque pectora tangit/ et nunc hanc iuveni, nunc circumfunditur illac“ („Hält den Streitenden fest und raubt im Ringen ihm Küsse,/ Schiebt ihm unter die Händ‘ und berührt den wehrenden Busen,/ Und bald schmiegt sie sich hier, bald schmiegt sie sich dort an den Jüngling“, 358 ff.). Da sich der Junge wehrt, bittet Salmacis die Götter,254 kein Tag möge sie mehr von Herm­ aphroditus trennen. Sie wird erhört: Die Körper der beiden verschmelzen, wie wenn einem Baum ein Ast eingepfropft wird. „Sic, ubi conplexu coierunt membra tenaci,/ nec duo sunt sed forma duplex, nec femina dici/ nec puer ut possit, nec utrumque et utrumque videtur.“ („Also, wie sich verschränkt die Glieder in enger Verschlingung,/ Sind’s nicht zwei und doch ein Doppelge­ schöpf, das zu heißen/ Knabe so wenig wie Weib; sie scheinen keines und beides“, 377 ff.) Offenkundig wird hier die Kritik an der Aristophanesrede des Symposion wiederholt, ja, vertieft. In der Narcissusepisode wurde ge­ zeigt, daß das Fehlen von Dualität Liebe verunmöglicht; hier wird darüber hinaus deutlich gemacht, daß selbst bei Vorliegen von Zweiheit die Ver­ schmelzung kein guter Gedanke ist. Gewiß, in Ovids Falle geht der Wunsch danach, anders als bei den Hephaistos antwortenden Liebhabern, nur von einer Seite aus. Aber das Resultat wäre in jedem Fall betrüblich: statt des sexuellen Dimorphismus ein Zwittertum, das weder Fisch noch Fleisch ist.255 Man beachte, daß durch die bewußte Vermeidung von „neutrum“ „utrumque“

Stufe, aber keine Identität (199). Er kontrastiert Cyane, bei der die vierte in die erste Identitätsstufe sich auflöst: „et, quarum fuerat magnum modo numen, in il­ las/ extenuatur aquas“ („Und in die rinnende Flut, darin sie eben als Gottheit/ Waltete, wird sie verdünnt“, 5.428 f.). Leider wird 6.685 ff. zu Boreas ignoriert, der zwischen zweiter, dritter und fünfter Stufe sich hin- und herbewegt. In den Fasti ist 4.231 f. besonders erhellend, wo ein Baum als „Schicksal“ („fatum“) einer Najade bezeichnet wird – mit dessen Zerstörung sei auch diese zugrunde­ gegangen. Ähnlich M. 8.777. 254 Sie mag besonders Bacchus im Auge haben, dem im Hymnus der Frauen von Orchomenos am Anfang des Buches hermaphroditische Eigenschaften zugespro­ chen wurden: „puer aeternus“ („ewiger Knabe“, 18) – „virgineum caput“ („jung­ fräuliches Haupt“, 20). Siehe die klärenden Ausführungen bei Hardie (2002; 171 f.). 255 Eine Beschreibung von Zwittern nicht lange nach Ovid findet man bei Plinius (Naturalis historia (Naturgeschichte) 7.3.34). Die Stelle wird von Aulus Gellius, Noctes atticae, 9.4.16 zitiert. Als Zwitter wird Favorinus von Philostratos, Βίοι σοφιστῶν (Lebensbeschreibungen der Sophisten), 1.8 dargestellt.

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(„beides“) zweimal erscheint. Das ist Sprachmalerei, die die Irreduzibilität der Zweiheit betont. Nach der Verwandlung der Minyaden kehrt die Geschichte zur letzten noch unbehelligten Cadmustochter zurück, zu Ino und ihrem Mann Athamas, der, von Tisiphone auf Junos Anordnung mit Wahnsinn geschlagen, eines sei­ ner Kinder tötet. Ino stürzt sich mit dem anderen, Melicertes, ins Meer; doch werden beide von Neptunus in die Gottheiten Leucothea und Palaemon ver­ wandelt. Verwandelt werden von Juno auch die Gefährtinnen Inos, die sich über die Rachsucht der Göttin zu beschweren gewagt hatten (543 ff.) – womit nur die Berechtigung ihrer Kritik bewiesen wird, auch wenn sie von Juno zum Schweigen gebracht werden. Verwandelt werden schließlich Cadmus und Harmonia in Schlangen – damit wird der thebanische Sagenkreis abge­ schlossen und die Prophezeiung zu Beginn des dritten Buches erfüllt (3.98). Aber in Wahrheit handelt es sich um eine Übererfüllung. Cadmus’ Verwand­ lung in eine drachenartige Schlange wird ebenso anschaulich und ergreifend geschildert wie diejenige der Callisto in eine Bärin. Nach dem Verlust der Beine und damit der Mobilität bleibt ihm für eine kurze Zeit noch die Spra­ che, bis ihm die Zunge gespalten wird und er nur noch zischen kann. Seine letzten Worte richtet er an die Gattin, sie solle ihn berühren, solange noch etwas von ihm dasei, und seine Hand ergreifen (583 ff.). Geschickt läßt Ovid die letzten Schritte der Verwandlung durch Harmonia als Augenzeugin selber beschreiben, und zwar in zweiter Person. Die zwei Imperative und vier Fra­ gen, die sie an den Gatten richtet, sind Ausdruck des verwirrenden Gesche­ hens, das nicht aus epischer Distanz berichtet werden soll. Entscheidend ist freilich die letzte Frage, diesmal an die Götter – warum nicht auch sie in eine Schlange verwandelt werde. Da leckt Cadmus ihr Gesicht, schlüpft in ihren Busen und tauscht Zärtlichkeiten mit ihr aus. „Et subito duo sunt iunctoque volumine serpunt,/ donec in adpositi nemoris subiere latebras./ nunc quoque nec fugiunt hominem nec vulnere laedunt,/ quidque prius fuerint, placidi me­ minere dracones.“ („Da sind plötzlich es zwei, und sie kriechen in Windun­ gen einig,/ Bis sie erreicht das Versteck des nahe gelegenen Haines./ Jetzt auch fliehn vor den Menschen sie nicht, nicht schlagen sie Wunden,/ Und was sie waren zuvor, das denken die friedlichen Drachen“, 600 ff.) Das „placidi“ erinnert intertextuell an die Schlange, die Aen. 5.84 ff. am Grabe des An­ chises erscheint und von der Aeneas unschlüssig ist, ob sie ein Genius des Orts oder eine dem Vater dienende Gestalt ist, und die sich ebenfalls „placi­ de“ (8) verhält. Bei Vergil freilich ist es ein einzelnes Lebewesen, das besten­ falls einem Toten dient; bei Ovid handelt es sich um traute Zweisamkeit. Diese Verwandlung ist eine der poetischsten des Werkes, denn es ist die erste eines Liebespaars. Die überlebende Gattin leistet freiwillig auf das Wei­ terleben als Mensch Verzicht, und die Liebkosungen des Drachen-Mannes

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verwandeln auch sie.256 Am nächsten kam ihr die Versetzung in den Sternen­ himmel von Callisto und Arcas, aber dabei handelte es sich um Mutter und Sohn. Die Verzwitterung von Hermaphroditus wird man schwerlich als Wand­ lung eines Liebespaares deuten; denn die gewalttätige Liebe Salmacis’ war recht einseitig. Cadmus und Harmonia erinnern an Deucalion und Pyrrha, aber ersten wurden diese nicht selbt verwandelt, sondern nur die von ihnen geworfenen Steine, und zweitens werden sie erst im hohen Alter zu Gründern. Cadmus’ Gründungsleistung liegt dagegen lange zurück, ein Leben voller Leiden ist darauf gefolgt. Ovid scheint mit dem Ausklingen dieses Lebens die Botschaft zu verbinden, eheliche Liebe über den Tod hinaus sei viel wichtiger als die Gründung selbst einer großen Stadt, deren weitere Geschicke er igno­ riert: Cadmus’ Sohn Polydorus, der Urgroßvater des Oedipus, wird anders als die Töchter nirgends erwähnt. Die Wendung „duo … iunctoque volumine“ ist gegen die forcierte Verschmelzung von Salmacis und Hermaphroditus ge­ richtet: Cadmus und Harmonia bleiben zwei, aber sie sind miteinander har­ monisch verbunden. Weder sind diese zwei Drachen aggressiv, noch haben sie Anlaß zur Furcht; gemeinsame friedliche Erinnerungen machen ihr Da­ sein aus. Das ist die eigentliche Überwindung des Aggressionspotential der Drachensaat und des Schlangenwesens, das nicht nur in der Menschen-, son­ dern auch in der Götterwelt bedrohlich waltet. Denn die Schlangen, die die Erinys Tisiphone mit sich bringt und von denen sie zwei auf Athamas und Ino schleudert (490 ff.), sind das Gegenteil des freundlichen Drachenpaares, das um so verehrungswürdiger ist, als seine eigentliche Natur gewalttätig ist. Lie­ be kann sie bändigen und umgestalten. Acrisius’ Ablehnung des Bacchuskultes in Argos leistet den Übergang zu seinem Enkel Perseus. Die mit ihm verbundene Geschichte erstreckt sich vom Ende des vierten hinein in das fünfte Buch. Ich erwähnte schon oben (S. 24) Gärtners Erklärung, der odysseische und der iliadische Teil des Mythos seien durch die Buchgrenze abgetrennt. Beachtlich ist, wie Ovid, ganz wie in den homerischen Werken, durch Rückblende die Ordnung des Erzählens von der chronologischen Reihenfolge des Erzählten abweichen läßt. Die Tötung der Medusa berichtet Perseus erst bei der Hochzeit mit Andromeda; ihr gehen voraus die Versteinerung des Atlas zum Atlasgebirge durch das abgeschlage­ ne Haupt der Medusa und der Sieg über das Seeungeheuer, dem Andromeda zum Opfer gebracht werden sollte.257 Durch den Himmel fliegend erblickt Perseus das angekettete Mädchen, das schuldlos für die Angeberei ihrer Mut­ Von seiner eigenen Gattin erwartet der verbannte Dichter, sie solle bereit sein, für ihn oder mit ihm zu sterben (EP. 3.1.105 ff.). 257 Faszinierend an der Schilderung des Kampfes (711 ff.) ist der schnelle und wieder­ holte Blickwechsel vom einen zum anderen Kontrahenten. Philipp Fondermann 256

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ter mit der eigenen Schönheit gegenüber den Nereiden (5.17) büßen muß. Mit äußerster Deutlichkeit nennt Ovid diese Strafe unverdient („immeritam“, 4.670) und den sie verhängenden Gott Ammon ungerecht („iniustus“, 671).258 Perseus ist von der Prinzessin angezogen, die er fast für eine Statue gehalten hätte, wenn nicht ihr Haar im Winde geweht und ihre Augen getränt hätten – einerseits ist das mit dem Versteinerungsthema verbunden (vgl. 780 f., 5.223 ff.), andererseits klingt das Pygmalion-Motiv erstmals an, das in die umgekehrte Richtung weist, weil in dieser Geschichte nicht Lebewesen zu Kunstwerken, sondern ein Kunstwerk lebendig wird. „Trahit inscius ignes/ et stupet et visae correptus imagine formae/ paene suas quatere est oblitus in aëre pennas“ („entbrennt er im Innern,/ Ohn‘ es zu wissen, und staunt, und betroffen vom Bilde der Schönheit/ Hätt‘ er vergessen beinah in der Luft zu schlagen die Flügel“ 675 ff.) Die Verse deuten einerseits an, ein Sich-Verlie­ ben erfolge schon, bevor man sich seiner bewußt werde, und weisen auf eine erste Gefährdung Perseus’ hin, der ohne Bewegung seiner Flügel ja abstürzen könnte. „Visae conreptus imagine formae“ wiederholt andererseits die letzten vier Worte von Vers 3.416, in dem von Narcissus die Rede ist. Es ist nicht immer leicht zu entscheiden, ob in einem solchen Fall eine unbewußte Wie­ derverwendung einer Formel oder eine bewußte intratextuelle Anspielung vorliegt. Bei einem Dichter, der in einer langen mündlichen Tradition steht, ist ersteres wahrscheinlicher; doch bei einem Dichter von der vollkommenen Sprachgewalt Ovids ist die zweite Annahme von vornherein plausibler, zu­ mal wir gerade die Prolepse einer späteren Geschichte erlebt haben – ein Rückverweis paßt dazu gut.259 Und ein Zitat zum Zweck der Kontrastierung gibt guten Sinn: Perseus ist ein Anti-Narcissus. Nicht nur geht er auf einen wirlichen, anderen Menschen zu; er begnügt sich nicht damit, diesen zu be­ trachten, sondern kämpft um seine Rettung und riskiert dabei sein Leben, während Andromedas Eltern ihr keine Hilfe, sondern nur lautes Weinen zu bieten haben (693 f.). Perseus ist nach der langen Reihe von Vergewaltigern die erste ritterliche Gestalt der Metamorphosen, denn er setzt Gewalt nicht gegen eine Frau ein, sondern gegen diejenigen, die sie bedrohen. Zwar mag man einwenden, auch Andromeda wähle Perseus nicht frei; denn er bedingt sich für seinen Einsatz von den Eltern ihre Hand aus (703), und diese haben angesichts der Tatsache, daß das Ungeheuer schon auf ihre Tochter zuschwimmt, keine wirkliche spricht in seiner nützlichen Analyse der Visualisierungsstrategien Ovids von „Wildbewegtheit“ (2008; 63). 258 Ähnlich 14.469. Zur Ungerechtigkeit der Strafen der als Naturkräfte sich manife­ stierenden Götter siehe auch EP. 3.6.27 ff. 259 Das Korallenmotiv 740 ff. wird 15.416 f. von Pythagoras wiederaufgegriffen.

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Wahl: „Quis enim dubitaret?“ („Denn wer würde da zögern?“, 704) Aber das entspricht, zumal angesichts des Zeitdrucks (695 f.), durchaus den Üblichkei­ ten, und die Eltern bieten mehr, als er verlangt, nämlich auch das Königreich, das er allerdings ausschlägt (705, 757 f.). Bei der ersten Begegnung von An­ dromeda und Perseus hatte sich diese geöffnet und ihm die Wahrheit über ihre Situation erzählt, auch wenn sie sich anfangs aus Schüchternheit das Ge­ sicht hatte bedecken wollen, jedoch von den Ketten an ihren Händen daran gehindert worden war (682 f.). Aber es ist sicher richtig, daß auch die ritterli­ che Erwerbung der Frau, obgleich ein Fortschritt, nicht der Gipfel der Ent­ wicklung ist. Wir lesen nichts von ihrem Dank an und ihrer Zuneigung für ihren Retter, nur von der Freude der Eltern (736 ff.); sie selbst wird nur zwei­ mal als „Preis“ bezeichnet („pretium“, 739; „praemia“, 757). Eine ritterliche Welt ist immer noch eine Männerwelt, die sich durch Gewalt definiert, wenn auch nicht mehr durch sexuelle Gewalt gegen schöne Frauen. Wir sehen das deutlich an der Fortsetzung der Geschichte.

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 etamorphosen, Buch 5. Aeneis-Parodie. Die metapoetische Deutung M des Haupts der Medusa. Das erste homosexuelle Paar: Athis und Lycabas. Die Scharnierfunktion der Pyreneus-Geschichte. Cyanes grundsätzliche Verurteilung von Vergewaltigung. Ein Selbstvergleich Ovids mit Vergil mithilfe eines Vergleichs Vergils. Solidarität unter Frauen nach dem Raub der Proserpina. Bericht in erster Person über einen Vergewaltigungsversuch: Arethusa

Das fünfte Buch beginnt mit dem Auftritt von Andromedas Onkel und ehe­ maligem Verlobten Phineus, der mit großem Gefolge beim Hochzeitsfest ein­ trifft (dem ersten der Metamorphosen), um die ihm durch die Bevorzugung des Perseus angetane Schmach zu rächen. Zwar hat er nichts getan, um die vor seinen Augen an den Felsen gebundene, ihm verlobte Nichte zu retten, wie ihm sein Bruder Cepheus entgegenhält, so daß er Andromeda in jedem Falle verloren hätte (22 ff.). Aber die Gockel-Ehre des Mannes ist Argumen­ ten selten zugänglich. Es folgt eine der beiden großen Schlachtszenen des Werkes – die andere behandelt im zwölften Buche die Schlacht zwischen Kentauren und Lapithen bei der Hochzeit von Pirithous und Hippodame, die einer der Kentauren begehrt. Es ist bezeichnend, daß die beiden wichtigsten Kampfdarstellungen mit Hochzeiten verknüpft sind: Wie in der Tierwelt ist auch beim Menschen intrasexuelle Rivalität der Männer oft Anlaß zur Ge­ walt, und es ist diese mit dem erotischen Hauptthema verbundene Gewalt, die Ovid am meisten interessiert. Dabei besteht zwischen dem Geschehen im fünften und demjenigen im zwölften Buch der Unterschied, daß Phineus mit aggressiven Absichten zur Hochzeit kommt, während sich diese bei dem be­ trunkenen und lüsternen Kentauren erst auf der Feier ergeben. Unter mora­ lischen Gesichtspunkten ist deren Verhalten primitiver, weil sinnlicher und ­planloser als dasjenige des Phineus; bei Mischwesen aus Tier und Mensch kann das schwerlich überraschen. Ich räume ein, daß im Rahmen meines geschichtsphilosophischen Deutungsversuches die Schlacht von Kentauren und Lapithen an einen früheren Platz gehören sollte als diejenige von Per­ seus und Phineus; aber hier waren Ovid die Hände durch die traditionelle Chronologie gebunden. (Die frühere Datierung der letzteren bleibt auch dann bestehen, wenn man berücksichtigt, daß es sich im zwölften Buch um eine Analepse handelt.) Beide Szenen sind auf jeden Fall Eposparodien. Otis behauptet zwar: „Ovid had no taste for heroes and, certainly, no capacity for creating them. His imitation of Virgil is for once without the excuse of parody or of delibe­ rately designed incongruity.“ (1970; 163) Er bezieht sich auf den Schluß der Episode (210 ff.), wo Perseus dem um sich herum versteinerte Gefährten er­ blickenden, nun um sein eigenes Leben bettelnden Phineus versichert, er wer­

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de ihn nicht mit dem Schwert töten, sondern ein Monument errichten, so daß sich seine Frau immer im Hause ihres Vaters an dem Bild ihres ehemaligen Verlobten trösten könne – und ihn dann versteinert. Einerseits liegt darin eine Anspielung auf Aeneas’ Weigerung, den besiegten Turnus zu schonen (Aeneis 12.930 ff.); allgemein entspricht Phineus, der gekränkt ist, daß ihm die Ver­ lobte genommen wurde, offenkundig Turnus. Auch wenn Ovids Perseus viel grausamer ist als sein literarischer Vorgänger, der zunächst erwägt, Turnus’ Bitte nachzugeben, und nur durch den Anblick des Waffengürtels des von Turnus getöteten Pallas bewogen den Feind niedersticht, scheint mir doch Ovid Vergil gerade dadurch kritisieren zu wollen, daß er die bei jenem menschlich verständliche Tötung durch eine grausame Verhöhnung überbie­ tet, die, so soll wohl suggeriert werden, viel eher zum Wesen des Krieges passe. Es kann nicht überraschen, daß Ovid die Ungerichtetheit des Schlach­ tens unterstreicht: Auch Neutrale kommen zu Tode (90 f.); das Haupt der Me­ dusa versteinert auch einen Gefährten des Perseus (200 ff.). Andererseits begreift Otis nicht, daß die Verwandlung von Lebewesen in Statuen ein Symbol der poetischen Arbeit ist. Es fällt schwer, im durch die Lüfte schwebenden Perseus nicht ein Symbol des Dichters zu sehen, mit des­ sen Apotheose „super alta … astra“ (15.875 f.) das Werk endet.260 Das gilt um so mehr, als der Tod der Medusa mit der Entstehung des Rosses Pegasus ver­ bunden ist (4.785 f.), dessen Hufschlag der Ursprung der Musenquelle Hippo­ crene ist (5.256 ff., 312; F. 3.450 ff.),261 zu welchem Ort sich die Handlung später verlagert. Aber der entscheidende Grund für die Korrektheit der Deu­ tung ist, daß der Dichter genau das tut, was Perseus mithilfe des Hauptes der Medusa leistet: Er gibt den Dingen Dauer, beraubt sie aber zugleich des Le­ bens. Sicher sind es Statuen, die Perseus erzeugt;262 aber wir haben zu Beginn schon (S.  6 f.) gesehen, daß Ovid von einer Wesensanalogie der einzelnen Künste ausgeht. Wie das Haus des Cepheus von zumindest einer Statue eines versteinerten Helden verziert wird, so unsere Bibliotheken von der poetischen Transformation der nicht mehr geglaubten antiken Götter und Heroen in den  Zum Durchfliegen unermeßlicher Räume durch den Geist des Dichters vgl. Tr.  4.2.57 ff. Schon Horaz hat am Ende des zweiten Buches der Oden mit der ei­ genen Metamorphose in einen Schwan die Unsterblichkeit seiner Dichtung sym­ bolisiert (2.20.9 ff.). 261 Hesiod erwähnt Hippokrene gleich zu Beginn der Theogonie (6), doch ist Pega­ sos, obgleich in seinem Werk eine wichtige Figur (280 ff., 325), noch nicht mit der Quelle verbunden. 262 Wenn Ib. 445 auf die durch Horaz, Epoden 6.14 bekannten Hipponax und Bupalus oder – so Ralph M. Rosen (1988) – dessen Bruder Athenis anspielt, dann wird ein Bildhauer „frater Medusae“ oder „Medusa“ genannt. Doch ist der Vers notorisch schwer zu deuten, von den textkritischen Problemen abgesehen. 260

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Metamorphosen selber. Sicher hat Ovid sich an Platons Schriftkritik im Phaidros (275 d ff.) erinnert, die das literarische Werk mit der Malerei ver­ gleicht. Ob er auch Alkidamas’ Rede Περὶ Σοφιστῶν (Über die Sophisten), die Schriftwerke mit Statuen aus Erz und Stein vergleicht, 263 gekannt hat, vermag ich nicht zu entscheiden. Stimmt meine Interpretation, wird man in den ersten Opfern der Versteinerung, Thescelus, der nicht an die Macht des Medusenhauptes glauben will (181 ff.), dem Protzer Nileus, der das Haupt schlichtweg ignoriert (187 ff.), und Eryx, der gegen die Zauberei Einspruch erhebt (195 ff.), Symbole für drei verschiedene negative Reaktionen auf die Dichtung sehen – das Nicht-Anerkennen-Wollen ihrer Macht, das komplette Ignorieren und die moralistische Empörung über ihre unheimliche Wir­ kung.264 Wenn Ovid die grausigsten und oft völlig unrealistischen Details im Pro­ zeß des wechselseitigen Tötens schildert, empfindet der Leser, da er die mei­ sten kurz auftretenden Charaktere und den Anlaß des Kampfes kaum ernst nimmt, keine Empathie, sondern eher Amüsement. Ein Beispiel genüge. „Huic Chromis amplexo tremuli altaria palmis/ decutit ense caput, quod pro­ tinus incidit area/ atque ibi semianimi verba exsecrantia lingua/ edidit et me­ dios animam exspiravit in ignes.“ („Dem schlug, wie er sich hielt mit zittern­ den Händen am Altar,/ Chromis hinweg mit dem Schwerte das Haupt; das lag auf dem Herde/ Und stieß Worte des Fluchs mit halblebendiger Zunge/ Dort noch aus und verhauchte den Geist in die Mitte des Feuers“, 103 ff.) So stirbt man nicht, und Ovid, der mit den zwar ebenfalls oft grausigen, aber stets prä­ zisen und realistischen Todesschilderungen bei Homer und Vergil vertraut ist,265 weiß es. Eine Analyse der ganzen Kampfszene ist im Zusammenhang dieser Monographie nicht angebracht;266 hervorzuheben ist allerdings, daß 27 (S. 202 in Friedrich Blass’ Antiphon-Ausgabe). Alexandra Bartenbach, die den metapoetischen Zusammenhang nicht sieht, hat zu Recht darauf hingewiesen, daß Thescelus’ Versteinerung der Ungläubigkeit und Unfähigkeit entspricht, sich „von einem Wunderding wie dem Gorgohaupt“ rüh­ ren zu lassen (1990; 25). 265 Am ehesten antizipiert Aen. 12.283–310 die beiden Schlachtenschilderungen bei Ovid, weil auch hier das Töten innerhalb eines festlichen Rahmens beginnt, frei­ lich keiner Hochzeit, sondern eines Vertragsabchlusses. So werden in beiden Fäl­ len Gegenstände zu Waffen, die eigentlich zu etwas ganz anderem bestimmt sind. 266 Der Vergleich 5.164 ff. (mit einem Tiger, der unsicher ist, welche Herde er angrei­ fen soll) ist von Bedeutung in der Geschichte des Problems der Wahl ohne Präfe­ renz, also des sogenannten Esels Buridans. In Nicholas Reschers meisterhaftem Aufsatz (1959), der u. a. die arabischen Philosophen behandelt, die sich zu dem Thema geäußert haben, wird die Stelle ignoriert, die vielleicht Dante, Paradiso, 4.1 ff. beeinflußt hat. 263 264

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hier das erste homosexuelle Paar des Werkes auftritt, dessen treues Einstehen füreinander einen Lichtblick innerhalb der Mordszenen darstellt, ganz so wie dasjenige des heterosexuellen Kentaurenpaars Cyllarus und Hylonome 12.393 ff. Der Inder Athis und der Assyrer Lycabas, ,“ihm als Gefährte/ Innig vereint und nie aufrichtige Liebe verleugnend“ („iunctissimus illi/ et comes et veri non dissimulator amoris“, 60 f.), sind selbstredend der Episode mit Nisus und Euryalus im neunten Buch der Aeneis nachgebildet.267 Aber auch hier ist die parodistische Absicht nicht zu verkennen. Der Kontrast zwischen der ele­ ganten Erscheinung des Nymphensohnes Athis und der Brutalität, mit der er von Perseus erschlagen wird – „perculit et fractis confudit in ossibus ora“ („schlägt zu und zerquetscht das Gesicht am zerschmetterten Schädel“, 58) – sowie der Gegensatz zwischen den hochtönenden Worten Lycabas’, Perseus werde sich nicht lange am Schicksal des Erschlagenen erfreuen (65 f.), und der Schnelligkeit, mit der auch er von Perseus getötet wird, sind atemberaubend. Das heißt keineswegs, daß Ovid den „Trost vereinten Todes“ („iunctae solacia mortis“, 73) verächtlich machen möchte; denn er hat kurz vorher die Würde bewundert, mit der Harmonia Cadmus in das Drachendasein folgte. Aber die­ ses war ein friedliches Dasein; und wenn auch die subjektive Leistung des jungen Liebespaares bemerkenswert bleibt, will Ovid doch unterstreichen, daß sie wegen einer unsinnigen Sache gestorben sind, die einen Krieg nie verdient hätte. Daher ist der gemeinsame Tod, auf den sich ihre Vereinigung reduziert (man bemerke, wie der Superlativ „iunctissimus“ zum Positiv „iunc­ tae“ abgeschwächt wird), nicht mehr als ein Trost. Anders als Vergil (9.446) vermeidet Ovid ganz bewußt ein „Fortunati ambo!“ („Glücklich beide!“). Nach der Versteinerung zweier weiterer Gegner des Perseus, Proteus’ und Polydectes’, die nach dessen Rückkehr in die Heimat erfolgt, wendet sich die Geschichte zu den Musen, die Minerva aufsucht. Der lahme Übergang (Mi­ nerva ist Halbschwester des Perseus, 250 f.) verdeckt ganz bewußt den inneren Zusammenhang, von dem erst die Rede war – die metapoetische Bedeutung des Hauptes der Medusa. Die Musen erzählen Minerva zunächst von dem Ver­ such des thrakischen Fürsten Pyreneus, sie zu vergewaltigen, nachdem er ih­ nen vor Unwetter Unterschlupf angeboten hatte – und zwar von Anfang an in der Absicht, seine Gastlichkeit zu mißbrauchen. Die Szene hat aus zwei Grün­ den hier ihren wohlbestimmten Platz. Die Salmacis-Geschichte hatte erstens gerade eine Form der Umkehrung der ursprünglichen sexuellen Interaktion vorgeführt, also der Vergewaltigung sterblicher Frauen durch männliche Götter, indem dieses Mal eine Frau einen Mann vergewaltigte. Jetzt betrifft die Inversion nicht den Gegensatz von Mann und Frau, sondern denjenigen von Göttern und Sterblichen. Ein Sterblicher versucht, Göttinnen Gewalt Ein weiteres homosexuelles Soldatenpaar wird Aen. 10.324 ff. kurz genannt.

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anzutun,268 scheitert aber in grotesker Selbstüberschätzung, indem er ihnen, die Flügel haben, von einem Turm aus nachspringt, selbstredend in seinen Tod (289 ff.). Der Kontrast besteht nicht nur zu den Musen, sondern auch zum ge­ flügelten Perseus; und auch dieser doppelte Kontrast dient dazu, die Beziehung zwischen Perseus und den Musen anzudeuten. Zweitens gehört Pyreneus zur langen Reihe von Sterblichen, die die Götter mißachten; und auch wenn seine Mißachung besonders brutal ist, ist sie primitiver als diejenige der auf ihn unmittelbar folgenden Künstlergestalten, die die Götter herausfordern. Primi­ tiver ist Pyreneus auch als jener andere thrakische König, Tereus, der seine sexuelle Begierde in viel schrecklicherer Weise zu verbergen weiß.269 Die Stimmen von Elstern lenken Minervas Aufmerksamkeit auf sich, und eine Muse erzählt ihr, daß die neun Töchter des Pieros aus Pella in Makedo­ nien, die sie so verwandelt vor sich sieht, einst die Musen zu einem Gesang­ wettstreit in Stimme und Kunst (310) herausgefordert hätten und nach ihrer Niederlage durch die Metamorphose bestraft worden seien. Der nur kurz nacherzählte Gesang der Pieriden widerspricht dem, was Ovid selbst im er­ sten Buch vorgelegt hat, muß also als falsch innerhalb der durch die Metamophosen konstituierten Welt gelten; denn die Pieriden preisen die Giganten. Vor Typhoeus seien die olympischen Götter nach Ägypten geflohen, wo sie sich in Tiere verwandelt hätten (318 ff.).270 Für theriomorphe Gottheiten hat, wie gesagt (S. 8), Ovid keine Sympathie, der nur einen Gott, und zwar ein einziges Mal (Jupiter bei der Verführung Europas), eine Tiergestalt annehmen läßt; daß Arachne dagegen sich auf diese Art der Metamorphose konzentriert (6.103 ff.), erweist sie als Geistesverwandte der Pieriden. Für die Musen habe Calliope erwidert,271 indem sie gegen die Pieriden die Bändigung Typhoeus’ durch die Götter herausgestrichen habe, die Sizilien auf ihn getürmt hätten. Die letzte logisch mögliche Umkehrung ist im Werke ausgespart, weil sie zu ab­ surd wäre – der Versuch einer Sterblichen, einen Gott zu vergewaltigen. 269 Spahlinger 1996; 194) weist auch auf den nicht namentlich genannten Diomedes (9.194 ff.) und den nur kurz erwähnten Polymestor (13.435 ff.) als zwei weitere Beispiele schrecklicher thrakischer Könige. Der Skythenkönig Lyncus ist aus demselben Holz geschnitzt, wobei seine beabsichtigte Verletzung der Gastfreund­ schaft ebenso wie seine Verwandlung in einen Luchs an Lycaon erinnert (5.650 ff.). Daß er kein Grieche ist, beweist, daß in Griechenland wenigstens seit den Zeiten Lycaons eine Humanisierung stattgefunden hat. Die Mißachtung von Gastgeber­ pflichten, die die Thraker kennzeichnet, ist nicht mehr üblich. 270 Zwar werden bei Antoninus Liberalis, der Nikandros folgt, die Flucht der meisten Götter nach Ägypten und ihre Verwandlung in Tiere als wahr berichtet (28.2 f.), aber Ovids polyphonische Erzählkunst erlaubt innerhalb seines Werkes Berichte, die in seiner Welt nicht zutreffen. 271 Die Musen bilden hier eine einheitliche Front – anders als F.  5.7 ff. 268

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Die Eruptionen des Aetna zeigten freilich, daß er sich immer noch wehre.272 Sein Verhalten habe die Unterwelt bedroht, und daher sei Dis auf die Erde gestiegen, um zu prüfen, was gefährdet sei (359 ff.). Seine Inspektionsreise erinnert an diejenige Jupiters nach dem durch Phaethon verursachten Welten­ brand (2.401 ff.), doch kommt das Feuer diesmal von unten, nicht von oben. Anders als Jupiter ist Dis erotisch nicht erfahren. Venus veranlaßt Amor, ihn zu treffen, was eine blitzschnelle Kettenreaktion auslöst: Dis sieht die auf ei­ ner Wiese Blumen pflückende Proserpina, verliebt sich in sie und ergreift sie – „paene simul visa est dilectaque raptaque Diti“ („Schaut und begehrt und entführt sie Dis, fast alles auf einmal“, 395273). Das Trikolon und Homoiote­ leuton erinnert, wenn es auch weder Alliteration noch gleiche Silbenzahl auf­ weist noch ein Asyndeton ist, an Caesars „veni vidi vici“ („ich kam, ich sah, ich siegte“) nach der Schlacht bei Zela.274 Es handelt sich um eine ironische erotische Deflationierung einer militärischen Leistung. Dabei ist das Genus verbi zu Recht verändert: Allein das Passiv ist angemessen, weil nicht die Perspektive des Siegers, sondern die des Opfers im Vordergrund steht. Warum diese erneute Vergewaltigungsszene? (Das Fallenlassen der Blu­ men 399 ff. deutet auf die bevorstehende Defloration.) Da bei Ovid die Ord­ nung des Erzählens den Ausschlag gibt, wäre es irreführend zu sagen, Cal­ liope berichte von einer früheren Zeit. Besser wäre es, eine räumliche Extension des erotischen Prinzips hervorzuheben, da Venus ihre Macht nach Himmel und Meer auch auf das letzte Drittel der Welt ausdehnen will (369 ff.), was Liebe über den Tod hinaus ermöglicht.275 Aber der entscheiden­ de Punkt ist, daß erst im Zusammenhang mit der Entführung Proserpinas das grundlegende moralische Prinzip geäußert wird, daß nur Sexualität, die bei­ derseits freiwillig ist, moralisch akzeptabel ist. Es ist eine Frau, die Nymphe Cyane, die als Augenzeugin des Vorgangs lauthals gegen den Raub des Mäd­ chens protestiert. Die zentralen Verse, auf die man viereinhalb Bücher warten mußte, lauten: „Non potes invitae Cereris gener esse: roganda,/ non rapienda Ovid hatte bei seiner Sizilienreise, bei der er auch die Flüsse Cyane und Arethusa sah, eine solche Eruption des Vulkans selber beobachtet (EP. 2.10.23 ff.). 273 Ähnlich F. 3.21 zu Mars und Silvia. 274 Suetonius, Vita Divi Iuli (Leben des göttlichen Julius), 37.2. 275 Hinds, dem wir nach Heinzes klassischer Abhandlung (1919) einen weiteren, die klare Abgrenzung der Genres eher hinterfragenden Vergleich der elegischen (F. 4. 417–620) und der hexametrischen Fassung des Raubs der Proserpina verdanken, hebt zu Recht als einen der Unterschiede den kosmischen Rahmen dieses Aktes in den Metamorphosen hervor: „The elegiacs of the Fasti are innocent of this preten­ sion to cosmic significance“(1987; 109). F.4.418 kann, muß aber nicht auf die Priorität der Metamorphosen-Fassung verweisen. 272

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fuit.276 Quodsi conponere magnis/ parva mihi fas est, et me dilexit Anapis,/ exorata tamen, nec, ut haec, exterrita nupsi.“ („Darfst du Ceres zum Trotz ihr Eidam werden? Nur Bitten/ Standen dir zu, nicht Raub. Wofern mit Großem Geringes/ Mir zu vergleichen vergönnt: um mich auch freite Anapis;/ Aber ich folgt’ ihm gebeten und nicht, wie diese, verängstigt“, 415 ff.) Zwar bezieht sich der erste Satz auf den Konsens der Mutter, nicht der Braut; und daher liegt es zunächst nahe, als Subjekt von „roganda“ ebenfalls die Mutter zu verstehen. Aber „non rapienda“ kann nur von der Tochter gelten; sobald das begriffen ist, ergibt sich rückwirkend, die Tochter sei Subjekt auch von „ro­ ganda“. Das folgt zudem daraus, wie Cyane über ihre eigene Ehe redet. Ja, sie fügt sogar hinzu, daß der Konsens wirklich frei gegeben, nicht durch Ein­ schüchterung erpreßt werden muß.277 Man bemerke, daß ihr Vergleich mit sich selber mit einer Formel eingeleitet wird, die aus G. 4.176 vertraut ist, wo Vergil den Bienenstock mit der Arbeit der Kyklopen vergleicht (und die Ovid auch Tr. 1.3.25 und 1.6.28 benutzen wird). Die Assoziation liegt nahe, da Ver­ gil die Kyklopen im Aetna wohnen läßt (4.173); und doch ist es plausibel, die Anspielung auch reflexiv zu lesen. Denn Cyane lenkt in ihrem Vergleich die Aufmerksamkeit von etwas Großem auf sich selbst – und es scheint mir, daß durch ihre von Vergil inspirierte Aussage hindurch Ovid auf sich selbst ver­ weist, den der Leser mit Vergil vergleichen solle. Dahingestellt sei, ob er ehrlich meint, die Metamorphosen seien etwas Kleineres als die Aeneis; aber vermutlich hätte er nichts dagegen, gegenüber der kyklopischen Gewalt sei­ nes Vorgängers sein eigenes, aus vielen Erzählungen zusammengesetztes Werk einem Bienenstock verglichen zu sehen, in dem die einzelnen Waben eine gewisse Autonomie genießen, aber doch in das Ganze eingebunden sind. Cyanes Protest ist ein bedeutsamer Akt der Solidarität zwischen Frauen (auch wenn Ärger über die Verletzung der Rechte ihrer Quelle mitschwingt). Das variiert die Worte Cydippes: „Exoranda tibi, non capienda fui“ („Du muß­ test mich erbitten, nicht erschleichen“, EH. 21.130). Zwar hat Acontius keine Gewalt, sondern eine List angewendet; aber auch diese ist eine Form von Zwang („cogere“, 133). 277 Die Unerläßlichkeit der Zustimmung der Braut zu einer gültigen Ehre ist eine Errungenschaft der Jurisprudenz des Prinzipats. Vgl. Kaser (1983), 260: „Die Ehe der gewaltunterworfenen Frau schließt ihr paterfamilias; doch setzt sich offenbar schon in klassischer Zeit die Auffassung durch, daß er die Tochter nicht gegen ihren Willen verheiraten darf“. Kaser verweist u. a. auf Ulpians Epitome 5.2: „Iu­ stum matrimonium est, si … utrique consentiant, si sui iuris sunt; aut etiam paren­ tes eorum, si in potestate sunt.“ („Eine vollgültige Ehe besteht, wenn … beide zustimmen, sofern sie gewaltfrei sind; oder auch ihre Eltern, wenn sie gewaltun­ terworfen sind.“) Der Text findet sich auf S. 313 f. in dem von Rudolf von Gneist herausgegebenen Institutionum et regularum iuris Romani syntagma. 276

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Sie ist nicht einfach damit zufrieden, daß sie selbst nicht mit Gewalt genom­ men wurde – es soll auch anderen Frauen erspart werden. Sie ist untröstlich, daß sie nichts bewirken konnte, ja, vermutlich soll ihre untröstliche Wunde („inconsolabile vulnus“, 426) mit der ewigen Wunde Junos Aen. 1.36 kontra­ stiert werden („cum Iuno aeternum servans sub pectore volnus“), denn Cy­ anes zentrales Gefühl ist nicht Haß gegen einen Menschen, sondern Empa­ thie. Ihre Trauer über das Unrecht, das Proserpina widerfahren ist, ist so groß, daß sie ihre feste Gestalt verliert und sich weinend in die Quelle des Baches auflöst, dessen Gottheit sie gewesen war (425 ff.). Daher kann sie Ceres, die ihre Tochter verzweifelt sucht, auch nichts mehr sagen (465 ff.). Ceres’ uner­ müdliche Suche nach ihrer Tochter (438 f., 444 f., 462 f.) ist ein weiterer, ja, der entscheidende Faktor des Protestes gegen das Prinzip der Raubehe. Ovid hat die Proserpina-Episode ganz bewußt unter dem Gesichtspunkt weiblicher Selbsthilfe neu konzipiert. Sicher ist manches aus dem langen homerischen Hymnus an Demeter übernommen. Aber erstens ist die lange und zentrale, mit Keleus’ Haushalt zusammenhängende Episode (105–302) ganz weggelas­ sen (in der immerhin mit Keleus’ Töchtern, seiner Frau Metaneira und Iambe Frauen eine wichtige Rolle spielen, aber eben um einen Mann gruppiert),278 und zweitens ist es in den Metamorphosen nicht Helios, wie bei dem Hym­ nenverfasser (62 ff.) und in den Fasti (4.583 f.), also kein männlicher Gott, der die Mutter informiert, sondern eine weitere Quelle, Arethusa. Ja, als die dur­ stige Gottheit um ein Getränk bittet, reicht ihr eine Alte etwas zu trinken, während ein frecher Junge, der zu deren Haushalt gehört, sie wegen ihrer an­ geblichen Gier verspottet und deswegen in eine Eidechse verwandelt wird (446 ff.). Die Episode antizipiert die lykischen Bauern, die die Wöchnerin Latona von dem Teich vertreiben wollen, an dem sie ihren Durst zu stillen suchte (6.313 ff.). In beiden Fällen ist die Frau besonders schutzwürdig wegen ihres Status als Mutter, die das eine Mal ihre Tochter sucht, das andere Mal zwei Kinder am Busen trägt; und der Mangel an Empathie geht bezeichnen­ derweise von Männern aus. Aber die Tränen, die die Alte vergießt, die den sich wandelnden Jungen, vermutlich ihren Enkel, zu berühren sucht (459 f.), zeigt, daß menschliche Frauen noch mehr Mitleid haben als göttliche. „The disparity between trivial crime and severe punishment is shocking; so here is the lack of fellow-­feeling, which one might expect Ceres, having lost her own child, to extend to the old woman.“279 Das ist anders als in der Version der Fasti, in der Celeus eine wichtige Rolle spielt. Aber er ist bei Ovid ein armer, doch gastlicher Mann, kein Fürst, und Triptolemus ist sein Sohn. 279 Garth Tissol (1997), 208. 278

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Als Ceres den Gürtel Proserpinas findet, erschließt sie selber – ohne fremde Hilfe –, ihre Tochter sei geraubt worden (468 ff.), weiß aber nicht, von wem und wohin. In Trauer und Zorn läßt sie die sizilische Erde verdorren, bis ihr Are­ thusa mitteilt, sie habe Proserpina in der Unterwelt gesehen. Arethusas Rede ist ein weiteres Dokument von Solidarität unter Frauen, und zwar nicht nur gegen­ über Ceres, sondern auch gegenüber der darbenden Erde. 280“O toto quaesitae virginis orbe/ et frugum genetrix, inmensos siste labores,/ neve tibi fidae vio­ lenta irascere terrae!/ Terra nihil meruit patuitque invita rapinae“ („Mutter der rings auf Erden gesuchten Jungfrau/ und der ernährenden Frucht, laß sein die unendliche Drangsal/ Und nicht zürne so hart der treu dir ergebenen Erde./ Sie ja verschuldete nichts, und dem Raub erschloß sie sich ungern“, 489 ff.). Beacht­ lich ist, wie Arethusa mit „virginis“ und „genetrix“ zwei Formen der Weiblich­ keit anspricht und verknüpft und wie sie zugleich Ceres als Mutter der Früchte bezeichnet. Damit wird die Brücke von ihr zur Urmutter Erde geschlagen; und da diese als unwillige Zeugin des Raubes geschildert wird, wird sie auch mit Proserpina in Zusammenhang gesetzt; das „invita“ greift ferner das „invitae Cereris“ in Cyanes Rede (415) auf. Geschickt läßt Arethusa ferner einfließen, sie plädiere gar nicht für ihre eigene Heimat, denn sie stamme ursprünglich aus Elis, aber sie wolle ihre eigene Geschichte erst erzählen, wenn es Ceres wieder besser gehe. Diese eilt zu Proserpinas Vater Jupiter und betont, daß es nicht um die Mutter, sondern um die gemeinsame Tochter (516 f.) und die Ehre des Va­ ters gehe: „Neque enim praedone marito/ filia digna tua est, si iam mea filia non est.“ („Denn Jupiters Tochter geziemet/ Doch kein Räuber zum Mann, wenn auch er geziemet der meinen“, 521 f.)281 Die geringe Stellung der Mutter in diesem sozialen System macht die Notwendigkeit der Kooperation unter Frauen erneut deutlich. Zwar erlaubt Jupiter Proserpinas Rückkehr, aber nur unter der Bedingung, sie habe nichts gegessen; und da Ascalaphus berichtet, sie habe Granatapfelkerne verspeist, kann sie nur für jährlich sechs Monate aus der Unterwelt zur Mutter zurückkehren. Der „grausame“ („crudelis“, 542) Zu­ träger wird zu Recht (551 f.) in einen Uhu verwandelt, während die mit Proser­ pina solidarischen Nymphen, ihre früheren Gespielinnen, auf eigenen Wunsch zu Sirenen werden, die 14.88 nochmals kurz genannt werden. Eine besonders eindringliche Form von Solidarität unter Frauen findet sich in den Fasti 5.229 ff., wo Flora Juno dazu verhilft, auch ohne Jupiter mit Mars schwanger zu werden (als Rache dafür, daß dieser Minerva aus dem eigenen Kopf geboren hat). Die Geschichte, aus keiner anderen Quelle bekannt, verweiblicht den sonst als Inbegriff der Männlichkeit geltenden Kriegsgott und koppelt die Römer von Jupiter ab. 281 In den Fasti erinnert Ceres Jupiter in direkter Form an seine Vaterpflichten (4.587 f.). 280

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Nach der Rückkehr der Tochter wendet sich Ceres wieder Arethusa zu, die von ihrer Flucht vor Alpheus berichtet. Warum noch eine Geschichte einer verfolgten Nymphe, die gerne mit Diana jagt (578 f., 619 f.) und wie Daphne und Callisto ihre erotische Anziehungskraft nur als Last empfindet (580 ff.)? Drei Aspekte sind neu. Erstens ist die Szene, in der sich Arethusa entkleidet und ins Wasser des Alpheus steigt, derjenigen über Hermaphroditus und Sal­ macis zwar nachgebildet. 4.342 ff. lesen wir: „Et in adludentibus undis/ sum­ ma pedum taloque tenus vestigia tingit;/ nec mora, temperie blandarum cap­ tus aquarum/ mollia de tenero velamina corpore ponit.“ („Hinein in die plätschernden Wellen/ Taucht er die Sohlen zuerst, dann bis an die Knöchel die Füße./ Bald auch legt er, gelockt von der Milde des schmeichelnden Was­ sers,/ Nieder das weiche Gewand von dem zartgebildeten Körper“) 5.592 ff. heißt es: „Accessi primumque pedis vestigia tinxi,/ poplite deinde tenus ne­ que eo contenta recingor/ molliaque inpono salici velamina curvae“ („Nah hintretend benetzt’ ich zuerst die Sohlen des Fußes,/ Drauf bis zum Knie das Bein; dann weitergeh’nd lös’ ich den Gürtel, / Und mein weiches Gewand der gebogenen Weide vertrau’ ich“). „Pedum … vestigia“ bzw. „pedis vestigia“, „taloque tenus“ bzw. „poplite … tenus“, „nec mora“ bzw. „neque eo contenta“, „mollia … velamina .. ponit“ bzw. „molliaque inpono … velamina“ – die Parallelen häufen sich, und der jeweils folgende Vers hebt mit „nudae … for­ mae“ bzw. „nuda“ die Nacktheit als Resultat der Entkleidung hervor, die die Begierde der Nymphe bzw. des Flußgottes anstachelt. Allerdings sind zwei Unterschiede zur früheren Erzählung offenkundig. Die Geschichte ist erstens an der Geschlechtsachse gespiegelt, da nun ein Mann eine Frau und nicht eine Frau einen Mann begehrt; und es spricht zweitens für Ovids Hochschätzung der Frauen, daß es in diesen zwei Mythen gerade nicht der Mann, sondern nur die Frau ist, die es schafft, dem Wasser und dann auf dem Lande nackt flie­ hend dem Verfolger zu entrinnen. Neu gegenüber früheren Verfolgungsge­ schichten ist zweitens, daß nach Arethusas Verwandlung in eine Quelle, die Alpheus’ Rückverwandlung in seine Flußgestalt zur Folge hat, in der er sich, wenn auch vergeblich, mit der geliebten Quelle zu vermischen wünscht, eine räumliche Versetzung, eben nach Sizilien, erfolgt, ja, darauf eine Art Rück­ kehr in die frühere Gestalt. Denn anders als Cyane, an deren Metamorphose (427 ff.) ihre eigene erinnert (632 ff.), wenn sie auch vom Schweiß statt von den Tränen ihren Ausgang nimmt, kann Arethusa ihr Haupt aus den Wellen erheben und reden (487 ff.). Dadurch ist sie nicht einfach ein weiteres Opfer – wir haben gesehen, daß sie durch ihr Wissen Ceres entscheidend helfen konn­ te. Das ist drittens mit der bedeutendsten Neuerung verbunden: Arethusa be­ richtet ihre Verfolgung in erster Person.282 Wir hören endlich von einer Frau Auch die Musen taten das schon, aber Pyreneus stellte keine wirkliche Bedrohung dar.

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selbst, was es bedeutet, sexuell bedroht zu werden, und wir verdanken ihrem Bericht gleich zwei Vergleiche mit von Beutegreifern bedrohten Tieren, die teils davonrennen, teils sich versteckt halten müssen (605 f., 626 ff.). Die weib­ liche Stimme, die hier vernehmlich erklingt, wird im Lauf des Werkes weiter anschwellen. Als eine Frau, die über die Gewalt, die man ihr antun wollte, zu reden und anderen Frauen zu helfen vermag, kann Arethusa zur Vorgeschich­ te weiblicher Emanzipation gerechnet werden. Man vergesse nicht, daß ihre weibliche Stimme selbst von einer Frau vor­ getragen wird, von Calliope, und zwar im Wettstreit mit den Pieriden, deren Weigerung, ihre von den Nymphen bestätigte Niederlage anzuerkennen, ihre Verwandlung zur Folge hat (662 ff.). Ja, Calliopes Gesang über Arethusas Ge­ spräch mit Ceres wird selbst von einer anderen Muse, und zwar einer anderen Göttin, Minerva, gegenüber, nacherzählt. Nirgends gibt es im Werk eine ver­ gleichbar extensive Präsenz von Frauen. Eine Steigerung ist nur möglich durch Ovids Konzentration auf die Intensität ihres Leidens und ihrer Leidenschaft.

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Metamorphosen, Buch 6. Kunstbesessenheit ohne Maß: Arachne. Mutterstolz ohne Liebe: Niobe. Die Grausamkeit göttlicher Rache. Treubruch und Sadismus: Tereus; Solidarität als gemeinsame Rache und der erste Keim tragischer Konflikte: Procne und Philomela

Das sechste Buch schildert weitere göttliche Bestrafungen, insbesondere der­ jenigen, die sich den Göttern für überlegen halten. Auf die Pieriden folgt Arachne, auf Dichtung und Musik eine Form bildender Kunst. Einleitend war schon von dem Wettbewerb zwischen Arachne und Minerva die Rede; auf den Kontrast ihrer Werke braucht daher nicht mehr eingegangen zu werden. Ovid gibt sich alle Mühe, Minerva als Künstlerin eigenen Rechtes, aber als von menschlich-allzumenschlichem Neid auf die Konkurrentin bestimmt darzustellen. Arachne hat sich mit ihrer Protzerei nicht nur unklug, sondern auch moralisch nicht richtig verhalten, zumal mit der Zurückweisung der zweiten Chance, die ihr die als Alte verkleidete Minerva gewährte (6.26 ff.). Die Kunstbesessenheit dieser Frau aus einfachen Verhältnissen, die nur durch ihre Kunstfertigkeit glänzt (7 f.), läßt sie Menschenmaß vergessen; ihr autodi­ daktischer Stolz, der keine Lehrerin anerkennen möchte (23 ff.), ist Ovid denkbar fremd, der etwa Am. 1.15, Tr. 2.361 ff., 5.3.55 f. und im autobiographi­ schen Gedicht Tr. 4.10.41 ff. seine Vorgänger und Zeitgenossen dankbar rühmt und Am. 3.9 dem toten Tibull ein, trotz des komischen Moments des Streits der beiden Geliebten, ergreifendes Denkmal setzt.283 Intratextuell ist Arachne ein Gegengewicht zu den Minyaden, die ebenfalls Weberinnen waren, aber Minerva verehrten – die sie freilich nicht schützen konnte, als sie einen ande­ ren Gott vernachlässigten. Auch wenn Arachnes Furchtlosigkeit, nachdem Minerva sich zu erkennen gegeben hat (45), in Anbetracht ihrer Leistungen an sich nicht abwegig ist, ist sie doch Ausdruck der Unfähigkeit der Künstlerin, sich selbst in das Ganze der Wirklichkeit einzuordnen. Ihr Selbstmord nach der Zerstörung ihres Gewebes ist psychologisch plausibel, weil sie außer ihrer Kunst nichts hat, und ihre Verwandlung in eine Spinne wird sowohl ihrer Begabung als auch ihrer Beschränkung gerecht. Dennoch ist nicht daran zu rütteln, daß, anders als die Musen in der vorangehenden, in dieser Geschichte auch Minerva keine gute Figur macht. „Nicht nur Arachne, sondern auch Minerva lässt es an pietas fehlen. Beide begegnen einander beinahe wie stol­ ze Vertreterinnen zweier verschiedener Stände…“284 Auch Minerva braucht Lob (3), und Daedalus’ Neid auf den kunstfertigen Neffen Perdix (8.236 ff.), der zu dessen Ermordung führt, ist nur eine Vertiefung des fragwürdigen Ähnlich bewegend ist die Totenklage um den Freund Celsus EP. 1.9. Von Albrecht (2014), 118. Das ist ein bedeutender Fortschritt gegenüber Otis, der Minerva für „obviously just and noble“ hält (1970; 146).

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4.7  Metamorphosen, Buch 6

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Motivs Minervas. 6.129 ist von „Livor“, „Neid“ die Rede, wobei kunstvoll vermieden wird, ihn direkt Minerva zuzuschreiben, der Parallelismus mit „Pallas“ jedoch eben dies nahelegt.285 8.250 heißt es „invidit“, „er beneidete“. Noch schrecklicher erscheint jedoch die Gottheit im nächsten Kunstwettbe­ werb zwischen Mensch und Gott. Doch zwischen beide ist die Niobegeschichte eingefügt, die vom Kunstzu einem anderen Wettbewerb abführt: Niobe, so wird ausdrücklich gesagt, sei nicht so sehr stolz auf die Künste ihres Gatten Amphion gewesen (152), der nach dem Mythos durch sein Lyraspiel bewirkt hatte, daß sich die Steine von selbst zu der Mauer der Unterstadt Thebens gefügt hatten (178 f.), als auf ihre große Kinderschar. Niobe ist in der Tat das Gegenstück zu den künstle­ risch begabten Frauen der zwei letzten Geschichten, von denen zumindest Arachne kinderlos ist.286 Denn auch wenn sie arrogant ihre Herkunft, ihre Macht, ihren Reichtum und ihre Schönheit preist, ist ihre vierzehnfache Mut­ terschaft ihr wichtigster Ruhmestitel. Aufgrund ihrer hochadligen Herkunft ist sie auch sozial der Gegensatz ihrer Landsmännin Arachne, doch zeigt Ovid damit, daß Hochmut in allen Ständen wachsen kann. Wie Pentheus will sie einen neuen Kult – denjenigen der Latona – verhindern; denn diese Göttin sei ihr insbesondere wegen ihrer Kinderzahl unterlegen. Nach den zumeist passiven Frauen der ersten vier Bücher (Thisbe und Salmacis sind die wich­ tigsten Ausnahmen) ist Niobe auf den ersten Blick eine extrem aktive Frau, und da im Zentrum des fünften Buches die Sorge einer Mutter um ihre Toch­ ter stand, scheint Niobe an Ceres anzuknüpfen. Natürlich würde Niobe den Vergleich empört zurückweisen – Latona habe mit Apollo und Diana wenig­ stens zwei, Ceres jedoch nur ein Kind! Aber auch Ovid weist die Anknüpfung zurück, wenn auch aus ganz ande­ ren Gründen. Niobe hat nämlich keine Mutterliebe, sondern nur Mutterstolz. Nicht nur gibt Niobe kein Beispiel der Fürsorge für ihre Kinder, während sich Ceres auf der Suche nach Proserpina verzehrte; ja, während Ceres sich vor Jupiter demütigte, um das Los ihrer Tochter zu erleichtern, provoziert Niobe nach dem Tode all ihrer Söhne Latona und ihre Zwillinge weiter, indem sie erklärt, ihr seien immer noch mehr Kinder übriggeblieben, als Latona habe (280 ff.). Es erforderte keine überdurchschnitliche Intelligenz, um vorherzuse­ Es kann schwerlich ein Zufall sein, daß Ovid sich in seinem letzten Gedicht selbst als Opfer von „Livor“ darstellt, den er im sechsletzten Vers anredet (EP. 4.16.47). Darauf weist zu Recht Barchiesi (1994), 33. Zu Ovids Verachtung dieses Lasters vgl. EP. 3.3.101 f., zu seiner Hoffnung, es werde mit dem Tode aufhören, 3.4.73 f. 286 Ovid bezeichnet die Musen als „doctas … sorores“ (5.255; ähnlich die Sirenen 5.555), Arachne als „doctam“ (6.23); allerdings ist das Wort hier als Partizip Per­ fekt Passiv, nicht als Adjektiv gebraucht. 285

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hen, daß dies auch den Tod aller Töchter zur Folge haben würde. Damit er­ weist sich Niobe als das Gegenteil einer verantwortlichen Mutter. Niobe liebt nicht ihre Kinder, sie liebt nur sich und weist auf die Kinder nur, weil sie ihre Fruchtbarkeit belegen. Auch das Verhältnis zu ihrem Gatten kann nicht innig gewesen sein, wenn ihre Reaktion auf die Nachricht von seinem Selbstmorde, den er nach dem Tod der Söhne begeht, nur die Wut darüber ist, daß sich die Götter so etwas erlaubt hätten (269 ff.). Die Versteinerung entspricht, wie bei Thescelus dem Mangel an Glauben, hier der Lieblosigkeit dieser arroganten Frau, die anders als ihr Mann und ihre Kinder vom Volk nicht beweint wird (401 ff.; damit ist eine leise Kritik an der Tötung der Kinder impliziert). Zwei­ felsohne will Ovid mit der Geschichte hervorheben, wie wenig ihm an großer Kinderzahl liegt, die nicht der Ausdruck eines liebenden Verhaltens der Eltern ist. Die Tötung der Kinder durch die Götter, aber nicht ohne Mitschuld der Mutter, präludiert dem Thema ihrer direkten Tötung durch die eigene Mutter, das das Buch bald bestimmt – so wie dies auch die Mitteilung tut, Niobes Bru­ der Pelops habe allein die Schwester betrauert, da Ovid seine Schlachtung durch den Vater kurz berührt, der ihn den Göttern zum Mahl vorgesetzt hatte (406 ff.).287 Eine ähnliche Handlung durch die Mutter wäre eine gelungene Verbindung beider Geschichten – wir werden ihr bald begegnen. Die Anekdote von den lykischen Bauern setzt die Geschichte der Mißach­ tung Latonas fort; allerdings werden Geschlecht und sozialer Status der Frev­ ler verändert, letzterer sogar unter denjenigen Arachnes herabgesetzt. Die Weigerung anzuerkennen, daß Wasser und Luft Gemeinbesitz sind (349 ff.),288 der Mangel an Mitleid mit der dürstenden Mutter, die nur trinken will,289 die Drohungen, Beschimpfungen, ja, das absichtliche Verunreinigen des Wassers des Weihers lassen die Verwandlung der Bauern in Frösche als nicht minder Thyestes’ Mahl wird nur in Pythagoras’ Rede genannt (15.462), und zwar im Zu­ sammenhang mit der Aufforderung, auf Fleischgenuß zu verzichten, der sich als Verschlingen von Angehörigen erweisen könne. Die Schlachtung von Thyestes’ Kindern durch Atreus, der sie ihm als Speise vorsetzte, wird im Werk nicht erzählt. 288 Vgl. schon Aen. 7.230. Es ist denkbar, daß dieser Rechtsgedanke mit der bedeuten­ den Reform der Wasserversorgung Roms durch Marcus Vipsanius Agrippa, den Freund und späteren Schwiegersohn des Augustus, zusammenhängt (zu Agrippas Leistungen siehe Iulius Frontinus, De aquaeductu urbis Romae commentarius (Denkschrift über die Wasserversorgung der Stadt Rom) 9 f., 98 f., 116, der sogar „commentarii“ Agrippas zu dem Thema erwähnt). Aber ein solcher zeitgeschicht­ licher Bezug wirft kaum Licht auf die Funktion des Texts Ovids. Immerhin ist er nicht unplausibel, während Petra Fleischmanns weitere Hypothese (2007; 189 f.), Latona diene als Anspielung auf Iulia maior, auf sehr schwachen Füßen steht. 289 Bei Antoninus Liberalis, der Nikander folgt, wollte Leto die Kinder in der Quelle baden (35.1). Ovid reduziert den Wunsch Latonas und macht ihn dringlicher. 287

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gerecht erscheinen als die Versteinerung Niobes. Dagegen macht Ovid seinen fehlenden Glauben an die allgemeine Gerechtigkeit göttlicher Bestrafung an der Häutung des Marsyas durch Apollo deutlich, den er im musikalischen Wettstreit auf der Panflöte herausgefordert hatte und dem er unterlegen war. Anders als im Falle Arachnes wird Marsyas’ Arroganz gar nicht dargestellt, dafür um so detaillierter sein Leiden: „nec quicquam nisi vulnus erat;290 ­cruor undique manat/ detectique patent nervi trepidaeque sine ulla/ pelle mi­ cant venae; salientia viscera possis/et perlucentes numerare in pectore fibras.“ („Wunden bedecken ihn ganz, und das Blut strömt über und über./ Offen und bloß sind die Nerven zu sehen, die zuckenden Adern/ schlagen, der Hülle beraubt, und die wallend bewegten Geweide/ konnte man zählen genau und der Brust durchscheinende Fasern“, 6.388) Und vor dieser Schilderung kommt Marsyas selber mit folgender Äußerung zu Wort: „‘Quid me mihi detrahis?‘ inquit;/ ‚a! piget, a! non est‘ clamabat ‚tibia tanti‘.“ („Warum entziehst du mich“, schrie er, „mir selber?/ Ach, mich gereut’s. Soviel ist ja nicht an der Flöte gelegen“, 6.385 f.)291 Die absolute Unverhältnismäßigkeit der Rache tritt um so stärker hervor, als Marsyas zwischen der wiederholten Schmerz-Inter­ jektion „a“ mit „piget“ („es gereut mich“) ein Schuldeingeständnis einfließen läßt, doch könnte das Wort in der Bedeutung „es verdrießt mich“ sich auch auf Apollos am Ende mitgerügte Maßlosigkeit beziehen. Denn der letzte Satz spricht m. E. über die doppelte Unangemessenheit, wegen eines Flötenspiels, in dem Marsyas herausragte, so qualvoll zu sterben und so grausam zu tö­ ten.292 Sicher spielt Ovid mit diesem Verse auf AA. 3.505 an, wo Minerva die Die Wendung erinnert an die Beschreibung der Erde nach der großen Flut M. 1.292: „omnia pontus erant“ 291 Soweit ich sehe, hat nur Dante die Häutung positiv gedeutet, und zwar als Meta­ pher für die Selbsttranszendierung, die in der Inspiration geschieht (Paradiso 1.19 ff. in Nachbarschaft weiterer Ovidzitate; vermutlich hatte Dante auch M. 9.266 ff. zur Apotheose des Hercules im Sinne). Bei Ovid mag die Trennung von der eigenen Haut, wenn überhaupt, eher den psychischen Selbstverlust vorweg­ nehmen, den die unglücklich Liebenden später im Werke erfahren. Die Verban­ nung von Rom hat Ovid in der berühmten Elegie Tr. 1.3.73 f. ebenfalls als Tren­ nung vom eigenen Körper bzw. einzelner Glieder von diesem gedeutet. 292 Das ist um so wahrscheinlicher, als die Worte Marsyas’ in Wahrheit „the witty observation of the poet“ sind – unter den Schmerzen einer Häutung drückt man sich schwerlich so kultiviert aus (William S. Anderson (1972), 202). Die Gelas­ senheit des Satyrs stellt Apollos Grausamkeit noch schärfer heraus. – Will man einen viel späteren Text heranziehen, mag man an Major Crampas’ letzten Blick im 29. Kapitel von Theodor Fontanes Effi Briest denken, „resigniert und in seinem Elend doch noch ein Lächeln… ‘Innstetten, Prinzipienreiterei … Sie konnten es mir ersparen und sich selber auch.’“(1974; 243) Bei dem Telegramm des alten 290

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Flöte wegwirft, die die Schwellung des Gesichts beim Blasen nicht wert sei.293 Aber intratextuelle Bezüge sind bei der Interpretation eines Textes wichtiger als intertextuelle (und Bezüge auf einen anderen Text desselben Autors sollte man ebenfalls unter Intertextualität subsumieren, wenn man nicht dafür eine eigene Kategorie schaffen will wie etwa „Propriotextualität“). Ich vermute, daß Ovid bei dem Versschluß „tibia tanti“ noch „iurgia tanti“ am Ende von 2.424 im Ohr hat – und erwartet, daß dies auch der Leser tut. „Sunt, o sunt iurgia tanti“ („Das sind die Streitereien mit ihr durchaus wert“) ruft Jupiter aus, als er die wunderbare Callisto erblickt und zwar hofft, Juno werde deren Verführung nicht mitbekommen, aber bereit ist, wegen des erwarteten sexu­ ellen Genusses einen massiven Ehestreit hinzunehmen. Zwischen einem gött­ lichen Orgasmus als Belohnung und der Häutung als Preis ist die gesamte Skala physischen Empfindens aufgespannt. Die längste Geschichte des Buches beginnt den athenischen Sagenkreis, der mit provokanter Nachlässigkeit – durch eine inhaltliche Negation – an den the­ banischen angeschlossen wird (421). Einen Fortschritt stellt sie über das Bishe­ rige dadurch dar, daß in ihr nur Menschen vorkommen; selbst die Verwand­ lung am Ende kommt ohne Götter aus. Gleichzeitig eröffnen sich in ihr Abgründe, die wir bisher noch nicht kannten. Gewiß, Vergewaltigung und zu deren Zwecke Täuschung ist uns seit längerem vertraut; aber da sie von Göt­ tern ausging, geschah in ihr nicht die Verletzung menschlicher Reziprozität, die wir nun erleben. Die Götter dachten an ihre Lust, vielleicht an die Zeugung von Heroen; Tereus quält und wird dadurch sexuell erregt. Er ist ein Sadist, der einzige im ganzen Werk. Tereus hat dem attischen König Pandion in einem Kriege beigestanden und dafür dessen Tochter Procne zur Frau bekommen – doch statt der Gratien haben die Erinyen (Ovid spricht aus metrischen Grün­ den von „Eumenides“, doch hat er offenbar die Bedeutung dieses Ehrenna­ mens nicht im Sinn) bei der Hochzeit Pate gestanden (424 ff.). Vorbote des Unheils ist des weiteren ein Uhu294 – in diesen Vogel war 5.549 f. Ascalaphus transformiert worden. Vermutlich ist damit eine generische Kritik an der Pra­ xis verbunden, Töchter aus militärisch-politischen Gründen zu verheiraten. Briest, das der Tochter die Rückkehr erlaubt „Effi komm“, in Kap. 34, denkt man an Am. 1.11.24: „hoc habeat scriptum tota tabella ‘ueni!’“ („Die ganze Tafel habe nur diese Inschrift: ‘Komm!’“) 293 Siehe Franz Bömer (1969 ff.), 3.109 f., der zudem auf die Parallelstelle F. 6.701 verweist, wo anschließend von Marsyas die Rede ist, auch wenn der Name nicht genannt wird. Aber eben wegen der Stelle in der Ars läßt sich, anders als er sugge­ riert, nicht schließen, die Metamorphosen-Stelle sei später als die der Fasti. Zur Unsicherheit chronologischer Schlüsse „bei der gänzlich unberechenbaren Art der ovidischen Kunst der Variation“ siehe Franz Bömer selbst etwas später (3.350). 294 Zu diesem Vogel als Unglücksboten vgl. später 10.452 f. (sowie Aen. 4.462 f.).

