Mord in der High Society. Gesellschaft, Medien und Skandal in New York um 1900 [1. ed.] 9783835352131, 9783835348974


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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung. High Society im Skandal
I. Zwischen Upper Class und High Society (1894-1906)
1. Die Gesellschaftsberichterstattung seit den 1880er Jahren
2. Zugangswege in die High Society
2.1. »Society at Home and Abroad«: Harry Thaws mediales Leben zwischen US-Ostküste und Europa
2.2. »Little Butterfly«: Evelyn Nesbits Karriere in der High Society (1900-3)
3. Evelyn Nesbit und Harry Thaw als High Society-Paar
3.1. High Society-Lifestyle und unregelmäßige Sichtbarkeit in den Medien (1903-4)
3.2. (Un-)Kontrollierbare Medienpräsenz (1904-5): Das Spannungsfeld aus Beziehung, Familie und Medienöffentlichkeit
1. »Trial by newspaper«
Die mediale Vorverurteilung (1906-7)
1.1. »A state of homicidal hysteria«.High Society als Melodram
1.2. Harry Thaw im medialen Spannungsfeld
1.3. Evelyn Nesbits mediale Ambivalenz. Zwischen Kontrollverlust und Adaption medialer Logiken
1.4. Selbstjustiz als (populärkulturelles) Erlebnis.Die Intermedialität des Nesbit-Thaw-White-Skandals
2. »The most spectacular criminal case«
Sensationsprozess und High Society (1907)
2.1. Eine neue Dimension des medialen Sensationsprozesses
2.2. »Neither Victim Nor Vampire«. Evelyn Nesbit als High Society-Mitglied im Zeugenstand
3. Verstärkung und Desinteresse
Der zweite Thaw-Prozess (1908)
II. »The most sensational trial of the twentieth century«. ›The People vs. Harry K. Thaw‹ als Medienereignis (1906-8)
1. »Trial by newspaper«: Die mediale Vorverurteilung (1906-7)
1.1. »A state of homicidal hysteria«: High Society als Melodram
1.2. Harry Thaw im medialen Spannungsfeld
1.3. Evelyn Nesbits mediale Ambivalenz: Zwischen Kontrollverlust und Adaption medialer Logiken
1.4. Selbstjustiz als (populärkulturelles) Erlebnis: Die Intermedialität des Nesbit-Thaw-White-Skandals
2. »The most spectacular criminal case«: Sensationsprozess und High Society (1907)
2.1. Eine neue Dimension des medialen Sensationsprozesses
2.2. »Neither Victim Nor Vampire«: Evelyn Nesbit als High Society-Mitglied im Zeugenstand
2.3. »Brain storm« oder »coldblooded cowardly murder«?: Deutungskämpfe um Harry Thaw
3. Verstärkung und Desinteresse: Der zweite Thaw-Prozess (1908)
4. Der Thaw-Prozess als populärkulturelles Medienereignis
4.1. High Society als Konsumprodukt
4.2. »The Unwritten Law« (1907): Skandalisierte Privatheit im Film
4.3. Das Internationale Konsumgut High Society
III. Möglichkeiten und Grenzen der High Society-Mitgliedschaft (1908-15/22)
1. Harry Thaws medialisierter Psychiatrieaufenthalt (1908-15)
1.1. Psychiatrieaufenthalt als Kampf um Deutungshoheit(en) (1908-13)
1.2. »Why Don’t They Set Him Free?«: Flucht als inszenierter Freiheitskampf (1913-15)
2. Die Aufmerksamkeitsökonomie der Evelyn Nesbit (1908-21)
2.1. Selbstfindungsphase: Zwischen Rückzug und High Society
2.2. »Go back as a freak«: Evelyn Nesbits Transfer in das ›vaudeville‹
2.3. »A money-getter«: Nesbits Filmkarriere
Resümee und Ausblick. Genese, Skandal und Konsum der High Society
Dank
Abbildungsverzeichnis
Szenenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Quellen- und Literaturverzeichnis
Register
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Mord in der High Society. Gesellschaft, Medien und Skandal in New York um 1900 [1. ed.]
 9783835352131, 9783835348974

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Emanuel V. Steinbacher Mord in der High Society

Emanuel V. Steinbacher

Mord in der High Society Gesellschaft, Medien und Skandal in New York um 1900

Wallstein Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf, und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022 www.wallstein-verlag.de Eine Kooperation mit EDIT. Digitale Publikation Gerda Henkel Stiftung DOI-Nummer: 10.23778/GHS.EDIT.2022.3 Vom Verlag gesetzt aus der Minion Pro und der Myriad Pro Umschlaggestaltung: Günter Karl Bose, Berlin Umschlagbild: Vorderseite: Rudolf Eickemeyer Jr., The little butterfly [1901], LoC. Rückseite oben: Gertrude Käsebier, Portrait (Miss. N) [1901], in: Camera Work 1 (1903), Abb. 4. Rückseite unten: Bain News Service, Harry Thaw with others [1909], LoC. ISBN (Print) 978-3-8353-5213-1 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4897-4

Inhalt

Einleitung High Society im Skandal 9 I. Zwischen Upper Class und High Society (1894-1906) 41 1. Die Gesellschaftsberichterstattung seit den 1880er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Zugangswege in die High Society . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.1. »Society at Home and Abroad«: Harry Thaws mediales Leben zwischen US-Ostküste und Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.2. »Little Butterfly«: Evelyn Nesbits Karriere in der High Society (1900-3) . . . . . . . 88 3. Evelyn Nesbit und Harry Thaw als High Society-Paar . . . . . . 116 3.1. High Society-Lifestyle und unregelmäßige Sichtbarkeit in den Medien (1903-4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3.2. (Un-)Kontrollierbare Medienpräsenz (1904-5): Das Spannungsfeld aus Beziehung, Familie und Medienöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

II. »The most sensational trial of the twentieth century«

The People vs. Harry K. Thaw als Medienereignis (1906-8) 143 1. »Trial by newspaper«: Die mediale Vorverurteilung (1906-7) . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1.1. »A state of homicidal hysteria«: High Society als Melodram . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 1.2. Harry Thaw im medialen Spannungsfeld . . . . . . . . . . . . . . 153 1.3. Evelyn Nesbits mediale Ambivalenz: Zwischen Kontrollverlust und Adaption medialer Logiken . . . 171 1.4. Selbstjustiz als (populärkulturelles) Erlebnis: Die Intermedialität des Nesbit-Thaw-White-Skandals . . . . . . . 193 2. »The most spectacular criminal case«: Sensationsprozess und High Society (1907) . . . . . . . . . . . . . 204 2.1. Eine neue Dimension des medialen Sensationsprozesses . . . . . 206 2.2. »Neither Victim Nor Vampire«: Evelyn Nesbit als High Society-Mitglied im Zeugenstand . . . . 222 2.3. »Brain storm« oder »coldblooded cowardly murder«?: Deutungskämpfe um Harry Thaw . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 3. Verstärkung und Desinteresse: Der zweite Thaw-Prozess (1908) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 4. Der Thaw-Prozess als populärkulturelles Medienereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 4.1. High Society als Konsumprodukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 4.2. »The Unwritten Law« (1907): Skandalisierte Privatheit im Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 4.3. Das internationale Konsumgut High Society . . . . . . . . . . . . 332

III. Möglichkeiten und Grenzen der

High Society-Mitgliedschaft (1908-15/22) 335 1. Harry Thaws medialisierter Psychiatrieaufenthalt (1908-15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 1.1. Psychiatrieaufenthalt als Kampf um Deutungshoheit(-en) (1908-13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 1.2. »Why Don’t They Set Him Free?«: Flucht als inszenierter Freiheitskampf (1913-5) . . . . . . . . . . . 358 2. Die Aufmerksamkeitsökonomie der Evelyn Nesbit (1908-21) . . 383 2.1. Selbstfindungsphase: Zwischen Rückzug und High Society . . . 383 2.2. »Go back as a freak«: Evelyn Nesbits Transfer in das vaudeville . . . . . . . . . . . . . . 392 2.3. »A money-getter«: Nesbits Filmkarriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

Resümee und Ausblick Genese, Skandal und Konsum der High Society 431

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Szenenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494

Einleitung High Society im Skandal Als der wegen Mordes angeklagte Millionär Harry Kendall Thaw (1871-1947) am 21. Januar 1907 den Gerichtssaal betrat, erwartete ihn ein bis dahin beispielloses Medienaufgebot aus über einhundert Pressevertreter*innen. Kaum war sein Verfahren vor dem New Yorker Strafgerichtshof eröffnet worden, da stellte die Prozessbeobachterin Dorothy Dix bereits fest: »No murder case in a century has been so much written about, so much theorized about, so much talked about as this one.«1 Der Fall Thaw, so Dix, hatte in der Tat alles, um die amerikanische Öffentlichkeit über mehrere Jahre in Atem zu halten: Der Angeklagte hatte ein halbes Jahr zuvor den New Yorker Stararchitekten Stanford White (1853-1906) während einer Theateraufführung im Madison Square Garden erschossen. Das Motiv war schnell gefunden: White hatte angeblich vor fünf Jahren Thaws Ehefrau Evelyn Nesbit (1885-1967), damals Modell und Broadway-Darstellerin, vergewaltigt. In der Tat selbst sah die Journalistin jedoch nicht den alleinigen Grund, um von einem medialen Jahrhundertereignis zu sprechen. Vielmehr war es die gesellschaftliche Gruppe, in der sich die darin verwickelten Akteur*innen bewegten, die das Interesse der (Medien-)Öffentlichkeiten erregt hatte. Denn every one connected with it to the remotest degree belonged to that little group in this country who keep themselves always in the spot light of publicity, and concerning whose doings, their comings and their goings, their amusements, their clothes, their equipages, their every detail of life, there is an inexhaustible curiosity.2 Was Dorothy Dix beschreibt, war ein neue gesellschaftliche Formation, die sich um 1900 in den USA durch das Medieninteresse herausbildete und in der ersten Jahrhunderthälfte die amerikanische Gesellschaft prägen sollte: die High Society.3

1 Dorothy Dix: Mother of Thaw Saddest Figure at the Trial, Says Dorothy Dix, New York Evening Journal, 23.1.1907, S. 3. 2 Ebd. Syntax und Interpunktion folgen hier wie im Folgenden unverändert den Originalen. Abweichungen von der heutigen Schriftsprache sind mit »[sic]« gekennzeichnet; auf inhaltliche oder syntaktische Besonderheiten weist »[!]« hin. 3 Analysebegriffe wie High Society, race oder Gender sind hier und im Folgenden ohne Anführungszeichen geschrieben; (fremdsprachige) Eigennamen sind kursiv gesetzt.

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Thematik und Forschungsthesen Die vorliegende Arbeit untersucht den Nesbit-Thaw-White-Skandal als einen konstituierenden Moment der High Society, und wie sich diese in der US-amerikanischen Gesellschaft am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert herausbildete. Als urbane, medienaffine Formation prägten ihre medial sichtbaren Mitglieder neue Rollenbilder, Körpervorstellungen und Verhaltensweisen. Dabei zeigen sie, dass in der Moderne Sichtbarkeit in den Massenmedien gesellschaftlichen Status und Handlungsmacht erzeugte. Doch wer waren überhaupt die für den Skandal zentralen Akteur*innen? Evelyn Nesbit und Harry Thaw stammten beide aus Pittsburgh, Pennsylvania. Während Thaw aus einer der vermögendsten Familien des Landes stammte, die im Eisenbahn- und Transportwesen reich geworden war, wuchs Nesbit in prekären Verhältnissen auf. Zur Jahrhundertwende trafen sich die beiden in New York, dem gesellschaftlichen Zentrum der USA. Unabhängig voneinander stiegen sie in die High Society auf und erlangten jeweils beachtliche mediale Sichtbarkeit in der sensationshungrigen Gesellschaftsberichterstattung der Tagespresse: Thaw über das Vermögen seiner Familie und den ihm dadurch möglichen Lifestyle4, Nesbit durch ihre Arbeit als Modell und Broadway-Darstellerin. Nach einer mehrjährigen Affäre heirateten sie 1905. Nesbit und Thaw waren Pionier*innen der frühen High Society und prägten durch ihre Persönlichkeiten das, was eine Mitgliedschaft bedeutete, und den gesellschaft­ lichen Status, der damit einherging.5 Dieser Status intensivierte sich nochmals, als »the crime of the century«6 im Sommer 1906 nicht nur das Paar, sondern auch Teile ihrer Familien für die folgenden zwei Jahre ins Zentrum eines Medienskandals katapultierte. Die außergewöhnliche Episode wirkte wiederum auf die High Society als Ganzes zurück. Zwei Strafverfahren gegen Thaw (1907/8) gaben nicht nur Einblicke in das Privatleben der Beteiligten, sondern thematisierten intime Details und als deviant 4 Unter Lifestyle sollen nach David Bell/Joanne Hollows: Towards a History of Lifestyle, in: dies. (Hg.): Historicizing Lifestyle. Mediating Taste, Consumption and Identity from the 1900s to 1970s, London 2016, S. 1-20, hier S. 1-2, 4-5 nach außen sichtbare Konsum- und Verhaltenspraktiken verstanden werden, die von der Soziologie vor allem für Mediengesellschaften seit den 1980er Jahren untersucht wird, jedoch ebenso zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitet waren, vgl. ebd., S. 7-8. Da der definitorische Schwerpunkt auf der Außenwirkung und (medialen) Vermittlung dieser Praktiken liegt, können High Society-Mitglieder als frühe Produzent*innen von Lifestyles gelten. 5 Dagegen konnte sich die Folgegeneration der High Society, wie Margareth »Peggy« und Lawrence »Larry« Thaw, in den 1920er Jahren bereits auf etablierte Mechanismen der medialen Inszenierung von Privatheit stützen, vgl. Juliane Hornung: Um die Welt mit den Thaws. Eine Mediengeschichte der New Yorker High Society in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Zugl.: München, Univ., Diss., 2019, Göttingen 2020, S. 48-65. 6 Diese Bezeichnung münzte erstmals der Gerichtsberichterstatter Irvin S. Cobb (1876-1944) in Thaws erstem Strafprozess, vgl. ders.: Exit Laughing, Indianapolis 1941, S. 161.

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verstandene Verhaltensweisen der High Society, was die Massenmedien begleiteten und für kontroverse Debatten in verschiedenen Öffentlichkeiten sorgte. Bestrebt, die Deutungshoheit über ihr Bild in der Öffentlichkeit zu behalten, versuchten Nesbit und Thaw, die mediale Aufmerksamkeit zu nutzen, und oszillierten zwischen medialer Ermächtigung und Entmachtung. So setzte ihre mediale Sichtbarkeit auch die Akteur*innen vor Gericht unter Druck, wie Juristen oder Gutachter, und erlaubte ihnen, von ihrer Medienpräsenz im Gerichtsverfahren zu profitieren. Die Prozesse und die Berichterstattung verschoben die Grenzen des Sagbaren, etwa indem Sexualität zum Thema wurde, und verhandelten gesellschaftliche Normen wie Frauenrollen neu. Zudem rezipierte die Populärkultur in der Belletristik, in Memorabilien und Filmen die Verfahren, worin High Society vielschichtig verarbeitet wurde. Damit definierten die Strafprozesse in der Frühphase der High Society, wie über ihre Mitglieder gesprochen und welche Themenspektren an ihnen verhandelt werden konnten. Harry Thaw entkam der Todesstrafe, da er 1908 im zweiten Verfahren zum Geisteskranken erklärt wurde. Während der folgenden sechs Jahre in der Psychiatrie versuchte er, sich weiterhin medial sichtbar zu machen, um dem gesellschaftlichen Statusverlust durch seinen anhaltenden Aufenthalt in der Anstalt zu entkommen. Diese Exklusion überwand er erst 1913 mit einer spektakulären Flucht und konnte in dem darauffolgenden Rechtsstreit tatsächlich seinen High Society-Status erfolgreich einsetzen, um aus der Psychiatrie entlassen zu werden. Parallel dazu nutzte Evelyn Nesbit ihre Sichtbarkeit, um in den 1910er Jahren eine erfolgreiche Unterhaltungsund Filmkarriere zu verfolgen. Beide zeigen in dieser Phase, für welch unterschiedliche Zwecke sich ihr durch den Skandal geprägter High Society-Status in anderen Gesellschaftsbereichen einsetzten ließ. Mit Beginn der 1920er Jahre schieden beide aus der High Society aus. Thaw wurde erneut in die Psychiatrie eingewiesen und Nesbit gelang es aufgrund ihres Alters kaum mehr, das Interesse der society pages, der Gesellschaftsrubrik der Tageszeitungen, auf sich zu ziehen. Mit ihrer fehlenden Sichtbarkeit waren sie somit für die High Society uninteressant geworden. Doch was versteht man eigentlich unter High Society und wodurch zeichnete sich diese Formation aus? Ihre Entstehung basierte auf zwei strukturellen Veränderungen der amerikanischen Gesellschaft zur Jahrhundertwende: erstens, der Suche nach neuen gesellschaftlichen Legitimationsmöglichkeiten in Abgrenzung zur exklusiven Upper Class, die für fehlende gesellschaftliche Durchlässigkeit stand; zweitens, der Entstehung einer neuen Gesellschaftsberichterstattung, die zunehmend das Interesse am Privaten bediente. Während des Gilded Age der 1880er bis 1900er Jahre manifestierte sich unter Zeitgenoss*innen ein immer stärkeres Gefühl der gesellschaftlichen Spaltung.7 Verantwortlich dafür war jene amerikanische Upper Class, die 7 Vgl. Eric Homberger: Mrs. Astor’s New York. Money and Social Power in a Gilded Age, New Haven 2002, S. 5-6; Steve Fraser/Gary Gerstle: Introduction, in: dies. (Hg.): Ruling America. A History of Wealth and Power in a Democracy, Cambridge 2005, S. 1-26, hier S. 10-1. thematik und forschungsthesen

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homogene Oberschicht der Ostküstenstädte, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte.8 Obwohl sie noch eine gesellschaftliche Vorbildfunktion ausübte, errichtete sie gegen Ende des Jahrhunderts zunehmend Klassenschranken,9 um sich gegen neue Gesellschaftsgruppen, wie die aufstrebende nouveau riche, abzugrenzen. Dazu gehörten neben Abstammung und Vermögen10 exklusive Distinktionsformen wie Clubmitgliedschaften.11 Die so Exkludierten nahmen dies zunehmend als unüberwindbare Eintrittshürden wahr, was die Upper Class als erstrebenswerte Klasse immer stärker diskreditierte.12 Das trieb die Entstehung der High Society voran, die als »eine dynamischere und offenere Formation an die Seite der Upper Class [trat]«.13 In ihr war es entscheidend, die Aufmerksamkeit der Medien zu erregen, sodass neben Vermögenden auch Schauspieler*innen, Künstler*innen und Modelle Zugang finden konnten. Den Erfolg dieses Vorgehens hielt im Jahr 1924 die Upper-Class-Dame May Van Rensselaer (1848-1925) rückblickend fest: »They aimed for social distinction not by assault upon the established caste, but by counter-attraction. They appreciated the value of publicity and employed it.«14 Die Etablierung der High Society war zudem nur möglich, da die »Entfesselung der Massenkommunikation«15 in den 1880er Jahren den ersten Medialisierungsschub der Moderne ausgelöst hatte. Printmedien wurden zur Massenware und Verleger experimentierten mit neuen journalistischen Formaten.16 Insbesondere sensaDiese Begrenzung des Gilded Age resultiert aus einer kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Perspektive und orientiert sich an Rebecca Edwards: New Spirits. Americans in the ­Gilded Age, 1865-1905, New York 2006, S. 6-7. 8 Vgl. Stephen Richard Higley: Privilege, Power, and Place. The Geography of the American ­Upper Class, Lanham 1995, S. 16-27. 9 Vgl. Homberger: New York, S. 6. 10 Insb. Simone Derix hat den Vermögensbegriff für die Geschichtswissenschaft operationalisiert. Sie sieht ihn als wertneutralen Begriff und betont das damit verbundene materielle wie immaterielle Handlungspotenzial, vgl. dies.: Die Thyssens. Familie und Vermögen (= Familie – Unternehmen – Öffentlichkeit, 4), 2., durchges. Aufl., Paderborn 2021, S. 15-20. 11 Vgl. Clifton Hood: In Pursuit of Privilege. A History of New York City’s Upper Class and the Making of a Metropolis, New York 2017, S. 172-3, 217-27; Homberger: New York, S. 8-11, 193-206. 12 Vgl. Sven Beckert: The Monied Metropolis. New York City and the Consolidation of the American Bourgeoisie, 1850-1896, Cambridge et al. 2001, S. 254-6; Fraser/Gerstle: Introduction, S. 10-1. 13 Hornung: Welt, S. 11. 14 May van Rensselaer: The Social Ladder. The Leisure Class in America (In Collaboration with Frederic Van De Water), New York 1924, S. 56-7. 15 Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte, 2., durchges. und erg. Aufl., Köln 2008, S. 154. 16 Vgl. Jörg Requate: Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse, in: Geschichte und Gesellschaft 25:1 (1999), S. 5-32, hier S. 16-20; Adelheid von Saldern: Amerikanische Magazine: Zur Geschichte gesellschaftlicher Deutungsinstanzen (1880-1940), in: AfS 41 (2001), S. 171-204, hier S. 185-9, 197-9.