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Nach fünf Jahren und der inzwischen erfolgten Geburt des Sohnes Itys bittet Procne den Ehemann, sie entweder selber die Schwester Philomela besuchen zu lassen oder diese zu ihm zu bringen. Tereus entscheidet sich für letzteres, und bei der Wiederbegegnung mit der Schwägerin entbrennt er für sie, teils aufgrund eigener Lüsternheit, teils aufgrund einer kollektiven Eigenschaft sei­ nes Stammes: „Flagrat vitio gentisque suoque.“ („Im Laster seines Stamms und im eigenen glüht er“, 460) Mit noch nie dagewesener Präzision beschreibt Ovid Tereus’ sexuelle Phantasien. Dis konnte Proserpina in einem einzigen Augenblick sehen, sich in sie verlieben und sie rauben; Tereus dagegen muß sich verstellen, um zu seinem Ziele zu gelangen (auch wenn er eine gewaltame Entführung erwägt, 464). Er kann Procnes Bitten um den Besuch der Schwe­ ster vorbringen und unter diesem Deckmantel die eigenen Wünsche betreiben; ja, sogar seine Tränen scheinen von Procne vorgegeben: „Addidit et lacrimas, tamquam mandasset et illas.“ („Tränen vergoß er dazu, als heischt‘ auch diese der Auftrag“, 471) Die Täuschung gelingt; er erscheint seinen Gastgebern als besonders treu („pius“, 474). Die Szene, in der Philo­mela ihre Arme um den Vater schlingt und ihn bittet, sie abreisen zu lassen, wurde bei der Analyse des ersten Buches schon erwähnt, als es um Daphnes Umarmung ihres Vaters ging (S. 65 f.). Jetzt aber gibt es einen Beobachter der Szene, der dabei seine eigenen Gedanken hat. „Spectat eam Tereus praecontrectatque videndo/ osculaque et collo circumdata bracchia cernens/ omnia pro stimulis facibusque ciboque ­furoris/ accipit et, quotiens amplectitur illa parentem,/ esse parens vellet: neque enim minus inpius esset.“ („Tereus schaut sie an und schwelgt mit Blicken im voraus,/ Und wie die Küsse er sieht und die Arme geschmiegt um den Nac­ ken,/ Wird das alles für ihn wie Stachel und Zunder und Nahrung/ liebender Wut, und so oft Philomela umarmte den Vater/ Wünscht‘ er der Vater zu sein; denn so auch sänn‘ er Verruchtes“, 478 ff.) Der Vater-Tochter-Inzest, den wir im zehnten Buch erleben werden, erscheint hier hypothetisch, bezeichender­ weise, anders als in der Myrrha-Episode, mit vom Vater ausgehender Begierde, denn noch herrscht im Werk männliches Begehren vor. Wenn beim Abschied Pandion Tereus bei seinem Ehrenwort, der verwandtschaftlichen Bindung und den Göttern beschwört, mit väterlicher Liebe seine Tochter zu schützen („pa­ trio ut tuearis amore“, 499) – wozu dieser seine Rechte gibt, die der Vater dann in die der Tochter legt –, hat der Leser somit kein gutes Gefühl. Philomela je­ doch ist beglückt von der Zustimmung des Vaters, und die Verbundenheit der Schwestern wird durch die sprachmalerische Doppelung von „duabus“ („den beiden“, 484 f.) in zwei aufeinanderfolgenden Versen angedeutet, die freilich die Stimmung umschlagen lassen: Das vermeinte „successisse“ („gelungen sein“) wird als „lugubre“ („unheilvoll“) qualifiziert. Tereus verbringt die Nacht schlaflos, indem er sich Philomelas Körperteile und ihre Gestik vor Augen führt, die er gesehen, und sich dasjenige vorstellt,

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was er noch nicht erblickt hat (490 ff.); und der Leser kann sich vorstellen, auch wenn Ovid es nicht ausdrücklich sagt, daß die Abschiedsküsse des Vaters an die Tochter (504) Tereus weiter erregt haben. Auf dem Schiff genießt er seinen Triumph in der Gewißheit, Philomela könne ihm nicht mehr entrinnen,295 und sobald sie angekommen sind, bringt er sie in ein abgeschiedenes Haus im Wald (521), wo er sie vergewaltigt. (Das Waldmotiv klang 453 an, als Philomela ei­ ner in den Wäldern („silvis“) einherschreitenden Najade oder Dryade vergli­ chen wurde; es kehrt wieder 546, 547, 594.) Zwar hält ihm Philomela alle Faktoren vor, die diese Vergewaltigung als besonders abscheulich qualifizie­ ren: Er begeht Ehebruch, sie ist Jungfrau, er mißachtet die besondere Fürsorge seiner Frau für die Schwester, und er verletzt den Auftrag des Vaters (534 ff.; daß er diesen mit dem Handschlag besiegelte, wird von Philomela nicht er­ wähnt, weil Ovid das selber kurz vorher gesagt hat). Gleichzeitig fühlt sich Philomela schuldig. Wir haben zwar schon gesehen, daß unschuldige Verge­ waltigungsopfer verstoßen oder lebendig begraben wurden, aber etwa Leuco­ thoe protestierte gegen dieses Unrecht (4.438 f.). Philomela hingegen hält sich selbst für schuldig, weil sie zur Rivalin ihrer Schwester geworden sei, und bittet darum, getötet zu werden, ja, wäre am liebsten vor der Vergewaltigung ermordet worden: „Vacuas habuissem criminis umbras.“ („Frei wär’ von Schuld dort unten mein Schatten“, 541)296 Die Internalisierung von Vorwürfen, die nur dem Täter gebühren, durch das Opfer selbst ist selten so ausdrucksstark dargestellt worden. Da Philomela gleichzeitig droht, das Verbrechen bekannt zu machen (sie weiß, daß sie dazu ihr Schamgefühl beseiteschieben muß, 544 f.), zückt Tereus sein Schwert, und während Philomela hofft, getötet zu werden (553 f.), schneidet ihr Tereus die Zunge ab, die wie der Schwanz einer versehrten Schlange („cauda colubrae“, 559) auf dem Boden zuckt und er sterbend die Spuren der Herrin sucht. Man beachte, daß Ovid von „colubra“, dessen primäre Bedeutung „Schlangenweibchen“ ist, nicht von „coluber“ spricht (das metrisch genauso gut möglich wäre), sicher um die weibliche Natur des Opfers hervorzuheben. Der obszöne Nebensinn von „cauda“ wird damit neu­ Der doppelte Vergleich mit einem Raubvogel (516 f., 529 f.) antizipiert die Meta­ morphose in einen Vogel, wie Shelley D. Kaufhold in einem feinsinnigen Aufsatz (1997; 68) zu Recht unterstreicht, dem ich manches verdanke. 296 Der zweite Halbvers von 538 „hostis mihi debita poena“ („der Feind ist die mir gebührende Strafe“) gibt keinen Sinn, und auch die Variante in den Handschriften L und P „non haec mihi debita poena“ („das ist nicht die mir gebührende Strafe“) ist an dieser Stelle sinnlos, weil man nicht weiß, worauf die Anapher „haec“ sich beziehen soll. Die zwei plausibelsten Konjekturen sind „mors est mihi debita ­poena“ („der Tod ist die mir gebührende Strafe“) und „hostis mihi debita Procne“ („Procne gebührt mir nun als Feindin“). Angesichts der folgenden Verse halte ich den ersten Vorschlag für plausibler. 295

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tralisiert, aber er schwingt mit, denn die Reduk­tion auf das Sexuelle ist eine Folge des Verlustes der den Menschen kennzeichnenden Sprache, und dieser Nebensinn wird wieder aufgegriffen und expliziert dort, wo Procne erwägt, ihrem Mann die Zunge oder die Augen und die Zeugungsorgane auszureißen (616 f.). Nach diesem weiteren, noch scheußlicheren Verbrechen vergewaltigt Tereus Philomela noch mehrmals – man darf davon ausgehen, daß der Anblick des Bluts, der schrecklichen Wunde und des Entsetzens Philomelas ihn beson­ ders stimuliert hat. Es handelt sich um eine der ganz wenigen Stellen außer­ halb des Prologs und des Epilogs, in denen der Epiker selbst in erster Person redet (die Verwendung der ersten Person in Reden anderer ist dagegen sehr häufig). „Hoc quoque post facinus (vix ausim credere) fertur/ saepe sua lacer­ um repetisse libidine corpus.“ („Auch nach der schändlichen Tat – kaum kann ich es glauben –, erzählt man,/ Hab‘ er die Lust noch öfter gebüßt am verstüm­ melten Körper“, 561 f.) Daß der Dichter hier, anders als etwa 3.106, 3.311 und 4.394, seine Zweifel in erster Person vorträgt, ist dem besonderen Widerwillen geschuldet, den die Tat erregt. Ovid ist zwar Hedonist, aber rücksichts- und liebevoll; Erotik fasziniert ihn u. a. deswegen, weil sie eine Alternative zur Gewalt ist. Daß hier eine über das Eindringen in den begehrten Körper hinaus­ gehende Gewaltanwendung, die den anderen vollends dehumanisiert, Lust ver­ mitteln kann, ist in der Innenperspektive für ihn nicht nachzuvollziehen; aber er ist ein zu guter Beobachter, als daß er in seiner erotischen Enzyklopädie das Phänomen des Sadismus ganz aussparen könnte. Das Herausschneiden der Zunge erinnert zwar an den Sprachverlust, der mit der Metamorphose in Tier­ gestalten bei früheren Figuren Hand in Hand ging; aber damals war er nur eine Folge der Umwandlung, nicht als solcher intendiert, und angesichts der neuen Gestalt natürlich und keine Verletzung der Erwartungen von Mitmenschen. Philomelas Beraubung beläßt sie dagegen in einem menschlichen Körper und reduziert sie zum beliebig wieder zu benutzenden Sexualobjekt. Seine Frau infomiert Tereus nach seinen Taten dahingehend, Philomela sei gestorben. Was diese aus ihrer Lage rettet, ist die Kunst, und zwar dieselbe, die Arachne und Minerva am Anfang des Buches praktiziert hatten.297 Durch eine Magd übersendet sie ein Gewebe an ihre Schwester, in das ihre Ge­ schichte einbeschrieben ist.298 Procne entfaltet es und liest das Klagelied In dem hoffentlich wenigstens nicht vollständig von Shakespeare stammenden Schauerdrama Titus Andronicus (Act 4, Scene 1) schafft es Lavinia, der ihre Ver­ gewaltiger sinnigerweise nicht nur die Zunge, sondern auch die Hände abgeschla­ gen hatten, durch das Aufschlagen mittels ihrer Armstümpfe von Ovids Metamorphosen an der Philomela gewidmeten Passage auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen – ein klares Beschreiten der Metaebene zu Ovids Erzählung. 298 „Purpureasque notas“ (577) bezieht sich eher auf Buchstaben als auf Bilder, 297

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(„carmen miserabile“, 582) – der Terminus, als Enallage zu verstehen, spielt wohl metapoetisch auf Ovids eigene elegische Einlage an. Auch wenn sie sich äußerlich zu beherrschen vermag, verwirrt sich in ihrem Sinne alles: „…fas­ que nefasque/ confusura ruit poenaeque in imagine tota est.“ („sie rast, mit dem Unrecht/ Blind zu verwirren das Recht, und lebt in Gedanken an Rache“, 585 f.) Bei dem anstehenden Bacchusfest befreit sie, als Bacchantin gekleidet, die Schwester, die sich schämt, sie anzublicken, weil sie sich immer noch schuldig fühlt, ihre Ehe gestört zu haben; aber als sie zu sprechen anhebt, hat sie statt der Stimme nur die Hand zur Verfügung (605 ff.). Sosehr es für ­Procne spricht, daß sie der Schwester nicht die mindesten Vorwürfe macht, sosehr ihre Aufforderung, statt zu weinen, zu handeln, berechtigt ist, sowenig läßt Ovid einen Zweifel daran, daß diesmal die Solidarität zwischen Frauen, in diesem Fall zwei Schwestern, die gegen ihren Willen in einem erotischen Dreieck gefangen sind, zu pathologischer Rachebesessenheit führt. Procne handelt unrecht, und sie weiß es (613). Daß sie als Bacchantin agiert, verbin­ det sie mit Agaue; daß sie ihren eigenen, ganz offenkundig unschuldigen Sohn tötet, um Tereus zu strafen, folgt dem Beispiel der Rache, die die Lato­ nakinder an Niobe genommen haben; das Gemetzel erinnert an Apollos Be­ strafung des Marsyas. Damit wird rückwirkend auch auf manche der rächen­ den Götter ein fragwürdiges Licht geworfen. Es ist das zufällige Auftauchen ihres Sohnes, das ihr den Gedanken eingibt, denn Itys ähnelt seinem Vater. Doch wird Procne durch dessen kindliche Anhänglichkeit zunächst be­ schwichtigt. Wiederum umarmt und küßt ein Kind ein Elternteil, wenn auch diesmal sicher ohne erotischen Nebensinn; aber da V. 625 f. V. 479 entspricht, kann der Leser auch bei dieser Familienszene nicht optimistisch sein. Ein Blick auf die Schwester, die anders als Itys nicht reden kann, leitet bei Procne einen erneuten Sinnesumschwung ein. Das Pendeln der Gefühle für bzw. gegen eine Option macht diese Szene ansatzweise zu einer im engeren Sinne tragischen, d. h. zu einer solchen, in der ein Konflikt von Werten auftritt, der die Handlungsfindung erschwert. Andere, viel tiefer empfundene Konflikte solcher Art, hauptsächlich im Inne­ ren von Frauen in Form von langen Monologen ausgetragen, werden bald folgen, während die früheren erotischen Interaktionen oft mit dem durch des Gedankens Blässe kaum angekränkelten Automatismus des Epos abliefen. Itys wird von beiden Schwestern zusammen getötet und zerrissen, und Procne lädt ihren Mann zu einem Mahl zu zweit ein, bei dem sie ihm das Kind als Speise vorsetzt. Die geistige Dunkelheit, in der bei seinem Besuch in Athen wie Bömer durch Anführung der Bedeutung von „nota“ Am. 1.12.8, AA. 3.630, F. 5.727, Tr. 3.3.72 plausibel macht. Doch „nota“ kann allgemein „Zeichen“ be­ deuten, so z. B. M. 2.452.

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Pandion und Philomela befangen waren (472 f.), umfängt nun ihn selber (652), und er bittet, seinen Sohn herbeizuführen. Das gibt Procne Anlaß zu „grausa­ men Freuden“ („crudelia gaudia“, 653). Der Junge sei drinnen, und als Tereus im Zimmer um sich blickt, wirft die hervorspringende Philomela ihm dessen Haupt ins Gesicht. Nie hätte sie mehr gewünscht, sprechen zu können, als jetzt, und zwar um ihre Freude auszudrücken (660). Sadismus, scheint es, ist ansteckend.299 Als der erschütterte Tereus die beiden Schwestern mit blan­ kem Schwert verfolgt, werden die drei in Vögel verwandelt. Das sechste Buch klingt aus – von Albrecht spricht (1994; 592) treffend von einer Coda – mit einer weiteren Raubehe: Der Nordwind Boreas entführt Erechtheus’ Tochter Orithyia. Einerseits hat der berühmte Mythos, den auch Platon im Phaidros (229b ff.) diskutiert, eine Scharnierfunktion, da er eine Brücke schlägt zwischen dem thrakischen König (Boreas stammt aus demsel­ ben Volk, 682) und der Fahrt der Argonauten, zu denen die Zwillinge des Paares zählen. Andererseits ist er thematisch deswegen am Platze, weil er das Prinzip der vorangegangenen Geschichte sowohl bekräftigt als auch ab­ schwächt. Denn wenn auch Boreas am Anfang seiner Werbung lieber Bitten als Gewalt brauchen will (684), reißt ihm doch nach einer Weile der Gedulds­ faden: „Socerque/ non orandus erat mihi, sed faciendus Erechtheus.“ („er­ zwingen/ hätt’ ich sollen, anstatt zu erbitten, den Schwäher Erechtheus“, 700 f.) Das begründet er mit der eigenen Natur als Wind, der Gewalt gemäß ist (690). Damit wird deutlich gemacht, daß die Raubehe nichts Erhabenes ist, sondern etwas von einer Naturgewalt hat und daher primitiv ist. Und doch stellt gleichzeitig diese Geschichte eine fühlbare Entlastung nach der TereusEpisode dar. Boreas ist roh, aber weder bricht er sein Wort, noch wird er sei­ ner Frau untreu; Sadismus ist ihm fremd. Man merkt, daß der Verlust ur­ sprünglicher Schlichtheit sowohl freiere und höhere als auch abgründigere Formen des erotischen Begehrens hervorbringt. Daß Ovid die Tötung des Kindes nicht billigt, geht auch aus EH. 15.153, F. 2.629, 855 f. und Tr. 3.12.9 ff. hervor (vgl. auch Horaz, Carmina 4.12.7 f.). Das ändert nichts an dem besonderen Abscheu vor Tereus. Was Ovid von göttlicher Rache denkt, erhellt daraus, daß in der scheußlichsten Geschichte der Fasti, die kurz vor der Nennung Tereus’ erzählt wird (2.583 ff.), Jupiter der Nymphe Lara, die Juturna vor den Vergewaltigungsplänen Jupiters gewarnt hatte, mit denen er wie ein Ty­ rann geprotzt hatte (Lara hatte zudem unklugerweise auch Juno informiert), die Zunge herausreißt und sie Mercurius übergibt, der sie dann auch noch vergewal­ tigt, obwohl sie ihn mit stummen Blicken beschwört, das nicht zu tun. Jupiter und Tereus erweisen sich damit als wesensverwandt. Eine Kritik an göttlicher Rach­ sucht legt Ovid seiner vielleicht lieblichsten Göttin, Flora, in den Mund (F. 5.304 und 325: „nec volui fieri nec sum crudelis in ira“/ „weder wollte ich grausam im Zorn werden noch bin ich es“).

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Metamorphosen, Buch 7. Der Monolog zu erotischen Fragen als weibliche Form. Leidenschaft, Analyse und quasi-tragischer Konflikt: Medea. Vatertötung und fast erfolgte Sohnestötung: Variationen desselben Themas. Die metapoetische Bedeutung Medeas als eines Anti-Perseus. Interne Hindernisse bei der Bewahrung der Liebe: die Rolle der Eifersucht in der Geschichte von Cephalus und Procris

Schon V.11 des neuen Buches beginnt der lange Monolog Medeas, der sich über sechzig Verse erstreckt. Er stellt etwas ganz Neues im Aufbau des Wer­ kes dar. Keine Frau hat sich früher so ausführlich über ihre eigenen Liebes­ empfindungen geäußert. Echo hat bekanntlich nichts Originelles zu sagen; Thisbe mag Pyramus lange geliebt haben, aber sie stirbt, ohne viel gespro­ chen zu haben, und sicher nichts, was sich auf den Konflikt mit ihrem Vater bezöge. Salmacis’ Begehren ist nicht schwächer als dasjenige Medeas, aber sie handelt so schnell, daß zu Reflexionen nicht viel Zeit bleibt. Narcissus hat zwar einen langen Monolog gehalten, aber es handelte sich nicht um einen Entscheidungsmonolog; Ulrike Auhagen spricht treffend vom „Protokoll ei­ nes Erkenntnisprozesses“ (199; 156). Aber mit Narcissus beginnt die Form des längeren Monologes deswegen, weil er eine ungewöhnliche Form von Liebe erlebt; und eine solche ist es, die tiefergehende Reflexionen erzwingt – so auch bei Medea, Scylla, Byblis, Iphis und Myrrha. Heinze, dessen Analyse des Monologs bei Ovid (1919; 388–401) unübertroffen bleibt, nimmt den Iphismonolog mit dem Narcissusmonolog zusammen, weil es in beiden um eine Liebe gehe, „die sich ihres eigenen Widersinns bewußt ist“ (399 f.). Er unterscheidet diese beiden Monologe von Monologen der Entrüstung und Drohung, ultima verba, Totenklage, der alleine stehenden Abschiedsrede des Hercules, die von Sophokles’ Τραχίνιαι (Trachinierinnen) inspiriert ist, so­ wie schließlich den „großen Monologen, die den Widerstreit zweier Mächte in der Seele des Redenden schildern“ (389). Als einzigen nicht-erotischen Monolog dieser Gruppe nennt er denjenigen Althaeas. Ich stimme Heinze auch darin zu, daß diese Monologform sich weder der rhetorischen Tradition noch den Monologen der Neuen Komödie, sondern der attischen Tragödie, insbesondere Euripides’ Μήδεια (Medea), verdankt. Die Widerstreits-Mono­ loge gehen sämtlich von Frauen aus, denn Männern steht der Weg zu reflexi­ onsloser Gewalt viel leichter offen. Medeas Liebe ist dabei die unkomplizier­ teste, weil sie heterosexueller Natur ist und sich nicht auf nächste Angehörige richtet; doch gerade daß sie sich, im Gegenteil, einem Wildfremden zuwen­ det, schafft in einer vormodernen Welt den Konflikt mit den Rollenerwartun­ gen, die ihr Vater ihr gegenüber hat, der nie eine Ehe mit einem Fremden ge­ statten würde und der möchte, daß Iason zu Tode kommt. Medea dagegen kann ihm, der sonst sterben muß, helfen. Ihr Eingriff erinnert an den ritterli­

4.8  Metamorphosen, Buch 7

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chen des Perseus, doch besteht ein wichtiger Unterschied darin, daß Iason, anders als Andromeda, trotz Medeas Unterstützung selber kämpfen muß. Medea ist in dieser Frage zerrissen und gibt sich über ihre erstmalige Ver­ liebtheit ebenso wie über deren Unangemessenheit deutliche Rechenschaft. Wie Euripides’ Heldin ist auch Ovids Figur charakterisiert durch außeror­ dentliche Leidenschaft und ungewöhnliche Intelligenz. Dabei darf man nicht übersehen, daß Euripides’ Heroine eine reife Mutter ist; Ovids Heldin hat den gleichen Reifegrad, bevor sie noch ein Wort mit Iason gesprochen hat.300 Sie hat Vernunft, aber sie kann damit ihre Leidenschaft nicht besiegen – so sagt der Erzähler gleich zu Beginn (10 f.). Aber nicht nur der Erzähler, der seinen Sokrates kennt,301 den er kritisiert, Medea selber spricht es aus: „Aliud­ que cupido,/ mens aliud suadet: video meliora proboque,/ deteriora sequor!“ („es rät mir die Sehnsucht/ Anders als die Vernunft. Das Bessere seh‘ und erkenn‘ ich:/ Schlechterem folgt mein Herz“, 19 ff.; ähnlich 92 f. Iason gegen­ über) Und deswegen wissen wir, daß das Spiel schon entschieden ist. Sicher führt Medea, nachdem sie eingeräumt hat, ein liebenswerter Ehemann ließe sich auch unter der einheimischen Bevölkerung finden, moralische Argumen­ te zur Rechtfertigung ihrer Absicht zu helfen an: Auch ohne Liebe dürfe man wünschen, daß Iason überlebe, denn er habe nichts Böses getan; sein Alter, seine Herkunft, seine Tugend sprächen für ihn. Immerhin ist sie ehrlich ge­ nug, darauf auch sein Gesicht zu nennen, das sie sehr bewegt habe (27 f.; s. auch 43 f.). Ihre Pflicht zu helfen begründet sie mit der rhetorischen Frage: Solle sie gar die Stiere und den Drachen auf ihn hetzen (35 f.)? Da dies sicher verneint werden muß, sei eine Hilfe auch gegen des Vaters Willen erlaubt. Freilich zeigt der sofort anschließende Gedanke, Iason müsse sie dann auch heiraten oder sterben (42 f.), daß die Einklammerung der Liebe bei ihrer Er­ wägung (24 f.) nicht sehr erfolgreich war. Zudem nennt Medea die barbari­ sche Natur ihres Landes und die kulturelle Überlegenheit der Griechen, unter denen sie Ruhm erwerben werde (53 ff.). Dabei ist „vertice sidera tangam“ („mit dem Haupt werde ich die Sterne berühren“, 61)302 eine Anspielung auf das Ende der ersten Ode Horaz’ (Carmina 1.1.36) „sublimi feriam sidera ver­ tice“ („mit hohem Haupt werde ich die Gestirne berühren“).303 „Medea seems So zu Recht Gabriele Stein (2004), 59, Anm. 195. Gegen die dem geschichtlichen Sokrates mit Sicherheit zuzuschreibende These, daß niemand freiwillig sündige, wendet sich Euripides sowohl in der Medea (1078 ff.) als auch im Hippolytos (Ἱππόλυτος) (380 ff.). 302 Wieder aufgegriffen wird die Wendung mit Abwandlung in die zweite Person EP. 1.5.57. 303 Ovid hat Horaz’ hohes formales Können bewundert (Tr. 4.10.49 f.), auf das dieser, der ein lateinisches Äquivalent äolischer Dichtung geschaffen hatte, selber beson­ 300 301

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to appropriate this status in the poetic sphere for herself, especially as she begins to project an increasing awareness of her literary counterparts in Eu­ ripides and Apollonius.“304 Aber all diese Argumente sind, trotz der Prolepse Horazens, nichts als Sekundärrationalisierungen ihres erotischen Dranges. Denn der Fortgang der Geschichte zeigt deutlich genug, daß Medea einerseits nicht gerade durch Näch­stenliebe gekennzeichnet, sondern grausam und zweitens selbst tief in den barbarisch-magischen Bräuchen ihrer Heimat verwurzelt ist.305 Und auch wenn ihre Entscheidung am Ende des Monologs darin besteht, die Liebe der Familienpflicht und dem Schamgefühl („pietasque pudorque“, 72) zu opfern, genügt der erste erneute Anblick Iasons auf dem Weg zum Hecate-Tempel, um letztere über den Haufen zu werfen: „Extinctaque flamma reluxit./ eru­ buere genae, totoque recanduit ore“ („… sich hebt das erloschene Feuer./ Rot sind die Wangen gefärbt, und sie glüht im ganzen Gesichte“, 77 f.). Ovids Anthropologie erinnert an diejenige Humes, nach der die Vernunft Sklavin der Leidenschaften ist – wenigstens wenn die fragliche Leidenschaft der Eros ist. Deswegen kann man bei den großen Frauenmonologen nur von quasi-­ tragischen Konflikten reden. Der Sieg der Leidenschaft ist vorherbestimmt; und um einen Konflikt moralischer Werte – etwa zwischen Familienloyalität und Faszination vor einer überlegenen Kultur – handelt es sich nur dem An­ schein nach, da dieser Diskurs auf dem vitalen Faktum der erotischen Attrak­ tion parasitiert. Man sieht hier, warum auch Senecas Tragödien den Vollbe­ griff des Tragischen nicht erreichen – der stoische Determinismus und die ders stolz war (Carmina 3.30.12 ff.). Inhaltlich aber besteht zwischen beiden ein Abgrund. Horaz’ Lebensphilosophie gründet im hellenistischen Streben nach Aut­ arkie, auch und gerade im erotischen Verhalten: Er ist höchstens „ein bißchen“ („quid“) entflammt (1.6.19 f.); Ovid dagegen ist Dichter des Risikos, ja, des Selbstverlustes in der erotischen Leidenschaft. In der Fähigkeit zur Selbsttran­ szendenz, auch wenn sie bei ihm in eine andere, nicht politische Richtung gelenkt wird, ist Ovid, und nicht Horaz, Erbe Vergils. Nur in den Tristien ist der Einfluß Horazens starker (z. B. 3.4). Und doch ist das letzte Gedicht der Sammlung eine geniale Überwindung von Horaz’ Carmina 3.30: Ovid errichtet nicht sich selber, sondern seiner treuen Frau Fabia ein Monument und garantiert ihr Unsterblichkeit (5.14.1 und 6). 304 Barbara Pavlock (2009), 42. 305 Trotz ihrer magischen Macht ist freilich Medea ihrer Liebe zu Iason ausgeliefert, den sie zwar durch ihre Hilfe, aber nicht direkt durch magische Mittel an sich bindet, wie ihr die Rivalin Hypsipyle EH. 6.93 f. zu unterstellen scheint. Daß es unmöglich ist, durch Zauberei Liebe zu erzwingen oder von ihr zu befreien, ist ein Topos der elegischen Dichtung, sowohl bei Ovid (EH. 12.165 ff., RA. 249 ff., MFF. 35 ff.) als auch bei Properz (2.4.7 ff.) und Tibull (1.8.17 ff.).

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Abstraktheit des stoischen Vernunftbegriffes lassen moralische Wertkonflik­ te gar nicht aufkommen.306 Zwar hat Iason Medea sein Ehrenwort, sie zu heiraten, gegeben (89 ff.), das sie sich schon in ihrem Monolog für ihre Hilfe ausbedungen hatte (46 f.). Aber der Stolz, mit dem dieser mit dem Goldenen Vlies als erster und Medea, dem er dieses doch verdankt, als zweiter Beute davonzieht (156 f.), stimmt kaum optimistisch hinsichtlich ihrer Ehe. Immerhin ist Iasons Liebe zum Vater so groß, daß er gerne einige Lebensjahre an Aeson abgäbe. Diese Bitte rührt Me­ dea, auch wenn oder gerade weil sie weiß, daß ihr eine vergleichbare Liebe abgeht und sie selbst ihren Vater verlassen hat (169 f.). Gleichzeitig zeigt Iason, daß er seine Frau anders als den Vater nicht wirklich liebt, sondern nur be­ nutzt, und zwar will er ihre Zaubermacht ausnutzen.307 Diese dient zwar an­ fangs einem gutgemeinten Zwecke, löst sich aber dann davon – das scheint zum Wesen der Magie zu gehören. Statt Iasons Leben abzukürzen, verjüngt Medea Aeson durch eine Zauberei, deren Zubereitung und Anwendung aus­ führlichst geschildert wird. Nach Anrufung der Hecate fliegt Medea auf ihrem Drachenwagen durch die Lüfte (219 ff.) und sammelt alle erforderlichen Ingre­ dienzen. In drei Versen wird ferner mitgeteilt, daß Bacchus die Verjüngungs­ kur für seine Ammen nachgeahmt habe (294 ff.). Dieses ganz knappe Inter­ mezzo ist rätselhaft. Dient es dazu, das Hauptthema des dritten Buches wieder anklingen zu lassen? Soll klargemacht werden, daß die Verjüngungskur im Prinzip wiederholbar wäre? Daß sie im Falle von Aesons Bruder Pelias, der seinen Bruder der Herrschaft über Iolcus beraubt und Iason zum gefährlichen Argonautenzug gezwungen hatte, so schrecklich scheitert, ist also nicht ihrer inneren Unmöglichkeit geschuldet, sondern Medeas bewußtem Plan. Sie flieht zu dessen Töchtern unter dem Vorwand, sich mit Iason überworfen zu haben (ob mit Iasons Billigung, wird nicht gesagt); gastlich aufgenommen, erzählt sie, was sie für Aeson geleistet habe. Pelias’ Töchter wollen nun ebenfalls ihren Vater verjüngen; doch Medea, deren Falschheit mehrfach hervorgehoben wur­ de (297, 301), ziert sich zunächst (308). Schließlich gibt sie nach und führt die Kur an einem alten Widder vor, den sie tötet, kocht und wiederbelebt. Von ihr geradezu unter moralischen Druck gesetzt (336 ff.), fallen die Töchter den sich vergeblich wehrenden greisen Vater an, dem Medea schließlich Gurgel und Worte abschneidet – so die Syllepse 348 f. –, worauf sie entflieht. Was ist die Funktion dieser Geschichte, und warum steht sie an diesem Ort? Offenkundig wollte Ovid, der Medeas Tötung der eigenen Kinder in ei­ In Senecas Medea ist der einzige, der vor einem wirklich tragischen Konflikt steht, Iason (433 ff.), und er ist nicht der Held. Medea wird nur von Affekten ge­ trieben. 307 Vgl. die feinsinnige Interpretation von Judith A. Rosner-Siegel (1982), 238. 306

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nem einzigen Vers erwähnt (396), den Höhepunkt von Euripides’ und vermut­ lich auch seiner eigenen Tragödie nicht wiederholen.308 Außerdem hatten wir im Hauptwerk selbst gerade die Schlachtung des Itys durch Mutter und Tante erlebt, die damit den Vater bestrafen wollten – warum sollte das noch einmal geboten werden? Statt dessen konzentiert sich Ovid auf eine Spiegelung der Geschichte, diesmal nicht auf der Geschlechts-, sondern auf der Generationen­ achse. In beiden Mythen töten Frauen verwandte Männer – aber einmal war es das eigene Kind, das andere Mal der eigene Vater. Ein wichtiger Unter­ schied ist sicher, daß die Peliaden nicht wissen, was sie tun. Medeas besonde­ re Grausamkeit besteht darin, daß sie die Tötung des Pelias durch dessen ei­ gene Töchter einleiten läßt, die sie zudem selber um die Prozedur bitten. Das erinnert an Junos Insinuation, Semele solle Jupiter darum bitten, ihr so beizu­ wohnen, wie er es mit Juno tue. Doch daß der Geschlechtsverkehr tödlich sein würde, war nicht so leicht vorherzusehen wie daß die Tötung, der Pelias nie zugestimmt hatte, irreversibel sein würde. Die Peliaden sind dümmer als Se­ mele, aber Medea steht an Bösartigkeit Juno nicht nach. Die Menschen holen in einer Hinsicht auf. Doch hat die Tötung speziell durch Verjüngungszauber eine besondere Bedeutung? Nun, es ist naheliegend, sie als Inversion der Versteinerung durch das Haupt der Medusa zu deuten. Dieses verwandelte Lebendiges in Totes; der Zauber Medeas verwandelt fast schon Totes in jugendlich Lebendiges. Wir erinnern uns an die metapoetische Dimension der Perseus-Szene. Ist eine solche Dimension auch hier zu finden? Man muß nicht lange suchen. Wir haben schon gesehen, daß Medea Horaz zitiert und zu den Sternen strebt; ja, ihr Flug auf dem Drachenwagen erinnert explizit an Perseus’ Reise durch die Luft.309 Die Zauberlieder, die sie singt, heißen ausdrücklich „carmen“, also „Lied“ oder „Gedicht“ (203, 208, 258, 424).310 Die Ingredientien aus der gan­ zen Erde, die sie sammelt und braut, entsprechen den poetischen Ideen, die der Dichter in diesem Weltgedicht ebenfalls aus der Wirklichkeit (und seinen Vorläufern) zusammenträgt und, wie Arachne, zu einer Einheit webt. Aber wie soll der Dichter verjüngen, wenn denn erst von ihm gesagt wurde, er ver­ Der letzte Vers von Medeas Brief an Iason (EH. 12.214) weist unbestimmt auf den Kindermord voraus („quid … maius“, „etwas Größeres“); und man mag dies, Pro­ perz 2.34.66 im Sinn, m ­ etapoetisch als Ovids Anspielung auf die eigene MedeaTragödie lesen. Medeas Tötung des Bruders Absyrtus auf der Flucht wird in den Metamorphosen, anders als Tr. 3.9.5 ff. und Ib. 433 f., wo sich eine ganz andere Version der Geschichte als in Apollonios’ Ἀργοναυτικά (Argonautika) (4.452 ff.) findet, gar nicht erwähnt. 309 Beider sowie Daedalus’ Luftreisen werden zusammen genannt Tr. 3.8.3 ff. 310 Darauf weist Genevieve Liveley (2011), 78. 308

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steinere? Nun, die drei in ihrer Stellung rätselhaften Verse über Bacchus’ Ammen helfen vielleicht weiter. Dieser wurde von den Nyseiden aufgezogen, also von Nymphen (3.314 f.). Der Glaube an die Existenz der Nymphen war zur Zeit Ovids im Schwinden; sonst hätte nicht nur wenige Jahre nach seinem Tod unter Tiberius die von Plutarch überlieferte Nachricht, der große Pan sei gestorben, ein solches Aufsehen erregt.311 Pan und die Nymphen gehören ja zusammen.312 Aber kein Werk der antiken Literatur bietet einen so zauberhaf­ ten Kosmos von Nymphen wie die Metamorphosen: In ihm leben und tanzen sie weiter, ewig jung. Wir haben schon anfangs eine metapoetische Deutung der um die Eiche des Erysichthon tanzenden Nymphen gegeben; eine weitere anderer Nymphen wird S. 232 zu 14.512 ff. folgen. Die wechselseitige Stüt­ zung dieser Inter­preta­tionen macht Mut. Dichtung leistet zweierlei: Sie bietet keine lebendige Wirklichkeit – darin haben Platon und Alkidamas recht. Doch sie verklärt sie – sie gibt ihr ein geistiges Sein in einem anderen Medium. Die metapoetische Bedeutung der Medeaszene ist eine Korrektur des Platonismus der Perseusepisode, so wie wir auch im Narcissusmythos eine Nachfolge und eine Kritik an Platon ent­ deckten. Beides gehört zusammen – nur wer das Erstarrenlassen und das Ver­ jüngen zusammendenkt, erfaßt Ovids subtile Poetologie. Und Ovid wäre nicht der vollkommene Dichter, der er ist, wenn er nicht die beiden Szenen kunstvoll-sprachmagisch verknüpfte. Wie? Durch das Wort „magicus“. Eryx klagt über die „magica arma“ („magische Waffen“) des Perseus (5.197), und 7.330 lesen wir von der „magicaeque potentia linguae“ („Macht der magi­ schen Zunge“).313 Nicht nur Medea hat eine solche Zunge. Iasons Frage an sie „quid enim non carmina possunt?“ („denn was vermögen Zauberlieder nicht?“, 167) darf der Leser durchaus auch an Ovid richten. Medeas Flucht erlaubt es Ovid, zahlreiche Metamorphosen zu nennen, deren Orte sie überfliegt – genau so wie es der Dichter selber metaphorisch in seiner Erzählung mit diesen Mythen tut. Dabei kann Ovid, in Antizipation des zehnten und elften Buches, eine mit Selbstmordversuch endende homoeroti­ sche Liebschaft (371 ff.: Cycnus und Phyllius) und den Inzest Menephrons mit seiner Mutter streifen (386 f.), der als „saevarum more ferarum“, als „nach Art wilder Tiere“ bezeichnet wird. In Athen bei Aegeus angekommen und dessen Περὶ τῶν ἐκλελοιπότων χρηστηρίων (Über die eingegangenen Orakel) 17. Vgl. 1.192 ff., wo Jupiter auf die Bedrohung der Halbgötter verweist, was ich ebenfalls metapoetisch zu deuten geneigt bin, weil es wörtlich kaum einen Sinn gibt. Faune, Satyrn, Laren, Flußgötter und Nymphen werden Ib. 79 f. „plebs supe­ rum“, „das einfache Volk der oberen Götter“, genannt. 313 Das Wort kommt sonst nur noch dreimal in den Metamorphosen vor; siehe Johan­ nes Siebelis (1874), 186. 311

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Gemahlin geworden, will Medea Theseus vergiften, den Aegeus noch nicht als Sohn erkannt hat; doch geschieht die Anagnorisis rechtzeitig in dem Mo­ ment, in dem Aegeus ihm auf Betreiben Medeas den giftigen Becher reicht (419 ff.). Offenbar wird damit erneut das Motiv der Tötung des eigenen Kin­ des variiert. Die Geschichte erinnert an die Tötung des Itys. Doch ist es er­ stens der Vater und nicht die Mutter, der hier fast zum Sohnesmörder wird. Zweitens liegt wie bei den Peliaden keine Absicht vor. Freilich wußten diese, daß sie ihren Vater angriffen; aber sie verstanden nicht, daß es um eine wirk­ liche Tötung ging. Aegeus dagegen will eine endgültige Tötung, aber er weiß nicht, gegen wen sie sich richtet. Drittens scheitert der Versuch, anders als in den Fällen des Itys und des Pelias. In allen drei Fällen gibt es neben der zen­ tralen Elternteil-Kind-Konstellation eine dritte Figur, die zur Tötung antreibt. In den zwei letzteren ist es natürlich Medea, im ersten Tereus. Zwar will er nicht den Tod des Sohnes; doch er ist die Ursache des Hasses, der zur Kinds­ tötung führt. Das Moment mangelnder Absicht ist also hier außerhalb der zentralen Konstellation angesiedelt. Man sieht: Ovid variiert wie ein Kompo­ nist ein gegebenes Thema, und er sucht Mythen, die als Variationen passen. Die thematische Grundstruktur, nicht die überlieferte Ordnung organisiert die Mythen. Daß die erste sowohl leidenschaftlich als auch reflektierend Liebende ihre eigenen Kinder tötet, den Stiefsohn zu ermorden versucht und die Peliaden zur Abschlachtung des Vaters anstachelt, ist sicher kein Zufall. Denn auch in den u. a. durch ihre Monologe verwandten Geschichten von Scylla und Myr­ rha beraubt eine Tochter den Vater der Herrschaft (und dadurch der Existenz als Mensch) und will ein Vater seine Tochter töten. Der Eros, der eigentlich der Fortpflanzung dienen soll, kann sich dahingehend verselbständigen, daß er nicht nur auf Fortpflanzung verzichtet, sondern die Generationenfolge ge­ fährdet. „The passions with which these heroines contend have the potential not just to impede forward movement, but … to dismantle the most basic di­ mension of human progress: the succession of the generations.“314 Ein festlicher Gesang auf die Taten des jungen Theseus (433 ff.) vermag Aegeus’ Sorge angesichts der Kriegsvorbereitungen des Europasohnes Minos nicht zu beheben, der seinen Sohn Androgeos rächen möchte (456 ff.) und auf der Suche nach Verbündeten auch Aegina anfährt, wo er allerdings zurückge­ wiesen wird. Gleich nach seiner Abfahrt treffen die attischen Gesandten ein, deren ältester Cephalus ist. Da dieser überrascht ist, viele alte Bekannte nicht mehr vorzufinden, berichtet ihm Aeacus von der Pest, die einen großen Teil der Bevölkerung hinweggerafft hatte. Ovids ausführliche Schilderung der Seuche knüpft einerseits an klassische Vorbilder an, an Thukydides (2.47– S.  Georgia Nugent (2008), 173.

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54), an Lukrez (6.1090–1286) und an Vergil (G. 3.478–566). Andererseits sind Quellen, wie wir wissen, nie ausreichend, um Ovids Aufnahme einer Ge­ schichte zu erklären, zumal einer so langen. Drei Gründe scheinen mir wich­ tig. Erstens kann ein Weltgedicht auf das Thema des Todes nicht verzichten, der oft durch Krankheiten verursacht ist. Die Übertragung der Seuche von Tieren auf Menschen paßt zudem sehr gut zu dem Thema der Seelenwande­ rung, da sie ebenfalls auf eine Wesensverwandtschaft alles Lebendigen weist. Und da Tod und Zeugung komplementäre Vorgänge sind, kann gerade eine erotische Enzyklopädie nicht darauf verzichten. Zweitens ist die weitgehende Vernichtung der Bevölkerung Aeginas eine Wiederaufnahme des Themas der Vernichtung der Menschheit. Die Flut im ersten Buche überlebten nur zwei Menschen, der Brand des zweiten vernichtete nicht die ganze Erde, hatte aber das Potential, es zu tun. Diesmal ist die Katastrophe lokal; und sie wird nicht von einem Urelement verursacht, sondern von einer auf Organismen be­ schränkten Krankheit. Allerdings ist auch nach ihrem Eintritt eine Regene­ ration durch normale Fortpflanzung in Aegina nicht möglich. Diesmal sind es freilich weder Gigantenblut noch Steine, aus denen Menschen entstehen, sondern Ameisen auf einer Eiche, wie Aeacus schon in einem Traum mitge­ teilt wird (634 ff.) und er nach dem Erwachen entdeckt. Insekten auf einer Pflanze sind zwar vergleichsweise primitiv, aber sie stehen beide höher als Steine. Entsprechend ist auch das Resultat besser. Die Saat aus Gigantenblut war gewalttätig (1.161 f.), die aus Steinen immerhin hart (1.414), doch die aus den Ameisen sich entwickelnden Myrmidonen sind nur karg und sparsam (7.656 f.; die Arbeitsamkeit teilen sie immerhin mit den aus Steinen erwach­ senen Menschen). Drittens wirft die Seuche in intensiver Weise das Theodi­ zeeproblem auf. Daß sie durch Junos Eifersucht ausgelöst wird, die die Insel haßt, die nach einer weiteren Geliebten Jupiters benannt wurde, ist nicht überraschend; ungewöhnlich ist jedoch, daß Aeacus gleich zu Beginn seiner Erzählung Juno „ungerecht“ („iniquae“, 523) nennt. Aber das, was ihn und die Inselbevölkerung besonders trifft, ist die Gleichgültigkeit Jupiters, der der Krankheit ihren vernichtenden Lauf läßt. Menschen erhängen sich aus Angst vor dem Tode; Leichen werden vor Tempel und Altäre geworfen (602 ff.). Aeacus beginnt an der Vaterschaft Jupiters zu zweifeln und bittet darum, ihm entweder sein Volk wiederzugeben oder auch ihn zu töten (614 ff.). Man geht wohl nicht fehl, wenn man das Gefühl Aeacus’, vom gött­ lichen Vater dem Tode anheimgegeben worden zu sein, zu der Kindestötung durch die Eltern in Beziehung setzt, die unmittelbar vorher in verschiedenen Varianten auftrat. Allerdings greift Jupiter schließlich durch das Verwand­ lungswunder rettend ein. Am nächsten Morgen erhält Cephalus Gelegenheit, Aeacus’ Sohn Phocus die eigene Lebensgeschichte zu erzählen, als dieser ihn auf seinen ungewöhn­

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lich schönen Speer anspricht.315 Dieser, so lautet die Antwort, habe den wei­ teren Vorzug, unfehlbar sein Ziel zu treffen, und gerade dies habe zu Cepha­ lus’ Tragödie geführt; deswegen wünscht er, er hätte ihn nie erhalten (693). Die Jagdleidenschaft ist sicher ein wesentliches Charakteristikum Cephalus’, aber es ist die Verbindung dreier Dinge: dieser Leidenschaft, des ihr gemä­ ßen, aber für einen Sterblichen leider zu vollkommenen Werkzeugs und ei­ ner charakterlichen Schwäche beider Partner, die zum tragischen Ende führt. Cephalus und Procris, Orithyias Schwester, sind eines der wenigen durch symmetrische Liebe verbundenen Paare; anders als im Fall von Pyramus und Thisbe konnten sie, wegen ihres höheren sozialen Status, eine Liebesheirat schließen. „Pater hanc mihi iunxit Erechtheus,/ hanc mihi iunxit amor: felix dicebar eramque“ („Die einte der Vater Erechythus,/ Einte die Liebe mit mir. Ich hieß glückselig und war es“, 697 f.). Es gibt also kein externes Hindernis der Verbindung; und das interne Hindernis ist weder Mangel an Selbst, wie bei Echo, noch Besessenheit mit sich selbst, wie bei Narcissus, Hindernisse, die eine Liebe gar nicht aufkommen lassen. Das interne Hindernis ist jetzt ein solches, das die aufgekeimte Liebe nicht zu bewahren gestattet – man denke an den Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Buch der Ars. Das Problem, an dem diese in symmetrischer Liebe gegründete (799 ff.) Ehe scheitert, ist die Eifersucht oder besser: der Mangel an Vertrauen, der erst ei­ gentlich die Untreue schafft, vor der jener Mangel sich fürchtet. Es ist das erste Mal, daß in den Metamorphosen bei einem menschlichen Paar Eifer­ sucht beschrieben wird.316 Ansonsten war immer entweder eine Gottheit, etwa Juno, eifersüchtig, doch schien ihre Eifersucht nicht in einer positiven Liebe zu Jupiter gegründet, sondern sich eher aus ihrer Rangstellung zu ergeben. Oder aber das Verhalten einer Gottheit, etwa Sols, löste das Eifersuchtsver­ halten einer Sterblichen, etwa Clyties, aus. Es versteht sich, daß unter den in­ ternen Hindernissen Eifersucht nach den Eigenwilligkeiten Narcissus’ und Echos behandelt werden mußte; und zwar nicht nur, weil Eifersucht wirkliche Liebe voraussetzt, sondern weil jetzt auch ein Dritter involviert ist, zumindest in der Einbildung, und das ist eine komplexere Struktur. Komplizierter ist sie Dies ist der erste und einer der wenigen Fälle, in denen eine Liebesgeschichte in erster Person erzählt wird. Vgl. Hendrik Müller (1998), 122 f. Der Musen und Arethusas Berichte über ihre mißglückten Vergewaltigungen wird man ja nicht als Liebesgeschichten betrachten. 316 In den Epistulae Heroidum ist das Thema dagegen sehr präsent, manchmal mit, manchmal ohne Anlaß – so etwa bei Hero, die an Leander schreibt: „Omnia sed vereor! Quis enim securus amavit?“ („Doch ich fürchte alles! Denn wer hat ge­ liebt und sich sicher gefühlt?“, 19.109) Tr. 4.3.11 ff. verbietet sich Ovid, an der Treue seiner abwesenden Frau zu zweifeln. Er solle diesbezüglich auf seine innere Stimme hören, statt auf göttliche Zeichen zu warten. 315

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auch als das väterliche Liebesverbot; denn obgleich auch hier eine dritte Par­ tei einbezogen ist, ist diese gerade nicht als potentieller neuer Partner rele­ vant, sondern im Gegenteil als vom Eros abführende Kraft. Was der Episode ihren besonderen Charme verschafft, ist die Tatsache, daß die Eifersucht auf beiden Seiten daist; das, was das Paar letztlich trennt, ist ihm gemeinsam. In der Ars (3.685 ff.) war dagegen nur Procris auf ihren Mann eifersüchtig. In der Symmetrisierung der Struktur liegt die entscheidende Leistung der späteren Bearbeitung. Darin berührt sich Ovid zwar mit der bei Antoninus Liberalis (41) überlieferten Fassung, aber diese ist nur ein Nebenthema zu der Ge­ schichte vom teumessischen Fuchs und dem ihn jagenden magischen Hund Laelaps, die umgekehrt bei Ovid zum Nebenthema herabgedrückt wird, das die beiden fast gleich langen Behandlungen der zwei Phasen der Eifersuchts­ tragödie trennt (759–793), auch wenn nur hier eine Metamorphose vorkommt, um die es Ovid offenbar in dieser Geschichte gar nicht primär geht. Pöschl hat die Geschichte bei Antoninus, in der jeder Partner den anderen zur Bereit­ schaft zur Untreue verführt, aber das tragische Ende fehlt, treffend einen „Liebesschwank im Stile der jonischen Novelle, der attischen Komödie“ ge­ nannt (1959; 332). Ovid bietet viel mehr, inhaltlich wie formal. Davis hat die innere Struktur der Episode vorbildlich herausgearbeitet (1983; 126 f.). Cephalus verläßt das Haus, um zu jagen, wird von Aurora um­ worben und lehnt sie ab. Er kehrt nach Hause, um Procris zu stellen, umwirbt sie in fremder Gestalt und wird von ihr angenommen. Auf den Ausbruch seiner Wut hin verläßt Procris das Haus, um eine Jägerin zu werden, wird von Cephalus umworben, nimmt seine erneute Werbung an und kehrt zurück. Nun verläßt er um der Jagd willen wieder das Haus und scheint eine Aura zu umwerben. Procris verläßt, darüber informiert, das Haus, um Cephalus zu stellen, und wird dabei von diesem mit dem magischen Speer getötet, da er sie für ein im Gebüsch verstecktes Tier hält. Gehen, wiederkommen, jagen, wer­ ben, die Werbung annehmen oder ablehnen, aus Eifersucht einen angeblich Treubrüchigen stellen wollen sind die Bausteine, die in kunstvoller Variation das tragische Ende herbeiführen. Es lohnt, sie sich im Detail anzusehen. Daß Cephalus nur einen Monat nach seiner Heirat mit Procris auf der Jagd bei Anbruch der Morgenröte von der sie symbolisierenden Aurora, die sich in ihn verliebt hat, geraubt wird, mag vielleicht dahingehend interpretiert wer­ den, daß er die Jagd mehr geliebt hat, als seiner jungen Ehe angemessen ge­ wesen wäre. Aber der Text der Metamorphosen bietet keinen Anhaltspunkt, um die These zu stützen, der Raub durch Aurora sei ihm willkommen gewe­ sen. Sicher ist es Cephalus selbst, der uns erzählt, er habe auch in dieser Zeit nur Procris geliebt: „Procrin amabam:/ pectore Procris erat, Procris mihi semper in ore./ sacra tori coitusque novos thalamosque recentes/ primaque deserti referebam foedera lecti“ („ich liebte nur Procris;/ Procris trug ich im

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Sinn und Procris beständig im Munde./ Auf den geweihten Bund, das Liebes­ umfangen, das Brautbett/ Wies ich hin und den ersten Verein im verlassenen Lager“, 707 ff.). Bemerkenswert ist, daß Procris dreimal genannt wird, und zwar ohne qualifizierende Prädikate, während Aurora unmittelbar vorher als mit drei Eigenschaften versehen gepriesen wird. Liebe, scheint Ovid zu unter­ stellen, geht auf eine Person, nicht auf eine Kollektion von Eigenschaften. Es gibt keinen Grund, an Cephalus’ Aufrichtigkeit zu zweifeln. Zwar läßt Ovid seine Phaedra schreiben, Cephalus habe sich selbst Aurora nicht übel als Ge­ liebten dargeboten („nec tamen Aurorae male se praebebat amandum“, EH. 4. 95); aber es gibt erstens keinen Grund dafür, das, was Ovid in einem anderen Werk sagt, in den Metamorphosen als wahr vorauszusetzen (in mehreren Fäl­ len käme es zu logischen Widersprüchen), und selbst wenn das in diesem Fall angebracht wäre, gälte doch zweitens der Vorbehalt gegenüber dem Erzähler in noch viel höherem Maße Phaedra als Cephalus gegenüber. Denn dieser spricht ja nicht zu seiner Frau, die schon tot ist; Phaedra dagegen will Hippo­ lytus verführen und muß daher auch den ihm verwandten Jäger Cephalus als verführbar präsentieren. Der Cephalus des Hauptwerks ist es jedoch nicht; er hat nur der Gewalt nachgegeben, und wenn er auch vermutlich mit der Göttin sexuell hat verkehren müssen, hat er seine Eigenständigkeit besser bewahrt als Hermaphroditus die seinige Salmacis gegenüber. Zwar bekennt Cephalus selber, daß es seine Erfahrungen mit Aurora wa­ ren, die ihn mißtrauisch werden ließen hinsichtlich der Treue seiner Frau während seiner Abwesenheit, doch denkt er dabei nicht an das eigene Verhal­ ten, sondern an die angebliche Lüsternheit von Frauen im allgemeinen (718 f.). Er wirft sich zwar selber nachträglich seine Zweifel vor; aber er betont zwei­ mal, sowohl hier als auch später, da er von der Eifersucht Procris’ redet (719, 826), daß Furcht und Leichtgläubigkeit zur Liebe dazugehören,317 obgleich deutlich wird, daß diese Reaktionen nicht vernünftig sind. Er beschließt da­ her Procris zu versuchen, und Aurora, die ihn wütend ziehen läßt, hilft ihm gerne dabei, eine andere Gestalt anzunehmen, in der er Procris umwirbt.318 Zwar weist sie ihn aus Liebe (735 f.) zu dem abwesenden Gemahl, von dem sie nichts mehr gehört hat, lange zurück, aber Cephalus gibt sich unsinnigerweise damit nicht zufrieden: „Non sum contentus et in mea pugno/ vulnera“ („Es genügt mir nicht, und schmerzliche Wunde/ Schlag’ ich mit selbst“, 738 f.). Als sie schließlich aufgrund kostbarer Geschenke zum Ehebruch, wenn man So auch EH. 6.21. Cephalus bedarf für seinen Test also keines Freundes. Dank der Zauberei ist die Situation somit weniger kompliziert als in der großartigen Dreiecksgeschichte, die in der Novelle „El curioso impertinente“ innerhalb von Cervantes’ Don Quixote (Kap. 33–35 des ersten Teils) entfaltet wird.

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denn davon reden kann, bereit zu sein scheint (wie bei Antoninus 41.3 und anders als bei Hyginus 189.3 kommt es nicht zu dessen Vollzug), gibt sich Cephalus zu erkennen und beschimpft sie als treulos (742). Beschämt und zugleich von der Hinterhältigkeit des Gatten verletzt, die sie als typisch männ­ lich empfindet, flieht Procris und widmet sich an der Seite Dianas der Jagd. Die Nennung Dianas erinnert natürlich an die Callistogeschichte, die in ge­ nialer Weise variiert wird. In beiden Fällen nähert sich ein Mann in falscher Gestalt einer Frau, die entweder schon zu diesem Zeitpunkt oder aber nach­ her Diana verbunden ist. Jupiter hat sich dabei selbst in Diana verwandelt, so daß die Küsse, die er gleich zu Beginn mit Callisto austauscht, von dieser mißverstanden werden, bis sie recht schnell vergewaltigt wird. Er freut sich, daß sie ihn anfangs, da er noch Diana zu sein scheint, Jupiter vorzieht (2.429 f.). Dagegen ist die erotische Absicht des in fremder Gestalt auftretenden Cepha­ lus von Anfang an klar, und er braucht lange, bis er zu seinem selbstzerstöre­ rischen Ziel gelangt. Aber er freut sich nicht, daß er selber als falscher Ehe­ brecher sich selbst als wahrem Ehemann (741 f.) vorgezogen wird. Man muß darin durchaus einen Fortschritt sehen, denn der Mensch will anders als der Gott nicht einfach Sex, sondern Liebe und Treue zu dem Wesen, das er wirk­ lich ist. Die Retourkutsche Procris’ spart Cephalus in seinem Bericht als für ihn beschämend aus und macht nur vage Andeutungen – das war schon in der Rahmenerzählung gesagt worden (688). Ovid kann als bekannt voraussetzen, daß sich Procris ihrem Mann in Jünglingsgestalt mit den magischen Geschen­ ken Dianas (753 ff.), dem Hund und dem Speer,319 genähert habe, die dieser so sehr begehrt habe, daß er dafür bereit gewesen sei, mit dem Jüngling sexuell zu verkehren. (Vermutlich spiegelt dieser geplante Akt männlicher gleich­ geschlechtlicher Liebe die die Männer ablehnende Gemeinschaft des weib­ lichen Gefolges Dianas.) Cephalus’ eigene Beschämung, als sich Procris zu erkennen gibt, das Eingeständnis seiner Schuld und die Bitte um Vergebung (748 ff.) stellen die Symmetrie wieder her und ermöglichen die Weiterfüh­ rung der Ehe. Doch die Symmetrie der Geschichte verlangt, daß auch Cepha­ lus’ Eifersucht von Procris gespiegelt wird. Daß die Geschichte dieses Mal nicht glimpflich endet, hat damit zu tun, daß Procris ihrem Mann Hund und Speer geschenkt hat. Da letzterer die Katastrophe herbeiführt und schon vor­ her die Geschenke des verwandelten Cephalus Procris’ Bereitschaft zum Ehebruch ausgelöst hatten, liegt kein Segen auf dieser Transaktion. Daß Procris wieder zu Cephalus zurückgekehrt war, war das eigentliche Geschenk Zwar wird der Speer nicht ausdrücklich als Gabe der Diana bezeichnet; aber der Kontext legt es nahe. Bei Antoninus (41.5) sind Speer und Hund Geschenke des Minos.

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4.  Ordo amorum: Die Reihenfolge der Liebesgeschichten

(753 f.), bei dem es hätte bleiben sollen. Nach der Verwandlung von Laelaps und des gefährlichen Fuchses in Steine geht Cephalus wieder regelmäßig auf die Jagd, und in poetischer Vergegenständlichtung redet er die ihn erfrischen­ de Brise, „aura“, oft liebevoll an. Ein ungenannt bleibender Zuträger infor­ miert Procris, ihr Mann habe offenbar eine Nymphe zur Geliebten. Vermut­ lich ist Procris auch durch die Nähe des Namens zu Aurora verunsichert, mit deren Gewalttat die erste Entfremdung eingesetzt hatte. Sie zweifelt zwar an der Wahrheit des Hinterbrachten (832 ff.), doch beschließt sie, ihrem Manne heimlich zu folgen, der sie mit einem Tier verwechselt und tötet. Immerhin kann er ihr noch ihren Irrtum erklären, da Procris bei der Liebe, die sie im­ mer noch für ihn empfinde, auch wenn diese die Ursache ihres Todes sei (854 f.), ihn beschwört, Aura nicht zu heiraten. Über die Wahrheit aufgeklärt, stirbt sie gelassen (862). Ovids zentrale Botschaft in dieser Geschichte, sicher einer seiner poetisch­ sten, ist, daß wahre Liebe selten, aber möglich ist, daß Eifersucht zur Liebe dazugehört, aber kontrolliert werden muß und daß die Anerkennung eigener Schuld und wechselseitiges Verzeihen anstatt Selbstgerechtigkeit eine Ehe zu retten vermögen. Große Geschenke, und zumal magische Geschenke, die auf die Götter zurückgehen, sind dagegen kein Segen für wahre Liebe.

4.9  Metamorphosen, Buch 8

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Metamorphosen, Buch 8. Verrat am Vater aufgrund asymmetrischer weiblicher Begierde: Scylla, Nisus und Minos. Sodomie: Pasiphae. Die metapoetische Bedeutung des Labyrinths und des Ariadnefadens. Künstlerneid: Daedalus und Perdix. Die den Männern überlegene Jägerin und der mütterliche Sohnesmord: Atalanta, Meleagros und Althaea. Ein zweites greises Ehepaar: Philemon und Baucis als moralisches Ideal. Baumfrevel und Zuhälterei der eigenen Tochter: Erysichthon

Während Cephalus mit den neu gewonnenen Verbündeten nach Athen zu­ rückkehrt, belagert Minos das nahe Megara. König der Stadt ist Nisus, dessen Herrschaft von einem goldenen Haar abhängt, das er auf seinem Haupte trägt. Nisus’ Tochter Scylla beobachtet von einem Turm aus das Kampfgeschehen und verliebt sich in Minos.320 Vermutlich erklärt die von Ovid schon in den Amores (3.8.9 ff.) gerügte Faszination durch soldatische Männer Scyllas Selbstverlust: „Vix sua, vix sanae virgo Niseia compos/ mentis erat“ („War kaum ihr eigen, kaum mächtig gesunden Geistes des Nisus/ Tochter“, 35 f.). Sie beneidet die von Minos berührten Gegenstände wie Speer und Zügel und gibt sich Phantasien hin, die entweder ihren eigenen Tod oder den Untergang ihrer Stadt zum Thema haben, die sie den Feinden übergebe. Ihr langer Mo­ nolog ist, wie schon derjenige Medeas, ein weiteres herausragendes Beispiel der vollständigen Abhängigkeit der Gedanken von der erotischen Leiden­ schaft, selbst wo sie ihren eigenen Gang zu gehen scheinen, also ein Exempel von Sekundärrationalisierungen. Scylla bekennt ihre Unschlüssigkeit, ob sie den Krieg beklagen solle oder nicht – denn nun sei Minos einerseits ihr Feind, doch wäre sie ihm andererseits ohne den Krieg nie begegnet. Sei seine Mutter so schön gewesen wie er selbst, verstehe sie, warum Jupiter für sie entbrannt sei. Könnte sie nur zu ihm fliegen, um ihre Liebe zu bekennen und zu erfah­ ren, welche Mitgift er fordere, um gekauft zu werden („qua dote …/vellet emi“, 53 f.)! Doch er dürfe nicht die Übergabe der Stadt fordern. Darauf folgt jedoch ein Satz, den Anderson in seiner Ausgabe durch ein Ausrufezeichen unterbricht, schwerlich zu Recht, denn das, was darauf folgt, ist kein vollstän­ Daß diese Scylla von derjenigen des dreizehnten und vierzehnten Buches verschie­ den ist, versteht sich. Die Identifizierung beider Am. 3.12.21 f. und AA. 1.331 f. ist schwerlich eine Verwechslung, sondern eine Wiederaufnahme von Vergil, B. 6.74 ff., der selbst teils alexandrinischen Vorbildern folgt, teils in diesem Falle ebenso wie in demjenigen der Ersetzung Procnes durch Philomela durch die Ver­ wandlung des Mythos das Verwandlungsmotiv der Ekloge weiterführt und meta­ poetisch Licht auf das Wesen von Dichtung wirft. Siehe dazu den vorzüglichen Aufsatz von Irene Peirano (2009).