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tionalistische Tageszeitungen, die sogenannte yellow press, erweiterte das Spektrum ihrer Berichterstattung: In human interest stories berichteten sie emotional über Einzelschicksale, wodurch zunehmend Privates in den Fokus der Öffentlichkeit rückte, und mit dem Aufkommen des billigen Halbtondruckverfahren hielten fotografische Aufnahmen Einzug in die Tagespresse.17 Dies veränderte grundlegend die Gesellschaftsberichterstattung, die zunehmend die Akteur*innen ihrer society pages den Leser*innen als Privatpersonen präsentierte.18 Die neuen, sich gut verkaufenden Inhalte hatte Dorothy Dix im oben zitierten Prozessbericht ausgeführt: Sie umfassten den Lebensstil der Personen, das Konsum- und Freizeitverhalten sowie Kontakte, Treffen und Gesellschaftsereignisse; kurz: Die Medien begannen das scheinbar authentische Privatleben der High Society-Mitglieder zu dokumentieren und schufen mit ihrer Berichterstattung, mit Interviews und Schnappschüssen Nähe und Vertrautheit zu ihnen. Dies ging über die bisherige, deskriptive Gesellschaftsberichterstattung, die Gästelisten, Hochzeiten und Bälle der Upper Class protokolliert hatte, weit hinaus.19 Durch ihre medial sichtbare Privatheit – also persönliche Informationen über das Verhalten, die Räume und die Person –20 avancierten High Society-Mitglieder zu Leitfiguren der gesellschaftlichen Umbruchphase am Übergang zum 20.  Jahrhundert. Hierbei konnten sich vor allem Frauen als role models für Mode und Körperlichkeit profilierten. Diese neue mediale Sichtbarkeit erforderte in der Anfangsphase der High Society von ihren Mitgliedern oder denen, die es werden wollten, nicht nur Medienkompetenzen zu entwickeln, um überhaupt erst sichtbar zu werden und dann diese Position in der flüchtigen Aufmerksamkeit der Medien zu halten. Auch mussten diese Pionier*innen überhaupt erst mit den Medien grundsätzlich aushandeln, wie sie mediale Aufmerksamkeit erregen konnten, was als berichtenswert galt und wie sie sich dauerhaft sichtbar machen konnten. Dazu trug wesentlich ihre Vergesellschaftung sowohl indirekt auf den society pages als auch direkt an (halb-)öffentlichen Orten, wie Restaurants und Hotels bei.21 Somit kristallisierte sich durch das Verhalten einzelner Vorreiter*innen, dem Interesse der Presse und dem der Leser*innen diese neue soziale Formation in New York heraus, über deren Zugehörigkeit die mediale Sichtbarkeit bestimmte. 17 Vgl. Michael Schudson: Discovering the News. A Social History of American Newspapers, 2. Aufl., New York 1988, S. 92-100; Ted Curtis Smythe: The Gilded Age Press. 1865-1900 (= The History of American Journalism, 4), Westport 2003, S. 123-9; Judy Polumbaum: Human Interest Journalism, in: Christopher H. Sterling (Hg.): Encyclopedia of Journalism, Bd. 2, 6 Bde., Delhi/ London 2009, S. 728-32, hier S. 728-9. 18 Vgl. Ryan Linkof: Public Images. Celebrity, Photojournalism and the Making of the Tabloid Press, London/New York 2018, S. 51-2, 55. 19 Vgl. Maureen E. Montgomery: Displaying Women. Spectacles of Leisure in Edith Wharton’s New York, New York/London 1998, S. 144-5. 20 Vgl. Beate Rössler: Der Wert des Privaten, Frankfurt a. M. 2001, S. 19. 21 Vgl. Lewis A. Erenberg: Steppin’ Out. New York Nightlife and the Transformation of American Culture, 1890-1930 (= Contributions in American Studies, 50), Westport 1981, S. 35-40, 54-5. thematik und forschungsthesen

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Warum konnte vor diesem Hintergrund der Nesbit-Thaw-White-Skandal solch eine mediale und gesellschaftliche Strahlkraft entfalten? Ende des 19. Jahrhunderts häuften sich in westlichen Gesellschaften Skandale, die nach Frank Bösch »Ausdruck und Motor«22 sozialer Veränderungen waren. Durch Verstädterung und dem Aufstieg der Vergnügungskultur eröffneten sich zur Jahrhundertwende neue, sexualisierte Interaktionsräume zwischen den Geschlechtern, während sich zugleich das Rollenbild der Frau wandelte und neue Handlungsmöglichkeiten erlaubte.23 Diese Veränderungen führten zu entsprechend scharfen Kontroversen, wobei besonders medial sichtbare Akteur*innen der High Society, wie Theaterdarsteller*innen oder Lebemänner, zu Kristallisationsfiguren dieser Veränderungsprozesse und damit zum Gegenstand der öffentlichen Debatten wurden.24 In eben diesem Klima trug sich der Nesbit-Thaw-White-Skandal zu, der Themen wie Männer- und Frauenbilder, Sexualität und Verhaltensweisen der städtischen Vergnügungsgesellschaft offenlegte und zur Diskussion stellte. Zeitgenössisch wurde er so zum »most dramatic evidence that urban life was changing.«25 Zugleich markierte er einen zentralen Moment in der Formierungsphase der High Society: Im Skandal verdichtete sich die Medialisierung des Privaten in bislang ungekanntem Maße, indem er Einblicke in das tabuisierte Sexualleben und als problematisch erachtete Verhaltensweisen der Akteur*innen gab. Das zwang diese, sich mit ihrer Sichtbarkeit im Spannungsfeld zwischen medialer Ermächtigung und Entmachtung auseinanderzusetzen.26 Daher prägten Aushandlungsprozesse zwischen Medienöffentlichkeit und High SocietyMitgliedern den Skandal, was wie unter einem Brennglas Rückschlüsse auf die Funktions- und Wirkungsweisen der Formation zulässt. Sowohl der Formierungsprozess der High Society als auch der Medienskandal lassen sich aus gesellschafts-, medien- und kulturgeschichtlicher Perspektive ausleuchten. Dies ist Ziel vorliegender Arbeit, die Teil des von Margit Szöllösi-Janze geleiteten Forschungsprojekts »Die Thaws: High Society, Medien und Familie in den

22 Frank Bösch: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880-1914 (=  Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 65), München 2009, S. 4, der dies explizit für westliche Gesellschaften postuliert, vgl. ebd., S. 3-4. 23 Vgl. Kathy Lee Peiss: Cheap Amusements. Working Women and Leisure in Turn-of-the-Century New York, Princeton 1986, S. 4-6; David Nasaw: Going Out. The Rise and Fall of Public Amusements, New York 1993, S. 2-5; Martha H. Patterson: Beyond the Gibson Girl: Reimagining the American New Woman, 1895-1915, Urbana 2005, S. 32-3, 40, 43; Maureen A. Flanagan: America Reformed. Progressives and Progressivisms, 1890s–1920s, New York 2007, S. 184-6, 191-2. 24 Vgl. Elaine Showalter: Sexual Anarchy. Gender and Culture at the Fin de Siècle, London 1990, S. 38-48. 25 Erenberg: New York Nightlife, S. 60-1. 26 Vgl. Johanna Schaffer: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung (= Studien zur visuellen Kultur, 7), Bielefeld 2008, S. 13-4, 31-2.

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USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« ist.27 Am Beispiel der Pittsburgher

Millionärsfamilie Thaw wird anhand zweier Einzelstudien High Society als analytisches Konzept operationalisiert und ihre historische Genese untersucht. Dazu verwendet die vorliegende Studie die »Medienbiographie[n]«28 von Evelyn Nesbit29 und Harry Thaw, um anhand ihrer individuellen Lebensläufe ihnen übergeordnete soziale Strukturen nachvollziehen zu können.30 Der Untersuchungszeitraum umfasst den Zeitraum von Mitte der 1890er bis in die 1920er Jahre, während derer die beiden Teil der entstehenden High Society wurden, diese maßgeblich prägten und letztlich ausschieden. Der räumliche Fokus liegt auf New York, wo die Mitglieder der High Society zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammentrafen und sich sichtbar machten. Die Arbeit fokussiert damit zeitlich wie inhaltlich auf die Anfangsphase der Formation und schließt so zur zweiten Teilstudie an: In dieser beschäftigt sich Juliane Hornung mit der nächsten Generation der Thaws in der High Society von den 1920er bis in die 1940er Jahre.31 Die der Studie zugrundeliegende These ist, dass sich an den medialisierten Leben von Evelyn Nesbit und Harry Thaw die Entstehung des Phänomens High Society erklären lässt, wobei dem Medienskandal rund um den Mordfall und den Prozess zwischen 1906 und 1907 besondere Bedeutung zukommt. Dieser war nicht nur Etappe und Höhepunkt ihrer High Society-Zugehörigkeit, sondern stellte zugleich einen konstitutiven Moment dar, der definieren half, wie über High Society berichtet und gesprochen werden konnte. Er verschob als erster massenmedialer Sensa­ tionsprozess die Grenzen des Sagbaren, brach mit gesellschaftlichen Tabus und Moralvorstellung, dehnte die Berichterstattung massiv in die Privatheit der High Society-Mitglieder aus und prägte nachhaltig das öffentliche Bild von Nesbit und Thaw. Von dieser These ausgehend, ergeben sich zwei Fragekomplexe, welche die Grundlage der folgenden Analyse bilden und in Relation zueinanderstehen: Erstens dient als zentrale Fallstudie der Mordskandal. In dessen verdichteter Medialität stellt sich die Frage, wie die Skandalberichterstattung High Society (neu) verhandelte, 27 Das von der Gerda Henkel Stiftung finanzierte Projekt war am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der LMU München unter der Leitung von Prof. Dr. Margit Szöllösi-Janze und dem damaligen Nachwuchsgruppenleiter Prof. Dr. Nicolai Hannig (TU Darmstadt) angesiedelt. 28 Thomas Etzemüller: Die Romantik der Rationalität. Alva & Gunnar Myrdal – Social Engineering in Schweden (= Histoire, 10), Bielefeld 2010, S. 30. 29 Evelyn Nesbit firmierte medial bis zu ihrer Heirat 1905 als »Evelyn (Florence) Nesbit«, danach als »Evelyn Nesbit Thaw« oder »Mrs. (Harry) (K.) Thaw«. Ab 1913 wechselte sie phasenweise wieder zu ihrem Mädchennamen. Die Studie verwendet aufgrund dieser Namensvielfalt durchgehend »Evelyn Nesbit«, außer die zeitgenössische Abweichung davon liefert einen analytischen Mehrwert. 30 Vgl. Hornung: Welt, S. 16-9, 339-40, die in ihren Überlegungen auf Thomas Etzemüller zurückgeht, vgl. ders.: Romantik, S. 29-32, sie aber expliziter für mediale Akteur*innen operationa­ lisiert. 31 Hornung: Welt. thematik und forschungsthesen

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einordnete und gesellschaftlich hervorbrachte. Welche Akteur*innen waren daran beteiligt und wie wirkten die im Skandal verhandelten Normen auf die Formation selbst zurück? Wie wirkte die Medialität der High Society auf das Gericht, die Psychiatrie und ihre Akteur*innen? Welche Wirkung hatte die populärkulturelle Rezeption der High Society-Mitglieder auf die betroffenen Personen und Konsument*innen? Wie beeinflussten ferner die skandalösen Strafverfahren die Medien(vertreter*innen) und was wurde thematisierbar? Auf der Metaebene stehen, zweitens, Fragen nach Funktionsweisen und Logiken, Akteur*innen und Rezipient*innen der High Society ebenso wie nach dem medialen und temporalen Wandel, den sie im Betrachtungszeitraum durchliefen. Wie gelang es den (potenziellen) Mitgliedern, sich medial sichtbar zu machen? Welcher Praktiken und Orte, welcher Themen und Kontakte bedurfte es, um für die Medien berichtenswert zu sein? Wie legitimierte die Öffnung ihrer Privatheit mit und für die Medien ihren herausgehobenen sozialen Status und zu welchem Preis? Welche Folgen hatte die mediale Sichtbarkeit und wie gelang es, sie zu verstetigen oder in andere gesellschaftliche Felder32 zu transferieren? Welche Faktoren waren dagegen ausschlaggebend, dass die Medien das Interesse an Nesbit und Thaw auch wieder verloren? Die Medienbiographien von Nesbit und Thaw zu untersuchen, um darüber die High Society zu erschließen, ist somit das doppelte Erkenntnissinteresse dieser Arbeit. Folglich versteht sie sich in methodischer Hinsicht als mediengeschichtliche Untersuchung, die gesellschafts- und kulturgeschichtliche Perspektiven mit einschließt.

High Society und Skandale: Eine medialisierte Gesellschaftsformation in der Kontroverse Für den Untersuchungszeitraum bleibt High Society ein Analysebegriff, da die zeitgenössische Presse stattdessen Begriffe wie »smart set«,33 »fast set«34 oder »ultra-fashionable set«35 verwendete. Indem sie Schnelllebigkeit oder Mode betonten, verwiesen sie  – konträr zum Klassenbegriff  – bereits auf die Fluidität der neuen Formation: Im Gegensatz zur Upper Class oder Elite36 bestimmte in diesen Bezeich32 Mit Pierre Bourdieu sollen Felder als gesellschaftliche Systeme begriffen werden, die abgrenzbare Funktionen und Regelsysteme haben, in denen Akteur*innen agieren können, wie Justiz, Wissenschaft oder Politik, vgl. ders.: Die Logik der Felder, in: ders./Loïc J. D. Wacquant (Hg.): Reflexive Anthropologie, Frankfurt a. M. 1996, S. 124-46, hier S. 124-9. 33 Philip Burne-Jones: Dollars and Democracy, New York 1904, S. 112. 34 Thaw Trial Begins, Defense Still Hidden, New York Times, 24.1.1907, S. 1. 35 Charles Wilbur de Lyon Nicholls: The 469 Ultra-Fashionables of America. A Social Guide Book and Register to Date, New York 1912, S. 20. 36 Durch ihre begriffliche Diversifizierung leidet die Elitenforschung heute unter analytischer Unbestimmtheit, vgl. Morten Reitmayer: Eliten, Machteliten, Funktionseliten, Elitenwechsel.

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nungen nicht mehr Familie, Vermögen oder gesellschaftspolitische Machtpositionen die Mitgliedschaft, sondern die ephemere mediale Sichtbarkeit. Die historische Forschung überging die High Society bislang weitestgehend.37 Gewisse Anleihen können bei den Celebrity Studies genommen werden, deren analytischer Zugriff auf medialisierte Personen ein breites Spektrum abstrahierter, doch teils schwer abzugrenzender Differenzierungen bietet: von Ruhm über Berühmtheit und Prominenz zu Celebrity.38 Zwar weist letzte Kategorie Analogien zur High Society auf. So kehren auch Celebrities die Idee von Privatheit und Öffentlichkeit in den Medien um, erzeugen eine mediale Beziehung zu ihrem Publikum und müssen ebenfalls ihre Sichtbarkeit regelmäßig erneuern, um en vogue zu bleiben.39 Da es sich bei der High Society jedoch »zugleich um eine konkrete gesellschaftliche Formation handelt, die in einer bestimmten historischen Situation und durch ein spezifisches Medienensemble entstand, geht sie nicht im breiter angelegten Celebrity-Begriff auf.«40

High Society als Konzept Was kennzeichnete somit die High Society, dass sie als Formation gesamtgesellschaftliche Veränderungen auslöste? Ihr soziales Transformationspotenzial lässt sich in drei Bereichen erkennen: Erstens etablierte die High Society eine neue, auf Medialität basierende Gesellschaftsgruppe; zweitens offerierte die Zugehörigkeit zur High Society neue Legitimations- und Handlungsoptionen; und drittens wurden die

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Version:  1.0, Docupedia-Zeitgeschichte, 11.1.2010, https://docupedia.de/zg/reitmayer_eliten_ v1_de_2010 (acc. 22.4.2022), [S. 1-2]. Zwar verwenden die soziologische und historische Forschung den Begriff High Society, jedoch in der Regel als Synonym für Elite, Upper Class oder Stars. Kathryn A. Jacob nutzt ihn etwa als Sammelbegriff für Wirtschafts-, Politik- und Stadtelite, vgl. dies.: Capital Elites. High Society in Washington, D. C. after the Civil War, Washington, D. C. 1995, S. 6-8, 10; oder Michael Schellenberger als Synonym für Upper Class, vgl. ders.: Ein fließender Kulturraum. Reichtum und Mäzenatentum in Hamburg und New York um 1900, in: Eva Maria Gajek/Anne Kurr/Lu Seegers (Hg.): Reichtum in Deutschland. Akteure, Räume und Lebenswelten im 20. Jahrhundert (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 57), Göttingen 2019, S. 123-43. Die Celebrity Studies konstituierten sich in den frühen 1960er Jahren unter der dezidiert kulturkritischen Perspektive von Daniel J. Boorstin und seiner Feststellung: »celebrity is a person who is known for his [!] well-knowness«, ders.: The Image or What Happened to the American Dream, New York 1962, S. 57. Bis heute emanzipierte sich die Forschung nur teilweise von dieser Wertung, vgl. etwa die entsprechende Verwendung bei Joshua Gamson: Claims to Fame: Celebrity in Contemporary America, Berkeley/Los Angeles 1994, S. 8-10; Chris Rojek: Celebrity (= Focus on Contemporary Issues, 2010:1), London 2010, S. 18-9. Die Celebrity Studies bieten mittlerweile differenzierte Analysebegriffe, vgl. etwa zum celebrity-Begriff P. David Marshall: Introduction, in: ders./Sean Redmond (Hg.): A Companion to Celebrity, Chichester et al. 2015, S. 15-9, hier S. 15-7. Vgl. Antoine Lilti: The Invention of Celebrity. 1750-1850, Cambridge 2017, S. 2-6. Hornung: Welt, S. 26-7.

high society und skandale

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High Society-Mitglieder selbst zu (medialen) Produkten. Da sich diese Punkte in Skandalen verdichteten, wird auf deren Wirkung ebenfalls einzugehen sein. Herkunft und Vermögen ermöglichten zur Jahrhundertwende zwar noch immer einen distinktiven Lifestyle, der als wichtiges Zugangskriterium galt, doch wurde mediale Sichtbarkeit zum zentralen In- und Exklusionskriterium der entstehenden High Society.41 Indem ein Konglomerat aus Medien(-vertreter*innen) und High Society-Mitgliedern, Leser*innen42 und später auch Fans43 wechselseitig eine immer stärkere Medialisierung dieser Gruppe einforderte oder selbst erzeugte, differenzierte sich die Visibilität der Mitglieder am Beginn des 20. Jahrhunderts immer stärker aus. Dem zugrunde lag die Notwendigkeit, wie Dix erwähnte, »in the spot light of publicity«44 zu gelangen. Dafür nimmt Thomas Macho an, dass die maximale Aufmerksamkeit für die eigenen Handlungen den erfolgreichen Aufstieg in der Mediengesellschaft garantiere. Am erfolgreichsten seien die Personen, denen es gelinge, persönlich nahbar zu erscheinen.45 Genau diese Suggestion, am intimen Leben einer öffentlich sichtbaren Person teilhaben zu können, wurde zu einem Strukturprinzip der High Society, indem ihre Mitglieder für die Medien ihre scheinbar authentische Privatheit inszenierten.46 So kristallisierten sich feste Orte heraus, an denen High Society-Mitglieder, oder solche, die es werden wollten, mit Medien­ 41 Neuere Arbeiten zu gesellschaftlichen In- und Exklusionsprozessen gehen nicht mehr von gesellschaftlichen Containern aus, sondern fragen nach dynamischen Bezugssystemen, zu denen etwa mittels Kommunikation Zugehörigkeit hergestellt wird, vgl. Lutz Raphael: Inklusion/Exklusion – ein Konzept und seine Gebrauchsweise in der Neueren und Neuesten Geschichte, in: Herbert Uerlings (Hg.): Inklusion/Exklusion und Kultur. Theoretische Perspektiven und Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart, Köln et al. 2013, S. 235-56, hier S. 240. 42 Leser*innen wirkten durch ihre Interaktion mit Printmedien, etwa mittels Zuschriften, auf die journalistische Arbeit, vgl. David Paul Nord: Communities of Journalism. A History of American Newspapers and Their Readers, Urbana 2001, S. 147-52. Für Nesbit und Thaw lässt sich zeigen, dass sie die Wahrnehmung der Öffentlichkeiten bei ihren öffentlichen Auftritten mit berücksichtigten. Vgl. dazu auch Hornung: Welt, S. 11 Anm. 25. 43 Als Fans sollen im Folgenden Menschen bezeichnet werden, die eine emotionale Beziehung zu einer ihnen persönlich unbekannten, medial vermittelten Person aufgebaut haben. Daraus können sich individuelle, partizipative Praktiken wie Fanpost ableiten, weshalb Fans als Gradmesser für die Wirkungsgeschichte der High Society dienen können. Zu Fans vgl. Lothar Mikos: Der Fan, in: Stephan Moebius/Markus Schroer (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin 2010, S. 108-19, hier S. 109-10, 116. 44 Dorothy Dix: Mother of Thaw Saddest Figure at the Trial, Says Dorothy Dix, New York Evening Journal, 23.1.1907, S. 3. 45 Vgl. Thomas Macho: Das prominente Gesicht. Notizen zur Politisierung der Sichtbarkeit, in: Sabine R. Arnold/Christian Fuhrmeister/Dietmar Schiller (Hg.): Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien 1998, S. 171-84, hier S. 171-2, 176-7, 181-2. Seine Ausführungen zielen zwar letztlich auf politische Macht, er betont aber explizit deren umfassendere kulturelle Wirkungsmächtigkeit. 46 Vgl. Juliane Hornung: Ein Blick durchs Schlüsselloch? Medien und Authentizität in der High Society-Berichterstattung in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts, in: Christoph Classen/

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vertreter*innen in Kontakt kommen konnten.47 Dieses Wechselverhältnis zu berücksichtigen, ermöglicht die von John B. Thompson betonte relationale Kategorie von Sichtbarkeit.48 High Society-Mitglieder begannen ihre Kontakte ebenso wie die Orte ihrer Zusammentreffen danach auszuwählen, ob die Chance bestand, dadurch medial sichtbar zu werden. Dies war der Fall, wenn etwa Nesbit und Thaw in New York, dem Zentrum der High Society, bestimmte Broadway-Restaurants oder ausgewählte Theater aufsuchten. Auch während der Sommermonate, die sie teilweise in Europa verbrachten, machten sie sich bei Gesellschaftsereignissen in London und Paris für Medienvertreter*innen sichtbar. Auf diese Weise eigeneten sie sich sukzessive Medienkompetenzen an.49 Diese Visibilität befand sich, wie von der Kommunikationstheoretikerin Johanna Schaffer in Bezug auf visuelle Legitimierungsstrategien festgestellt, im Spannungsfeld aus selbstbestimmter Sichtbarmachung und fremdbestimmtem Sichtbar-Gemacht-Werden.50 Dies war für die Angehörigen der frühen High Society besonders relevant, stellte sich ihnen doch die Frage, was Sichtbarkeit im Kontext ihrer Gruppierung überhaupt bedeutete. Wie genau sie beschaffen war – ob es um textlich vermittelte Informationen oder um Bilder ging  –, musste mit den Medien(-ver­ treter*innen) erst grundlegend geklärt werden. Diesem Aushandlungsprozess lag dabei das Wechselspiel aus (Selbst-)Ermächtigung und Entmachtung zugrunde, ausgetragen zwischen den medialen Akteur*innen und den (potenziellen) Mitgliedern,51 was bereits auf die späteren Skandale verweist: In diesen konnte etwa die Veröffentlichung persönlicher Informationen die Behauptung medialer Deutungshoheit oder Kontrollverlust für die Beteiligten bedeuten. Von solchen Extremen abgesehen, gestaltet sich die Aushandlung von Sichtbarkeit in der Regel jedoch als Inter- und Transaktion, da Presse und High Society-Mitglieder ein wechselseiti-

Achim Saupe/Hans-Ulrich Wagner (Hg.): Echt inszeniert. Historische Authentizität und Medien in der Moderne, Potsdam 2021, hier S. 4. 47 Journalist *innen und Redakteur*innen fungierten gleichsam als Gatekeeper*innen der High Society, da sie über Inhalt, Interpretation und Umfang der Berichterstattung entschieden, vgl. Edison C. Tandoc, Jr.: Journalism as Gatekeeping, in: Tim P. Vos (Hg.): Journalism (= Handbooks of Communication Science, 19), Boston/Berlin 2018, S. 235-53, hier S. 239-40. Dennoch kommt ihnen in dieser Studie nur eine untergeordnete Rolle zu, da sie erst gegen Ende des Untersuchungszeitraums namentlich fassbar wurden und begannen, selbst in die High Society aufzurücken, vgl. Michael Homberg: Reporter-Streifzüge. Metropolitane Nachrichtenkultur und die Wahrnehmung der Welt 1870-1918, Zugl.: Köln, Univ., Diss., 2015, Göttingen 2017, S. 18. 48 Vgl. John B. Thompson: The Media and Modernity. A Social Theory of the Media, Stanford 1995, S. 117-8. 49 Vgl. ders.: The New Visibility, in: Theory, Culture & Society 22:6 (2005), S. 31-51, hier S. 32-3. 50 Vgl. Schaffer: Ambivalenzen, S. 13-4, 31-2. 51 Vgl. Andrea Mubi Brighenti: Visibility in Social Theory and Social Research, Basingstoke 2010, S. 39. high society und skandale

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ges Interesse an deren Sichtbarkeit hatten.52 Das leitet auf den zweiten Aspekt des gesellschaftlichen Transformationspotenzials der High Society über. Denn dieses Interesse an der eigenen Medialität resultierte aus den neuen Handlungsoptionen, die Angehörige der High Society durch ihre Sichtbarkeit erlangten. Zu deren Erklärung haben insbesondere die Celebrity Studies in jüngerer Zeit soziologische Theorien fruchtbar gemacht: Von Pierre Bourdieus Kapitaltheorie ausgehend versteht Georg Franck medialisierte Personen als Teil einer »Ökonomie der Aufmerksamkeit«.53 High Society-Mitglieder sind demnach Teilnehmer*innen im Bemühen um die knappe Ressource der Aufmerksamkeit und kämpfen permanent um den Erhalt ihres Status. Da sich diese kumulieren lässt, war es Angehörigen der High Society möglich, sie als feldübergreifendes Kapital54 einzusetzen.55 Indem sie ihr Kapital ausnutzten, gelang es der Theaterdarstellerin Nesbit, den Millionär Thaw zu heiraten, oder ihm, sich während einer Psychiatriehaft sichtbar zu machen. Obwohl Francks Aufmerksamkeitstheorie konkreten historisch-kulturellen Bezugsrahmen wenig Beachtung schenkt und von der simplifizierenden Vorstellung ausgeht, Aufmerksamkeit sei per se kumulativ,56 eignet sie sich dennoch in modifizierter Form für vorliegende Arbeit: So hing der Wert der Aufmerksamkeit vom historischen Kontext ab, da es einen Unterschied machte, ob Angehörige der High Society in Stichen, Fotografien oder Nachrichtensendungen sichtbar gemacht wurden. Zudem zeigt die Studie, dass es sinnvoller ist, Aufmerksamkeit als Ressource nicht isoliert zu betrachten, sondern in ihrer Verschränkung mit der daraus resultierenden Sichtbarkeit. Für diese unterscheidet der Soziologe Andrea Brighenti zwei Formen: »[V]isibility has a flash and a halo: it is both instant and it has duration«.57 Das differenziert den High Society-Status und verweist auf die unterschiedliche Qualität des Aufmerksamkeitskapitals: Einerseits musste die Aufmerksamkeit, der ephemere flash, permanent erneuert werden, um Teil der High Society zu bleiben; andererseits konnte das akkumulierte halo genutzt werden, um die eigene Sichtbar52 Vgl. Alice Fahs: Out on Assignment. Newspaper Women and the Making of Modern Public Space, Chapel Hill 2011, S. 104, die auf Überlegungen der frühen Gesellschaftsberichterstatterin Jessie M. Wood aus den späten 1890er Jahren zurückgreift. 53 Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, 8. Aufl., München 2004. 54 Pierre Bourdieu sieht den sozialen Raum durch drei Kapitalsorten strukturiert: Soziales, kulturelles und ökonomisches Kapital verleihen den Akteur*innen Handlungsmacht. Ökonomisches Kapitel ist über Feldgrenzen hinweg transferierbar, wovon Francks Überlegungen ausgehen, vgl. Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleicheiten (=  Soziale Welt. Sonderband, 2), Göttingen 1983, S. 183-98. 55 Vgl. Franck: Ökonomie (2004), S. 113-8. 56 Vgl. ebd., S. 113-4. Zur Kritik daran vgl. Axel Schildt: Die »Ökonomie der Aufmerksamkeit« als heuristische Kategorie einer kulturhistorisch orientierten Mediengeschichte, in: Christiane Reinecke/Malte Zierenberg (Hg.): Vermessungen der Mediengesellschaft im 20. Jahrhundert (= Comparativ 21/4), Leipzig 2011, S. 81-92, hier S. 84-5, 87, 89-90. 57 Andrea Mubi Brighenti: Visibility, in: Current Sociology 55:3 (2007), S. 323-42, hier S. 332.

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keit in andere Felder zu transferieren.58 Diese Differenzierung liefert mit dem daraus resultierenden Aufmerksamkeitskapital einen Erklärungsansatz für die Motivation von Akteur*innen zur Jahrhundertwende, ihre Privatheit in den Medien zu inszenieren: Es zeigte sich, dass die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe nicht nur gesellschaftlich legitimierte, sondern einen effektiven, feldübergreifenden Mehrwert ­lieferte. Dies zeigte sich besonders bei Harry Thaw und Evelyn Nesbit, deren Medien­biographien verdeutlichen, wie sie ihren High Society-Status in die Felder der Justiz, Medizin und Unterhaltungsbranche transferieren und dort nutzbar machen konnten. Das so mit der Zugehörigkeit zur High Society einhergehende, feldübergreifende Handlungspotenzial lässt vermuten, dass deren Mitglieder es durch Kompetenzsteigerung und Qualifikationsaneignung zu verbessern oder zu verstetigen suchten. Wie Juliane Hornung zeigen konnte, vollzogen Angehörige der High Society diesen Professionalisierungsprozess, der gerade darin bestand, nicht professionell zu erscheinen, sondern den Anschein der authentischen Privatperson zu wahren.59 Entsprechende Tendenzen sind bereits in der hier untersuchten Frühphase der High Society erkennbar und können als Ergänzung des Aufmerksamkeitskapitals dienen: Durch die Professionalisierung gelang es den High Society-Mitgliedern nicht nur effektiver Kapital anzuhäufen, sondern dieses auch gezielter einzusetzen. Letztlich ist es eine Besonderheit der High Society, dass ihre Mitglieder Teil einer Trias aus Produktion, Gegenständlichkeit und Konsum wurden: Indem sie sich als High Society produzierten, wurden sie zu Objekten der society pages, deren Berichterstattung sie selbst und andere wiederum konsumierten.60 Doch avancierte die High Society mit dieser Dreiheit bereits zur Jahrhundertwende über die Ebene der massenmedialen Berichterstattung hinaus: Populärkulturelle Gegenstände und Vergnügungsangebote, wie Klappspiegel oder Theateraufführungen, machten sie zu (Konsum-)Produkten. Dritte erkannten das Vermarktungspotenzial der medial ­bekannten Personen und suchten dieses professionell zu nutzen. Einerseits übernahm High Society als Produkt bereits etablierte Inszenierungsformen von Theater­ schau­spieler*innen – die teils ebenso Mitglieder der Formation waren –,61 andererseits ging es darüber hinaus: Die mediale Privatheit der High Society übertrug sich auf die Produkte und Dienstleistungen, die individuelle Aneignungsprozesse er58 Vgl. ebd. 59 Vgl. Hornung: Welt, S. 12-3, 300-3. 60 Die Soziologie spitzt das auf den Begriff der Prosument*innen zu. Jedoch führt dieses Konzept zur Vernachlässigung der Bedeutung externer Akteur*innen wie der Medien. Mit stark zeitgeschichtlicher Fokussierung vgl. Birgit Blättel-Mink/Kai-Uwe Hellmann: Prosumer Revisited: Zur Aktualität einer Debatte. Eine Einführung, in: dies. (Hg.): Prosumer Revisited. Zur Aktualität einer Debatte, Wiesbaden 2010, S. 13-48. 61 Vgl. Erin Pauwels: The Art of Not Posing. Napoleon Sarony and the Popularization of Pictoral Photography, in: John Rohrbach (Hg.): Acting Out. Cabinet Cards and the Making of Modern Photography, Oakland 2020, S. 20-38, insb. S. 25-6. high society und skandale

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möglichten und neue Rezeptionsebenen jenseits der Printmedien eröff­neten. Etwa konnten Tourist*innen die medial bekannten Orte der High Society-Mitglieder in New York mit Stadttouren besichtigen, Postkarten mit deren Konterfei erwerben und damit Bekannten von ihren Erlebnissen berichten. Dies erlaubt eine neue Perspektive auf die High Society, indem die Rezipientenseite in der Analyse mit berücksichtigt werden kann.62 Dadurch verharrt die Untersuchung der High Society nicht bei ihrer medialen (Selbst-)Inszenierung, sondern kann ihre gesellschaftliche Rezeption und Wirkung mit behandeln. Dabei zeigt sich, dass die (Konsum-)Produkte die High Society-Mitglieder nahbarer machten und zugleich ihren Anspruch auf soziale Durchlässigkeit zu plausibilisieren schienen.

Skandale: Brenngläser gesellschaftlicher Transformation Die bisherigen konzeptionellen Überlegungen sind in der vorliegenden Studie eng verzahnt mit Skandalanalysen. Skandale liefern aufgrund ihrer besonderen gesellschaftlichen Funktion neues Erklärungspotenzial für die High Society: Während medien- und politikwissenschaftliche Arbeiten jene vor allem quantitativ oder systematisierend untersuchen,63 hebt Frank Bösch in jüngerer Zeit das epistemische Potenzial von Medienskandalen für multiperspektivische Fragestellungen in der Geschichtswissenschaft hervor.64 Dies liege an deren immanentem kulturellen und gesellschaftlichen Transformationspotenzial.65 Skandale laufen dabei schematisch nach der Trias eines wahrgenommenen Normbruchs durch eine öffentlich sichtbare Person, dessen Veröffentlichung und der darauf folgenden, öffentlich ausgetragenen 62 Für diese Perspektive plädierte jüngst Sharon Marcus: The Drama of Celebrity, Princeton/Oxford 2019, S. 94-6. 63 Vgl. die quantitativen Studien in Mark Ludwig/Thomas Schierl/Christian von Sikorski (Hg.): Mediated Scandals. Gründe, Genese und Folgeeffekte von medialer Skandalberichterstattung, Köln 2016; Howard Tumber/Silvio R. Waisbord (Hg.): The Routledge Companion to Media and Scandal, London/New York 2019. Systematisierend in Hans Mathias Kepplinger: Die Mechanismen der Skandalierung. Die Macht der Medien und die Möglichkeiten der Betroffenen, 2., aktual. Aufl., München 2005; Steffen Burkhardt: Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 2., überarb. und erg. Aufl., Köln 2015, insb. S. 184-205. 64 Vgl. Frank Bösch: Kampf um Normen: Skandale in historischer Perspektive, in: Kristin Bulkow (Hg.): Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung, Wiesbaden 2011, S. 29-48, hier S. 35-40. Er greift damit gleichlautende Überlegungen des Soziologen John B. Thompson auf, vgl. etwa in ders.: Scandal and Social Theory, in: James Lull/Stephen Hinerman (Hg.): Media Scandals. Morality and Desire in the Popular Culture Marketplace, 2. Aufl., New York 2005, S. 34-64, hier S. 36-7. 65 Diese Transformationskraft entfalten sie in erster Linie dadurch, dass sie die Wandlung medial vorbereiten respektive einleiten, vgl. Mark Eisenegger: »Negierte Reputation – Zur Logik medienöffentlicher Skandalisierungen«, in: Ludwig et al.: Mediated Scandals, S. 33-57, hier S. 37-8.

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Entrüstung ab.66 Das bietet die Möglichkeit, gesellschaftliche Werte und Tabus, aber auch zulässige Verhaltensspektren zu identifizieren, mit dem Ziel, »den Leitcode aus Moral, Werten und Norm in der Gesellschaft [zu] aktualisieren.«67 Dementsprechend erlebten westliche Gesellschaften – und insbesondere die USA als deren »archetype of modernity«68  – während der gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse zur vorletzten Jahrhundertwende eine Hochphase medialer Skandalisierung.69 Im Falle der vorliegenden Studie bündeln sich im Mordskandal, einem Brennglas gleich, mindestens fünf relevante Themenfelder: Erstens garantierten Skandale zu Beginn des 20. Jahrhunderts fest etablierte Deutungsrahmen zur Aushandlung von Wertefragen.70 Die High Society war in dieser Phase zugleich Ausdruck und Motor gesellschaftlicher Transformation und als nahbare Formierung erstrebenswertes Vorbild in Bezug auf einen modernen Konsumund Lebensstil. Der Medienskandal machte die sonst unsichtbaren, negativen und/ oder als deviant wahrgenommenen Seiten der Mitglieder der High Society – ins­ besondere ihre sexuelle Intimität – sichtbar. Zweitens sind Skandale Phasen medialer Selbstreflexion und kommunikativer Ausdehnung. In der öffentlichen »Skandal­ arena«71 wirkten verschiedene Akteursgruppen – Skanda­lisierte, Skandalisierer*innen und Skandalrezipient*innen – und geben Einblicke in öffent­liche wie private Kommunikationsräume.72 Diese kommunikativ und zeitlich verdichteten Aushandlungsprozesse machen mediale Inszenierungs- und Verhaltensweisen der Medienund High Society-Akteur*innen nachvollziehbar. Drittens erlauben Skandale Rückschlüsse auf die konstruierte Abgrenzung von Öffentlichkeit und Privatheit, indem beide Sphären im Verlauf des Medienereignisses neu ausgehandelt und gegebenenfalls verschoben werden.73 Laut Steffen Burkhardt kann die »Inszenierung des 66 Vgl. John B. Thompson: Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age, 2. Aufl., Cambridge 2008, S. 13-4; Karl Otto Hondrich: Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt a. M. 2002, S. 40. 67 Vgl. Steffen Burkhardt: Skandal und soziale Norm, in: Religion – Staat – Gesellschaft 9:1 (2008), S. 11-32, hier S. 18, 28, Zitat S. 28. 68 Thomas Welskopp/Alan Lessoff: Fractured Modernity  – Fractured Experiences  – Fractured Histories: An Introduction, in: dies. (Hg.): Fractured Modernity. America Confronts Modern Times, 1890s to 1940s (= Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien, 83), München 2012, S. 1-17, hier S. 1. 69 Siehe Anm. 22 auf S. 14. 70 Vgl. Thompson: Scandal, S. 37-9. 71 Eisenegger: Reputation, S. 45. 72 Vgl. ebd., S. 44-5; Burkhardt: Skandal, S. 29-30. Mit Betonung (halb-)öffentlicher und privater Rezeptionsformen vgl. Thompson: Political Scandal, S. 85-8. 73 Vgl. Bösch: Geheimnisse, S. 3; Kurt Imhof: Medienskandale als Indikatoren sozialen Wandels. Skandalisierungen in den Printmedien im 20. Jahrhundert, in: Kornelia Hahn (Hg.): Öffentlichkeit und Offenbarung. Eine interdisziplinäre Mediendiskussion (= Analyse und Forschung: Sozialwissenschaften, 28), Konstanz 2002, S. 73-98, hier S. 73-4. John B. Thompson konstatiert für Mediengesellschaften die zunehmend immanente Erwartungshaltung, dass Skandale das high society und skandale

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Privaten […] die letzte[] Waffe[] im Medienskandal«74 sein – im Falle der High Society ist sie jedoch zugleich Ausgangs- und Fluchtpunkt ihrer Medialität. Im NesbitThaw-White-Skandal wurde mit dem Sexualverhalten der Protagonist*innen deren »Intimsphäre[n], als Kernbereich[e] des Privaten«75 zum öffentlich sichtbaren Skandalon.76 Die darauffolgende diskursive Auseinandersetzung lässt sich mit Michel Foucault als »Werden eines Wissens«77 über die Akteur*innen beschreiben. Diese konzentrierte Form, mit den einhergehenden Deutungskämpfen und Medialisierungsfragen, ist dabei exzeptionell für die Untersuchung der High Society. Viertens sind Skandale eng mit Fragen der Emotionsgeschichte verknüpft. Kontroverse Auseinandersetzungen um die Normverletzung(-en) geben Einblicke in den Gefühlshaushalt der Diskursteilnehmer*innen78 und zeigen, wie High Society rezipiert wurde. Als fünften und letzten Aspekt besitzen Skandale das Potenzial, über die*den ursprünglich Skandalisierte*n hinaus auf Dritte auszugreifen.79 Dies war auch im Nesbit-Thaw-White-Skandal der Fall, der Familienmitglieder der Skandala­kteur*­ innen öffentlich sichtbar machte und sie medialen Logiken unterwarf. Alle fünf Teilbereiche erklären nicht nur bislang außer Acht gelassene Themenaspekte des Nesbit-Thaw-White-Skandals, sondern bieten zugleich für die High Society-Forschung neues Erkenntnispotenzial. Die Skandalanalyse ermöglicht, in verdichteter Zeit und Intensität Medialisierungsmechanismen nachzuvollziehen, die bestimmend für die Formation als Ganzes sein sollten. Zugleich kontrastierte die Sichtbarkeit im Skandal das sonst in der High Society-Berichterstattung vorherrschende Schöne und Glänzende, was neue Facetten beleuchtet und zugleich das bisherige Wissen und die Vorstellung, wie die Formation verstanden wurde, erweitert.80 Letztlich zeigt der Skandal beispielhaft, wie sich auf mehreren Ebenen Legi­ timations- und Handlungsoptionen aus dem Medienereignis ergaben: Es wird deutlich, dass der High Society-Status das Gericht als gesellschaftliches Ordnungssystem

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Private einsehbar machen dürfen, vgl. ders.: Shifting Boundaries of Public and Private Life, in: Theory, Culture & Society 28:4 (2011), S. 49-70, hier S. 61-8. Burkhardt: Skandal, S. 25. Imhof: Medienskandale, S. 76. Auf die zentrale Bedeutung von Sexualität in der Skandalkultur um 1900 verweist Christina Templin: Medialer Schmutz. Eine Skandalgeschichte des Nackten und Sexuellen im Deutschen Kaiserreich 1890-1914 (= Histoire, 94), Bielefeld 2016, S. 12-4. Michel Foucault (Hg.): Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen, 3 Bde., Frankfurt a. M. 1986, S. 7. Vgl. Thompson: Scandal, S. 41-2. Steffen Burkhardt spricht bei Medienskandalen gar von den »publizistischen Brandbomben der Mediengesellschaft […], die mit [ihrem] moralische[n] Sprengsatz den Emotionshaushalt des sozialen Systems attackieren«, ders.: Skandal, S. 16. Vgl. Mark Ludwig/Thomas Schierl: »Mediated Scandals und ihre Folgeeffekte. Eine einführende Betrachtung der Risiken und Relevanz medialer Skandalberichterstattung«, in: Ludwig et al.: Mediated Scandals, S. 16-32, hier S. 25. So gelang es Peggy und Larry Thaw, moralisch strittige Aspekte ihres Privatlebens, wie sexuelle Grenzüberschreitungen, aus der medialen Öffentlichkeit zu halten, vgl. Hornung: Welt, S. 21. einleitung

ebenso wie die Psychiatrie beeinflussen konnte. Ferner zeugt das daraus für die High Society-Akteur*innen gewonnene Aufmerksamkeitskapital von dem Potenzial, es in andere Felder übertragen zu können.