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diger Satz, sondern ein abhängiger Nebensatz. „Nam pereant potius sperata cubilia, quam sim/ proditione potens! quamvis saepe utile vinci/ victoris placidi fecit clementia multis.“ („Eher entsag‘ ich dem Glück des erwarteten Lagers, als daß mir/ Dazu hülfe Verrat, obwohl schon oft die Besiegung/ Vie­ len zum Heil gewandt die großmütige Milde des Siegers“, 55 ff.) Es ist ent­ scheidend, daß der Vorsatz, auf Landesverrat zu verzichten, sofort untermi­ niert wird durch Scheinargumente, die mit der Niederlage einige Vorteile verbinden. Neben der Milde nach dem Siege werden Minos’ gerechte Kriegs­ gründe genannt sowie die große Wahrscheinlichkeit seines Sieges, der bei Übergabe der Stadt weniger blutig ausfallen werde. Insbesondere fürchtet freilich Scylla, Minos möge selbst bei weiteren Kämpfen verwundet werden – unabsichtlich, weil bei seiner Schönheit niemand vorsätzlich derartiges an­ strebe (64 ff.). Scylla überträgt damit ihre eigene Verliebtheit auf die Soldaten ihrer Stadt. Doch wie kann sie die Stadt Minos gegen den Willen ihres Vaters überge­ ben? Zunächst wünscht sie, die Götter möchten sie ihres Vaters berauben. Aber die zusätzliche Reflexion, jeder sei sich selber ein Gott und das Glück verachte feige Bitten (72 f.), bewegt sie, dem schlafenden Vater das goldene Haar abzunehmen und es Minos zu übergeben. Man erkennt leicht, daß Scyl­ la Medea gegenüber den Verrat vertieft (ich vergleiche hier nur den Umgang mit dem eigenen Vater und ignoriere Medeas spätere Verbrechen). Denn Me­ dea verläßt nur Vater und Heimat, um dem in Lebensgefahr schwebenden Iason beizustehen – Scylla dagegen liefert Vater und Heimat (109, 114 f., 130) einem Feinde aus, der mit der Absicht gekommen ist, sie zu zerstören. Wäh­ rend Medea bzw. Ariadne mit Iason bzw. Theseus persönliche Interaktionen haben, die ihre Liebe eher plausibel machen, stützt sich Scylla nur auf Blicke aus der Ferne sowie ihre Phantasie.321 Doch diese trügt. Denn anders als Ia­ son Medea, hat Minos Scylla keineswegs zu ihrer Tat angestiftet, sondern ist von ihr angewidert (97 ff.) – denn auch der Nutznießer von Verrat mag diesen in der Regel nicht. Nach Einnahme der Stadt weigert er sich, Scylla mit sich nach Kreta mitzunehmen, die er als „monstrum“ („Ungeheuer“, 100) bezeich­ net hatte.322 Die haßerfüllte Reaktion Scyllas gründet sich auf die falsche Annahme, wer ungefragt einem einseitig Geliebten einen Vorteil verschafft habe, habe diesen zur Dankbarkeit verpflichtet. Sicher hat sie recht, daß ihr nun der Zugang zum Vater und zur Heimat, ja, selbst den Nachbarstädten Diesen Unterschied hebt Elena Gallego Moya (2000; 235 f.) zu Recht hervor. „Mi­ nos es simplemente el objeto de deseo de Escila; tiene una función pasiva en esta historia…“ 322 Kallimachos hatte sie in seinem Epyllion  Ἑκάλη (Hekale) als „Hure“ bezeichnet (Frg. 288). 321

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versperrt ist, die das Beispiel fürchten, das sie gegeben hat – doch sie vergißt, daß dafür allein sie, und nicht Minos, verantwortlich ist. Da er Medeas Rache an Iason nur kurz gestreift hatte (7.394 ff.), erhält Ovid hier erstmals Gelegen­ heit, das Umschlagen nicht-erwiderter Liebe in abgrundtiefen Haß in Scyllas letzter Rede darzustellen, bevor sie, wie ihr Vater, in einen Seevogel verwan­ delt wird. Hatte Scylla kurz vorher die Schönheit der Mutter des Minos gepriesen, bestreitet sie nun die Mutterschaft Europas und die Vaterschaft Jupiters; Mi­ nos’ Vater sei nicht der in einen Stier verwandelte Gott, sondern ein wirkli­ cher Stier gewesen (119 ff.). Ja, Scylla leitet dank dieses Gedankens ganz na­ türlich von Minos’ Mutter zu dessen Frau Pasiphae über, deren Liebesaffaire mit einem Stiere nur zu verständlich sei, da Minos wilder sei als dieses Tier (131 ff.). Die sodomitische Liebe eines Menschen zu einem Tiere erscheint hier erstmals, allerdings ohne im Detail ausgemalt zu werden, da Ovid diese Art der Beziehung, wie wir oben (S. 8) gesehen haben, ablehnt und er den Mythos zudem schon AA. 1.289 ff. in Anlehnung an Vergil, B. 6.45 ff. aus­ führlich geschildert hatte. Die Frucht dieser Liebe, der Minotaurus, wird un­ mittelbar anschließend an die Rückkehr des Minos nach Kreta beschrieben, bezeichnenderweise ebenfalls mithilfe des Wortes „monstrum“, das 9.735 f. mit Bezug auf den Minotaurus wiederholt wird: „Creverat opprobrium gene­ ris, foedumque patebat/ matris adulterium monstri novitate biformis“ („Groß war geworden indes die Schmach des Geschlechts, und der Mutter/ Schändli­ che Lust ward kund in dem doppelgestaltigen Untier“, 7.155 f.). Damit weist Ovid darauf hin, daß Monstrosität nicht nur eine Folge der physischen Vermi­ schung der Arten ist, sondern auch moralischem Fehlverhalten eignet, und zwar der Bestialität ebenso wie dem Verrat, den Scylla geübt hat. Minos’ Wunsch, den Minotaurus zu verbergen, führt zur Errichtung des Labyrinths durch Daedalus. Es liegt nahe, die Schilderung auch dieses Kunst­ werkes – das diesmal kein Gewebe und kein Gesang, sondern ein Gebäude ist – metapoetisch zu deuten.323 Schon Pindar gebraucht in der sechsten Olympischen Ode (1 ff.) architektonische Metaphern, um seine Dichtung zu Ich folge in diesem Absatz zum Teil den ausgezeichneten Ausführungen von Chrysanthe Tsitsiou-Chelidoni (2003), 142 ff. Die Überlegungen des nächsten Ab­ satzes gehen freilich über sie hinaus. Zu einer metapoetischen Deutung der ek­ phrastischen Beschreibung der von Daedalus in Cuma erstellten Kunstwerke Aen. 6.14 ff. siehe Michael C. J. Putnam (1987). Die Tatsache, daß der Schmerz Daeda­ lus daran hinderte, den Fall des Icarus darzustellen (6.30 ff.), kontrastiert mit Aeneas’ Fähigkeit, Dido die den eigenen Schmerz verursachenden Ereignisse zu berichten (2.3). – 5.588 ff. wird das Labyrinth von Vergil nicht mit dem eigenen Werk, sondern mit den Reiterspielen der Knaben verglichen

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erklären; Vergil (G. 3.12 ff.) und Horaz (Carmina 3.30.1 ff.) sind ihm gefolgt. Der ausführliche Vergleich mit einem natürlichen Gebilde, dem Flusse Mae­ ander (162 ff.), suggeriert, wenn das Bauwerk mit einem schönen Gebilde der Natur verglichen werden könne, dann erst recht mit einem anderen Kunst­ werk – der Dichtung, die selbst schon, ebenfalls spätestens seit Pindar (Ol. 10.9 ff.), direkt mit einem Fluß verglichen worden ist (so Pindars eigene Dich­ tung etwa von Horaz, Carmina 4.2.5 ff.). Aber die Parallelen gehen viel wei­ ter; denn es handelt sich um einen ganz besonderen Fluß. Der Text „… tur­ batque notas et lumina flexu/ ducit in errorem variarum ambage viarum“ („Merkmale verwirrt er und führt in die Irre/ Täuschend den Blick durch die Ambivalenz vielfältiger Wege“, 160 f.) macht einerseits sprachmalerisch das vor, von dem es redet, da „variarum“ und „viarum“, nur durch „ambage“ ge­ trennt, leicht verwechselt werden können. Andererseits weisen die Metamorphosen als ganze, u. a. dank der Schachtelungen der Erzählungen, einige laby­ rinthisch-mäandrierende Züge auf (ein totales Labyrinth ist das Werk allerdings nicht). „Tanta est fallacia tecti“ („So ist das Gebäude verfänglich“, 168) – auch in Ovids Kunstwerk ist es, anders als in der Aeneis, nicht ganz einfach zu bestimmen, wo man sich gerade befindet. Die an Icarus’ Fall angehängte Perdix-Episode z. B. stellt eine Analepse dar, also eine Rück­ wendung, die glänzend durch den Verlauf des Maeanders beschrieben wird: „ambiguo lapsu refluitque fluitque“ („im zweifenden Lauf hinfließt und zu­ rückfließt“, 163). „Like the Maeander as labyrinth, Ovid’s poem is ever-­ changing, shifting in direction.“324 Immerhin wird im dritten Jahr der Gesandtschaften aus Attika nach Kreta, die dem Minotaurus Menschenopfer bringen, das Untier von Theseus erschla­ gen; und dieser findet seinen Weg aus dem Labyrinth dank des ihm von Ari­ adne gegebenen Fadens (172 f.). Will man die metapoetische Lesart weiter­ führen, so könnte man diesen Faden auf den interpretatorischen Leit­faden beziehen, der es dem Leser erlaubt, sich im Labyrinth von Ovids Hauptwerk zurechtzufinden; und eine Stütze dieser Deutung mag sehr wohl Vers 173 sein: „Ianua difficilis filo est inventa relecto.“325 Die naheliegende, sicher mit­ Pavlock (1998), 145 f. Zwar haben alle Handschriften außer Codex Vaticanus Palatinus lat. 1664 aus dem 13. Jahrhundert „relicto“, aber Anderson ist in seiner Ausgabe zu Recht dieser ei­ nen Handschrift gefolgt; denn „relicto“ gibt keinen Sinn (höchstens könnte man sagen „Ianua difficili filum est inventa relictum“, „Nach dem Finden der schwie­ rigen Türe wurde der Faden aufgegeben“; aber das wäre kein Hexameter). Man kann zudem leicht erklären, warum das in der Bedeutung „zurückgewickelt“ sel­ tene Wort durch das geläufigere ersetzt wurde, zumal der Doppelsinn nicht leicht zu entdecken ist. Ehre dem einsamen treuen Schreiber, der an Ovids Text festhielt!

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intendierte Interpretation ist: „Die schwer zu findende Türe ist mit aufgeroll­ tem Faden gefunden worden.“ Aber „relegere“ bedeutet natürlich auch „wie­ derlesen“, so etwa bei Horaz (Epistulae (Briefe), 1.2.2), aber auch bei Ovid selber (RA.  717 f., EP. 1.5.15), der demjenigen, der sich von der Geliebten be­ freien will, von erneuter Lektüre ihrer Liebesbriefe abrät, weil sie die Liebe wieder erregen kann, bzw. umgekehrt sich selber sagt, er schäme sich beim Wiederlesen seiner Texte, wenn er erkenne, er habe sie nicht gründlich über­ arbeitet. Ja, EP. 3.5.11 f. preist er Maximus Cotta, dessen Reden beim häufi­ gen Wiederlesen („relegendo saepe“) immer mehr gefallen. „Cumque nihil totiens lecta e dulcedine perdant,/ viribus illa suis, non novitate, placent.“ („Und da sie, so oft gelesen, nichts von ihrer Anmut verlieren, gefallen sie durch ihre eigene Kraft, nicht aufgrund der Neuheit“, 13 f.) Daß „filum“ auch „Gepräge“ bedeutet und Cicero etwa vom „filum orationis tuae“ („Art Deiner Rede) sprechen kann (Laelius 7.25),326 ist dem Kenner der lateinischen Spra­ che geläufig. Auch das Deutsche kennt ja den Ausdruck „Gedankenfaden“. Und das heißt, daß jener Vers eine doppelte Bedeutung hat, weil er auch so gedeutet werden kann: „Der schwer zu erringende Zugang ist gefunden wor­ den, indem man den Faden der Erzählung wiedergelesen hat.“ Meine Inter­ pretation der Stelle ist dabei eine Instantiierung ihrer Aussage; denn den dop­ pelten Sinn dieses Verses erkennt man nur, wenn man ihn mehrfach liest. Das mehrfache Lesen des gründlichen Interpreten ist der Ariadnefaden, der aus dem Labyrinth des angeblichen Erzählchaos herausführt. Viel gewagter ist folgende Assoziation, doch ich mag sie nicht unterdrücken. Zwar ist die Kro­ ne der Ariadne nicht mit ihrem Faden gleichzusetzen, doch sie ist über die gemeinsame Eigentümerin mit ihm verbunden. Da die Episode mit dem Kat­ asterismos von Ariadnes Krone zur Corona Borealis durch Bacchus endet, der Ariadne von Theseus übernimmt (176 ff.), könnte man daher vielleicht versucht sein, darin eine Anerkennung interpretatorischer Arbeit zu sehen, in Analogie zu meiner früheren Deutung eines anderen Katasterismos (siehe S. 23 f.). Doch will und kann ich nicht ausschließen, daß hier der Wunsch ei­ nes Ovid-Interpreten, die eigene Arbeit von dem geliebten Dichter ernst ge­ nommen zu sehen, zu einer Überinterpretation geführt hat, die ich selber in der Tat nur für eine vage Möglichkeit halte. Der Fluchtversuch von Daedalus und Icarus aus Kreta durch die Luft en­ det mit dem Absturz von Daedalus’ Sohn, der Phaethons Schicksal wieder­ holt, allerdings ohne andere in Mitleidenschaft zu ziehen. Daedalus’ Vaterlie­ be wird auf zarte Weise gezeichnet, etwa im Vergleich mit dem Vogel, der die Brut das Fliegen lehrt (212 ff.). Der Vergleich der Herstellung der Flügel mit Siehe auch De oratore (Vom Redner) 2.22.93 und 3.26.103 sowie Orator (Der Redner) 36.124.

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derjenigen einer Schalmei (191 f.) verstärkt dabei die metapoetische Dimen­ sion. Icarus erweist sich schon beim Bau der Flügel als hinderlich dank seiner Verspieltheit (195 ff.), die seinen Fall antizipiert, der aufgrund seiner Begierde nach dem Himmel (224) erfolgt. Er kommt der Sonne zu nahe, die das Wachs auflöst, das die Federn verbindet – er ist direktes Opfer der Sonne, nicht wie Phaethon der nicht mehr gebändigten Pferde des Sonnenwagens. Keinen Zweifel läßt Ovid daran, daß er diese die Natur innovativ verändernde Tech­ nik327 ablehnt. Auch wenn sie auf Beobachtung der Natur basiert – der Flügel der Vögel (195), so wie diejenige der Fischgräten Perdix‘ Erfindung der Säge zugrunde liegt (244 ff.) –, ist sie doch nicht menschengemäß. Ovid spricht von „damnosas … artes“ („verderbliche Künste“, 215), und Daedalus selbst ver­ wünscht seine technischen Fertigkeiten am Ende („devovitque“, 234).328 Daß ein Fischer, ein Hirte und ein Bauer, Vertreter der ältesten Berufe der Mensch­ heit, die beiden durch die Luft fliegenden Menschen für Götter gehalten ha­ ben (217 ff.), hebt den Fall des Icarus nur noch schärfer hervor. Aber nicht nur der Tod des Knaben belegt die Grenzen, die dem Menschen gesetzt sind, und zwar nicht etwa weil eine Erfindung wie das Fliegen ihm grundsätzlich verschlossen ist, sondern weil der Geist zumal des jungen Men­ schen den Versuchungen nicht gewachsen ist, die sich aus den neuen Möglich­ keiten ergeben. Die Schadenfreude eines Rebhuhnes bei der Bestattung des Icarus’ gibt Ovid Gelegenheit zu einer Rückblende, die in der Ars noch fehlte, wo Daedalus allgemein viel positiver gezeichnet ist,329 die aber hier unbe­ dingt dazugehört, wie u. a. die nächste Geschichte deutlich macht. Denn das Rebhuhn ist der verwandelte Neffe des Daedalus, Perdix, der, ihm von der Schwester anvertraut, in diesen Vogel verwandelt wurde, als ihn der Oheim von der Burg der Minerva hinunterstürzte und dabei das Geschehen als einen Unfall ausgab (250 f.) – was ihn nicht vor der Verbannung rettete, auf die schon zu Anfang (184) angespielt wurde. Daedalus’ Motiv ist der Neid, da sein zwölfjähriger Neffe ihm an Begabung nicht nachsteht – er erfindet u. a. den Zirkel. Aglauros’ führte erotischen Neid vor – hier erleben wir den Künst­ lerneid, wie er bei Minerva in ihrem Umgang mit Arachne angedeutet war. Von der Besessenheit und mangelnden Sozialität Arachnes war zwar schon 8.189. In der Parallelversion AA. 2.21–96 wird demselben, von Daedalus selbst ausgesprochenen Gedanken (42) vom Dichter hinzugefügt „ingenium mala saepe mouent“ („Übel regen den Geist oft an“, 43). Alison Sharrock, die (1994), 87–195 die Daedalus-Episode der Ars ausführlich behandelt, vergleicht 176 f. erhellend AA. 2.45–48 und M. 8.189–195 und führt die Unterschiede u. a. auf das abwei­ chende Metrum zurück. 328 Ähnlich kritisch Horaz, Carmina 1.3.34 ff. 329 Vgl. Riemer Faber (1998). 327

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die Rede, aber eine Mörderin war sie nicht. Daedalus dagegen ist nicht ein­ fach ein Mörder – er hat sich an einem Kinde vergangen, und zudem einem, das seinem Schutze von einem ihm besonders nahestehenden Menschen per­ sönlich anvertraut worden war; ja, der Mordversuch geschieht an einem ge­ heiligten Orte. Die Abscheulichkeit des Verbrechens soll deutlich machen, daß keineswegs nur die Liebe, sondern auch die Kunst von höchster morali­ scher Gefahr bedroht ist – Scyllas Verrat am Vater entspricht Daedalus’ Ver­ rat an Schwester und Neffe.330 Der Fall Icarus’ erscheint damit nachträglich als Strafe für den Sturz des Perdix. Hatte Scylla ihren Vater dem Minos geopfert, in den sie sich verliebt hatte, ist die nächste Geschichte insofern analog, als auch hier jemand – allerdings ein Mann, keine Frau – der geliebten Person Blutsverwandte zum Opfer bringt. Doch löst dieses Verhalten eine Reaktion aus, in der um einer als nä­ her empfundenen Verwandtschaft willen ebenfalls ein enger Verwandter ge­ opfert wird – allerdings bei Umkehrung der Generationen- und bei Beibehal­ tung der Geschlechtsachse nicht der Vater von der Tochter, sondern der Sohn von der Mutter. Das Erschlagen von deren Brüdern durch den Sohn ist dabei selber eine Inversion des Mordversuches an Perdix durch dessen Oheim – die neue Geschichte ergibt sich gut strukturalistisch durch Inversionen der Hand­ lungsstränge der zwei früheren, ist also keineswegs nur aus oberflächlichen chronologischen, sondern aus tieferen sachlichen Gründen hier an ihrem Platz. Die Verwüstungen, die der von Diana aus verletzter Götterehre gesand­ te Calydonische Eber im Lande des Königs Oeneus anrichtet, führen zu ei­ nem Aufgebot zahlreicher tapferer Männer, denen sich jedoch, neben dem inzwischen zu einem Mann gewordenen, aber ursprünglich eine Frau gewese­ nen Caeneus (305), auf den noch zurückzukommen sein wird, auch eine Frau beigesellt, die arkadische Jägerin Atalanta (deren Name nicht fällt). Sie hat Züge Dianas, aber anders als diese jagt sie mit Männern zusammen und ist offenbar der Liebe nicht abhold. Sie ist eine der wenigen liebesbereiten Frau­ en des Werkes, die einer eigenen Tätigkeit nachgehen. Aber sie ist eine Aus­ nahme, die den Rollenerwartungen der Zeit nicht entspricht; und daher wird Zu Recht hebt Spahlinger das Abgründige an Daedalus hervor (1996; 153 ff.). Doch bedeutet das nicht, daß Ovid das Labyrinth nur negativ gesehen haben kön­ ne – denn bedeutende Kunst kann sich auch moralisch verdorbenen Individuen verdanken. (Man denke an René Cardillac in E. T. A. Hoffmanns „Das Fräulein von Scuderi“.) Spahlinger schreibt Ovid eine zu positive Einstellung gegenüber der tradierten Religion und eine zu schlichte Moral zu. Auch wenn Ovid sich si­ cher nicht mit der mörderischen Tendenz des Daedalus identifiziert hat, hat auch er die eigene Kunst verwünscht, die ihn ins Unglück gestoßen hat (Tr. 5.7.32f.: „devoveo … devovi“ wohl mit Bezugnahme auf M. 8.234).

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es nicht zum Vollzug ihrer Liebe kommen, obgleich sich Oeneus’ Sohn Me­ leagros auf den ersten Blick in sie verliebt, die in ihrem Aussehen gleichsam zwischen den Geschlechtern schwebt: „facies, quam dicere vere/ virgineam in puero, puerilem in virgine possis.“ („Das Gesicht, man hätte‘ es am Manne/ Wohl jungfräulich mit Fug, doch männlich genannt an der Jungfrau“, 322 f.) Mit epischer Ausführlichkeit werden die Opfer des furchtbaren Ebers geschil­ dert, den als erste Atalanta zu verwunden vermag – oder, um genauer zu sein, dessen Haut sie mit einem Pfeile ritzt (380 ff.). Nicht weniger glücklich als sie ist über ihren Erfolg Meleagros, der ihn als erster bemerkt, den anderen das Blut am Eber zeigt und Atalanta Ehre erweist. Dies ist für die Männer beschä­ mend, die ihre Anstrengungen vermehren (388 f.), so insbesondere Ancaeus, der sein männliches Überlegenheitsgefühl nicht nur Atalanta, sondern auch Diana gegenüber großsprecherisch äußert und gleich darauf vom Keiler ge­ tötet wird (391 ff.). Auch das mythische Freundespaar Theseus und Pirithous hat kein Jagdglück – 303 war es vom Dichter als „felix concordia“ („glückli­ che Eintracht“) bezeichnet worden, 405 f. nennt Theseus Pirithous, den er vor der Gefahr warnt, „o me mihi carior…/pars animae“ („Teil meiner Seele,/ Teurer mir als ich“).331 Ob der Platonkritiker den Widerspruch in der Anrede gesehen hat, der darin besteht, daß der Freund Teil des eigenen Selbsts ist und doch zugleich von ihm verschieden sein muß, um ihm vorgezogen zu werden? Von einer homoerotischen Beziehung der beiden ist im Werk nicht ausdrück­ lich die Rede, doch EH. 4.110 ff. ist Phaedra auf den Freund ihres Mannes offenkundig eifersüchtig (es sei denn, sie spielt das geschickt vor, um Hippo­ lytus auf ihre Seite zu ziehen). Meleagros schafft es schließlich, den Eber zu erlegen, und er will seinen Ruhm und die Beute mit der Geliebten teilen (die sich über den Geber nicht weniger freut als über die Gabe: 425 ff.),332 wie es analog sicher auch Theseus Ähnlich spricht Ovid von seiner Frau (Tr. 1.2.43 f.), seinem Bruder Lucius (4.10.32) und seinem Freunde Severus (EP. 1.8.2) als Teilen seiner selbst; vgl. auch Tr. 4.4.72 zu Orestes und Pylades. Die zwei einzigen Freunde, die bei seinem Abschied aus Rom zugegen waren, um sich von ihm zu verabschieden, seien ihm „mit Theseischer Treue“ verbunden gewesen (1.3.66). 1.5.19 ff. sind Theseus und Pirithous, Orestes und Pylades sowie Nisus und Euryalus die klassischen Freun­ despaare, 1.9.27 ff. und 5.3.25 f. treten auch Achilles und Patroclus hinzu. Die drei griechischen Freundespaare werden EP. 2.3.41 ff. genannt, die zwei ersten 2.6.15 f. und 3.2.33 f. 3.2.85 ff. schildert Ovid ausführlich Orestes’ und Pylades’ Streit, wer für den anderen sterben dürfe. Bei Horaz, der Maecenas „meae … partem animae“ („Teil meiner Seele“, Carmina 2.17.5) nennt, wird ein anderer Freund zur eigenen Hälfte (1.3.8) – wer auch immer dieser „Vergil“ genannte Gefährte ist, um dessen Seereise nach Griehenland es in der Ode geht. 332 Vgl. schon EH. 17.73 f.: „sic acceptissima semper/ munera sunt, auctor quae pre­ 331

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und Pirithous bzw. die beiden Dioskuren getan hätten, die ebenfalls an der Jagd teilnahmen (301 f.). Ovid hebt damit hervor, daß eine gemeinsame Tätig­ keit, wie etwa die Jagd, eine glückende Beziehung ausfüllen muß. Allerdings ist diese, wie wir bei einem anderen Liebespaar sehen werden, an sich gefähr­ lich und birgt das Risiko des Todes. Doch eben dieses Risiko um der Gelieb­ ten willen ist Zeichen der Liebe, die daher ein solches Risiko fordern mag.333 Der Untergang entspringt aber in dieser Geschichte nicht dem gefährlichen Tier, das zwar andere Teilnehmer an der Expedition getötet, aber das Liebes­ paar nicht einmal verletzt hat. Die Gefahr entstammt vielmehr der Ursprungs­ familie. Anders als bei Pyramus und Thisbe ist es nicht die Liebesbeziehung an sich, der sich diese widersetzt, sondern die Ehrung Atalantas auf Kosten der männlichen Teilnehmer. Meleagros’ Oheime Plexippus und Toxeus sind empört, daß eine Frau ihnen die Beute wegschnappen solle – sowohl der per­ sönliche Stolz als auch die Geschlechtsehre sind dadurch verletzt.“‘Pone age nec titulos intercipe, femina, nostros’/ Thestiadae clamant ‚nec te fiducia for­ mae/ decipiat, ne sit longe tibi captus amore/ auctor‘, et huic adimunt munus, ius muneris illi.“ („Thestius’ Söhne rufen: ‚Leg nieder und unseren Anspruch/ Maße dir, Weib, nicht an, und das eitle Vertrauen auf Schönheit/ Täusche dich nicht; Schutz fändest du nicht bei dem liebenden Geber.‘/ Damit nehmen sie ihr das Geschenk, ihm das Recht zu verschenken“, 433 ff.) Auch wenn Atalan­ ta den Eber nur oberflächlich verwundet hat, haben die beiden zu dessen Tötung gar nichts beigetragen; und wenn Atalantas Beitrag unbedeutend war, dann fällt das alleinige Verfügungsrecht über den Eber ganz auf Meleagros, der ihn erlegt hat. Das beinhaltet aber auch sein Recht, die Beute mit Atalan­ ta zu teilen, auch wenn er damit die Jagdgesellschaft verletzt. Die Anrede Atalantas als „femina“, die Unterstellung, sie besitze nur Schönheit, obwohl sie bei der Jagd mehr geleistet hat als die Oheime, schließlich die doppelte Beleidigung Meleagros’, er handle nur aus Liebe und er werde nicht mehr lan­ ge „auctor“, also Garant des Eigentumsanspruchs Atalantas sein, sei also nicht objektiv und zudem feige, sind ein dreistes, nicht rechtfertigbares Verhalten. Aber ebenso unmißverständlich stellt Ovid klar, daß Meleagros’ wütende Re­ aktion, die Tötung seiner Oheime, ein Verbrechen darstellt. Plexippus hatte damit nicht im mindesten gerechnet, und auch den Toxeus, der aus Angst zögert, den Bruder zu rächen, erschlägt Meleagros, bevor er eine Entschei­ dung trifft. In keinem der beiden Fälle lag eine Notwehrsituation vor, und keiner der Oheime erhält eine Chance, sich gegen den Angriff zu verteidigen. tiosa facit“ („so sind immer hochwillkommen die Geschenke, die der Geber wert­ voll macht“). 333 Vgl. AA.  2.243 ff., EH. 18.189 ff., 19.187 ff..

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Die Subtilität von Ovids Bewertung der moralischen Natur der Situation geht noch weiter. Das Recht ist weder auf der Oheime noch auf Meleagros’ Seite; aber es ist auch nicht auf der Seite Althaeas, die aus Solidarität mit ih­ ren Brüdern das Holzscheit verbrennt, an das Meleagros’ Leben geknüpft war.334 Denn nicht nur folgt der Selbstmord der Mutter auf die Tötung des Sohnes; auch der Vater verwünscht sein Leben, und die meisten der den Bru­ der tief betrauernden Schwestern werden in Vögel verwandelt, allerdings nicht Deianira (529 ff.), von der bald die Rede sein wird. Wie bei den Niobi­ den wird also fast die ganze Familie ausgelöscht, und auch in diesem Falle ist Diana befriedigt (542 f.). Der ganze Vorgang läuft weitgehend naturwüchsig ab, da er von Affekten getrieben wird. Nur Althaea trifft ihre Entscheidung in einem langen Monolog, der ihre innere Zerrissenheit artikuliert, die sich auch in Mimik und Gestik manifestiert – viermal ist sie dabei, das Scheit in das Feuer zu werfen, viermal scheut sie davor zurück (462 ff.). Hier am ehesten kann man von einem tragischen Konflikt im Sinne Hegels sprechen – denn in Althaea kämpfen die Mutter und die Schwester miteinander (463, 475, 491, 506 ff.; vgl. auch Tr. 1.7.18).335 Da keine erotische Leidenschaft involviert ist, läßt sich auch nicht sagen, daß der Konflikt von vornherein zugunsten des stärksten Triebes vorentschieden ist. Und doch trennen Welten den Konflikt Althaeas von demjenigen, der etwa die Orestie des Aischylos durchwaltet. Hier wird der Konflikt zwischen der Pflicht, den Vater zu rächen, und der natürlichen Pflicht der Mutter gegenüber vor der rationalen Institution des Areopags schließlich argumentativ ausgetragen, und mit der Einbindung der Eumeniden (die auch Althaea anruft: 482) in das attische Gemeinwesen fin­ det eine ausgewogene Anerkennung beider für einen Staat wesentlicher Prin­ zipien, der Vernunft und der emotionalen Bindung, statt. Bei Ovid steht am Ende dagegen nur die Vernichtung aller, was Althaea wohl weiß (485 ff.); die Möglichkeit einer rationalen Synthese, etwa einer milderen Bestrafung Me­ leagros’ angesichts der Provokation durch die Oheime, steht gar nicht zur Debatte. Statt einer Synthese erleben wir eine Oszillation in Althaeas Ge­ mütszustand, und fromm ist sie nach dem Oxymoron des Dichters nur durch Gottlosigkeit („inpietate pia est“, 477). Ja, wenn Althaea selber die eigene Sippe „inpia“ nennt (485), mag sie vielleicht auch sich selbst einschließen. Denn gegen die Tötung des Sohns sprechen in ihren eigenen Worten „pia iura parentum“, „die frommen Rechte der Eltern“ (499). Und als sie am Ende der Zur Verurteilung Althaeas siehe EH. 20.103 f. Der verwandte Konflikt Alcmaeons, der die Mutter tötet, um den Vater zu rä­ chen  – „facto pius et sceleratus eodem“ („in demselben Tun Pflicht übend und Frevel“, 9.408) –, wird nur kurz erwähnt, ohne den Helden selber zu Worte kom­ men zu lassen.

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Zugkraft der toten Brüder nachgibt, weiß sie, daß deren Sieg ein schlechter ist: „Male vincetis, sed vincite, fratres“ („Unheilvoll ist der Sieg, doch siegt, ihr Brüder“, 509). Da Althaeas Tötungswunsch sich aus dem Talionsprinzip ergibt (483 f.), da aber dieses Prinzip in allgemeinem Desaster endet, darf man davon ausgehen, daß Ovid es hinterfragen möchte. Althaea selber zieht es aber nicht in Zweifel; ihre Qual ist nur, daß es die Mutter ist, durch die der gerechte Tod Me­leagros’ eintreten muß (492 f., 501 f.); allein darauf bezieht sich ihr Schwanken. Während Medea von dem Konflikt zwischen Leiden­ schaft und Einsicht sprach, redet Althaea von ihrer Begierde, das Scheit zu verbrennen, und ihrer zeitweiligen Unfähigkeit, es zu tun: „Et cupio et ne­ queo.“ („Ich will es, aber ich kann es nicht“, 506) Die Rache muß vollzogen werden; ob durch sie selbst, ist ihr teils fraglich, teils kostet es sie Überwin­ dung. Nur in diesem beschränkten Sinne kann man von Pflichtenkollision reden – es sind nicht zwei auf den ersten Blick gleichrangige moralische Prin­ zipien, die miteinander ringen. Von dem Vollbegriff des Tragischen im Sinne Hegels ist Althaeas Konflikt daher noch weit entfernt. Thematisch bereitet ihre enge Beziehung zu den Brüdern, denen sie den Sohn opfert, die Byblis­ geschichte vor. Die Schwellung des Flusses Achelous hindert Theseus an der Rückkehr nach Athen, und dankbar nimmt dieser mit seinen Freunden, zumal Pirithous und Lelex, die Einladung des Flußgottes an, der Hindernis und Gastgeber zugleich ist. In seiner herrlichen Grotte von Nymphen bedient, erzählt Ache­ lous seinen Gästen, wie er, ganz wie Diana (579) göttlich-allzu göttlich durch die mangelnde Achtung einiger Nymphen gekränkt, diese ins Meer gespült und zur Bildung der Inselgruppe der Echinaden Anlaß gegeben habe. In eine Insel habe er auch die von ihm entjungferte Perimele verwandelt, die der ei­ gene Vater, als er dies entdeckt habe, von einem Felsen gestürzt habe – der Leser erinnert sich an Daedalus und seinen Neffen. Doch sein Bericht löst bei dem „Verächter der Götter“ („deorum/ spretor“, 612 f.) Pirithous nur Spott und Hohn aus. Die anderen Gäste sind nicht angetan; und zur Beglaubigung der Macht der Götter erzählt Lelex die Geschichte von Philemon und Baucis. Diese verhalten sich zu Deucalion und Pyrrha ganz so wie Icarus zu Phaethon – in beiden Fällen wird eine kosmische Katastrophe, durch Wasser bzw. durch die Sonne, auf einen kleinen Erdenwinkel beschränkt. Allerdings wird im Falle Philemons und Baucis’, anders als in demjenigen des Icarus, nicht ein einzelner Mensch, sondern eine ganze lokale Gemeinschaft vernichtet; aber da genügend Menschen übrigbleiben, fällt dem Paar nicht die Aufgabe zu, durch Mittel wie den Steinwurf eine Neuentstehung der Menschheit in die Wege zu leiten. Deswegen sind Philemon und Baucis vielleicht noch mehr als Deucalion und Pyrrha der Inbegriff durch das ganze Leben bewährter Dualität. „Sed pia

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Baucis anus parilique aetate Philemon/ illa sunt annis iuncti iuvenalibus, illa/ consenuere casa paupertatemque fatendo/ effecere levem nec iniqua mente ferendo./ nec refert, dominosne illic famulosne requiras:/ tota domus duo sunt, idem parentque iubentque.“ („Baucis, das biedere Weib, und ihr gleich an Alter Philemon/ Waren alldort in der Hütte vereint in den Jahren der Ju­ gend,/ Waren gealtert in ihr, und die Armut offen bekennend/ Machten sie diese sich leicht und erträglich mit heiterem Gleichmut./ Eins ist es auch, ob Herrn, ob Diener du suchst in der Hütte: Zwei nur machen das Haus, und dieselben befehlen und folgen“, 631 ff.) Zur ehelichen Treue über ein langes Leben hinweg paßt die Bindung an die Hütte, in der das Paar verheiratet wur­ de und in der es zusammen ein hohes Alter erreicht hat – man ist versucht, „consenuere“ nicht nur auf die beiden, sondern auch auf ihre Behausung zu beziehen, die eben deswegen selbst einer Verwandlung gewürdigt wird. Des­ halb ist auch die Schilderung ihrer wenigen Habseligkeiten so entzückend – jeder Gegenstand, etwa der wacklige Tisch, unter dessen zu kurzes Bein Bau­ cis eine Scherbe klemmt (661 f.), ist durch die Liebe und Fürsorge des Paares gleichsam geweiht, und daher sind sie in ihrer bescheidenen Hütte glücklich. An kaum einer anderen Stelle des rasch dahineilenden Werkes nimmt sich Ovid soviel Zeit für die Beschreibung nicht eines Prozesses, sondern eines stabilen Zustandes. Das Fehlen von Dienern ist in diesem Haushalt kein Mangel; im Gegenteil, es macht diesen Raum zu einem wirklich herrschafts­ freien – im Gegensatz zum Wasserpalast des Achelous, den Nymphen umhe­ gen, die genau wissen, was er anderen Nymphen angetan hat und auch ihnen anzutun in der Lage ist. Kinderlos ist dieses Paar ebenfalls; von den drei Be­ ziehungen, die nach Aristoteles einen Haushalt ausmachen,336 besteht also nur die zwischen Ehegatten, nicht die zwischen Eltern und Kindern bzw. die zwi­ schen Herren und Sklaven. Und doch ist diese Dualität, anders als es die von Deucalion und Pyrrha nach der großen Flut gezwungenermaßen war, nicht ausschließend. Sie öffnet sich in großherziger Gastlichkeit zwei Wildfrem­ den: Die beiden nehmen als einzige unter ihren Mitbürgern die incognito reisenden Jupiter und Mercurius ungezwungen und herzlich auf. Was sie an knappen, aber durchaus köstlichen Vorräten haben, wird geteilt; mit freundli­ chen Gesprächen kürzen sie die Zeit der Vorbereitung (651 f.); „noch kommen zu allem/ Freundliche Mienen hinzu und ein gern hergebender Wille“ („super omnia vultus/ accessere boni nec iners pauperque voluntas“, 677 f.). In diesem Sinne sagt Ovid von einem Tongeschirr, es sei aus demselben Silber ziseliert wie ein anderes („caelatus eodem/ … argento“, 668 f.) – was es auszeichnet, ist der Geist bescheidenen Lebens im Einklang mit der Natur und getragen von der Bereitschaft, mit bedürftigen Mitmenschen zu teilen. Πολιτικά (Politik) 1253b4 ff.

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Als sich der Weinkrug, sobald geleert, immer neu von alleine füllt, begreift das Paar, daß die Gäste keine Sterblichen sind. Aufgeregt und wegen ihrer bescheidenen Küche verlegen, versucht es, die einzige Gans, die es besitzt, zu schlachten, um sie den Göttern anzubieten, aber zunächst entwischt sie den langsamen Greisen und alsdann flieht sie zu den beiden Göttern, die ihre Tötung verbieten (684 ff.). Die deutliche Verteidigung eines weitgehenden (wenn auch nicht vollständigen) Vegetarismus an dieser kompositorisch wie inhaltlich zentralen Stelle des Buches beweist m. E., daß Ovid den Vegetaris­ mus keineswegs nur im fünfzehnten Buch Pythagoras in den Mund legt – er ist Teil des moralischen Ideals, das er hier entwirft. Lebenslange duale Treue, Bescheidenheit des Lebensstils, Gastfreiheit, Frömmigkeit, Ablehnung der Gewalt auch gegenüber Tieren – das sind die Werte, für die Ovid, bei allem poetischen Spiel, mit hohem moralischem Ernst einsteht.337 Die Götter infor­ mieren ihre Gastgeber, daß ein Strafgericht über diejenigen bevorstehe, die den unbekannten Wanderern gegenüber die Gastlichkeit verweigert hätten, und langsam bewegen sich die Greise auf einen Berg zu (Vers 694 macht durch die drei Spondeen zu Beginn diese Langsamkeit sprachmalerisch deut­ lich). Als sie sich umdrehen, sehen sie die ganze Siedlung durch einen Sumpf bedeckt, mit Ausnahme ihrer Hütte, die vor ihren Augen, während sie das Los ihrer Mitbürger beweinen (denn auch Mitleid ziert sie), in einen prachtvollen Tempel verwandelt wird, mit Säulen, goldenem Dach, Marmorboden und diesmal wirklich ziselierten Türen (698 ff.). Jupiter fragt alsdann beide, was sie sich wünschten, und nach Absprache mit seiner Frau verkündet Philemon „das gemeinsame Urteil“ („iudicium … commune“, 706): den Göttern bis zu ihrem Ende als Priester zu dienen sowie, da sie einträchtig gelebt, in dersel­ ben Stunde zu sterben. Als sie sich hochbetagt einmal vor den Tempelstufen das Schicksal dieser Stätte erzählen – offenbar in phatischer, vielleicht auch poetischer Funktion der Rede –, werden sie beide gleichzeitig in Eiche bzw. Linde (620) verwandelt und können sich noch gleichzeitig mit denselben Wor­ ten voneinander verabschieden. Das doppelte „simul“ (718) drückt die Einheit in der Zweiheit aus, ganz so wie das doppelte „ambo“ 1.327, das freilich dort Natürlich kann man auch diese Werte parodieren, wie das Petronius im Satyricon (135 f.) bei der Beschreibung des Hauses der Hexe Oenothea tut, die sowohl auf Kallimachos’ Hekale als auch auf die von diesem beeinflußte ovidianische Episode von Philemon und Baucis Bezug nimmt; siehe dazu die ausgezeichneten Ausfüh­ rungen von Albrechts (2014), 160 ff. Ovid selber verfolgt jedoch in der Episode keine parodistischen Intentionen. Da, wie schon gesagt, auch die Erysichthon-­ Episode Kallimachos folgt, sieht Barchiesi in diesen beiden Geschichten des ach­ ten Buches „the most outstanding ‘nest’ of Callimachean influence in Ovid’s works“ (2001; 50).

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noch durch zwei Worte getrennt war, während hier „simul“ unmittelbar auf „simul“ stößt. Das entspricht der Tatsache, daß Deucalion und Pyrrha nach dem Steinwurf aus der Geschichte verschwinden; über ihr weiteres Schicksal schweigen sich die Metamorphosen aus, denn es hat sich mit der Erzeugung neuer Menschen erfüllt. Diese Aufgabe bestand für das spätere Paar nicht; doch der den beiden Bäumen gezollte Kult – auch Lelex hat Kränze an sie gehängt – zeigt, daß neben der physischen Reproduktion des Menschenge­ schlechtes dessen kulturelle Reproduktion durch das Vorleben idealer Nor­ men nicht weniger wichtig ist. Und nicht zu unterschätzen ist auch die Weiter­ gabe dieser Ideale in großer Dichtung, auf die m. E. die nächste größere Geschichte anspielt, von deren metapoetischer Dimension oben (S.  20 ff.) schon die Rede war. Nach Lelex ergreift der Gastgeber das Wort, vielleicht auch weil er sich durch Lelex‘ die Gastlichkeit behandelnde Erzählung angesprochen fühlt (auch wenn er, in Umkehrung der damaligen Situation, als Gott Sterbliche beherbergt). Er selbst bietet drei Geschichten, die alle durch das gemeinsame Thema verbunden sind, daß einige Wesen sich nicht nur in eine, sondern so­ gar in mehrere Gestalten verwandeln können. Dabei ist die erste der drei ohne jede moralische Pointe, weil sie nur Proteus’ generische Verwandlungskünste erwähnt (730 ff.). Mit ihr zu beginnen legt eine gewisse moralische Flachheit Achelous’ an den Tag. Die dritte, autobiographische Erzählung wird erst im neunten Buch vorgetragen. Viel wichtiger ist die zweite und längste, die aller­ dings erst am Ende, und zwar mit Bezug auf Erysichthons Tochter, deren Name Mestra nicht genannt wird, in das Thema allgemeiner Verwandlungs­ kunst einmündet. Was vorher kommt, ist zwar ohne Bezug auf dieses Thema, doch bietet es ein Gegenbild zu dem Mythos von Philemon und Baucis – viel­ leicht an keiner anderen Stelle des Werkes klaffen zwei in den Werten so stark voneinander abweichende Welten aufeinander. Denn zwischen Lycaon und dem ersten Paar war wenigstens die große Flut dazwischengeschoben, hier hingegen nur der kurze Mythos von einem Meergott. Stehen Philemon und Baucis für Bescheidenheit und Großzügigkeit, die in einer Empfänglichkeit für das Göttliche gründen, ist Erysichthon in seiner Brutalität, Habgier und Mißachtung alles Göttlichen und der heiligsten zwischenmenschlichen Be­ ziehungen eine der entsetzlichsten Figuren dieses an Scheusalen nicht armen Werkes. Tereus wird von seinem pathologischen Sexualtrieb zu seinen Ver­ brechen getrieben; doch liegt ihm immerhin eine leidenschaftliche Zuwen­ dung zu einem anderen Menschen zugrunde, auch wenn Philomela sie ab­ lehnt und von ihrem Schwager gemartert wird. Erysichthon ist dagegen nur an materiellem Besitz interessiert; es fehlt ihm jeder Sinn für das Göttliche, sei es in der Natur, sei es in der Kunst (wenn meine frühere metapoetische Deutung der Eiche zulässig ist). Ja, seine Gier schreckt nicht davor zurück, die

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eigene Tochter zu verkaufen (auch wenn an Sklaverei eher als an explizite Prostitution gedacht zu sein scheint, ist sicher auch sexueller Mißbrauch der Sklavin impliziert). Zu Recht hat Ovid diese bei Kallimachos fehlende Zuga­ be eingefügt; denn zum Menschentyp, den Erysichthon repräsentiert, paßt die Zuhälternatur bestens. Nicht nur befiehlt Erysichthon das Fällen der der Ceres heiligen Eiche, sondern er legt auch selbst die Hand an, als er sieht, daß seine Diener zögern, und zwar indem er erklärt, er schlüge den Baum auch dann, wenn er nicht nur der Göttin lieb, sondern mit ihr identisch wäre.338 Weder das Aufseufzen der erstmals getroffenen Eiche noch das Fließen von Blut aus deren Rinde halten ihn zurück;339 und als einer seiner Begleiter ihn abzuwehren sucht, schlägt er auch diesem das Haupt ab, und zwar mit den Worten, das sei die Belohnung seiner frommen Gesinnung („mentis … piae … praemia“, 767). Er ist also nicht einfach jeder Empathie bar, sondern vergeht sich vorsätzlich am Gött­ lichen – er ist ein Frevler („profani“, 840). Die sterbende Baumnymphe ver­ wünscht Erisychthon, und die anderen Dryaden erreichen von Ceres, die dazu eine Oreade an die personfizierte Fames schickt, daß Erysichthon von im­ merwährendem Hunger gepeinigt wird – „genus poenae miserabile, si non/ ille suis esset nulli miserabilis actis“ („Strafe gar mitleidswürdig, wofern er/ Durch sein Tun unwert nicht wäre geworden des Mitleids“, 782 f.). Schon im Schlaf, während dessen ihn Fames berührt, beginnen seine Kiefer sich zu bewegen; doch es ist nur Luft, die er schluckt (823 ff.). Doch aufgewacht kann Erysichthon seinen Heißhunger nicht bezwingen, wieviel er auch verschlingt. Beim Essen verlangt er nach Essen, und was eine Stadt, ja, ein Volk sättigen könnte, befriedigt ihn nicht. Dem Meer und einem um sich greifenden Feuer ähnlich, verlangt er nach mehr, je mehr er erhält (834, 838 f.). Speise ist nicht die Ursache von Sättigung, sondern nur die Ursache weiterer Speise, und das Essen erzeugt nur Leere (841 f.). Anders als Kallimachos (6.72 ff., 94 f.) erwähnt Ovid nicht Erysichthons Eltern, seine zwei Schwestern, seine Amme, die zehn Mägde und die Freun­ de, die Erysichthon zu Gastmählern einladen, wobei die Eltern Ausflüchte erfinden, weil sie sich des gefräßigen Verhaltens des Sohnes schämen. Ja, Ovid führt nicht einmal das Motiv an, das Kallimachos’ Erysichthon für sei­ nen Waldfrevel hat – er will einen Festsaal bauen (6.63 f.), was ebenfalls auf Das unterscheidet diesen Baumfrevel radikal von dem Aen. 12.766 ff. berichteten: Die Trojaner fällen aus militärischen Gründen einen wilden Olivenbaum, von dem sie gar nicht wissen, er sei Faunus geweiht. Dennoch bezahlt Aeneas dafür einen – bescheidenen – Preis. 339 Bei Kallimachos findet sich nur der Aufschrei des Baumes (6.39); das Fließen des Blutes bereitet offenbar 9.344 f. (im Rahmen des Dryope-Mythos) vor. 338

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Geselligkeit weist. Ovid verzichtet bewußt darauf, Erysichthons Handlung zu motivieren, und unterstreicht Erysichthons soziale Isolation. Er ist älter als die Figur in Kallimachos’ Hymnus, reicher und mächtiger, aber er hat nur Diener, keine Freunde oder Verwandte, mit Ausnahme seiner Tochter. Deren Name wird von Ovid nicht genannt, was sowohl die Isolation als auch die Zuhälter­ natur des Vaters hervorhebt – ihn bindet nichts an die Tochter außer dem Profit, den er mit ihr machen kann. Denn da seine Gefräßigkeit sehr bald sein Vermögen aufbraucht, indem sie es in seinen Bauch versetzt, verkauft er die­ se Tochter, die einen anderen Vater verdient hätte (847). Diese wendet sich an Neptunus, der sie gegen ihren Willen ihrer Jungfräulichkeit beraubt hatte, und dieser (vielleicht weil er der Ansicht ist, Verkauf in die Prostitution sei noch schändlicher als individuelle Vergewaltigung) entreißt sie ihrem Schicksal, indem er sie in einen Fischer verwandelt – ein Echo des Fischers, der am An­ fang des Buches Daedalus und Icarus hatte fliegen sehen (217). Die Szene, in der sich der Käufer an diesen Fischer wendet und fragt, ob er eine Frau gese­ hen habe, die eben da gestanden habe, wo er jetzt stehe, ist zutiefst erheiternd. Erstens erinnert die Freude der Gefragten, daß man bei ihr nach ihr frage („a se/ se quaeri gaudens“, 862 f.), deutlich an Jupiters Freude, daß er in Gestalt Dianas sich selber vorgezogen werde („sibi praeferri se gaudet“, 430) – inzwi­ schen haben auch Menschen eine ähnliche Verwandlungsgabe. Zweitens ist der Wunsch des Fragenden für den Fischer, der Fisch möge bei ihm leicht­ gläubig anbeißen, deswegen unfreiwillig komisch, weil genau das ihm selbst widerfährt – Ovid macht dies deutlich, indem zuerst der Fisch „credulus“ („leichtgläubig“, 858) genannt wird und es dann vom Käufer heißt „credidit“ („er glaubte, 869). Und drittens ist der Eid des Fischers, außer ihm habe nie­ mand an diesem Platz gestanden (867 f.), kein Meineid – denn er ist ja mit der Tochter identisch. In ihre ursprüngliche Gestalt zurückverwandelt, kehrt sie zum Vater zurück, der entzückt eine unversiegliche Einkommensquelle ent­ deckt zu haben glaubt; und durch Verwandlungen in unterschiedliche Tiere verschafft die Tochter dem Vater eine Zeitlang „ungerechte Nahrung“ („non iusta alimenta“, 874) – bis dieser sich schließlich selbst verschlingt. Der bedeutende Umweltökonom Hans Christoph Binswanger hat die Ery­ sichthongeschichte bei den beiden antiken Dichtern und bei Pierre de Ron­ sard als prophetische Allegorie der Selbstzerstörung der späten Industrie­ gesellschaft gedeutet. „Demeter bestraft Erysichthon. Womit? Mit nichts anderem als einfach mit der Konsequenz, mit der Logik seines eigenen Tuns. Das ist das Raffinierte an dieser Geschichte.“ (2006; 110) Schon Aristoteles hatte die χρηματιστική, die Kunst des Gelderwerbs, von der  οἰκονομική, der Kunst der Haushaltung, abgesetzt (Politik 1256b40 ff.); nur diese, nicht jene sei natürlich, und zwar weil der Gelderwerb mit einer unendlichen Be­ gierde verknüpft sei (1258b1 ff.). Die Verbreitung des Handels mittels des

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Geldes wird nach Binswanger durch die Tochter Erysichthons versinnbild­ licht (112 f.); ihre ständige Verwandlung in eine neue Gestalt diene nur der Vermehrung des Geldes. Erysichthon kann nie befriedigt werden und ist da­ mit dazu verdammt, stets unglücklich zu sein. Er sieht die Welt sub specie cibi – selbst die Beziehung zur eigenen Tochter verwandelt sich in Zuhälterei. Zur Liebe, ja, zum aufrichtigen Interesse an einem anderen Menschen ist er konstitutionell unfähig. Der Grund für die Unfähigkeit, den eigenen Bedürf­ nissen Grenzen zu setzen, ist der Baumfrevel, der selbst der Unfähigkeit entspringt, in der Natur etwas Göttliches zu erkennen. Mit tiefem anthropolo­ gischem Blick erkennt Ovid, daß der Wettlauf nach der kurzzeitigen Befrie­ digung immer neuer Bedürfnisse in der Entgöttlichung der Natur seinen letz­ ten Grund hat. Wer Natur (und Kunst) in ihrer Schönheit, in ihrem intrinsischen Wert nicht mehr zu verehren vemag, der ist dem eigenen Hunger ausgelie­ fert – er wird alles, was ihm begegnet, verschlingen und am Ende sich selbst vernichten. Die Religion bindet den Menschen – und rettet ihn dadurch vor sich selbst, d. h. der ohne Religion unkontrollierbaren Macht seiner Triebe. Am kargen Tisch Philemons und Baucis’ sind die Götter gegenwärtig – und dessen Kargheit hindert das Paar nicht, glücklich zu sein, einander zu lieben und Fremden gegenüber gastfrei zu bleiben. Erysichthon ist ungesättigt, un­ fähig zu Freundschaft und liebevollen Beziehungen zu anderen Menschen, ohne Sinn für das Verehrungswürdige in der Welt und dessen transzendenten Ursprung. Das Göttliche hat sich aus seiner Welt entfernt, und als letzter Akt bleibt ihm nur, sich selber aufzufressen. Im zentralen achten Buch hat Ovid mit dem greisen Liebespaar und dem zum Zuhälter der eigenen Tochter dege­ nerierten Vielfraß in vollkommener Kunst die zwei Pole dargestellt, zwischen denen sich menschliches Leben bewegt. Denn dieses kann gelingen oder scheitern.

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4.10 M  etamorphosen, Buch 9. Intrasexuelle männliche und weibliche Rivalität und Hercules’ Apotheose. Geburtsnot und Mutter-Säugling-­ Beziehung: Alcmene und Dryope. Sehnsucht nach Zwillingsinzest, moralische Grenzen des Eros und Theorie des Unbewußten: Byblis und Caunus. Lesbische Liebe bzw. im falschen Geschlechte gefangen: Iphis Das dritte Beispiel, das Achelous für die Fähigkeit gibt, sich in alle möglichen Gestalten zu verwanden, ist – ganz am Ende des achten Buches – er selber. Er habe sich in Schlangen oder Stiere verwandelt – wenigstens früher habe er dabei mit zwei Hörnern geprangt, obgleich er jetzt auch in seiner normalen Gestalt nur eines trage. Trotz innerer Widerstände340 bekennt Achelous, wie er das eine Horn verlor. Sowohl er als auch Hercules freiten um Deianira, und im Bewußtsein der eigenen Göttlichkeit habe er dem damals noch sterblichen Hercules nicht nachgegeben, dessen Angeben mit der Herkunft von Jupiter ihn zu der Bemerkung provoziert habe, entweder sei diese Aussage falsch oder aber die Mutter habe Ehebruch begangen (23 ff.). Hercules’ finstere Dro­ hung, seine Rechte sei besser als seine Zunge und er verliere gerne im Reden, sofern er nur im Kampfe siege (29 ff.), bewahrheitet sich. Nicht nur in eigener Gestalt unterliegt Achelous dem Heros; auch die Verwandlung erst in eine Schlange, dann in einem Stier, dem Hercules ein Horn abbricht, rettet ihn nicht vor der Niederlage. In diesem intrasexuellen Kampf, der in Anlehnung an Aen. 12.715 ff. demjenigen von Stieren um eine Kuh verglichen wird (46 ff.), bekommt Deianira allerdings keine Chance, sich über ihre eigene Vorliebe zu äußern. Zu ihrem späteren Eheleben wendet sich nun die Ge­ schichte in direkter Erzählung, in ganz ungewöhnlicher Kontinuität beider Erzählformen, die sich aus der autobiographischen Natur des von Achelous Erzählten ergibt, das offenbar nicht lange zurückliegt. Thematisch ist die neue Geschichte freilich auch mit der Rahmenge­ schichte verknüpft, innerhalb deren gerade von Hercules die Rede war. Denn es geht wiederum um eine schwierige Flußüberquerung (8.549 ff., 9.94 ff., 103 ff.), wiederum um männliche intrasexuelle Rivalität. Auf dem Nachhau­ seweg mit seiner Frau kommt Hercules zu dem geschwollenen Euenus, und der Kentaur Nessus bietet an, Deianira überzusetzen. Doch dabei versucht er, sich an ihr zu vergreifen, die anders als ihr wenig empathischer Mann von Anfang an Angst vor ihm gehabt hatte (111). Hercules tötet ihn mit einem Pfeil, der mit dem Gift der Lernäischen Schlange versetzt ist (130), von der er erst Achelous berichtet hatte (69 ff.) – ein weiterer Brückenschlag zwischen den Geschichten. Der sterbende Kentaur hat noch die Kraft, sein mit dem ei­ 9.3 f. wandelt dabei bewußt Aeneis 2.3 ff. ab, so wie 27 ff. Aeneis 4.362 ff. Vgl. dazu Gianluigi Baldo (1995), 149 f.

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genen vergifteten Blut getränktes Kleid an Deianira mit der Empfehlung zu reichen, es handle sich dabei um einen Liebeszauber. Jahre später hört Deia­ nira von dem Gerücht, ihr Mann habe sich nach der Einnahme Oechalias in die Prinzessin Iole verliebt. Anders als Sophokles in den Trachinierinnen läßt Ovid es offen, wie weit das Gerücht, das zur Wahrheit gerne Falsches hinzu­ füge, der Wahrheit entspricht (137 ff.). Die Schwester des Meleagros will nicht nur weinen, sondern ist entschlossen, diesen, vielleicht nur vermeinten Af­ front nicht hinzunehmen – nun ein Beispiel weiblicher intrasexueller Rivali­ tät, das die beiden früheren männlichen Beispiele an der Geschlechtsachse spiegelt. Sie erwägt sogar die Ermordung der Rivalin (149 ff.). Das ist eben­ falls etwas, dem bei Sophokles nichts entspricht, dessen Deianeira zu den zartesten Gestalten der griechischen Tragödie gehört. Ovids Heldin entschei­ det sich aber dann für die Übersendung des Nessus-Gewandes durch Lichas, und zwar ohne jede Ahnung von dessen tödlicher Natur (155), nur in der Hoffnung, ihren Mann wieder ganz für sich zu gewinnen, obgleich der Ovid­ leser auch unabhängig von seiner Bekanntschaft mit dem Mythos schon weiß, daß Zauberei in der Liebe nicht helfen kann (siehe oben Anm. 305). Von ihrem weiteren Schicksal, das Ovid als bekannt voraussetzt, ist nicht mehr die Rede, während Sophokles’ Tragödie den Untergang beider Ehe­ partner zum Thema hat. In Ovids Fassung verdrängt das heroische Thema das elegische vollkommen; daher fehlt auch die Begegnung Hercules’ mit dem Sohne Hyllus. Hercules legt den Mantel auf seine Schultern, der ihn schnell vergiftet und Haut, Glieder, Knochen und Mark zersetzt. Nachdem er anfangs seinen Schmerz zu beherrschen gesucht hat (163), wendet er sich an Juno, die er zu Unrecht für verantwortlich für seinem Todeskampf hält und die er nur um den baldigen Tod bittet. Nach einer autoaretalogischen Aufzählung der eigenen Arbeiten und der Feststellung, daß Eurystheus noch lebe, der sie ihm auf­ erlegt hatte, endet er seinen Monolog mit den Worten: „et sunt, qui credere possint/ esse deos?“ („und an waltende Götter/ Glaubt man noch?“, 203 f.)341 Das ist, angesichts der bevorstehenden Apotheose, eine objektive Ironie des Dichters auf Kosten des Helden, der allerdings seine Größe gerade dadurch beweist, daß er nicht mit irgendeiner Belohnung für seine Taten rechnet. Nachdem er wutentbrannt Lichas getötet hat, der sich vergeblich versteckt hatte, bereitet er den eigenen Scheiterhaufen vor, auf dem sein sterblicher Teil verglimmt, während der göttliche mit dem Beifall aller Götter, einschließlich Junos (259 ff.), in den Olymp aufgenommen wird. Schon 1945 hat Fränkel (81 f.) Jupiters und später Ovids Worte über den Tod des von der Mutter ge­ Das erinnert an Philoktets Ausruf in Sophokles’ gleichnamiger Tragödie (446 ff.). Philoctetes wird von Ovid 9.232 f. und 13.45 ff., 313 ff., 328 ff. erwähnt.

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erbten sterblichen Teils des Hercules und die ewige Natur seines väterlichen Teils (251 ff., 262 ff.) mit der christologischen Zweinaturenlehre in Zusam­ menhang gebracht. Das Bedürfnis nach einem Retter war in dieser Zeit in der Tat groß, und Hercules wird von Ovid als solcher verstanden (241), nicht viel anders als Christus von den Christen. Doch die rettende Figur wird von ihnen ganz anders konzipiert, auch wenn es sicher lohnend ist, auch und gerade in den moralischen Vorstellungen Ovids, zumal seiner Kritik an der Gewalt und den Tieropfern, Berührungspunkte mit der neuen Religion zu finden – Be­ rührungspunkte, für deren Existenz u. a. die enorme Popularität Ovids im Mittelalter spricht. Hercules’ Vergöttlichung ist das eigentliche Zentrum des Buches – sie ist etwas Neues, das weitere Apotheosen antizipiert. Die drei vorangehenden Geschichten von männlicher bzw. weiblicher Rivalität boten nichts wirklich Innovatives; aber sie dienten der Vorbereitung von Hercules’ Tod, wie er durch den Mythos vorgegeben war.342 Nach dem Tode ihres Sohnes berichtet Alcmene, die mit ihren Angehöri­ gen weiterhin von Eurystheus verfolgt wird, der schwangeren Iole, die Hercu­ les’ Sohn Hyllus geheiratet hat, wie die Magd Galanthis sie von ihren Qualen befreite, als sie selbst vergeblich versuchte, Hercules zu gebären. Es handelt sich um eine Analepse, die deswegen hier am richtigen Ort ist, weil Geburt die Inversion von Tod und Apotheose ist. Auch wenn Eros ohne Fortpflan­ zung möglich ist – bei den homoerotischen Formen, die bald folgen werden, ist Fortpflanzung sogar ausgeschlossen –, ist diese doch eine normale Folge, und es gebührt sich, die im Altertum oft lebensbedrohlichen Schwierigkeiten zu behandeln, die mit einer Geburt verknüpft sein können. Wie ihr Sohn am Ende seines Lebens (178 ff.) wollte auch Alcmene angesichts der Schmerzen ihrer siebentägigen Wehen, an denen auch die Erinnerung noch teilhat, ster­ ben (289 ff., 302 f.). Alcmene berichtet, daß Lucina auf Drängen Junos zu ver­ hindern suchte, daß Alcmene das Kind gebären konnte, und zwar durch Ana­ logiezauber, indem sie mit verschlungenen Fingern am Opferherd saß. Galanthis jedoch gab ihr die falsche Nachricht, Alcmene habe geboren; da sprang Lucina auf und löste ihre Finger, und Alcmene konnte endlich Hercu­ les gebären. Zornig verwandelte die Göttin die lachende Magd in einen Wie­ sel. Das Opfer dieser treuen Magd (307 f.) ist ein weiteres Beispiel von Soli­ darität unter Frauen, die sich allerdings jetzt gegen eine (göttliche) Frau und nicht einen Mann richtet. Alcmene seufzt in dankbarer Erinerung an sie (324 f.). Ich vermute, daß Ovids kompositionell hier rückwärts vorgeschritten ist: Die Her­ culesapotheose erzwang die Geschichte von Deianiras Eifersucht, diese die von Nessus, und die Assoziation mit Hercules’ Kampf mit einem weiteren Flußgott gab Ovid die Möglichkeit der intradiegetischen Erzählungen des achten Buches.

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Iole revanchiert sich mit der Geschichte von ihrer Halbschwester Dryope, die deswegen passend anschließt, weil in ihr die Beziehung einer Mutter zu ei­ nem Säugling im Zentrum steht, wie sie auf eine Geburt zu folgen pflegt. Dryopes Verwandlung in einen Baum erinnert an diejenge Daphnes, aber an­ ders als Daphne ist Dryope nicht Jungfrau (und zwar ist es gerade Apollo, der sie entjungert hat (331 f.), der offenbar geschickter geworden ist), ja, Gattin (Andraemons) und junge Mutter. Sie pflückt für ihren Sohn Amphissus Blü­ ten von einer an einem See wachsenden „lotos“ – mit diesem Namen haben die Alten verschiedene Pflanzen bezeichnet; gemeint ist hier vermutlich eine Dattelpflaume. Sie weiß nicht, daß sich, ganz wie Daphne, eine Nymphe, Lo­ tis, in diesen Baum verwandelt hatte, um der Bedrängung durch Priapus zu entgehen.343 Die Blutstropfen, die aus den Blüten rinnen, belehren sie eines besseren, aber es ist zu spät. Als sie sich wegwendet, kann sie sich nicht mehr bewegen; denn ihre Füße sind zu Wurzeln geworden, und sie beginnt zu ver­ holzen. Als sie sich das Haar raufen will, hat sie Laub in den Händen. Am­ phissus, der gerade gestillt wurde, spürt das Starrwerden der mütterlichen Brust, die ihm keine Milch mehr zuführt. Iole, die als Zeugin dabeiwar, kann ihrer Schwester ebenfalls nicht helfen (ergreifend in Ioles Bericht die Apo­ strophe an die Verwandelte und das Bekennen des damaligen Wunsches, mit der Schwester zusammen im Baum eingeschlossen zu werden, 360 ff.), eben­ sowenig können dies der herbeigerufene Ehemann und der Vater. Sie können nur das Holz küssen und den letzten Worten des Gesichts zuhören, bis auch dieses von der Rinde bedeckt wird. Entscheidend ist Dryopes Beteuerung der eigenen Unschuld. Schon am Anfang hatte Iole Alcmene erzählt, Dryope sei zum See gelaufen, um den Nymphen Kränze darzubringen – und zwar mit der Bemerkung „quoque/ indignere magis“ („damit du dich mehr empörst“, 336 f.). Denn auch wenn das Fließen des Blutes an die von Erysichthon gefäll­ te Eiche erinnert (8.762 ff.), besteht doch ein abgrundtiefer Unterschied zwi­ schen beiden Taten – Erysichthon frevelt mit Vorsatz und fällt einen ganzen Baum, Dryope pflückt ahnungslos (349) eine Blüte. Die Nähe beider Mythen im Werk dient dazu, den Kontrast hervorzuheben. Dryopes Bestrafung ist offenkundig ungerecht. Im Zusammenhang mit Actaeon hatte Ovid nur in­ direkt seine Mißbilligung geäußert (siehe oben S. 88 f.); hier ist die Empörung über das von der Nymphe begangene Unrecht allgemein. „siqua fides miseris, hoc me per numina iuro/ non meruisse nefas; patior sine crimine poenam./ vi­ ximus innocuae…“ („Falls man Unglücklichen glaubt: Bei den Himmlischen schwör’ ich, das Unrecht/ Trifft mich wider Verdienst. Unschuldig erleid’ ich die Strafe./ Fehllos hab’ ich gelebt…“, 370 ff.) Ovid will nicht, daß man Un­ glücklichen grundsätzlich keinen Glauben schenkt, und Dryope ist um so Man kontrastiere die Geschichte, wie Priapus Lotis nachstellt, F. 1.392 ff.

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glaubwürdiger, als sie darum bittet, den Knaben oft unter dem Baume spielen zu lassen, ihm von der Mutter im Baum zu erzählen und ihn nun ihr ein letz­ tes Mal hinaufzureichen (375 ff.). Mir scheint die Dryope-Geschichte zwei Funktionen zu erfüllen. Nach der Verteidigung der Frömmigkeit im achten Buch (direkt durch Philemon und Baucis, indirekt durch Erysichthon) will Ovid erstens darauf hinweisen, daß vielen Mythen durchaus primitive reli­ giöse Vorstellungen zugrunde liegen. Und zweitens will Ovid im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie hervorheben, daß sich im Laufe der Geschichte der Menschheit eine intentionalistische Auffassung ausbreitet, nach der eine gerechte Strafe Schuld voraussetzt.344 Vermutlich ist es kein Zufall, daß es Frauen sind, die sich zu diesem Prinzip, wie früher zur Verurteilung der Raub­ ehe, bekennen. Die gemeinsame Rührung Ioles und ihrer Schwiegergroßmutter wird un­ terbrochen durch das Erscheinen des verjüngten Iolaus.345 Er und die aus der Kindheit ins Mannesalter versetzten zwei Söhne der Callirhoe und des Alc­ maeon sind die beiden einzigen Beispiele von Altersmetamorphosen (ohne den Einsatz von Zauber wie bei Medea). Als zumal die Göttinnen von Jupiter auch für ihre sterblichen Geliebten Verjüngungskuren wünschen, lehnt dieser ab, indem er auf die Macht des Fatums verweist, dem er selbst unterworfen sei – wie man daran sehe, daß er auch bei den eigenen Söhnen wie Minos den Alterungsprozeß nicht aufzuhalten vermöge (428 ff.). Ob sich Ovid hier über die Leere des Fatum-Begriffs, etwa bei Vergil, lustig machen will, ist schwer zu entscheiden. Einerseits ist die Darlegung der erotischen Interessen der Göttinnen sicher komisch; andererseits hat der Dichter der Wandlungen in der Irreversibilität des Alterungsprozesses vermutlich tatsächlich ein unwandel­ bares Gesetz der Natur anerkannt. Des alten Minos Angst vor dem Apollo-Sohn Miletus leitet über zu dessen Kindern von der Tochter des uns bisher nur aus einem Vergleich vertrauten Flußgottes Maeander, den Zwillingen Caunus und Byblis. Mythen von Liebes­ verwicklungen zwischen Zwillingen sind angesichts der sehr engen Beziehung von Zwillingen nicht selten – man denke etwa an Sigmund und Signy in der Edda, die in Richard Wagners Die Walküre und in Thomas Manns Wälsungenblut weiterwirken. Mehr noch als bei Medea und Scylla betritt Ovid hier das Gebiet der Sexualpathologie, auch wenn es, anders als in der im nächsten Buch folgenden Myrrha-Geschichte, nicht zum Vollzug des erotischen Wun­ sches kommt. Von den verschiedenen Varianten, in denen der Mythos exi­ Schon Oidipus ringt sich in Sophokles’ Οἰδίπους ἐπὶ Κολωνῷ (Oidipus auf Kolonos) zu dieser Einstellung durch (265 ff., 521 ff., 960 ff).. 345 Die Geschichte wird etwa in Euripides’  Ἡρακλεῖδαι (Herakliden) 796, 843 ff. berichtet. 344

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stierte und von denen schon oben (S. 18) die Rede war, hat Ovid diejenige ausgewählt, nach der die Liebe von der Schwester ausgeht – ganz im Einklang mit dem Strom starken weiblichen Begehrens, der die zentralen Bücher der Metamorphosen charakterisiert: Medea, Scylla, Byblis und Myrrha sind die das siebte, achte, neunte bzw. zehnte Buch dominierenden Frauencharaktere. Zwar haben schon Medea und Scylla Zweifel an der moralischen Zulässigkeit dessen, wozu sie ihre Begierde treibt – Vater und Vaterland zu verlassen bzw. zu verraten. Aber im Falle Byblis’ und Myrrhas ist die Begierde an sich selbst, unabhängig von dem durch sie Ausgelösten, unmoralisch, wie Ovid selber gleich zu Beginn herausstellt. „Byblis in exemplo est, ut ament concessa puellae,/ Byblis Apollinei correpta cupidine fratris:/ non soror ut fratrem, nec qua debebat, amabat.“ („Byblis warnt, daß nicht Unziemliches lieben die Mädchen,/ Byblis, erfaßt von Begehr nach dem apollinischen Bruder:/ Sie liebt’ ihn mehr als recht und nicht wie der Bruder die Schwester“, 454 ff.) Ohne Zweifel erkennt Ovid auch für den Eros moralische Grenzen an – er ist zwar viel freizügiger, als es etwa die christliche (und auch die augusteische) Sexualmoral ist, insofern er etwa Ehebruch aus Liebe erlaubt,346 aber das heißt keineswegs, daß nach ihm alles gestattet ist. Inzest – sei es zwischen Geschwistern, sei es zwischen Eltern und Kindern – ist es nicht. Auch Byblis weiß das – sie spricht von „vetitus … ardor“ („verbotenes Entbrennen“, 502); später ist von „inconcessam … / spem veneris“ („unzulässige Hoffnung auf Liebesgenuß“, 638 f.) die Rede. Dasselbe Prädikat wird in Antizipation des Myrrha-Mythos 10.153 f. wiederholt („inconcessis …/ ignibus“, „unzulässige Leidenschaften“); und bei dessen Behandlung wird die moralische Verwerf­ lichkeit des Vater-Tochter-Inzestes immer wieder hervorgehoben. 10.300 und 426 lesen wir „dira“ bzw. „diros“ („schrecklich“), 307, 352 und 404 „nefas“ („Ruchlosigkeit“), 312 „crimine“ („Verbrechen“ – selbst Cupido will damit nichts zu tun haben), 315, 413 und 474 „scelus“ („Frevel“), 319 „foedo“ („häß­ lich“), 322 „nefas scelerique“ (Ruchlosigkeit und dem Frevel“), 353 „concubi­ tu vetito“ („durch verbotenen Beischlaf“). 468–471 häufen sich bei der Be­ schreibung des Beischlafs die Worte des Abscheus: „sceleri“, „inpia diro/ semina … utero“ (schreckliche Samen/ Im gottlosen Schoß“), „crimina“, „fa­ cinus“ („Untat“). Auch Geschlechtsverkehr in einem geweihten Gebäude ge­ hört zu dem, was nach Ovid kategorisch verboten ist (10.695). Das steht keineswegs im Widerspruch zu den Grundgedanken der Ars amatoria, auch wenn das Buch verspielter und frivoler ist als das Hauptwerk. Denn schon dort heißt es: „Nos Venerem tutam concessaque furta canemus/ Daß er das Tr. 2.303 ff. und EP. 3.3.49 ff. bestreitet, ist verständlich, aber trotz AA. 1.31 f. nicht wirklich glaublich. Das Ehebruchverbot, das er vertreten haben will, bezieht sich auf jeden Fall nur auf freie, nicht auf freigelassene Frauen.

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inque meo nullum carmine crimen erit.“ („Wir werden die sichere Liebe be­ singen und die zugelassenen heimlichen Liebschaften; und in meinem Liede wird kein Verbrechen stattfinden“, 1.33 f.; mit einer bezeichnenden Abwand­ lung Augustus gegenüber zitiert Tr. 2.249 f.) Die moralischen Prinzipien, De­ posita zu bewahren, Verträge zu halten, nicht zu betrügen und keine Gewalt anzuwenden (1.641 f.), erkennt Ovid durchaus an; Täuschung sei nur dann erlaubt, wenn sie gegenüber Menschen erfolge, die selber zum Täuschen be­ reit sind (1.643, 3.491 f.). Wer geliebt werden wolle, solle liebenswert sein; daher solle er auf Unrecht verzichten (2.107). „Nihil hic nisi lege remissum/ luditur“ („das Spiel hier erstreckt sich nur auf das gesetzlich Erlaubte“, 2.599 f.). Insbesondere warnt Ovid vor der Verletzung religiöser Schweige­ pflichten (2.601 ff.). 3.58 und 614 werden interne und externe Sanktionen, Schamgefühl und Gesetze, an der zweiten Stelle daneben auch die politische Autorität, also die des Augustus, als Grenzen des Eros genannt. Und in den Remedia werden sexuelle Perversionen wie die Koprophilie als vom „mos“, den guten Sitten, verboten (437 f.) bezeichnet. Der Umschlag von Liebe in Haß sei ein Frevel, der nur wilden Geistern gezieme (655 f.). Zu den moralisch nicht erlaubten Formen des Eros gehört also auch der Inzest. Doch heißt das nicht, daß er nicht vorkommt. Mit großer Subtilität schildert Ovid, wie bei Byblis sich eine erotische Attraktion entwickelt, bevor sie sich dessen überhaupt bewußt ist. Ihre Umarmungen und Küsse des Bru­ ders erscheinen ihr anfangs deswegen auch gar nicht als problematisch; sie läßt sich täuschen vom trügerischen Anschein der Geschwisterliebe („menda­ ci … pietatis … umbra“, 460). Doch ihr Verhalten legt mehr an den Tag als ihr Bewußtsein: Sie kleidet sich attraktiv, wenn sie zum Bruder geht, sie ist eifersüchtig, wenn eine andere Frau schöner ist, sie möchte als „Byblis“, nicht als „Schwester“ angesprochen werden (467; vgl. 528 f.). Stellen wie diese er­ lauben die Aussage, Ovid habe manches der Theorie des Unbewußten Sig­ mund Freuds vorweggenommen – ein Verhalten mag Wünsche offenbaren, die es lenken, auch wenn sie noch nicht ins Bewußtsein treten. Das tun sie – nicht viel anders als bei Freud – erstmals in Gestalt von Träumen. „Spes ta­ men obscenas animo demittere non est/ ausa suo vigilans; placida resoluta quiete/ saepe videt, quod amat; visa est quoque iungere fratri/ corpus et eru­ buit, quamvis sopita iacebat.“ („Raum zu geben jedoch im Gemüt unlauterer Hoffnung/ Wagt sie im Wachen noch nicht. Umfangen von friedlichem Schlummer/ Sieht den Geliebten sie oft. Mit dem Bruder den Leib zu verei­ nen/ Wähnt sie auch und errötet, obgleich im Schlummer sie ruhte“, 468 ff.) Der erste Satz scheint gleichsam einen unbewußten Gedankenzensor zu postulieren, dessen Kontrolltätigkeit im Schlaf nachläßt, so daß sich Byblis in ihren Träumen die Erfüllung des Wunsches erlaubt, den ihr Körper schon seit längerem hegt – erst sieht sie den Bruder, dann verkehrt sie sexuell mit

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ihm.347 Das noch im Schlaf erfolgende Erröten deutet freilich darauf hin, daß auch in diesem Zustand die Selbstkontrolle nicht ganz fehlt. Byblis erwacht, schweigt lange, offenbar aus Verlegenheit, und versucht zu Beginn ihres er­ sten Monologs, sich das Traumbild wieder zu vergegenwärtigen. Wie die an­ deren Heldinnen ist sie sich dessen bewußt, daß ihr Begehren nicht moralisch ist, aber das Resultat ist trotzdem prädeterminiert – mit Auhagen (1999; 148) kann man von „Scheingefecht“ reden. Im zweiten Vers ihres Monologes wünscht sich zwar Byblis, ihr Traum möge nie in Erfüllung gehen (475). Sie könnte Caunus durchaus lieben, wäre er nicht ihr Bruder (477); doch da er das nun einmal ist, scheint sie sich damit begnügen zu wollen, derartige Träume häufiger zu haben – denn Träume liefen ohne Zeugen ab, und ihnen sei eine der originalen nahekommende Lust („imitata voluptas“, 481) eigen, die begei­ stert geschildert wird. Doch so süß die Erinnerung sei, die eigentliche Traum­ lust sei zu kurz gewesen (486). Ja, wie schön wäre es, wenn das Geschwister­ verhältnis nicht bestünde! Doch was bedeute der Traum? Antizipiere er etwas Wirkliches? Noch schafft es Byblis auszurufen „di melius“ („da seien die Götter davor“, 497) – doch der Gedanke an die Götter löst nicht etwa fröm­ mere Wünsche, sondern die Assoziation aus, bei ihnen sei der Geschwisterin­ zest verbreitet. Immerhin vermag Byblis noch einzusehen, göttliche Rechte und menschliche Bräuche seien wesensverschieden (500 f.). Zwar hofft sie, die verbotene Begierde zu überwinden; sollte ihr das aber nicht gelingen, möchte sie lieber sterben, um dann auf der Totenbahre vom Bruder geküsst zu werden. Liebe sei ja nur statthaft, wenn beide einwilligten (505). Dieses an sich wichtige Prinzip, das Cyane 5.415 f. erstmals artikuliert hatte, ist freilich ambivalent – ist der Konsens beider Parteien nur notwendige oder auch hin­ reichende Bedingung moralischer Liebe? Byblis versteht es offenbar im zwei­ ten Sinne; und in ihr keimt die Hoffnung auf, vielleicht liebe auch er sie; dann brauche sie ihn ja nicht zurückzuweisen (511 f.). Die Äußerung dieser Hoff­ nung mag eine intertextuelle Anspielung auf die Variante des Mythos sein, bei der Caunus der Liebende ist; aber sie gibt auch psychologisch guten Sinn. Dann aber, so fährt Byblis fort, könne sie ebensogut den ersten Schritt auf ihn zu gehen, und da ihr Reden zu schwerfalle, beschließt sie, ihm zu schreiben (wozu ihr Name sie zu prädisponieren scheint, da βιβλίον im Griechischen „Buch“ bedeutet – doch wird dies von Ovid nicht gesagt). Zwar fällt ihr auch der Brief nicht leicht; ein Kampf zwischen Scham und Keckheit (527) führt zu zahlreichen Unterbrechungen und Neuansätzen. „Ovid Vgl. 8.824 ff. zu Erysichthons analogem Traum des Essens. Die Parallelen zwi­ schen den beiden Träumen weisen auf eine Verwandtschaft der Triebe nach Nah­ rung bzw. nach Geschlechtsverkehr.

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the writer toys with Byblis the writer.“348 Von den Epistulae heroidum kommt thematisch diesem Brief am nächsten der elfte von Canace an Macareus, weil es auch hier um erotische Geschwisterliebe geht; aber Canace schreibt nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes, hier jedoch geht es um den Beginn einer derartigen Beziehung. Blickt man auf diese Situation – eine Frau will einen Mann zu einer nicht statthaften Beziehung verführen –, ist vielmehr der vierte Brief von Phaedra an Hippolytus einschlägig, auch wenn es thematisch in den Metamorphosen um Inzest und nicht um Ehebruch geht. Caunus, so Byblis ziemlich zu Beginn ihres Briefes, hätte schon längst bemerken können, daß sie ihn nicht nur schwesterlich liebe (535 ff.) – eine eigenwillige Aussage, wenn man bedenkt, daß sie sich selber ihrer Liebe gerade erst bewußt gewor­ den war. Aber psychologisch gibt sie Sinn – die Frau will, daß ihre Affekte auch dem Geliebten auffallen, der damit beweist, daß er sich für sie interes­ siert. Nicht minder muß man die Mitteilung als übertrieben einstufen, sie habe alles versucht, um ihrer Leidenschaft Herrin zu werden. Nur Caunus könne sie retten, und geschickt verknüpft sie mir ihrer Stellung als Schwester – eigentlich einem Hinderungsgrund für ihre Liebe – die Hoffnung, der Bru­ der werde die Schwester nicht zugrunde gehen lassen (547 ff., 563). Die Frage nach der Legitimität ihrer Liebe solle man alten Männern überlassen; ihrer Jugend sei verwegene Liebe angemessen. „Quid liceat, nescimus adhuc et cuncta licere/ credimus et sequimur magnorum exempla deorum“ („Noch nicht wissen wir ja, was erlaubt ist, und wir erachten/ Alles erlaubt und tun nach dem Vorbild mächtiger Götter“, 554 f.) – so im Widerspruch zu dem früher anerkannten Unterschied zwischen Göttern und Menschen und in ei­ ner interessanten Variation des Satzes Fjodor Dostojewskis, wenn es keinen Gott gebe, sei alles erlaubt – denn nach Byblis ist vielmehr alles erlaubt, wenn man dem Vorbild der Götter folgt. Gefahr, entdeckt zu werden, bestehe nicht, da Geschwistern der Zugang zueinander offenstehe. Caunus weist den Liebes­ brief freilich empört zurück. Dies führt bei Byblis keineswegs zu einem Sin­ neswandel; wie bei den anderen Heldinnen der mittleren Bücher ist die ero­ tische Passion Argumenten unzugänglich. Das Scheitern ihres Unterfangens schreibt sie in ihrem zweiten Monolog nicht dessen unmoralischer Natur zu, sondern teils ihrer Voreiligkeit, teils dem Übersehen eines Vorzeichens, teils dem törichten Verzicht auf das Medium des mündlichen Austausches, in dem mit doppeldeutigen Bemerkungen das Terrain zu sondieren (588 ff.) bzw. das eigene Leiden deutlich zu machen gewesen wäre, teils den Ungeschicklichkei­ ten des Dieners, der den Brief überbrachte. (Bei der Kritik an der Schriftlich­ keit mag eine Erinnerung an Platons Phaidros 275d ff. mitschwingen.) Da nun freilich ihre Avancen nicht mehr rückgängig zu machen seien, müsse sie mit Thomas E. Jenkins (2000), 444.

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ihnen fortfahren. Keine Zurückweisung bringt sie zur Vernunft, und Caunus verläßt die gemeinsame Heimatstadt, um der Belästigung zu entgehen. Byblis irrt wie von Sinnen durch die Lande, bekennt offen ihre Leidenschaft (638 f.) und löst sich schließlich in Tränen auf, die zu einer Quelle werden. Die sehr lose angeknüpfte Geschichte von Iphis bietet eine weitere Exkur­ sion in die Psychopathologie des Eros, der hier allerdings durch ein Wunder in eine normale heterosexuelle Ehe einmündet. Der Kreter Ligdus teilt seiner schwangeren Frau Telethusa mit, er werde nur einen Knaben aufziehen, ein Mädchen jedoch töten. Ligdus ist sich dessen bewußt, daß er damit die „pie­ tas“, den Familiensinn, verletzt, und ordnet dies ungerne an (678 ff.), aber sei­ ne Armut lasse ihm keine Wahl. Seine verzweifelte Frau kann ihn nicht um­ stimmen, aber im Traum – der hier eine ganz andere Würde hat als bei Erysichthon und Byblis – erscheint ihr die in Ägypten als Isis verehrte Io, deren Leid das erste Buch geschildert hatte, und fordert sie in einem weiteren Akt der Solidarität zwischen Frauen (diesmal einer Göttin und einer Sterb­ lichen) dazu auf, ihre Angst fahren zu lassen, den Befehl ihres Mannes zu ignorieren und auf ihre Hilfe zu vertrauen. Als ein Mädchen geboren wird, läßt die Mutter es mit frommem Betrug („pia … fraude“, 711) als Knaben aufziehen; nur sie und die Amme wissen um das eigentliche Geschlecht. Der Kosename „Iphis“ paßt auf beide Geschlechter. Das Gesicht ziert einen Kna­ ben wie ein Mädchen (712 f.) –die Androgynie erinnert an Atalanta (8.322 f.). Mit dreizehn wird Iphis Ianthe verlobt. Die beiden lieben einander, aber mit unterschiedlichen Erwartungen. Ianthe hält Iphis wie fast alle anderen für einen Mann; Iphis dagegen liebt als Jungfrau die Jungfrau („ardetque in virgine virgo“, 725). Und dennoch läßt sich Iphis’ Liebe zu Ianthe nicht wirklich als lesbisch bezeichnen. Denn Iphis ist nicht glücklich mit ihrem Körper – sie möchte gerne ein Mann sein, um Ianthe auf normale Weise zu befriedigen. Zwar ist der moderne Begriff des Transgender-Menschen der Antike fremd; aber das Gefühl, im falschen Körper gefangen zu sein, ist Iphis und Transgender-Personen durchaus gemeinsam. Allerdings gibt es einen zentralen Unterschied. Während der heutige Begriff meist mit einer Auflehnung gegen die sozial geltenden Geschechterrollen verknüpft ist, will Iphis so sein, wie es die Gesellschaft von ihr (d. h., in deren Perspektive, von ihm) erwartet. Sie hadert nicht mit der Gesellschaft, sondern mit ihrem Leib und den Göttern, die ihn ihr gegeben haben. Es ist daher nicht falsch, aber doch einseitig, wenn man diese Geschichte als eine Form lesbischer Liebe bezeichnet – denn in deren Normalfall lieben zwei Frauen einander als Frau­ en und stehen zu ihrem Frauendasein.349 Doch weder weiß Ianthe, daß sie Allerdings ist in dieser Liebesgeschichte mehr an lesbischer Liebe involviert als am Beginn, nicht jedoch am Ende von John Lylys Gallathea. Denn die als Männer

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eine Frau liebt, noch will Iphis als Frau lieben. Im Gegenteil, sie betont in ihrem langen Monolog die Widernatürlichkeit lesbischer Liebe, die im Tier­ reich nicht vorkomme. „Urit oves aries, sequitur sua femina cervum;/ sic et aves coeunt, interque animalia cuncta/ femina femineo correpta cupidine nulla est.“ („Wollvieh brennt für den Widder; nachgeht dem Hirsche die Hin­ din;/ Vögel begatten sich so, und unter den sämtlichen Tieren/ Ist kein Weib­ chen von Brunst nach anderem Weibchen ergriffen“, 732 ff.) Zwar läßt sich dagegen leicht einwenden, gar manches komme nicht im Tierreich vor, was menschenspezifisch sei; aber Iphis und sicher auch Ovid sind von der Min­ derwertigkeit lesbischer Liebe überzeugt. In dem Briefe Sapphos an Phaon wird zweimal auf Sapphos lesbische Neigungen angespielt, und zwar mit abschätzigem Tone. Seit sie Phaon liebe, gefielen ihr ihre Mädchen nicht mehr – nach einer Liste von Namen wird hinzugefügt „atque aliae centum quas non sine crimine amavi“ („und hundert andere, die ich nicht ohne Schuld geliebt habe“, EH. 15.19). Und in der dreifachen Apostrophe der Frau­ en aus Lesbos heißt es am Ende „Lesbides, infamem quae me fecistis ama­ tae“ („Frauen aus Lesbos, die ihr mich dadurch, daß ihr von mir geliebt wurdet, verrufen gemacht habt“, 201; vgl. auch Tr. 2.365). Es ist zwar nicht ganz klar, woher der schlechte Ruf Sapphos rührt – aus ihrer Promiskuität oder aus der lesbischen Natur ihrer Liebe. Vielleicht will der Autor des Brie­ fes unterstellen, daß lesbische Beziehungen eher zur Promiskuität tendieren (was schwerlich stimmt). Aber wie auch immer es darum bestellt sein mag, eines ist klar: Die Liebe zu Phaon gilt als ehrenvoller als die früheren lesbi­ schen Liebeleien. Interessanterweise erstreckt sich in dem Briefe die negati­ ve Bewertung weiblicher Homosexualität nicht auf die männliche. Phaon sei im Alter, das auch Männer liebten (86); Phaon könne Venus, aber auch Mars gefallen (91 f.) – keine Verurteilung ist mit diesen Feststellungen verbunden. Für das moderne Denken, das wesentlich durch formale Strukturen gekenn­ zeichnet ist, ist diese Ungleichbehandlung männlicher und weiblicher Homo­ sexualität überraschend, ja, irritierend; aber wer sich an Platons Symposion (191d ff.) erinnert, ist an die Privilegierung männlicher Homosexualität ge­ genüber weiblicher gewöhnt. Allerdings teilt Ovid keineswegs Platons Über­ ordnung männlicher homosexueller gegenüber heterosexueller Liebe. Iphis geht sogar soweit, die lesbische Liebe für wahnwitziger zu erklären als diejenige ihrer Landsfrau Pasiphae zu einem Stier: „Meus est furiosior verkleideten Gallathea und Phillida verlieben sich ineinander im beiderseitigen Glauben, die jeweils andere sei ein Mann. Doch als ihr Geschlecht entdeckt wird, wollen sie einander trotzdem weiterhin lieben – bis Venus verspricht, eine von ihnen in einen Mann zu verwandeln. Über den Einfluß der Iphisgeschichte Ovids auf Lylys Komödie siehe Mark Dooley (2001).

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illo,/ si verum profitemur, amor; tamen illa secuta est/ spem Veneris, tamen illa dolis et imagine vaccae/ passa bovem est, et erat, qui deciperetur, adulter.“ („Mich treibt, zu gestehen die Wahrheit,/ Mehr denn sie sinnraubende Glut: sie durfte doch hoffen/ Auf den Genuß; sie paarte sich doch in dem Bilde der Färse/ Schlau mit dem Stier, und es war ihr vergönnt, zu verführen den Buh­ len“, M. 9.737 ff.) Ich bezweifle, daß Ovid Iphis hierin zugestimmt hätte – die Liebe zu einem Vernunftwesen müßte doch ein angebliches Naturgesetz auf­ wiegen, und zudem ist interspezifische Kopulation in der Natur selten genug. Aber als Ethopoiese ist Iphis’ Rede deswegen bemerkenswert, weil sie zeigt, wie unglücklich sie in ihrem Frauenkörper ist. Das Hindernis zum Vollzug ihrer Liebe ist weder ein Aufseher noch ein Gemahl noch ein Vater; auch wird ihre Liebe erwidert; es ist tiefergehend und beraubt sie der Hoffnung, die zur Liebe dazugehört (749 ff.). Es ist die Natur selber (758); und daher wird Ianthe nicht wirklich die ihre werden – „mediis sitiemus in undis“ („inmitten der Wellen werden wir dürsten“, 761) lautet die witzige Übertragung der AA. 2.606 genannten und M. 10.41 beschriebenen Tantalusqualen in den se­ xuellen Bereich. Auch ein Künstler wie Daedalus könne hier nicht helfen (742 ff.). Helfen kann nur Isis, an die sich die verzweifelte Mutter wendet, die mehr­ fach unter Vorwänden die Hochzeit verschoben hat,350 es aber nun nicht mehr kann. Die Gottheit erweist sich mächtiger als die menschliche Technik. Auf dem Rückweg vom Tempel wandeln sich Iphis’ Züge ins Männliche, und in der Hochzeitsnacht kann sich der Knabe Iphis seiner Ianthe bemächtigen: „potiturque sua puer Iphis Ianthe“ (797).

Bei Cydippe (EH. 21.45 ff.) ist die Verschiebung der Hochzeit dagegen wirklicher Krankheit geschuldet.

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4.  Ordo amorum: Die Reihenfolge der Liebesgeschichten

4.11 Metamorphosen, Buch 10. Cyparissus, Ganymedes, Hyacinthus: Ovids Bewertung verschiedener Formen männlicher Homosexualität. Die ersten Prostituierten: die Propoetiden. Zwischen Kunstwerk und Sexpuppe: Pygmalions Statue. Inzest mit einem nichts ahnenden Vater: Myrrhas Verrat. Erotische Attraktivität und riskantes Verhalten: Venus und Adonis. Weltvergessenheit der Verliebten und Verletzung der Gottheit: Hippomenes und Atalanta Das Thema homoerotischer Liebe, das am Ende des neunten Buches in der Gestalt lesbischer Liebe anklang, bestimmt große Teile des zehnten Buches, das auch das Inzestmotiv weiterführt, und ebbt erst zu Beginn des elften Bu­ ches ab. „We may consider the narrative from 9.666 to 11.66 as the Metamorphoses’ homoerotic or bisexual sequence.“351 Das Thema ergibt sich parado­ xerweise aus dem Scheitern einer der berühmtesten Liebesbeziehungen des antiken Mythos, derjenigen von Orpheus und Eurydice. Anders als diejenige von Iphis und Ianthe ist deren Hochzeit von üblen Vorzeichen charakterisiert und deren Ehe nur kurzlebig, da Eurydice bald einem Schlangenbiß erliegt. Orpheus gelingt es zwar, in die Unterwelt hinabzusteigen und deren Herr­ scher Dis und Porserpina in einer gesungenen (16, 40) meisterhaften Rede352 dazu zu überreden, seine verstorbene Frau mit ihm wieder aufsteigen zu las­ sen, u. a. durch einen Appell an der Götter eigene Liebesgeschichte, sofern diese nicht erfunden sei (28) – eine Skepsis, die von Orpheus’ Gesichtspunkt aus Sinn gibt, auch wenn sie innerhalb der von Ovid konstituierten Welt na­ türlich ungerechtfertigt ist. Zwar sei der Tod aller Menschen letztliches Schicksal; aber Eurydice sei zu früh gestorben, und er ziehe es vor, jetzt mit ihr zu sterben, als alleine weiterzuleben. Da allerdings Orpheus sich gegen das ihm erteilte Gebot kurz vor dem Ausgang aus der Unterwelt zurückwen­ det, weil er fürchtet, Eurydice sei zu schwach, verliert er sie für immer. Doch klagt sie darüber nicht – „quid enim nisi se quereretur amatam?“ („Was auch war zu beklagen für sie, als daß sie geliebt war?“, 61). Orpheus ist nach dem Verlust wie versteinert (64 ff.) – ein starker Kontrast zur Macht seines Gesan­ ges und eine Antizipation der bald folgenden wirklichen Versteinerung. Nach siebentägigem Fasten rafft er sich auf; und drei Jahre später erleben wir den John F.  Makowski (1996), 25. Ich verdanke manchen Hinweis diesem Aufsatz, der allerdings darunter leidet, daß er nicht ausreichend zwischen Ovids Bewer­ tung männlicher und weiblicher Homosexualität unterscheidet und viele Stellen einseitig interpretiert. Schon Beert C. Verstraete (1975) war differenzierter. 352 Siehe deren Analyse nach rhetorischen und musikalischen Kriterien bei von Al­ brecht (2014), 129 ff. „Konsequente musikalisch-lyrische Erfindung und Rhetorik schließen sich für Ovid nicht aus.“ (133) 351

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Sänger, auf den sich allerlei Bäume zubewegen, um seinem Liede zu lau­ schen. Daß Dichtung ihren Gegenstand versteinert und verjüngt, wissen wir schon; nun erleben wir, wie sie ihr Publikum belebt und zu wundersamer Bewegung anfacht, die die Grenzen zwischen den Reichen des Lebendigen verschwimmen läßt.353 Orpheus hat in der Zwischenzeit der weiblichen Liebe entsagt – sei es weil sie ihm Leid gebracht, sei es weil er Treue versprochen hatte. Das erzeugt keine Freude bei den Frauen, die sich in ihn verliebt haben, zumal er inzwi­ schen die Thraker die päderastische Liebe gelehrt hat (78 ff.). Orpheus’ Bezug zur homosexuellen Liebe spielt keine ausdrückliche Rolle in Vergils Behand­ lung des Orpheusmythos G. 4.453 ff., die nur diskret darauf anspielt und der Ovid in vielem folgt (M.10.26 zitiert daneben B. 10.69). Dabei lag Vergil das Thema sowohl persönlich als auch poetisch viel näher als Ovid (man denke nur an die zweite Ekloge). Anders als bei Catull, dessen Liebling Iuventus Carmina 48 erwähnt wird, anders als bei Horaz, dessen lyrisches Ich von gelegentlichen Liebesbeziehungen zu jungen Männern redet wie etwa zu Ly­ ciscus Epodes 11 oder zu Ligurinus Carmina 4.1 und 4.10 und etwa 3.20 ho­ mosexuelle Leidenschaften anderer beschreibt,354 anders als bei Tibull, des­ sen Gedichte 1.4, 1.8 und wahrscheinlich auch 1.9 mit seinem Geliebten Marathus zu tun haben, ja, selbst anders als bei Properz, der immerhin Gallus wohlwollenden Rat gibt, wie er seinen Liebling besser als Hercules Hylas schützen könne (1.20), spielen in Ovids Amores homosexuelle Liebeleien keine Rolle, und in der Ars amatoria lehrt er nur heterosexuelle Eroberungen.355 Er ist sicher „the most heterosexual of the Augustan poets“.356 Sein Hauptargu­ ment gegen männliche homosexuelle Liebe ist, daß nicht beide Partner gleich viel Lust empfinden – neben ihrer Unfruchtbarkeit ist die einseitige Konzen­ tration der Lust bei einem einzigen Partner auch in Plutarchs Ἐρωτικός (Über die Liebe) 5 (751 B ff.) das Hauptargument gegen die Überlegenheit homose­ xueller Liebe. Aber es lohnt, das ganze Distichon zu lesen: „Odi concubitus, qui non utrumque resoluunt:/ hoc est cur pueri tangar amore minus“ („Ich hasse den Geschlechtsverkehr, der nicht beide zum Höhepunkt bringt;/ das ist der Grund, warum ich durch die Liebe zu einem Knaben weniger ergriffen Man vergleiche Vergil, B. 6.27 f., wo Tiere und Bäume zu spielen bzw. die Wipfel zu bewegen beginnen, als Silenus zu singen anfängt. 354 Heterosexuelle und homosexuelle Liebesverwicklungen gelten bei Horaz, der wohl bisexuell war, manchmal geradezu als austauschbar: Epodes 11.3f. und 27 f., Sermones (Satiren) 2.3.325, Carmina 2.5.20 ff., 4.1.29 f. 355 Dabei thematisiert schon Lukrez in seinem Lehrgedicht homosexuelle Liebe (4.1052 ff.). 356 Makowski (1996), 29. 353

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werde“, AA. 2.683 f.). Aus dem vorangegangenen Vers geht hervor, daß 2.683 sich gegen alle Formen von Beischlaf wendet, die nicht auf gemeinsame Lust abzielen – das kann auch heterosexueller Geschlechtsverkehr sein, obwohl das bei homosexuellem wahrscheinlicher ist. Und „tangar minus“ ist nicht das­ selbe wie „non tangar“ („ich werde nicht ergriffen“) – der Wortlaut schließt homosexuelle Liebschaften Ovids nicht aus, zwingt allerdings auch nicht zu deren Annahme. Auch AA. 1.523 f. verurteilt nur den effeminierten homo­ sexuellen Mann, und 3.438 wendet sich gegen treulose, promisk lebende ho­ mosexuelle Männer nur, nachdem vor treulosen heterosexuellen Männern gewarnt wurde, die tausend Mädchen dasselbe sagen.357 Auch wenn Ovid heterosexuelle Liebe vorzieht, scheint es mir daher vor­ eilig, auf eine generische Verurteilung homosexueller Liebe durch ihn zu schließen. Sein objektiver anthropologischer Blick erlaubt ihm, auch das zu verstehen und anzuerkennen, was ihm selber nicht liegt. Gegen eine Verurtei­ lung spricht schon die Tatsache, daß von den zahlreichen Künstlern – Webe­ rinnen, Musikern, Architekten, Bildhauern – in den Metamorphosen Orpheus als Dichter unweigerlich Ovid am nächsten kommt, und Orpheus selbst be­ singt homo- wie heterosexuelle Formen von Liebe mit gleicher Empathie und Neugierde.358 Keiner erhält soviel Raum für die eigenen Erzählungen wie er; er vermittelt, als Schlußstein der zweiten Pentade, zwischen den Musen und Ovid. Seine Bevorzugung der Liebe zu Männern wird zudem zum Teil aus der Treue zu Eurydice erklärt – sie ist Ersatz, also defizient, aber doch auch partizipierend an der Kraft jener ersten Liebe, die beinahe den Tod überwand. Daß sein Orpheus misogyne Züge hat, ihm solche zumindest unterstellt wer­ den, übernimmt Ovid aus der Tradition. Schon Platon erzählt, Orpheus sei als Schwan wiedergeboren worden, da er aufgrund seines Todes von Frauenhand nicht von einer Frau geboren werden wollte (Politeia 620a) – bei Ovid ist allerdings der Tod durch die Mänaden nicht die Ursache, sondern die Folge seiner vermuteten Misogynie. Die Bäume, die sich um Orpheus versammeln, sind z. T. alte Bekannte: Die Heliaden (91) sind aus dem zweiten (340 ff.), der jungfräuliche („innuba“, 92) Lorbeerbaum aus dem ersten (548 ff.), die Myrte und die „lotos“ (eben­ falls „aquatica“, „am Wasser wachsend“, genannt, 96) aus dem neunten Buch Ob sich Ib. 293 „turpi dilectus amore“ („in schändlicher Liebe geliebt“) auf das Verhältnis Philipps II. zu Pausanias an sich oder nur auf die von Attalos veranlaß­ te Vergewaltigung des Pausanias und deren Duldung durch den makedonischen König bezieht, ist nicht deutlich. Zum „pedicare“ siehe das dritte Carmen Pria­ peum = Ovids Frg. VIII Owen. 358 Vgl. Janan (1988), 110 zu Ovids Orpheus: „His desire for knowledge rather than pure propaganda turns statements about love into questions.“ 357

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(335 bzw. 341) vertraut, Rebe und Ulme (100) werden uns noch 14.661 ff. be­ gegnen. Loser sind die Beziehungen etwa des Buchsbaums (97) auf die aus ihm gefertigte Flöte (12.158). Die „myricae“ („Tamarisken“, 97) sind wohl eine Hommage an Vergils B. 4.2. Angespielt wird kurz auf Attis’, des Gelieb­ ten Cybeles, Metamorphose in eine Fichte (103 ff.).359 Aber eine ausführliche Geschichte erzählt Ovid nur von dem Trauerbaum, der Zypresse, in die sich Cyparissus verwandelt hat. Dieser Liebling Apollos hatte eine besonders enge Beziehung zu einem Hirschen (109 ff.), der sicher als viel artifizieller geschildert wird als der zahme Hirsch aus Aeneis 7.483 ff., dessen Tötung durch Ascanius den Krieg auslöst – aber das gilt für alle Naturbeschreibun­ gen Ovids, von dem Bad Dianas zur Grotte des Achelous.360 Daß seine unbe­ absichtigte Tötung des Hirschen Cyparissus das Herz bricht und er trotz aller Mahnungen Apollos das Tier nicht überleben will, sondern als immergrüner Baum in steter Trauer weiterwest, ist angesichts des Verlustes eines bloßen Tieres etwas affektiert; aber immerhin nimmt der Junge seine Trauer ernster als Orpheus, der nur sieben Tage lang gefastet hat, auch wenn er Dis erklärt hatte, Eurydice nicht überleben zu wollen. Allerdings zeigt die Geschichte die Asymmetrie der Beziehung: Cyparissus empfindet für Apollo keine Liebe, die stark genug wäre, seinen Todeswunsch zu überwinden – er ist Objekt der gött­ lichen Liebe, und seine eigene Zuneigung zum Hirschen ist stärker als die zum Gott. Vermutlich will Ovid damit asymmetrische Formen von Liebe kritisie­ ren – doch wissen wir, daß sie nicht auf homosexuelle Beziehungen beschränkt sind. Das Thema „unbedachtes Verursachen eines Todes“, das auch weitere Geschichten des Buches charakterisiert, ist selbstredend durch Orpheus’ eige­ ne Geschichte bestimmt. „Spätestens jetzt muß klargeworden sein …, daß die Baumversammlung keinen ungetrübten locus amoenus begründet.“361 In dieser Umgebung, und inzwischen auch von Vögeln und wilden Tieren umringt, fängt Opheus zu singen an. Er will feierliche Themen wie die Gi­ gantomachie, die er früher besang, nun vermeiden und sich auf von Göttern geliebte Knaben und unerlaubte weibliche Leidenschaften konzentrieren (152 ff.); man denkt an Ovids eigenes Bekenntnis Amores 2.1.11 ff. Orpheus beginnt mit dem Raub des Ganymedes durch Jupiter (155 ff.) – einem homo­ sexuellen Gegenstück zu den in den ersten Büchern dargelegten sexuellen Raubzügen der olympischen Götter, auch hier nicht zur Freude Junos. Die Zu seiner Selbstentmannung als Strafe für seine Untreue Cybele gegenüber, die er durch die Beziehung zu einer Nymphe verriet, siehe F.  4.221 ff. 360 Ich schließe nicht aus, daß die Bekränzung des Hirschen mit Blumen bei Vergil wie Ovid beeinflußt ist durch das geschichtliche Faktum der Bekränzung der zah­ men Hindin des Sertorius (Plutarch, Σερτώριος 11). 361 Jörg Döring (1996), 48. 359

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Beziehung zwischen Apollo und Hyacinthus ist verglichen damit ein großer moralischer Fortschritt. Denn Apollo paßt sich an die Interessen seines spar­ tanischen Lieblings an – er gibt seine Leier und Pfeile auf und jagt statt des­ sen mit Garnen mit seinem Freund, „inmemor ipse sui“ („an sich selbst nicht denkend“, 171). Gibt es eine bessere Charakterisierung von Liebe? Wenn am Ende des Buches (532 ff.) von Venus gesagt wird, sie verleugne bei der Jagd mit Adonis ihr eigenes Naturell und ahme Diana, Apollos Schwester, nach, wird derselbe Gedanke wiederholt. Durch die Wiederaufnahme geben wer­ kimmanent Orpheus, werkextern Ovid zu erkennen, daß es wertvolle und wertlose Formen von Liebe gibt, und zwar sowohl homo- als auch hetero­ sexuelle. Beide Liebesgeschichten scheitern, bezeichnenderweise wegen des riskanten Verhaltens, in dem sich die Liebenden betätigen. Im ersten Fall ist es Apollo, der, ähnlich Cyparissus, aber als Gott ohne die Möglichkeit zum Mitsterben (202 f.), unabsichtlich beim Diskuswurf Hyacinthus tötet; im zweiten Fall bringt Adonis sich selbst gegen den Rat Venus’ in Lebensgefahr, der er erliegt. Denn Frauen scheinen weniger zu Risikoverhalten zu neigen als Männer. Die Szene, in denen sich Apollo und sein Freund entkleiden, einsal­ ben und glänzen, ist von zarter Erotik (176 f.); doch der tödliche Wurf folgt nur wenige Zeilen später. Apollo erbleicht in gleichem Maße wie der sterben­ de Freund (185 f.); aber all seine Bemühungen sind ebenso vergeblich, wie es diejenigen des Cephalus waren. Sein Schuldgefühl wird allerdings gemildert durch dieselbe Einsicht, die Eurydice mit ihrem endgültigen Tod versöhnte: Der Unfall ereignete sich im Spiel, der zur Liebe dazugehört. „Quae mea culpa tamen? Nisi si lusisse vocari/ culpa potest, nisi culpa potest et amasse vocari.“ („Doch wie hab’ ich gefehlt, wenn Fehl nicht etwa zu nennen/ Heite­ res Spiel, wenn Fehl nicht gar mein Lieben zu nennen?“, 200 f.) Die Meta­ morphose des Blutes des Knaben in eine Hyazinthe (in die sich auch Aiax’ Blut 13.394 ff. verwandeln wird), die Einrichtung des bedeutendsten spar­ tanischen Festes, der Hyakinthien, und das Versprechen, im Lied seiner zu gedenken, verschaffen einen gewissen Trost. Selbstredend sind auch Ovids Metamorphosen in diesem Teil des Werkes als eine Verwirklichung des Ver­ sprechens Apollos zu lesen, weil auch durch sie Hyacinthus weiterlebt. Vermutlich nur als Motivierung der Pygmaliongeschichte werden zwei kurze Mythen eingefügt, die selbst untereinander recht lose verknüpft sind. Die Kerasten, gehörnte Menschen auf Zypern, verletzen die Gastgeberpflich­ ten auf besonders schauerliche Weise, da sie Fremde auf dem Altar gerade des gastlichen Jupiters schlachten, dessen Anblick Fremde eigentlich beru­ higt. Wir haben hier eine Steigerung des Themas der Mißachtung der Gast­ freundschaft, das von der ersten Metamorphose an immer wieder anklingt, kürzlich im achten Buche. Lycaon wollte Jupiter, seinen Gast, töten, aber er lockte nicht Unschuldige mit dem heuchlerischen Versprechen, den Gott der

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Gastfreundschaft zu ehren. Obgleich Venus die Kerasten in Stiere verwandelt, wozu ihre Hörner geradezu einladen, wollen die Propoetiden ihre Göttlich­ keit nicht anerkennen. Warum, wird nicht gesagt; auch ist ihre Charakterisie­ rung als „obscenae“ (vielleicht hier „verächtlich“) mangels unstrittiger Paral­ lelstellen unklar. Auf jeden Fall bestraft sie Venus dadurch, daß sie sie zu den ersten Prostituierten macht (238 ff.). Sie verlieren das Schamgefühl, und nach dem Erstarren des Blutes des Gesichtes versteinern sie „parvo … discrimine“ („ohne daß eine große Veränderung eintritt“, 242). Zwei Dinge sind an dieser kurzen Geschichte bemerkenswert. Erstens setzt die Prostitution die Zuhälte­ rei Erysichthons fort. Aber dessen Tochter wurde gegen ihren Willen ver­ kauft; hier geschieht die Prostitution aus eigenem Antrieb (wenn auch als Folge göttlicher Strafe). (Auch Herse hatte Mercurius nur den Zugang zu ihrer Schwester verkaufen wollen, nicht sich selber.) Ovid hat vermutlich die Käuf­ lichkeit der Liebe als ein ähnliches Sakrileg angesehen wie die Verletzung der Gastfreundschaft. Selbst das Fordern von Geschenken durch die Geliebte stört ihn zutiefst (Am. 1.10.11 ff., 21 f., 24, 30 ff., 63 f.); und den Anwaltsberuf hat er auch deswegen aufgegeben, weil er auf dem Forum seine Stimme nicht prostituieren wollte (Am. 1.15.5f.; vgl. 1.10.39). Zweitens erkennt Ovid im Schamgefühl etwas Entscheidendes – wer es aufgibt, verliert seine Mensch­ lichkeit. Vermutlich hat er dabei auch die Rede des Protagoras in Platons gleichnamigem Dialog im Kopf, in der von der Unersetzlichkeit der αἰδώς (322c f.) in jedem einzelnen Menschen die Rede ist. Zypriot ist auch Pygmalion, der von den Propoetiden angewidert deren Laster allen Frauen zuschreibt und daher ehelos lebt. Pygmalion ist Bildhau­ er, und er schafft aus Elfenbein eine Statue von solcher Vollkommenheit, wie sie keine wirkliche Frau aufweist. In diese allerdings verliebt er sich; denn sie ist so lebensecht, daß man glaubt, sie würde sich bewegen, hinderte sie nicht die Scheu („reverentia“, 251; vermutlich eine Bezugnahme auf den „pudor“, der den Prostituierten abgeht). „Ars adeo latet arte sua“ („So vollkommen verbirgt sich im Kunstwerk die Kunst“, 252). Da Pygmalion gleichsam ver­ gißt, daß die Statue eine Schöpfung seiner Kunst ist, behandelt er sie wie ei­ nen wirklichen Menschen, küßt sie, wähnt, auch von ihr Küsse zu empfangen, umarmt sie und fürchtet, Druckstellen zu hinterlassen. Er bringt ihr allerlei Geschenke wie Bernstein, das erneut an die Heliaden erinnert, und Muscheln, aber auch Lebendiges wie Blumen und Vögel. Er kleidet und schmückt die Statue, findet sie aber nackt genauso schön, legt sie in sein Bett und nennt sie „Bettgenossin“ („tori sociam“, 268).362 Admetos hatte nach dem Tode seiner Frau etwas Ähnliches zu tun geplant (Euri­ pides,  Ἄλκηστις (Alcestis), 348 ff.). Vgl. auch EH. 13.151 ff.

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Das gute Ende der Geschichte sollte einen nicht übersehen lassen, daß Pyg­ malion pathologische Züge trägt. Er ist zwar kein normaler Fetischist, weil seine Statue sein eigenes Werk, ja, ein bedeutendes Kunstwerk ist und sich der Kränkung seines Idealbildes der Frau verdankt. Aber das ändert nichts daran, daß die Befriedigung seiner erotischen Bedürfnisse an einem leblosen Objekt krankhaft ist. Denn seine Statue ist sowohl ein eindrucksvolles Er­ zeugnis menschlicher Gestaltungskraft als auch eine Sexpuppe – diese Ambi­ valenz kennzeichnet die Geschichte und wirkt trotz der märchenhaften Lö­ sung weiter. Man wird den Verdacht nicht los, daß auch nach ihrer Belebung die Gattin Pygmalions, die namenlos bleibt, sein Phantasiebild bleiben und nicht in ihrem eigenen Dasein ernst genommen werden wird. Denn in der übernächsten Generation bricht, mit Myrrha, der Tochter seines Sohnes Ciny­ ras’, eine weitere Form erotischer Abartigkeit hervor, die der Pygmalions in­ sofern verwandt ist, als Myrrha zwar nicht mit einer Puppe spielt, aber doch mit ihrem Vater, der keine Ahnung davon hat, daß es seine Tochter ist, die er schwängert. Pygmalions Puppenstatue ist ein Werkzeug seiner Triebbefriedi­ gung; Myrrha dagegen instrumentalisiert einen lebendigen Menschen, um sich das zu holen, was sie zu brauchen glaubt. Sie ist daher zweifelsohne mo­ ralisch verwerflicher.363 Wir haben schon gesehen, daß die Versteinerungen des Perseus und die Verjüngungen der Medea nach Ovid zwei Aspekte der Kunst erfassen – ihre Flucht aus dem Leben in ein Reich des Geistes und ihre gleichzeitige Fähig­ keit, durch ihre Vergeistigung Altgewordenes zu regenerieren. Pygmalion ist als Künstler ein Erbe des Perseus, erreicht allerdings „durch wunderbare Kunst“ („mira … arte“, 247), was dieser ohne eigenes künstlerisches Können dank des einfachen Vorzeigens des Haupts der Medusa erzielte. Aber sosehr sein Werk selbst ohne Leben ist, sosehr hilft es ihm, seine Gefühle für Frauen am Leben zu erhalten, die ohne das künstlerische Ideal sich völlig ins Miso­ gyne verkehrt hätten. Seine Küsse, begleitet von dem Irrglauben, sie würden erwidert (256), können Zeichen des anbrechenden Wahnsinns sein; aber sie können auch als Vorstufen auf dem Wege zur Liebesfähigkeit gedeutet wer­ den. Entscheidend ist, daß Pygmalion sich mit seinem Kunstwerk nicht abfin­ det, sondern merkt, daß ihm etwas abgeht. Beim Festtag der Venus wendet er sich an die Gottheit mit der Bitte, ihm möge als Gattin gewährt sein – nicht die Jungfrau aus Elfenbein, sondern jemand, der ihr ähnlich sei (274 ff.). Zwar spricht er ersteres nicht aus, weil er es nicht wagt, an ein Wunder zu glauben; aber hinter seiner Scheu steckt eine objektive Vernunft – selbst wenn es be­ lebt werden sollte, ist das Werk nicht mehr dasselbe wie vorher. Nach Hause Auch das Inzestmotiv wird insofern vorweggenommen, als Pygmalion auch der Erzeuger („Vater“) seiner Frau ist; vgl. von Albrecht (2014), 88.

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zurückgekehrt wendet sich Pygmalion wieder im Bett seiner Puppe zu, küßt sie, spielt mit ihren Brüsten – doch sie erwärmt sich dabei, dem Druck der Finger weicht lebendige Haut, Venen werden spürbar.364 Ein Zweifel, wie er ihn anfangs befiel, ist nun ausgeschlossen; aber bevor er weiterschreitet, dankt der Künstler der Göttin – anders als es eine weitere Figur dieses zehnten Bu­ ches tun wird. „…oraque tandem/ ore suo non falsa premit dataque oscula virgo/ sensit et erubuit timidumque ad lumina lumen/ attollens pariter cum caelo vidit amantem.“ („Nun endlich vereint er/ Wirklichem Munde den Mund, und die Jungfrau fühlt mit Erröten,/ wie er sie küßt, und scheu auf­ schlagend zum Lichte die lichten/ Augen erblickt sie zugleich mit dem Him­ mel des Liebenden Antlitz“, 291 ff.) Die Verse gehören zu den dichtesten und schönsten des Werkes. Nochmals wird betont, daß die der Puppe gegebenen Küsse keine wirklichen Küsse waren, weil solche ein Lebewesen vorausset­ zen; und die nun wirklichen Küsse tragen dazu bei, daß die Jungfrau wie Dornröschen im Märchen erwacht. Daß sie errötete, ist Zeichen ihrer Mensch­ werdung und eine Inversion des Verhaltens der Propoetiden, die umgekehrt mit dem Verlust der Scham zu Steinen wurden.365 Daß sie Himmel und Ge­ liebten zugleich erblickt, ist einerseits eine Trivialität, da sie jetzt erstmals sieht; und doch ist andererseits der Satz eine wunderbare Umschreibung der Neuerfahrung der Welt, die mit der ersten Liebe einsetzt. Und die Ausnutzung der doppelten Bedeutung von „lumen“ – „Licht“ wie „Auge“ – deutet darauf hin, daß nicht nur zwischen den Augen der Liebenden, sondern auch zwischen ihnen und dem Licht, das die Welt durchwaltet und sichtbar macht, eine Affi­ nität besteht.366 Poetischer Ausdruck dieser Harmonie von Ich, Du und Welt ist Venus’ persönliche Anwesenheit bei der Hochzeit des Paars (295), die mit Orpheus’ eigenem Unglück kontrastiert. Wir hören von keinen weiteren Kunstwerken des Pygmalion, während wir diese schöne Geschichte dem un­ glücklichen Orpheus schulden. Verdankt sich Kunst dem Unglücklichsein? Die Geschichte verbindet zwei frühere Mythen. Einerseits erinnert Venus’ Eingreifen an dasjenige Isis’. Damals war es freilich eine Frau, die Mutter, die sich bittend an die Gottheit wandte; jetzt ist es ein Mann. Dieser hat zwar je­ den Grund, auf seine Leistung stolz zu sein, aber Künstlerstolz ist mit religiö­ ser Gesinnung und zumal Dankbarkeit durchaus verträglich. Es gibt Dinge, die nach Ovid dem Menschen unverfügbar sind – die Geschlechtsumwand­ Edgar M. Glenn bemerkt zu Recht angesichts dieser Beschreibung, daß trotz sei­ ner Wendung zu homosexueller Liebe „Orpheus does like feminine beauty“ (1986; 139). 365 Vgl. dazu Alessandra Romeo (2012), 98. 366 Plotin hat diesen Gedanken eloquent artikuliert Enneaden 1.6.9 (1.117.29–32 Henry/Schwyzer) 364

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lung ebenso wie die Belebung von Toten; wer wie Daedalus die Grenzen des Menschen nicht kennt und auf die Götter verzichten zu können glaubt, dem ergeht es schlecht. Allerdings zeigt das Scheitern des Orpheus, daß Bitten an die Götter keine Erfolgsgarantie sind. Die Belebung von totem Material weist zweitens zurück auf die Entstehung der Menschen aus Steinen nach der großen Flut. Wortwiederholungen – z. B. „rigorem“/„rigore“ (1.401, 10.283), „molliri“/„mollescit“ (1.402, 10.283), „flecti“/„flectitur“ (1.409, 10.286), „vena“/­ „venae“ (1.410, 10.289) – schlagen eine deutlich sichtbare Brücke.367 In beiden Fällen ist der Übertritt ins Leben ein Werk der Gottheit; aber die vorbereitende Arbeit ist ganz anderer Natur. Deucalion und Pyrrha sammeln und werfen Steine; Pygmalion schnitzt ein Meisterwerk und belebt es mit seinen Küssen. Der menschliche Anteil, der zu einem Wunder erforderlich ist, hat zugenom­ men. Doch der entscheidende Schritt muß von der Gottheit ausgehen. Der Myrrhamythos ist nicht einfach eine Wiederholung des Byblismythos, nur durch die Ersetzung der Liebe zum Bruder durch diejenige zum Vater unterschieden.368 Gewiß, der Inzest mit dem Vater ist noch abscheulicher – wenn eine Frau einen Partner nicht wählen darf, ist es dieser (318); den Vater so zu lieben ist schlimmer als ihn zu hassen (314 f.).369 Aber die materiale Variation alleine würde langweilen. Ovids psychologische und literarische Kunst besteht auch nicht einfach darin, daß Myrrhas Bemühungen anders als diejenigen Byblis’ vom Erfolg gekrönt sind. Nein, das Entscheidende ist, daß sie deswegen erfolgreich sind, weil Myrrha ein ganz anderer Charakter ist als Byblis.370 Sie bedarf keines Traumes, um sich ihrer Leidenschaft klarzuwer­ Vgl. Douglas F. Bauer (1962), 12. Der reiche Aufsatz vertritt auch die These, die Pygmalionepisode (10.243–297) trenne den vorangehenden (7377 Verse) und den folgenden Teil (4554 Verse) des Gesamtwerkes im Verhältnis des Goldenen Schnittes (18 ff.). Ich bin mir keineswegs sicher, daß dies einer Intention ent­ spricht, wage aber nicht, dies auszuschließen, da ich eine analoge Absicht im Phaidros nachgewiesen zu haben glaube (2008). Freilich gibt es dort eine deutli­ che Anspielung auf diese mathematische Proportion – bei Ovid nicht. 368 Behandelt hatte den Mythos innerhalb der lateinischen Literatur in seiner Zmyrna Catulls Freund Gaius Helvius Cinna (Catull, Carmina 95.1 ff.; vgl. 10.29 f.). Auf Cinnas gewaltsamen Tod durch den Mob nach Caesars Ermordung spielt Ovid Ib. 537 f. an. 369  AA. 1.283 ff. folgt der Myrrhamythos unmittelbar auf denjenigen von Byblis. Daß es sich um eine moralische Antiklimax handelt, ergibt sich daraus, daß sich Pasi­ phaes sodomitische Liebe sofort anschließt. Die abweichende Einordnung der nur gestreiften Pasiphaegeschichte in den Metamorphosen ergibt sich aus dem chro­ nologischen Korsett, in das die thematische Behandlung eingezwängt werden muß, was immer wieder zu Abweichungen von der „Logik“ der Erotik führt. 370 Dazu paßt, daß Ovid keine Erklärung ihrer Verliebtheit gibt. Bei Hyginus, Fabu367

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den. Sie weiß von Anfang an, was sie begehrt, und sie verwendet nicht mehr als zwei Verse auf die Bitte an die Götter, diesem Verbrechen zu widerste­ hen – nicht ohne gleich hinzuzufügen: wenn es denn eines sei (322 f.). Denn die Tierwelt weise reichlich Inzest auf (324 ff.) – eine Aussage, die so nicht stimmt und die nicht nur Ovid selber schwerlich als wahr erachtet haben wird, sondern auch Myrrha selbst kaum glaubt, da sie später (353) die Widernatür­ lichkeit ihrer Leidenschaft zugibt. Jetzt aber paßt jene zu Myrrhas Gemüts­ zustand, die auf angebliche Naturbeobachtungen zurückgreift, um sich die Befriedigung ihrer Begierde zu erlauben. Man beachte den Unterschied, daß Iphis aufgrund von ebenfalls unvollständigen Naturbeobachtungen an ihrer eigenen Situation litt (9.731 ff.) und daß Byblis sich nicht auf die Natur, son­ dern auf die Götter berief (9.554 f.). Myrrha statuiert einen Gegensatz zwi­ schen Natur („natura“) und Gesetzen („leges“, „iura“, 10.329 ff.), ein Gedan­ ke, der zurückgeht auf Hippias,371 den Myrrha aber dadurch überbietet, daß sie den Gegensatz als von menschlicher Bosheit ersonnen ausgibt. Ja, auch bei manchen Stämmen sei Inzest statthaft – warum sei sie nicht bei ihnen gebo­ ren und werde durch den Zufall des Geburtsorts („fortuna … loci“, 335) be­ nachteiligt? Benachteiligt werde sie auch – so fährt sie nach nur kurzem moralischem Schwanken fort – durch die bloße Tatsache, daß sie Tochter des Cinyras sei (337 ff.). Fliehen könne sie nicht, weil sie zu sehr für den Vater entbrannt sei; und auch wenn sie am Ende ihres Monologes sich über die Verwirrung Rechenschaft gibt, die ein Inzest in den familiären Beziehungen stiftet, kann sie ihre Rede doch nur beenden mit dem Wunsch, auch der Vater möge ihren Wahnsinn teilen (355). Freier weist sie ab (315 ff., 356), und dem Vater erklärt sie, sie suche einen Mann, der ihm ähnlich sei (364), was den Vater als vermeintes Zeichen des Familiensinns rührt, eine Reaktion, die je­ doch bei Myrrha Verlegenheit auslöst. Unfähig, mit der Situation umzugehen, versucht sie, sich zu erhängen, wird aber dabei von der Amme gerettet, die den Grund ihrer Verzweiflung wissen will. Mit sicherem Instinkt errät diese eine unglückliche Liebe, er­ starrt aber, als sie deren Gegenstand erfaßt. Da sie sie nicht umzustimmen vermag und da Myrrha ansonsten sterben will, verspricht und schwört sie je­ doch, bei der Erfüllung ihres Wunsches zu helfen, wobei sie das letzte Wort ihres Satzes, „Vater“, nicht auszusprechen vermag (429 f.). Diese Amme, die an diejenige Phaidras in Euripides Hippolytos erinnert, wird nun trotz ihrer anfänglichen Widerstände zur treibenden Kraft („male sedula“, „auf schlimme Weise betriebsam“, 438). Das Kupplerwesen scheint lae 58 ist Smyrnas (wie sie dort heißt) Leidenschaft eine Bestrafung des Hochmu­ tes ihrer Mutter durch Venus. 371 Vgl. Platon, Protagoras, 337 cf.

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ihr zu liegen; vermutlich kompensiert es den Mangel an eigener sexueller Aktivität, wie es das so oft tut. Als während des Ceresfestes Myrrhas Mutter Cenchreis neun Tage lang zur Keuschheit verpflichtet ist, berichtet sie dem trunkenen Vater von einem Mädchen, das ihn liebe; als dieser deren Alter wissen will, antwortet sie, es sei demjenigen Myrrhas gleich (440 f.), was an Myrrhas Antwort im V. 364 erinnert, wobei nun „similis“ durch „par“ ersetzt wird. Myrrha reagiert mit gemischten Gefühlen auf die Nachricht – „tanta est discordia mentis“ („so groß ist des Gemütes Entzweiung“, 445; ähnlich 9.630 zu Byblis). Als Myrrha u. a. aufgrund übler Vorzeichen von ihrem Vorhaben abstehen will, drängt sie die Alte (deren weiteres Schicksal ignoriert wird) in das Bett des Vaters. Im dunklen Raum redet Cinyras das vermeintlich un­ bekannte Mädchen als „Tochter“ an; sie erwidert mit „Vater“ und läßt sich schwängern. Doch nach einigen Nächten bringt der Vater ein Licht mit und erkennt die Tochter. Er will sie töten, doch ihr gelingt die Flucht. Die Götter bittet sie um eine Metamorphose, da sie weder das Reich der Lebenden noch das der Toten beschmutzen will (485 ff.), und wird in einen Myrrhenbaum verwandelt, zu dessen Harz ihre Tränen werden, die sie ehren, weil sie von Schuldbewußtsein zeugen.372 Mit Myrrhe wird von den Najaden ihr Sohn Adonis gesalbt, der erst nach ihrer Verholzung durch einen Riß in der Rinde geboren wird und gleich durch seine Schönheit besticht, die Ovid derjenigen gemalter Amores vergleicht (515 ff.). Die Myrrhageschichte ist einer der moralischen Tiefpunkte des Werkes. Nicht nur ist der Vater-Tochter-Inzest besonders abstoßend, wie Myrrha letzt­ lich selbst weiß und am Ende deutlich anerkennt. Noch schlimmer ist der Betrug, den Myrrha, gewiß mit Hilfe und auf Anregung der Amme, begeht. Wir hatten beim Callistomythos schon gesehen, daß die Verführung der Nymphe durch Jupiter in Dianas’ Gestalt noch niederträchtiger ist als die pure Vergewaltigung. Aber immerhin kann Jupiters Verwandlung nur Küsse entlocken; die eigentliche Vergewaltigung erfolgt in eigener Gestalt, und Callisto weiß, was ihr da widerfährt. Cinyras dagegen weiß nicht, wen er da schwängert. Sicher, er weiß, daß er mit einem jungen Mädchen sexuell ver­ kehrt; und vielleicht ist in seinem Zorn nach der Entdeckung auch ein Stück Wut über die eigene Bereitschaft enthalten, wenn auch unter Alkoholeinfluß seiner Frau untreu zu werden. Aber die eigene Mitschuld ändert nichts daran, daß er zum Inzest nie einen Vorsatz hatte. In einer Welt wie der antiken ist „Est honor et lacrimis“ (501) verwandelt Vergils ontologischen Satz „Sunt lacri­ mae rerum“ („Es gibt Tränen für die Dinge“, aber wohl auch „der Dinge“, Aeneis 1.462) ins Psychologische. Daß Tränen wie Worte wirken können, heißt es EP. 3.1.158. Zum Tränenmotiv in den Metamorphosen siehe Caroline HollenburgerRusch (2001).