Forschungsfelder und Erkenntnisinteressen Für den Betrachtungszeitraum herrscht kein Mangel an Gesamtdarstellungen: Sei es zum Gilded Age, der Progressive Era oder den beginnenden Roaring Twenties.81 Jede Phase war für sich so charakteristisch, dass sie als eigene Epoche konzeptualisiert wurde. Dennoch erschienen in Folge des cultural turn vermehrt Arbeiten, die aus dezidiert medien- und kulturgeschichtlicher Perspektive verbindende Elemente dieser Zeiträume untersuchen. Denn deren Zeitspanne von den 1890er bis zu Beginn der 1920er Jahre prägte eine »critical transformation«82 aller Lebensbereiche, die am Ende weniger in einem neuen, statischen Zustand mündete, als vielmehr die Zeitgenoss*innen vor eine »fractured modernity«83 stellte. Vor diesem Hintergrund ordnet sich die Studie in vier Forschungsfelder ein. High Society steht, erstens, in Bezug zur Gesellschaftsgeschichte, wobei sie sowohl einen Beitrag zu gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen als auch zur Elitenforschung leistet. Der Übergang der Vereinigten Staaten zur Konsum- und Vergnügungsgesellschaft zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und den Roaring Twenties im 20. Jahrhundert wurde schon vielfach untersucht.84 Bei der Frage nach Ursprüngen und Katalysatoren dieser Entwicklung benennt Charles W. Calhoun ein Ursachenbündel aus Verstädterung und Normenwandel, ökonomischem Wachstum und dem Aufkommen neuer Rollenbilder.85 Den Printmedien kam dabei die maßgeb­ liche Rolle als Kommunikationsmedium des Wandels zu.86 Bislang fokussierte die Gesellschaftsgeschichte in erster Linie auf die frühen Film- und Hollywood-Stars als 81 Vgl. aus der breiten Auswahl etwa zum Gilded Age Edwards: New Spirits; Richard White: The Republic for Which It Stands. The United States During Reconstruction and the Gilded Age, 1865-1896 (= The Oxford History of the United States, 7), New York 2017; zum Progressivism das Standardwerk John Whiteclay Chambers: The Tyranny of Change. America in the Progressive Era, 1890-1920, New Brunswick 1980 und zu den Roaring Twenties David Joseph Goldberg: Discontented America. The United States in the 1920s, Baltimore 1999. 82 T. J. Jackson Lears: Rebirth of a Nation. The Making of Modern America, 1877-1920, New York 2009, S. 4. 83 Welskopp/Lessoff: Introduction, S. 1. 84 Vgl. etwa Nasaw: Going Out; T. J. Jackson Lears: Fables of Abundance. A Cultural History of Advertising in America, New York 1994; Charles McGovern: Sold American. Consumption and Citizenship, 1890-1945, Chapel Hill 2006. 85 Vgl. Charles W. Calhoun: Introduction, in: ders. (Hg.): The Gilded Age. Perspectives on the Origins of Modern America, 2. Aufl., Lanham 2007, S. 1-9, hier S. 1-4, 8-9. 86 Vgl. Saldern: Magazine, S. 185-9, 197-9. forschungsfelder und erkenntnisinteressen

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Repräsentant*innen und Multiplikator*innen dieser Veränderungen, vor allem in Bezug auf Mode und Geschlechterrollen.87 Damit fehlt bislang der Konnex, der mediale Repräsentant*innen des Wandels mit sozialen Akteursgruppen außerhalb der Filmindustrie verbindet – eine Rolle, welche die High Society einnahm. In dieser rückt insbesondere die bislang in der Forschung marginalisierte, aber von Marlis Schweitzer betonte Vorreiterrolle von Theater- und Revue-Darstellerinnen als »trendsetter[s] and role model[s]«88 zur Jahrhundertwende in den Blick. Deren Sichtbarkeit auf der Bühne und in den einschlägigen Magazinen verlagerte sich mit der Entstehung der High Society zunehmend auf die society pages. Ihre Mitglieder avancierten so zu anschlussfähigen Orientierungsgrößen gesellschaftlicher Veränderungen. Bestärkt durch ökonomische und soziologische Anstöße zur Vermögensforschung, beschäftigt sich in jüngerer Zeit die deutsche und US-amerikanische Gesellschaftsgeschichte wieder verstärkt mit Oberschichten und Familienstrukturen.89 Thomas Adams oder Clifton Hood betonen aus soziologischer wie historischer Perspektive Legitimationsstrategien der Upper Class im ausgehenden 19. Jahrhundert, die sowohl auf finanziellen und familialen Strukturen fußten als auch auf sozialen Distinktionen wie Philanthropismus oder Clubzugehörigkeiten.90 Zwar blieben diese Abgrenzungspraktiken bestehen, doch erklären Steve Fraser und Gary Gerstle, dass gesellschaftliche Legitimationsmechanismen der Oberschicht vor allem in der Umbruchphase zur Jahrhundertwende ein Desiderat der Forschung seien.91 Erstaunlich still bleibt es ebenso in Bezug auf die Übergangsphase zwischen dem Ende der viktorianischen Upper Class in den 1900er Jahren und dem Beginn des Jet Set in den frühen 1950er Jahren. Arbeiten zur amerikanischen Oberschicht, wie von Sven Beckert oder Maureen Montgomery, betonen die aufziehende Bedeutung der Me87 Vgl. Michelle Tolini Finamore: Hollywood Before Glamour. Fashion in American Silent Film, London 2013, S. 3-4, 6-7, 29-36. 88 Marlis Schweitzer: When Broadway Was the Runway. Theater, Fashion, and American Culture, Philadelphia 2011, S. 8; vgl. ferner Tobias Becker: Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London, 1880-1930 (=  Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 74), Berlin 2014, S. 382-6. 89 Vgl. etwa die Beiträge in Iain Hay/Jonathan V. Beaverstock (Hg.): Handbook on Wealth and the Super-Rich, Cheltenham/Northampton 2016 und Eva Maria Gajek/Anne Kurr/Lu Seegers (Hg.): Reichtum in Deutschland. Akteure, Räume und Lebenswelten im 20.  Jahrhundert (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 57), Göttingen 2019. Für die deutschsprachige Geschichtswissenschaft gaben vor allem die Publikationen im Rahmen des Projekts »Thyssen im 20. Jahrhundert – eine Familiengeschichte« (LMU München und Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn) einen wichtigen Anstoß zur kulturwissenschaftlich Familienforschung, vgl. insb. Günther Schulz/Margit Szöllösi-Janze: Familie – Unternehmen – Öffentlichkeit: Thyssen im 20. Jahrhundert. Ein Forschungsprojekt und sein Ertrag, Köln 2021. 90 Vgl. Thomas Adam: Buying Respectability. Philanthropy and Urban Society in Transnational Perspective, 1840s to 1930s, Bloomington 2009, S. 8-9; Hood: Pursuit, S. 193-206, 235-48. 91 Vgl. Fraser/Gerstle: Introduction, S. 4.

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dien auch für deren gesellschaftliche Legitimation Ende des 19. Jahrhunderts. Doch verstehen sie diese als eine Distinktionsstrategie unter vielen, erkennen nicht das genuin Neue daran und verharren um die Jahrhundertwende.92 Clifford Hood verzichtete jüngst in seiner zwei Jahrhunderte umspannenden Studie über die New Yorker Oberschicht sogar gänzlich auf die Betrachtung des Zeitraums zwischen dem Ende des Gilded Age und den 1940er Jahren.93 Den genannten Autor*innen entgeht damit die soziale Formation der High Society, die sich in diesen Jahrzehnten aus verschiedenen Gesellschaftsgruppen speiste und über Medien und (halb-)öffent­ liche Räume formierte. Die Arbeit knüpft, zweitens, an mediengeschichtliche Forschungsfelder an, in denen in den letzten Dekaden vor allem die Untersuchung von Einzelmedien und deren Akteur*innen in den Fokus rückte. So dekonstruiert Joseph Cambell die kulturkritischen Stereotype über den yellow journalism, wonach dieser zugunsten seiner Verkaufszahlen die Realität verdrehte und lediglich die unteren Schichten ansprach.94 Seine Neubewertung der journalistischen Qualität der Sensationspresse und ihrer gesamtgesellschaftlichen Leserschaft erlaubt es, die Wirkung der Society- und Skandalberichterstattung über die High Society neu zu bewerten und zugleich ihre Rezeption ernst zu nehmen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen High Society und Medien(-vertreter*innen). Zwar konnte in jüngster Zeit das Desiderat des weiblichen Journalismus behoben werden, etwa mit der Studie über journalistische Pionierinnen zur Jahrhundertwende von Karen Roggenkamp.95 Doch indem diese Arbeiten die investigativen Recherchen der Reporterinnen überbetonen, marginalisieren sie deren zeitgenössisch übliches Betätigungsfeld, die Gesellschaftsberichterstattung.96 Eben das war der Fall bei Dorothy Dix und ihren Kolleginnen, denen es gerade ihre Arbeit für die social news ermöglichte, im Mordprozess gegen Thaw die Deutungshoheit über ihn und Nesbit zu erlangen. Die Untersuchung der medialen Aushandlungsprozesse zwischen Reporterinnen und High Society-Mitgliedern zeigt somit das darin für ihre journalistische Arbeit liegende Legitimationspotenzial. Darüber hinaus kombiniert die Studie, drittens, die Skandal- mit der Medienforschung und bindet beides an die High Society zurück, indem sie nach dem Einfluss

92 Vgl. Beckert: Monied Metropolis, S. 293-322. Maureen E. Montgomery beschränkt sich auf einen kurzen Ausblick in die 1910er Jahre, vgl. dies.: Displaying Women, S. 167-8. 93 Vgl. Hood: Pursuit, S. 248-51. 94 Vgl. W. Joseph Campbell: Yellow Journalism. Puncturing the Myths, Defining the Legacies, Westport/London 2001, S. 51-62, 97-123. 95 Vgl. Karen Roggenkamp: Sympathy, Madness, and Crime. How Four Nineteenth-Century Journalists Made the Newspaper Women’s Business, Kent 2016. 96 Vgl. den entsprechenden Projektzuschnitt in ebd., S. 5-6. forschungsfelder und erkenntnisinteressen

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der Medialität auf die gesellschaftlichen Bereiche des Justizwesens und der Psychiatrie fragt. Ausgangspunkt ist das disparate Forschungsfeld zum Nesbit-Thaw-White-Skandal. An populärwissenschaftliche Arbeiten, deren Autor*innen die juristisch konstruierten Fremdbilder der Beteiligten als Opfer oder Täter*innen fortschreiben,97 schließen mediengeschichtliche Arbeiten über den Skandal an, die sich perspektivisch in der Rekonstruktion des Medienereignisses erschöpfen.98 Zwar hat Lee Grieveson die Filme über den Mordskandal für die Sexual- und Zensurdebatte in der Stummfilmära untersucht, jedoch nicht die dahinterstehende Visualisierung der High Society thematisiert, für die die Bewegtbilder eine neue Dimension ihrer Medialität erschlossen.99 Aus gendergeschichtlicher Perspektive wandten sich bereits Ende der 1980er Jahre feministische Forscherinnen dem Mordfall zu. Susman Gillman deutet ihn als massenmediales Epitom gewandelter Sexualmoral in der Moderne, wogegen jüngere Untersuchungen, wie die von Jean Marie Lutes, ihr Augenmerk auf die am Verfahren beteiligten Journalistinnen und den Gender Bias ihrer Berichterstattung richten.100 Diese geschlechtergeschichtliche Herangehensweisen greift vorliegende Studie auf und erweitert sie in doppelter Hinsicht: Einerseits bezieht sie chronologisch die bislang vernachlässigte, doch für das Verfahren maßgebliche Phase der medialen Vorverurteilung zwischen Mord und Prozessbeginn mit ein; andererseits dehnt die Arbeit thematisch die bisherige Perspektive auf die Verbindung von Gerichts- mit Gesellschaftsberichterstattung über die High S­ ociety aus und analysiert damit mögliche Rückwirkungen auf die medialen Logiken des jeweils anderen Genres. 97 Aus den vielen Beispielen jüngst etwa Mary Cummings: Saving Sin City. William Travers Jerome, Stanford White, and the Original Crime of the Century, New York 2018. Obwohl die Arbeiten von Paula M. Uruburu: American Eve. Evelyn Nesbit, Stanford White, the Birth of the »It« Girl, and the Crime of the Century, New York 2009 und Simon Baatz: The Girl on the Velvet Swing: Sex, Murder, and Madness at the Dawn of the Twentieth Century, New York 2018 wissenschaftlich fundiert sind, tritt dies zugunsten ihrer literarischen Erzählungen zurück. Dennoch bleiben die Publikationen zur Rekonstruktion von Detailfragen konsultierbar. Quellenlastig ist dagegen Paul R. Baker: Stanny. The Gilded Life of Stanford White, New York 1989, der aber die juristischen Narrative unkritisch übernimmt. 98 Die zumeist rechtsgeschichtlichen Analysen gehen perspektivisch kaum über die Ereignisgeschichte hinaus, vgl. etwa Janet J. Boyle: The Case of Harry K. Thaw (1907). ›You Have Ruined My Wife!‹, in: Lloyd Chiasson (Hg.): The Press on Trial. Trials as Media Events (= Contributions to the Study of Mass Media and Communications, 51), Westport 1997, S. 63-74. 99 Vgl. Lee Grieveson: The Thaw-White Scandal, The Unwritten Law, and the Scandal of Cinema, in: Adrienne L. McLean/David A. Cook (Hg.): Headline Hollywood. A Century of Film Scandal, New Brunswick 2001, S. 27-51; Kevin Brownlow: Behind the Mask of Innocence. Sex, Violence, Prejudice, Crime: Films of Social Conscience in the Silent Era, London 1990, S. 143-51. 100 Vgl. Susan Gillman: ›Dementia Americana‹: Mark Twain, ›Wapping Alice,‹ and the Harry K. Thaw Trial, in: Critical Inquiry 14 (1988), S. 296-314, hier S. 308-13; Jean Marie Lutes: Sob ­Sisterhood Revisited, in: American Literary History 15:3 (2003), S. 504-32.

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Die High Society öffnet neue Einsichten in das Feld der Skandalforschung, da ihre Medialität im Nesbit-Thaw-White-Skandal über die sichtbaren Mitglieder hinaus in die Bereiche der Justiz und Psychiatrie eindrang: Die Prozesse befinden sich an der Schnittstelle zwischen Medizin- und Rechtsgeschichte. Für erstere arbeitet Richard Noll die Bedeutung des Verfahrens heraus, das die Dementia praecox (Schizophrenie) in den USA popularisierte.101 Die rechtsgeschichtliche Forschung wiederum fokussiert auf juristische Narrative und Thaws Legitimationsstrategien vor Gericht, da sein erstes Strafverfahren zugleich Höhepunkt und beginnender Niedergang der Ehrenmordverteidigung, der unwritten law, in den USA war.102 Im Gegensatz zu vorliegender Studie rekonstruiert Martha Merrill Umphrey die gerichtsimmanenten Logiken, anstatt danach zu fragen, wie die Medialität der Akteur*innen den Prozess (wechselseitig) beeinflusste.103 Denn die Frage nach Thaws Geisteskrankheit war nicht allein eine medizinische, sondern oszillierte vor Gericht und in den Medien zwischen Deutungen von Gut und Böse, Identifikation und Alterität. In diesem Kontext ist die seit der letzten Jahrtausendwende vor allem für die USA intensive Forschung zum Genre der Gerichtsberichterstattung gewinnbringend. Entsprechende Untersuchungen wie von Maren Tribukait oder Daniel Siemens verschränken rechts- und (gerichts-)medizinhistorische mit mediengeschichtlichen Forschungsfragen und beziehen dabei Kategorien wie race und Gender mit ein.104 So lässt sich deren Ansatz, Gerichtsverfahren durch ihre Performanz als mediale Spektakel und narrative Verhandlungsräume verschiedener Diskurssysteme zu begreifen, mit den medialen Logiken der High Society kombinieren.105 Die dabei 101 Vgl. Richard Noll: American Madness. The Rise and Fall of Dementia Praecox, Cambridge/ London 2011; detaillierte medizingeschichtliche Untersuchungen liefert Emil Pinta: »Paranoia of the Millionaire«: Harry K. Thaw’s 1907 Insanity Defense, New York 2010 und ders.: Examining Harry Thaw’s »Brain-Storm« Defense: APA and ANA Presidents as Expert Witnesses in a 1907 Trial, in: Psychiatric Quarterly 79 (2008), S. 83-9. 102 Vgl. Lawrence M. Friedman/William E. Havemann: The Rise and Fall of the Unwritten Law. Sex, Patriarchy, and Vigilante Justice in the American Courts, in: Buffalo Law Review 61:5 (2013), S. 997-1056. 103 Vgl. Martha Merrill Umphrey: »Dementia Americana«. Harry K. Thaw, the Unwritten Law, and Narratives of Responsibility, unveröff. Diss., University of Michigan 2000; dies.: The Dialogics of Legal Meaning: Spectacular Trials, the Unwritten Law, and Narratives of Crimminal Responsibility, in: Law & Society Review 33:2 (1999), S. 393-424. 104 Vgl. Maren Tribukait: Gefährliche Sensationen. Die Visualisierung von Verbrechen in deutschen und amerikanischen Pressefotografien 1920-1970, Zugl.: Bielefeld, Univ., Diss., 2013, Göttingen 2017; unter den Arbeiten von Daniel Siemens insb. ders.: Metropole und Verbrechen. Die Gerichtsreportage in Berlin, Paris und Chicago, 1919-1933 (= Transatlantische historische Studien, 32), Stuttgart 2007; ferner die Beiträge in Robert Hariman (Hg.): Popular Trials. Rhetoric, Mass Media, and the Law, Tuscaloosa 1990 und Lloyd Chiasson (Hg.): The Press on Trial. Trials as Media Events (= Contributions to the Study of Mass Media and Communications, 51), Westport 1997. 105 Weiterführend sind hier insb. die Anregungen zur Medialität des Rechtlichen, wie in Cornelia Vismann: Medien der Rechtsprechung, Frankfurt a. M. 2011; Lawrence M. Friedman: The Big forschungsfelder und erkenntnisinteressen

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­ islang kaum untersuchten Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen Strafb verfahren, Gerichts- und Gesellschaftsberichterstattung lassen sich an den ThawProzessen untersuchen.106 Damit zeigt die Studie nicht nur, wie Medien­­(-ver­ treter*innen) gesellschaftliche Systeme – hier die Justiz und Psychiatrie – sichtbar machen und mit ihren Logiken durchdringen konnten, sondern auch, welchen Mehrwert der High Society-Status erzeugte. Dieser zeigte sich etwa, als Thaw die öffentliche Meinung für seine Gerichtsverfahren über Aufrufe in den Tageszeitungen mobilisierte oder als es ihm gelang, sich in der Psychiatrie als fehldiagnostizierter Insasse zu inszenieren, und er damit deren Deutungshoheit hinterfragte. Viertens begannen zu Beginn des Untersuchungszeitraumes die Unterhaltungsindustrie, die Printmedien sowie die Beschleunigung der Informationsvermittlung, das Kulturelle in bislang ungekanntem Maße zur »visual culture«107 (Nicholas Mirzoeff) des 20. Jahrhunderts zu transformieren. Zu deren Untersuchung zielt die von Gerhard Paul geprägte, transdisziplinäre Visual History ab. Unter den Auspizien der kulturwissenschaftlichen turns hat sie sich seit der letzten Jahrtausendwende als feste Disziplin innerhalb der Geschichtswissenschaft etabliert108 und erschließt Vergangenes über die »weitestmögliche Einbeziehung des Bildlichen«.109 Daher nutzt die vorliegende Arbeit verschiedene visuelle Quellengattungen, insbesondere Fotografien und vereinzelt Filme, Bildpostkarten oder Sammelbilder, um das Phänomen High Society zu erschließen. Sie kann damit an so breite Forschungsgebiete anschließen wie an die Untersuchung von Postkarten und deren kultur- und ideengeschichtlichen Implikationen,110 die von Sammelbildern mit ihrer wissensstrukturie-

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Trial. Law as Public Spectacle, Lawrence 2015; ferner Philipp Müller: Auf der Suche nach dem Täter. Die öffentliche Dramatisierung von Verbrechen im Berlin des Kaiserreichs, Teilw. zugl.: Florenz, Univ., Diss., 2004, Frankfurt a. M. 2005; Peter Brooks: The Law as Narrative and Rhetoric, in: ders./Paul Gewirtz (Hg.): Law’s Stories. Narrative and Rhetoric in the Law, New Haven/London 1996, S. 14-22. Vgl. Trevor D. Dryer: ›All the News That’s Fit to Print‹: The New York Times, ›Yellow‹ Journalism, and the Criminal Trial 1892-1902, in: Nevada Law Journal 8:2 (2008), S. 541-69, hier S. 55868; bereits angedacht in Daniel Siemens: Sensationsprozesse. Die Gerichtsreportage der Zwischenkriegszeit in Berlin und Chicago, in: Frank Bösch/Manuel Borutta (Hg.): Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2006, S. 142-71, hier S. 167-8. Nicholas Mirzoeff: An Introduction to Visual Culture, Neuaufl., London 2001, S. 3. Vgl. Gerhard Paul: Vom Bild her denken. Visual History 2.0.1.6, in: Jürgen Danyel/Gerhard Paul/Annette Vowinckel (Hg.): Arbeit am Bild. Visual History als Praxis (= Visual History: Bilder und Bildpraxen in der Geschichte, 3), Göttingen 2017, S. 15-74, hier S. 16-26. Gerhard Paul: Visual History. Version: 3.0, Docupedia-Zeitgeschichte, 13.3.2014, https://docupedia.de/zg/paul_visual_history_v3_de_2014 (acc. 22.4.2022). Vgl. Felix Axster: Koloniales Spektakel in 9x14. Bildpostkarten im Deutschen Kaiserreich (= Postkoloniale Medienwissenschaft, 2), Bielefeld 2014. einleitung

renden Funktion111 oder die der rezeptions- und diskursgeschichtlichen Prägekraft von Dokumentationen.112 Obwohl Filme als Bewegtbilder sui generis im Erkenntnisinteresse der Visual History liegen, kann nach wie vor eine Diskrepanz zwischen der »vorwiegend auf das nicht-bewegte Bild fokussierte[n] Visual History«113 und der historischen Filmforschung konstatiert werden. Diese Widersprüchlichkeit überkommt die vorliegende Studie und bezieht zeitgenössische Filme über den Nesbit-Thaw-White-Skandal mit ein. Diese Quellen erlauben es, High Society als intermediales Produkt zu verstehen. An dem Inhalt und Eigensinn der Produktionen lässt sich die zeitgenössische Wahrnehmung von High Society nachvollziehen, ebenso wie die Rezeption der Publika Erkenntnisse über das Fremdbild der Akteur*innen liefert.114 Wie Juliane Hornung im Kontext von Filmen zeigen konnte, lassen sich für eine Visual History der High Society Anregungen der Kunstgeschichte und Performanzforschung aufgreifen.115 Demnach sind Bildmedien nicht nur sinn- und bedeutungsstiftend, sondern erzeugen als »Bildakte«116 (Horst Bredekamp) selbst erst das Gezeigte, was sie zu geschichtsmächtigen Akteurinnen macht.117 Besonders deutlich zeigt sich dies in Skandalen, auch wenn deren visuelle Dimension bislang ein Desiderat der Forschung blieb.118 Hier stellen sich die Fragen, um welche Bildakte es sich konkret handelte und wie sich deren Deutungen veränderten. Welche Sinnzuschreibungen erzeugten etwa Fotografien von Thaw im Gefängnis, die einen deplatzierten Eindruck von ihm erzeugten und den psychiatrischen Narrativen zu widersprechen schienen? Oder wie veränderten sich die Interpretationen von Nesbits Studioaufnahmen als erotischer Kindfrau vor und nach dem Mordfall? In Bezug auf Fotografien der frühen 111 Vgl. Judith Blume: Wissen und Konsum. Eine Geschichte des Sammelbildalbums 1860-1952, Göttingen 2019. 112 Vgl. Ulrike Weckel: Beschämende Bilder. Deutsche Reaktionen auf alliierte Dokumentarfilme über befreite Konzentrationslager, Zugl.: Berlin, Techn. Univ., Habil., 2008 (= Geschichte, 45), Stuttgart 2012. 113 Margit Szöllösi-Janze: ›Ein Film ist schwer zu erklären, weil er leicht zu verstehen ist‹. Spielfilme als zeithistorische Quelle, in: Johannes Hürter/Tobias Hof (Hg.): Verfilmte Trümmerlandschaften. Nachkriegserzählungen im internationalen Kino 1945-1949 (=  Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 119), Berlin 2019, S. 14-30, hier S. 22, Anm. 32. 114 Vgl. Günther Riederer: Film und Geschichtswissenschaft. Zum aktuellen Verhältnis einer schwierigen Beziehung, in: Gerhard Paul (Hg.): Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 96-113, hier S. 98-100, 102-3, 105-8. 115 Vgl. Hornung: Welt, S. 30-1, 104-6. 116 Horst Bredekamp: Bildakte als Zeugnis und Urteil, in: Monika Flacke (Hg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Bd. 1, 2 Bde., Mainz 2004, S. 29-66, hier S. 29. 117 Vgl. Gerhard Paul: Einleitung, in: ders. (Hg.): BilderMACHT. Studien zur »Visual History« des 20 und 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013, S. 7-16. 118 Vgl. Christian von Sikorski/Mark Ludwig: »Zur Relevanz und Wirkung visueller Skandalberichterstattung. Theoretische Überlegungen und empirische Erkenntnisse«, in: Ludwig et al.: Mediated Scandals, S. 191-209, hier S. 191-2. forschungsfelder und erkenntnisinteressen

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High Society darf Ryan Linkof angeführt werden, der jüngst überzeugend dafür plädierte, dass »[t]he first generation of press photographers revolutionized the way that mass audiences saw and experienced celebrities«.119 Durch sie wurden Individuen und deren Alltag scheinbar authentisch sicht- und miterlebbar.120 Entsprechend kommt der Frage, wie High Society-Mitglieder ihr Privatleben performativ in Szene setzten – etwa durch ihre Körpersprache, die Wahl ihrer Kleidung oder Umgebung –, eine zentrale Bedeutung während der Formierungsphase der High Society zu: Sie bestimmten so mit, wie Zeitgenoss*innen die High Society wahrnahmen. Diese visuelle Dimension erweitere ich um eine materielle, was zu einer stärker kulturgeschichtlich inspirierten Mediengeschichte führt: High Society als Untersuchungsgegenstand muss nämlich über die Betrachtung von Druckerzeugnissen hinausgehen, da sie – wie andere kulturelle Phänomene auch – aus einem »polyperspektivischen Prozess der kulturellen Verständigung und Selbstwahrnehmung«121 resultierte. Daher beziehe ich nicht nur (Bewegt-)Bilder der High Society-Mitglieder ein, sondern nehme die Konsumprodukte und Medien ernst, auf denen sie abgebildet waren, wie Postkarten, Briefbeschwerer oder Fotoalben.122 Durch ihre Haptik wirken sie auf die Fotografien zurück, sodass etwa ein Handspiegel mit Nesbits Fotografie stärker die Verbindung ihrer Schönheit mit Idealen verdeutlicht als das Bild für sich genommen. Ebenso ermöglichen populärkulturelle Objekte andere ­Rezeptionsformen als etwa der Film:123 So wurden Fotografien für Alben in individuellen Aneignungsprozessen bewusst ausgewählt und angelegt, was sich zur regelrechten Fetischisierung steigern konnte. Diese materielle Dimension der Visual History eröffnet somit eine neue Perspektive auf die Formation, womit die gesellschaftliche Relevanz der High Society neu greifbar wird. Damit schlägt die Studie die Brücke zwischen High Society-Akteur*innen und der sie umgebenden (Medien-)Öffentlichkeiten mit ihren medialen Logiken und Rezeptionsformen. Durch die Einordnung der Studie in diese historischen Forschungsfelder ist sie an die Skandal- sowie eine erweiterte Mediengeschichte anschlussfähig und liefert ihren Beitrag zur Ausdifferenzierung der amerikanischen Gesellschafts- und Kulturgeschichte. 119 Linkof: Public Images, S. 47. 120 Vgl. ebd., S. 47-8, 51-3, 67-8; Jens Jäger: Fotografie und Geschichte (= Historische Einführungen, 7), Frankfurt a. M./New York 2009, S. 93. 121 Christina Lutter/Margit Szöllösi-Janze/Heidemarie Uhl: Einleitung, in: dies. (Hg.): Kulturgeschichte. Fragestellungen, Konzepte, Annäherungen (=  Querschnitte, 15), Innsbruck 2004, S. 7-12, hier S. 8. Zu dieser populärkulturell inspirierten Ausweitung vgl. Frank Bösch/Annette Vowinckel: Mediengeschichte, in: Frank Bösch/Jürgen Danyel/Christine Barlitz (Hg.): Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden, Göttingen 2012, S. 370-90, hier S. 386-7. 122 Vgl. John Storey: Cultural Theory and Popular Culture. An Introduction, 7. Aufl., Hoboken 2015, S. 226-9. 123 Vgl. Kaspar Maase: Populärkulturforschung. Eine Einführung (=  Kulturwissenschaft, 190), Bielefeld 2019, S. 196-8.

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Biographische Sonden und Quellenlage Gerade eines der kennzeichnenden Merkmale der High Society verkompliziert ihre wissenschaftliche Untersuchung: Die flüchtige mediale Sichtbarkeit führte zur teils starken Fluktuation ihrer Mitglieder. Diese Problematik kann ein biographischer Ansatz methodisch auflösen, indem die Medienbiographien einzelner Angehöriger der High Society gleichsam als Sonden genutzt werden, um mit ihnen die gesellschaftlichen Formation zu erschließen.124 Daraus folgt, dass die Arbeit nicht bloß die Doppelbiographie eines New Yorker Millionärspärchen ist, sondern sich auf die Phase ihrer High Society-Mitgliedschaft konzentriert und die Zeit vor ihren Eintrittsversuchen und nach ihrem sukzessiven Ausscheiden weitgehend ausblendet.125 Damit ist zugleich die – auf den ersten Blick bestehende – Paradoxie biographischen Arbeitens benannt, da die Doppelsonde Nesbit/Thaw als »normal exception[]«126 fungiert. Doch steckt darin gerade der Innovationsgehalt der neueren Biographieforschung, impliziert diese Kombination doch »eine Spannung zwischen Anomalie und Norm, dem Partikularen und dem Allgemeinen.«127 Wie Thomas Etzemüller betont, seien kohärente, selbstbestimmte Lebensgeschichten illusorisch und würden vielmehr durch Ambivalenzen und zeitlichen Wandel, Vielschichtigkeit und gesellschaftliche Strukturen geprägt.128 Dies begreift die Arbeit als Chance, steckt in Biographien damit doch ein überindividueller Erklärungsansatz: So umfassen die Medienbiographien von Nesbit und Thaw als Teil der High Society einerseits syntagmatische Phasen, weisen andererseits mit ihren biographischen Brüchen und Widersprüchlichkeiten – nicht zuletzt mit dem Skandalprozess – auf paradigmatische Aspekte hin. Genau dieser Dualismus aus Repräsentativität und

124 Zum Begriff der Sonde vgl. Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft. 1903-1989, Bonn 1996, S. 25. 125 Dieser Rahmen resultiert aus der Logik des Gesamtprojekts, das sich nicht allein den jeweiligen Akteur*innen, sondern auch der Gesellschaftsformation widmet, wodurch sich das Vorgehen dieser Arbeit mit dem von Hornung: Welt deckt. 126 Hans Renders: The Limits of Representativeness: Biography, Life Writing, and Microhistroy, in: ders./Binne de Haan (Hg.): Theoretical Discussions of Biography. Approaches from History, Microhistory, and Life Writing, aktual. und erw. Aufl., Leiden/Boston 2014, S. 129-38, hier S. 132. 127 Carlo Ginzburg: Der Käse und die Würmer im Jahr 2019, in: GWU 71:3/4 (2020), S. 190-8, hier S. 195; vgl. ferner Hans Erich Bödeker: Biographie. Annäherungen an den gegenwärtigen Forschungs- und Diskussionsstand, in: ders. (Hg.): Biographie schreiben (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, 18), Göttingen 2003, S. 9-64, hier S. 19-23. 128 Vgl. Thomas Etzemüller: Biographien. Lesen – Erforschen – Erzählen, Frankfurt a. M. 2012, S. 19-22, 135. Er vollzieht das exemplarisch am schwedischen Soziologenpaar Alva und Gunnar Myrdal nach, für die er jeweils eine Experten-, eine Medien- und eine Privatbiographie rekonstruiert, vgl. ders.: Romantik, passim, insb. S. 29-32. biographische sonden und quellenlage

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Individualität ist eine Stärke der biographischen Methode und ermöglicht so ein differenziertes Bild der High Society zu zeichnen.129 Dabei funktionieren die High Society-Viten von Thaw und Nesbit als regelrechte »Komplementärbiographie[n]«130 (Alfred Kohler). Zum einen waren sie als Paar in ihrer Sichtbarkeit aufeinander angewiesen, zum anderen bezogen sie die Medien aufeinander, sodass jeder für sich nur unvollständig zu erklären wäre.131 Das zeigte sich bereits kurz nach dem Mord, als Nesbit erst von der yellow press in Thaws ­Ehrenmorderzählung eingebettet wurde, nur um sie dann selbst aktiv zu stützen, als immer lautere Kritik an seiner Darstellung aufkam. Gleichwohl kann die Analyse ihrer beider Medienbiographien nicht die »Unhintergehbarkeit medialer Konstruk­ tionen«132 überwinden. Denn trotz der analytischen Dekonstruktion medialer Inszenierungen wird damit keine authentischere Realität hinter den medialen Figuren offengelegt.133 Der biographische Ansatz ermöglicht nicht nur einen methodischen und perspektivischen Eklektizismus,134 sondern beeinflusst auch die Quellenauswahl. Die Medienbiographien von Nesbit und Thaw sind Teil einer »integrale[n] Mediengeschichte«, welche »die historische Entwicklung komplexer intermedialer Konstellationen«135 zum Ziel hat, weshalb die Studie auf verschiedene Quellengattungen zurückgreift. Da sich High Society-Mitgliedschaft über die Sichtbarkeit in der Gesellschaftsberichterstattung definierte, sind die großen New Yorker Tageszeitungen die zentralen Quellen. Maßgeblich war die Berichterstattung in Sensationsblättern wie der New 129 Vgl. Olaf Hähner: Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Zugl.: Siegen, Univ., Diss., 1998 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, 829), Frankfurt a. M. 1999, S. 30-3. Auf die High Society angewandt in Hornung: Welt, S. 18-9 130 Alfred Kohler: Ferdinand I. 1503-1564. Fürst, König, Kaiser, 2. Auflage, München 2016, S. 13. 131 Vgl. ebd. 132 Barbara Stollberg-Rilinger: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung, in: dies. (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (= Zeitschrift für historische Forschung. Beiheft, 35), Berlin 2005, S. 9-24, hier S. 13. 133 Dies betrifft auch die Frage nach der Authentizität von High Society, vgl. Hornung: Blick, S. 2-4. Zur Fiktion privater oder medialer Authentizität vgl. Achim Saupe: Authentizität, Version: 3.0, Docupedia-Zeitgeschichte, 25.8.2015, https://docupedia.de/zg/Saupe_authentizitaet_v3_de_2015 (acc. 22.4.2022). Die insb. durch Pierre Bourdieus »biographische Illusion« ausgelöste Kritik an der wissenschaftlichen Biographik gilt mittlerweile durch ihre methodisch-theoretische Ausdifferenzierung als überholt, vgl. Margit Szöllösi-Janze: Lebens-Geschichte  – Wissenschafts-Geschichte, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23:1 (2000), S. 17-35, hier S. 18-20, 30-2. 134 Vgl. ebd., S. 20-1, 29-30. Dies deckt sich mit der historischen Medienanalyse, die nach Karen Hartewig ein »eklektizistische[r] Methoden-Mix« kennzeichnet, vgl. dies.: Fotografien, in: Michael Maurer (Hg.): Aufriß der Historischen Wissenschaften. Bd. 4: Quellen, 7 Bde., Stuttgart 2002, S. 427-48, hier S. 439. 135 Bösch/Vowinckel: Mediengeschichte, S. 379.

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York (Evening) World und der New York American. Respektable Zeitungen wie die New York Times oder New York Sun ergänzen diese Berichte, da sie sich im Laufe der ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts sukzessive der Gesellschaftsberichterstattung öffneten. Der Quellenkorpus wird durch die Auswertungen von Zeitungen außerhalb New Yorks ergänzt, um die nationale wie internationale Dimension von Nesbits und Thaws High Society-Status zu dokumentieren und ihre Reiseaktivitäten abzubilden.136 Die serielle Auswertung von Tageszeitungen für einzelne Phasen wie die Mordprozesse erlaubt es, den Einfluss des Medienskandals auf die High Society und ihre Berichterstattung nachzuvollziehen. Dieses Vorgehen grenzt die Studien von bisherigen Arbeiten ab, die sich fast ausschließlich auf die ebenfalls zu Rate gezogenen Press Clippings zu Evelyn Nesbit in der Robinson Locke Collection der New York Public Library in New York stützen.137 Diese werden durch die Presseschau zum Mordprozess von 1907 im Fenimore Art Museum & Farmers’ Museum Research Library in Cooperstown, New York, ergänzt. Insbesondere für Nesbit ist ihre Sichtbarkeit in Magazinen wichtig, die sich im Untersuchungszeitraum ebenfalls zu Massenmedien entwickelten. Wochen- und Monatsmagazine wie The Cosmopolitan oder Collier’s Weekly dokumentierten ihre Modell- und Entertainmentkarriere ebenso regelmäßig wie sie später in Theaterund Filmmagazinen, etwa dem Broadway Magazine oder dem Moving Picture Magazine, erschien. Die Arbeit stützt sich ferner auf Egodokumente der Akteur*innen. Größten Wert für die Studie hat Harry Thaws bislang unerschlossener Nachlass in der Uruburu Collection auf Long Island, New York, der nicht nur seine Selbstzeugnisse, sondern in geringerem Umfang auch solche von Evelyn Nesbit umfasst.138 Diese exzeptionell gute Überlieferung ermöglicht überhaupt erst ihrer beider Verwendung in der Stu136 Teilweise sind die Zeitungen als Digitalisate etwa über die Library of Congress zugänglich oder liegen als newsclippings in Archiven vor. Relevante Zeitungen außerhalb New Yorks stammen vor allem aus Pittsburgh, wie der Pittsburgh Dispatch oder Pittsburgh Press, da diese die Rückbindung von Nesbit und Thaw an die regionale Upper Class dokumentieren. Hinzu kommen überregionale Tageszeitungen wie die Washington Post oder die Chicago Daily Tribune. Für die internationale Dimension der High Society sind neben europäischen Printmedien insb. der in Paris verlegte New York Herald. Paris Edition (kurz Paris Herald) wichtig. 137 So etwa Baker: Stanny. Der Theaterkritiker und Eigner des Toledo Blade aus Ohio, Robinson Locke (1856-1920), legte seit 1895 ein professionelles Pressearchiv mit scrapbooks von Darsteller*innen an, vgl. o. A.: The Robinson Locke Dramatic Collection in the New York Public Library. On Exhibition in the New York Public Library May 13 to September 30, 1925, New York 1925, S. 13-9, 25-7, 30. Darunter sind auch drei Alben mit newsclippings über Evelyn Nesbit, die auf rund 300 Seiten ihre Medienbiographie der Jahre 1901 bis 1924 dokumentieren. Bisherigen Arbeiten zum Nesbit-Thaw-White-Skandal dienten sie als zentrale Quelle. 138 Harry Thaws Nachlass konnte vom Verfasser eingesehen und erstmals katalogisiert werden. Neben einigen zeitgenössischen Quellen von Evelyn Nesbit sind darin auch etwa 650 ihrer Briefe aus den 1950er Jahren enthalten, die jedoch für die Studie irrelevant sind. biographische sonden und quellenlage

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die. Der Nachlass ist weder sortiert noch legte Thaw ihn systematisch an. Der Schwerpunkt liegt auf seinen Prozessunterlagen, der Korrespondenz mit seinen Anwälten und Evelyn Nesbit sowie Fanpost, die er im Laufe seiner Gerichts- und Haftzeit erhielt.139 Dagegen finden sich im Familiennachlass der Thaws in der Detre Library and Archives Division des Senator John Heinz History Center in Pittsburgh, Pennsylvania, bezeichnenderweise keine Unterlagen zu ihrem scheinbar zu skandalträchtigen Familienmitglied, sondern lediglich indirekte Hinweise in den Nachlässen seiner Verwandten. Zwar öffnen Egodokumente keinen authentischeren Blick auf die Akteur*innen als andere Quellengattungen wie etwa Zeitungsberichte,140 doch ermöglichen sie eine andere Perspektive auf Fragen nach Inszenierungspraktiken oder -strategien. Dieses Spektrum ergänzen die Autobiographien von Nesbit und Thaw, in denen sie im Abstand von einer bis drei Dekaden nicht nur Narrative ihres High SocietyLeben entwickelten, sondern ihre Deutung des Mordes und der Strafverfahren darlegten.141 Während Nesbits Publikationen chronologisch ihren Lebensstationen folgen, behandelt Thaw in seinem streckenweise inkohärenten Text seine frühe Zeit in der High Society, setzt den Schwerpunkt dann aber nachdrücklich auf die Mordprozesse. Die Autobiographien liefern damit weitere Facetten im Selbst- und Fremdbild der Akteur*innen. Sie müssen vor ihren narrativen Zusammenhängen gesehen werden, erlauben es aber, zeitgenössische Authentifizierungs- und Inszenierungsstrategien herauszuarbeiten.142 Darüber hinaus wird ausgehend von einem erweiterten Medienbegriff das Medienensemble aus Bild-, Lied- und Filmmedien, populärkulturellen Erzeugnissen und Memorabilien untersucht. Sie sind dabei nicht nur kulturelle Begleitphänomene, 139 Die Zusammensetzung von Nachlässen wirkt sich auf deren Aussagekraft aus, und sollte daher benannt werden, vgl. Etzemüller: Biographien, S. 84-91. Insb. Thaws fehlende Antwortschreiben sind für die Arbeit hinderlich, da sie Rückschlüsse auf seine Medienkompetenz ermöglicht hätten. 140 Vgl. Winfried Schulze: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte?, in: ders. (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (= Selbstzeugnisse der Neuzeit, 2), Berlin 1996, S. 11-30, hier S. 14-5, 20-1, 23-5. 141 Evelyn Nesbit: The Story of My Life, London 1914, sowie die erweiterte zweite Fassung dies.: Prodigal Days. The Untold Story, New York 1934; Harry Kendall Thaw: The Traitor. Being the Untampered With, Unrevised Account of the Trial and All That Led to It, Philadelphia 1926. 142 Somit prägen auch Autobiographien die paradigmatische und syntagmatische Dualität: Sie rekonstruieren auf Basis fragmentarischer Erinnerungen die Vergangenheit und greifen dabei auf kulturell vorgeprägte Interpretationsansätze über Lebenswege zurück, vgl. Jörg Engelbrecht: Autobiographien, Memoiren, in: Bernd-A. Rusinek (Hg.): Einführung in die Interpretation historischer Quellen, Paderborn et al. 1992, S. 61-79, hier S. 61-3; Barbara Caine: Biography and History, Basingstoke/New York 2010, S. 117-21. Da sich Autobiographien immer an ein Publikum richten, überlagern sich darin die gleichen Legitimations- und Inszenierungsstrategien, die auch bei der High Society im Fokus stehen, vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, 2., aktual. und erw. Aufl., Stuttgart/Weimar 2005, S. 38.