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eine derartige objektive Verunreinigung ganz unabhängig von der persönli­ chen Schuld ein furchtbarer Makel, und diesen hat Myrrha ihm arglistig an­ getan. Wie offen war verglichen mit ihr Byblis! Sie schrieb direkt an den Bruder (auch wenn sie kokett wünschte, er werde den Absender erst am Ende erkennen, 9.531 ff.), und sie versuchte, ihn im Gespräch zu überzeugen. Myrrha dagegen gibt sich dem Vater nicht zu erkennen, bringt ihn aber dazu, etwas zu tun, was er verabscheut. Dante hat nicht zu Unrecht Inferno, 30.37 ff. Myrrhas Betrug nach dem Inzest als das schwerere Vergehen genannt, dessentwegen sie bestraft wird. Der Inzest mag gegen die Natur verstoßen; der Betrug unter­ höhlt das Vertrauen, ohne das Menschen nicht miteinander leben können und dessen zumal die Familie bedarf. Die Verbindung dieses Verrats am eigenen Vater mit sexueller Verführung ist die ultimative Abkopplung der Sexualität von jener Liebe, die sie allein weihen kann. Durch einen Pfeil ihres Sohnes Amor geritzt verliebt sich Venus leiden­ schaftlich in Adonis, der inzwischen zu einem herrlichen Mann herange­ wachsen ist.373 Man erinnert sich an Apollos Verwundung durch Amor und an den Auftrag, den Venus ihrem Sohne hinsichtlich Dis’ gab – nun ist sie selbst Opfer. Ja, sie bemerkt die Tiefe ihrer Wunde gar nicht (527 f.) – man denkt an Byblis, die verliebt war, bevor sie es wußte. Wie schon erwähnt, ist die neue Liebesgeschichte ein heterosexuelles Gegenstück zu derjenigen von Apollo und Hyacinthus – Orpheus ist genau so fair in ihrer Darstellung, wie es Ovid bei der Schilderung jener ersten war. Venus’ Liebe ist aufrichtig, denn sie ist mit Opfern verbunden. Sie meidet die ihr heiligen Orte, ja, sogar den Olymp: „Caelo praefertur Adonis“ („Dem Himmel zieht sie Adonis vor“, 532) – vermutlich in bewußter Überbietung der Statue Pygmalions, die Himmel und Liebhaber zugleich erblickte (294). Nicht mehr pflegt sie träge im Schat­ ten ihre Schönheit, sondern sie folgt ihrem Geliebten bei der Jagd durch Wald und Stein, allerdings bei der Jagd nur von Wild, das dem Menschen nicht gefährlich werden kann.374 Ihren Geliebten warnt sie vor anderem Wild, wie Orpheus in einer Apostrophe an den toten Adonis hervorhebt, die gleichzeitig mit einem Irrealis die Vergeblichkeit dieser Warnung unterstreicht (542 f.). Adonis, so Venus, solle nicht auf ihre Kosten tollkühn sein (545, 707) – denn wer liebt, hat Verantwortung für den Geliebten und gehört sich selbst nicht mehr so wie zur Zeit seiner Bindungslosigkeit. Sein Tod betrifft nicht mehr nur ihn allein. Und doch kann man sich fragen, ob sich Venus in Adonis ver­ liebt hätte, wäre er nicht als Jäger zu riskantem Verhalten bereit. Unter einer Die zum Thema des Werkes passende Schilderung des raschen Wandels der Zeit (519 f.) wird poetisch überboten F.  6.771 f. 374 Phaidra in Euripides’ Hippolytos 215 ff. hatte dies nur gewünscht, nicht wirklich getan. 373

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Platane ruhend erzählt Venus (innerhalb von Orpheus Erzählung), warum sie besonders Löwen hasse. Zweck ihrer Erzählung scheint ein doppelter zu sein: Die Geschichte menschlicher Liebe soll Adonis erotisch erregen (578 f.) und ihm zugleich klarmachen, daß man Venus nicht ungestraft vernachlässigt. Die schöne und schnellfüßige Jungfrau Atalanta, von der Venus spricht, ist Tochter des Schoeneus (609, 660), also nicht identisch mit der arkadischen Jägerin des Kalydonischen Ebers. Dennoch entspricht Ovids Schilderung der androgynen Züge der Jägerin (8.322 f.) diejenige des jungfräulichen Gesichts des Hippomenes, wie es die zweite Atalanta wahrnimmt (10.631). 375 In der Tat besteht ein gewisser Parallelismus zwischen beiden Geschichten, weil in beiden eine physisch ungewöhnlich starke Frau und ein mutiger Mann sich ineinander verlieben, den Rest der Welt vergessen und an der Umgebung scheitern. Doch vier Unterschiede zeigen, welcher Fortschritt inzwischen er­ folgt ist. Erstens ist die hinderliche Umgebung in jenem ersten Fall menschlich (die Ursprungsfamilie), im zweiten göttlich. Zweitens ist Meleagros gewalt­ tätig, Hippomenes nur undankbar. Drittens kann das zweite Paar, anders als das erste, seine Liebe vollziehen, wenn auch nur für kurze Zeit. Und viertens ist nach dem Aufstieg der Frauen in den zentralen Büchern die zweite Atalan­ ta viel dominierender als die erste. Ihr hat ein Orakel Apollos, das wohl von Ovid erfunden ist,376 von der Ehe abgeraten, da diese zu einem Selbstverlust bei fortgesetztem Leben, also zu einer Metamorphose, führen werde (565 f.). Den zahlreichen Freiern legt sie daher die Bedingung auf, sie im Wettlauf zu besiegen; im Falle einer Niederlage müßten sie sterben. Hippomenes kann es nicht glauben, daß trotzdem so viele ihr Leben riskieren und verlieren – bis er sie selbst unverhüllt sieht. Nun weiß er, daß der Preis das Risiko wert ist. Sein Lob der Schönen stimuliert seine Begierde, in den Wettbewerb einzutreten, denn ein Gott helfe den Wagenden (586). Paradoxerweise ist es der Anblick der unfaßbar schnell Rennenden, der ihn in seinem Entschluß bestärkt, um sie zu werben. An einer zauberhaften Stelle besingen Ovid-Orpheus-Venus die bewegte Schönheit der Läuferin: „Cursus facit ille decorum.“ („Gerade der Lauf gibt jener die Anmut“, 590) Das Gewand weht von den Fersen entfernt im Winde, das Haar flattert auf dem weißen Rücken, ebenso wedeln die Kniebänder, der Leib der Jungfrau ist durch die Anstrengung gerötet. Es ist unmöglich, nicht an Daphne zu denken, die in der ersten Liebesgeschichte Auf diese bewußte Verkettung beider Geschichten verweist zu Recht Lee Fra­ tantuono (2011; 292), auch wenn er zu Unrecht meint, Ovid wolle die beiden Atalantas mehr oder weniger identifizieren. Das scheitert an der Geographie: Hippomenes stammt aus Böotien (605). 376 Bei Theognis (2.1287 ff.) ist Atalanta ohne weiteren Grund ehescheu, ähnlich Ovids Daphne. 375

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vergeblich vor Apollo zu fliehen suchte. Verfolgen und Entrinnen sind We­ sensmerkmale der erotischen Grundsituation; hier aber ist die Frau ihren männlichen Verfolgern überlegen, die nach der Niederlage klagend getötet werden (599). Was für ein Fortschritt ist inzwischen in der Stellung der Frau erfolgt! Gewalt freilich bestimmt weiterhin die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, auch wenn sie diesmal im Namen der Frau verübt wird. Auf­ fallend ist, daß der bisher immer blutig endende Wettbewerb viele Zuschauer hat (575, 668); er ist offenbar nach Art der Gladiatorenkämpfe des römischen Zirkus konzipiert. Bardo Maria Gauly betont zu Recht, dieser Anachronis­ mus sei einerseits komisch; andererseits weise er auf die gemeinsame mensch­ liche Natur von der mythischen Zeit bis zur Gegenwart (1992; 444). Durch die Hinrichtung nicht abgeschreckt, fordert Hippomenes die Läufe­ rin heraus. Sie hat für ihn sofort eine Schwäche und weiß gleich zu Anfang nicht, ob sie sich Sieg oder Niederlage wünschen soll (610). Ihr innerer Mono­ log bietet die üblichen Sekundärrationalisierungen der verliebten Frau, die ihren eigenen Zustand noch nicht zu bestimmen vermag: „Ignorans amat et non sentit amorem.“ („Sie liebt, doch unwissend und ohne es zu fühlen“, 637) Ähnlich Medea schreibt sie ihre Sympathie für den jungen Mann allgemeine­ ren Eigenschaften wie seiner Jugend, seiner Furchlosigkeit, seiner edlen Ab­ stammung, seiner Bereitschaft, für sie zu sterben (618 f. und erneut 626 f.), zu – explizit nicht seiner Schönheit, auch wenn das im Prinzip möglich gewesen wäre: „Nec forma tangor (poteram tamen hac quoque tangi)“ („Nicht rührt mich die Schönheit – doch die auch könnte mich rühren“, 614). Allerdings hatte schon das vierte Wort ihres Selbstgesprächs, „formosis“ („den Schö­ nen“, 611), die Eigenschaft genannt, die sie wirklich interessiert, ja, im Griff hat. Anders als Medea befindet sie sich nicht in einer klassischen Pflichten­ kollision – gibt sie ihrer Neigung nach, gefährdet sie nur sich selbst. Doch auch dies ist ein gewichtiges Argument; gäbe es das nicht, zögerte sie nicht, und Hippomenes wäre der eine, den sie zum Mann wählte (633 ff.). Hippome­ nes ist von seinem Wagnis nicht abzuhalten, und Venus, die er anruft, schenkt ihm drei goldene Äpfel von ihrem Baum in Zypern, die er im Wettlaufe an drei Stellen von sich wirft, damit Atalanta ihnen nachrenne, sie aufhebe und so ihren Vorsprung verliere. Ansonsten hätte er keine Chance – die Schilde­ rung ihrer Schnelligkeit (654 f.) ist derjenigen von Camillas Geschwindigkeit Aen. 7.808 ff. nachgebildet. Hippomenes siegt auf diese Weise, wie Venus schnell versichert, damit ihre Rede nicht länger dauere als der Lauf (679 f.) – ebenfalls eine Form von Sprachmalerei, also von Anpassung der Eigenschaf­ ten der Dichtung an die Eigenschaften des Besprochenen. In einer subtilen Psychologisierung des Mythos läßt Ovid durchblicken, daß wichtiger als Venus’ Äpfel Atalantas eigener Wille war, besiegt zu wer­ den. Es sei unklar, ob die Anspornung durch seine Freunde Hippomenes

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oder aber Atalanta mehr erfreut habe; sie habe oft gesäumt und sich ungerne von dem lange betrachteten Antlitz ihres Mitläufers abgewandt, der statt ei­ nes Konkurrenten immer mehr zum Liebesobjekt wird (659 ff.). Gewiß, als der dritte Apfel gefallen sei, habe sie gezögert, ob sie ihm nachlaufen solle, da dies ihre Niederlage besiegelt habe. Aber Venus ist ehrlich genug, um zu sagen „virgo visa est dubitare“ („die Jungfrau schien zu zögern“, 676). Hat sie das nur vorgespielt? Hätte es vielleicht sogar des Apfels gar nicht bedurft und wäre ihr ein anderer Vorwand eingefallen, nur um verlieren zu dürfen? Venus’ Bericht ist um so wertvoller, als sie natürlich ein Interesse daran hat, ihren Beitrag zu Hippomenes’ Sieg hervorzuheben – sie sei es, die Atalanta gezwungen habe, den Apfel aufzuheben. Die Aussage ist dann sicher richtig, wenn man unter Venus den erotischen Trieb versteht. Hippomenes scheint sich aber für dessen Ursache zu halten, und so vergißt er, Venus zu danken. Die zornige Göttin erweckt erotische Leidenschaft im jungen Paar, das sich in einem abgelegenen Versteck, das zum Tempelbezirk der Cybele gehört und heilige Geräte verwahrt, liebt. Zornig verwandelt die verletzte Göttin diese in ein Löwenpaar, das ihren Wagen zieht, weil ihr der Tod als Strafe zu leicht erscheint (698). Immerhin bleibt das Paar auch in dieser Form verbun­ den. Die Strafe ist insofern vielleicht doch leichter, als von Cybele beabsich­ tigt. Wie bewertet Ovid diese Geschichte? M. E. sind zwei denkbare Deutun­ gen miteinander verträglich, und Ovid hat wohl beide zugleich vertreten. Nach der einen verteidigt Ovid die Gerechtigkeit der Strafe. „This is a tale of ingratitude.“377 Undankbarkeit ist nicht schön, auch nicht gegenüber den Göt­ tern; und selbst wenn Hippomenes’ Attraktivität mehr bewirkt hat als die goldenen Äpfel, ist doch auch sie kein Resultat eigener Leistung, sondern ein Geschenk des göttlichen Prinzips. Dies nicht anzuerkennen ist moralisch falsch, auch wenn es Liebenden naheliegt, nur aneinander zu denken und den Rest der Welt zu vergessen. Dieser hat aber berechtigte Ansprüche. An einem heiligen Ort den Beischlaf zu vollziehen gehört sich nicht – Menschen vertie­ ren, wenn sie ihren Sexualtrieb auch in Situationen und an Orten nicht mehr kontrollieren können, wo er unangebracht ist. Insofern ist die Verwandlung in wilde Tiere nicht unangemessen, auch wenn die spezifische Löwennatur sich nur aus den Bedürfnissen Cybeles ergibt. Zwar benutzt Ovid in diesem Zu­ sammenhang nicht das Wort „sacrilegium“, aber daß er an Sakrileg denkt, legen die vier zur Wurzel „sacer“ („heilig“) gehörigen Wörter 10.693–696, „sacer“, „sacerdos“ („Priester“), „sacraria“ („Kapellen“), „sacra“ („heilige Geräte“) nahe. Insofern gehört die Geschichte durchaus in den Zusammen­ hang des Myrrhamythos; in beiden geht es rituelle Unreinheit. Elaine Fantham (2004), 81.

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Nach der anderen möglichen Deutung ist dagegen Venus’ Verhalten genauso kleinkariert wie dasjenige anderer in ihrer Ehre verletzten Götter. Sie ist trotz des Verliebtseins der beiden, das sie nun selber kennt, nicht nachsichtig, sondern rachsüchtig. Werner Suerbaum hat den subjektiven Ton ihrer Er­ zählung, besonders bei der Beschreibung ihrer Kränkung, die mit einer Frage an den Geliebten eingeleitet wird (681 ff.), treffend herausgestellt und mit dem objektiven Ton des Berichtes Dianas über Camilla Aen. 11.535 ff. kontra­ stiert.378 Insbesondere widerspricht es normalen moralischen Ideen, daß Ve­ nus das Paar zu einer Handlung provoziert, für das sie dann von einer anderen Gottheit besonders streng bestraft werden. Immerhin verhindert der antike Polytheismus die aus dem Alten Testament vertraute theologische Paradoxie, daß der eine Gott zur Verletzung der eigenen Gebote antreibt, um alsdann besser strafen zu können.379 Vermutlich wird Ovid sich gesagt haben, daß die anthropomorphe Fassung der Götter, deren er aus poetischen Gründen be­ durfte, diese ziemlich schlecht ausschauen läßt, daß der Mythos aber doch die wichtige Wahrheit mitteilt, daß auch eine Liebe wie die von Hippomenes und Atalanta, die beiderseits gewollt ist und keine inneren oder äußeren Hinder­ nisse kennt, an der Weltvergessenheit scheitern kann, die zur Liebe dazuge­ hört und sie doch gefährdet. Eine solche Geschichte und ihre Wahrheit gehö­ ren in eine Enzyklopädie des Eros. Nicht nur die Liebe von Hippomenes und Atalanta scheitert; auch die von Venus und Adonis. Dieser befolgt, nachdem Venus abgefahren ist, nicht ihren Rat, und zwar ist es gerade sein Mannesmut („virtus“, 709), der sich den Rat­ schlägen widersetzt. Vermutlich ist dieser es, der ihn so anziehend macht, aber er verursacht auch seinen Tod, da ihn ein bei der Jagd aufgestöberter Eber tötet. Die herbeigeeilte Venus kann nur, analog zu Apollo nach dem Tode des Hyacinthus, ein Fest zu Ehren Adonis’ einrichten und das Blut des verstorbenen Geliebten in Anemonen verwandeln.

(1980), 154 f. Vgl. etwa Exodus 4.21, 9.12, 2. Samuel 24.1.

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4.12 Metamorphosen, Buch 11. Die Zerfetzung des Orpheus und sein Triumph im Tode. Die rächenden Götter werden milder: Midas und Pan. Ein Sterblicher vergewaltigt eine Göttin: Peleus und Thetis. Zwillinge zweier Väter: Chione und ihre Kinder. Unterschiedliche Wirklichkeitswahrnehmung als internes Hindernis symmetrischer Liebe: Ceyx und Alcyone. Selbstmordversuch wegen der Folgen eines Vergewaltigungsversuches: Aesacos Der Tod des Adonis ist der letzte Mythos, den Orpheus besingt, bevor der Tod ihn selbst trifft. Ihn tötet freilich kein Eber, sondern eine Rotte fanatisierter Mänaden, die in ihm den angeblichen Verächter der Frauen verabscheuen. Ihr Haß gegen Homosexuelle spiegelt Pygmalions Frauenhaß; anders als dieser werden sie aber nicht von ihrem Haß geheilt. Anfangs schafft es Orpheus’ Gesang, die Geschosse abzuwehren, die sie auf ihn schleudern, aber ihr Ge­ brüll und der Lärm ihrer Instrumente übertönt seine Stimme und den Klang seiner Leier, und nun können sie sich auf ihn stürzen. Zuerst freilich zerfetzen sie sein Publikum, Vögel, Schlangen und Säugetiere, dann selbst Rinder, die in der Nähe pflügen, bevor sie auch den Sänger in Stücke reißen. Auch wenn nur ein einziger Mensch stirbt, eignet dem Vorfall dadurch etwas von einer kleinen kosmischen Katastrophe: Nach Wasser und Feuer im ersten und zwei­ ten Buch und der Seuche des siebten sehen wir im menschlichen Wahnsinn („furialibus ausis“, 12; „insana“, 14; „furori“, 30) einen neuen Faktor der Zer­ störung der menschlichen Kultur (daher die Einbeziehung der landwirtschaft­ lichen Szene). Zweifelsohne ist die Ermordung des Dichters ein abscheuliches Verbrechen. „Sacrilegae“ („Religionsfrevlerinnen“) heißen die Bacchen, die Orpheus zerreißen (11.41; vgl. 67 „scelus“ und 70 „nefas“) – das Wort, das bei der Charakterisierung der Missetat Atalantas und Hippomenes’ ausge­ spart wurde, fällt hier ganz bewußt, weil der Dichter göttlich ist und seine Tötung schlimmer ist als die Entweihung eines heiligen Ortes.380 Bacchus, der Mänaden eigener Gott, trauert um den Verkünder seiner heiligen Ge­ heimnisse („sacrorum vate suorum“, 68) und verwandelt zur Strafe jene des­ wegen in Bäume – und zwar nicht nur die an der Tat beteiligten, sondern selbst diejenigen, die das Verbrechen nur geschaut haben (11.67 ff.). Die Me­ tamorphose ist hier keine Rettung, sondern eine Bestrafung, wie zumal der vergebliche Widerstand der Verwandelten belegt, der mit demjenigen eines in der Schlinge gefangenen Vogels verglichen wird. Dagegen ist das Schicksal In der Bewertung dieser Tat folgt Ovid Phanokles, der vor Orpheus’ Tod durch κακομήχανοι, Böses Sinnende, dessen Liebe zu Kalais, dem Sohn des Boreas, preist. Das Fragment ist überliefert bei Stobaeus, Ἀνθολόγιον (Anthologie), 20.2.47. In den Collectanea Alexandrina ist es Frg. 1 des Dichters.

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des toten Orpheus sein letzter Triumph. Die ganze Natur: Tiere, Bäume, Stei­ ne, Flüsse, Najaden und Dryaden betrauern ihn (44 ff.), und das abgerissene Haupt und die Leier gleiten, leise klagend und eine Antwort der Ufer hervor­ rufend, auf dem Hebrus dahin. Das schließlich auf Lesbos, der Heimat der lyrischen Dichter Sappho und Alkaios, angekommene Haupt wird von einer Schlange bedroht, die Apollo versteinert, so wie er am Anfang den Python besiegt hatte. Orpheus’ Schatten kehrt in die Unterwelt zurück und ist wieder vereint mit seiner Eurydice. Wichtig ist Ovid die Hervorhebung der nun er­ reichten Symmetrie in der Beziehung beider – teils folgt Orpheus seiner Frau, teils geht er ihr voraus, ohne sie nunmehr zu gefährden, wenn er nach ihr blickt (65 f.). Bacchus’ Bestrafung der Mänaden sticht um so mehr hervor – und wird von Ovid angesichts der Abscheulichkeit ihres Verbrechens als gerecht emp­ funden –, weil er in der nächsten Geschichte ungewohnte Milde walten läßt. Der phrygische König Midas bringt Bacchus Silenus, den seine Diener gefan­ gengenommen hatten, zurück, und zum Dank stellt der Gott ihm einen Wunsch frei. Die Gabe erweist sich leider als nutzlos („inutile“, 100), ja, als verhängnisvoll, da Midas wünscht, alles, was er mit seinem Körper berühre, solle zu Gold werden. Wie Phaethon und Semele wünscht er damit seinen eigenen Untergang, denn in komischer Umkehrung von Erysichthon, der alles verschlingt, kann der habsüchtige König, der sich anfangs über seine neue Fähigkeit unbändig freute (106, 118 f.), nun nichts mehr verzehren. Speise und Trank verwandeln sich nämlich, sobald sie seine Zähne oder seine Kehle be­ rühren, in Gold. Sein Hunger und Durst (129 f.) erinnern nun wirklich an Erysichthon. Anders als dieser kann Midas, reich und elend (127), die Dumm­ heit seines Wunsches, die Bacchus sofort begriffen und bedauert hatte (105), zugeben und seine Schuld bekennen: „Da veniam, Lenaee pater! peccavimus“ („Vater Lenäus, Verzeihung gewähr’! Ich sündigte“, 132). Bacchus lehrt ihn, seine Schuld an der Quelle eines Flusses abzuwaschen, der seitdem Gold mit sich führt. Bemerkenswert ist, daß anders als im Falle Phaethons und Semeles hier der unheilvolle Wunsch nicht eine irreversible Entwicklung in Gang setzt. Midas kann ihn durch das Bekenntnis seiner Schuld rückgängig ma­ chen, und er nutzt seine Chance, anders als etwa Arachne, der Minerva eine solche Chance vergeblich angeboten hatte (6.26 ff.). Darin liegt moralischer Fortschritt, und er zeigt sich ebenfalls in der nächsten Geschichte, dem Wett­ gesang zwischen Phoebus mit seiner Leier und Pan mit seiner Rohrflöte. Auch wenn Pans Frechheit größer ist als die des Marsyas – wenigstens wenn man vergleicht, was Ovid dazu schreibt (6.383 ff. und 11.153 ff.) –, wird er nicht nur nicht gehäutet, sondern kommt ungeschoren davon, sicher auch weil er sich dem Urteil des Berggottes Tmolus unterwirft. Die Schilderung des Aussehens und der Kopfbewegungen dieses Richters erinnert an Bilder

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Giuseppe Arcimboldos; und der Gegensatz zwischen dem ländlichen Musi­ kanten Pan und dem eleganten Großstädter Apollo, bei dem schon die Hal­ tung den Künstler zu erkennen gibt (169), um vom Kostüm zu schweigen,381 ist wohl metapoetisch zu lesen, als Hinweis auf die Genremischung, die in den Metamorphosen selber erfolgt. Die rächenden Götter sind milder geworden. Das heißt allerdings nicht, daß nicht einzelne grausam bleiben – von der Zauberin Circe wird noch die Rede sein. Der moralische Fortschritt ist nie total. Und es heißt auch nicht, daß selbst der sanfter gewordene Apollo sich alles bieten läßt. Trotz seiner Entsühnung war Midas dumm geblieben (147 f.), und da er, nun den Reichtum ablehnend, im Walde lebt und Pan verehrt, empört er sich als einziger über Tmolus’ Urteil. Apollo tötet ihn nicht, aber zieht seine Ohren in die Länge, bis sie Eselsohren gleichen: eine gerechte Bestrafung des törichten Meta­kritikers. Eine Tiara verbirgt sie; nur ein Diener, der Midas das Haar schert, weiß um sie. Das prickelnde Bedürfnis, trotz des Verbotes darüber zu reden, befriedigt der Diener, indem er ein Erdloch aushebt und in es das Geheimnis hineinflü­ stert. Er schüttet zwar das Loch zu, aber nach einem Jahr verrät inzwischen dort gewachsenes Röhricht, vom Winde bewegt, Midas’ Schande. Diese Ge­ schichte greift einerseits die von Pan und Syrinx auf, auch wenn dort das Klagen der in Schilfrohr verwandelten, vom Winde bewegten Nymphe sich nur in Laute verwandelt hatte, die Pan die Idee zu jener Flöte eingaben, die nun Apollos Leier unterlag. Vermutlich soll ein Hinweis gegeben werden auf das Fortschreiten von bloßen Lauten zu menschlicher Sprache. Andererseits ist mit dem Mythos die Lektion verbunden, Geheimnisse sollten wirklich nie­ mals ausgesprochen werden, nicht einmal wenn man sich alleine wähnt; denn was aus dem eigenen Inneren entäußert wird, gewinnt auch gegen die Absicht des Sprechenden ein Eigenleben. Vielleicht hat Ovid sogar metapoetisch auf das Eigendasein von Dichtung anspielen wollen, das der Dichter nicht mehr kontrolliert. 11.194 beginnt die Darstellung der historischen Zeit – d. h. dessen, was Ovid und seine Zeitgenossen für historisch hielten, wobei bis zum Ende des elften Buches übergangsweise die noch eher mythische Vorgeschichte des Trojanischen Krieges berichtet wird, zu der auch noch Hercules gehört, ob­ gleich dessen Tod und Apotheose schon behandelt worden waren. Da inner­ halb der historischen Zeit die Chronologie in strengerem Maße vorgegeben war, sind Ovids Phantasie bei der Anordnung des Materials nun Grenzen gesetzt; dies ist ein, aber sicher nicht der einzige Grund für das Nachlassen an künstlerischer Vollkommenheit, das die letzte Pentade kennzeichnet. Ein Das wirkt weiter bei der Schilderung des sich zu reden anschickenden Germani­ cus EP. 2.5.51 f.

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weiterer Grund ist, daß der Ortswechsel Wiederholungen nahelegt. Ferner spielt die Kritik an Vergil eine wichtige Rolle, und so intelligent diese auch ist, ermangelt sie doch der die beiden ersten Pentaden chrakterisierenden Grazie. Apollo und Neptunus helfen unerkannt in Menschengestalt Laomedoon beim Erbauen der trojanischen Mauern; doch als sie um den vereinbarten Lohn be­ trogen werden, überschwemmt der Meergott das Land um Troja; und Laome­ doon muß seine Tochter Hesione als Opfer für ein Meerungeheuer an einen Felsen binden lassen (211 ff.). Zwar wird auch sie, wie einst Andromeda, geret­ tet, diesmal von Hercules; doch erstens versagt der mehr noch als Midas unbe­ lehrbare Vater die versprochenen Rosse, was zur ersten Einnahme von Troja führt. Zweitens verzichtet Ovid ganz bewußt auf jede Ausmalung der Befrei­ ung der Prinzessin, da ihm Wiederholungen nicht liegen; ja, die Gleichgültig­ keit, die Hercules für Hesione empfindet (ihm lag offenbar nur an den Rossen), zeigt sich daran, daß er sie an Telamon weiterreicht. Angesichts eines solchen Vaters gibt es von Ritterlichkeit der Prinzessin gegenüber keine Spur mehr. Telamons Bruder Peleus freit dagegen die Göttin Thetis. Jupiter selbst hat sie begehrt, aber angesichts der Prophezeiung, daß deren Sohn stärker sein werde als der Vater, vermag er sich, ausnahmsweise, um der Aufrechterhal­ tung seiner Herrschaft willen zu beherrschen. Die Eroberung einer Göttin durch einen Sterblichen geschieht hier zum ersten und einzigen Male (220) – Pyreneus war bei seinem Versuch jämmerlich gescheitert. Auch Peleus muß beim ersten Mal aufgeben, als er die nackt in einer Grotte schlafende Göttin zu überwältigen sucht. Zwar kann er sie festhalten, als sie sich in einen Vogel und in einen Baum verwandelt (sie teilt offenbar Proteus’ Gabe); aber als sie zum Tiger wird, muß sich Peleus zurückziehen. Doch Proteus rät ihm, sie das nächste Mal im Schlaf zu fesseln. Sie erkennt, daß Peleus auf göttlichen Rat handelt, fügt sich und empfängt Achilles. Hatte Salmacis den Sieg des weib­ lichen Prinzips über das männliche dargestellt, sehen wir nun denjenigen des menschlichen über das göttliche. In beiden Dimensionen ist damit die Ur­ sprungssituation „Gott vergewaltigt sterbliche Frau“ überwunden worden. Wegen der Tötung seines Halbbruders Phocus, des Sohnes der Nymphe Psamathe, vom Vater verbannt, gelangt Peleus mit seinen Herden als Schutz­ flehender zum Fürsten von Trachis Ceyx, dem er seine Untat allerdings nicht beichtet und der ihn mit vollendeter Gastfreundschaft aufnimmt: „Ne tempo­ ra perde precando.“ („Mit Bitten verliere die Zeit nicht“, 286) Gleichzeitig erklärt er Peleus seine Trauer um seinen, anders als er selber, kriegerischen (293 ff.) Bruder Daedalion und dessen Tocher Chione. Von zwei Göttern be­ gehrt, wurde diese innerhalb von 24 Stunden sowohl von Mercurius als auch von Apollo geschwängert, der ihr in Gestalt einer Alten nahte (310), und gebar Zwillinge von zwei verschiedenen Vätern (303 ff.). Weder ihr Vater noch ei­ ner der rivalisierenden Götter war ihr deswegen gram; ihren Untergang führ­

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te sie vielmehr selbst herbei, und zwar durch ihren Hochmut, aufgrund dessen sie sich selber eine größere Schönheit zuschrieb als Diana. Diese tötete sie, indem sie ihre Zunge durchbohrte, „die es verdiente“ („meritam“, 325). Sicher ist dies eine Reprise der Niobegeschichte, aber ein Unterschied ist eklatant: Den Kindern wird diesmal kein Haar gekrümmt. Wie ihr Bruder hat auch Diana ihr Strafbedürfnis begrenzt. Der verzweifelte Daedalion freilich wollte sich viermal auf den Scheiterhaufen mit Chiones Leichnam werfen; davon abgehalten, stieg er auf den Parnassus, wurde aber, als er sich herunterstürzte, in einen Habicht verwandelt. Damit tritt ein Motiv auf, das noch zweimal in diesem Buche von Bedeutung sein wird. Ein nach Abschluß der Erzählung wie in einer Tragödie plötzlich erschei­ nender Bote berichtet, ein ungeheurer Wolf habe die Herden des Peleus ange­ fallen und die meisten Tiere gerissen. Ceyx will mit seinem Gefolge aufbre­ chen, um gegen das Untier zu kämpfen, doch seine Frau Alcyone beschwört ihn weinend, nicht mitzugehen, „animasque duas ut servet in una“ („daß er so zwei Leben in einem erhalte“, 388). Die Sorge um den Gatten (die an diejeni­ ge der Venus um Adonis erinnert) rührt Peleus, der ihre Angst „schön und ein Zeichen der Treue“ nennt („pulchros… piosque/… metus“, 389 f.). Die Bereit­ schaft zur Hilfe sei ihm genug; niemand solle aufbrechen. Peleus weiß, daß der Wolf von Psamathe gesandt wurde, die er beschwört, ihren Zorn zu been­ den, was er jedoch erst mit Hilfe von Thetis erreicht, die den Wolf, der mit dem Zerfleischen fortfährt, schließlich versteinert. Von der Tötung des Pho­ cus wird Peleus erst in Magnesia entsühnt. Auch wenn auf den ersten Blick das elfte Buch mit der Gründung Trojas und der Heirat der Väter Aiax’ und Achilles’ die Darstellung des Trojani­ schen Krieges in den beiden folgenden Büchern vorbereiten soll und somit der Besuch Peleus’ bei Ceyx nur als Einlage erscheint, ist es in Wahrheit umgekehrt: Die recht schnell erzählte Vorgeschichte und der Besuch bei Ceyx sind ein Vorwand, der die lange elegische Geschichte von Ceyx und Alcyone ermöglicht, die sich über 339 Verse erstreckt. An kompositorischem Gewicht entspricht sie derjenigen von Cephalus und Procris am Ende des siebten Bu­ ches; und auch thematisch ist sie verwandt, weil es auch hier um eines der wenigen durch wechselseitige Liebe verbundenen Paare des Werkes geht, das ebenfalls tragisch endet. Allerdings ist diesmal erstens nicht Eifersucht im Spiel, sondern, wie die Bereitschaft Ceyx’, Peleus im Kampf gegen den Wolf beizustehen, schon andeutete, u. a. eine unterschiedliche Einstellung zum Ri­ siko von Mann und Frau. Und zweitens endet der Mythos mit dem Tode bei­ der und nicht nur eines Partners – das ist einesteils tragischer, andernteils versöhnlicher, da die Metamorphose ein Weiterbestehen des Paares gestattet. Die Verwandlung des Bruders und des von Psamathe gesandten Wolfes erzeugen in Ceyx den Wunsch, auf dem Seeweg zu dem Apollotempel von

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Clarus zu reisen (der schon 1.516 genannt worden war), um dort das Orakel zu befragen. Tragisch ist, daß es anders als bei Adonis, der einer Göttin nicht gehorcht, bei Ceyx ein religiöser Wunsch ist, der ihm den Untergang bringt; er zieht nicht in den Krieg oder auf eine gefährliche Jagd.382 Eine grausame Ironie waltet darin, daß er bei der Suche nach dem Ursprung gefährlicher Ereignisse seinen eigenen Tod findet. Insofern kann man bei ihm kaum von Schuld reden, auch wenn Alcyone, sofort von Angst ergriffen, ihn warnt und sogar fürchtet, durch eigene Schuld den Gatten der Sorge um sie abspenstig gemacht zu haben, da sie ihm offenbar lieber sei, wenn sie abwesend sei (421 ff.). Zumal der Seeweg beunruhigt sie, da sie als Tochter des Windgottes Aeolus um die Gefahren weiß, die von Stürmen ausgehen. Insbesondere äng­ stigt sie die Vorstellung eines Kenotaphs, wenn der Leichnam nicht mehr geborgen werden kann (429). Zumindest müsse Ceyx sie mitnehmen. „Certe iactabimur una,/ nec, nisi quae patiar, metuam; pariterque feremus,/ quidquid erit, pariter super aequora late feremur.“ („Wenigstens werden wir gemeinsam umhergetrieben werden, und ich werde nur zu fürchten brauchen, was ich miterlebe; gemeinsam werden wir tragen, was immer geschehen mag, ge­ meinsam uns übers weite Meer tragen lassen“, 441 ff.) Die ersehnte Gemein­ samkeit wird durch das einfache „una“ und das doppelte „pariter“ hervorge­ hoben, die sprachmalerisch eingesetzt werden, da „par“ auch „Paar“ bedeutet. Auch das Polyptoton „feremus“ – „feremur“ ändert, durch den Wandel allein des letzten Buchstabens, nur das Genus verbi und beläßt die erste Person Plu­ ral – im Handeln und Leiden soll das Paar vereint bleiben. Ja, Alcyone gibt zu erkennen, daß Gefahren, die sie selbst an der Seite ihres Mannes bedro­ hen, weniger schlimm seien als die bloße Vorstellung dessen, was ihrem von ihr getrennten Gatten zustoßen könnte. Zwar erwidert Ceyx ihre Liebe mit gleicher Stärke (445); aber weder will er auf die Seereise verzichten noch seine Gattin der Gefahr aussetzen. Seine Entscheidung ist nicht irrational; sonst müßte man ja auf jede Reise verzichten. Es bleibt auch in der Schwebe, ob Alcyone einfach überängstlich ist (ihr doppelter Angstausbruch legt es nahe) oder ob sie tatsächlich über hellseherische Fähigkeiten („animo … di­ vinante“) verfügt, wie sie selber behauptet (694). Aber selbst im letzteren Fall kann man Ceyx schwerlich vorhalten, daß er nicht an sie glaubt; denn die Fähigkeiten werden nicht ausgewiesen. Hätte er trotzdem nachgeben sollen? Ovid deutet an, daß neben unterschiedlichem Risikoverhalten unterschiedli­ che epistemische Zugänge zur Wirklichkeit interne Hindernisse sind, die auch eine aufrichtige wechselseitige Liebe bedrohen. Immerhin verspricht Ceyx, in zwei Monaten zurück zu sein, sofern ihm eine Rückkehr vergönnt Ganz anders bei Apollodorus 1.7.4., wo Zeus das Paar bestraft, weil sie einander „Zeus“ bzw. „Hera“ nannten.

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sei. Der Abschied ist von bösen Vorahnungen überschattet, und ergreifend schildert Ovid, wie zuerst Ceyx, dann das Schiff, schließlich selbst die Se­ gel aus Alcyones Gesichtskreis verschwinden. Das Schiff hat fast die Mitte des Weges zurückgelegt, als ein Sturm aus­ bricht, dessen präzise Schilderung zu den sprachlichen Glanzstücken des Werkes gehört und erfolgreich mit denjenigen im ersten und fünften Buch der Aeneis wetteifert. „Tanta mali moles tantoque potentior arte est.“ („So schwer lastet die Not, so trotzt sie der Kunst und Erfahrung“, 494) Es liegt nahe, hier an den Vers Aen. 1.33 zu denken: „Tantae molis erat Romanam condere gen­ tem“ („So groß war die Mühe, das römische Volk zu gründen“), da er der Auslösung des Seesturms durch Juno und Aeolus unmittelbar vorausgeht. Doch die Wendung geht bei Ovid in eine entgegengesetzte Richtung: Will Vergil auf den letztlichen Triumph hoher Staatskunst über alle Widerstände verweisen, geht es dem Jüngeren um die Macht des elementaren, natürlichen „malum“, das alle Seemannskunst schlägt. Aber in diesem Versagen mensch­ licher Naturbeherrschung, in der nur durch Blitze erhellten Nacht (520 ff.), in der man fast nicht sehen kann (so wie Alcyone trotz des Lichtes wegen der Entfernung am Ende auch von Ceyx nichts mehr erblicken konnte), nimmt Ovid einerseits das Innere von Ceyx selbst in den Blick und erkennt dort an­ dererseits die Ausrichtung auf die Gattin, auch wenn er nicht einmal mehr weiß, in welcher Richtung er sie vermuten soll (546 ff.). Während andere kla­ gen, daß ihnen eine Bestattung versagt ist, zu den Göttern flehen, an Bruder, Vater und Familie denken, „Alcyone Ceyca movet, Ceycis in ore/ nulla nisi Alcyone est et, cum desiderat unam,/ gaudet abesse tamen.“ („Ceyx sorgt im Gemüt um Alcyone; immer im Munde/ Führt er Alcyone nur, und wiewohl er sich sehnt nach der einen,/ Freut er sich, daß sie entfernt“, 544 ff.) Man be­ achte den Chiasmus, mit dem „Alcyone“ auf beiden Seiten sprachmalerisch „Ceyx“ umarmt, sowie die doppelte Hervorhebung der Ausschließlichkeit der Beziehung beider durch „nulla“ und „unam“. Wir erfahren nicht, ob Ceyx seinen Reiseantritt bereut (eine Entscheidung bleibt ja auch dann vernünftig, wenn Unerwartetes und Unwahrscheinliches eintritt), aber wir lesen, daß er sich freut, daß seine Frau nicht mit in Gefahr ist. Auch nach dem Bersten des Schiffes, als er sich kurz vor dem Ertrinken noch an Balken klammert, ist der Name Alcyones auf seinen Lippen (562 f., 567, 665 f.). Sein letzter Wunsch ist, sein Leichnam möge ihr vor die Augen gespült werden (564 f.). Alcyone opfert derweil immer noch im Junotempel für die Rückkehr des Gatten, „qui nullus erat“ („der nicht mehr war“, 579). Juno hält es jedoch für richtig, sie von der Vergeblichkeit ihrer Bitten zu informieren, und schickt Iris zu Somnus, der mit Mühe sich selber entrissen (621) – Ovid spielt mit der Tatsache, daß „Somnus“, als Personifikation, Appellativ und Personenname ist – Morpheus abordnet, Alcyone in Gestalt ihres Gemahls im Traum zu er­

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scheinen. Iris selber entkommt gerade noch mit Mühe dem Schlaf, der im meisterhaft geschilderten Reich von Somnus alles befällt (630 ff.). Als Was­ serleiche des Ceyx erscheint Morpheus im Traum seiner Gattin und berichtet ihr das Geschehene.383 Noch im Schlaf versucht Alcyone, den Entschwinden­ den zu halten: „Ibimus una.“ („Wir gehen zusammen“, 676) Dieser Ruf, der ihre frühere Beschwörung wieder aufgreift, weckt sie selber, und verzweifelt beginnt sie die Totenklage. Sie selbst existiere nicht mehr („nulla est Alcyone, nulla est“ (684 setzt 579 fort), da sie mit ihrem Ceyx untergegangen sei. Sie wiederholt den Vorwurf, Ceyx hätte nicht aufbrechen oder sie wenigstens mitnehmen sollen, dann hätte sie nicht Tage der Trennung verlebt und wäre nicht getrennt gestorben. Denn auch sie sei mit Ceyx ertrunken. „Et sine me me pontus habet.“ („Ohne mich selbst umfängt mich die See“, 701) Sie wäre grausamer als die See, wollte sie noch weiterleben; und wenn nicht Ceyx’ Leichnam, so solle doch wenigstens Ceyx’ Name ihr gemeinsames Grabmal zieren. Doch auf dem Weg zum Strand, wo sie ihren Mann das letzte Mal erblickte, sieht sie eine Leiche herangespült werden, die sie schließlich als die des Ceyx erkennt. Als sie auf eine Mole springen will, wird sie in einen Eis­ vogel verwandelt, und als dieser den Leichnam erreicht, wird auch letzterer zum Vogel. Die Liebe der beiden bleibt in der neuen Gestalt erhalten, „nec coniugale solutum est/ foedus in alitibus“ („gelöst ward auch bei den Vögeln/ Nimmer der ehliche Bund“, 743 f.). Zwei ältere Männer preisen die Treue des Paares. Einer von ihnen – Ovid läßt es offen, ob es derjenige war, der als erster sprach (751), weil es nicht darauf ankommt – weist auf einen Tauchervogel und erzählt dessen Geschich­ te. Er war ursprünglich ein trojanischer Prinz, ein Sohn des Priamus namens Aesacos. Auch wenn er die Städte mied und lieber auf dem Land und in den Bergen wohnte, war doch sein Herz nicht bäuerisch; und er verliebte sich in die Nymphe Hesperie. Als er sie einmal ihr langes, über die Schultern rei­ chendes Haar trocknen sah, verfolgte er sie: „Celeremque metu celer urget amore.“ („Er bedrängt sie; sie eilet in Angst, er eilet in Sehnsucht“, 774) Der Parallelismus der Glieder zusammen mit dem Polyptoton unterstreicht, daß das gleiche physische Verhalten – das schnelle Laufen – ganz unterschied­ lichen Motiven entspringen kann. Die Nymphe wird auf der Flucht, wie Eury­ dice, von einer Schlange gebissen und stirbt. Aesacos erkennt die eigene Verantwortung an, die größer sei als diejenige der Schlange (780 f.), und will Die Integration eines objektiv informierenden Traumes (der ohnhein von dem se­ xuellen Byblis’, aber auch von dem ermunternden Telethusas stark abweicht) folgt epischen Vorbildern. Neben Homer ist insbesondere Aen. 1.353–360 zu nennen, da die Situation analog ist: Der ermordete Sychaeus erscheint Dido. Vgl. Marian­ na Patti (2003), 116 f.

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die Geliebte mit dem eigenen Selbstmord versöhnen. Doch Tethys verwandelt den sich Herabstürzenden in einen Taucher, was ihm gar nicht willkommen ist – weil er den Tod suche, tauche der Vogel immer wieder in die Tiefe (791 f.). An dieser letzten Episode des Buches ist folgendes hervorzuheben. Die verzweifelten Worte des Aesacos „piget, piget esse secutum!/ sed non hoc timui, neque erat mihi vincere tanti“ („Mich reut, mich reut die Verfolgung;/ Doch das fürchtet’ ich nicht: so teuer verlangt’ ich den Sieg nicht“, 778 f.) er­ innern an die oben (127 f.) zitierten des Marsyas (6.386). Aber – und das ist entscheidend – Aesacos klagt nicht, weil ihm selber Schmerzliches wider­ fährt; er klagt, weil er selber einem anderen Wesen, und zwar einem, das er liebte, Leid zugefügt hat. Zwar hatte er Hesperies Tod weder beabsichtigt noch vorhergesehen, aber zu seiner Verantwortung steht er, und die Begnadi­ gung durch Tethys ist ihm nicht willkommen, sicher auch weil ihm, anders als Ceyx und Alcyone, nach der Verwandlung die Vereinigung mit der Geliebten versagt ist. Die Verfolgung von Nymphen, mit der die Liebesabenteuer des Werkes begannen, sind moralisch an ihr Ende gekommen: Sie sind an sich unrecht, wie schon Cyane erkannte, und auch wenn sie scheitern, haben sie oft Nebenfolgen, die demjenigen, der wirklich liebt, unerträglich sein müssen. Aesacos hat ein entscheidendes Prinzip der „göttlichen Komödie“ aufs deut­ lichste verneint.

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4.13 Metamorphosen, Buch 12. Ein Vater opfert die Tochter in einem tragischen Konflikt: Agamemnon und Iphigenia. Geschlechtsumwand­ lung aus Angst vor Vergewaltigung: Caenis/Caeneus. Die symmetrische Liebe eines Kentaurenpaars im Wahnsinn einer Schlacht: Cyllarus und Hylonome. Das beredte Schweigen des Erzählers: Nestor und Hercules Kurz nach den Trauerfeierlichkeiten für den vermeintlich verstorbenen Aesacos trifft Paris mit der geraubten Helena in Troja ein, was den Feldzug der Grie­ chen auslöst. Doch diese können wegen stürmischer See Aulis nicht verlas­ sen, bis Agamemnon bereit ist, seine Tochter Iphigenia Diana zu opfern. Wir haben mit Procne und Medea schon kindertötende Mütter erlebt; nun tut ein Vater dasselbe. Doch Ovid macht bei aller Kürze deutlich, wie sehr sich die­ ser Fall von den früheren unterscheidet: „Postquam pietatem publica causa/ rexque patrem vicit castumque datura cruorem/ flentibus ante aram stetis Iphigenia ministris,/ victa dea est…“ („Als dem Gefühl Obsieger geworden das Volkswohl/ Und dem Erzeuger der Fürst und, ihr züchtiges Blut zu ver­ gießen,/ Vor dem Altar, von den Dienern beweint, stand Iphigenia,/ Gab sich die Göttin geschlagen…“, 29 ff.). Agamemnon handelt nicht aus Rachsucht wie die beiden Mütter, sondern um des Gemeinwohls willen; in seiner Brust tobt ein wahrlich tragischer Konflikt. Die vierfache Alliteration mit dem „p“, die alles verbindet, die chiastische Stellung, bei der das Private („pietatem … patrem) das trotzdem obsiegende Öffentliche („publica causa rexque“) ein­ rahmt, weil dieses in jenem gründet, die Klimax von abstrakten Prinzipien („pietatem publica causa“) zu persönlichen Rollen („rexque patrem“) drücken in ungeheurer Konzentration die Spannung in Agamemnons Brust aus. Indem Ovid die aus Euripides’ Ἰφιγένεια ἡ ἐν Αὐλίδι (Iphigenie in Aulis) bekannte Geschichte, wie Agamemnon durch eine Lüge, die Vorspiegelung einer Hei­ rat mit Achilles, seine Tochter nach Aulis gelockt habe, hier noch wegläßt (sie wird erst 13.184 ff. von Ulixes nachgetragen), erscheint Agamemnon zunächst reiner als bei dem griechischen Tragiker. Von ihm übernimmt Ovid aller­ dings Iphigenias Todesbereitschaft, die alle, auch diejenigen, die sie töten sol­ len, zu Tränen rührt. Und nicht nur werden Agamemnons und Iphigenias Ver­ halten in einem einzigen Nebensatz zusammengefaßt, auch Dianas Reaktion wird zunächst in nur drei Wörtern benannt, auf die dann, immer noch in demselben Satz, der Bericht von der Ersetzung der Prinzessin durch eine Hin­ din folgt.384 Wiederum erweisen sich die Götter als milder als früher: Der Die Fortsetzung der Geschichte wird EP. 3.2.43–96 erzählt, und zwar in witziger Fiktion aus dem Munde eines unweit Tauris lebenden Geten. Ovid folgt weitge­ hend Euripides’ Ἰφιγένεια ἐν Ταύροις (Iphigenie bei den Tauern), läßt aller­ dings Iphigenia ihren Brief direkt ihrem Bruder (91 f.) statt, wie bei Euripides

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tragische Konflikt des Vaters und die Todesbereitschaft der Tochter bewegen nicht nur die Opferdiener. Das mildert den Mythos verglichen mit seiner Ge­ staltung bei Lukrez (1.83 ff.), wo er als Inbegriff verbrecherischen Religions­ wahns gilt. Fama, deren von Gerüchten, Hoffnungen wie Ängsten (60 f.), schwirrende Wohnstatt fast so ausführlich beschrieben wird wie die von Somnus, infor­ miert die Trojaner von der bevorstehenden Ankunft der Griechen, die jene somit am Strande erwarten. Die ersten Krieger fallen; Hector und Achilles tun sich sofort hervor. Doch Achilles vermag es zunächst nicht, den Nep­ tunsohn Cygnus zu töten, der wie einige andere griechische Mythengestalten (etwa Talos) unverwundbar ist385 – Speere und Schwerthiebe prallen an ihm ab. (Iason war dagegen nur für den Tag seines Kampfes unverwundbar ge­ worden: 7.98 ff.) Erst als Achilles Cygnus, der auf seine überlegene Herkunft verwiesen hatte (93 f.), über einen Stein stolpern läßt, kann er sich auf ihn stürzen und ihn erwürgen, der jedoch in einen Schwan verwandelt wird. Auf eine Feier des Sieges folgt eine mit Heldenerzählungen zugebrachte Nacht; denn was würde Achilles lieber berichten, was in seiner Gegenwart eher vor­ gebracht werden als Heldentaten (162 f.)? Aus gegebenem Anlaß erwähnt der zweihundert Jahre alte, schon etwas vergeßliche, aber sehr gesprächige Ne­ stor (182 ff.), in seiner Jugend habe es eine andere unverwundbare Gestalt gegeben, nämlich Caeneus, der ursprünglich eine Frau gewesen sei, Caenis.386 Von vielen Freiern vergeblich begehrt, sei sie schließlich von Neptunus am Strand vergewaltigt worden (196 f.) – keine Minerva half ihr wie seinerzeit Cornix (2.572 ff.). Doch wenigstens stellt der Gott Caenis einen Wunsch frei – und sie begehrt eine Geschlechtsumwandlung, um vor Vergewaltigung ge­ schützt zu sein (201 ff.). Anders als Phaethons, Semeles und Midas’ ist ihr Wunsch legitim; und anders als Iphis leidet Caenis nicht etwa an ihrem weib­ lichen Körper, weil sie gerne als Mann in eine Frau eindränge, sondern will umgekehrt vor ungewünscher Penetration geschützt sein. Ihr Wunsch ist für (769 ff.), Pylades überreichen und verzichtet, anders als der Tragiker (1435 ff.), auf die Intervention einer Gottheit. Wie er den abgebrochenen Erzählfaden seines Werkes wiederaufnimmt, deutet auf ein starkes Bewußtsein der inneren Kohärenz seines Œuvres hin. 385 Dazu gehört keineswegs Achilles selber, der nicht nur bei Homer noch nicht unver­ wundbar ist, ja, schon vor seinem Tode verwundet wird (Ilias 21.166 f.), sondern sehr spät diesen Status erringt: Erst Statius spricht von dem Styxbad (Achilleis 1.269 f. und 480). Über Unverwundbarkeit im griechischen Mythos und Aber­ glauben immer noch nützlich Otto Berthold (1911). Der Glaube findet sich auch bei vielen anderen Völkern, etwa den Germanen; es genüge, Siegfried zu nennen. 386 Nach Aen. 6.448 f. war Caeneus erst ein Mann, dann eine Frau und schließlich wieder ein Mann.

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die Männerwelt und deren Gewalt Frauen gegenüber beschämend, aber es spricht für Neptunus – auch er wird milder –, daß er ihn gleich erfüllt: Schon beim Vortragen der Bitte wird Caenis’ Stimme tiefer. Und als Zugabe gewährt ihr/ihm der Gott die Unverwundbarkeit. Freilich bedeutet Unverwundbarkeit, im Falle des Caeneus nicht anders als im Falle des Cygnus, nicht Unsterblichkeit, denn man stirbt nicht nur an Wunden. Um Caeneus’ Tod zu berichten, schildert Nestor in allem Detail die Schlacht zwischen Kentauren und Lapithen, bei der jener starb. Da der Ge­ genstand der letzten Bücher der Metamorphosen durch Homer, Vergil und Ennius schon kanonisch gestaltet worden war, besteht Ovids poetische Origi­ nalität darin, von den Erwartungen des Lesers abzuweichen – das geschieht u. a. dadurch, daß er, statt die Schlachten um und die Einnahme von Troja darzustellen, sich vielmehr auf einen lange zurückliegenden Kampf konzen­ triert, der von einem der Troja belagernden Griechen analeptisch berichtet wird. Daß die Erzählung kurz nach der Landung der Griechen erfolgt und daß der langlebige Berichterstatter an beiden Auseinandersetzungen teilge­ nommen hat bzw. teilnimmt (er zeigt den neuen Kampfgenossen sogar eine Wunde, die er damals erhielt: 444), verknüpft jene Schlacht mit dem Trojani­ schen Krieg. Doch damals waren tiermenschliche Mischwesen, die Kentau­ ren, zentral. Einigen Kentauren, wie Ocyroe und Nessus, der auch diesmal dabei ist (308 f.), war der Leser schon direkt begegnet. So greift Ovid inhalt­ lich auf die vorhistorische, mythische Zeit zurück, die ihm offenbar poe­tisch näher liegt als die historische. Entscheidend ist freilich, daß, wie die erste große Schlachtszene bei der Hochzeit Perseus’ und Andromedas, auch diese zweite erotisch motiviert ist: Der Kentaur Eurytus versucht als trunkener Hochzeitgast die Braut Pirithous’, Hippodame, zu rauben, und zwar ohne jede Rechtfertigung, die ja nicht zu geben wäre (232 f.), und seine Artgenos­ sen folgen seinem Beispiel. Noch mehr als diejenige des fünften Buches ist Ovids Beschreibung der Schlacht ganz bewußt grotesk-parodistisch ange­ legt. Das Ausspeien von Gehirn und Wein aus dem Mund eines mit einem Krater Erschlagenen (238 ff.), das Herausspringen der Augen eines von ei­ nem Kandelaber Getroffenen (252), das Ausspucken von Zähnen (256), das Herausstechen der Augen mit einem Hirschgeweih (268 ff.), das Stoßen eines brennenden Scheits in den Mund eines Gegners (294 f.), ein beide Oh­ ren durchbohrender Speerwurf (335 f.), das Herausfallen der Eingeweide (340), das Sich-Verschlingen in den eigenen herausgestürzten Gedärmen (390 ff.), das Festnageln der Zunge an den Unterkiefer durch einen Speer (457 f.) sind nur einige der Annehmlichkeiten, die Ovid genußvoll ausbreitet. Wie im fünften Buch empfindet man auch hier kein Mitleid, weil die Charak­ tere Karikaturen sind und die Massierung greulicher Details unrealistisch wirkt. Schon Robert Coleman hat richtig geurteilt: „By selecting it as his sole

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representative of heroic warfare, expounding it as the mere exhibition of ­brute force and senseless slaughter…, he is in reality pouring scorn upon the whole epic tradition of the aggrandizement of war.“387 Ovid schafft das u. a. dadurch, daß das Grausame und Abstoßende „durch humoristische und iro­ nisierende Züge übertüncht“ wird.388 Wenn ein Vergleich mit einem zeitge­ nössischen Filmregisseur erlaubt ist, mag man an Quentin Tarantino denken. Emotional erhebend an diesem ermüdenden Abmetzgern sind nur eine Einzelstelle und eine ganze Szene. Gleich zu Beginn der Kentauromachie wendet sich Theseus an Eurytus mit den Worten, wie er es wage, während er noch lebe, Pirithous zu provozieren und ohne es zu ahnen zwei in einem zu beleidigen („violesque duos ignarus in uno“, 229). Bei der Jagd auf den Caly­ donischen Eber war schon das enge Band der beiden Freunde betont worden (8.303, 405 f.), das auch durch die Hochzeit des einen nicht in Frage gestellt wird. Theseus steht seinem Freund mit allen seinen Kräften bei. Doch auch auf der gegnerischen Seite gibt es ein durch wechselseitige Treue bewegendes Paar, die Kentauren Cyllarus und Hylonome (393 ff.). Zwar hat Ovid in den Metamorphosen – von Cadmus und Harmonia bis Ceyx und Alcyone – im­ mer wieder liebevolle tierische Paare dargestellt, aber diese sind aus mensch­ lichen hervorgegangen. Die beiden Kentauren hingegen sind liebevoll aus eigenem Recht – Erotik ist somit nicht auf das Menschengeschlecht be­ schränkt.389 Ovid beschreibt detailliert die Reize des Kentauren – „si modo naturae formam concedimus illi“ („Falls man solcher Gestalt nur nicht will absprechen die Schönheit“, 394). Im menschlichen Gesicht ist „gratus … vigor“ („anmutige Stärke“, 397); Hals, Schultern, Arme und Brust erinnern an Kunstwerke. Aber auch der untere Körperteil ist der eines herrlichen Pfer­ des, das Castors würdig gewesen wäre. Viele Kentaurinnen hatten sich in ihn verliebt, aber nur deren schönste, Hylonome, hatte ihn fasziniert, indem sie ihn liebte und zu lieben bekannte. Mit zarter Ironie erzählt Ovid, wie Cylla­ rus’ Gattin sich zu putzen pflegte: wie sie sich kämmte, sich bekränzte, sich wusch, badete und mit eleganten Fellen kleidete. „Par amor est illis: errant in montibus una,/ antra simul subeunt; …/ … pariter fera bella gerebant“ („Gleich liebt jedes vom Paar; sie schweifen vereint im Gebirge,/ Gehen in Höhlen vereint …/ … und standen zusammen im Mordstreit“, 416 ff.) – Gleichheit der Liebe und zeitgleiche Einheit des Tuns verbinden sie. Ovid (1971), 474. Manfred Dippel (1990), 49. 389 Daß die ganze Tierwelt Waffen zu Schutz und Angriff hat, wird gleich zu Beginn der Halieutica erwähnt (1 ff.), wer auch immer sie verfaßt hat. Analoges gilt auch für die Sexualität (M. 9.731 ff.). Doch selbst duale Erotik, die viel seltener ist, scheint Ovid nicht nur Menschen und Göttern zuzusprechen. 387 388

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kommt es auf das gemeinsame Gefühl und dessen Objektivation an, und zwar in der sexuellen Vereinigung, die durch die Höhlen nahegelegt wird, ebenso wie im Kampf gegen die Lapithen. Die Einstimmigkeit des Lebens vollendet sich im gemeinsamen Tode beider Partner. Als Cyllarus von einem Speer im Herzen getroffen wird, stirbt er ganz schnell. Vergeblich versucht Hylonome durch Mund-zu-Mund-Beatmung die weichende Seele zurückzu­ halten. Nachdem sie begriffen hat, daß nichts mehr zu machen ist, stürzt sich Hylonome wie Thisbe auf den Speer, der ihren Mann getötet hat, und stirbt diesen umfangend. Diese elegische Einlage innerhalb einer epischen Großepisode ist eine der bewegendsten des Werkes, gerade weil sie das Menschliche hinter sich läßt. Vielleicht läßt sich die Grausamkeit der vorausgegangenen Tötungen ästhe­ tisch damit rechtfertigen, daß mit ihr Cyllarus’ rasches Sterben kontrastieren soll, das seine herrliche tiermenschliche Gestalt nicht verunstaltet. Auch der Gegensatz zwischen der sich putzenden Kentaurin und ihrem Todesmut, ja, der Schnelligkeit, mit der sie sich entscheidet, ihrem Manne in den Tod zu folgen und die derjenigen von dessen eigenem Tod nicht nachsteht, ist ergrei­ fend. Denn er zeigt: Hylonome ist nicht eitel; sie will ihrem Mann gefallen, weil sie ihn liebt, und sie liebt ihn so sehr, daß sie ohne ihn nicht überleben will. Nicht minder faszinierend sind zwei Einzelheiten in Nestors Bericht. Gleich zu Beginn sagt er, der Urheber des tödlichen Speerwurfs sei unbe­ kannt („auctor in incerto est“, 419), obgleich er vorher in guter, aber ermüden­ der epischer Manier all diejenigen namentlich genannt hatte, die jemanden getötet hatten bzw. selber gefallen waren. Wer jenen Speer abgeschleudert hat, der eines der glücklichsten Paare des Werkes zerstört hat, ist irrelevant; auf das Glück der Kentauren kommt es an, nicht auf den Namen von dessen Vertilger. Und ebenso diskret bemerkt Nestor am Ende, er habe wegen des Schlachtenlärms nicht gehört, was Hylonomes letzte Worte gewesen seien (426 f.). Diese Worte waren nicht für ihn, sondern für den toten Gatten be­ stimmt; insofern erfüllte der Schachtenlärm eine positive Funktion, sosehr er auch Symbol ist der Auslöschung privaten Glücks durch eine Explosion menschlicher Aggressivität. Aber daß Nestor trotz des Kampfes diese intime Szene so genau beoachtet hat, spricht für ihn – ebenso wie die Tatsache, daß in seiner Erzählung außer Caeneus keiner der Toten mehr Aufmerksamkeit erhält als dieses zu den Gegnern gehörende Paar. Darin erweist sich zumin­ dest nachträglich eine gewisse Ritterlichkeit der Kriegsführung – eine Kat­ egorie, auf die man angesichts des Gemetzels nicht verfallen wäre. Etwas ist noch hervorzuheben. Das gemeinsame Betreten der Höhlen habe ich mit se­ xuellen Aktivitäten in Verbindung gebracht, weil man dabei unweigerlich an Aen. 4.165 ff. denken muß, also an jene Grotte, in der Aeneas und Dido ein Paar werden, allerdings mit sehr unterschiedlichem Verständnis dessen, was

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4.  Ordo amorum: Die Reihenfolge der Liebesgeschichten

dies bedeutet. Bei den beiden Kentauren dagegen ist die sexuelle Vereini­ gung Ausdruck einer unbedingten Treueverpflichtung. Es liegt nahe, hierin eine unterschwellige Kritik an Aeneas’ Verhalten Dido gegenüber zu ver­ muten – die Ovid ja auch explizit geäußert hat (siehe oben S. 39 f.). Selbst Tiermenschen verhalten sich besser als der „pius Aeneas“. Und wenn man darauf verweist, daß Aeneas mit Nisus und Euryalus durchaus ein Paar kennt, dessen überlebendes Glied für das andere stirbt, so ist Ovids Pointe, daß es in seinem Werke nicht nur ein solches homosexuelles Paar gibt (Athis und Lycabas), sondern eben auch ein heterosexuelles. Nestors Bericht endet mit dem Tod des Caeneus, der ja der Auslöser der Kampferzählung gewesen war. Er hat schon fünf Feinde erschlagen, als sich ihm der größte Kentaur, Latreus, in den Weg stellt und ihn verächtlich mit dem Namen anspricht, den er als Frau hatte. „Et te, Caeni, feram? nam tu mihi femina semper,/ tu mihi Caenis eris.“ („Soll ich auch noch dich, Caenis, ertragen? Du wirst nämlich für mich stets ein Weib bleiben, für mich stets Caenis heißen“, 470 f.) Er erinnert sie daran, welchen Preis sie für ihre Ge­ schlechtsumwandlung bezahlt habe (angesichts von Caenis’ Leiden an ihrer Vergewaltigung ist dies besonders niederträchtig), und empfiehlt ihr, den Spinnrocken in die Hand zu nehmen und den Krieg den Männern zu überlas­ sen – als ob nicht mit Hylonome gerade eine Kentaurin ihre heroische Gesin­ nung geoffenbart hätte. Freilich zahlt der Macho dafür mit seinem Leben, da alle seine Waffen an Caeneus abprallen. Doch auch dieser wird, wie Cygnus, schließlich getötet, freilich nicht durch den Würgegriff eines einzelnen, son­ dern dadurch, daß sich alle übrigen Kentauren auf ihn stürzen und ganze Wälder auf ihn häufen – deren Gewicht kompensiert die Unverwundbarkeit (509). Offen läßt Nestor, ob Caeneus in den Tartarus gestürzt oder in einen Vogel transformiert worden sei, wie der Seher Mopsus behauptet (522 ff.). Die besondere Aggression der Kentauren ergibt sich aus deren gekränkter Mannesehre: „Populus superamur ab uno/ vixque viro! quamquam ille vir est, nos segnibus actis,/ quod fuit ille, sumus!“ („uns viele besieget der eine,/ Kaum ein Mann; doch freilich ein Mann, wir freilich in Schlaffheit/ Sind, was der einst war“, 499 ff.) Die Erinnerung an den eigenen Ursprung – er verdankt sich der Tatsache, daß Ixion Juno zu vergewaltigen versucht hatte, sich aber nur an einer untergeschobenen Wolke vergehen konnte (504 ff.) – baut das Gefühl der eigenen Männlichkeit gegenüber dem „halbmännlichen“ (semimari“, 506) Gegner wieder auf: Auf wenig ist man so stolz wie auf die Tatsache, daß man das Resultat versuchter Notzucht an einer Göttin ist. Das Peleus-Thetis-Motiv wird wiederholt, aber nach unten transponiert; man fühlt sich an Pyreneus erinnert, der aber wenigstens nicht betrogen wurde. Man begreift, daß Gewalt gegen Frauen in einem bestimmten Selbstbild von Mas­ kulinität seine tiefen Wurzeln hat. Der Erfolg bei der Überwindung des Cae­

4.13  Metamorphosen, Buch 12

207

neus ändert nichts an der sich anschließenden schmählichen Niederlage der Kentauren. In der Schlußepisode der Kentauromachie sind sie wirklich, wie etwa auf den Metopenreliefs der Südseite des Parthenon abgebildet, primitive Triebwesen – sofern man nur anerkennt, daß sich vereinzelt auch bei ihnen tiefe Liebe und Heroismus finden. Hercules’ Sohn Tlepolemus ist enttäuscht, daß Nestor den Sieg seines Va­ ters bei einem weiteren Kampf gegen die Kentauren nicht erwähnt hat. Ge­ meint muß die Auseinandersetzung sein, als Hercules als Gast des Kentauren Pholus (von dem 306 gesagt worden war, er sei zu Beginn der Kentauroma­ chie geflohen) das allen Kentauren gemeinsame Weinfaß geöffnet hatte, was zu deren Angriffen auf Pholus’ Gast geführt hatte; bei der Verfolgung der Kentauren, auf die sich der sterbende Hercules 9.161 selbst zu beziehen scheint, hatte sich unbeabsichtigt die unheilbare Verwundung Chirons erge­ ben, die Ocyroe 2.649 ff. vorhergesagt hatte und die diesen Kentauren dazu bewegt hatte, seine Unsterblichkeit aufzugeben.390 Nestor ist freilich selbst verletzt, daß ihn Tlepolemus an den Mann erinnert, der u. a. seine Heimat­ stadt Pylus zerstört, sein Haus verbrannt und seine elf Brüder getötet hat, u. a. Periclymenus, der wie Proteus alle möglichen Gestalten annehmen konnte, den aber Hercules mit seinem Pfeile abschoß. Die erzählte Episode antizipiert die im nächsten Buch von Ovid nur kurz erwähnte Einnahme Trojas, so wie die Kentauromachie die Kampfhandlungen vor der Stadt.391 Aber wichtiger als das Erzählte ist die Funktion, die der Performanz des Erzählens selber in dieser Episode zukommt. Geschichten, so lernen wir, sind nicht einfach etwas Neutrales – sie können wehtun, weil sie an eigene Traumata erinnern. Aller­ dings ist nicht davon auszugehen, daß Tlepolemus Nestor bewußt verletzen wollte. Als vollkommener Aristokrat ist Nestor Tlepolemus auch nicht böse (576), dem er die Taten des Vaters nicht zurechnet. Aber er macht ihm deut­ lich, daß er seine Brüder nicht mehr als dadurch, aber eben doch dadurch rä­ chen möchte, daß er über Hercules schweigt („fortia facta silendo/ ulciscor fratres“, 575). Er weiß, daß dessen Verdiense nicht bestritten werden können (546), aber keiner von ihnen würde ja die Taten der tapfersten Trojaner loben: „Quis enim laudaverit hostem?“ („Wer spräche zum Lobe des Feindes?“, 548) Wie schon bei dem Bericht zu dem Tode des Kentaurenpaars legt Nestor eine große Noblesse an den Tag, die den beiden Hauptkontrahenten des nächsten Buches, Aiax und Ulixes, abgeht. Vermutlich ist es kein Zufall, daß Ovids Herz für jemanden schlägt, der selber nur begrenzt zu kämpfen vermag (445 ff., 13.64 ff.), aber dafür mit Taktgefühl zu erzählen weiß. Vgl. Apollodorus 2.5.4. Siehe Gärtner (2004), 44.

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4.  Ordo amorum: Die Reihenfolge der Liebesgeschichten

Von diesem einige Tage nach der Landung erfolgenden Festmahl springt Ovid gleich zehn Jahre weiter (584 f.) zum Tode des Achilles, der auf Anre­ gung Neptunus’ mit Apollos Hilfe von Paris durch einen Pfeilschuß umge­ bracht wird. Von seiner Asche bleibe weniger übrig, als was eine Urne zu füllen vermöge, doch sein Ruhm erfülle die ganze Welt (615 ff.). Allerdings hatte ihn Neptunus kurz vorher als „blutrünstiger als der Krieg selbst“ („bel­ loque cruentior ipso“, 592) bezeichnet – Ovid dekonstruiert damit diesen Ruhm, der größtenteils auf Gewalt basiert. Daß von der „mensura“ (618), dem Maß, seines Ruhmes die Rede ist, erinnert zudem an das Wachsen des Maßes des Erfundenen im Haus der Fama („mensuraque ficti/ crescit“, 57 f.) – auch das unterhöhlt Achilles’ Anspruch auf legitimen Ruhm.392 Wir werden damit auf Achilles’ postume Grausamkeit Polyxena gegenüber vorbereitet. Da­ durch, daß er dem Streit darum, wer Achilles’ Waffen erben solle, im näch­ sten Buch 398 Verse widmet, verändert der Dichter schließlich den Fokus der epischen Dichtung: Nicht die Heldentaten gegen den äußeren Feind, sondern die inneren Spannungen der Griechen stehen im Zentrum.

So zu Recht Jacqueline Fabre-Serris (1995), 104.