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sondern integraler Bestandteil der Bedeutung, Verbreitung und Rezeption der High Society. Neben Pressefotografien werden Agenturbilder wie die der George Grantham Bain Collection der Library of Congress sowie Postkarten und Ephemera insbesondere der Theatre Collection der Harvard University in Boston, Massachusetts, und der privaten Uruburu Collection ausgewertet. Die Analyse dieser Medien dient nicht nur dazu, High Society-Lifestyle und -Körperbilder der Akteur*innen nachzuvollziehen, sondern auch deren Repräsentationen, etwa am Beispiel der Pressefotografien oder auf Postkarten, zu untersuchen. Insbesondere die filmische Verarbeitung des Skandals erlaubt es, den intermedialen Bildtransfer sowie Narrative und Publikumsreaktionen zu analysieren. Die überlieferten Stummfilme besitzen die Library of Congress und das private Historic Films Archive in Greenport, New York. Die populärkulturellen Objekte und Memorabilien sind zwar willkürliche Überlieferungen, und doch gibt ihr breites Spektrum Einblicke in verschiedene Rezeptionsformen der medialisierten Personen: Die Verarbeitung ihrer Leben in Erinnerungsobjekten, im Film, auf der Bühne oder in Sach- und Kriminalbüchern bietet zeitgenössische Interpretationen der High Society. Zudem eröffnen individuelle Aneignungspraktiken und Rezeptionsformen von Thaw und Nesbit, wie in Fanpost oder Fotoalben, einen neuen Einblick in deren gesellschaftliche Relevanz und Wahrnehmung.143 Abschließend ergänzen offizielle Dokumente den Blick auf die Akteur*innen, insbesondere im Skandal. Neben Urteilspublikationen sind es vor allem Gerichtsmaterialien und -protokolle aus den Nachlässen der daran beteiligten medizinischen Gutachter, mit denen sich die Prozesse gegen Harry Thaw rekonstruieren lassen. Das Gleiche gilt für seine Zeit im Matteawan State Hospital for the Criminally Insane zwischen 1908 und 1913. Seine umfassende Patientenakte hält zwar das New York State Archive in Albany, New York, doch ist damit personenbezogene Forschung verboten.144 Dennoch ist sie fragmentarisch in den Nachlässen der Mediziner überliefert und bietet damit bruchstückhafte Einblicke in Thaws Zeit in der Psychiatrie.145 Das bislang als verschollen geltende Protokoll des ersten Mordprozesses 143 Die Quellen finden sich in verschiedenen Privat- und Universitätsarchiven in den USA, wie etwa in den Archives & Special Collections der University of Pittsburgh in Pittsburgh, Pennsylvania, dem Special Collections Department der University of Colorado in Boulder, Colorado, den Special Collections and Archives der Kent State University Library in Kent, Ohio, und insb. der Uruburu Collection in Babylon, New York. 144 Obwohl Harry Thaws Patientenakte über 200 Seiten umfasst und damit wahrscheinlich eine detaillierte Analyse seiner Haftzeit erlauben würde, unterliegt sie aufgrund seiner eindeutigen Identifizierbarkeit im Falle ihrer wissenschaftlichen Auswertung einer unbefristeten Sperrfrist auf Grundlage der New York Mental Hygiene Law, sect. 33.13. 145 Dazu gehören vor allem die Nachlässe von Charles K. Mills (1845-1931) in der Historical Medical Library des College of Physicians of Philadelphia, in Philadelphia, Pennsylvania, von Adolf Meyer (1866-1950) in den Alan Mason Chesney Medical Archives der Johns Hopkins Medical Institutions in Baltimore, Maryland, und von Roy Leak (1875-1967) in der Francis A. Countway Library of Medicine der Harvard University in Boston, Massachusetts. biographische sonden und quellenlage

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(1907) gegen Harry Thaw konnte in der Uruburu Collection ausfindig gemacht und erstmals wissenschaftlich ausgewertet werden, was neue Erkenntnisse bezüglich der Medialisierung des Strafverfahrens ermöglicht. Die Rezeption der Verfahren und seiner Akteur*innen lässt sich ebenfalls mit staatlichen Akten rekonstruieren, wie etwa mittels Begnadigungsgesuchte für Thaw an den New Yorker Gouverneur, die das New York State Archive verwahrt. Dieses Quellenspektrum ermöglicht eine breite, die mediale, private und rezipierende Ebene mit einschließende Analyse der High Society in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts. Sie zeigt über den Einzelfall von Nesbit und Thaw hinaus und liefert ein Panorama dessen, was High Society in dieser Phase kennzeichnete.

Aufbau Nesbit und Thaw näherten sich in der High Society erst an, traten im Skandal als Paar gemeinsam auf und entfernten sich danach wieder voneinander. Diese Sanduhr-förmige Entwicklung ihrer Medienbiographien vollzieht die Studie in chronologischer Weise nach. Die Grundlage des ersten Kapitels bildet die Entwicklung der Gesellschaftsberichterstattung zur Jahrhundertwende. Davon ausgehend folgt es Nesbits und Thaws unterschiedlichen Zugangswegen in die frühe High Society, die sich teils noch stark mit der Upper Class überlagerte. Als Pionier*innen der High Society prägten sie die medialen Mechanismen, die ihren Einstieg ermöglichten, teilweise selbst erst mit (Kap. I.2). Der erste Teil schließt mit dem Skandal um ihre Heirat und den Reaktionen der Familie Thaw. Familiengeschichtliche Fragestellungen ermöglichen dabei, die Divergenzen zwischen Upper Class und früher High Society herauszuarbeiten (Kap. I.3). Der zweite Teil fokussiert auf den Mordskandal und die Strafprozesse, was sowohl den Kern der Studie als auch der gemeinsamen High Society-Mitgliedschaft von Thaw und Nesbit darstellt. Darin zeigt sich, dass die Skandalberichterstattung vor und während der Mordprozesse mit bislang ungekannten Einblicken in die Privatheit der Akteur*innen neue Dimensionen der High Society erschloss und bisher tabuisierte Themenbereiche ansprach (Kap. II.1-2). Das verfestigte zwar Nesbits und Thaws High Society-Status, stellte aber Fragen nach medialer Entmachtung und Ermächtigung neu, in deren Folge sie um die Deutungshoheit ihrer ambivalenten Fremdbilder rangen (Kap. II.2.2-3). Zudem griff die massive Medialisierung auf weitere Akteursgruppen wie Thaws Familie, die Juristen und medizinische Experten aus und zwang sie, sich mit unterschiedlichen Ergebnissen den medialen Vermittlungslogiken zu stellen (Kap. II.2.2). Der Mordskandal entwickelte sich ferner zum populärkulturellen Ereignis, das ein vielschichtiges Medienensemble mit intermedialen Bezügen thematisierte. Dies differenzierte High Society weiter aus, machte 38

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scheinbar neue Facetten sichtbar und die Akteur*innen nahbarer, womit es die Formation als massenkulturelles Produkt verankerte (Kap. II.2.4). Als Zwischenfazit dient der zweite Strafprozess gegen Thaw (Kap. II.3). In ihm verstetigten sich mediale, prozessuale und medizinische Logiken oder wurden aufgegeben, was eine Bewertung des Medienskandals für die Akteur*innen und die High Society zulässt. Überschnitten sich im Mordskandal die gemeinsamen Medienbiographien von Nesbit und Thaw, folgte darauf ihre zunehmende Separierung. Dies ist Thema des dritten Teils, der das Spektrum der Möglichkeiten und Grenzen der High SocietyMitgliedschaft untersucht. Harry Thaw verhalf sie während seines Aufenthalts in der Psychiatrie (1908-13), deren Deutungshoheit und Exklusionswirkung teilweise infrage zu stellen. Wenngleich hier die Grenzen des High Society-Status deutlich werden, veranschaulicht Thaw während seiner Flucht (1913-15) seine Medienkompetenz, indem er seinen Status bei seinen juristischen Streitigkeiten einsetzte (Kap. III.1). Den gleichen Transfer leistete Evelyn Nesbit, die ihren Status jedoch im Kon­ trast zu Thaw in Kooperation mit Dritten nutzte, um im Bereich der Unterhaltungsund Filmindustrie Fuß zu fassen (Kap. III.2). Dieser Professionalisierungsprozess, der maßgeblich auf ihrer Bedienung von Körperlichkeit und Konsum basierte, öffnet den Blick auf die Möglichkeitsräume, die High Society schuf. Die Studie schließt mit einem knappen Ausblick auf das Ausscheiden von Evelyn Nesbit und Harry Thaw aus der High Society, als die Medien im Laufe der 1920er Jahre das Interesse an ihnen verloren.

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I. Zwischen Upper Class und High Society (1894-1906) Mamma Thaw’s heart was set on Harry marrying a title, and she is said to have expended a million dollars to prevent this union [with Evelyn Nesbit]. […] When a million dollars goes up against 130 pounds, the scales usually tilt; but this time they didn’t. Evelyn had the looks, and she gave his folks the ›hooks.‹1 Mit dieser ironischen Kontrastierung von Vermögen und Körper benannte der New Yorker Morning Telegraph nicht nur zwei für die High Society relevante Kategorien, sondern bettete sie in seinen süffisanten Kommentar über den Heiratsskandal von Evelyn Nesbit und Harry Thaw mit seiner Familie ein. Als im Herbst 1904 erste Gerüchte über diese mutmaßliche Ehe die Runde machten, analysierte die New Yorker Gesellschaftsberichterstattung ausführlich die Details und Implikationen dieser Verbindung. Bevor die Zeitungen jedoch so frivol über den daraus resultierenden Familienzwist der Thaws berichten konnten, bedurfte es für Nesbit und Thaw eines weiten Weges in die High Society. Beide waren im Laufe der späten 1890er und frühen 1900er Jahre aus unterschiedlichen sozialen Kontexten in die New Yorker High Society aufgestiegen. Als Pionier*innen der Formation zeigt sich an ihnen, welche Zugangskriterien und -möglichkeiten bestanden und wie ihr Verhalten dazu beitrug, diese mitzubestimmen. Bevor der phasenweise skandalöse Eintritt von Nesbit und Thaw in die High Society betrachtet wird, steht einleitend eine kurze Betrachtung der Entwicklung der Massenmedien in den Dekaden um die Jahrhundertwende, welche die Entstehung der High Society erst ermöglichte. Im Anschluss folgt die Arbeit den beiden Akteur*innen bei ihrer separaten Inklusion in die High Society. Das zeigt sowohl die Etablierung von Mechanismen der Visualisierung in und durch die Medien, als auch das Spannungsfeld zwischen Upper Class und High Society, in dem sich Nesbit und Thaw bewegten. Dies verdeutlicht, wie der Beginn der High Society ein ständiger Aushandlungsprozess zwischen Medien(-vertreter*innen) und (potenziellen) High Society-Mitgliedern im Alltag und im Skandal war.

1 Evelyn Nesbitt Is Now Mrs. Thaw, Says Her Ma, Morning Telegraph, 25.10.1904.

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1. Die Gesellschaftsberichterstattung seit den 1880er Jahren In ihrer autobiographischen Erzählung über die New Yorker High Society von den 1890er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg beschrieb Elizabeth Wharton Drexel (18681944) die zentrale Rolle der medialen Sichtbarkeit für die Formation: As soon as the custom of society reporting became general and special articles began to appear there is no doubt that a great many, who pretended to high disdain, really enjoyed seeing their names in print and began to erect a new standard which, I suppose we may say, came under the aegis of ›publicity.‹2 Mediale Sichtbarkeit als Charakteristikum der High Society-Mitglieder bildete sich zur Jahrhundertwende über die Gesellschaftsberichterstattung heraus. Die Ursachen dafür lagen in einem Wandel der Medienlandschaft, die in der Phase zwischen den 1880er Jahren und den 1910er Jahren neue journalistische Formate sowie mediale Verhaltensweisen hervorbrachte. Diese beschrieb Drexel als »new standard« des Gesellschaftslebens und spitzte sie auf den Begriff der »publicity« zu. Dabei durchlief die Gesellschaftsberichterstattung eine fundamentale Veränderung weg von den distanzierten und unkritischen viktorianischen society-Berichten hin zu der nahbaren und skandalisierenden Entertainmentberichterstattung der 1920er Jahre. Auf ihren society pages prägte und dokumentierte sie die Entstehung der High Society in dieser Phase, die sich so, mit den Worten von Jens Ruchatz, zu »Medien des Privaten«3 entwickelten. Wie dieser wechselseitige Formationsprozess ablief, zeigt sich in vier Themenfeldern: erstens der Entstehung der Massenpresse, zweitens den Objekten der Gesellschaftsberichterstattung, drittens den neuen Formaten der Sichtbarmachung und viertens der Sichtbarkeit als Legitimationsfaktor.

Entstehung der Massenpresse Die erste Medienrevolution des langen 20. Jahrhunderts schuf ab den 1880er Jahren in den USA die Voraussetzungen zur Entstehung der High Society.4 Medientechnische Neuerungen, wie die elektrische Rotationsdruckmaschine und vereinfachte 2 Elizabeth Wharton Drexel: Turn of the World, Philadelphia et al. 1937, S. 240. 3 Jens Ruchatz: Personenkult. Elemente einer Mediengeschichte des Stars, in: Annette Keck/Nicolas Pethes (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld 2001, S. 331-49, hier S. 335. 4 Vgl. Gerhard Paul: Das Jahrhundert der Bilder. Die visuelle Geschichte und der Bildkanon des kulturellen Gedächtnisses, in: ders. (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 1: 1900 bis 1949, Bd. 1, 2 Bde., Göttingen 2009, S. 14-39, hier S. 14.

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Typensetzung, ermöglichten es Verlegern, schneller, einfacher und kostengünstiger große Auflagenzahlen zu produzieren. Dies führte in Verbindung mit ansprechenderen Zeitungsformaten zu höheren Auflagen und mehr Werbung, was die Einnahmen steigerte.5 Auch Magazine profitierten von diesen Neuerungen. Zwischen 1885 und 1905 entstanden auflagestarke Illustrierte wie McClure’s Magazine oder Munsey’s Magazine, das Ladies’ Home Journal oder The Cosmopolitan, mit denen die ebenfalls reich bebilderten Wochenendausgaben der Zeitungen konkurrierten.6 Die zunehmende Konkurrenz ließ ab Mitte der 1890er Jahre die Preise für Printmedien fallen, sodass Magazine bald für einen dime (heute rund 3.40 Dollar)7, einige New Yorker Tageszeitungen sogar für einen penny (0.34 Dollar), erstanden werden konnten.8 Zeitungen und Wochenmagazine entwickelten sich somit zu alltäglichen Begleitern im Leben der meisten Amerikaner*innen und bestimmten ihre soziale sowie kulturelle Wahrnehmung.9 Zwischen den 1880er und 1900er Jahren begann sich ein Gesellschaftsjournalismus zu entwickeln, der in den neuen Massenmedien die sozialen Aktivitäten, den Lebensstil und die Verhaltens- und Konsumpraktiken von Schauspieler*innen über Künstler*innen hin zu Upper Class-Mitgliedern und nouveaux riches der Leserschaft vermittelte. Indem sie deren Lifestyle mit Texten und zunehmend auch Fotografien sichtbar machten, formierte sich unter ihrem Blick die High Society aus jenen heterosozialen Akteur*innen.10 Die Ausprägung und Folgen ihrer Medialisierung beobachtete der englische Maler und Reiseschriftsteller Philip Burne-Jones (18611926) in seinem Reisebericht von 1904: [›The smart set‹] are the men and women whose restless movements and gusty goings and comings are chronicled by the press of America with a minuteness and fidelity worthy of the court circular. Their personalities are getting to be tolerably familiar to the masses, and they are 5 Vgl. Smythe: Gilded Age Press, S. 123-5, 127, 143; Thomas C. Leonard: News for All. America’s Coming-of-Age with the Press, New York 1995, S. 162-5. 6 Vgl. John William Tebbel/Mary Ellen Zuckerman: The Magazine in America, 1741-1990, New York/Oxford 1991, S. 140-6; Kevin G. Barnhurst/John C. Nerone: The Form of News. A History, New York 2001, S. 132. 7 Die Umrechnungen der Geld- und Vermögenswerte sind Annäherungen, die als Orientierungsgrößen dienen sollen. Sie erfolgen hier und im Folgenden auf Basis der Kaufkraft in Bezug auf das Jahr 2022 anhand der Werte von MeasuringWorth Foundation, o. D., https://www. measuringworth.com/calculators/uscompare/ (acc. 22.4.2022). 8 Vgl. Smythe: Gilded Age Press, S. 173-175, 179-180. Einen konzisen Überblick liefert Daniel A. Gossel: Medien und Politik in Deutschland und den USA. Kontrolle, Konflikt und Kooperation vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert (= Transatlantische historische Studien, 35), Stuttgart 2010, S. 92-106. 9 Vgl. Leonard: News, S. 91. 10 Vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 141-2; Donald Albrecht/Jeannine Falino: An Aristocracy of Wealth, in: dies. (Hg.): Gilded New York. Design, Fashion, and Society, New York 2013, S. 11-50, hier S. 48. die gesellschaftsberichterstattung seit den

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recognized in the streets, at the restaurants, and at the opera, and gaped at by the less prosperous citizens[.]11 Er betont dabei die wechselseitige Bedeutung von Tageszeitungen, rezipierenden Öffentlichkeiten12 und den Mitgliedern der frühen High Society, die gemeinsam zu deren Genese beitrugen. Es waren also nicht allein das Legitimationsbestreben, das Amerikaner*innen dazu brachte, ihr Alltagsleben zu medialisieren, sondern zugleich das Interesse der Leser*innen, die die Sichtbarkeit der High Society beförderten. Parallel dazu verschoben sich in den letzten Dekaden des 19.  Jahrhunderts die Nachrichtenwerte. Das viktorianische Identitätskonzept eines in sich ruhenden, puritanischen Charakters verschob sich hin zur nach außen sichtbaren, charismatischen personality, womit das Interesse der Öffentlichkeit an Vorbildern stieg, denen genau diese Eigenschaften zugeschrieben wurden.13 Diese Entwicklung griff die Presse mit sogenannten human interest stories auf, die den Impetus auf Nachrichten über Individuen, ihre Handlungen, Gefühle und Verhaltensweisen legten. Damit rückten personenzentrierte Geschichten immer stärker in den Vordergrund und es entwickelte sich in der Gesellschaftsberichterstattung der journalistische Anspruch, den Leser*innen nahbare Personen zu vermitteln.14 Diese behauptete Authentizität als zentrales Charakteristikum des Individuums begann sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu manifestieren, sodass zunehmend die »Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, nach Ursprünglichkeit, [und] nach Echtheit«15 unter Leser*innen aufkam.16 Die Suche nach Selbstvergewisserung war dabei eine Folge der Entfremdungserfahrun11 Burne-Jones: Dollars, S. 111-2. 12 Der in den 1960er Jahren von Jürgen Habermas entwickelte, idealtypische Öffentlichkeits­ begriff gilt mittlerweile als überholt. Vielmehr geht vorliegende Studie von pluralistischen und fragmentierten Öffentlichkeiten aus, vgl. Karl Christian Führer/Knut Hickethier/Axel Schildt: Öffentlichkeit – Medien – Geschichte, in: AfS 41 (2001), S. 1-38, hier S. 6, 11-2. Zur sprachlichen Vereinheitlichung wird dann von Öffentlichkeiten gesprochen, wenn die Pluralität der medialen Akteur*innen oder Rezipient*innen betont werden soll. 13 Vgl. Warren I. Susman: ›Personality‹ and the Making of Twentieth Century Culture, in: dies. (Hg.): Culture as History. The Transformation of American Society in the Twentieth Century, New York 1984, S. 271-85, hier S. 277-80. Auch Nachrichtenagenturen nahmen ab Mitte der 1880er Jahre verstärkt soziale Ereignisse und human interest stories in ihre Meldungen auf, vgl. Volker Barth: Wa(h)re Fakten. Wissensproduktionen globaler Nachrichtenagenturen 1835-1939 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 233), Göttingen 2020, S. 86-92, v. a. S. 89-90. 14 Vgl Polumbaum: Human, Bd. 2, S. 728-9; Charles Leonard Ponce de Leon: Self-Exposure. Human-Interest Journalism and the Emergence of Celebrity in America, 1890-1940, Chapel Hill/ London 2002, S. 33-6. 15 Susanne Knaller/Harro Müller: Einleitung. Authentizität und kein Ende, in: dies. (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München 2006, S. 7-16, hier S. 8. 16 Vgl. Susann Köppl: Sei ganz Du selbst! Gedanken über die Authentizität als normatives Ideal in Zeiten des modernen Individualismus, in: Cédric Duchêne-Lacroix/Felix Heidenreich/­ Angela Oster (Hg.): Individualismus – Genealogien der Selbst(er)findung. Individualisme  – Généalogies du Soi (= Kultur und Technik, 25), Berlin 2014, S. 161-74, hier S. 165-8, 173.