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4.14  Metamorphosen, Buch 13

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4.14 M  etamorphosen, Buch 13. Der Triumph der Redekunst über die Tapfer­ keit: Aiax und Ulixes. Leiden ohne Sinn: Hecuba und ihre Kinder. Eine kalte Pietà mit göttlicher Mutter und sterblichem Sohn: Aurora und Memnon. Enttäuschung von Lesererwartungen in Ovids „Aeneis“. Vaterleid um die Töchter: Anius. Tod und Auferstehung: Die Coronen und ihre symbolische Bedeutung. Asymmetrische Eifersucht: Galatea, Acis und Polyphemus. Unerwiderte Liebe zu einer Spröden: Glaucus und Scylla Der Streit um die Waffen des größten griechischen Helden gibt Ovid Gelegen­ heit, seine rhetorische Ausbildung zur Geltung zu bringen, die ihm gegen sein eigentliches Interesse in seiner Jugend aufgezwungen wurde (Tr. 4.10.15 ff.). Die Reden der Kontrahenten entsprechen beide zweifelsohne den höchsten Standards der Redekunst. Aber das, was sie auch zu poetischen Meisterwerken macht, ist nicht einfach das Metrum, in dem sie abgefaßt sind. Nein, was Ovids Darstellung auszeichnet, ist die Subtilität, mit der er durch den unterschied­ lichen Redestil zwei ganz abweichende Charakter durchscheinen läßt. Die Redekunst wird von Ovid hier nicht dazu benutzt, um jemanden zu überreden und dadurch etwas zu erreichen, sondern um deutlich zu machen, welche Art von Mensch sich welcher rhetorischen Strategien bedient. Aiax spricht als er­ ster und greift Ulixes an; dieser verteidigt sich, schafft es aber dabei, auf äu­ ßerst geschickte Weise Aiax’ Glaubwürdigkeit zu unterminieren. Zwar erklärt Quintilian die Position des Verteidigers für schwieriger als die des Anklagen­ den; die Aufgabe des letzteren sei relativ einfach, während der Verteidiger vielseitig verfahren müsse und tausender Künste bedürfe.393 Aber eben diese Position ist Ulixes’ Verstand kongenial, der zudem einen Vorteil dadurch be­ sitzt, daß er als letzter auf das Publikum einwirkt. Gewiß, er muß improvisie­ ren, da er die Rede seines Gegners nicht im voraus kennt, während dieser sich seinen Vortrag vorher zurechtlegen konnte. Aber seine Wendigkeit läßt ihn bei diesem Sprechen aus dem Stegreif brillieren. Entscheidend an Ovids Darstellung ist, daß keiner der zwei Kontrahenten Sympathie erweckt, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. Aiax ist Mann der Tat und nicht des Wortes (9 ff.), Ulixes, der mehr als doppelt so lange spricht, ein gewiefter Redner. Aiax gibt sich nicht die geringste Mühe, auf sein Publikum einzugehen – Ulixes durchaus, aber ausschließlich zu dem Zwecke der Manipulation.394 Aufrichtiges Interesse am Mitmenschen, gar Liebesfähigkeit sind beiden weitgehend fremd – sie denken beide primär an  Institutio oratoria 5.13.2. „Fallacis Ulixis“ („des täuschenden Ulixes“, 712) lesen wir später, als Aeneas an dessen Heimat vorbeisegelt. Trotz vieler Anspielungen auf seine weiteren Aben­

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4.  Ordo amorum: Die Reihenfolge der Liebesgeschichten

sich, aber Ulixes weiß, daß er weiterkommt, wenn er so tut, als gehe es ihm um die anderen. Er ist moralisch viel schlechter als der Odysseus in Sopho­ kles’ Αἴας (Aias),395 während Ovids Aiax dem Haupthelden der Tragödie des Sophokles durchaus ähnelt, auch wenn er, anders als dieser, gleich nach dem Urteilsspruch Selbstmord begeht. Wird ihm also die Wahnsinnstat des So­ phokleischen Aias erspart, gibt er sich doch wie dieser von Anfang an starr­ sinnig, kompromißlos, von der eigenen Überlegenheit und dem eigenen Rechtsanspruch überzeugt, denn er ist als Achilles’ Vetter dessen nächster Verwandter (31). Er hält es für eine Beleidigung, daß er sich überhaupt auf den Anspruch des Ulixes einlassen muß (6, 17 ff.). Zwar wird auch Ulixes das Kompliment erwidern und es für absurd erklären, daß sich Aiax mit ihm zu vergleichen wage (338); aber Ulixes sagt dies erstens nicht am Anfang der Rede, und der Ton, in dem Aiax spricht, stellt zweitens eine Beleidigung der versammelten Heerführer dar, deren Urteil er ganz offenkundig nicht ernst zu nehmen gewillt ist. Das deutlich zu machen impliziert schon die eigene Nie­ derlage. Zwar hat Neil Hopkinson nicht unrecht, wenn er schreibt, Aiax sei „by no means deficient in rhetorical power“ (200; 19). Er befolgt die Regeln der Handbücher, und sein Stil ist kraftvoll, ja, eindrücklicher als der des Ulixes. Aber es fehlt ihm jedes Fingerspitzengefühl, so daß selbst ein viel weniger begabter Gegner als Ulixes den Sieg über ihn davontragen müßte. Aiax lobt die eigene Herkunft von Jupiter, dessen Urenkel er sei,396 während er Ulixes eine Abkunft von Sisyphus unterstellt. Er nennt alle Handlungen des Gegners, die ihn, Aiax, diesen Menschen verachten lassen – wie er sich dem Heerdienst durch vorgetäuschten Wahnsinn zu entziehen suchte, wie er durch verleumderische Anklage Palamedes ums Leben brachte, wie er ­Philoctetes auf Lemnos aussetzte und vor Troja Nestor im Stich ließ, sich aber umgekehrt von ihm, Aiax, vor Hector schützen ließ. Seine Erfolge wie die Tötung des Rhesus und der Raub des Palladiums beruhten nur auf List. Aiax’ Anteilnah­ me an dem kranken und einsamen Philoctetes (45 ff.) ist jene Stelle, wo man für ihn moralische Achtung empfindet. Sympathie erweckt auch seine naïve Religiosität (49, 70). Aber das Ende seiner Rede ist dummstolz: Die Waffen Achilles’ würden nach Aiax rufen, nicht umgekehrt, da für sie, wenn sie ihm gehörten, die Ehre größer sei als für ihn (95 ff.); ein etwaiges Urteil zugunsten teuer ist von Ulixes’ Rückkehr nach Ithaca nirgends die Rede – vielleicht ein Aus­ druck von Ovids mangelnder Sympathie. 395 Man möchte ihn eher mit dem Odysseus in Sophokles’ Φιλοκτήτης (Philoktetes) vergleichen. 396 „A Iove tertius Aiax“ (28) mag sprachmalerisch gelesen werden, denn das Wort „Aiax“ ist das dritte von „Iove“ an, wenn man das erste, „Iove“, mitzählt, wie es die Alten in der Regel taten. Doch ist Aiax Urenkel, nicht Enkel Jupiters.

4.14  Metamorphosen, Buch 13

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Ulixes’ wird proleptisch als Fehlurteil bezeichnet („error“, 113); am besten sei es, wenn die Waffen unter die Trojaner geworfen würden – dann werde man schon sehen, wer von beiden sie sich zurückhole (120 ff.). Aiax sieht nicht, oder will nicht sehen, daß er damit das Verfahren entwertet, dessen Zweck gerade ist, die Lösung des Konflikts durch Gewalt zu verhindern. Nach dieser offenen, impulsiven, latent gewalttätigen Rede schweigt Ulixes eine Weile, bevor er, sein Publikum anblickend, anmutig zu reden anfängt (123 ff.). Er beginnt sehr geschickt damit, zu beklagen, daß dieser Streit erfor­ derlich geworden sei, weil ihnen leider Achilles durch das Schicksal entrissen worden sei. (Die Klage um Achilles wird wiederholt 280 ff.) Dabei tut er so, als ob er sich Tränen abwische (132 f.), aber Ovid läßt keinen Zweifel daran, daß seine Anteilnahme viel geringer ist als die des Aiax an Philoctetes’ Los. Er fährt dann damit fort, das, was seine Rede vielleicht verdächtig machen könne, nämlich seine Redekunst, dadurch in Schutz zu nehmen, daß sie den Grie­ chen so oft genutzt habe. Umgekehrt solle man Aiax nicht zugute halten, daß er dumm scheine – auch wenn er es wirklich sei (135 ff.). Die letzte Bemer­ kung ist witzig und gemein zugleich, weil sie Aiax das Kompliment macht, sich nicht zu verstellen, aber bei einer Eigenschaft, die nicht unbedingt preis­ würdig ist. Wer auf diese Weise Schläge in die Magengrube zu versetzen vermag, ist selbst klug – er behauptet das nicht nur, sondern beweist es durch die Tat seines Bonmots. Und Ulixes’ Klugheit sei den Griechen unentbehr­ lich. Denkt Aiax in Kategorien der Adelsehre und der persönlichen Leistung, argumentiert Ulixes wie ein guter Verkäufer mit dem Nutzen seiner Gaben für die Gemeinschaft. Das Verwandtschaftsargument wischt er damit beisei­ te, daß es noch nähere Verwandte des Achilles gebe wie Vater und Sohn; da diese nicht bedacht würden, sei, was zähle, offenbar nur das Verdienst (151 ff.). Und seines sei deswegen das größte, weil allein er den in Scyrus von der Mut­ ter unter Frauenkleidern versteckten Achilles397 enttarnt und nach Troja ge­ bracht (162 ff.), durch eine List Iphigenia nach Aulis gelockt (181 ff.) und die kriegsmüden Griechen von der Rückkehr abgehalten habe (216 ff.). Er habe nicht nur Rhesus, sondern auch viele andere getötet, wie seine Wunden, die er offen zeigt (264 f.), belegten, während Aiax keine aufweise. Dies spricht aller­ dings nicht gegen Aiax’ überlegene Stärke, und vermutlich weil dieser Ein­ wand naheliegt, beeilt sich Ulixes zu erklären, er bestreite keineswegs die Verdienste seines Kontrahenten (270 f.). Doch habe Aiax vieles nur zusam­ men mit anderen geleistet, auch wenn er selbst dies vergessen habe (275 ff., Von Transvestitismus kann man hier natürlich nicht reden, da Achilles diese Ver­ kleidung nicht selber gewollt hatte und das Ganze eine List der Mutter ist, um ihn dem Wehrdienst zu entziehen.

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4.  Ordo amorum: Die Reihenfolge der Liebesgeschichten

352 f.). Dieser Vorwurf ist teilweise398 berechtigt, denn Aiax ist egoman; aber bei Ulixes’ Einbeziehung der anderen spürt man die manipulative Absicht, und man ist verstimmt. Ulixes kontrastiert ferner die eigene Intelligenz mit der soldatischen Schlichtheit des Aiax. Dieser könnte den berühmten Schild des Achilles gar nicht genießen, da er die Darstellungen auf den Reliefs gar nicht begreife (290 ff.). Aiax sei mit dem Körper nützlich, er selbst jedoch mit dem Geist, auf dessen Lenkung es ankomme (361 ff.). Gewiß habe er sich anfangs dem Krieg zu entziehen gesucht – aber ebenso Achilles, den er ja entdeckt habe, während Aiax dasselbe mit ihm selbst nie gelungen wäre (304 f.). Und was Palamedes und Philoctetes betrifft, so habe ja keineswegs Ulixes alleine gehandelt, son­ dern alle Anwesenden zusammen mit ihm, die nur sich selbst verteidigen, wenn sie die Rechtlichkeit von Ulixes hervorheben (308 ff.). Es sei zudem in Philoctetes’ Eigeninteresse gewesen, zurückgelassen zu werden, und nur er selber, nicht Aiax, sei in der Lage, nun Philoctetes zurückzubringen. Der Le­ ser der Sophokleischen Tragödie weiß zwar, daß Ulixes lügt bzw. sich über­ schätzt, und doch kann er nicht umhin, die verruchte Schlauheit des Redners zu bewundern, der die eigene Schuld geschickt auf die anderen verteilt. Mit dem Raub des Palladiums, so schließt Ulixes, habe er im Grunde Troja schon erobert (348 f.). Wolle man ihm die Waffen nicht geben, dann reiche man sie wenigstens Minerva (380 f.). Es überrascht nicht, daß Ulixes siegt und Aiax nur der Selbstmord verbleibt. Ovid faßt zusammen: „Quid facundia posset,/ re patuit, fortisque viri tulit arma disertus.“ („die Macht einnehmender Rede/ Zeigt der Erfolg: es erhielt der Beredte des Tapferen Waffen“, 382 f.) Es liegt nahe, hierin einen geschichtlichen Wandel abgebildet zu sehen, dessen mora­ lische Ambivalenz Ovid deutlich spürt und ausdrückt. Daß die Gabe der Rede physische Gewalt zurückdrängt, ist zweifelsohne positiv – wir werden diesen Wandel im nächsten Buch im Mythos von Pomona und Vertumnus wieder beobachten. Aber er kann dazu führen, daß schlichte Tapferkeit durch mani­ pulative Verschlagenheit abgelöst wird, denn die Beredsamkeit ist, wie an Palamedes exemplarisch deutlich wurde, in der Lage, das Recht zu verdrehen: „Diese schützt die Schuldigen, und sie unterdrückt die Schuldlosen.“ („pro­ tegit haec sontes, inmeritosque premit“, Tr. 2.274) Der Untergang Trojas wird in deutlicher Anlehnung an Euripides’ Τρῳάδες (Die Troerinnen) und zumal Ἑκάβη (Hekabe) als lange Folge sinnloser Grausamkeiten geschildert.399 Die Tötung des Priamus, die Ver­ Der Erzähler dagegen scheint Aiax eine Sonderstellung zuzuweisen: „Hectora qui solus…/sustinuit“ („der alleine Hector Widerstand leistete“, 384 f.). 399 Die Hekabe (816 ff.) schildert auch die Macht der Πειθώ, der personifizierten Überredung, die die letzte Episode der Metamorphosen vorführte 398

4.14  Metamorphosen, Buch 13

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sklavung Cassandras, die Verbrennung der Tempel, der Todessturz Astyanax’ und die feige Ermordung des Polydorus durch seinen habsüchtigen thraki­ schen Gastgeber Polymestor (es erweist sich als Fehler, daß die Eltern dem Knaben Schätze mitgegeben hatten, 433 f.) bereiten die Opferung Polyxenas vor, die Achilles’ Geist als Totenehrung verlangt.400 Schon die Darstellung seiner Forderung macht deutlich, wie sehr Ovid ihn verabscheut: Der Geist schaut drohend aus („minanti“, 442), er ist so wild („ferus“) wie damals, als er Agamemnon (im ersten Buch der Ilias) mit ungerechter eiserner Waffe („in­ iusto … ferro“, 444) bedroht hatte. Später wird Hecuba von „Wüten“ („sae­ vit“, 504) sprechen. Um so eindrucksvoller erscheint Polyxena selber, die viel ausführlicher als Iphigenia geschildert wird: „plus quam femina virgo“ („eine Jungfrau, die mehr als eine Frau ist“, 451). Wie die griechische Prinzessin nimmt die trojanische den Tod willig auf sich; ihre Hauptsorge ist der Schmerz, den dieser der Mutter verursachen wird. Ihre Tochterliebe (462 ff., 471 ff.) und das Bewußtsein ihrer Reinheit und königlichen Würde (466 ff.) sind großartig und rühren das Volk und den Opferpriester zu Tränen. Polyxe­ na ist zwar glücklich, einem Weiterleben als Sklavin zu entrinnen, aber sie hat keinen Zweifel daran, daß ihr Opfer sinnlos ist: „Haud401 per tale sacrum numen placabitis ullum“ („Durch ein solches Opfer werdet ihr keine einzige Gottheit versöhnen“, 461).402 Ja, sie äußert Gleichgültigkeit gegenüber der Person, dem das Opfer gilt („quiquis is est“/„wer auch immer es ist“, 461). In ihrer verzweifelten Totenklage, die den grausamen Göttern vorwirft, sie zu lange leben zu lassen (518 f.), tröstet sich Hecuba am Ende mit dem Glauben, daß wenigstens ihr jüngster Sohn Polydorus den Krieg und die Ein­ nahme Trojas überlebt habe. Doch als sie ans Meer geht, um Wasser zu schöp­ fen, wird dessen Leichnam angespült. Trotz ihres Schmerzes vermag Hecuba, Polymestor zu einer Unterredung einzuladen, bei der sie ihm noch mehr Gold für ihren Sohn geben wolle; doch als der geldgierige Mörder erscheint, kratzt sie ihm die Augen aus. Bezeichnenderweise läßt Ovid die von Euripides er­ wähnte Tötung der Kinder Polymestors (1046) weg – Hecubas Rache soll als verhältnismäßig und damit als gerecht erscheinen. Dennoch wird auch sie in eine Hündin verwandelt, was Polymestor bei Euripides am Ende nur vorher­ gesagt hatte (1265). Mag dies bei Euripides eine angemessene Strafe für He­ kabes übertriebene Rache sein, betont Ovid mit Nachdruck, niemand habe diese Verwandlung gebilligt – nicht nur unter den Trojanern, sondern auch In der Ilias (23.166 ff.) schlachtet Achilles selber viele Tiere und zwölf trojanische Kriegsgefangene bei der Bestattung des Patroklos. 401 Das „aut“ in drei Handschriften wirft Licht nur auf die Mentalität der Schreiber, die die Leugnung der religiösen Notwendigkeit des Opfers nicht ertrugen. 402 Vgl. die Kritik an den Menschenopfern Hekabe 260 f. 400

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4.  Ordo amorum: Die Reihenfolge der Liebesgeschichten

unter den Griechen keiner, ja, unter den Göttern nicht einmal Juno (572 ff.), was wahrlich etwas heißen will. Die Verwandlungen, so wird damit ange­ sichts des Endes einer so herausragenden Gestalt wie der Mutter Hectors gesagt, gehorchen keineswegs stets einem göttlichen Plan oder drücken eine moralische Weltordnung aus. Es gibt brutale Ungerechtigkeiten, sowohl in­ nerhalb des normalen Weltverlaufs als auch wenn man die mythischen Meta­ morphosen in Betracht zieht. Darin stimmt Ovid mit Euripides überein – das Theodizeeproblem bleibt zumindest in diesem Fall ungelöst.403 Vor dem Beginn seiner eigenen „Aeneis“ fügt Ovid mit dem Mythos um Memnons Metamorphose eine Geschichte ein, die durch das Thema der Kla­ ge um eigene Kinder das Vorangehende mit dem Folgenden verbindet (und durch das Totenopferthema das Frühere weiterführt). Da Achilles, der Mem­ non erschlägt, schon im zwölften Buch gefallen war, ist dies ein gutes Bei­ spiel dafür, daß Ovid thematische Ordnungsprinzipien – hier eine Art Pietà-­ Motiv – chronologischen vorzieht. Allerdings wird Aurora von Ovid ohne Sympathie dargestellt. Anders als Hecuba ist sie menschlicher Empathie bar; es geht ihr nur um ihre Ehre. Sie wendet sich direkt an Jupiter und beginnt (587 ff.) mit einer Klage darüber, daß ihr zu wenige Tempel und Opfer zuste­ hen, auch wenn es ihr jetzt gar nicht darum gehe; sie sei gekommen, um eine Ehrung für ihren gefallenen Sohn zu erbitten. Nur im letzten Vers ihrer Rede spricht sie von den „materna … vulnera“ (599). Man kontrastiere damit Hecu­ ba, die im ersten Vers ihrer Leichenrede auf Polyxena diese in zweiter statt in dritter Person als „dolor ultime matris“ („letzter Schmerz der Mutter“, 494) anredet und die Wunden der Tochter die eigene Wunde nennt, ja, sprachma­ lerisch diese eigene Wunde diejenigen der Tocher umarmen läßt: „meum, tua vulnera, vulnus“ (495). Schärfer könnte der Kontrast zu Auroras Kälte nicht sein. Reiche, ja, wundersame Bestattungsriten sind für Aurora nichts als ein Statussymbol – Hecubas Trauer dagegen ist ebenso aufrichtig wie Baucis’ Gastfreundschaft. Diesem Gegensatz entspricht, daß Aurora, gerade weil sie angeblich von ihrem eigenen Leide überwältigt ist, für dasjenige Hecubas und der anderen Troerinnen kein Mitleid mehr hat, wie sowohl zu Beginn als auch am Ende der Episode hervorgehoben wird (576 ff., 620 ff.). Aber Ovid kritisiert nicht nur die Gefühlskälte reicher und bloß ostentativ um ihre gefallenen Söhne trauernder Römerinnen, für die Aurora offenkun­ dig steht. Wenn man die Bestattungsriten vergleicht, merkt man, daß er auch jemanden anderen im Auge hat. Denn während Hecuba auf dem Grabe Hec­ tors nur graues Haar und Tränen zurücklassen konnte (427 f.) – im Falle Poly­ xenas und Polydoros’ kam sie nicht einmal dazu –, erreicht Aurora eine Götterkritik bieten Die Troerinnen 1077 ff., 1240 ff., 1280 f., 1288 ff., Zweifel an den Göttern werden in der Hekabe 488 ff. geäußert.

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4.14  Metamorphosen, Buch 13

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glanzvolle Bestattung ihres Sohnes. Auf die Verwandlung seines verbrann­ ten Leichnams in einen Vogel folgt die Entstehung weiterer Vögel, der Mem­ noniden, die wehklagen und gegeneinander kämpfend sich wechselseitig als Totenopfer darbringen. Zu Recht schreibt Dippel, „daß sich in der Sinnlosig­ keit ihres brutalen, nur auf den Tod ausgerichteten und dem Nachruhm ver­ pflichteten Kämpfens … die Sicht Ovids gegenüber den in den sonstigen Epen … verherrlichten Helden und ihren Taten widerspiegelt“ (1990; 125). Aller­ dings ist gegen Dippel hervozuheben, daß ein Fortschritt stattgefunden hat: Jetzt wird immerhin keine Jungfrau wie Polyxena mehr geschlachtet. Das „moriturae“ (619) verweist wohl auf die Gladiatorenkämpfe.404 Und Servius berichtet uns mit Bezug auf die von Aeneas vollzogenen Menschenopfer (Aen. 10.517 ff.) mit einiger Verlegenheit: „sane mos erat in sepulchris vi­ rorum fortium captivos necari: quod postquam crudele visum est, placuit gla­ diatores ante sepulchra dimicare.“ („Es war allerdings Sitte, an den Gräbern tapferer Männer Gefangene zu töten: Nachdem dies grausam erschien, ließ man Gladiatoren vor den Gräbern kämpfen.“)405 Sicher hat auch Ovid um diese Entstehung der Gladiatorenkämpfe gewußt, die ihm zuwider waren – AA. 1.164 spricht er vom „traurigen Kampfplatz“ („tristis harena“). Mit dem Mythos schafft er somit zumindest zwei Dinge auf einmal. Er stellt erstens seine Antipathie gegen diese Sitte heraus und erkennt zweitens an, daß sie immerhin geschichtlich einen Fortschritt darstellt gegenüber der Abschlach­ tung Wehrloser. Vermutlich läßt er zudem erneut, wie schon in der Kentau­ romachie, seinen Widerwillen gegen den Vergilschen Aeneas durchblicken. Das wäre ein passender Beginn seiner eigenen „Aeneis“. Denn auch wenn sich keine wörtlichen Anklänge finden, wird doch jeder Leser der Kritik an den Menschen- bzw. Vogelopfern am Grabe Achills bzw. Memnons nicht nur an Homer, sondern auch an Vergil und seinen „pius Aeneas“ gedacht haben, der sogar die expliziten Bitte Magos (Aen. 10.530 ff.) und Turnus’ (12.930 ff.) um Schonung abschlägt und die beiden in Erinnerung an den gefallenen Pal­ las tötet, ja, bei dessen Bestattung sogar vier Söhne des Sulmo und ebensovie­ le des Ufens als Opfer schlachtet (10.517 ff., 11.81 f.).406 Ich will hier nicht auf

Allerdings ist unklar, ob das „Have Caesar, morituri te salutant“ („Heil dir, Caesar, die Todgeweihten grüßen dich“), das nach Suetonius, Vita Divi Claudi (Leben des göttlichen Claudius), 21.6 die Gladiatoren bei der Naumachie des Jahres 52 aus­ sprachen, auch sonst gebraucht wurde. Denkbar ist auch ein Bezug auf Aen. 10.811 und 881. 405  In Vergili carmina commentarii (Kommentar zu Vergils Gedichten), ad Aen. 10.519. 406 Vergil gebraucht das sakrale Wort „immolare“ 10.519, 541 (allerdings mit Bezug auf Haemonides, der gleich nach Mago getötet wird) und 12.949.

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die schwierige Frage eingehen, wie Vergil selber dieses Verhalten seines Hel­ den eingestuft hat.407 Daß Ovid es negativ bewertet hat, steht außer Frage. Auf der Geschlechtsachse gespiegelt wird der Mythos trauernder Mütter im nächsten, dem von Anius und seinen Töchtern. Statt einer Mutter, die ei­ nen Sohn beklagt, beweint nun ein Vater seine Töchter. (Hecuba hatte beides verloren.) Anius erzählt seine Geschichte Aeneas und Anchises, denn 623 setzt nach Ovids „Ilias“ seine „Aeneis“ ein, die sich bis 14.608 erstreckt. Ei­ nerseits ist die architektonische Funktion dieses Teiles wichtig – er leistet den Übergang von der griechischen zur römischen Geschichte. Andererseits woll­ te und mußte Ovid eine Rekapitulation von Vergils Hauptwerk vermeiden – das wäre überflüssig gewesen, hätte ihn zur Imitation verführen können und damit seine Originalität abgewürgt. Die ganze Didotragödie wird daher in vier Zeilen gezwängt (14.78–81),408 dafür mit den Mythen um Scylla eine große Einlage geboten, die, auf den ersten Blick, mit dem Hauptthema nichts zu tun hat. Freilich täuscht der erste Eindruck: Die beiden Eifersuchtsdramen mit der Rache aus enttäuschter Liebe sind offenbar ein Funktionsäquivalent der Liebe Didos zu Aeneas.409 Die bewußte Enttäuschung von Lesererwar­ tungen setzt gleich ein – in Thrakien findet Aeneas zwar eine Erde vor, die von Polydorus’ Blut überfließt (629), aber von den blutenden Myrtenbäumen ist nicht die Rede, die Vergil in einer seiner beklemmendsten Szenen auf dem Grabe Polydorus’ wachsen läßt (Aen. 3.22 ff.). Sicher hängt das damit zusam­ men, daß Ovid, wie Euripides, den Leichnam des Prinzen zu Hecuba hat schwemmen lassen, aber man darf zusätzlich davon ausgehen, daß er hier bewußt etwas auslassen wollte, was nicht überbietbar war, obgleich es mit seinem eigenen Verwandlungsthema eng verbunden war.410 Statt dessen hatte Offenkundig scheint mir, daß Vergils Aeneas ehrlich glaubt, sein Verhalten den Manen des Pallas zu schulden (so zu Recht Kristina P. Nielson (1984)). Doch heißt dies nicht, Vergil habe diesen Glauben geteilt oder als für die eigene Zeit gültig angesehen. Aber Vergils komplexe Einstellung zur Moral kriegerischen Handelns ist nicht Gegenstand dieses Buches. Nur dies: Man kann einen Krieg wegen seines Resultates auch dann für moralisch rechtfertigbar halten, wenn man zugibt, daß in ihm viel Schreckliches geschieht. 408 Zu Recht schreibt Richard F. Thomas (2001), 79: „The very starkness and brevity of much of Ovid’s Aeneid allows the poet to engage ideologies in a particularly intense way.“ 409  Das gilt ganz besonders für die Glaucus-Circe-Episode, wie J. D. Ellsworth (1986), 30 gezeigt hat. 410 Zu Recht schreibt Sergio Casali (2007), 183: „By beginning his Aeneid with this allusion to Polydorus as a bleeding bush, Ovid begins in a Vergilian way—name­ ly, with an allusion to the version of the myth he has discarded from his own text, a quintessentially Vergilian technique.“ Casali weist in seinem wertvollen Aufsatz 407

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er ja schon die aus den Troerinnen bekannte Rachegeschichte wieder einge­ fügt, die Vergil weggelassen hatte, der nicht einmal den Namen des thraki­ schen Unholds ausspricht. Auch in der Episode mit Anius wird gegenüber Vergil etwas hinzugefügt. Denn wenn auch dieser Apollopriester auf Delus, ein alter Freund des Anchises, in der Aeneis durchaus vorkommt (3.80 ff.), wird dort von seinen Kindern nichts erzählt. Ovids Anchises’ Unsicherheit über die Kinder seines Gastgebers (640 f.: „fallor..?’/ „täusche ich mich?“) ist innerhalb des Werkes psychologisch plausibel, spielt aber wohl auch intertex­ tuell auf die Abwesenheit der Episode bei Vergil an.411 Anius berichtet, seine vier Töchter hätten von Bacchus die Gabe erhalten, durch die Berührung ei­ nes Gegenstandes ihn in Getreide, Wein oder Öl zu verwandeln. Das erinnert an Midas – allerdings gab Bacchus diesmal mehr als gewünscht (651), und da kein vermessener Wunsch seitens eines Sterblichen vorlag, könnte man die Hoffnung hegen, alles würde gut ausgehen. Das Risiko des Verhungerns be­ stand jetzt wenigstens nicht. Aber übernatürliche Gaben sind, selbst wenn von einem wohlwollenden Gott verliehen, selten ein Segen – man denke an Ce­ phalus’ Speer. In diesem Falle wecken sie die Begehrlichkeiten Agamem­ nons, der seine Truppen auf diese Weise billig zu ernähren gedenkt. Das ver­ bindet die Geschichte mit derjenigen von Polydoros, dem ja auch das Vermögen zum Verhängnis wurde, das seine Eltern ihm mitgegeben hatten. Zwar gelingt es den Schwestern, Agamemnon, der sie dem Vater entrissen hatte, zu entfliehen – aber dank der Androhung von Gewalt werden sie ihm wieder ausgehändigt, zwei sogar vom eigenen Bruder, der in einem vergleich­ baren tragischen Konflikt steht wie seinerzeit Agamemnon selbst hinsichtlich Iphigenias. Doch geht es hier um den Kampf von Familiensinn und Furcht (663). Selbst der Vater wagt es nicht, den Sohn zu verurteilen, der keine Aus­ sicht auf Sieg gehabt hätte. Doch als Anius’ Töchter gefesselt werden sollen und sie Bacchus um Hilfe ersuchen, werden sie von diesem in Tauben ver­ wandelt. Anius ist allerdings skeptisch, ob eine derartige wundersame Ver­ nichtung („miro perdere more“, 670) wirklich als Hilfe bezeichnet werden kann: eine gefährliche Kritik am Begriff der „rettenden Metamorphose“, die diejenige des Aesacos fortsetzt.

nach, wie sehr Ovids Abweichungen von Vergil eine subtile Kritik an der Aeneis darstellen. 411 Die Geschichte ist allerdings keine Erfindung Ovids. Sie findet sich, wenn auch in anderer Form (ohne Gewaltanwendung), schon in den Κύπρια (Kyprien) frg. 19 der Ausgabe von Davies der Epicorum Graecorum Fragmenta. Euphorion schrieb sogar einen verlorenen Ἄνιος (Anios). Vgl. frg. 2 auf S. 23 der Ausgabe Scheid­ weilers.

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Auf das Gastmahl mit dieser aufwühlenden Erzählung folgt erholsamer Schlaf (675 f. wie 12.577 ff.), und bei der Abreise tauschen Gastgeber und Gä­ ste wertvolle Geschenke aus. Anius gibt Aeneas einen ziselierten Krater mit, der die Geschichte der beiden Töchter des Orion darstellt, die sich bei einer Pest in Theben selber opferten, um die Seuche zu beenden. Daß Anius einen Krater weggibt, der ihn an den Verlust der eigenen Töchter erinnert, gibt Sinn; und das Selbstopfer erinnert den Leser an Iphigenia und Polyxena. Ja, Ovids eigene Ekphrasis erinnert auf der Metaebene an diejenige in der Aeneis (1.453–493). Sieht aber Vergils Aeneas in Carthago seine eigene Vergangen­ heit klar und deutlich abgebildet, findet der Ovidische Held im Krater eine interpretationsbedürftige Andeutung auf seine Zukunft. Denn das Relief auf dem Krater ist ebenso wie seine poetische Beschreibung allusiv – Ovid spricht weder von einer Krankheit (auch wenn seine Darstellung an diejenige der Pest in Aegina erinnert), noch nennt er anfangs die Stadt (ihre Identifikation ergibt sich aus den sieben Toren: 685), noch verrät er die Namen der Töchter, die bei Antoninus Liberalis (25) Metioche und Menippe heißen. Bei Antoninus wer­ den aus ihren Leichnamen zwei Sterne, bei Ovid dagegen erheben sich aus ihrer Asche zwei Männer. „Tum de virginea geminos exire favilla,/ ne genus intereat, iuvenes, quos fama Coronas/ nominat… „ („Wie zwei Jünglinge dann aus der Jungfrauen Asche sich heben,/ Daß sich erhalte der Stamm, Coronen genannt von der Sage“, 697 f.).412 Wir wissen nicht, ob die bei Antoninus als Vorlagen genannten Nikandros und Korinna Ovids abweichendes Ende kann­ ten, aber unwahrscheinlich ist es nicht, daß Ovid hier selber transformierend in die Tradition eingegriffen hat. Denn mit einem solchen Schluß macht er Aeneas Mut. Denn indem in Aeneas Trojanisches weiterlebt, ja, in Italien wiederauf­ersteht, verliert die Zerstörung der Stadt etwas von ihrer Endgültig­ keit (623 f; vgl. 15.439 ff.). Gleichzeitig mag man eine subtile Subversion die­ ser Hoffnung erkennen. Weshalb? Nun, der Mythos wird nicht direkt erzählt, ja, nicht einmal von einem anderen berichtet. Er ist, wie diejenigen auf den Geweben Minervas und Arachnes, nur abgebildet, und zwar diesmal auf ei­ nem Gebrauchsgegenstand, einem Mischkrug. Das Relief wird also bei einem Gastmahl genossen. Vielleicht, so könnte mitschwingen, ist auch die Ge­ schichte von der trojanischen Abkunft Aeneas’ nur ein artistisches Spiel. Ovid folgt, nicht ohne auf neue Metamorphosen anzuspielen, rasch den weiteren Stationen der Reise des Aeneas bis nach Sizilien. Das Erreichen von Zancle (heute Messina) gibt Anlaß, die Geschichte Scyllas zu erzählen. Vor ihrer Verwandlung in ein gefährliches Monster war diese eine Jungfrau, die alle Männer abwies. Wir sind diesem Typus schon gleich am Anfang mit Dem Namen entspricht die Gegengabe der Trojaner, eine Krone („coronam“, 704).

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Daphne und Callisto begegnet, doch unterhält Scylla keine Beziehung idealer oder realer Art zu Diana, sondern nur zu den Nymphen (zum Meer also, nicht zum Wald). Ihnen erzählt sie gerne, wie sie ihre Verehrer abgewiesen hat (735 ff.).413 Eine von ihnen, die Nereide Galatea, stellt seufzend fest, sie könne dies offenbar straflos tun; sie selber habe dafür einen hohen Preis bezahlt. Sie und Faunus’ Sohn Acis hätten einander treu geliebt, ja, ihre Liebe zu Acis sei stärker gewesen als selbst diejenige seiner Eltern zu ihm (751 f.) – die eroti­ sche Form von Liebe erweist sich als die mächtigste. Umworben worden sei sie aber gleichzeitig von dem riesigen Kyklopen Polyphemus, den sie nicht minder gehaßt, als sie Acis geliebt habe. Allerdings habe selbst diesen Roh­ ling die Macht der Venus überwältigt: „Quanta potentia regni/ est, Venus alma, tui!“ („Wie weit, holdselige Venus,/ Reicht nicht deine Gewalt!“, 658 f.) Die Kulturentwicklung scheint hier, in einem anderen Land, neu zu beginnen. In deutlicher Entsprechung zu Hylonomes Verhalten schildert Ovid durch Galateas Mund Polyphemus’ Versuche, sich durch Kämmen, Stutzen des struppigen Bartes und Betrachten im Wasser gefälliger zu gestalten (764 ff.). Man hat sogar den Eindruck, er habe die Ars amatoria gelesen (1.517 f.). Ja, sogar seine berüchtigte Grausamkeit scheint er abzulegen – Fremdlinge kön­ nen gefahrlos anlegen. „Caedis amor feritasque sitisque inmensa cruoris/ ces­ sant“ („Wildheit, Liebe zum Mord und der unersättliche Blutdurst/Rasten“, M. 13.768 f.). Aber anders als im Falle Hylonomes, die durch ihre Liebe zu ihrem Selbstopfer befähigt wird, ist die Transformation des Kyklopen nicht von Dauer. Er bleibt in seinem Wesen der grausame Rohling, der er in Ho­ mers Odyssee und in Euripides’ Κύκλωψ (Der Kyklop) ist, auch wenn er sich poetisch nicht minder als physisch aufputzt. Doch Wortgeklingel verwandelt nicht das Wesen. Wie bei Homer (9.273 ff.) und bei Euripides (316 ff.), der der religiösen Gleichgültigkeit des Homerischen Ungeheuers eine intellektuelle, sophistische Wendung gibt, da für seinen Polyphemos Zeus letztlich darin besteht, zu trinken und zu essen (336 f.), ist auch Ovids Kyklop ein Verächter der Götter (761, 842 ff., 857). Zwar ist die lange Rede, die er hervorbringt, nachdem er sich auf einer riesigen Hirtenflöte versucht hat (789–869), strek­ kenweise wörtlich aus Theokrits elftem bukolischem Gedicht übersetzt. Aber der Unterschied zwischen Theokrits und Ovids Behandlung ist enorm. Schon im sechsten Gedicht Theokrits, in dem die Rinderhirten Damoitas und Daph­ nis einander die Liebe Polyphemos’ zu Galateia vorspielen, schafft es Poly­ phemos, seine Leidenschaft dadurch unter Kontrolle zu bringen, daß er so tut, als sei ihm die Geliebte gleichgültig; denn er weiß, daß sie flieht vor dem, Man beachte das Polyptoton und den Parallelismus „ad pelagi nymphas pelagi gratissima nymphis“ („Ging zu den Nymphen des Meers, lieb all den Nymphen des Meeres“, 736), das die wechselseitige Zuneigung treffend ausdrückt.

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der sie liebt, und denjenigen verfolgt, der sie nicht liebt: καὶ  φεύγει φιλέοντα καὶ οὐ φιλέοντα διώκει (6.17).414 Gewiß, es ist nur eine Verstel­ lung, und bei der Selbstbetrachtung im Wasser überzeugt er sich in grotesker Selbsttäuschung, die zum Verliebtsein dazugehört (18 f.), er sei schön (35 ff.). Aber Gewaltphantasien, geschweige denn Gewaltausübung, bleiben ihm fremd. Das gilt auch für das elfte Gedicht, trotz der vagen Anspielung auf Odysseus (11.61). Und auch wenn der Kyklop hier seine Liebesschmerzen de­ tailliert ausmalt und sogar seiner Mutter zürnt, daß sie ihn nicht mit Kiemen geboren habe, so daß er mit der Nereide im Wasser leben könne (54 ff.), er­ kennt er schließlich die Torheit seiner Liebe, von der er sich durch sein Lied befreit hat (72 ff.). Jede tragische Dimension fehlt. Ganz anders Ovids Polyphemus. Er beginnt mit einer ermüdenden Liste von Lobpreisungen Galateas – was bei Theokrit zwei Zeilen einnahm (20 f.), wird bei Ovid zu neun (789–797); und auf diese folgen, anders als bei Theo­ krit, zehn Verse von Beschimpfungen, da er nicht erhört werde, und zwar alle in Form eines Komparativs („weißer“ usw. bzw. „grimmiger“ usw.). Daß die zweite Liste länger ist als die erste, ist vielsagend und bereitet die aggressive Drohung am Ende vor. Ovid läßt auch ganz bewußt die „romantischen Passa­ gen“ Theokrits weg: Dessen Kyklop erzählt, wie er von der Geliebten träumt und wie er sich erstmals in sie verliebte (22 ff.). Er ist sich schmerzlich seiner eigenen Häßlichkeit bewußt (30 ff.), während Ovids Polyphemus, wie der des sechsten Gedichts Theokrits, nach einer Selbstbetrachtung im Wasser von seiner eigenen Schönheit überzeugt ist und sie in vierzehn Versen anpreist (840–853). Ebenso protzig hebt er hervor, Neptunus sei sein Vater (854 f.). Theokrits Kyklop dagegen wäre sogar bereit, sein Leben und sein einziges Auge um der Geliebten willen zu opfern (52 f.). Die Passagen, die einander am meisten entsprechen, betreffen die Auflistungen des eigenen Besitzes, mit dem die Geliebte verlockt werden soll. Aber was bei Theokrit 18 Verse ein­ nimmt (34–58), wird bei Ovid zu 28 (810–837). (Auch die zu schenkenden Tiere vermehren sich enorm: Man kontrastiere 11.40 f. und 831–837, aller­ dings reduzieren sich die vier Bärenwelpen auf eineiige Zwillinge.) Dabei habe ich bei Theokrit die Verse mitgezählt, in denen Polyphemos von seinem Flötenspiel und Gesang über sich und seine Geliebte redet (38–40). Er ver­ sucht aufrichtig, die eigene Wohnstatt als gemütlich und als für Galateia selbst dem Meer vorzuziehen darzustellen (42 f., 49). Denn er weiß, was ihre Heimat ist und was sie liebt. Ovids Polyphemus dagegen gibt nur mit seinem Reich­ tum an; er wisse gar nicht, wieviel Schafe er besitze, denn nur Arme zählten ihr Vieh (824). Es kann nicht überraschen, daß dieser lieblose Wichtigtuer, der nicht nur häßlich, sondern auch moralisch hassenswert ist, weil er glaubt, Theokrit zitiere ich nach Wilamowitz-Moellendorffs Ausgabe der Bucolici Graeci.

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4.14  Metamorphosen, Buch 13

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Liebe lasse sich kaufen, mit einer brutalen Drohung endet: Erwische er Acis, werde er ihn zerstückeln und seine Glieder ins Meer werfen, damit sich Gala­ tea auf diese Weise mit ihm vereine (860 ff.). Er würde es eher ertragen, wenn Galatea alle Bewerber zurückgewiesen hätte (859 f.). Als er das Liebespaar entdeckt, vermag sich Galatea ins Wasser zu retten, während der Kyklop Acis mit einem Felsen trifft.415 Immerhin entsteht aus seinem Blute ein Fluß mit zugehörigem Flußgott. Damit wird gegenüber Theokrit die bukolische Di­ mension transzendiert und eine elegische, ja, epische Qualität beigemengt, die zu einer für Ovid chrakteristischen Genre-Kreuzung führt. Offenbar stellt die Geschichte ein Eifersuchtsdrama da, wie es Theokrit fernlag. „Not only Acis, but any hint of a rival is absent from Theocritus. In Ovid, however, the existence of a third party is essential.“416 Die wichtigste Differenz zwischen Ovids Behandlung dieser Eifersuchtsgeschichte und der­ jenigen von Cephalus und Procris besteht dabei darin, daß dort die Eifersucht symmetrisch war – und zwar weil beide einander aufrichtig liebten. Hier da­ gegen ist nur eine Seite eifersüchtig. Daß Galatea Polyphemus nicht liebt, ja, verabscheut, ist klar – und man zögert auch bei Polyphemus, von Liebe zu reden. Seine Begierde und Wut werden mit dem Aetna und einem der Kuh beraubten Stier verglichen (868 f., 871) – sein Trieb ist animalisch, bar jeder Zartheit. Wenigstens trifft Polyphemus nur den Nebenbuhler, anders als Apollo im Falle Coronis’; doch hat Galatea vielleicht nur Glück gehabt, auch wenn sich die Drohung nicht gegen sie richtete. Wäre nichts Schlimmes passiert, wenn Galatea nicht gleichzeitig jemand anderen glücklich geliebt hätte, wie der Kyklop andeutete? Nun, die nächste Geschichte zeigt, daß Eifersucht auch dann zuschlagen kann, wenn die von demjenigen, den man selbst liebt, geliebte Person nicht zurückliebt. Sowohl der Mythos von Galatea, Acis und Polyphemus als auch derjenige von Scylla, Glaucus und Circe behandeln triadische Relationen, in denen Eifersucht eine zentrale Rolle spielt. Aber im ersten Fall gibt es ein einander glücklich lieben­ des Paar und einen externen Dritten, der die Frau ebenfalls begehrt; im zwei­ ten Fall gibt es zwei Fälle unglücklicher Liebe: B liebt A, und C liebt B, doch A liebt niemanden. A ist, wie wir schon wissen, Scylla, die nach dem Ende von Galateas Erzählung, aus der sie offenbar nichts gelernt hat, nackt am Strande wandelt und von Glaucus erblickt wird, einem Meergott, halb Mensch, halb Fisch, der einst ein Fischer war. Er bekennt ihr seine Liebe und berichtet, wie er einst auf einer Wiese, die als ähnlich unberührt geschildert wird „Partemque e monte“ („und einen Teil vom Felsen“, 882) greift „pars montis“ (810) wieder auf, das sich auf Polyphemus’ eigene Höhle bezog. Die von ihm versprochene Gemeinsamkeit ist das Grab von Galateas Glück mit Acis. 416 Joseph Farrell (1992), 244. Ich verdanke diesem Aufsatz manche Beobachtung. 415

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(924 ff.) wie früher Narcissus’ Quelle (3.407 ff.), erst die Wiederbelebung der von ihm gefangenen Fische erlebte und dann, als er selber das dort wachsende Kraut kaute, seine eigene Verwandlung in einen Gott, der ein komplexes Reinigungsritual vorausging (950 ff.), das dasjenige des Midas (11.136 ff.) übertrifft. Doch obgleich Glaucus behauptet, sein Gottsein nutze ihm nichts, bleibe er von Scylla unerhört (965), wendet sich diese kalt von ihm ab.

4.15  Metamorphosen, Buch 14

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4.15 Metamorphosen, Buch 14. Interesselose Eifersucht: Circe. Apollos Zähmung, langes Leben ohne Jugend, Überleben durch die Stimme: Die Cumäische Sibylle und ihre metapoetische Bedeutung. Verwand­ lung und Rückverwandlung in erster Person berichtet: Macareus. Liebe schlägt in Haß um: Circe und Picus. Canens als Symbol der Dichtung. Aeneas als Dichter. Von den Fesceninnae zur Augusteischen Dichtung: Eine metapoetische Deutung des apulischen Hirten und der Nymphen. Konsens statt Gewalt: Pomona und Vertumnus. Das Postulat einer Liebe jenseits von Standesschranken: Iphis und Anaxarete. Die metapoetische Bedeutung der Diskussion von Jupiter und Mars und die Paar-Apotheose von Romulus und Hersilia Glaucus begibt sich zur Tochter Sols, Circe, deren Zauberkräfte ebenso be­ rühmt sind wie diejenigen der Sol-Enkelin Medea und der wir in demselben Buch noch einmal begegnen werden (das ist wohl der Grund für die Buch­ grenze innerhalb der Episode). Er bittet sie um magische Hilfe, auch wenn es ihn beschämt, sie über die Vergeblichkeit seiner Werbung bei Scylla zu in­ formieren (18 f.). Doch Circe, die sei es aufgrund ihrer eigenen Natur, sei es aufgrund der Rache Venus’ an ihrem Vater (4.190 ff.), erotisch besonders erregbar ist (25 ff.), lehnt mit dem Argument ab, es sei besser, jemandem zu folgen, der die gleiche Begierde nach einem selber zeige. Glaucus sei es durchaus wert, selbst gefragt zu werden, er könne es und er werde es – sie selber zum Beispiel sei an ihm interessiert. „Spernentem sperne, sequenti/ redde vices unoque duas ulciscere facto.“ („Der Verachtenden sei ein Ver­ ächter,/ Aber der Willigen hold und vergelte so zweien auf einmal“, 35 f.) Circe vergißt dabei freilich, daß sie sich Glaucus gegenüber in derselben Si­ tuation befinden könnte wie Glaucus Scylla gegenüber, und in der Tat weist dieser sie mit einem der vielen Adynata zurück, von denen Ovids Œuvre wimmelt. Die Zurücksetzung empört sie, und da sie Glaucus als Gott nicht schaden kann und als Liebende auch nicht will (40 f.), wendet sich ihre grau­ same Rache gegen Scylla, die ihr vorgezogen wurde. Durch Verzauberung des Wassers, in dem diese badet, verwandelt sie ihren Unterleib in bellende Ungeheuer, die den Gedanken an eine körperliche Vereinigung mit ihr bei jedem vertreiben. Wichtig ist der Unterschied zu der vorangehenden Geschichte. Acis hat, was Polyphemus selber begehrt, nämlich Galatea als Geliebte; doch Scylla besitzt Glaucus gar nicht und will ihn gar nicht haben. Sie ist nicht eine Riva­ lin um seinen Besitz. Sie ist es allerdings, ohne es selber zu wollen, um seine Zuneigung, und das genügt für Circes Haß. Zwar mag die ungeschickte For­ mulierung Glaucus’, er werde seine Liebe nicht aufgeben „sospite … Scylla“ („solange Scylla wohlbehalten ist“, 39), Circe den verbrecherischen Plan ein­

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gegeben haben; aber wenn sie dachte, nach dessen Ausführung würde sich Glaucus ihr zuwenden, so hat sie sich gründlich getäuscht (68 f.), so wie Clytie (4.256 ff.). Aglauros war an Mercurius gar nicht interessiert; sie war nur nei­ disch. Polyphemus sah, daß Agis das hatte, was er haben wollte; er war eifer­ süchtig, weil er sein Interesse bedroht sah. Circes Eifersucht ist interesseloser; denn Scylla nimmt ihr keine Liebschaft weg, höchstens geistige Zuwendung. Nur im zweiten Fall lieben bzw. begehren zwei Männer dieselbe Frau. Im ersten und im dritten Fall liebt von den beiden Frauen nur jeweils eine den Mann, aber in dem ersten ist es die von dem Mann geliebte, im zweiten gera­ de nicht. Eine weitere Neuigkeit besteht in dieser Geschichte darin, daß die Eifersucht von einer Person ausgeht, die als Vermittlerin eingeschaltet werden sollte, freilich durch das Mittel der Magie, dessen Ablehnung in Liebesange­ legenheiten bei Ovid konstant ist (vgl. oben Anm. 305 und S. 165). Am Ende bleiben nur unglückliche Personen übrig, und Scylla richtet ihre Wut gegen die an der Meerenge von Messina Vorbeifahrenden, zuerst gegen Ulixes, und hätte sie auch gegen Aeneas gewendet, wäre sie nicht rechtzeitig versteinert worden. Doch auch in dieser Gestalt bedroht sie die Schiffahrt (70 ff.). Zurückgewiesene Liebe liebe löst eine Kettenreaktion von Haß aus, und auch wenn man selbstredend nicht moralisch verpflichtet ist, Liebe zu erwidern, läßt Ovid keinen Zweifel daran, daß Scyllas Verhalten nicht vor­ bildlich ist. Ihre Versteinerung entspricht ihrer kalten Einstellung. Nicht daß sie an Männern nicht interessiert ist, ist zu tadeln, sondern daß sie deren Zu­ rückweisung einerseits genießt, andererseits auch männliches Begehren pro­ voziert, indem sie nackt lustwandelt. Über Pithecusae (heute Ischia), deren meineidige Einwohner in Affen ver­ wandelt wurden (89 ff.), gelangt Aeneas zur Cumäischen Sibylle, die ihm den Zugang in die Unterwelt ermöglicht. Aber anders als Vergil – und sicher auch weil er im zehnten Buch die Unterwelt schon beschrieben hatte – behandelt Ovid den Abstieg nur sehr kurz. Dafür fügt Ovid ein bei Vergil fehlendes Gespräch zwischen Aeneas und der Sibylle ein, das auf dem Rückweg erfolgt. Die greise Seherin weist das Anerbieten ihres Besuchers ab, ihr einen Tempel zu errichten, und erzählt, in Übereinstimmung mit dem Hauptthema der Metamorphosen, von der Werbung Apollos um sie. Er habe ihr zunächst einen Wunsch freigestellt. Sie habe Staub aufgelesen und um ebensoviele Lebens­ jahre gebeten, wie sie Staubteilchen in der Hand halte. Apollo habe ihr dies gewährt, sie aber darauf hingewiesen, sie habe vergessen, um Jugendfrische zu bitten – er würde ihr auch diese verleihen, schenke sie ihm ihre Jungfräu­ lichkeit (132 f., 140 f.). Sie aber habe abgelehnt und müsse nun ein langes Alter ertragen, in dem ihre Kräfte immer mehr abnähmen – sieben Jahrhunderte habe sie schon gelebt, drei stünden ihr noch bevor. Am Ende werde selbst Apollo sie vielleicht nicht mehr erkennen und bestreiten, sie je geliebt zu ha­

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ben; „voce tamen noscar, vocem mihi fata relinquent“ („werde ich nur noch an der Stimme erkannt werden; die Stimme wird mir das Schicksal belassen“, 153). Dreierlei ist an dieser Geschichte von grundsätzlicher Bedeutung. Erstens entspricht es der geschichtsphilosophischen Lesart dieses Buches, daß Apollo einen beachtlichen moralischen Fortschritt vorzuweisen hat: Mit der Ableh­ nung durch die Sibylle findet er sich ab; diese muß sich nicht in einen Lor­ beerbaum verwandeln, um ihre Jungfräulichkeit zu wahren. Daß er sie mit Geschenken zu bestechen sucht, ist gewiß noch fragwürdig, aber von der Ge­ walt hat der Gott ebenso Abschied genommen wie von grausamen Strafen. Zweitens schildert Ovid das Los der Sibylle als nicht gerade beneidenswert – der moderne Leser denkt an die Strudlbruggs, die unsterblichen Greise in Jonathan Swifts Gullivers Travels. Wir erleben noch einmal, wie bei Phaethon, Semele und Midas, daß die Erfüllung menschlicher Wünsche durch eine Gottheit selten ein Segen ist, weil der Mensch nicht die Weisheit besitzt, das Richtige zu wünschen. Möglicherweise will Ovid auch den Wunsch der Si­ bylle tadeln, eine alternde Jungfrau zu bleiben, auch wenn ihr die fragwürdi­ gen Charakterzüge Scyllas abgehen. Ich sprach gerade von Swift – doch Ovid hatte selber schon die ewigen, aber alternden Gatten bzw. Geliebten der Göt­ tinnen erwähnt, deren Los selbst Jupiter nicht ändern konnte (9.418 ff.). Die Irreversibilität des Alters, so schien es damals, gehört zu den unveränderli­ chen Gesetzen der Wirklichkeit; und wir lernen nun dazu, daß angesichts dessen Sterblichkeit ein Segen ist. Unter den zu ewigem Alter verfluchten Gatten nahm Tithonus die erste Stelle ein (421 f.), über den sich Ovid schon in den Amores lustig gemacht hatte: Wegen seiner Impotenz werde ihm seine Frau untreu (1.13.35 ff.; vgl. auch 3.7.42). Schon lange vor Ovid war die zuneh­ mende Schwäche Tithonos’ verspottet worden, aufgrund deren seine Gattin seinem Bette ferngeblieben sei – so schon im homerischen Hymnus an Aphrodite (218–238, 230), in dem die Göttin Anchises erklärt, warum sie ihm keine Unsterblichkeit verleihen werde. Von Tithonos, heißt es dort, sei am Ende zwar keine Kraft, aber doch eine unentwegte Stimme übriggeblieben (237). Von da ist es nicht weit bis zur Vermutung der Sibylle, ihre Identität werde durch die Stimme bewahrt werden. Drittens aber war Ovid sicher mit dem Mythos von der Verwandlung des Tithonos in eine Zikade vertraut.417 Es ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, ob ihn der Verfasser des homerischen Hymnus schon kennt (ausdrücklich ist der Mythos erst seit dem 5. Jh. v. Chr. Ob Kallimachos in frg. 1, 29 ff. der Αἴτια bei seiner Identifikation mit der Zikade auf den Tithonosmythos anspielt, ist nicht absolut sicher, aber doch sehr wahr­ scheinlich.

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belegt),418 aber Richard Janko hat kürzlich die schon von Johannes Theoph. Kakridis (1930) vertretene Auffassung erhärtet, nur so gebe V. 237 Sinn. Ja, er hat das erst im neuen Jahrtausend dank eines Papyrusfundes vervollstän­ digte Tithonosgedicht Sapphos, das Martin L. West (2005) ediert hat, plausi­ bel dahingehend interpretiert, die Dichterin weise am Ende mit der Behand­ lung von Tithonos’ Alter, gegen den pessimistischen ersten Eindruck, implizit auf dessen Transformation in eine Zikade hin – „an ideal image for the aged poetess herself, with her well-attested wish to have her poetry confer glory beyond the grave“ (2017; 280). Da Ovid die Sibylle ausdrücklich „vates“ nennt (129), was „Seher(in)“, aber eben auch „Dichter(in)“ bedeutet, ist es höchst plausibel, daß ihre Aussage über die Identitätswahrung durch die Stimme auf den Dichter selbst bezogen werden soll. Ja, vielleicht hat Ovid bei der Über­ tragung der Tithonussage auf eine Frau sogar Sapphos Gedicht im Sinn ge­ habt. Physische Unsterblichkeit ist dem Dichter ebenso versagt wie das Aus­ bleiben des Alters, aber sein Werk garantiert ihm jene Unsterblichkeit, die alleine erstrebenswert ist, sei es, daß man sich für, sei es, daß man sich gegen die Liebe entscheidet. Mit großem Erzählergeschick integriert Ovid Vergils Achaemenides­ episode in sein Epos. Bei Vergil trifft dieser zurückgelassene Grieche die Trojaner am Gestade der Kyklopen, denen er nur mit Mühe entronnen ist; er erzählt ihnen (3.613–654) die aus der Odyssee (9.231 ff.) vertraute Episode, wie Polyphemus die Griechen in seiner Höhle gefangen und einige von ihnen verspeist habe. Vergil hat die aus der früheren Literatur nicht bekannte Ge­ stalt dieses – zudem von Kyklopen bedrohten – frühen Robinson Crusoe si­ cher erfunden, um Aeneas eine weitere Gelegenheit zu geben, seine Noblesse zu zeigen. Denn dieser nimmt den verlorenen und gefährdeten Griechen auf seinem Schiff mit. Indem Ovid auf Achaemenides erst zu sprechen kommt, als dieser bei Cumae auf einen anderen Griechen, Macareus,419 trifft, der sich von Ulixes abgesetzt hat, erreicht er zweierlei: Im Austausch der beiden kann er wesentlich mehr Episoden aus der Odyssee einarbeiten, als es Vergil konn­ te oder wollte, und er kann Vergil überbieten, was Aeneas’ Großmut betrifft. Der Vers „iam suus et spinis conserto tegmine nullis“ („schon wieder sich selbst gleichsehend und nicht mehr in einem mit Dornen zusammengesteck­ ten Gewand“, 166), der auf die Bekleidung bei Vergil (3.594: „consertum tegumen spinis“) anspielt, zeigt, welcher Fortschritt inzwischen eingetreten ist: Aeneas hat den ehemaligen Kriegsgegner (220) nicht nur eingekleidet, Erstmals findet er sich bei Hellanikos von Lesbos (im ersten Band von Felix Jaco­ bys Die Fragmente der griechischen Historiker 4 F 140). 419 Hinds nennt Macareus treffend „an Ovidian mythic double of Virgil’s Achaeme­ nides“ (1998; 112) und arbeitet die intertextuellen Implikationen heraus. 418

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sondern ihn sich selbst zurückgegeben. Achaemenides braucht somit bei Ovid gar nicht zu bitten, sondern kann gleich ein Loblied auf seinen Retter singen (167 ff.), bevor er die aus Homer und Vergil bekannte Geschichte wieder­ holt.420 Die Schilderung der Grausamkeit des Kyklopen, sowohl vor (204 ff.) als auch nach (187 ff.) dessen Blendung, steht natürlich in schreiendem Kon­ trast zu dessen Liebeslied auf Galatea. Macareus revanchiert sich mit der Erzählung der Fortsetzung der Reisen des Ulixes, die im zehnten Buch der Odyssee berichtet werden, von den in Rinderhäuten eingeschlossenen Win­ den des Aeolus, die Ovid noch in indirekter Rede berichtet, über die Laestry­ gonen bis zu Circe, vor der er Aeneas, den gerechtesten der Troer, der nicht mehr Feind sei (245 ff.), ausdrücklich warnt. Die Circe-Episode ist natürlich von besonderer Bedeutung für die Metamorphosen und durfte von allen Ge­ schichten der Odyssee am wenigsten fehlen, da es in ihr um Verwandlung und Rückverwandlung geht. Macareus, der in der Odyssee nicht genannt wird, aber zu den 21 Gefährten des Eurylochus gehört (251 ff.),421 kann somit eine selbst erlebte Verwandlung berichten, was den Verwandelten normalerweise versagt ist. Ja, da die Griechen ein ganzes Jahr bei Circe verleben (308), bringt Macareus auch weiteres zu ihr in Erfahrung, das zu ihrem Charakter paßt, den wir aus der Geschichte von Scylla und Glaucus schon kennen. Die vielen wilden, sich jedoch zahm verhaltenden Tiere, die die von Ulixes ausgeloste Gruppe an der Schwelle des Palastes Circes antrifft, erinnern an die verstei­ nerten Tiere und Menschen, denen Perseus auf dem Weg zu Medusa begegnet war (4.780 f.). Daß sie wie bei Homer (10.215) freundlich mit dem Schwanz wedeln (258), macht sie noch unheimlicher. Die Natur dieser Tiere begreifen die Gefährten, nachdem sie Circe, die sie gastlich empfangen und ihnen ei­ nen vergifteten Trank gereicht hat, selbst in Schweine verwandelt hat. Auf­ fallend unterscheiden sich ihre die vielen Kräuter ordnenden Mägde, gleich­ sam Arbeiterinnen einer magischen Fabrik (264 ff.), von den traditionellen Haushaltsaufgaben nachgehenden Dienerinnen bei Homer (10.348 ff.). Im Unterschied zu anderen Berichten einer Metamorphose kann Macareus, ne­ ben dem Wachsen von Borsten, dem Verlust der Sprache und der Verzerrung der Glieder, in erster Person das Schamgefühl erwähnen, das ihn jetzt noch quäle, wenn er an die Entmenschung denke (279). Durch den rechtzeitig ent­ flohenen Eurylochus gewarnt und durch Mercurius geschützt sowie aufgrund seiner Nützlichkeit als Liebhaber (doch interessiert sich Ovid für diese instru­ mentalisierende Beziehung nicht) vermag Ulixes die Rückverwandlung der Gefährten zu erwirken. Der 279–284 detailliert beschriebene Prozeß wird, Vgl. dazu Werner Schubert (1989), 117.  Odyssee 10.208 sind es 22 ohne Eurylochos.

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das einzige Mal im Gesamtwerk,422 302–305 ebenso präzise umgekehrt ge­ schildert – bewirkt wird dies durch die Benutzung des Zauberstabes in umge­ kehrter Richtung („conversae … virgae“, 300) und entgegengesetzte Zauber­ worte („verbaque … contraria“, 301). Man spürt u. a. daran, daß das Werk sich seinem Ende zuneigt. Die Begegnung von Achaemenides, einer Erfindung Vergils, mit Maca­ reus, der einem der Charaktere Homers entspricht, drückt metapoetisch si­ cher die Verschränkung homerischer, vergilischer und ovidischer Epik aus, die in diesen Büchern der Metamorphosen erfolgt. Ja, indem Macareus gleich darauf auch über einen italischen Helden spricht, symbolisiert er den Über­ gang der Weltliteratur von Hellas nach Rom. Als Macareus von einer Diene­ rin wissen will, wen die Statue eines Mannes mit einem Specht auf dem Haupt in einem Tempel des Anwesens Circes darstellt, erhält er die Antwort, es handle sich dabei um den jungen ausonischen König Picus. Schon vor dem Betreten Latiums durch Aeneas ist damit eine Brücke geschlagen zu dieser Landschaft, denn bei Vergil ist Picus der Großvater des Latinus (Aen. 7.48 f.).423 Doch ist er dort zudem Gatte der Circe (7.187 ff.), was Ovid gerade zurückweist (auch wenn die Verwandlungsgeschichte bei beiden Dichtern vorkommt). Picus’ außerordentliche Schönheit zog die Blicke aller Dryaden und Najaden auf sich (326 ff.), doch fühlt er sich nur von einer angezogen, die er auch heiratet und die wegen ihrer herrlichen Stimme, die sogar ihre Schönheit übertrifft, Canens genannt wird. Ein weiblicher Orpheus (auch dies ein Fortschritt Italiens), vermag sie Steine und Bäume in Bewegung zu verset­ zen, Flüsse aufzuhalten und wilde Tiere zu besänftigen (337 ff.) – offenbar in anderer Weise als Circe ihre wedelnden Haustiere. Picus verläßt sie, um jagen zu gehen, und wird dabei von Circe erblickt, die gerade Kräuter für ihre Ver­ zauberungen sammelt. Diese entfallen ihren Händen, „flammaque per totas visa est errare medullas“ („Und in dem innersten Mark schien brennendes Feuer zu irren“, 351). Sie schafft das Scheinbild eines Ebers, das im Gehölz verschwindet und dem Picus nachläuft (358 ff.). Man denkt an die Calydoni­ sche Jagd (vgl. besonders 8.377, das 14.361 geradezu zitiert wird). Danach läßt Circe einen Nebel aufsteigen – auch hier denkt man eine frühere Geschichte, und zwar aus dem ersten Buche (1.599 f.). Freilich war es dort Jupiter, der Io begehrte – jetzt ist es eine Göttin, die einen Sterblichen besitzen will. Darin Zwar war schon im ersten Buch Io zuerst in eine Kuh und dann wieder in ihre Menschengestalt verwandelt worden; aber nur die Rückverwandlung wird aus­ führlich beschrieben (1.738–743), die Verwandlung dagegen nur kurz erwähnt (610 f.), beides ferner in dritter Person. 423  F. 3.291 ff. spricht Ovid von Picus im Zusammenhang mit Faunus; von Canens ist nicht die Rede. 422

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mag man einen Fortschritt in der Gleichberechtigung der Geschlechter sehen, auch wenn es sich um Gleichheit des Unrechts handelt. Freilich ist die einen Sterblichen liebende Göttin ebenfalls schon vorgekommen, und zwar in Ge­ stalt von Aurora, die den ebenfalls jagenden Cephalus in Beschlag nahm (7.700 ff.). Doch Picus läßt es nicht so weit kommen. Seine Abweisung der Göttin, die stolz auf ihre Herkunft verweist, ist schroff („ferox“, 377). „Et ‚quaecumque es‘ ait, ‚non sum tuus. altera captum/ me tenet et teneat per longum, conprecor, aevum,/ nec Venere externa socialia foedera laedam,/ dum mihi Ianigenam servabunt fata Canentem.‘ “ („Redet’ er: ‚Wer du auch seist, nie bin ich der Deine: gefesselt/ Hält mich eine bereits und wird zeitle­ bens mich halten/ Hoffentlich. Nimmer entweih’ ich durch Buhlschaft unse­ ren Ehbund,/ Während das Schicksal erhält die von Janus gezeugete Canens‘“, 378 ff.) Mag die Form auch undiplomatich sein, inhaltlich ist die Reaktion Picus’ richtig und nobel. Wer die Göttin ist, interessiert ihn nicht; er weiß nur, daß er ihr nicht angehört, sondern einer anderen, der er auch angehören will – das Polyptoton mit Moduswechsel „tenet et teneat“ macht seine Bindung zu mehr als etwas nur Temporär-Kontingentem. Keine externe Liebschaft bzw. keine von außen eindringende Liebesgottheit – die Bedeutung von „ve­ nus“/„Venus“ schwankt zwischen Appellativ und Eigennamen – wird den Bund gefährden, den er mit der Ehe eingegangen ist. Anders als die Bezie­ hung zwischen Eltern und Kindern gründet die Ehe in einer Übereinkunft, die ihrem Bindungscharakter eine besondere Weihe gibt. Picus und Canens sind eines der liebevollsten Paare des ganzen Werkes; das Hindernis, das ihre Ehe zerstört, ist, anders als bei Cephalus und Procris, ausschließlich extern. Daß das erste italische Paar so liebevoll ist, mag in Ovids Augen auf eine engere Beziehung Italiens zu ehelicher Liebe als im Fall Griechenlands ver­ weisen. Doch Circe läßt sich nicht einfach abweisen. Nachdem sie ihre Bitten mehrfach vergeblich wiederholt hat, verkündet sie Picus, er werde durch die Tat lernen, was eine Liebende, was eine Frau tue, wenn sie gekränkt sei, und zwar zumal Circe als liebende und gekränkte Frau: „ ‚… laesaque quid faciat, quid amans, quid femina, disces/ rebus’ ait, ‚sed amans et laesa et femina Circe!‘ “ (384 f.) Sie verwandelt Picus in einen Specht und seine Jagdgenos­ sen, die ihr begegnen, in wilde Tiere. Was ist neu an diesem Mythos? Nun, er stellt einerseits eine Spiegelung der Polyphemus-Galatea-Acis-Geschichte an der Geschlechtsachse dar: Diesmal ist es eine Frau, die aus Eifersucht das Glück eines liebenden Paares zerstört. Und anders als in ihrem früheren Ver­ halten wendet sich Circe nicht gegen die Person, die derjenige liebt, der sie abweist, obgleich diese diesmal dessen Liebe erwidert. Ja, auch wenn V. 381 V. 39 spiegelt, da in beiden Fällen die Stetigkeit der eigenen Liebe betont wird, solange die Geliebte lebe, greift Circe jetzt diese Anregung nicht auf,

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sondern bestraft denjenigen, der sie durch seine Abweisung verletzt hat. Daß sie als Liebende den Geliebten nicht verletzen wolle (41), gilt jetzt nicht mehr: Die Liebe ist offenbar in Haß umgeschlagen – der sie allerdings nicht daran hindert, eine Statue des Picus zu besitzen. Gegen Canens geht sie nicht vor. Es ist auch gar nicht nötig, denn Canens verzehrt sich von alleine. In erneuter Analogie zu Orpheus (10.73 ff.) fastet und wacht sie mehrere Tage (423 f.), als ihr Gatte nicht heimkehrt. Aber treuer als Orpheus findet sie kein erneutes Interesse am Leben, sondern verklingt klagend, wie ein Schwan das eigene Totenlied singend und sich am Ende in Luft auflösend (428 ff.).424 Ovid greift dabei auf Cygnus’ Metamorphose 2.371 ff. zurück, denkt aber auch an den allgemeinen Glauben, Schwäne würden vor ihrem Tode besonders gut sin­ gen.425 Einerseits erinnert dieser Tod an Echo, aber anders als diese hat Ca­ nens etwas Eigenes zu sagen, so daß sie andererseits viel eher die Cumäische Sibylle fortsetzt. Metapoetisch ist die Deutung klar: Die Erfahrung von Liebe und leider auch des mit dem Liebesverlust verbundenen Leides ist die ei­ gentliche Quelle von Dichtung. Sie ist es, die den Tod und alle externen Hin­ dernisse überlebt, die etwa Neid und Eifersucht gegen glückliche Liebe mo­ bilisieren. Das gilt auch und gerade für das Weltgedicht der Liebe, das die Metamorphosen darstellen. Macareus verdankt Circe immerhin eines – die Vorhersage der Gefahren, die auf der weiteren Reise des Ulixes noch drohen. Er steigt daher aus dem epischen Unternehmen aus und bleibt in Italien (438 ff.). Aeneas dagegen muß nach Latium weiter, bestattet aber vorher seine Amme Caieta. Bei Vergil ist dieser Akt die Scharnierstelle zwischen odysseischem und iliadischem Teil (Aen. 6.900–7.6 mit dem Namen des Ortes bzw. der Amme symmetrisch im vorletzten Vers des sechsten bzw. dem zweiten des siebten Buches). Und zwar hat der Akt deswegen symbolische Kraft, weil der Abschied von der Amme Aeneas auf die neue Heimat in Latium vorbereitet (so wie der Abschied von Anchises am Ende des dritten Buches der Liebesverwicklung mit Dido un­ mittelbar vorausgeht). Indem Ovid die Bestattung unmittelbar auf den Bericht eines Gefährten Ulixes’ folgen läßt, gibt er zu erkennen, daß er die ersten sechs Bücher der Aeneis als Odyssee-Imitation verstanden hat.426 Daß er, an­ ders als die heroischen Kämpfe in Italien, die er nur knapp streift, die kurze Die Lesart „Camenae“ in V. 434 schlägt eine plausible Brücke zu den römischen Musen, die sicher 15.482 genannt sind. 425 Vgl. Aischylos, Ἀγαμέμνων (Agamemnon) 1444 f., Platon, Φαίδων (Phaidon) 85 b, Aristoteles, Naturgeschichte der Tiere 615b1 ff.. 426 Hinds (1998; 110 f.) sieht dank der ersten Anspielung auf Caieta 14.157 eine wit­ zige Bezugnahme auf Vergil, der von Caieta in zwei Büchern, aber an unmittelbar anschließenden Stellen spricht, während Ovid dies im selben Buch, aber an zwei 424

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Episode zu Caieta aufgreift, ja, sie dadurch bereichert, daß von den vier ihr gewidmeten Versen (440–443) zwei das Epigramm auf ihrem Grab darstel­ len, das bei Vergil nicht erwähnt wird, hat eine doppelte Funktion. Erstens erscheint Aeneas – denn auch wenn dies nicht explizit gesagt wird, ist er sicher der Autor des Epigramms – hiermit nicht nur als Feldherr, sondern auch als Dichter;427 sein Gedicht ist doppelt so lang wie dasjenige des Vergil­ ischen Aeneas, der freilich viel erzählt, bei der Weihung der Waffen des Abas in Actium (3.288). Und zweitens is der Inhalt des Epigramms bemerkenswert: „H ic·me·caietam·notae·pietatis·alumnus /  ereptam·argolico ·qvo ·debvit · igne·cremavit.“ („Hier hat mich, Caieta, mein Zögling, dessen frommer Sinn bekannt ist, nachdem er mich dem Feuer der Griechen entrissen hat, mit dem Feuer verbrannt, das er mir schuldig war“, 443 f.) Die „pietas“ Aeneas’ zeigt sich also gerade nicht in dem Feuer, mit dem er Ardea, die Hauptstadt Turnus’, verbrennen wird (575 ff.), sondern vielmehr in dem Feuer der Kremation, die man selbst nicht verwandten Menschen schuldet, die einem große Wohltaten erwiesen haben. (Bezeichnenderweise läßt Ovid die Bestattung des Anchises weg, denn diese versteht sich als Pflicht von selbst.) Und diesem Verdienst kommt gleich, daß man sich und andere rettet, wenn man angegriffen wird. Nicht das Feuer des Aggressionskrieges, sondern die Rettung davor und das unvermeidliche Feuer, das das Ende des Lebens besiegelt, sind die eigent­ lichen Zeichen der „pietas“. An Schlachtendarstellungen ist Ovid nicht interessiert. Die aus Vergil (Aen. 8.9 ff., 11.225 ff.) bekannte vergebliche Gesandtschaft des Venulus bei Diomedes dagegen übernimmt er, weil sie ihm Gelegenheit gibt, durch die Worte des Diomedes seine eigene Ablehnung des Krieges deutlich zu ma­ chen. Trotz des Sieges über die Trojaner ist es den Griechen so schlecht ergan­ gen, daß Diomedes diejenigen beneidet, die früh ertrunken sind (480 ff.) – in­ tertextuell eine Umkehrung der Klage Aeneas’ im Seesturm des ersten Buches der Aeneis, er wäre lieber von Diomedes getötet worden (1.96 ff.). Man denkt ferner an Euripides’ Troerinnen, die nicht verfehlen, neben allem Leiden der Besiegten das bevorstehende der Sieger anzukündigen (65 ff.). Neu gegenüber Vergil ist zwar nicht die Metamorphose der Gefährten (vgl. Aen. 11.271 ff.), aber doch die Einführung Acmons, der von der Verfolgung durch Venus (deren Haß gegen Diomedes demjenigen der Vergilischen Juno gegen Aeneas entspricht)428 so angewidert ist, daß er seine Verachtung ihres Hasses offen getrennten Stellen tut. In Wahrheit überbietet Ovid Vergil, da Caieta nochmals im letzten Buch erwähnt wird (716). 427 Das gilt nach EP. 4.8.67 ff. auch für Germanicus. 428 Man vergleiche Aen. 1.36 und M. 14.477. Zum Haß Junos gegen Aeneas bei Ovid siehe M. 15.773 f., freilich in der Perspektive Venus’.

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erklärt (491 ff.). Venus verwandelt darauf ihn und weitere Gefährten des Dio­ medes in den Schwänen ähnliche Vögel. Ellsworth hat (1988; 339 f.) darauf aufmerksam gemacht, die Rede des Acmon erinnere an diejenige des Eury­ lochos in der Odyssee, in der dieser zur Schlachtung der Rinder des Helios auffordert (12.339 ff.); in beiden Fällen werde die Gottheit frevlerisch her­ ausgefordert. Die Funktion der Übernahme sei es, auch dadurch auf die Vorbildfunktion der Odyssee hinzuweisen, also nicht nur durch die zusam­ menhängende Erzählung des Macareus und zahlreiche zerstreute explizite Anspielungen auf das Schicksal des Ulixes, auf dessen Spuren Aeneas sich bewegt (zum letzten Mal 563 ff.). Doch mag Kritik an göttlicher Rachsucht mitschwingen (wie 4.543 ff., vgl. oben S. 109). Die Rückreise des Venulus gibt Ovid Gelegenheit, eine weitere Meta­ morphose zu erzählen, die eines apulischen Hirten, der einen Tanz der Nymphen mit bäurischen Sprüngen nachäffte und sie mit obszönen Bemer­ kungen beschimpfte, in einen wilden, also bitteren Olivenbaum, die Olea oleaster (514 ff.).429 Einerseits verbindet diese Geschichte mit der vorherge­ henden das Thema der Verachtung der Götter. Andererseits liegt auch hier die metapoetische Deutung auf der Hand: Ovid will die eigene Dichtung, in der Nymphen respektvoll, ja, mit Liebe geschildert werden, absetzen von der altrömischen, etwa den Fescenninischen Versen, die nach der Integra­ tion der griechischen Dichtung in die römische bitter erscheinen. Die Episo­ de ist ein mythisches Äquivalent der Passage im literaturhistorischen Brief Horazens (Epistulae 2.1.139–155), in der die Schlichtheit und Anzüglichkeit des primitiven Geschmacks gegeißelt wird, bevor das besiegte Griechen­land den wilden Sieger unterwarf und dem bäurischen Latium die Künste brach­ te („Graecia capta ferum victorem cepit et artis/ intulit agresti Latio“, 156 f.). Die offenkundig metapoetische Einbeziehung der Nymphen, die vor dem Hirten erst erschreckt fliehen, sich dann besinnen, ihn verachten und rhyth­ misch („ad numerum“, 520) zu tanzen beginnen, stützt die metapoetische Deutung, die oben S. 20 ff. und S. 138 f. dem Baum des Erysichthon bzw. den Ammen des Bacchus gegeben wurde. Die Verwandlung der von Turnus in Brand gesteckten Schiffe des Aeneas in Nymphen durch Cybeles Einsatz (530 ff.) folgt weitgehend Vergil (Aen. 9.69 ff.), allerdings ohne das frühere Gespräch zwischen der Göttin und Jupi­ ter aufzunehmen und mit einer, dem Titel des Werkes entsprechenden viel gründlicheren Beschreibung des Transformationsprozesses (549–557). Das Holz, aus dem die Schiffe bestanden, stammte aus dem Cybele geweihten Ida, doch der dortige Ursprung schert die nun im Meer spielenden Nymphen nicht: „Nec eas sua tangit origo“ (558). Eingedenk ihrer früheren Existenz helfen sie Von der Beziehung eines solchen Baumes auf Faunus ist Aen. 12.766 ff. die Rede.

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jedoch in Seenot geratenen Schiffen, mit der einzigen Ausnahme griechi­ scher. Dies spiegelt die in der Aeneis später berichtete Episode (10.219 ff.), an die Ovid den Leser wohl erinnern will. Vergils Nymphen helfen freilich nur Aeneas, während die Mission der ovidischen viel umfassender, wenn auch nicht universal ist. Vielleicht entdeckt, wer an die Szene der Aeneis denkt, auch leichter die metapoetische Bedeutung der Nymphen in der früheren Sze­ ne. Denn bei Vergil bilden sie nicht nur einen Chor (219) und umtanzen den König (224), Cymodocea wird ausdrücklich „fandi doctissima“ („am gelehr­ testen im Reden“, 225) genannt.430 Gibt es ein passenderes Epitheton für ­einen gelehrten Dichter? Eine implizite Kritik am Tugendbegriff des heroischen Epos stellt die Be­ merkung dar, die zwei Kriegsparteien, deren jede ihre Götter und, was den Göttern gleichkomme, Mut gehabt habe, habe am Ende gar nicht mehr um Land, Herrschaft oder die Hand Lavinias gekämpft, sondern nur um des Sie­ ges willen: „Sed vicisse petunt deponendique pudore/ bella gerunt“ („gesiegt haben wollen sie, und weil sie sich schämen aufzuhören, führen sie Krieg“, 571). Daß oft genug die Angst vor Gesichtsverlust viel mehr als jede rationale Kosten-Nutzen-Rechnung Kriege bestimmt, ist zweifelsohne allzu wahr, aber mit dieser Bemerkung unterminiert Ovid Vergils Glauben an die Gerechtig­ keit der Waffen Aeneas’. Dem Tod des Turnus, mit dem die Aeneis endet, gelten nur zwei Worte: „Turnusque cadit“ („und Turnus fällt“, 573). Ja, in der nächsten Zeile wird das Schwert, das ihn tötet, „barbarus“ genannt – eine schärfere Kritik am „pius Aeneas“ ist kaum denkbar (auch wenn das Wort wertfrei als „fremd“ statt als „barbarisch“ verstanden werden könnte). Ja, der Tod des Turnus ist nicht einfach das Resultat des Kampfes zweier Männer; Hand in Hand damit geht die Vernichtung einer Stadt. Auf die eben zitierten Worte folgt unmittelbar „cadit Ardea“. Indem das doppelte „cadit“ aufeinan­ der stößt, wird das Letale des Ereignisses hervorgehoben; und es wird klar, daß das Sterben einzelner Helden fast stets begleitet ist von dem Leiden der Zivilbevölkerung. Der Brand der Stadt, der bei Vergil ausgespart ist, weil sein Buch vorher endet, der aber zu einem Eroberungskrieg dazugehört, wird teil­ nahmsvoll geschildert. Der Vogel, der aus der Asche hervorgeht, gemäß dem Namen der Stadt ein Reiher, klagt zwar, indem er sich mit seinen Fittichen schlägt (580) – man denkt an die Memnoniden, freut sich aber über das Aus­ bleiben von menschlichen oder tierischen Totenopfern –, aber er weist auch voraus auf den Phoenix, von dem Pythagoras reden wird und der aus der Asche neugeboren wird (15.391 ff.). Wohl auch hier denkt Ovid an die Ret­ tung der Opfer der Geschichte durch die Dichtung. Jeremiah Marklands Konjektur „nandi“ hat keine Grundlage in den Manuskripten.

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Angesichts der Kritik an Aeneas wirkt die Schilderung seiner Apotheose wie die Abwicklung eines ungeliebten Programmpunktes.431 Immerhin wird, wie im Falle des Hercules, die Vergöttlichung einstimmig bewilligt, sogar mit weniger Irritation seitens Junos als im früheren Fall. Ihr Gesicht ist versöhnt („placato … ore“, 593), während sie damals, obzwar grundsätzlich einverstan­ den, auf Jupiters Provokation „duro … vultu“ („mit hartem Antlitz“, 9.260) reagiert hatte. Auch das paßt zum Milderwerden der Götter. Die Trennung des Sterblichen und des Göttlichen in Aeneas erinnert an den analogen Prozeß bei Hercules, doch erfolgt sie jetzt im Wasser (600 ff.) statt im Feuer. Der Gegen­ satz erinnert an denjenigen von Sintflut und Weltenbrand. Vor der nächsten Apotheose, derjenigen von Romulus und Hersilia, findet sich neben einer Liste der Könige Alba Longas (609 ff.)432 die für das Gesamtwerk zentrale Episode von Vertumnus und Pomona, die in die Regierungszeit Procas versetzt wird. Nach Picus und Canens begegnen wir dem zweiten italischen Paar.433 Zweier­ lei charakterisiert es: Es entwickelt einen hohen Begriff der Ehe, und es hat zugleich einen schlichten, ländlichen Ursprung. Hier, wenn irgendwo, hat Ovid jene altrömischen Tugenden verherrlicht, die er in der Ars und in den Medicamina mit Spott und Melancholie als einer früheren Zivilisationsstufe zuge­ hörig dargestellt hatte (siehe oben S. 41 ff.). Freilich ist Pomona anfangs genau­ so ehescheu wie Daphne oder Callisto: Innerhalb Italiens droht sich Ähnliches zu wiederholen wie in der mythischen Zeit Griechenlands. Aber genau diese Befürchtung verwirklicht sich nicht. Denn schon zu Beginn der Geschichte ist ein Unterschied offenkundig. Pomona, die römische Göttin der Baumfrüchte, ist hier eine Nymphe, die den Obstanbau über alles liebt, also gerade nicht die Jagd. „À l’encontre des autres uirgines ovidiennes, qui sont les émules de Dia­ na et qui ont pour espace privilégié des lieux sauvages (bois, rives désertes), Pomone montre une prédilection pour la campagne cultivée.“434 „Nec iaculo Skepsis gegenüber der Institution der Apotheose belegt Am. 3.8.51 f., wenn die Verse echt sind. Kenney athetiert sie. 432 Die Liste weicht etwas von derjenigen F. 4.41 ff. und derjenigen bei Livius, Ab urbe condita libri (Römische Geschichte) 1.3 ab. Siehe die Tabelle bei Conrad Trieber (1894), 124 f. 433 Vertumnus ist ursprünglich ein etruskischer Gott, dessen Name Voltumna volks­ etymologisch an „vertere“ („wenden, wandeln“) angeglichen wurde. Ovid weiß um die Namensänderung (F. 6.409 f.). Doch spielt im Hauptwerk der etruskische Ursprung des Gottes keine Rolle – anders als bei Properz (4.2.3.). Zu den vielen intertextuellen Anspielungen auf diese Vertumnus gewidmete ätiologische Elegie seines Freundes in dieser Episode der Metamorphosen siehe K. Sara Myers (1994b), der ich manche verdanke. – Vom etruskischen Beitrag zur römischen Religion ist 15.558 f. und 577 die Rede. 434 Fabre-Serris (1995), 365 f. 431

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gravis est, sed adunca dextera falce“ („Statt mit dem Spieß ist die Rechte be­ schwert mit gebogener Hippe“, 628). Zweierlei gilt es hervorzuheben: Erstens hat Ovid sicher den geschichtlichen Übergang von einer Kultur der Jäger zu einer solchen der Landwirte ausdrücken wollen. Und zweitens hat er inner­ halb der Landwirtschaft gerade nicht die Viehzucht, nicht einmal die Bienen­ zucht ausgewählt, sondern die Pflege der Bäume, den Gegenstand des zweiten Buches der Georgica. Warum? Nun, Pythagoras wird uns das bald erklären. Ovid mag Gewalt und das Töten auch von Tieren nicht, egal, ob es sich um wilde oder um Haustiere handelt. Die Baumpflege dagegen ist eine Sphäre, in der liebende Fürsorge vorherrscht: Pomona läßt nicht zu, daß die Bäume Durst erleiden, sondern bewässert das Gefaser der Wurzeln mit Liebe (632 ff.). Ich erwähnte gerade das zweite Buch der Georgica, von dessen metapoeti­ scher Bedeutung schon die Rede war (siehe oben S. 21 f.). Nun, es ist nicht schwer, auch Ovids Verse 629–631 so zu lesen, daß sie sich gleichzeitig auf die Baum­pflege und das Dichten beziehen, denn auch bei diesem geht es im übertragenen Sinne darum, Wildwuchs zu stutzen und durch das Einpfropfen von Zweigen anderer Bäume Wachstumsprozesse einzuleiten – gerade nach Ovids Auseinandersetzung mit Ilias, Odyssee und Aeneis liegt eine solche Reflexion nahe. Daß diese liebliche Nymphe menschlicher Kulturlandschaft von Satyrn, Panen, Silenus, der „stets jugendlicher als seine Jahre“ ist („suis semper iuve­ nilior annis“, 639), und dem römischen Gott Priapus belästigt wird, wenn auch ohne Erfolg, kann nicht überraschen. Doch sie schließt ihren Garten ab, offen­ bar ein Symbol ihrer Jungfräulichkeit (635 f. wie bei Catull, Carmina 62.39 ff.). Am meisten aber liebt Vertumnus sie, doch nicht mit mehr Erfolg (641 f.). Daß seine Liebe mehr ist als bloßes Begehren, zeigt sich daran, daß er, wie Venus diejenige des Adonis, die Lebensform seiner Geliebten nachzuahmen sucht. Da er die Gabe hat, sich unbegrenzt zu verwandeln, erscheint er ihr in ver­ schiedenen Gestalten, etwa als Schnitter, Mäher, Landwirt, Baumscherer, Sol­ dat und Fischer, um sich an ihrem Anblick erfreuen zu können (653). Man denkt an den Rat der Ars, der Liebhaber solle wie Proteus sein (1.760 ff.). Schließlich kommt Vertumnus in Gestalt einer alten Frau zu Pomona, lobt ihr Obst und gibt ihr Küsse, „wie niemals sie eine wirkliche Alte gegeben hätte“ („qualia numquam/ vera dedisset anus“, 658 f.). Natürlich erinnert dies an Ju­ piters Annäherung an Callisto in Dianas Gestalt (2.430 f.), Sols an Leucothoe als deren Mutter (4.222) und zumal Apollos an Chione als Alte (11.310), aber der Fortgang weicht markant ab. Vertumnus schreitet nicht gleich zur Verge­ waltigung, sondern beginnt mit einem Hinweis auf das Wachsen der Rebe an der Ulme, das beiden Pflanzen zuträglich sei (661 ff.). Ovid benutzt ein Gleich­ nis, das sich schon in Catulls Epithalamium (62.49 ff.) sowie in einem Epi­ gramm des Antipatros in der Anthologia Graeca (9.231) findet, wo allerdings

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statt von der Ulme von einer abgestorbenen Platane die Rede ist, freilich auch hier, um die Treue einer Geliebten über den Tod hinaus zu symbolisieren.435 Hugo Stadtmüller schrieb das Gedicht noch Antipatros von Sidon zu, doch William Roger Paton hat es in seiner zweisprachigen Ausgabe Antipatros von Thessalonike, einem Zeitgenossen Ovids, zugewiesen. Die Symbiose vom Ulme und Weinstock wurde so populär, daß auch der Ποιμὴν τοῦ Ἑρμᾶ (Hirte des Hermas) auf sie als Vorbild für die wechselseitige Hilfe von Rei­ chen und Armen im frühen Christentum verweist.436 Das Gleichnis ist von Vertumnus deswegen genial gewählt, weil es an den botanischen Interessen­ kreis Pomonas anknüpft. Gleichzeitig ist es noch ohne jede sexuelle Konnota­ tion – hätte Vertumnus auf die Begattungen der Tiere verwiesen, hätte er Po­ mona nur abgestoßen.437 Sein Verfahren ist nicht nur strategisch klug; es zeigt Empathie, ja, Zartheit im Umgang mit der Geliebten – so wie er ihr auch am Ende wünscht, daß, lege sie ihre Sprödigkeit ab, Frost und Wind ihrem Obst nicht schaden mögen (763 f.). Der verwandelte Liebhaber, gleichsam sein eigener Kuppler, fährt fort, indem er/sie Pomona empfiehlt, dem Beispiel von Rebe und Ulme zu folgen und zu heiraten. Ja, er/sie geht so weit, unter ihren zahllosen Bewerbern Ver­ tumnus hervorzuheben. Sie tue dies, weil sie sie mehr als alle anderen und, als ­Pomona selber glaube, liebe (676 f.) und auch Vertumnus so gut kenne, daß dieser sich selber nicht vertrauter sei als ihr (679 f.). Auch das erinnert an Ju­ piter (2.430) und Mercurius (2.704 f.), doch ist jetzt mit der Täuschung keine Absicht zu schaden verbunden. Ja, die Täuschung ist unschwer zu durch­ schauen, zumal da die Alte 685 f. hinzufügt, Vertumnus habe die Gabe, sich zu verwandeln, und 692 hinzufügt, Pomona solle glauben, er sei in ihrer eige­ nen Rede gegenwärtig. Vermutlich ist Pomonas Zustimmung am Ende durch ein Gefühl vorbereitet, zumindest sei ihr die Alte von Vertumnus gesandt worden. Substantieller Natur sind die Vorzüge des Bewerbers, die diese preist: Vertumnus schweife nicht auf dem Erdkreis herum und liebe nicht diejenige Frau, die er gerade sehe. (Der Leser kontrastiert das mit Circe.) Nein, er sei in der Gegend, die Pomona liebt, verwurzelt, und sie sei seine erste und letzte Liebe, der er allein alle seine Jahre widmen wolle. „Tu primus et ultimus illi/  „Maritare“, eigentlich „vermählen“, wird im Lateinischen allgemein für das Hochziehen des Weinstockes an einem Baum verwendet, etwa Horaz, Epodes 2.9 f., hier an Pappeln. Vgl. auch Carmina 4.2.30. 436 Zweites Gleichnis, 51. – Goethes Gedicht „Amyntas“ behandelt Apfelbaum und Efeu als Symbol einer gefährlichen, aber trotzdem zu akzeptierenden Abhängig­ keit zweier Liebender. 437 Auf die Sexualität der Pflanzen konnte er nicht eingehen, weil sie von der antiken Botanik kaum verstanden wurde. Vgl. Georg Wöhrle (1985), 53 ff. zu Theophrast. 435

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ardor eris, solique suos tibi devovet annos.“ (682 f.) Ja, sie teilten dieselbe Liebe (zu den Baumfrüchten): „Quid, quod amatis idem?“ (687) Zur Warnung gegen zu große Sprödigkeit erzählt er/sie ihr ferner die Ge­ schichte von Iphis und Anaxarete. Wichtiger als deren Inhalt ist die Tatsache, daß diese intradiegetische Erzählung – die letzte des Werkes, wenn man von der autobiographischen des Hippolytus absieht – das erreicht, was ihr Zweck ist, was in den meisten anderen Fällen von Erzählungen gerade nicht geschieht: Pomona gibt ihre Sprödigkeit auf. Inhaltlich ist an der Geschichte bemerkens­ wert, daß sie Liebe jenseits der Standesgrenzen verteidigt. Denn der Zypriot Iphis, Sohn einer Witwe und aus einfachen Verhältnissen stammend, habe sich in die adlige Anaxarete verliebt und sich auf alle möglichen Weisen ver­ geblich um sie bemüht, nachdem er vergeblich versucht habe, seiner Leiden­ schaft durch Vernunft Herr zu werden. Ovids Worte „postquam ratione furo­ rem/ vincere non potuit“ (701 f.) wiederholen die analogen zu Medea (7.10 f.), freilich mit Wechsel vom Imperfekt zum Perfekt und mit einem männlichen statt einem weiblichen Subjekt. Offenbar sieht Ovid eine analoge Situation in der Liebe zu einem Fremden und derjenigen zu einer Frau aus höherem Stan­ de. Aber anders als im Falle Medeas sympathisiert Ovid (oder wenigstens Ver­ tumnus) mit Iphis, dessen Zuneigung aufrichtig ist und sich in vielen zarten Akten manifestiert. Durch die Türe von der Geliebten getrennt und auf der Schwelle nächtigend (709), befindet sich Iphis in demselben Zustand wie der Held der Amores in den Paraklausithyra 1.6 und 3.11.438 Anaxarete, die ihren Verehrer verachtet und verlacht, wird dagegen mit Adjektiven wie „saevior“ („heftiger“, 711), „durior“ („härter“, 712), „inmitibus“ („herb“, 714), „superba“ („hochmütig“, 715),“ferox“ („wild“, 715) und „ferrea“ („eisern“, 721) charakte­ risiert. Iphis gibt auf, und weil die Liebe zu Anaxarete sein Leben ausmachte (724 f.), erhängt er sich vor der Türe, an der er so oft abgewiesen wurde. Die Götter bittet er nur darum, daß lange von ihm gesprochen und die Kürze seines Lebens durch die Länge seines Ruhmes kompensiert werde (729 ff.) – eine Bitte, die Ovid dadurch erfüllt, daß er von ihm berichtet. Als Anaxarete von einem Fenster ihres Hauses den Leichenzug beoachtet, erstarrt sie zu jenem Stein, der schon immer in ihrem harten Wesen angelegt war (757 f.). Ihr Tod erinnert an den Niobes, auf deren wesentliche Lieblosigkeit oben S. 126 schon verwiesen wurde. Sicher will Ovid nicht lehren, ein erotisches Begehren müsse erwidert werden – Galatea tat zweifelsohne recht daran, Polyphemus zurück­ zuweisen. Aber Iphis begehrte nicht einfach, Iphis liebte, wie seine Aufmerk­ samkeiten und sein Tod beweisen. Zumindest gab es keinen Grund dazu, ihn zu verlachen, nur weil er arm war. Denn Armut sollte keine unüberwindliche Das Genre findet sich in der lateinischen Dichtung z. B. bei Catull (Carmina 67) und Horaz (Carmina 3.10). Witzig ist die Umkehrung bei Properz (Elegi 1.16).

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Schranke wahrer Liebe sein. Daß Ovid hier der Liebesheirat eine Lanze zu brechen scheint, die erst Ende des 18. Jahrhunderts innerhalb der westeuropä­ ischen Kultur zu einem neuen Ideal wird, ist einer der zukunftsweisendsten Aspekte seines Werkes. Nach der Beendigung seiner Erzählung verwandelt sich Vertumnus zu­ rück in seine normale Jünglingsgestalt, und er ist nun bereit, Gewalt anzu­ wenden. Aber sie ist nicht nötig. „Sed vi non est opus, inque figura/ capta dei nympha est et mutua vulnera sensit.“ („Nicht Not ist Gewalt: mit Entzücken/ Schaut sie des Gottes Gestalt und spürt gleich jenem die Wunde“, 770 f.) Ge­ wiß ist die Bereitschaft zur Gewalt unschön. Aber daß sie nicht erforderlich ist, zeigt eben, daß Vertumnus alles richtig gemacht hat, anders als Apollo Daphne gegenüber. Er hat nicht geprotzt, sondern ist auf die eigenen Bedürf­ nisse der Geliebten eingegangen. Er hat für sie gearbeitet und ihr gezeigt, daß sie beide die Liebe zur durch den Menschen kultivierten Natur teilen. Er hat sich als „amabilis“ („liebenswert“, AA. 2.107) erwiesen. Auch die Manipula­ tion durch die Verwandlung (die an diejenigen in der Odyssee erinnert) ist so geistreich, in der Verteidigung eines Ideals der Monogamie so überzeugend und in der literarischen Gestaltung eines abschreckenden Exemplums so bril­ lant, daß man vermuten darf, daß erst die Verbindung all dessen mit der schö­ nen Jünglingsgestalt (die Pomona ja schon vorher kannte) zündend wirkte. Lehrte doch die Ars: „Ingenii dotes corporis adde bonis.“ („Füge die Gaben des Geistes den Gütern des Körpers hinzu“, 2.112) Mehr noch als Aeneas ist Vertumnus, wie Ovid selber, ein Dichter. Gleichzeitig hat man den Eindruck, in Pomona mit ihrer Harmonie mit der Natur der verjüngten Baucis wieder­ zubegegnen – und man darf annehmen, gegen eine Verwandlung in Bäume am Ende eines gemeinsamen Lebens hätte auch das spätere Paar nichts ein­ zuwenden, wenn sie denn Sterbliche wären. Holzberg hat den Gegensatz zwischen der Daphne-Episode und diesem Mythos treffend hervorgehoben und die Frage gestellt, warum Vertumnus nicht zur Gewalt übergehe. Es sei „zu bedenken, daß die Vertumnus-Ge­ schichte die einzige erotische Erzählung der Metamorphosen ist, die auf dem Boden des späteren Rom spielt, und daß sie zeitlich … der Augusteischen Epoche … näher liegt als die Daphne-Geschichte“ (1999; 321). Allerdings kann ich ihm nicht folgen, wenn er es offen läßt, ob Ovid pro- oder antiaugu­ steisch verfahre, also die strengere Bestrafung von Sexualvergehen unter dem Princeps begrüße oder nur „sein freches Spiel damit“ treibe. Wie genau Ovid zu den Einzelheiten der lex Iulia de maritandis ordinibus, der lex Iulia de adulteriis coercendis und der lex Iulia de vi gestanden hat, wissen wir natür­ lich nicht.439 Was sich den Metamorphosen zweifelsfrei entnehmen läßt, ist Einen guten Überblick über die komplizierten römischen Rechtsnormen zur Ver­

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jedoch, daß Ovid das moralische Unrecht der Vergewaltigung sehr stark ge­ spürt hat und daß von der Daphne-Episode über Cyanes Protest (5.415 f.) bis zum Mythos von Vertumnus und Pomona ein deutlicher moralischer Fort­ schritt erfolgt ist, den der Dichter vielleicht mit der höheren sozialen und rechtlichen Stellung der römischen freigeborenen Frau gegenüber der griechi­ schen in einen Zusammenhang gebracht haben wollte. Daher übertreibt My­ ers nicht, wenn sie in dem Mythos einen der verschiedenen Abschlüsse des Gesamtwerkes sieht: „The episode thus constitutes another one of the many closural devices which link the end of the poem with the opening.“ (1994b; 226) Ovids Überspringen des allzu Bekannten zeigt sich erneut darin, daß er die Gründung Roms nur in fünf Worten erwähnt (774 f.). Die Tötung des Re­ mus wird ausgespart,440 der Raub der Sabinerinnen vorausgesetzt, nicht expli­ zit erwähnt. Statt dessen wird der Angriff der Sabiner geschildert: Als diese mit Junos Hilfe nachts eines der Stadttore öffnen, bittet Venus Najaden um Hilfe. Sie lassen Wasser fließen, das sie freilich auch erhitzen müssen, bevor es die Feinde zurückdrängt – Feuer und Wasser, deren Polarität wir sowohl bei den Katastrophen als auch bei den Apotheosen beobachtet haben (74, 234), wirken diesmal zusammen (787 ff.). Durch die Teilung der Herrschaft zwischen Romulus und Tatius wird das Blutvergießen zwischen Schwieger­ vätern und -söhnen beendet (801 ff.). Witzig an der Apotheose des Romulus, die Mars im Olymp von Jupiter bewilligt bekommt, ist besonders folgendes. Ovid läßt Mars im Götterrat ei­ nen früheren Satz Jupiters zitieren, der in Wahrheit identisch ist mit dem er­ sten Vers von Ennius, Annales, Frg. I.XXXIII Skutsch: „Unus erit quem tu tolles in caerula caeli“ („Einer ersteht, den darfst du erhöhn in die Bläue des Himmels“, 814). So wie Mars kunstwerkintern Jupiter, so zitiert Ovid also kunstwerkextern Ennius.441 Die Dichter werden damit implizit mit den Göt­ tern verglichen, der jüngere mit dem jüngeren, der ältere mit dem älteren. Und so wie der jüngere Gott es ist, der, vom älteren ermächtigt, aktiv wird, so suggeriert Ovid, daß auch er nun das poetische Ruder übernommen hat – frei­ lich im vollen Bewußtsein davon, daß seine eigene Leistung nur dank derje­ nigen seiner Vorfahren möglich sei. Mars entführt Romulus, dessen Leib sich gewaltigung in ihrer geschichtlichen Entwicklung bietet Nghiem L. Nguyen (2006). 440  F. 4.837 ff. geht sie nicht auf Romulus, sondern auf Celer zurück. Nach Livius (1.7.2) ist die Tötung durch den Bruder die verbreitetere Ansicht. Horaz, Epodes 7.17 ff. führt den zeitgenössischen Bürgerkrieg auf den uranfänglichen Bruder­ mord zurück. 441 Zur Präsenz von Ennius in den Metamorphosen siehe Umberto Todini (1992).

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bei der schnellen Fahrt in der Luft auflöst – nach Feuer und Wasser ist das dritte Element für die dritte Apotheose zuständig (824 ff.).442 Doch das ei­ gentlich Neue an dieser Apotheose ist, daß auf Junos Wunsch Iris auch Ro­ mulus’ Frau Hersilia in den Himmel bringt – für die jede Weise, ihren Gatten wiederzusehen, der Himmel wäre (843 f.). Waren bei der Apotheose Aeneas’ keine Widerstände mehr sichtbat, kooperiert Juno nun aktiv mit Jupiter.443 Ja, wurden Hercules und Aeneas alleine vergöttlicht (Deianiras Begleitung wäre kaum passend gewesen, und der Kampf gegen Turnus ging, wie wir wissen, am Ende gar nicht um Lavinia: 569 ff.), ist diese erste und einzige Apotheose eines Paares (und zwar durch ein ausnahmsweise einträchtiges göttliches Paar) als Ausdruck der in Rom erreichten Neueinschätzung dualer Liebe von Mann und Frau zu deuten, die schon in den Geschichten von Picus und Ca­ nens sowie Vertumnus und Pomona begann (von denen nur die erste tragisch endete) und die schließlich in der römischen Liebesdichtung gipfelt, deren Vollendung die Metamorphosen sind. Der doppelten Apotheose entspricht folgender Vers aus dem letzten Gedicht der Tristia an die eigene Frau: „­Dumque legar, mecum pariter tua fama legetur.“ („Solange ich gelesen wer­ de, wird zugleich mit mir auch dein Ruhm gelesen werden“, 5.14.5)

Die Erde kommt wegen des langsamen Verwesungsprozesses nicht in Frage. Der Leser bedauert nicht, dass Ovid darauf verzichtet hat, Junos langatmige und einen unsterblichen Haß gegen Troja bezeugenden Erklärungen im Zusammen­ hang mit ihrer Zustimmung zur Apotheose des Romulus in Horaz’ Carmina 3.3.17 ff. in sein Werk zu integrieren.

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4.16  Metamorphosen, Buch 15

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4.16 M  etamorphosen, Buch 15. Ein römischer König studiert griechische Philosophie: Numa Pompilius und Pythagoras’ Verteidigung des Vegetarismus innerhalb einer Theorie universalen Wandels. Erotische Leidenschaft und Verleumdung: Phaedra. Die Verteidigung der Republik durch den Sieg über sich selbst und die Vollendung der Liebe durch Entsagung: Cipus. Die beiden Epidauri: Aesculapius und Augustus. Panegyrik und Subversion. Selbstvergöttlichung Viel länger als Romulus (14.772–851) behandelt Ovid den Sabiner Numa Pom­ pilius. Denn die ersten 551 Verse des fünfzehnten Buchs, des poetisch schwäch­ sten des Werkes, gelten Ereignissen, die mit seinem Leben und Sterben ver­ bunden sind. Diese Akzentsetzung setzt die Kritik an den heroischen Werten der Aeneis fort, denn von Numa sagt Livius, er habe eine mit Gewalt und Waffen gegründete Stadt durch Recht, Gesetze und Sitten neu gegründet und zu diesem Zwecke eine lange Epoche des Friedens eingeleitet (1.19.1 ff.; ähn­ lich Plutarch, Νομᾶς (Numa) 8.1 ff.). In den Fasti wird Numa „der friedliche König“ („regis … placidi“, 6.259) genannt, und wir lesen zu seiner Herrschaft: „Inde latae leges, ne firmior omnia posset,/ coeptaque sunt pure tradita sacra coli./ exuitur feritas, armisque potentius aequum est…“ („Von da an wurden Gesetze erlassen, damit der Stärkere nicht alles könne, und man begann die überlieferten heiligen Bräuche mit Reinheit zu beachten. Man legt die Wildheit ab, und das Gerechte ist mächtiger als die Waffen…“, 3.279 ff.). Offenkundig paßt das in ein geschichtsphilosophisches Modell der Minderung von Gewalt. Anders als Dionysios von Halikarnassos (Ῥωμαϊκὴ Ἀρχαιολογία (­Römische Altertümer), 2.59.1 ff.) und Livius (1.18.2 ff.), die die geschichtliche Möglichkeit abstreiten, sowie Plutarch, der die Frage offen läßt (1.2 f.), führt Ovid Numas Weisheit auf seine Begegnung mit Pythagoras zurück, den er in Croton aufgesucht habe. Vermutlich hat auch Ovid nicht an das Faktum der Begegnung geglaubt, wohl aber Sympathie gehabt für das Ideal einer Herr­ schergestalt, die eine philosophische Deutung der Wirklichkeit anstrebte. Mit deutlicher Anspielung auf den Titel von Lukrez’ Buch und etwas später (68) auch auf Vergils Hommage an den Dichterphilosophen (G. 2.490 ff.) schreibt Ovid: „Non ille satis cognosse Sabinae/ gentis habet ritus: animo maiora capaci/ concipit et, quae sit rerum natura, requirit.“ („Ihm war noch nicht des sabinischen Volkes/ Bräuche zu kennen genug; in dem vielumfassenden Gei­ ste/ Nimmt er das Höhere auf und forscht nach dem Wesen der Dinge“, 4 ff.) Offenbar wird hier ein Übergang von einer in Riten gegründeten Religion zu ihrer philosophischen Deutung geschichtlich angenommen und als geistiger Fortschritt bewertet. So wie mit Orpheus am Ende des zehnten Buches das heroisch-poetische Zeitalter auf dasjenige der durch die Musen am Ende des fünften Buches repräsentierten Götter folgte, so löst nun ein Philosoph einen

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Dichter ab. Damit erfolgt eine Selbsteinholung Ovids: Dank des Entstehens der Philosophie verstehen wir, warum er am Anfang seines Werkes philoso­ phisch statt mythisch zu sprechen verstand, auch wenn er erst am Ende zu diesem Sprechmodus zurückkehrt. Gleichzeitig bezieht sich Ovid mit seinem Anschluß an Pythagoras auch auf Ennius, den er am Ende des vierzehnten Buches zitiert hatte. Denn Lukrez schreibt 1.120 ff. (=Frg. I.IV Skutsch), En­ nius berichte, Homers Geist habe ihm in einem Traum unter Tränen die Natur der Dinge („rerum naturam“) erklärt. In diesem Traumgespräch erklärte Ho­ mer Ennius, dieser sei seine Reinkarnation, und zwar unter Rückgriff auf die Pythagoreische Seelenwanderungslehre.444 Doch wird auch der geschichtliche Ursprung des Denkens im Mythos her­ vorgehoben, und zwar durch die Myscelos-Episode. In Croton angekommen, erfährt Numa, die Stadt sei von einem Griechen dort gegründet worden, wo Hercules’ Gastfreund Croton bestattet sei. Hercules sei im Traume dem Grie­ chen Myscelos mehrfach erschienen und habe ihn unter Strafandrohung auf­ gefordert, seine Heimat zu verlassen und zum Fluß Aesar in Bruttien zu rei­ sen. Freilich sei es bei Todesstrafe verboten gewesen, aus der eigenen Stadt auszuwandern. Bei dem Prozeß gegen Myscelos seien nur schwarze Steine, die für die Verurteilung standen, in die Urne geworfen worden, doch als man diese ausgeschüttet habe, seien diese, dank Hercules’ Eingriff, allesamt weiß gewesen. Myscelos sei somit freigesprochen worden, habe abreisen und Cro­ ton gründen können. Ovid geht es sicher darum, Myscelos’ Risikobereitschaft (die geradezu an Abraham erinnert) und den griechischen Einfluß auf Italien als gottgewollt darzustellen. (Man denkt an Vergils Euandrus.) Die Geschich­ te von der Wandlung der Farbe der Steine überbietet den Freispruch des Ore­ stes in Aischylos’ Εὐμενίδες (Eumeniden). Dort stellt Athena mit ihrer Stimm­ abgabe (735) nur die Stimmengleichheit her (752 f.), die Freispruch bedeutet (741). Hercules dagegen erscheint zwar nicht selber beim Prozeß, aber durch das Wunder wendet er die Einstimmigkeit in die entgegengesetzte Richtung. Pythagoras sei aus Haß vor der Tyrannis als Verbannter („odioque tyran­ nidis exul“) aus Samos nach Croton gekommen (61) – damit wird die Ge­ schichte von Cipus vorbereitet, der freilich sich selbst verbannt („exul“, 589), um nicht zum Tyrannen zu werden („tyranni“, 602). Das ist ohne Zweifel eine großartige Überbietung des griechischen Modells. Einerseits erinnert dieser Unterschied zwischen dem Griechen und dem Römer an Vergils Hervorhe­ bung der spezifisch römischen Leistungen im politischen Bereich gegenüber der Überlegenheit der Griechen in Bildhauerei, Rhetorik und Astronomie (Aen. 6.847 ff.), andererseits gibt es doch zwei entscheidende Unterschiede zu 444

Spätere antike Autoren berichten aufgrund eines törichten Mißverständnisses, Ennius habe behauptet, er sei auch eine Reinkarnation des Pythagoras gewesen.

4.16  Metamorphosen, Buch 15

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Vergil. Bei Vergil zeigt sich erstens der politische Genius der Römer in der imperialen, durchaus auch pazifizierenden (852) Sendung, bei Ovid dagegen in der Vermeidung der Tyrannei selbst dann, wenn sie dabei ist, einem selbst in die Hände zu fallen. Und zweitens nennt Vergil unter den Vorzügen der Griechen nicht denjenigen, den Ovid am stärksten hervorhebt – denjenigen in der Philosophie. Gewiß ist auch bei Ovid die Abgrenzung zwischen Philoso­ phie und (Pseudo-)Wissenschaft nicht scharf (65 ff.), aber das Aufsuchen der Götter im Geiste („mente deos adiit“, 63) ist das Erste, was Ovid an Pythago­ ras hervorhebt, und das geht über naturwissenschaftliche Erklärungen hinaus. Ebenso überschreitet diese der moralische Impetus, mit dem Pythagoras als erster (73) für den Vegetarismus plädiert. Seine Ausführungen bilden den er­ sten Teil (75–142) seiner langen Rede und enthalten m. E. die besten philoso­ phischen Argumente. Tiere zu töten sei für die menschliche Ernährung nicht erforderlich (76 ff.), auch viele Tiere seien Herbivoren (83 ff.), im goldenen Zeitalter hätten sich die Menschen nicht mit Blut besudelt, daher sei alles voller Frieden gewesen (96 ff.). Gewiß gebe es ein Recht auf Verteidigung gegen Raubtiere (106 ff.), ja, selbst gegen solche, die das Produkt menschli­ cher Arbeit beschädigten (111 ff.). Aber es sei unverzeihlich, die Tiere, die für den Menschen arbeiteten, zu schlachten (116 ff., 141 f.). Aber nicht genug: Die Menschen hätten die Götter in ihr Verbrechen hineingezogen und ihnen un­ terstellt, sie freuten sich an Tieropfern, aus denen man dann die Absichten der Götter zu erschließen suche (127 ff.). Wie steht Ovid zu diesem Teil der Rede des Pythagoras? Ist dies nur Spiel? Myers (1994a; 37 f.) sieht hier zumindest ernsthafte Ethopoeia am Werke und verweist auf den Parallelismus von 15.72 f. und Lukrez’ De rerum natura 1.66 f. – Pythagoras ersetze bei Ovid Epikur. Doch m. E. muß man viel weiter gehen. Wenn Ovid etwas ernst gemeint hat, ist dies seine Ablehnung von Ge­ walt (deswegen ist die Verwandlung in ein Raubtier in den Metamorphosen die schlimmste Strafe), und es ist höchst plausibel, daß er wie Empedokles445 sowie manche Pythagoreer, Mittel- und Neuplatoniker446 auch Gewalt gegen Tiere in seine Ablehnung eingeschlossen hat. Ich halte es für wahrscheinlich, daß er weitgehender Vegetarier war. Die Behandlung der Tieropfer F.  1.347 ff. entspricht nicht ganz, aber doch weitgehend derjenigen des letzten Buches der Metamorphosen (und ist später als sie, wie Eckard Lefèvre (1976), 48 f., 58 überzeugend gezeigt hat). Der Dichter hat aber in den Fasti nicht die Auffas­  Die Fragmente der Vorsokratiker 31 B 128, 136, 137, 139. Die beiden einzigen ganz erhaltenen Verteidigungen des Vegetarismus in der An­ tike sind Plutarchs Περὶ σαρκοφαγίας (Über das Fleischessen) und Porphyrios’ Περὶ ἀποχῆς ἐμψύχων (Über die Enthaltung vom Beseelten). Zu dessen Aus­ einandersetzung mit gegnerischen Positionen vgl. Pedro Ribeiro Martins (2018).

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sung eines anderen dargestellt, sondern spricht, wie auch F.  4.415 f. und 6.171 ff., wo allerdings wie im ersten Buch Schweineopfer akzeptiert werden und zudem die Kritik am Luxus in der Nahrung im Vordergrund steht, durch­ aus in eigener Person.447 Lukrez’ berühmte Schilderung der ihr Kalb ver­ zweifelt suchenden Mutterkuh (2.352 ff.) hat Ovid mit ähnlicher Empathie zweimal nachgeahmt (M. 2.623 ff., F. 4.459 f.). Man beachte auch, daß Ovids Pythagoras die Metempsychosenlehre erst später zur Rechtfertigung des Ve­ getarismus einführt (173 ff., 456 ff.), und zwar nur als Stütze einer Überzeu­ gung, die ihm unabhängig davon aus moralischen Gründen teuer war.448 Zweifel an der Seelenwanderung hatte er sicher (siehe oben Anm. 58); aber sie brauchen nicht auf die Argumente für den Vegetarismus durchgeschlagen zu haben.449 Auch wenn sein Pythagoras pompöse, ja, gelegentlich komische Züge hat, nimmt Ovid den Kern seiner moralischen Botschaft ernst.450 Erst nach dieser zentralen moralischen Botschaft wird unter dem Einfluß eines Gottes (143 ff.) die Unsterblichkeit der Seele und die Metempsychose verteidigt, u. a. unter Rückgriff auf eigene Erinnerungen (160). Das führt dann zu der allgemeinen metaphysischen, zumal naturphilosophischen Lehre vom steten Wandel (176 ff.), bei der Nähe zu und Abstand von Lukrez beson­ Ich halte die Unterscheidung von Autor und Dichterperson in den Fasti wie in der Ars für eine begrifflich sinnvolle, aber hermeneutisch selten relevante Differen­ zierung. Siehe oben Anm. 94. 448 Jene Lehre beweist ohnehin zuviel: Denn angesichts der zahlreichen von ihm er­ zählten Metamorphosen in Pflanzen könnte man sich eigentlich von nichts mehr ernähren. Vgl. M. 9.380 f. 449 Auch die Tatsache, daß Philemon und Baucis ein wenig Schweinefleisch essen (M. 8.647 ff.), ist zwar nicht konsistent mit einem Plädoyer für einen durchgehen­ den Vegetarismus, aber doch in Übereinstimmung mit F. 1.349 ff. Das verspro­ chene Lammopfer Tr. 1.43 f. folgt zwar den Üblichkeiten, aber die Nähe zu Horaz, Carmina 2.17.32 und Tibull 1.1.22 f. läßt den Verdacht aufkommen, vielleicht handle es sich hier nur um intertextuelles Spiel. Man hüte sich, alle Aussagen der Tristia autobiographisch zu lesen. Gewiß liegen den meisten Gedichten eigene Erlebnisse zugrunde (die These, Ovid sei nie verbannt worden, ist absurd), die aber doch stark literarisiert werden. Und daß Ovid in den panegyrischen Gedich­ ten auch für die staatlichen Opferhandlungen Begeisterung heucheln muß (z. B. EP. 4.9.30, 50), beweist keinen Sinneswandel. 450 Ich vermag in der Tatsache, daß Pythagoras vor Scharen schweigender, seine Wor­ te bewundernder Menschen redet (66 f.), keine wirkliche Kritik an seinen Ideen zu erkennen. Vermutlich dachte Ovid an die Akusmatiker, die anders als die Mathe­ matiker nicht selber forschten. Auch wenn der Platonleser Ovid eigenständiges Denken und Argumentieren im Gespräch besonders geschätzt haben wird, bedeu­ tet das nicht, daß er das Lauschen auf Reden weiser Menschen in einem Anfangs­ stadium (in dem sich Numa befindet) geringgeschätzt haben muß. 447

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ders stark sind.451 Der Wechsel von Tag und Nacht (186 ff.)452 und der Jahres­ zeiten (199 ff.), die Wachstums- und Alterungsprozesse (214 ff.), der Über­ gang der vier Elemente ineinander (237 ff.) – auch dieser Rückbezug auf den Beginn des Werkes (1.15 ff.) weist darauf hin, dessen Ende stehe bevor –, der erdgeschichtliche Wandel (261 ff.), die Verwandlung physischer und seeli­ scher Qualitäten durch geheimnisvolle Kräfte in der langen Darstellung der Mirabilia (307 ff.), die Urzeugung (361 ff.), die Metamorphose der Insekten und Kaulquappen (372 ff.), der angebliche Geschlechtswandel der Hyänen453 und der Farbwandel des Chamäleons (409 ff.), der Fall einst mächtiger Staa­ ten und der Aufstieg neuer, wobei in Rom Troja wiedererstanden sei (420 ff.), sind allesamt Beispiele dieses Wandels. Philosophisch ist die Substanz dieses Teils der Rede dürftig, denn Pythagoras ignoriert vier entscheidende Fragen: Was konstituiert die Identität eines Gegenstandes – insbesondere einer See­ le – in diesem Wandel?454 Ist der Wandel gesetzlich strukturiert, und lassen sich einige dieser Gesetz auf andere zurückführen? Was unterscheidet rever­ siblen, oft zyklischen Wandel von irreversiblem? Gibt es ein Telos der Ent­ wicklung, sei es der biologischen, sei es der kulturellen? Ohne eine Antwort auf diese Fragen wirkt die Rede wie reiner Heraklitismus, und wir haben oben S. 51 ff. schon gesehen, daß Ovids Dichtung eine subtile Synthese von Man lese nur die Kritik an der Lehre von der Unzerstörbarkeit der Atome 234 ff. Zu Recht schreibt Segal (2001; 93): „Pythagoras’ Lucretian speech is the ultimate vindication of the Metamorphoses as a didactic poem but also its ultimate triumph over its great Latin predecessor.“ Er hebt u. a. auch hervor, wie Ovid neben De rerum natura auch das vierte Buch der Georgica im Blick hat, aus dem er 4.538 ff. M. 15.364 abwandelt. „Through such echoes Ovid enables his two intertexts to confront one another.“ (70) 452 Ob das sich 194–198 ergebende Akrostichon „canes“ („du bist weiß“) Zufall oder aber Absicht ist, wie Gregor Damschen in einem höchst gelehrten Aufsatz zu zei­ gen sucht (2004; 103 ff.), ist nicht eindeutig zu entscheiden. Die Tatsache, daß es nicht am Anfang eines Sinneinschnitts steht, stimmt skeptisch, aber die Korre­ spondenz zu „candidus“, dem ersten Wort des ersten Verses, ist ein gutes Argu­ ment für das Vorliegen einer Absicht. Vgl. Propertius, Elegi, 3.10.1–4. 453 Dieser Glaube, den schon Aristoteles zurückweist (Naturgeschichte der Tiere 579b16 ff. und Περὶ ζῴων γενέσεως (Über die Entstehung der Tiere) 757a2 ff.), dem auch Plinius folgt (Naturgeschichte 8.54.105), war in Antike und Mittelalter weit verbreitet; vgl. Βαρνάβα Ἐπιστολή (Barnabasbrief) 10.7 und das 24. Ka­ pitel zur Hyäne in der ersten Redaktion des Φυσιολόγος (Physiologus; S. 86 Sbordone) Er gründet vermutlich in der Vermännlichung der weiblichen Ge­ schlechtsorgane der Tüpfelhyäne, die durch einen Urogenitalkanal uriniert, be­ fruchtet wird und gebiert. Angesichts verschiedener Geschlechtsmetamorphosen im Werk war die Nennung der Hyänen zu erwarten. 454 Eine erste Reflexion dieses Problems findet sich bei Platon, Symposion 208a f.

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Heraklitismus und Platonismus voraussetzt, die er selbst begrifflich nicht ausreichend artikulieren konnte. Denn Ovid war kein ausgebildeter Philo­ soph. Teilweise übersteigen diese Fragen den geistigen Horizont nicht nur Ovids, sondern sogar der antiken Philosophie als ganzer, teilweise ist Pytha­ goras primär an der Rechtfertigung des Vegetarismus interessiert, zu dem die Rede am Ende wieder zurückkehrt. Sicher ist sich Ovid dessen bewußt, daß nach Pythagoras’ Philosophie des Wandels es unwahrscheinlich ist, daß die Hegemonie Roms lange wird dauern können: Die Prophezeiung Jupiters Aen. 1.279 von einem „imperium sine fine“ („Reich ohne Ende“)455 und die Pan­ egyrik des Schlusses des eigenen Buches werden damit subtil unterminiert. Von Pythagoras belehrt, kehrt Numa nach Rom zurück. Sein segensrei­ ches Wirken als König wird auch seiner Gemahlin, der Nymphe Egeria, und den Camenae zugeschrieben. Neben dem philosophischen sollen also auch der weibliche und der dichterische Einfluß pazifizierend auf die Römer ge­ wirkt haben (482 ff.). Wie Hersilia ist auch Egeria nach dem Tode ihres Gatten untröstlich. Besonders kümmert sich um sie Virbius, ursprünglich ein Gott aus dem Umkreis der Diana Nemorensis, der schon bei Vergil mit dem aufer­ standenen Hippolytus identifiziert wird (Aen. 7.761 ff.). Allerdings fehlt bei Ovid dessen gleichnamiger Sohn,456 der gegen Aeneas kämpft – teils weil Ovid an Kämpfen wenig interessiert ist, teils weil ein Sohn nicht wirklich zu dem auf Keuschheit höchsten Wert legenden Hippolytus paßt. Dieser erzählt Egeria seine eigene Leidensgeschichte (506 ff. in deutlichem Anschluß an Eu­ ripides’ Hippolytos 1198 ff.). Als Opfer der Verleumdungen der ihn begehren­ den Stiefmutter Phaedra wird er vom Vater verflucht und auf der Flucht von seinen Pferden, die vor einem von Theseus’ Vater geschickten ungeheuren Stier, der aus dem Meer aufsteigt, scheuen, zu Tode geschleift. Anders als bei Euripides erweckt bei Ovid freilich Diana den zerfetzten Leib des schon Ge­ storbenen mit Aesculapius’ Hilfe von den Toten und versetzt ihn in ihr Hei­ ligtum. Warum wird diese Geschichte hier integriert? Drei Gründe scheinen mir wesentlich. Erstens entspricht die Integration eines griechischen Heros in die römische Religion der Aufnahme griechischer Philosophie durch Numa – Ovid will zeigen, daß sich die Römer das Beste der Griechen angeeignet haben.457 Zweitens kann Ovid ganz kurz die letzte Geschichte einer eroti­ schen Leidenschaft berühren. Ovid begnügt sich mit vier Versen, denn nach Ähnlich Horaz im Carmen saeculare (9 ff.), das 51 f. die Aeneis (6.853) fast expli­ zit zitiert. 456 Ich gehe davon aus, daß das einstimmig überlieferte „Virbius“ (7.762) korrekt ist und nicht durch Petrus Hofmann Peerlkamps Konjektur „viribus“ („durch Kräf­ te“) zu ersetzen ist. 457 Granobs schreibt: „So füllt der Abschnitt über die Zeit nach der Gründung Roms 455

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Medea, Scylla, Byblis und Myrrha ist das Bedürfnis des Lesers nach Schilde­ rung einer weiteren verzehrenden Leidenschaft erschöpft. Aber Phaedra darf deswegen nicht fehlen, weil sie in einer bestimmten Hinsicht die früheren Frauen an Verwerflichkiet überbietet. Sie liebt zwar nur ihren Stiefsohn, nicht ihren Bruder oder Vater, aber da sie verheiratet ist, begeht sie zudem Ehe­ bruch, während etwa Myrrha nur ihren Vater seine eheliche Treuepflicht ver­ letzen läßt. Das Schlimmste aber ist, daß Phaedra denjenigen verleumdet, der sie abweist. Zwar haben wir schon anhand Circes gesehen, daß Frauen auf erotische Zurückweisungen empfindlich reagieren, aber Phaedras Verleum­ dung eignet eine besondere Tücke. Ovid kommt dabei der Entdeckung des Mechanismus der Projektion nahe, wenn er Hippolytus erklären läßt, Phaedra habe ihm unheilvoll unter Umkehrung der Schuld vorgeworfen, das gewollt zu haben, was sie selber wollte („me …/…/quod voluit, voluisse infelix crimi­ ne verso/ …/ damnavit“, 500–504). Und in einer parenthetischen Klammer läßt Ovid-Hippolytus einfließen, es sei unklar, welches Motiv sie mehr bewo­ gen habe, die Furcht vor der Beschuldigung durch den Stiefsohn oder der Zorn über die Beleidigung durch die Ablehnung. Diese extrem dichten Verse schließen die Psychopathologie erotischer Begierde ab, die inzwischen durch die Darstellung positiverer Beziehungen ersetzt worden ist. Drittens erlaubt die Episode einige wichtige intratextuelle Bezugnahmen, die die Einheit des Werkes stärken und seine geschichtsphilosophische Ten­ denz deutlich werden lassen. Wenn Hippolytus seinen gemarterten Leib mit den Worten schildert „unumque erat omnia vulnus“ („und alles war eine ein­ zige Wunde“, 529), erinnert sich der Leser an 6.387: „nec quicquam nisi vul­ nus erat.“ („Wunden bedecken ihn ganz“) Damals freilich waren die Wunden von Apollo Marsyas aufs grausamste zugefügt worden. Aber sind die jetzigen Wunden nicht auch einem Gotte zu verdanken, Neptunus? Nun, eben dieser wird bei Ovid, anders als Poseidon bei Euripides (895 f., 1169 f.), nirgends genannt, nur der väterliche Fluch (504 f.). Statt dessen erleben wir Aescula­ pius und Diana am Werk, um Hippolytus wieder zum Leben zu erwecken – während bei Euripides Artemis den sterbenden Hippolytos verlassen muß, da die Gottheit beim Tode nicht zugegen sein darf (1437 ff.). Aber nicht nur von Euripides, auch von Vergil setzt sich Ovid ab. Denn Vergil berichtet (7.770 ff.), Jupiter habe aus Zorn über die Totenerweckung Aesculapius mit seinem Blitz getroffen. Nichts davon an dieser Stelle der Metamorphosen – nur der Unter­ weltsgott ist verärgert (535). Doch ist eine Erwähnung der Tötung des Aescu­ lapius gar nicht erforderlich, denn Ocyroe hatte schon vorhergesagt (2.640 ff.), Aesculapius werde von Jupiter wegen der Auferweckung eines Menschen er­ zwar etwas mehr als das letzte Buch, besteht aber rund zur Hälfte aus … Erzäh­ lungen griechischen Ursprungs.“ (1997; 156)

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schlagen, dann aber vergöttlicht werden.458 Zweck der Vorhersage war offen­ kundig, später nicht auf die Bestrafung des Aesculapius eingehen zu müssen, die nicht in den Kontext gepaßt hätte. In der Tat wird Aesculapius im Laufe des letzten Buches noch zu besonderen Ehren gelangen. Es ist nicht weit her­ geholt, in dem Mythos eine Nähe zu den religiösen Vorstellungen der kom­ menden Weltreligion zu sehen: Ein Wohltäter der Menschheit wird von dem göttlichen Großvater bzw. Vater zuerst geopfert und dann zu göttlichen Ehren erhoben. Doch fremdes Leid kann Egeria nicht trösten – sie löst sich in Tränen auf („liquitur in lacrimas“, 549) und wird von Diana, die von ihrer Treue über den Tod hinaus gerührt ist, in eine Quelle verwandelt. Das Staunen der Zeugen der Verwandlung erlaubt in loser Verknüpfung die Erwähnung dreier weiterer altrömischer Metamorphosen: erstens die Entstehung des etruskischen Gottes und Lehrers der Wahrsagekunst Tages aus einer Erdscholle (553 ff.),459 zwei­ tens die Verwandlung der Lanze des Romulus in einen Baum (560 ff.) und drittens die Geschichte von Cipus (565 ff.). Intratextuell gemahnt die erste Geschichte an die Drachensaat des Cadmus und an diejenige in Colchis. Doch der entscheidende Unterschied ist, daß hier eine einzige Gestalt der Erde ent­ wächst und diese gegen niemanden Gewalt anwendet. Analog darf man die Legende von der Lanze des Romulus in Verbindung bringen mit dem Fried­ licher-Werden Roms, und man mag sogar an ein Weiterwirken Pomonas denken, auch wenn diese nicht genannt wird. Viel bedeutsamer ist die Legende von Cipus (die die erste voraussetzt). Vergleicht man Ovids Gestaltung mit dem kurzen Bericht in Valerius Maxi­ mus’ Facta et dicta memorabilia (Erinnerungswürdige Taten und Aussprüche) 5.6.3., merkt man, was die Gestaltungskraft eines großen Dichters aus einer anekdotischen Erzählung machen kann: Nichts von der genialen Rede des Cipus an das Volk findet sich bei Valerius. Ovids Held entdeckt nach ei­ nem militärischen Sieg über Feinde der Römer plötzlich Hörner an seiner Stirn und wünscht sofort, das Vorzeichen möge, wenn es verheißungsvoll sei, dies für das römische Volk sein, wenn jedoch verhängnisvoll, für ihn selber (571 ff.). Er ist also der Inbegriff des römischen Patriotismus. Ein etruskischer Opferschauer erklärt ihm, das Wunder bedeute, betrete er Rom, werde er Kö­ nig werden und bis zu seinem Lebensende die Herrschergewalt sicher bewah­ In den Fasti wird ganz analog Aesculapius nach der Wiederbelebung des Hippo­ lytus zuerst von Jupiters Blitz getroffen, dann aber vergöttlicht (6.733 ff.). Es fällt auf, daß beide Werke mit Aesculapius enden. – Horaz leugnet dagegen die Auf­ erstehung des Hippolytus als Virbius (Carmina 4.7.25 f.). 459 Ovids Bericht vereinfacht, aber verändert nicht, was wir bei Cicero, De divinatione (Von der Weissagung), 2.23.50 lesen. 458

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ren. Das Ganze ist dabei so formuliert, daß es sich nicht einfach um einen Konditionalsatz handelt. Orakel können bekanntlich hypothetisch sein (so etwa in Aischylos’ Sieben gegen Theben 745 ff.) oder kategorisch (wie in So­ phokles’ König Oidipus 711 ff.). Der Spruch bei Ovid ist zwar hypothetisch, fügt aber einen Imperativ hinzu, die Bedingung des Konditionalsatzes zu er­ füllen. Das Schicksal befehle ihm nämlich, so der Opferschauer, nicht länger zu warten und die offenen Tore der Stadt zu betreten: „Tu modo rumpe moras portasque intrare patentes/ adpropera: sic fata iubent.“ (583 f.) Aber anders als Vergils Aeneas widersetzt sich Cipus dem Schicksal – er will lieber als Ver­ bannter leben denn König Roms sein. Die moralische Autonomie kann das Schicksal übertrumpfen. Allerdings ist Cipus Republikaner genug, um sich auch diese persönliche Entscheidung von Volk und Senat absegnen zu lassen („populumque gravemque senatum“, 590) – man beachte, daß gegen die ver­ breitete Formel „senatus populusque Romanus“ das Volk vor dem Senat an­ geführt wird,460 vermutlich mit Bedacht und nicht nur aus metrischen Grün­ den. Cipus bedeckt seine Hörner mit Lorbeer und spricht vor den außerhalb der Stadt versammelten Mitbürgern. Das Gemeinwesen sei durch einen Mann bedroht, der Hörner trage und der die Freiheit aller gefährde, wenn er die Stadt betreten könne. „Sed nos obstitimus, quamvis coniunctior illo/ nemo mihi est.“ („Doch ich hinderte ihn, wiewohl ihm näher verbunden/ Keiner als ich“, 599 f.) Man müsse diesen Mann von der Stadt fernhalten, fesseln oder töten. In einer stürmischen Reaktion, die in zwei Vergleichen beschrieben wird (603 ff.), die den in der Ilias 2.144 ff. benutzten sehr nahekommen, ver­ langt das Volk, den Betreffenden zu nennen. Da nimmt Cipus sich den Lor­ beer ab, und seine Hörner werden sichtbar. Doch das Volk besteht darauf, daß er den Kranz wieder aufsetze, und beschenkt ihn reichlich mit Gütern außer­ halb der Stadt, von denen er leben kann. Cipus verdient in der Tat jenen Kranz noch mehr als vorher, denn er hat nicht nur einen äußeren Feind, er hat sich selber besiegt. Durch seinen Verzicht auf die Heimat hat er den stärksten Beweis dafür gegeben, wie sehr er sie liebt. Seine Entsagung ist um so bewegender, als sie in derselben Form erfolgt, in der bisher erotische Eroberungen stattfanden – durch eine Verkleidung. Wir haben schon gesehen, daß Vertumnus wie Jupiter, Sol und Apollo in fremder Gestalt zu der Geliebten kommt, allerdings nicht mit der Absicht, ihr zu schaden, und daß er ihr, in eine Alte verwandelt, sagt, keiner kenne Vertumnus so gut wie sie (14.679 f.). 15.599 f. greift das offenbar wieder auf. Aber in welch anderem Lichte! Vertumnus spricht zu Pomona als Alte, die von Pomona nicht als er selber erkannt wird, über Vertumnus; Cipus spricht zum Volke als er selber Das ist keineswegs unerhört (vgl. Sallustius, De bello Iugurthino (Über den Krieg gegen Jugurtha) 41.2), aber sehr selten.