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gen in den Städten und der gefühlten Orientierungslosigkeit in der entstehenden Massen-, Konsum- und Mediengesellschaft.17 Hieraus entwickelte sich das Interesse an der High Society, die Authentizität, Vorbilder und Unterhaltung zugleich lieferte. Diese Nachfrage bediente vor allem die Sensationspresse, die sogenannte yellow press, die mit ihren social news auf diese Nachrichtenwertverschiebung einging. Insbesondere die New York World (1860-1931) von Joseph Pulitzers (1847-1911) und das 1895 von William Randolph Hearst (1863-1951) übernommene New York Journal (1882-1937) sowie sein New York American (1901-1937) prägten das Genre.18 Ihre Zeitungen sollten nicht mehr der nüchternen Informationsvermittlung über Politik und Wirtschaft dienen, sondern der Unterhaltung. Dazu entwickelten sie einen sensationellen, teils reißerischen Stil und rückten neue Themenfelder in den Fokus der Berichterstattung: Kriminalität und Katastrophen, Beziehungsskandale und Korruptionsfälle.19 In Verbindung mit plakativen Überschriften, einem auffallenden Layout und einer Vielzahl von Illustrationen warben sie erfolgreich um die Aufmerksamkeit neuer Leser*innen.20 Dabei rückten neben der Arbeiterschicht vor allem Frauen als Zielgruppe in den Fokus der Herausgeber. Die aufkeimende Werbeindustrie hatte in ihnen die Hauptkonsumentinnen von Verbrauchsgütern erkannt und machte sie zum Ziel ihrer Aktivitäten. Damit wurde das weibliche Publikum für die Annoncen verkaufenden Printmedien besonders relevant.21 Um deren Interessen zu bedienen, engagierten die großen Tageszeitungen seit Mitte der 1880er Jahre vermehrt Journalistinnen, damit sie mit dem ihnen zugeschriebenen, spezifisch weiblichen Blick über relevante Themen für Frauen schrieben.22 Schon vor dem Beginn der High SocietyBerichterstattung prägten so Berichte über das Gesellschaftsleben, Ratgeberkolumnen, Modetrends aus Paris und vor allem Klatschgeschichten die woman’s pages. Bereits Ende der 1890er Jahre hatten sich diese, speziell für das weibliche Publikum 17 Vgl. Achim Saupe: Historische Authentizität: Individuen und Gesellschaften auf der Suche nach dem Selbst – ein Forschungsbericht, H-Soz-Kult, 15.8.2017, https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-2444 (acc. 22.4.2022), [S. 10-2, 19]. 18 Vgl. Schudson: Discovering, S. 88-9. 19 Dabei wurde zugunsten des Unterhaltungswerts nicht immer faktenbasiert gearbeitet. Wie ein Journalistenhandbuch empfahl, sollten die Geschichten vor allem einen »simple, sensible, breezy style with a sparkle in it« haben, Edwin LLewellyn Shuman: Steps Into Journalism. Helps and Hints for Young Writers, Evanston 1894, S. 66. Erst in den 1920er Jahren setzte sich der objective journalism durch, vgl. Stuart Allan: News Culture, 3. Aufl., Maidenhead 2010, S. 43-6; zum yellow journalism vgl. Campbell: Yellow Journalism, S. 60. 20 Vgl. Anthony R. Fellow: American Media History, 3. Aufl., Boston 2013, S. 152-3, 158-9. 21 Vgl. Jean Marie Lutes: Newspapers, in: Gary Kelly/Joad Raymond/Christine Bold (Hg.): The Oxford History of Popular Print Culture. Vol. 6: US Popular Print Culture, Bd. 6, Oxford/New York 2012, S. 97-112, hier S. 99-100. 22 Vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 144. Zu diesem Emanzipationsprozess von Frauen in der Presse vgl. Patricia Bradley: Women and the Press. The Struggle for Equality, Evanston 2005. die gesellschaftsberichterstattung seit den

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verfassten Rubriken in praktisch allen Zeitungen etabliert. In der New York World erschien etwa seit 1891 eine Feature-Seite über Frauenmode und society-Veranstaltungen in der Wochenendausgabe, drei Jahre später dann schon täglich. Zwar folgten diese noch keinen festen Konventionen, was b ­ ereits die ständig wechselnden Titel zeigten, wie beispielsweise »For and About Women«, »The Women’s Page« oder »Woman and Their Ways«.23 Jedoch setzte zwischen der Jahrhundertwende und den 1920er Jahren eine Normierungsphase ein, sodass regelmäßig die gleichen Inhalte und journalistischen Formate erschienen.24 Diese leiteten die Leserschaft zum routinierten Konsum der Gesellschaftsberichterstattung an und machte die dort erscheinenden High Society-Mitglieder zu wiederkehrenden, bekannten Namen. Obwohl die Verleger sich der Bedeutung der Gesellschaftsberichterstattung bewusst waren, galt sie unter Journalisten im ausgehenden 19. Jahrhundert als nicht ernst zu nehmende Beschäftigung, weshalb die Redaktionen Frauen überlassen wurden.25 Diese nutzten das jedoch als Möglichkeit, um sich über Kolumnen, Society-Berichte und ausführlichere Reportagen einen Namen als Journalistinnen zu machen.26 So galt zur Jahrhundertwende Nixola Greeley-Smith (1880-1919) von der New York World als eine der begnadetsten Interviewerinnen ihrer Generation.27 Zur gleichen Zeit erlangte ihre Kollegin Elizabeth Meriwether Gilmer (1861-1951) vom New York Journal und späterem New York American als »Dorothy Dix« durch ihre Ratgeberkolumne und ihre hochgelobte Berichterstattung über Kriminalfälle große Bekanntheit.28 In den 1900er Jahren wechselten die Redakteursposten in die Hände von Männern, was in Verbindung mit dem zunehmenden Umfang der society-Sektionen die zunehmende Bedeutung der Gesellschaftsberichterstattung in der Presse widerspiegelte.29

23 Vgl. Marion Marzolf: Up from the Footnote. A History of Women Journalists, New York 1977, S. 206; Fahs: Assignment, S. 58-62, v. a. S. 59. 24 Vgl. Ponce de Leon: Self-Exposure, S. 47. 25 Vgl. Ishbel Ross: Ladies of the Press. The Story of Women in Journalism by an Insider, New York/London 1936, S. 441. Diese Meinung hielt sich bis in die frühen 1910er Jahre, vgl. etwa im Handbuch von Charles H. Olin: Journalism. Explains the Workings of a Modern Newspaper Office, and Gives Full Directions for Those Who Desire to Enter the Field of Journalism, Philadelphia 1910, S. 52. 26 Vgl. Deborah Chambers/Linda Steiner/Carole Fleming: Women and Journalism, London 2004, S. 21. Diese Diskreditierung nutzen Journalistinnen jedoch geschickt aus und behandelten neben den ihnen zugedachten Inhalten ein breites Themenspektrum von Politik bis Wirtschaft, vgl. Fahs: Assignment, S. 62-7. 27 Vgl. ebd., S. 117-20. 28 Vgl. Roger D. Haney: Dorothy Dix (Elizabeth Meriwether Gilmer) (1861-1951), in: Nancy Signorielli (Hg.): Women in Communication. A Biographical Sourcebook, Westport et al. 1996, S. 124-34, hier S. 128-9. 29 Vgl. Hornung: Welt, S. 38.

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Objekte der Gesellschaftsberichterstattung: Von der Upper Class zur High Society So wie die Gesellschaftsberichterstattung in den Zeitungen zunehmend an Bedeutung gewann, so wandelte sich die Art des Journalismus. Im ausgehenden 19. Jahrhunderts behandelte sie die Upper Class noch respektvoll-distanziert,30 wie dies die UpperClass-Dame May King Van Rensselaer zur Jahrhundertwende resümierte: »The old Society editor […] [f]or the last twenty years he has filled two columns each week-day and a whole newspaper section every Sunday with his serial chronicle [!] of Society’s affairs.«31 Diese Auflistungen von Einladungen und Gästelisten, Bällen und Passagierlisten änderte sich, als William R. Hearst im Jahr 1895 begann, in seinem New York Journal eine neue Perspektive einzunehmen: Seine Journalist*innen schrieben auf alltägliche, familiäre Weise über die Mitglieder der New Yorker Society und machten sie dadurch den Leser*innen nahbar. Dabei erregten nicht nur die Details über ihre Privatleben die Gemüter der medialisierten Upper Class, sondern vor allem der vertraute Umgang mit ihnen. Für die wichtigsten und medial aufgeschlossensten Akteur*innen wurden etwa Spitznamen eingeführt, sodass aus einer Mrs. Herman Oelrichs eine »Tessie«32 wurde, Mrs. Stuyvesant Fish zu »Mamie« und Henry Symes Lehr, Lebemann und Society-Berater, zu einem »Harry«.33 Wie zeigte sich dieser Wandel konkret auf den Seiten der Gesellschaftsberichterstattung? Insbesondere mit den in den 1880er Jahren eingeführten und immer zahlreicher verlegten Kolumnen konnte der Eindruck vermittelt werden, dass wiederkehrend nicht über, sondern aus der Gesellschaft berichtet wurde.34 Dies verdeutlichte die Kolumne von Ward McAllister (1827-1895). Als Intimus von Caroline Schermerhorn Astor (1830-1908) – genannt the Mrs. Astor –, der Grande Dame der New Yorker Upper Class, hatte er mit ihr für mehrere Jahrzehnte das Gesellschaftsleben der städtischen Oberschicht bestimmt. Entsprechend beliebt war seine Kolumne, die er Anfang der 1890er Jahre zu schreiben begann, doch diskreditierte sie ihn vor der Upper Class, da sie erstmals einen scheinbar intimen Blick aus ihrem inneren Zirkel lieferte.35 Ende des Jahrzehnts begann sich diese Haltung zu ändern: Zwar galt die mediale Aufmerksamkeit nach wie vor den Gästen, ihrer Kleidung und dem Schmuck der 30 Vgl. Ross: Ladies, S. 443-4. 31 van Rensselaer: Social Ladder, S. 199. 32 Diese Spitznamen werden im Folgenden verwendet, da diese Bezeichnungen das mediale Bild der High Society-Mitglieder wiedergeben. 33 Vgl. Ross: Ladies, S. 444, was zu Beginn scharfe Kritik unter den so Medialisierten erregte. Parallel dazu bestand die konservative Gesellschaftsberichterstattung bis in die 1930er Jahre fort, vgl. Mary Cable: Top Drawer. American High Society from the Gilded Age to the Roaring Twenties, New York 1984, S. 201, 204. 34 Vgl. Ross: Ladies, S. 444; Homberger: New York, S. 205-6. 35 Vgl. Anthony Young: New York Café Society. The Elite Meet to See and Be Seen, 1920s–1940s, Jefferson 2015, S. 11-6, 18-9; Homberger: New York, S. 213-9. die gesellschaftsberichterstattung seit den

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Damen, doch immer umfänglicher rückten das soziale Ereignis selbst, die Gespräche, Beziehungen und Verhaltensweisen in den Fokus.36 Denn obwohl Upper-ClassVeranstaltungen weiterhin vor der Öffentlichkeit abgeschirmt in privaten Räumen stattfanden, begannen Teilnehmer*innen der Presse über die Ereignisse zu berichteten, Gastgeber*innen ihre Gästelisten bekannt zu geben und Einzelne gar Journalist*innen einzuladen.37 Der Grund lag darin, dass neben der New Yorker Upper Class neue gesellschaft­ liche Akteur*innen, wie Schauspieler*innen, nouveaux riches aber auch die Erbengeneration der robber barons zunehmend das Legitimationspotenzial medialer Sichtbarkeit erkannt hatten. Sie begannen, ihre Gesellschaftsereignisse, wie Dinnerparties, sowie ihr Verhalten und private Informationen für die Presse zu inszenieren.38 Diese Wechselbeziehung zwischen medialem Interesse und der Erkenntnis, sich darüber gesellschaftlich interessant zu machen, entzweite die New Yorker Upper Class. Einige ihrer Mitglieder, wie beispielsweise Mamie Fish oder Harry Lehr, erkannten frühzeitig das legitimatorische Potenzial, das in der medialen Sichtbarkeit lag, und schickten sich an, die Aufmerksamkeit der Medien zu erregen. Sie gehörten so zu den Pionier*innen der High Society. Lehrs Ehefrau, Elizabeth Wharton Drexel, charakterisierte diese sich abzeichnende gesellschaftliche Aufteilung entlang der medialen Sichtbarkeit wie folgt: [Society news] could never have had the influence it came to possess if there had not been two classes of victims for its news-writers — its gossipers: those who ran with outstretched hand when they saw the ›representative of the press‹ appear on the horizon, and the others who turned their backs [on them.]39 Diese nach medialer Aufmerksamkeit strebenden Personen entstammten dabei nicht allein der Upper Class, sondern auch dem Theater oder der nouveau riche. Die Gleichzeitigkeit von Personengruppen und deren Verhaltensweisen in der Frühphase der High Society um die Jahrhundertwende erschwert es, stets klare Trenn­linien zwischen ihren Mitgliedern und Praktiken auf der einen und denen der Upper Class auf der anderen Seite zu ziehen. Dies arbeitete 1981 der Kulturhistoriker Lewis Erenberg in seiner noch immer maßgeblichen Pionierstudie zum New Yorker Nachtleben heraus: Sichtbare Sozialereignisse in (halb-)öffentlichen Räumen, deren Abläufe und Mitglieder über die Gesellschaftsberichterstattung mitverfolgt werden konnten, gewannen an Bedeutung.40 Damit verlagerte sich das Soziale aus privaten Wohnhäusern in einsehbare Öffentlichkeiten, wie die Restaurants des Broadways. In diesen sogenannten lobs36 Vgl. Greg King: A Season of Splendor. The Court of Mrs. Astor in Gilded Age New York, Hoboken 2009, S. 406-7. 37 Vgl. Ross: Ladies, S. 442-3. 38 Vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 117-9, 120, 163-4; Erenberg: New York Nightlife, S. 402, 51-2. 39 Drexel: Turn, S. 241. 40 Vgl. Erenberg: New York Nightlife, S. 38-40, 54-5.

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ter palaces trafen sich Mitglieder der Upper Class mit Personen aus dem BroadwayMilieu und der nouveau riche sowie Reporter*innen der society pages. Im Gegensatz zu privaten Räumen konnten die Beteiligten dort mit ihren Handlungen, ihrem Lifestyle und ihrem Konsum die Aufmerksamkeit der Gesellschaftsberichterstatter*innen auf sich ziehen. In diesen semiöffentlichen Orten, in die zur Jahrhundertwende auch Frauen vorgedrungen waren, versammelten sich so die Mitglieder der High Society und die, die es werden wollten, und wurden auf den Seiten der Gesellschaftsberichterstattung präsentiert.41 Mediale Sichtbarkeit diente zunehmend als In- respektive Exklusionsfaktor und wurde zugleich von der Gesellschaftsberichterstattung immer stärker eingefordert.42 Dadurch machten die (potenziellen) Mitglieder immer mehr Bereiche ihres Freizeit- und Konsumverhaltens sichtbar.43 Daraus entstand nicht nur die High Society als neue soziale Formation, sondern erzwang zugleich die Flexibilisierung der Upper Class. Deren Mitglieder begannen wiederum, sich teilweise in die entstehende High Society zu integrieren und diese mit zu prägen. Dass die Berichterstattung über das Privatleben der New Yorker High Society landesweit das Interesse der Leser*innen erregte, kritisierte Edward Bok, Herausgeber des auflagestarken Ladies’ Home Journal, in einem Editorial vom März 1906: »The society column of the smallest country newspaper now daily gives reports concerning these folks: their balls, engagements, yachts, gowns and divorces.«44 Doch nicht nur das: Die Berichterstattung suggerierte der Öffentlichkeit auch Nähe zu den medial sichtbar ­gemachten Personen. Dies zeigte sich etwa in Newport, Rhode Islanddem Sommerressort der Oberschicht und High Society zur Jahrhundertwende. Dort überhäuften Ausflügler*innen bei Omnibus-Touren durch die Stadt die Fahrer mit Fragen: »[They were] asking one question after another as they recognize the names of people already well known to them through the social topic column of the newspapers«,45 was wiederum deren Mitglieder und ihre soziale Stellung legitimierte.

Neue Formate der medialen Sichtbarmachung Allen voran die yellow press entwickelte für die Gesellschaftsberichterstattung neue Medienformate, wie Biogramme oder Ratgeberkolumnen, und nutzte bestehende, wie Bildmaterial, auf neue Weise. Insbesondere das Interview avancierte in den spä41 Vgl. ebd., S. 40-55; Young: Café Society, S. 11; Ponce de Leon: Self-Exposure, S. 164-7; Montgomery: Displaying Women, S. 120-121, 137-8. 42 Vgl. Hornung: Welt, S. 68-9. Auf diesen Zusammenhang und sein analytisches Potenzial verweist Herbert Uerlings/Iulia-Karin Patrut: »Inklusion/Exklusion und die Analyse der Kultur«, in: Uerlings: Inklusion, S. 9-46, hier S. 26. 43 Vgl. Patricia Beard: After the Ball. Gilded Age Secrets, Boardroom Betrayals, and the Party that Ignited the Great Wall Street Scandal of 1905, New York 2003, S. 3-7, 69-78. 44 Edward W. Bok: Why Bother about the 400?, in: Ladies’ Home Journal 23:4 (Mär. 1906), S. 18. 45 van Rensselaer, May: Newport: Our Social Capital, Philadelphia/London 1905, S. 43. die gesellschaftsberichterstattung seit den

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ten 1890er Jahren zunehmend zur »habitualisierte[n] journalistische[n] Praxis«,46 da es unübertroffen die Lebensumstände und Erfahrungen der Interviewten vermitteln konnte.47 So gab etwa mit Mamie Fish kurz vor der Jahrhundertwende erstmals ein Mitglied der New Yorker Upper Class ein ausführliches Interview und lieferte damit auf gänzlich neue Weise Einblicke in ihre Privatheit; ein Verhalten, dem zunehmend andere »women of prominence who had practically never lent themselves to publicity before«48 folgten. Wie der Medienwissenschaftler Jens Ruchatz in seiner wegweisenden Studie zu Interviews betont, vermittelten diese wie kein anderes Format den Eindruck von Authentizität und Nahbarkeit. Diese kulturelle Zuschreibung suggeriert, hinter die »scheinhaft-artifizielle[n] Oberflächen«49 der Personen und damit in das Private und Intime blicken zu können.50 Eben hierin lag der Reiz und das Verlangen nach Interviews, die in besonderem Maße in der Gesellschaftsberichterstattung zum Tragen kamen und nach der Jahrhundertwende zu einem der wichtigsten journalistischen Formate bei der Berichterstattung über die High Society wurden. Die zweite wesentliche Veränderung betraf die Fotografien, deren Verbreitung ein ausschlaggebender Faktor zur Etablierung der High Society war: Personen wurden plötzlich identifizier- und wiedererkennbar, was das Leserinteresse an ihnen steigerte. Es bedurfte der technischen Neuerungen der 1890er Jahre, wie kostengünstige Halbtondruckerpressen und mobile Kameras, um die Vorurteile der Verleger gegenüber dem Einsatz von Fotografien zu überwinden.51 Für die Phase zwischen 1885 und 1910 prägte der Historiker Neil Harris den Begriff der »iconographical revolution«,52 in der Amerikaner*innen eine Neujustierung ihrer visuellen (Alltags-)Erfahrungen erlebten.53 Fotografien erzeugten nun selbst Nachrichtenwerte und entwickelten sich bis zu

46 Jens Ruchatz: Die Individualität der Celebrity. Eine Mediengeschichte des Interviews, Konstanz/München 2014, S. 44. 47 Vgl. ebd., S. 44-54; Christopher Silvester: Introduction, in: ders. (Hg.): The Norton Book of Interviews. An Anthology from 1859 to the Present Day, New York 1996, S. 1-48, hier S. 9-11. 48 Ross: Ladies, S. 87. 49 Ruchatz: Individualität, S. 36. 50 Vgl. ebd., S. 36-7. Dies basierte auf der wahrgenommenen Dichotomie zwischen Privatheit/ Authentizität und Öffentlichkeit/Inszenierung, vgl. Tanjev Schultz: Alles inszeniert und nichts authentisch? Visuelle Kommunikation in den vielschichtigen Kontexten von Inszenierung und Authentizität, in: Thomas Knieper (Hg.): Authentizität und Inszenierung von Bilderwelten, Köln 2003, S. 10-24, hier S. 13-5. 51 Vgl. Michael L. Carlebach: The Origins of Photojournalism in America, Washington, D. C. 1992, S. 163-5. 52 Neil Harris: Iconography and Intellectual History: The Halftone Effect, in: ders. (Hg.): Cultural Excursions. Marketing Appetites and Cultural Tastes in Modern America, Chicago et al. 1990, S. 304-17, hier S. 307. 53 Vgl. ebd., S. 307, 313-4.

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Beginn der 1920er Jahre zum eigenen Genre des Fotojournalismus.54 Die Ursache dafür lag laut dem Kulturwissenschaftler Miles Orvell in einer mentalitätsgeschichtlichen Verschiebung, wonach Fotografien »the visual foundation for belief in the image«55 legten: Halbtondrucke übertrafen in Bezug auf Textur und Detailreichtum vorherige Abbildungstechniken, was ihren Anspruch plausibilisierte, realistische Darstellungen der Wirklichkeit zu sein.56 Dabei dominierten noch Studioaufnahmen die Berichterstattung der Jahrhundertwende, welche die zuständigen Bildredakteure teils stark überarbeiteten und retuschierten, womit artifizielle Idealfiguren entstanden. Das änderte sich erst, als die Presse in der ersten Dekade des 20.  Jahrhunderts zunehmend auf Schnappschüsse wechselte, die scheinbar ungestellt und damit realistischer waren. Nicht mehr ernste Mimik, steife Haltung und ein szenisch passender Hintergrund waren gefragt, sondern Spontanität, Bewegung und gesellschaftliche Kontexte, die zum Zeichen von Authentizität wurden.57 Exemplarisch zeigt sich dies an zwei Artikeln aus dem Zeitraum von der Jahrhundertwende und den 1910er Jahren. Erster berichtete 1902 über Grace Graham Wilson Vanderbilts (1870-1953) Sommerfest in Newport für die New Yorker Upper Class (Abb. 1, li.). Ihre abgedruckte Studioaufnahme vermittelt Klassenbewusstsein und strahlt durch die Bildkomposition eine unnahbare Würde aus. Die Inszenierung ist hierbei ebenso auffällig wie die scheinbaren Einblicke in die Festivität in den drei beigeordneten Fotografien. Anfang der 1910er Jahre hatten sich diese Inszenierungspraktiken grundlegend geändert (Abb. 1, re.). In der society-Sektion der New York Sun aus dem Sommer 1913 ist die halbe Titelseite mit Fotografien der High Society gefüllt. Drei der fünf Fotografien zeigen High Society-Frauen auf dem National Tennis Lawn in Newport, die den Leser*innen Zutritt zu der exklusiven Veranstaltung verschafften. Durch die Schnappschüsse und die darin liegende Bewegungsdynamik wird die »Illusion unmittelbarer Augenzeugenschaft«58 für die Betrachter*innen erzeugt, und damit Authentizität und Teilhabe an ihren Privatleben vermittelt. Auch die großformatige Porträtaufnahme erzeugt laut Thomas Macho mit ihrer Fokussierung auf das Gesicht eine besondere »Nähe und gefühlvolle Intimität«.59 Es werde so 54 Vgl. Thierry Gervais/Gaëlle Morel: The Making of Visual News. A History of Photography in the Press, London et. al. 2017, S. 14-9. Mit der Durchsetzung der Illustrierten als Massenmedium war der Etablierungsprozess des Fotojournalismus Anfang der 1920er Jahre abgeschlossen, vgl. Annette Vowinckel: Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert (= Visual History: Bilder und Bildpraxen in der Geschichte, 2), Göttingen 2016, S. 55. 55 Miles Orvell: American Photography, Oxford/New York 2003, S. 70. 56 Vgl. ebd; Ders.: The Real Thing. Imitation and Authenticity in American Culture, 1880-1940, Chapel Hill et al. 1989, S. 198-9. 57 Vgl. Michael L. Carlebach: American Photojournalism Comes of Age, Washington, D. C. 1997, S. 22-3, 32. 58 Frank Reuter: Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des »Zigeuners«, Göttingen 2014, S. 22. 59 Macho: Gesichter, S. 182. die gesellschaftsberichterstattung seit den

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Abb. 1: Wandel der Society-Berichterstattung in den 1900er Jahren: Während links das Gartenfest von Grace Graham Wilson Vanderbilt mit noch eindeutig gestellten Fotografien als Gesellschaftsereignis thematisiert wird, scheinen die rechten Aufnahmen praktisch unbeobachtet das Treiben der High Society in Newport zu zeigen.

zum zentralen Merkmal medialisierter Personen, da es den intensivsten Kontakt zur*zum Betrachter*in aufbaue.60 Doch belegt die High Society mit ihrer vornehmlichen Verwendung von Ganzkörperaufnahmen das Gegenteil. Das ergibt sich aus den Logiken der Formation, da nur mit diesen Körperideale, Konsumverhalten oder Gesellschaftskontakte sichtbar gemacht werden konnten.61 Beide Dimensionen fielen im Schnappschuss zusammen, der damit wie kaum ein anderes Medium die High Society repräsentierte.62 Daraus resultierte das immer stärkere Eindringen von Fotografen in die öffentlichen und privaten Räume der High Society und der Notwendigkeit ihrer Mitglieder, sich mit diesen »Visua­lisierungs­zwängen«63 auseinanderzusetzen. Durch die Annahme der Leser*innen, eine authentische Repräsentation der Person in der Fotografie vermittelt zu bekommen, erzeugten sie »equivalence and vir-

60 Vgl. ebd., S. 171-3. 61 Vgl. Hornung: Welt, S. 39. 62 Vgl. Harris: Iconography, S. 313-4. 63 Eva Maria Gajek/Christoph Lorke: (An-)Ordnungen des Sozialen. »Armut« und »Reichtum« in Konstruktion und Imagination nach 1945, in: dies. (Hg.): Soziale Ungleichheit im Visier. Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945, Frankfurt/New York 2016, S. 7-32, hier S. 15.