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über jemanden, der er selber ist, den aber das Volk nicht mit ihm zu identifi­ zieren vermag. Vertumnus hat sich selbst verwandelt, damit Pomona nicht ent­ decke, daß er es ist, der redet. Die Hörner sind dagegen Cipus einfach zugefal­ len. Seine eigene Verkleidung besteht vielmehr darin, daß er sie mit Lorbeer bedeckt, damit das Volk nicht begreift, daß es er ist, über den er redet. Ver­ tumnus liebt Pomona aufrichtig, aber er will sie besitzen, denn der Eros ist nie völlig altruistisch. Cipus’ Liebe zu Rom ist reiner und größer – er entsagt sei­ ner Heimat, damit diese ihrem republikanischen Wesen treu bleiben kann. In dieser Geschichte, und nur hier, erklimmt Ovid die Höhe der politischen Ge­ sittung Vergils. Und wiederum kritisiert er ihn subtil.461 Der größte Führer ist nicht derjenige, der Land erobert und Feinde besiegt, sondern derjenige, der sich selbst zu kontrollieren und auf Macht dort zu verzichten vermag, wo sie einem Gemeinwesen nicht zum Segen reicht. Gerne läßt er sich für diesen Dienst Land schenken, statt es sich selber zu nehmen. Hat Ovid mit dieser Geschichte Augustus kritisieren wollen, wie oft be­ hauptet und oft bestritten worden ist? Nun, es hängt davon ab, was man unter Kritik versteht. Hätte Ovid Augustus ausschließlich negativ gesehen, wäre der Schluß des Werkes entweder bloße Höflingsheuchelei, oder man müßte davon ausgehen, die Cipuslegende sei nur erzählt worden, um zu unterminie­ ren und zu dekonstruieren, was folge. Es gibt glücklicherweise eine dritte Möglichkeit: Ovid habe die geschichtliche Leistung des Augustus anerkannt, sie zumindest nicht in Frage stellen wollen. Aber er habe ihn daran erinnern wollen, daß in bestimmten Situationen der Verzicht auf Macht die größte politische Leistung sein könne. Dieses Bewußtsein wachzuhalten war sein eigener Dienst am Vaterland am Ende eines Werkes, in dem es primär um erotische Liebe ging. Im Grunde vertieft Ovid hiermit nur Vergil, dessen Aeneas (Aen. 12.189 ff.) den Latinern verspricht, keine Königsherrschaft an­ zustreben – ebenfalls eine Mahnung an Augustus. Vor dem Cäsar und Augustus gewidmeten Schlußteil hat Ovid noch die Legende von der Überführung des Aesculapius in Schlangengestalt nach Rom eingebaut, wo ihm nach einer Seuche 289 v. Chr. auf der Insula Tiberina ein Tempel geweiht wurde. Warum diese Episode? Sicher soll auch sie das griechische Erbe hervorheben, das Rom kennzeichnet. Dazu gehört auch, daß bei Ovid die Römer den Gott in Delphi befragen (630 ff.), statt wie bei Livius (10.47.6) die Sibyllinischen Bücher zu konsultieren. Aber da schon der von Aesculapius wieder zum Leben erweckte Hippolytus von Diana nach Latium versetzt wurde, warum diese Wiederholung? Drei Gründe spielen eine Rolle. Immerhin mag man im Lob Catos des Jüngeren Aen. 8.870 eine analoge, wenn auch viel zartere Kritik Vergils am Prinzipat erkennen. Siehe die sehr ausgewoge­ ne Interpretation von Lefèvre (1998).

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Erstens war Hippolytus nur ein Heros, der zu einem niederen Gott wurde, Aesculapius ist dagegen schon zu Beginn der Geschichte ein wirklicher Gott. Zweitens hatte Diana Hippolytus nach Rom gebracht – nun sind es die Römer selber, die nach dem griechischen Gott schicken. Numa war immerhin nach Croton zu Pythagoras gereist, aber dieser hatte Rom nicht betreten. Jetzt kommt ein griechischer Gott auf römisches Ersuchen selber nach Rom, so wie spätestens seit Polybios griechische Intellektuelle nach Rom gekommen waren. Durch Roms eigene Aktivität weicht diese Überwindung der Seuche markant von derjenigen der Pest in Aegina (im siebten Buch) ab. Drittens er­ lauben die Umstände der Überbringung des Gottes nach Rom Ovid manches Spiel mit epischen Versatzstücken. Daß dabei Ironie mitschwingt, liegt auf der Hand, aber es erscheint mir sehr zweifelhaft, daß sie stärker ist als sonst. Insbesondere muß man die politische Dimension der Geschichte, die zwei­ felsohne daist, richtig lesen. Vom delphischen Apollo werden die Römer er­ mahnt, sich an einen näheren Ort zu wenden und nicht ihn, sondern seinen Sohn um Hilfe zu bitten (637 ff.). In Epidaurus bittet daher eine Gesandt­ schaft um die Überlassung des Gottes. Die Einwohner sind gespalten, ob sie der Bitte nachgeben sollen – doch Aesculapius erscheint im Traume einem Römer. Man erinnert sich an Aeacus’ Traum 7.634 ff. und denkt an den anti­ ken Brauch der Enkoimesis, also des Tempelschlafs. Im Traum teilt Aescula­ pius mit, er werde in Gestalt der seinen Stab umwindenden Schlange nach Rom kommen. So geschieht es am nächsten Tage: Die im Tempel von Epidau­ rus erscheinende Schlange gleitet zum Schiff der Römer und wird in einer langen Fahrt, bei der zum Teil schon aus den Reisen von Ulixes und Aeneas vertraute Plätze wie Cuma, Caieta und Circeii Revue passieren (712 ff.), nach Rom geleitet, wo sie mitten im Tiber die Entstehung der Insel bewirkt, auf der der Tempel des Aesculapius errichtet werden soll. Darauf kehrt der Gott zu seiner himmlischen Gestalt zurück. Intratextuell ist die Schlange offenbar das Gegenbild zu dem Python, auf dessen Tötung die erste göttliche Liebe folgte. Im Sinne einer Ringkomposi­ tion ist dies ein weiterer Hinweis auf das bevorstehende Ende. Man mag sie auch mit dem von Cadmus getöteten sowie dem das Goldene Vlies bewa­ chenden Drachen kontrastieren und auf der anderen Seite dem Schlangen­ paar annähern, zu dem Cadmus und Harmonia wurden. Denn sie ist freund­ lich und wohlwollend; ihre Ankunft überwindet die Seuche und rettet die Stadt. Intertextuell weist sie vielleicht auf die S. 109 schon erwähnte Schlan­ ge Aen. 5.84 ff. Sicher auf die Aeneis bezieht sich jedoch die Tatsache, daß das Delphische Orakel nicht leicht zu deuten ist. Denn Epidaurus in der Ar­ golis mit der berühmtesten antiken Kultstätte des Asklepios ist, zumal auf dem Seeweg, viel weiter weg von Rom als Delphi. Wenn Apollo geogra­ phisch nicht irrt, muß mit seinem Spruch ein anderes Epidaurus gemeint

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sein, und in der Tat findet sich eine weitere Stadt dieses Namens in Illyrien. Aber wieso sollte sie eine Rolle spielen? Die Kultstätte des Asklepios ist dort gerade nicht angesiedelt. Und doch weist die Überquerung des Ionischen Meeres (699 f.) darauf hin, daß die Rückreise wirklich von Illyrien ihren Ausgangspunkt nimmt. Kennt Ovid die Geographie so schlecht, daß er die beiden Plätze verwechselt? Nun, bei Vergil berichtet Aeneas, Anchises habe den Spruch Apollos, die alte Mutter aufzusuchen, irrtümlicherweise zu­ nächst auf Creta bezogen (3.94 ff.). Doch wird dieser Irrtum im Lauf der Irrfahrt korrigiert – derjenige der Römer keineswegs. Die Verwechslung muß also auf einer anderen Ebene erfolgen, doch schwerlich aufgrund eines Flüchtigkeitsfehlers des Dichters. Wie die Gleichsetzung der beiden Scyllas in Vergils sechster Ekloge und in Ovids Frühwerk einer Absicht entspringt (siehe oben Anm. 320), will Ovid vielmehr andeuten, daß die Geschichte von der aus dem argolischen Epidaurus kommenden Schlange in Wahrheit für eine andere steht, für diejenige von einer vom illyrischen Epidaurus aus die Stadt Rom rettenden Schlange. Aber welche Schlange sollte das sein? In einem höchst originellen Aufsatz hat A. W. J. Holleman (1969; 44) dar­ auf hingewiesen, Illyrien sei der Aufenthaltsort Octavianus’ gewesen, als ihn die Nachricht vom Tode seines Adoptivvaters erreichte; von dort sei er sofort nach Italien zurückgekehrt.462 Ovid wolle mit der Überlagerung der beiden Epidauri zu verstehen geben, die eigentliche Schlange sei Octavianus.463 Die­ se Identifikation paßt sehr gut zu dem verbreiteten Glauben, Augustus sei der Sohn Apollos, der sich dessen Mutter Atia in Gestalt einer Schlange genähert habe,464 und sie schlägt eine Brücke zur folgenden Episode. Aber so einleuch­ tend diese Deutung auch ist, die sich weigert, einem so großen Dichter einen banalen Fehler zu unterstellen, sowenig kann ich Hollemans Beurteilung des Zwecks der Ersetzung folgen: „in serpente deus (670) means as much as: ‚Beware of Augustus, you Romans, the Divi filius is a serpent at heart…‘“ (47). Das paßt eher zum Erscheinungsjahr des Aufsatzes als zu Ovid. Schmit­ Vgl. etwa Velleius Paterculus, Historia Romana (Römische Geschichte) 2.59; ­Suetonius, Vita Divi Augusti 8. 463 Intertextuell hatte Ovid vermutlich Aen. 3.280 im Sinn, wo von Aeneas’ Landung in Actium berichtet wird – dem Ort des Sieges Octavianus’ über Antonius, wie später nachgetragen wird (8.671 ff). In beiden Fällen antizipieren Aeneas bzw. Aesculapius die Anwesenheit Octavianus’ im Balkan. Die Vorwegnahme der spä­ teren römischen Geschichte durch Aeneas – etwa des Zweiten Punischen Krieges durch seinen Konflikt mit Dido – ist neben der Besessenheit seines Helden mit Ritualen sicher ein Grund für die Liebe des christlichen Mittelalters zur Aeneis gewesen; denn es konnte darin ein Äquivalent der eigenen typologischen Deutung des Alten Testaments erkennen. 464 Vgl. Suetonius, Vita Divi Augusti 94.4. 462

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zer ist daher zwar Hollemans Identifikation gefolgt, aber er hat dessen Bewer­ tung vom Kopf auf die Füße gestellt: Die Reise des Aesculapius, die von der Seuche heile, präfiguriere diejenige Octavianus’, der Rom von der Krankheit des Bürgerkriegs kuriere. „Krankheitsmetaphern sind nämlich seit alter Zeit für Kriege gebräuchlich.“ (1990; 276) Mir scheint damit die richtige Interpre­ tation dieser Episode getroffen zu sein: Wie Aesculapius ist auch Octavianus „salutifer“ („heilbringend“, 744). Das ist auf jeden Fall die Funktion der Sze­ ne alleine für sich betrachtet. Doch sicher muß auch diese Episode im Kontext früherer und späterer gelesen werden: Heilbringend werden Augustus und seine Dynastie nur bleiben, wenn sie sich erstens an Cipus erinnern und zwei­ tens die in die Panegyrik eingefügte Kritik mitbedenken. Anders als Aesculapius, der aus der Ferne kam, sei Caesar in der eigenen Stadt vergöttlicht worden (745 f.). Das Lob seiner Taten gipfelt darin, er habe Octavianus hervorgebracht (so wird man „genuisse“ 758 übersetzen, da ja Caesar seinen Großneffen nur adoptiert hatte). Freilich habe auch Venus, deren Rede (765 ff.) die einer verwöhnten Frau ist, Caesars Ermordung nicht verhin­ dern können. Diese sei im ehernen Archiv der Parzen festgelegt gewesen (807 ff.), wie ihr Jupiter erklärt, der ihr, nicht viel anders als Anchises Aeneas (Aen. 6.756 ff.), jedoch im Himmel statt in der Unterwelt, die bevorstehenden Taten Octavians vorhersagt. Venus bringt Caesars Seele, die sich anders als Romulus Körper (14.824 ff.) nicht in Luft auflöst, zu den Sternen (844 ff.). Ob die Panegyrik auf Caesar und Augustus nur positiv ausgerichtet ist oder impli­ zite Kritik enthält, ist oft diskutiert worden. Die Ergebnisse von Schmitzers ausgezeichneter Analyse sind überzeugend: Einerseits sei Ovid ein loyaler Untertan. So werde „an keiner Stelle eine auch nur annähernd überzeugende Gegenposition zur Politik des Augustus aufgebaut“ (1990; 287). Andererseits finde sich unterschwellige Kritik sowohl an der Weise, wie er zur Macht ge­ langt sei, als auch an Aspekten seiner Herrschaft. Man kann jemanden für politisch notwendig halten, den man nicht mag. So würden die Bürgerkriege nicht verschwiegen (820 ff.); ja, der Vers „Emathiaque iterum madefient cae­ de Philippi“ („nochmals wird Philippi in Emathia vom Blute feucht werden“, 824) weise durch das seltene Verb zurück auf Catull, Carmina 64.368 „alta Polyxenia madefient caede sepulcra“ („die hohen Grabmäler werden feucht werden durch das vergossene Blut Polyxenas“) – was angesichts der Ovidi­ schen Behandlung des Opfers der trojanischen Prinzessin unweigerlich eine Anklage darstellt. Die doppelte Verwendung von „servire“ („dienen“, 828 und 831) erst mit Bezug auf Cleopatra, dann auf Augustus, unterhöhle den Glauben an einen absoluten Unterschied der Herrschaftsformen im Orient bzw. in Rom.465 Der Vergleich von Caesar und Augustus mit Saturnus und Man kontrastiere damit Horaz, Carmina 1.37.

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Jupiter (857 ff.) sei geradezu beklemmend, da am Anfang von Saturnus’ Sturz durch Jupiter die Rede war (1.113 f.).466 Auch der Vergleich von Augustus mit Achilles (856) ist angesichts der Kritik an ihm im zwölften und zumal drei­ zehnten Buche (gerade im Zusammenhang mit Polyxenas Opferung) ein ver­ giftetes Kompliment Schließlich sei das letzte Wort vor der Sphragis, auf Augustus bezogen, „absens“ („abwesend“, 870). Ist das ein Wunsch? Zumin­ dest wird man sagen müssen: Wenn Ovid Kritik nicht im Sinn gehabt haben sollte, ist seine Panegyrik lust- und gedankenlos niedergeschrieben worden, und das ist ebenfalls eine Form mangender Achtung. Das alles beweist keineswegs, Ovid habe nicht in der Pazifizierung des riesigen Reiches einen sinnvollen Abschluß der geschichtlichen Entwicklung gesehen – einen Abschluß freilich, der einen hohen Preis gekostet habe und seine eigenen Gefahren in sich trage. Doch ist eines offenkundig: Während Caesars Katasterismos ihn zu den Sternen erhebt, sieht Ovid für sein eigenes Wesen etwas noch Größeres voraus: „Parte tamen meliore mei super alta per­ ennis/ astra ferar, nomenque erit indelebile nostrum“ („Doch mit meinem besseren Teile werde ich fortdauern und mich hoch über die Sterne empor­ schwingen; mein Name wird unzerstörbar sein“, 875 f.). Sein Platz ist über den Sternen. Nicht einmal Jupiters Zorn – vielleicht, angesichts von 858 ff., eine Umschreibung desjenigen des Augustus – kann das Werk, das er mit den Metamorphosen geschaffen hat, gefährden (871 f. in deutlicher Anlehnung an Horaz, Carmina 3.30.1 ff.). Sein Status ist demjenigen der Schicksalstafeln vergleichbar, die ebenfalls den Zorn des Blitzes nicht fürchten (811 f.). „Vi­ vam“ („ich werde leben“, 879) ist das letzte Wort des Werkes.467 Ovid hat recht behalten.

Dagegen ist die Parallelisierung von Augustus’ Herrschaft auf Erden mit der­ jenigen Jupiters im Himmel (858 ff.) konventionell und steht in einer langen Tradition. Vgl. Gordon Williams (1968), 440 f. 467 Selbst die Demütigung der Verbannung und das Nachlassen seiner Kreativität ha­ ben Ovid nicht von der Überzeugung abgebracht, daß nicht nur sein Werk unsterb­ lich sei, sondern daß auch die Nennung in einem seiner Briefe eine Ehre sei, die den Genannten unsterblich machen könne – weswegen er die Namen der Feinde verschweigt (EP. 2.6.33 f., 3.2. 29 ff., 4.3.3 f., 4.7.53 f., 4.8.34 ff., 4.12.3).

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5. Schlußbetrachtung Der Durchgang durch das ganze Werk hat gezeigt, daß die Metamorphosen keineswegs an Erzählchaos leiden. Das Werk bietet eine Enzyklopädie der Liebesformen und eine Analyse der externen wie internen Faktoren, die Lie­ be glücken bzw., leider häufiger, scheitern lassen, der die ganze Antike nichts Vergleichbares an die Seite stellen kann. Nicht nur die Fülle an Material, auch und gerade psychopathologischem, ist überwältigend; nicht nur werden Phä­ nomene wie Neid und Eifersucht mit großer Präzision unterschieden; auch das moralische Urteil Ovids ist komplex, aber sicher. Das anthropologische Interesse führt nicht zu einem moralischen Relativismus. Und Ovids Blick für die metaphysische Dimension der Liebe ist einzigartig. Seine Kritik an Pla­ tons Liebestheorie ist scharf und überzeugend. Wir haben auch gesehen, daß die intratextuelle Verzahnung des Werkes außerordentlich hoch ist. Der Übergang von einer Geschichte zur anderen ergibt sich nicht, oder nur oberflächlich, aus der überlieferten chronologi­ schen Ordnung, sondern teils aus „Spiegelungen“ bestimmter Grundstruktu­ ren an unterschiedlichen begrifflichen Achsen, teils aus einer komplexen Ge­ schichtsphilosophie erotischer Begierde. Anfangs steht direktes männliches Begehren, das sich der Gewalt, manchmal der List bedient, um zu seinen Zwecken zu gelangen. Weibliches Begehren entsteht später. Es hat in Emotion und Reflexion einen ganz anderen Tiefgang, aber auch die Möglichkeit zu besonders raffinierter Abweichung vom moralisch Zulässigen: Kein antiker Dichter seit Euripides hat so tief die weibliche Psychologie ausgelotet wie Ovid. Nur langsam bricht sich das Prinzip Bahn, daß nur symmetrische Lie­ be, die nicht auf Gewalt und List, sondern auf Konsens basiert, zulässig ist und daß sie sich am vollkommensten in einer lebenslangen Ehe artikuliert. Rom scheint Ovid gegenüber den Griechen diesbezüglich einen großen Fort­ schritt darzustellen. Verschränkt mit diesem Fortschritt ist, wie bei Aischy­ los, ein Milderwerden der Götter. Ihre Strafen verlieren die anfängliche Grau­ samkeit und wenden sich nicht mehr gegen Unschuldige. In der Ordnung der Liebesformen von einfachen zu komplexeren folgt Ovid dem größten römi­ schen Lehrgedicht; er will gleichsam ein Lukrez der Seele sein. Und wie Lu­ krez hat er ein Bewußtsein von dem mit dem Geschichtsprozeß einhergehen­ den Mentalitätswandel, das dasjenige Vergils weit übertrifft. Gewiß reift sein Aeneas (von dem verzweifelten Mann im Sturm des ersten Buches zum ent­ schlossenen Soldaten der letzten Bücher), so wie auch Dante reifen wird (von

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dem zarten Inferno-Touristen, der von Francesca so gerührt ist, daß ihm die Sinne schwinden, zum Theologen, der Gottes Sanktionen akzeptiert), aber die Qualitäten politischer Führung, die Aeneas an den Tag legt, sind nach Vergil zeitlos gültig, im schlichten Latium ebenso wie im imperialen Rom. Die ter­ ritoriale Ausdehnung Roms wird bei Vergil nur von zunehmendem Wohl­ stand, nicht aber von geistigen Umbrüchen begleitet. Ovid hat allerdings auch, im Zusammenhang mit seiner Aneignung der antiken Mythologie sub specie amoris, eine Theorie der Kunst angedeutet, die von außerordentlicher Subtilität ist. Als ursprünglich gar nicht beabsich­ tigtes Beiwerk des Durchgangs durch die ganzen Metamorphosen ergab sich in dieser Monographie eine Analyse der zahlreichen metapoetischen Aussa­ gen des Werkes. Ovid lehrt einen inneren Zusammenhang derjenigen Künste, die man später als „die schönen“ bezeichnet hat (also von Architektur, Skulp­ tur, Malerei, Musik und Dichtung), er unterscheidet zwei Formen von Kunst – eine eher „klassische“ und eine eher auf unorganische Pluralität zielende –, er ist sich des geschichtlichen Wandels von der schlichten Bauerndichtung der Ursprünge bis zur Raffinesse des eigenen Werkes sehr bewußt, er weiß, daß große Kunst auch hermeneutisch komplex ist, und er zeigt, daß sowohl Ver­ steinerung als auch Wiederbelebung zum Wesen der Kunst gehören. Man kann sich an sie verlieren, und wenn die Liebe darunter leidet, wie bei Pyg­ malion, läuft etwas schief. Mit Tosca könnte Ovid singen: „Vissi d’arte, vissi d’amore“ („Ich lebte von Kunst, ich lebte von Liebe“). Das sind auf jeden Fall die beiden Hauptthemen seines Meisterwerkes. Mein Buch begann mit einem Vergleich Vergils und Ovids, der seinen Vorgänger nur gesehen, nie gesprochen hat (Tr. 4.10.51). Sicher hat Ovids lite­ rarische Bewertung unter der übergroßen Fülle seiner Schriften gelitten. Sein Œuvre kommt an Umfang allen Werken von Lukrez, Catull, Vergil, Horaz, Properz und Tibull gleich. Er schrieb leichter als die anderen, und manches ist leichtgewichtig. Ohne den Ibis und Teile der Ex Ponto wäre die römische Literatur nicht ärmer; auch die Fasti sind kaum als im Ganzen gelungen zu bezeichnen. Von Vergil sind dagegen alle drei Werke, jedes in seiner sehr unterschiedlichen Art, vollkommen. Aber das heißt nicht, daß die Metamorphosen der Aeneis ästhetisch nachstehen. Gewiß war Vergils Kunst der ab­ soluten Verdichtung, der Konzentration aufs Wesentliche und des bewußten Verschweigens Ovid nicht gegeben, der sich von der Überfülle seiner Einfäl­ le immer wieder ablenken ließ und dem der ruhige Seelenadel Vergils abging, der auch die den einfachsten Tätigkeiten eigentümliche Würde zu spüren und darzustellen wußte. Wenn Anchises den verängstigten Achaemenides da­ durch beruhigt, daß er ihm einfach die Rechte reicht (Aen. 3.610 f.), hat die Geste eine schlichte und erhabene Größe, der im Werk des Jüngeren nichts gleichkommt. Doch in vielerlei Hinsicht sind die Metamorphosen das kom­

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plexere Werk, thematisch wie in den Gestaltungsformen reicher. Das gilt er­ stens für die Mischung der Genres, die diejenige Vergils noch übersteigt. Des­ wegen ist auch die Intertextualität bei Ovid vielleicht noch vielfältiger als in der Aeneis – er konnte schließlich unter anderem auf Vergil verweisen. In der ständigen Auseinandersetzung mit einem absoluten Meisterwerk in der eige­ nen Sprache liegt etwas, das Ovid Vergil voraushat. Das konnte lähmend wir­ ken, aber Ovid hat es geschafft, das Beste daraus zu machen. Zweitens hat zwar Ovid seinen Fokus einseitig auf die Formen des Eros gerichtet, dabei aber eine Fülle an Formen kategorisiert und veranschaulicht, die das bei Vergil Dargestellte weit hinter sich läßt. Man kann die Metamorphosen geradezu als eine Ausarbeitung des kurzen Abschnitts über die „Fel­ der der Trauer“ („lugentes campi“) in der Unterwelt (Aen. 6.439–476) lesen, die die unglücklich Liebenden beherbergen. Dafür hat Vergil einen Sinn für die Ethik des Politischen, der Ovid fast ganz abgeht. Das ist ohne Zweifel ein Manko. Aber drittens muß man anerkennen, daß eine Generation nach Vergil die Schattenseiten des Prinzipats und die Hohlheit zahlreicher Ideologeme der neuen Herrschaft deutlicher wurden. Ovid hat dafür, wohl aufgrund der ihn charakterisierenden Verbindung von Skepsis und Herzensgüte, ein außer­ ordentliches Gespür gehabt. Vielleicht ist der moralische Abscheu, den er ge­ gen jede Form von Gewalt empfindet, nicht zu teuer bezahlt mit dem Brü­ chigwerden des ruhigen Vertrauens in eine allumfassende Ordnung, in ein die Welt lenkendes Fatum, und des Glaubens an den zentralen Platz tradierter Riten im menschlichen Leben, wie sie allein eine Dichtung wie diejenige Vergils hervorbringen konnten. Ovid ist weniger bewahrend, skeptischer, ver­ spielter, rastloser, frecher, aber eben auch witziger und weniger durch Ideolo­ gien verführbar als Vergil, dessen poetische Größe für ihn fraglos ist, dessen Werte er aber nicht mehr sämtlich teilen kann und will. Das gilt besonders für den Krieg und die blutigen Opfer, aber auch für die Rolle der Frauen, die bei dem geradezu misogynen Vergil hauptsächlich als affektgetriebene Hinder­ nisse des gottgewollten Fatums erscheinen: Man denke an Dido, die die eige­ nen Schiffe verbrennenden Trojanerinnen, Amata mit ihrem Gefolge von Bacchantinnen, Juturna, die aus Bruderliebe den Tod so vieler verursacht, und selbstredend Juno, um von den Harpyen, Fama und Allecto zu schweigen. Die Sibylle hat Würde und Autorität, ist aber keine wirklich diesseitige Figur. Camilla ist eine Heldin, aber ihre soldatische Blutrünstigkeit läßt kaum weib­ liche Tugenden hervortreten; am weiblichsten ist nach Vergil am ehesten noch ihre Gier nach goldenen Kleidern, die sie zugrunde richtet. „Lavinia“ schließ­ lich ist, wie man zu Recht gesagt hat, kaum mehr als eine Stadtbezeichnung mit weiblicher Endung, nur von Turnus, nicht von Aeneas, als Frau begehrt und ohne jeden sichtbaren eigenen Willen. Ovids Frauenkosmos ist unver­ gleichlich interessanter als derjenige Vergils (um von Horaz zu schweigen,

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5. Schlußbetrachtung

bei dem Frauen hauptsächlich Objekte kurzfristigen sexuellen Begehrens sind, wie zumal seine gehässige Verspottung gealterter Kokotten zeigt). Nicht daß ihm abgründige Frauen fremd wären – Medea, Byblis, Myrrha sind pa­ thologischer als alle weiblichen Gestalten bei Vergil, selbst als seine Helena (Aen. 6.511 ff.); aber es ist ihm ernst damit, in der Frau eine gleichberechtigte Partnerin des Mannes finden zu können. Allgemein ist Ovid „moderner“. Wie auch immer man die Aeneis interpretiert, der auf keinen Fall Horaz’ manchmal geradezu schamlose Panegyrik vorgeworfen werden kann, Ovids Kritik am Römischen Reich übertrifft diejenige Vergils deutlich. Darin mag man, je nach dem eigenen Standpunkt, einen Fortschritt oder einen Verfall sehen. Man vergesse aber nicht, daß bei aller Wahrnehmung der Ambiguitä­ ten der Welt Ovid zwar nicht mehr an den intrinsischen Wert des Imperiums, aber doch an die Liebe glaubt, an die erotische wie an die nicht-erotische. Ein bloßer Ironiker ist er nicht. Ist der Weg vom Mythos zum Logos kennzeichnend für die Entwicklung von Hesiod bis Parmenides bzw. Lukrez, schafft es Ovid, den Weg gleich­ sam umzukehren und im Mythos, so wie er ihn anordnet, eine Vernunft zu finden, die ungleich reicher und subtiler ist als etwa diejenige im Lehrge­ dicht des Empedokles. Was in der Ars Beiwerk war, der Mythos, wird zur Grundlage einer weltumfassenden Philosophie des Eros von vollkommener Balance zwischen Denken und Dichten. Eines ist unstrittig. Wenn es ein Werk der lateinischen Literatur gibt, das der Aeneis das Wasser reichen kann und sie vielleicht sogar übertrifft, dann sind das die Metamorphosen, und sie allein. Es bedurfte 1300 Jahre, bis im Abendland ein literarisches Kunstwerk von gleicher, ja, noch größerer Komplexität entstehen konnte. Neben den beiden Hauptwerken der römi­ schen Poesie verdankt es Entscheidendes einem der originellsten Prosa­ werke der römischen Literatur, Augustinus’ Confessiones (Bekenntnisse). Als Epos-Lehrgedicht in erster Person bietet dieses Werk ein noch weiteres Panorama von Liebesformen, weil es Liebe nicht auf erotische Liebe redu­ ziert, ja, sogar in der Liebe das metaphysische Prinzip der ganzen Wirk­ lichkeit erkennt. Ich beziehe mich auf Dantes Commedia.

Abkürzungen der Werke Ovids Amores: Am. Ars amatoria: AA. Epistulae heroidum: EH. Ex Ponto: EP. Fasti: F. Ibis: Ib. Medicamina faciei femineae: MFF Metamorphoses: M. Remedia amoris: RA. Tristia: Tr.

Abkürzungen der Werke Vergils Aeneis: Aen. Bucolica: B. Georgica: G.

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Personenregister (realer und literarischer Figuren) A Abas 231 Abraham 242 Absyrtus  138 Accius 12 Achaemenides  226, 227, 228, 256 Achelous  55, 57, 157, 158, 160, 164, 179 Achilles  7, 63, 83, 154, 195, 196, 201, 202, 208, 210, 211, 212, 213, 214, 254 Acis  209, 219, 221, 223, 229 Acmon  231, 232 Acoetes  57, 100, 102 Acontius  66, 119 Acrisius  110 Actaeon  53, 72, 77, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 100, 101, 167 Admetos  181 Adonis  56, 176, 180, 186, 187, 188, 191, 192, 196, 197, 235 Aeacus  54, 57, 140, 141, 251 Aegeus  139, 140 Aemilius Macer  19 Aeneas  3, 13, 18, 25, 37, 39, 40, 53, 54, 55, 57, 109, 114, 149, 161, 205, 206, 209, 215, 216, 218, 223, 224, 226, 227, 228, 230, 231, 232, 233, 234, 238, 240, 246, 249, 250, 251, 252, 253, 255, 256, 257 Aeolus  197, 198, 227 Aesacos  192, 199, 200, 201, 217 Aesculapius  81, 82, 83, 90, 241, 246, 247, 248, 250, 251, 252, 253

Aeson 137 Agamemnon  40, 201, 213, 217, 230 Agaue  100, 132 Aglauros  74, 81, 83, 84, 152, 224 Agrippa, Marcus Vipsanius  126 Ahl, Frederick  80 Aias  210 Aiax  72, 180, 196, 207, 209, 210, 211, 212 Aischylos  49, 101, 156, 230, 242, 249, 255 Aktaion  88 Albrecht, Michael von  1, 11, 20, 24, 25, 56, 58, 87, 124, 133, 159, 176, 182 Albrecht von Halberstadt  36 Alcithoe  106 Alcmaeon  156, 168 Alcmene  79, 164, 166, 167 Alcyone  58, 71, 192, 196, 197, 198, 199, 200, 204 Alfonsi, Luigi  14 Alkaios  193 Alkidamas  115, 139 Allecto  84, 257 Althaea  56, 134, 147, 156, 157 Amata 257 Ameinias  91 Ammon 111 Amor  29, 30, 33, 35, 37, 46, 64, 65, 66, 118, 187 Amphion 125 Amphis  78 Amphissus 167

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Personenregister (realer und literarischer Figuren)

Amphitryon  79 Anapis  119 Anaxarete  223, 237 Ancaeus 154 Anchises  109, 216, 217, 225, 230, 231, 252, 253, 256 Anderson, William S.  127, 147, 150 Andraemon 167 Andreas Capellanus  37 Androgeos  140 Andromeda  110, 111, 112, 113, 135, 195, 203 Anius  209, 216, 217, 218 Antipatros von Sidon  235, 236 Antipatros von Thessalonike  235, 236 Antiphon 115 Antoninus Liberalis  18, 19, 96, 102, 117, 126, 143, 145, 218 Antonius 252 Aphrodite  105, 225 Apollo  8, 15, 27, 48, 57, 60, 64, 65, 66, 67, 68, 70, 78, 80, 81, 82, 84, 90, 98, 105, 106, 125, 127, 132, 167, 168, 179, 180, 187, 188, 189, 191, 193, 194, 195, 196, 208, 217, 221, 223, 224, 225, 235, 238, 247, 249, 251, 252 Apollodoros  82, 90 Apollonios  14, 138 Arachne  3, 6, 7, 8, 9, 53, 66, 79, 89, 117, 124, 125, 126, 127, 131, 138, 152, 193, 218 Aratos  12, 19, 32 Arcas  23, 76, 79, 90, 110 Arcimboldo, Giuseppe  194 Arellius Fuscus  4 Ares  105 Arethusa  113, 118, 120, 121, 122, 123, 142 Argus  55, 68, 69, 81

Ariadne  7, 92, 147, 148, 150, 151 Aristarchos von Samothrake  36 Aristophanes  97, 98, 108 Aristoteles  84, 102, 158, 162, 230, 245 Armstrong, Rebecca  39, 42 Arne 54 Artemidoros  96 Artemis  19, 65, 78, 82, 88, 247 Ascalaphus  81, 121, 128 Asklepios  83, 251, 252 Astyanax 213 Atalanta (arkadische Jägerin)  147, 153, 154, 155, 173, 188 Atalanta (Tochter des Schoeneus) 53, 56, 176, 188, 189, 190, 191, 192 Athamas  109, 110 Athena 242 Athenis 114 Athis  23, 113, 116, 206 Atia 252 Atreus 126 Attalos  178 Attis  179 Augustinus  47, 258 Augustus  4, 11, 13, 14, 15, 16, 17, 23, 26, 28, 30, 35, 36, 41, 48, 65, 126, 170, 241, 250, 252, 253, 254 Auhagen, Ulrike  134, 171 Aulus Gellius  108 Aurora  143, 144, 146, 209, 214, 229 B Bacchus  8, 56, 57, 81, 89, 90, 100, 101, 102, 108, 110, 132, 137, 139, 151, 192, 193, 217, 232 Baldo, Gianluigi  164 Barchiesi, Alessandro  56, 125, 159

Personenregister (realer und literarischer Figuren)

Barnabas 245 Barry, M. Inviolata  23 Bartenbach, Alexander  115 Battus  83 Baucis  54, 58, 59, 147, 157, 158, 159, 160, 163, 168, 214, 238, 244 Bauer, Douglas F.  152, 184 Beatrice  90 Berneck, Ernst Jürgen  75 Bernini, Gian Lorenzo  21 Berthold, Otto  202 Binswanger, Hans Christoph  162, 163 Blass, Friedrich  115 Bloomer, Martin  2 Boccaccio, Giovanni  4 Bömer, Franz  128, 132 Boreas  108, 133, 192 Bretzigheimer, Gerlinde  65, 77, 88 Briest  127, 128 Briseis  40 Brownlee, Kevin  90 Brutus (Lucius Iunius)  64 Buchheit, Vinzenz  15 Bupalus 114 Buridan 115 Busiris 37 Byblis  18, 25, 71, 93, 134, 157, 164, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 184, 185, 186, 187, 199, 247, 258 C Cachey, Theodore  2 Cadmus  84, 86, 87, 88, 89, 100, 102, 109, 110, 116, 204, 248, 251 Caeneus  153, 201, 202, 203, 205, 206 Caenis  201, 202, 203, 206 Caesar  4, 15, 26, 42, 118, 184, 215, 253, 254

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Caieta  230, 231, 251 Caligula 16 Calliope  20, 117, 118, 123 Callirhoe  168 Callisto  18, 23, 26, 53, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 82, 85, 87, 88, 89, 90, 91, 105, 106, 107, 109, 110, 122, 128, 145, 186, 219, 234, 235 Calvino, Italo  9 Calvus 12 Calydonischer Eber  153, 204 Camenae  230, 246 Cameron, Alan  23 Camilla  76, 189, 191, 257 Canace 172 Cancik, Hubert  99 Canens  92, 223, 228, 229, 230, 234, 240 Caravaggio 21 Cardillac, René  153 Casali, Sergio  216 Cassandra 213 Castiglioni, Luigi  18 Castor  204 Cato der Jüngere  250 Catull  7, 12, 23, 28, 30, 31, 59, 68, 91, 92, 177, 184, 235, 237, 253, 256 Caunus  18, 93, 164, 168, 171, 172, 173 Celer  239 Celeus  120 Celsus 124 Cenchreis  186 Cephalus  71, 134, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 180, 196, 217, 221, 229 Cepheus  113, 114 Cephisos  91 Ceres  26, 119, 120, 121, 122, 123, 125, 161, 186

278

Personenregister (realer und literarischer Figuren)

Cervantes, Miguel de  144 Ceyx  57, 58, 71, 192, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 204 Chione  192, 195, 196, 235 Chiron  69, 83, 207 Chromis 115 Cicero  59, 151, 248 Cinna siehe Helvius Cinna Cinyras  182, 185, 186 Cipus  241, 242, 248, 249, 250, 253 Circe  53, 194, 216, 221, 223, 224, 227, 228, 229, 230, 236, 247 Cleopatra 253 Clodius Pulcher  59 Clymene  70, 72, 78 Clytemestra  39 Clytie  102, 105, 106, 107, 142, 224 Coleman, Robert  203 Corinna  30, 31, 38, 39, 82 Cornix  74, 80, 81, 82, 202 Coronen  209, 218 Coroneus  80 Coronis  74, 80, 81, 82, 84, 89, 90, 221 Corvus  74, 80, 81, 82, 100, 105 Cotys III.  44 Crampas 127 Creusa  40 Crotopus  106 Crusoe, Robinson  226 Cupido  65, 169 Curley, Dan  30 Curran, Leo C.  68 Cyane  108, 113, 118, 119, 120, 121, 122, 171, 200, 239 Cybele  53, 54, 179, 190, 232 Cycnus (Liebhaber Phaethons bei Vergil) 75 Cycnus (von Phyllius geliebt)  139 Cydippe 175 Cygnus (Freund Phaethons)  53, 75, 230

Cygnus (Sohn des Neptunus)  53, 202, 203, 206 Cyllarus  116, 201, 204, 205 Cymodocea 233 Cynthia  39 Cyparissus  47, 176, 179, 180 D Daedalion  195, 196 Daedalus  7, 107, 124, 138, 147, 149, 151, 152, 153, 157, 162, 175, 184 Damoitas  219 Damschen, Gregor  245 Dante  1, 3, 4, 5, 7, 15, 25, 46, 52, 90, 94, 115, 127, 187, 255, 258 Daphne  19, 48, 51, 60, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 72, 76, 78, 79, 82, 103, 106, 107, 122, 129, 167, 188, 219, 234, 238, 239 Daphnis  219 Davies, Malcolm  217 Davis, Gregson  107, 143 De Falco, Victorius  20 Deferrari, Roy J.  23 Deianira  156, 164, 165, 166, 240 Delia  39 Demodokos  104 Demophoon  39 Deois 66 Deucalion  60, 62, 63, 64, 65, 74, 86, 110, 157, 158, 160, 184 Diana  16, 18, 65, 72, 75, 76, 77, 78, 79, 86, 87, 88, 89, 91, 92, 101, 106, 107, 122, 125, 145, 153, 154, 156, 157, 162, 179, 180, 186, 191, 196, 201, 219, 234, 235, 246, 247, 248, 250, 251 Dickens, Charles  80 Dido  18, 37, 40, 55, 99, 149, 199, 205, 206, 216, 230, 252, 257 Dietz, Günter  75, 94

Personenregister (realer und literarischer Figuren)

Diodor  14, 88 Diomedes (Grieche)  231, 232 Diomedes (Thrakerkönig)  117 Dionysios von Halikarnassos  241 Dionysos  100, 102 Dioskuren 155 Dippel, Manfred  204, 215 Dis  65, 118, 129, 176, 179, 187 Donatus  19 Dooley, Mark  174 Döring, Jörg  179 Dörrie, Heinrich  13, 52 Dostojewski, Fjodor  172 Dryaden  21, 130, 161, 193, 228 Dryope  75, 161, 164, 167, 168 E Echion  101 Echo  62, 86, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 103, 106, 107, 134, 142, 162, 230 Effe, Bernd  32 Egeria  246, 248 Eggers, Torsten  107 Ellsworth, J. D.  216, 232 Empedokles  12, 51, 243, 258 Ennius  12, 15, 22, 36, 203, 239, 242 Epaphus  70, 89 Epimetheus 64 Erechtheus  133, 142 Erichthonius  81, 83 Erigone 23 Erinyen  128 Erysichthon  20, 22, 23, 75, 139, 147, 159, 160, 161, 162, 163, 167, 168, 171, 173, 181, 193, 232 Eryx  115, 139 Eteokles  101 Euandrus  18, 242 Eumeniden  156, 242 Euphorion 217

279

Euripides  12, 31, 74, 76, 86, 88, 100, 134, 135, 136, 138, 168, 181, 185, 187, 201, 212, 213, 214, 216, 219, 231, 246, 247, 255 Europa  6, 7, 8, 84, 85, 117, 140, 149 Euryalus  116, 154, 206 Eurydice  176, 178, 179, 180, 193, 199 Eurylochos  227, 232 Eurytus  203, 204 F Faber, Riemer  152 Fabia 136 Fabre-Serris, Jacqueline  208, 234 Fama  84, 202, 208, 257 Fames  84, 161 Fantham, Elaine  190 Farrell, Joseph  221 Faune  139 Faunus  161, 219, 228, 232 Favorinus  108 Feeney, D. C.  9, 58 Feldherr, Andrew  52, 231 Fleischmann, Petra  126 Flora  121, 133 Fondermann, Philipp  110 Fontane, Theodor  127 Fornaro, Pierpaolo  51 Francesca 256 Fränkel, Hermann  17, 35, 69, 96, 107, 165 Fratantuono, Lee  188 Frécaut, Jean-Marc  48 Freud, Sigmund  36, 68, 170 Frontinus, Sextus Iulius  126 Fuhrer, Therese  66 G Gaiser, Konrad  44 Gaius  23, 184 Galanthis 166

280

Personenregister (realer und literarischer Figuren)

Galatea  209, 219, 220, 221, 223, 227, 229, 237 Galateia  219, 220 Galinsky, G. Karl  5, 6, 7, 8, 9 Gallathea  173, 174 Gallego Moya, Elena  148 Gallus  12, 34, 177 Ganymedes  7, 176, 179 Gärtner, Thomas  24, 70, 110, 207 Gauly, Bardo Maria  189 Germanicus  17, 194, 231 Geymonat, Mario  1 Gildenhard, Ingo  99 Glaucus  209, 216, 221, 222, 223, 224, 227 Glei, Reinhold F.  5, 8 Glenn, Edgar M.  183 Gneist, Rudolf von  119 Goethe, Johann Wolfgang  1, 5, 236 Gorgias 26 Gow, A. S. F.  35 Graf, Fritz  38, 87 Granobs, Roland  16, 246 Grattius Faliscus  33 Griffin, Alan H. F.  45 Grillo, Luca  2, 40 Grimal, Pierre  15 Gryllos 52 H Haemonides 215 Hardie, Philip  89, 90, 94, 97, 108 Harmonia  86, 102, 109, 110, 116, 204, 251 Harpyen 257 Harzer, Friedmann  54 Heath, John  83 Heath, Malcolm  35 Hecate  136, 137 Hector  202, 210, 212, 214 Hecuba  25, 209, 213, 214, 216

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  1, 4, 53, 156, 157 Heinze, Richard  27, 48, 80, 118, 134 Hekabe  212, 213, 214 Helena  18, 26, 31, 42, 201, 258 Heliaden  54, 75, 178, 181 Helios  105, 120, 232 Hellanikos von Lesbos  226 Helvius Cinna, Gaius  184 Henkel, John  22 Henry, Paul  96, 183 Hephaistos  97, 98, 105, 108 Hercules  13, 25, 79, 127, 134, 164, 165, 166, 177, 194, 195, 201, 207, 234, 240, 242 Herder, Johann Gottfried  5 Hermaphroditus  23, 102, 107, 108, 110, 122, 144 Hermes  83, 97, 105 Hermes Trismegistos  97 Hero  26, 48, 101, 142, 164, 246, 251 Herodot  3, 87 Herse  83, 84, 181 Hersilia  26, 223, 234, 240, 246 Hesiod  8, 12, 15, 61, 62, 87, 90, 114, 258 Hesione  195 Hesperie  199, 200 Hilbert, Karlheinz  75, 94 Hinds, Stephen  22, 118, 226, 230 Hippasos  102 Hippodamas  106 Hippodame  113, 203 Hippolytus  34, 70, 144, 154, 172, 237, 246, 247, 248, 250, 251 Hippomenes  53, 56, 176, 188, 189, 190, 191, 192 Hipponax 114 Hoffmann, E. T. A.  153 Hofmann, Heinz  15, 246

Personenregister (realer und literarischer Figuren)

Holleman, A. W. J.  252, 253 Hollenburger-Rusch, Caroline  186 Hollis, Adrian S.  21 Holzberg, Niklas  30, 48, 68, 238 Homer  12, 15, 36, 40, 94, 105, 115, 199, 202, 203, 215, 219, 227, 228, 242 Hopkinson, Neil  210 Horaz  6, 29, 31, 35, 42, 43, 62, 67, 68, 84, 114, 133, 135, 136, 138, 150, 151, 152, 154, 177, 236, 237, 239, 240, 244, 246, 248, 253, 254, 256, 258 Hosle, Paul  1, 3 Hösle, Vittorio  36, 184 Hume, David  136 Hyacinthus  47, 53, 176, 180, 187, 191 Hyginus  18, 74, 77, 82, 145, 184 Hylas  12, 96, 177 Hyllus  165, 166 Hylonome  116, 201, 204, 205, 206, 219 Hypermestra  69 Hypsipyle 136 I Iambe  120 Ianthe  173, 175, 176 Iasius 26 Iason  39, 86, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 148, 149, 202 Icarus (Sohn des Daedalus)  74, 149, 150, 151, 152, 153, 157, 162 Icarus (Vater der Erigone)  23 Inachus  65, 66, 69, 78 Innstetten 127 Ino  109, 110 Io  53, 54, 55, 56, 67, 68, 69, 70, 76, 78, 79, 84, 91, 173, 228 Iokaste  99 Iolaus  168

281

Iole  165, 166, 167, 168 Iphigenia  201, 211, 213, 217, 218 Iphis (Gatte Ianthes)  57, 134, 164, 173, 174, 175, 176, 185, 202 Iphis (verliebt in Anaxarete)  223, 237 Iris  198, 199, 240 Isis  173, 175, 183 Itys  129, 132, 138, 140 Iuventus 177 Ixion  206 J Janan, Micaela  101, 178 Janko, Richard  226 Janus  43, 61, 229 Jenkins, Thomas E.  172 Jouteur, Isabelle  24, 25 Juno  18, 67, 68, 75, 76, 78, 79, 80, 84, 89, 90, 91, 106, 109, 120, 121, 128, 133, 138, 141, 142, 165, 166, 179, 198, 206, 214, 231, 234, 239, 240, 257 Jupiter  8, 15, 19, 23, 26, 30, 44, 55, 57, 60, 61, 62, 63, 66, 67, 68, 69, 70, 74, 75, 76, 78, 79, 80, 82, 83, 84, 85, 89, 90, 91, 105, 117, 118, 121, 125, 128, 133, 138, 139, 141, 142, 145, 147, 149, 158, 159, 162, 164, 165, 168, 179, 180, 186, 195, 210, 214, 223, 225, 228, 232, 234, 235, 236, 239, 240, 246, 247, 248, 249, 253, 254 Juturna  69, 133, 257 K Kadmos  88 Kafka, Franz  52 Kakridis, Johannes Theoph.  226 Kalais  192

282

Personenregister (realer und literarischer Figuren)

Kallimachos  12, 14, 15, 19, 21, 22, 23, 36, 59, 65, 88, 148, 159, 161, 162, 225 Kallisto  78 Karl, Klaus  1, 5 Kaser, Max  23, 119 Kastor von Rhodos  13 Kaufhold, Shelley D.  130 Keith, Alison M.  45, 83 Keleus  120 Kennedy, Duncan F.  31, 39 Kenney, E. J.  234 Kentauren  113, 116, 201, 203, 204, 205, 206, 207 Kerasten  180, 181 Kleist, Heinrich von  79 Klymene 75 Knox, Peter E.  79 Konon  18, 63, 91, 92, 95 Korinna  218 Kornprobst, Günter  1 Koronis  82 Krafft-Ebing, Richard von  45 Kroisos  87 Krupp, József  62 Kyklopen  119, 219, 226, 227 L Laelaps  143, 146 Laestrygonen 227 Lafaye, Georges  18 Laomedoon  195 Lapithen  113, 203, 205 Lara 133 Laren  139 Latacz, Joachim  14 Lateiner, Donald  61 Latinus  18, 228 Latona  16, 65, 120, 125, 126, 132 Latreus  206 Lavinia (bei Shakespeare)  131

Lavinia (bei Vergil und Ovid)  233, 240, 257 Leach, Eleanor Winsor  9 Leander 142 Leda  8 Lefèvre, Eckard  243, 250 Lelex  58, 157, 160 Leo, Curran  68 Leontios  101 Lernäische Schlange  164 Leucippe  102 Leuconoe  104 Leucothea  109 Leucothoe  102, 105, 106, 130, 235 Lichas 165 Ligdus 173 Ligurinus 177 Liriope  91 Liveley, Genevieve  138 Livia 43 Livius  234, 239, 241, 250 Lotis 167 Lowe, Dunstan M.  84 Lucina 166 Ludwig, Walther  13, 14, 15 Lukan 17 Lukrez  12, 17, 32, 41, 43, 47, 51, 94, 141, 177, 202, 241, 242, 243, 244, 255, 256, 258 Lycabas  113, 116, 206 Lycaon  62, 64, 67, 75, 83, 117, 160, 180 Lyciscus  67, 177 Lyly, John  173, 174 Lyncus 117 M Macareus  172, 223, 226, 227, 228, 230, 232 Machiavelli, Niccolò  36

Personenregister (realer und literarischer Figuren)

Maeander  150, 168 Maecenas 154 Mago 215 Makowski, John F.  176, 177 Mann, Thomas  168 Manuwald, Bernd  91, 94 Marathus 177 Marie de Champagne  37 Markland, Jeremiah  233 Mars  26, 30, 65, 86, 102, 105, 118, 121, 174, 223, 239 Marsyas  57, 83, 127, 128, 132, 193, 200, 247 Martial  28 Martins, Pedro Ribeiro  243 Maximus Cotta  151 McGuire, Martin R. P.  23 Medea  30, 86, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 147, 148, 149, 157, 168, 169, 182, 189, 201, 223, 237, 247, 258 Medusa  8, 77, 110, 113, 114, 116, 138, 182, 227 Meleagros  147, 154, 155, 156, 157, 165, 188 Memnon  209, 214, 215 Memnoniden  215, 233 Menandros 12 Menippe  218 Mercurius  26, 55, 69, 81, 83, 84, 85, 107, 133, 158, 181, 195, 224, 227, 236 Mestra  160 Metaneira  120 Metioche  218 Michalopoulos, Andreas  53 Midas  54, 74, 192, 193, 194, 195, 202, 217, 222, 225 Miletus  168 Milton, John  61, 99 Minerva  6, 7, 8, 9, 53, 77, 81, 82, 83,

283

84, 86, 102, 116, 117, 121, 123, 124, 125, 127, 131, 152, 193, 202, 212, 218 Minos  57, 140, 145, 147, 148, 149, 153, 168 Minotaurus  149, 150 Minyaden  57, 102, 103, 109, 124 Minyas  102 Miraglia, Luigi  2 Misenus 57 Mopsus  206 Morpheus  198, 199 Müller, Hendrik  142 Musen  7, 20, 27, 65, 94, 114, 116, 117, 122–125, 142, 178, 230, 241 Myerowitz, Molly  43 Myers, K. Sara  234, 239, 243 Myrmidonen  54, 141 Myrrha  25, 58, 59, 66, 129, 134, 140, 168, 169, 176, 182, 184, 185, 186, 187, 190, 247, 258 Myscelos 242 N Najaden  107, 186, 193, 228, 239 Narcissus  23, 50, 69, 86, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 103, 106, 107, 111, 134, 142, 222 Narkissos  91, 93, 95, 96 Nausikaa  107 Nelson, Max  50 Nemesianus 34 Nemesis  92 Neptunus  6, 8, 77, 82, 109, 162, 195, 202, 203, 208, 220, 247 Nereiden  87, 111 Nessus  164, 165, 166, 203 Nestor  1, 201, 202, 203, 205, 206, 207, 210 Nguyen, Nghiem L.  239 Nicolini, Fausto  41

284

Personenregister (realer und literarischer Figuren)

Nicoll, W. S. M.  65 Nielson, Kristina P.  216 Nikainetos  18 Nikandros  19, 32, 35, 102, 117, 218 Nileus 115 Niobe  16, 54, 66, 124, 125, 126, 127, 132, 196, 237 Niobiden 156 Nisus  116, 147, 154, 206 Nock, Arthur Darby  59 Nugent, Georgia  140 Numa Pompilius  42, 48, 241 Nyctimene 66 Nymphen  19, 22, 54, 65, 68, 69, 76, 77, 79, 87, 91, 92, 96, 106, 107, 108, 116, 118, 121, 122, 123, 133, 139, 146, 157, 158, 167, 179, 186, 194, 195, 199, 200, 219, 223, 232, 233, 234, 235, 246 Nyseiden  139 O Octavianus  252, 253 Ocyroe  83, 90, 203, 207, 247 Odysseus  52, 55, 107, 210, 220 Oedipus  18, 110 Oeneus  153, 154 Oenothea  159 Oidipus  98, 99, 168, 249 Oliver, Jen H.  78 Oppian von Anazarbos  33 Oppian von Apamea  34 Orchamus  106 Oreaden 161 Orestes  71, 154, 242 Orion  218 Orithyia  133, 142 Orpheus  13, 20, 44, 47, 56, 59, 176, 177, 178, 179, 180, 183, 184, 187, 188, 192, 193, 228, 230, 241

Otis, Brook  14, 15, 16, 18, 26, 47, 113, 114, 124 Owen, S. G.  178 P Palaemon  109 Palamedes  210, 212 Pallas  114, 125, 215, 216 Pan  60, 69, 92, 127, 139, 192, 193, 194, 235 Pandion  128, 129, 133 Paris  18, 26, 31, 42, 201, 208 Parmenides  258 Parthenios  18 Pasiphae  184 Paton, William Roger  236 Patroclus 154 Patti, Marianna  199 Paulus  38 Pausanias (Mörder Philipps II.)  178 Pausanias (Schriftsteller)  83, 93 Pavlock, Barbara  136, 150 Pegasos 114 Pegasus 114 Peirano, Irene  147 Peleus  192, 195, 196, 206 Peliaden  138, 140 Pelias  137, 138, 140 Pelopea 66 Pelops 126 Pentheus  25, 86, 88, 100, 101, 102, 125, 246 Perdix  124, 147, 150, 152, 153 Periclymenus  207 Perillus 37 Perimele  106, 157 Perseus  13, 24, 29, 102, 110, 111, 112, 113, 114, 116, 117, 134, 135, 138, 139, 182, 203, 227 Peters, Heinrich  48 Petrarca, Francesco  3

Personenregister (realer und literarischer Figuren)

Petronius  159 Phaedra  34, 45, 70, 144, 154, 172, 241, 246, 247 Phaethon  24, 25, 26, 44, 65, 70, 74, 75, 78, 89, 90, 118, 151, 152, 157, 193, 202, 225 Phaidra  185, 187 Phalaris 37 Phanokles  192 Phaon 174 Phemius  94 Philemon  54, 58, 59, 147, 157, 158, 159, 160, 163, 168, 244 Philipp II.  178 Phillida 174 Philoctetes  165, 210, 211, 212 Philoktet 165 Philomela  25, 66, 69, 124, 129, 130, 131, 133, 147, 160 Philostratos  108 Phineus  113, 114 Phocus  141, 195, 196 Phoebe  65, 76 Phoebus  65, 67, 193 Phoenix 233 Pholus  207 Phrasius 37 Phyllius  139 Picus  223, 228, 229, 230, 234, 240 Pieriden  7, 56, 117, 123, 124 Pieros 117 Pindar  82, 149, 150 Pirithous  58, 113, 154, 155, 157, 203, 204 Platon  17, 44, 55, 58, 72, 86, 93, 94, 96, 97, 98, 99, 101, 104, 115, 133, 139, 154, 172, 174, 178, 181, 185, 230, 244, 245, 246, 255 Plautus  79 Plexippus 155 Plinius  33, 108, 245

285

Plotin  96, 97, 183 Plutarch  52, 102, 139, 177, 179, 241, 243 Polybios 251 Polydectes 116 Polydorus (Sohn des Cadmus)  110 Polydorus (Sohn des Priamus)  53, 213, 216 Polymestor  117, 213 Polyphemos  219, 220 Polyphemus  209, 219, 220, 221, 223, 224, 226, 229, 237 Polyxena  208, 213, 214, 215, 218, 253, 254 Pomona  48, 212, 223, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 248, 249, 250 Porod, Robert  53 Porphyrios 243 Pöschl, Viktor  15, 143 Poseidon 247 Priamus  199, 212 Priapus  167, 235 Procas 234 Procne  25, 124, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 147, 201 Procris  71, 134, 142, 143, 144, 145, 146, 196, 221, 229 Prometheus  18, 63 Properz  29, 31, 36, 46, 64, 136, 138, 177, 234, 237, 256 Propoetiden  176, 181, 183 Proserpina  66, 113, 118, 120, 121, 125, 129 Protagoras  98, 181, 185 Proteus (Gegner des Perseus)  116 Proteus (Gott)  58, 71, 160, 195, 207, 235 Psamathe (Nymphe)  195, 196 Psamathe (Tochter des Crotopus)  ­106 Pseudo-Eratosthenes 77

286

Personenregister (realer und literarischer Figuren)

Pseudo-Jamblichos  20 Pseudo-Tibull 63 Pushkin, Alexander  32 Putnam, Michael C. J.  149 Pygmalion  7, 38, 54, 111, 176, 181, 182, 183, 184, 187, 192, 256 Pylades  154, 202 Pyramus  102, 103, 104, 134, 142, 155 Pyreneus  113, 116, 117, 122, 195, 206 Pyrrha  56, 60, 62, 63, 64, 65, 74, 86, 110, 157, 158, 160, 184 Pythagoras  12, 20, 51, 57, 87, 111, 126, 159, 233, 235, 241, 242, 243, 244, 245, 246, 251 Python  15, 16, 64, 105, 193, 251 Q Quintilian  4, 209 R Remus  239 Rhesus  210, 211 Richlin, Amy  107 Rieks, Rudolf  20, 24 Robigo  30 Romeo, Alessandra  103, 183 Romulus  26, 48, 223, 234, 239, 240, 241, 248, 253 Ronsard, Pierre de  162 Rosati, Gianpiero  69 Rosen, Ralph M.  114 Rosner-Siegel, Judith A.  137 Rzach, Aloisius  90 S Sallustius  249 Salmacis  102, 107, 108, 110, 116, 122, 125, 134, 144, 195 Salustios  59 Samsa, Gregor  52

Sappho  13, 21, 174, 193, 226 Saturnus  8, 61, 253, 254 Satyrn  139, 235 Schlegel, August Wilhelm von  5, 12 Schmidt, Ernst A.  16, 28, 47 Schmitzer, Ulrich  6, 29, 88, 252 Scholfield, A. F.  35 Schopenhauer, Arthur  36 Schubert, Werner  227 Schwindt, Jürgen Paul  87 Schwyzer, Hans-Rudolf  96, 183 Scylla (Tochter der Crataeis)  147, 209, 216, 218, 219, 221, 222, 223, 224, 225, 227, 252 Scylla (Tochter des Nisus)  25, 57, 134, 140, 147, 148, 149, 153, 168, 169, 252 Segal, Charles Paul  100, 245 Semele  74, 76, 81, 86, 89, 90, 91, 100, 138, 193, 202, 225 Seneca der Ältere  4, 19 Seneca der Jüngere  36, 136, 137 Seng, Helmut  25 Sertorius  179 Servius 215 Severus 154 Sextus Marius  59 Shakespeare, William  93, 103, 131 Sharrock, Alison  152 Sibylle  5, 59, 223, 224, 225, 226, 230, 257 Siebelis, Johannes  139 Siegfried  202 Sigmund  168 Signy  168 Silenus  12, 177, 193, 235 Silvia  118 Sirenen  121, 125 Sisyphus  210 Skutsch, Otto  22, 239, 242 Smyrna  185

Personenregister (realer und literarischer Figuren)

Snell, Bruno  14 Sokrates  98, 135 Sol  65, 70, 89, 102, 105, 106, 223, 249 Solodow, Joseph B.  15, 52, 55, 72 Solon  87 Somnus  84, 198, 199, 202 Sophokles  1, 12, 98, 134, 165, 168, 210, 249 Spahlinger, Lothar  28, 117, 153 Stadtmüller, Hugo  236 Statius  202 Stein, Gabriele  135 Stendhal  39 Stirrup, Barbara E.  94 Stobaeus  192 Strudlbruggs 225 Styx  74, 99, 202 Suchier, Reinhart  11 Suerbaum, Werner  191 Suetonius  19, 118, 215, 252 Sulmo 215 Swift, Jonathan  225 Sychaeus  99, 199 Syrinx  69, 81, 92, 194 T Tacitus  59 Tages  248 Talos  202 Tarantino, Quentin  204 Tatius  43, 44, 239 Tatjana 32 Telamon  195 Telephus 33 Telethusa  173, 199 Tellus 74 Tereus  25, 59, 66, 117, 124, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 140, 160 Tethys  200

287

Teumessischer Fuchs  143 Thamyris  94 Themis 64 Theognis  188 Theokrit  25, 96, 219, 220, 221 Theophrast 236 Thescelus  115, 126 Theseus  7, 39, 58, 140, 148, 150, 151, 154, 157, 204, 246 Thestius 155 Thetis  192, 195, 196, 206 Thieme, Paul  60 Thisbe  102, 103, 104, 125, 134, 142, 155, 205 Thomas, Richard F.  216 Thomas von Aquin  47 Thukydides  3, 140 Thyestes 126 Tiberius  59, 139 Tibull  12, 31, 38, 46, 56, 63, 124, 136, 177, 244, 256 Tiresias  83, 86, 90, 91, 98, 100, 107 Tisiphone  84, 109, 110 Tissol, Garth  120 Tithonos  225, 226 Tithonus 225 Tlepolemus  207 Tmolus  193, 194 Todini, Umberto  239 Tolstoi, Lew  4 Toohey, Peter  36 Tosca 256 Toxeus 155 Trieber, Conrad  234 Triptolemus  120 Triton 57 Tsitsiou-Chelidoni, Chrysanthe  149 Turnus  87, 114, 215, 231, 232, 233, 240, 257 Typhoeus 117

288

Personenregister (realer und literarischer Figuren)

U Ufens 215 Ulixes  72, 201, 207, 209, 210, 211, 212, 224, 226, 227, 230, 232, 251 Ulpian  119 V Valerius Maximus  248 Varro  12, 14 Vātsyāyana  35 Veiovis  30 Velleius Paterculus  252 Venulus  231, 232 Venus  26, 34, 43, 44, 56, 65, 86, 102, 105, 107, 118, 174, 176, 180, 181, 182, 183, 185, 187, 188, 189, 190, 191, 196, 219, 223, 229, 231, 232, 235, 239, 253 Vergil  1, 3, 5, 6, 7, 8, 12, 13, 14, 15, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 24, 26, 27, 28, 29, 32, 33, 34, 40, 42, 46, 53, 57, 64, 72, 75, 84, 87, 89, 100, 109, 113, 114, 115, 116, 119, 136, 141, 147, 149, 150, 154, 168, 177, 179, 186, 195, 198, 203, 215, 216, 217, 218, 224, 226, 227, 228, 230, 231, 232, 233, 241, 242, 243, 246, 247, 249, 250, 252, 255, 256, 257, 258, 259 Verstraete, Beert C.  176 Vertumnus  48, 212, 223, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 249, 250

Vico, Giambattista  12, 41 Victoria  8 Virbius  246, 248 Vogt-Spira, Gregor  95 Volk, Katharina  38, 46 Vollgraff, Wilhelm  19 Voltumna 234 Vosseler, Martin  11 Vulcanus  105 W Wagner, Richard  168 West, Martin L.  12, 62, 226 Wheeler, Stephen M.  55, 70 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von  220 Wilkinson, L. P.  6, 12, 13, 28 Williams, Craig A.  46 Williams, Gareth D.  15 Williams, Gordon  254 Wöhrle, Georg  236 X Xanthos  83 Xenophon  98 Z Zanker, Paul  95 Zeus  97, 98, 197, 219 Zissos, Andrew  99 Zoilos  102

vittorio hösle

Ovids Enzyklopädie der Liebe hösle Ovids Enzyklopädie der Liebe

hösle

Ovids Enzyklopädie der Liebe

as Buch bietet eine Interpretation von Ovids Hauptwerk, die sich nicht auf einzelne Episoden beschränkt, sondern im Zusammenhang detaillierter Deutungen aller einzelnen Mythen die Ordnungsprinzipien herausarbeitet, die der Reihenfolge der Geschichten zugrunde liegen. Die zentrale These ist, daß Ovid eine Geschichtsphilosophie des erotischen Verhaltens entwirft und dabei den ganzen Kosmos erotischer Formen systematisch ausbreitet. Neben den intra- und intertextuellen Bezügen auf die griechische und lateinische Dichtung wird die Kritik an Platons Liebesphilosophie in den Vordergrund gerückt. Eine vollständige Analyse der metapoetischen Passagen erlaubt die Rekonstruktion von Ovids komplexer Philosophie der Kunst, die Ovid als einen der größten philosophischen Dichter der Weltliteratur erweist.

Formen des Eros, Reihenfolge der Liebesgeschichten, Geschichtsphilosophie und metapoetische Dichtung in den Metamorphosen