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tual affinity«64 zur abgebildeten Person, ihrem Aussehen und Verhalten.65 Die Entwicklung der Pressefotografien ist damit ein Schlüsselelement im Verständnis des Aufkommens der High Society, deren intensive Visualisierung nach Ryan Linkof als »evidence of changing conceptions of class deference and social privilege«66 gewertet werden kann: Die Bildverwendung demokratisierte die High Society, indem sie über den Anschein der Nahbarkeit Offenheit und Zugänglichkeit suggerierte, was ihre herausgehobene Stellung in der Öffentlichkeit legitimierte.

Sichtbarkeit als Legitimationsfaktor Wie bereits auf den society pages der Oberschicht der 1880er Jahre blieben Frauen auch in der High Society-Berichterstattung im Zentrum des medialen Interesses. Ihre Sichtbarkeit ermöglichte weiblichen Mitgliedern bald, als Trendsetterinnen zu gelten und Leserinnen neue Verhaltens- und Konsumpraktiken oder Körperideale vorzuleben.67 Ein prominentes Beispiel dafür war Alice Roosevelt (1884-1980), die durch die Präsidentschaft ihres Vaters in den Fokus der nationalen Gesellschaftsberichterstattung rückte. Entsprechende Aufregung erzeugte sie in den Jahren 1904 bis 1905, als sie Zigaretten rauchte, was dadurch zwar noch nicht zum Massenphänomen, aber erstmals in begrenztem Maße gesellschaftsfähig wurde.68 Die Aufmerksamkeit der Medien und das Erscheinen auf den society pages wurde so zum integralen Bestandteil im Leben derjenigen, die zur High Society gehörten.69 Printmedien dokumentierten ihren Alltag und ihr Verhalten in öffentlichen wie privaten Räumen, befragten sie über ihre Meinungen, wie Konsumfragen oder Geschlechterrollen, und fotografierten sie, ihre Häuser und Räumlichkeiten für die Illustrierten oder Wochenendausgaben der Zeitungen. Aus diesem medialen Interesse resultierte ein enormer Druck auf die High Society-Mitglieder, die mediale Aufmerksamkeit in ihren Alltag zu integrieren und dabei sorgsam zu kontrollieren, welches öffentliche Bild sie erzeugten.70 Dabei stellte die Berichterstattung über die High Society nicht nur die Frage nach der Trennung der privaten und öffentlichen Sphäre in einen weiblichen respektive männlichen Bereich – den viktorianischen seperate spheres –, sondern konstituierte 64 Linkof: Public Images, S. 12. 65 Vgl. ebd., S. 48. Diese Authentizitätsillusion bestimmte noch bis mindestens in die 1940er Jahre den medialen Diskurs, vgl. Peter Burke: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen, Berlin 2010, S. 23-4. 66 Linkof: Public Images, S. 12. 67 Vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 150-1; Jean-Pascal Daloz: The Sociology of Elite Distinction. From Theoretical to Comparative Perspectives, Basingstoke/New York 2010, S. 82. 68 Vgl. Stacy A. Cordery: Alice. Alice Roosevelt Longworth, from White House Princess to Washington Power Broker, New York 2007, S. 62-5, 77. 69 Vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 141. 70 Vgl. ebd., S. 150-1. die gesellschaftsberichterstattung seit den

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sich regelrecht aus diesem Spannungsverhältnis.71 Medien und High Society-Mitglieder überschritten beziehungsweise verschoben zur Jahrhundertwende immer stärker die Trennlinie zwischen öffentlichen und privaten Themen, wie etwa ob und was über Familienkonflikte berichtet werden konnte.72 Das Private schien dabei ein authentischeres Bild der Personen zu vermitteln als die Inszenierung in der Öffentlichkeit.73 Doch wollte das Eindringen der Presse in diesen Bereich gesteuert werden. Entsprechend war die kulturell wandelbare Verortung des Privaten einem ständigen Aushandlungsprozess zwischen High Society-Mitgliedern und Pressevertreter*innen unterworfen, wo die Grenzen zwischen Intimem, Privatem und Öffentlichem verliefen.74 Wie stark die auf dieser Dichotomie basierende Sichtbarkeit der High Society ­bereits zur Jahrhundertwende als neuer gesellschaftlicher Legitimationsfaktor von Leser*innen rezipiert wurde, kritisierte unter dem Pseudonym »An American Mother« eine Autorin im Ladies’ Home Journal: Our New Girl lives in the blaze of vulgar publicity. She cannot go to a friend’s house, nor ask another girl to visit her in her home, without publishing the fact in the newspapers. She does not pass through any phase of a woman’s life without danger that the fact will be trumpeted to the world. All das mit der bangen Hoffnung auf den »applause of the public«.75 Somit ermöglichte einerseits das Aufkommen der massenmedialen Gesellschaftsberichterstattung und seiner neuen journalistischen Formate in Verbindung mit dem Interesse der Leserschaft die Herausbildung der High Society. Andererseits erkannte eine heterosoziale Gruppe von Akteur*innen das Potenzial der medialen Sichtbarkeit für ihre gesellschaftliche Legitimation, indem sie im Wechselspiel mit den Presse­vertreter*innen ihre Privatheit zum zentralen Nachrichtenwert über sich machten. Dies bildete den Hintergrund, auf dem sich der in den nächsten Kapiteln entfaltende Einstieg von Evelyn Nesbit und Harry Thaw in die High Society vollzog.

71 Vgl. Karin Hausen: Öffentlichkeit und Privatheit. Gesellschaftspolitische Konstruktionen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen, in: dies./Heide Wunder (Hg.): Frauengeschichte  – Geschlechtergeschichte (=  Geschichte und Geschlechter, 1), Frankfurt a. M./New York 1992, S. 81-8, hier S. 85-6. 72 Vgl. Knut Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, 2., aktual. und überarb. Aufl., Stuttgart 2010, S. 212. 73 Obwohl Berichterstattung Sichtbarkeit erzeugt, bedeutete der »Intimitätskult« um das Private, dass die Illusion des Nicht-Sichtbaren aufrechterhalten werden musste, vgl. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Berlin 2008 [1983], S. 37. 74 Diese Aushandlung führe gar zu einem »new battleground in modern societies«, Thompson: Shifting, S. 64. 75 An American Mother: What the American Girl Hast Lost, in: Ladies’ Home Journal 17:6 (Mai 1900), S. 17.

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2. Zugangswege in die High Society Vor dem Hintergrund der Gesellschaftsberichterstattung zur Jahrhundertwende erlauben Harry Thaw und Evelyn Nesbit als zwei frühe Pionier*innen der High Society Rückschlüsse auf Mechanismen, wie Kontakte, Räume und Nachrichtenwerte, welche die mediale Aufmerksamkeit erregten und so den Zutritt in die High Society ebnen konnten. Gerade da sich beide in der frühen High Society bewegten und es kaum Vorbilder gab, kennzeichnen ihre frühen Medienbiographien auch Rückschläge in ihren Versuchen, sich sichtbar zu machen, wie etwa falsche Verhaltensweisen und Probleme mit konfligierenden Verhaltensmustern, Vorurteile oder Überforderung mit medialer Sichtbarkeit. Dass beide aus verschiedenen sozialen Kontexten stammten, eröffnet dabei – neben dem Genderunterschied – eine weitere grundlegende Analyseebene. Das erlaubt nicht nur, klassenübergreifende Mechanismen zu identifizieren, sondern auch die mit Herkunft oder Vermögen verbundenen Medialisierungsstrategien sichtbar zu machen. Zuerst wird Harry Thaws Zutritt in die High Society untersucht, da dieser früher und aktiver als Evelyn Nesbit versuchte, mediale Aufmerksamkeit zu erlangen, um sich in New York gesellschaftlich zu etablieren. Dabei zeigt seine Upper Class-Herkunft, wie Mitglieder dieser Klasse Teil der High Society werden konnten, indem Thaw neue Verhaltensweisen ausprobierte, adaptierte oder ablegte. Im zweiten Schritt demonstriert das Beispiel Evelyn Nesbit, dass auch als weitgehend mittellose junge Frau die Inklusion in die High Society möglich war. Gerade dieser soziale Unterschied machte einen Reiz der High Society aus, führte aber für die Mitglieder noch zu teils massiven familiären und medialen Problemen, wie das letzte Unter­ kapitel zeigen wird.

2.1. »Society at Home and Abroad«: Harry Thaws mediales Leben zwischen US-Ostküste und Europa »I’m Harry Thaw, of Pittsburgh!« Henry »Harry« Kendall Thaw wurde am 12. Februar 1871 in Pittsburgh, Pennsylvania, geboren. Seine Eltern, Mary Copley Thaw (1842-1929) und William Thaw (18181889), gehörten zu den wohlhabendsten und angesehensten Bürger*innen der Stadt. Die Mutter entstammte einer presbyterianischen Verlegerfamilie aus Pittsburgh;1 1 Vgl. Harvey Gaul: Untold Life of Mary Copley Thaw, The Bulletin, 7.12.1929; Genecological Materials: Thaw Family (1841-1933), SJHHC, DLAD, MSS #29, Box 1, Folder 3.

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die Familie väterlicherseits war wiederum zu Beginn des 18.  Jahrhunderts nach Pennsylvania gekommen und siedelte seit 1804 in der Stadt. William Thaw gehörte zur Generation der Gilded Age-Millionäre, die im wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg reich geworden waren. Als gelernter Banker investierte er erst in die Transportschifffahrt, um sich seit den 1850er Jahren federführend im Ausbau und Betrieb des Eisenbahnnetzes im amerikanischen Nordosten zu betätigen. Darüber hinaus beteiligte er sich 1873 an der Gründung der ersten trans­atlantischen Dampfschifffahrtsgesellschaft, der Red Star Line.2 Ihr gemeinsamer Philanthropismus sicherte bereits Harry Thaws Eltern regelmäßig die Aufmerksamkeit der Presse: Während sich Mary Copley Thaw, gemäß viktorianischer Tradition weiblicher Wohltätigkeit,3 in sozialen Vereinen engagierte und für presbyterianische Projekte spendete, förderte William Thaw vor allem die Wissenschaften, darunter den Ausbau der Western University of Pennsylvania (heute Pittsburgh University).4 Beide waren in der regionalen Upper Class etabliert, wobei insbesondere Mary Copley Thaw eine führende Rolle in der Pittsburgher Society einnahm.5 William Thaw hatte bereits fünf Kinder aus erster Ehe, und bekam fünf weitere Kinder mit Mary Copley Thaw. Seine Söhne aus erster Ehe verfolgten eigene Wirtschaftskarrieren, knüpften geschäftliche und private Beziehungen innerhalb der Pittsburgher Stadtelite und galten als etablierte Mitglieder der regionalen und vereinzelt nationalen Upper Class. Seine Töchter waren mit örtlichen Eliten wie der Stahldynastie von Andrew Carnegie strategisch verheiratet worden.6 Sein ältester Sohn, Benjamin Thaw, galt als Mitglied der nationalen Upper Class und etablierte 2 Vgl. Henry Hall: America’s Successful Men of Affairs. An Encyclopedia of Contemporaneous Biography. Vol. 2: The United States at Large, 2 Bde., New York 1895, S. 780-2. 3 Vgl. Kathleen D. McCarthy: Frauen im Spannungsfeld von Religion, Philanthropie und Öffentlichkeit, 1790-1860, in: Thomas Adam/Simone Lässig/Gabriele Lingelbach (Hg.): Stifter, Spender und Mäzene. USA und Deutschland im historischen Vergleich (= Transatlantische historische Studien, 38), Stuttgart 2009, S. 17-40, hier S. 19-28. 4 Vgl. Genecological Materials: Thaw Family (1841-1933), SJHHC, DLAD, MSS #29, Box 1, Folder 3; George J. Buchholtz: Backgrounds and Lineages of Some Copley and Buchholtz Families, Baltimore/Syracuse 1995, S. 74-5. Mary Copley Thaw war etwa Vizepräsidentin der Society of the Improvement of the Poor, vgl. The Leaders in Charity, Pittsburgh Dispatch, 8.12.1891, S. 2. 5 Vgl. Pittsburgh’s Especial Interest in the Yarmouth-Thaw Nuptials, Pittsburgh Press, 14.3.1903. 6 William Thaw Jr. (1859-1892) war Mitglied der Pittsburgher Upper Class und gründete eine Kokerei, die 1905 von der Frick Coke Company übernommen wurde. Mary Thaw (1856-1944) heiratete William Reed Thompson aus Pittsburgh, den Präsidenten der Mechanic’s National Bank und späteren Trustee des Familienfonds. Josiah »Joe« Copley Thaw (1874-1944) fiel mit seiner Heirat in die städtische Oberschicht von Port Huron, Michigan, aus der Reihe. Seine Schwester Margaret Thaw (1877-1942) heiratete hingegen mit George Lauder Carnegie (1876-1921), einem Neffen von Andrew Carnegie, wieder standesgemäß in die Pittsburgher Industriellenelite. Einzig Alexander Blair Thaw (1860-1937) nahm einen grundsätzlich anderen Weg und wurde Arzt, vgl. Genecological Materials: Thaw Family (1841-1933), S. 26-34, SJHHC, DLAD, MSS #29, Box 1, Folder 3. Zu Thompson vgl. o. A.: History of Allegheny County, Pennsylvania. Including its Early

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sich sogar im beliebten wie exklusiven Newport.7 Die Thaws folgten von Pittsburgh aus dem social calender der amerikanischen Oberschicht, besuchten Kurorte, reisten nach Europa und zeigten sich in New York City. Insbesondere Thaws Kinder aus zweiter Ehe verlagerten ab den 1890er Jahren sukzessive ihren Lebensmittelpunkt dorthin.8 Als William Thaw 1889 starb, vermachte er seiner Familie ein breit gestreutes Vermögen von rund 12 Millionen Dollar (heute rund 400 Millionen Dollar), dessen Hauptteil aus einem Fond bestand, der Anteile an Eisenbahn- und Schifffahrtsunternehmen sowie der Schwerindustrie hielt. Dieser sogenannte Coke Trust machte die Thaws zu einer der reichsten Familien der USA.9 Sozialisation in der Upper Class Harry Thaws Kindheit und Jugend in der Vermögenselite war von Institutionen geprägt, die ihn als Teil der amerikanischen Upper Class sozialisieren sollten: Als Kind besuchte er eine renommierte Boardingschool, die Beck’s Boys Academy in Lititz, Pennsylvania, und anschließend das von seinem Vater geförderte presbyterianische Wooster College (heute University of Wooster) in Ohio.10 Zwischen 1890 und 1892 war er erst an der Western University of Pennsylvania, dann an der Harvard University in Boston, Massachusetts, in den Rechtswissenschaften eingeschrieben, brach das Stu-

Settlement and Progress to the Present Time. Vol. 2, 2 Bde., Chicago 1889, S. 539-40. Benjamin Thaw (1859-1933) war nach William Thaw Jrs. Tod das Familienoberhaupt und zugleich sicht barstes Mitglied der Familie in der nationalen Upper Class, wie sich z. B. an seiner Teilnahme an einem Ehrendinner für Präsident McKinley zeigt, vgl. Menu: Dinner to the President and Mrs. McKinley at Carincarque. November 3rd 1897. Mrs. Frick, SJHHC, HHCC, 93.72.1. Vgl. ferner Anm. 83. Die Heiratspolitik deckt sich mit der Forschung zu Verwandschaftsnetzwerken im 19. Jahrhundert, wonach familiale Beziehungen strategisch aufgebaut wurden und gewisse Regelmäßigkeit zeigten, vgl. Simone Derix: Familiale Distanzen, in: Historische Anthropologie 22:1 (2014), S. 45-66, hier S. 48. 7 Entsprechend konsequent folgte er dem Jahreszyklus der Upper Class und verbrachte mit seiner Familie den Sommer in Newport, den Winter in Europa, vgl. Some of Newport’s New Palatial New Homes, Anaconda Standard, 14.8.1898, S. 18; About People and Social Incidents, New York Tribune, 11.9.1906, S. 6. 8 Zur lokalen Verortung und grenzüberschreitenden Mobilität als zentrale Dichotomien Vermögender vgl. Eva Maria Gajek/Anne Kurr: »Reichtum und Reiche in Deutschland. Neue Perspektiven auf Akteure, Räume, Repräsentationen und Vermessungen im 20. Jahrhundert«, in: Gajek et al.: Reichtum, S. 9-31, hier S. 20; zur Sommerfrische vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 1667. Die Thaws entsprachen dem Muster der Pittsburgher Industriellenfamilien, die erst um 1900 ihre Sozialkontakte über die Region hinaus auszudehnen begannen, vgl. John N. Ingham: The Iron Barons. A Social Analysis of an American Urban Elite, 1874-1965 (= Contributions in Economics and Economic History, 18), Westport 1978, S. 148. 9 Vgl. Michael M. Klepper/Robert E. Gunther: The Wealthy 100. From Benjamin Franklin to Bill Gates – A Ranking of the Richest Americans, Past and Present, Secaucus 1996, S. xiii. 10 Vgl. Thaw: Traitor, S. 17, 19.

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dium jedoch ohne Abschluss ab.11 Trotz seines universitären Scheiterns entsprachen diese Ausbildungsschritte den Distinktions- und Sozialisierungspraktiken der Upper Class im Gilded Age: In den Ostküstenstädten rangen die alteingesessenen Eliten mit den dortigen nouveaux riches um soziale Anerkennung. Dazu betrieben Erstere mitunter eine städteübergreifende Heiratspolitik, die jedoch zur zunehmenden Vergesellschaftung vormals getrennter sozialer Gruppen in einer neuen überregionalen Oberschicht führte. Auf der Suche nach neuen Distinktionsmerkmalen entwickelte sich in den 1880er Jahren das Curriculum der Männer entlang bestimmter konfessioneller Boardingschools und exklusiver Universitäten an der Ostküste zum wesentlichen Charakteristikum der neuen amerikanischen Upper Class. Die dabei erfolgten Sozialisationsprozesse vermittelten den Mitgliedern ein regionsübergreifendes Bewusstsein als eigene gesellschaftliche Klasse.12 Entsprechend nutzte Harry Thaw seine Studienzeit mehr für soziale Kontaktpflege und zur Aneignung kultureller Muster als dafür, sich auf das Studium zu konzentrieren.13 Dabei übernahm er zeitgenössische elitäre Klassen- und Männlichkeitsbilder: Thaw spielte Golf und Tennis, versuchte sich im Polo und fieberte bei dem in der Entstehung begriffenen College-Football mit.14 Einerseits handelte es sich um Elitensportarten, andererseits galt Sportlichkeit zur Jahrhundertwende als Ausdruck eines neuen, physisch geprägten und nach außen sichtbaren Männlichkeitsideals. Ebenso üblich war übermäßiger Alkoholkonsum und Glücksspiel.15 Somit durchlebte Harry Thaw ein für die Sozialisation innerhalb der amerikanischen Upper Class paradigmatisches Studentenleben. Trotz abgebrochenem Rechtsstudium konnte Thaw durch familiäre Verbindungen Anfang 1894 in New York bei Bristow, Peet, Burnett, & Opdyke, der Anwaltskanzlei des ehemaligen US-Finanzministers Benjamin Bristow (1832-1896), mit ­einer juristischen Ausbildung beginnen. Eine mögliche Anwaltskarriere scheiterte bereits an der Zulassungsprüfung, woraufhin Harry Thaw Ende 1894 nach Europa 11 Vgl. ebd., S. 18; Record of H. K. Thaw, HU, HUA, Special Students, S. 155; Studienunterlagen Harvard, UC, Folder 4, Index R. 12 Vgl. Ingham: Iron Barons, S. 84-5, 92-6; zur Heiratspolitik vgl. Alexis Gregory: Families of Fortune. Life in the Gilded Age, New York 1993, S. 13. 13 Thaw war Mitglied im Pittsburgh Polo Club und Mitbegründer des Allegheny Country Clubs, vgl. Thaw: Traitor, S. 18. Lückenhafte Studienunterlagen und schlechte Noten prägten seine Harvard-Zeit, vgl. Record of H. K. Thaw, HU, HUA, Special Students, S. 155; Studienunterlagen Harvard, UC, Folder 4, Index R. 14 Vgl. Thaw: Traitor, S. 18-22; Matteawan State Hospital: Examination of Harrry K. Thaw by Dr. James V. May and Dr. John W. Russell, Nov. 21, 22, 24, 25 and Nov 26, 1911, S. 26-7, HU, FACLM, Roy Leak Collection of Papers Relating to Harry K. Thaw, 1904-66 (inclusive), H MS c369. 15 Vgl. Kim Townsend: Manhood at Harvard. William James and Others, New York 1996, S. 23, 94-5; White: Republic, S. 722-6; zum Männlichkeitsdiskurs vgl. Amy S. Greenberg: Manhood, in: Peter W. Williams/Mary Kupeic Cayton (Hg.): Encyclopedia of American Cultural and Intellectual History, Bd. 1, 3 Bde., New York 2001, S. 555-63, hier S. 559.

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aufbrach.16 Dies ist insofern bemerkenswert, als er mit einem im Gilded Age immer wichtiger werdenden Männlichkeitsbild brach: Sowohl die puritanische Tradition als auch die universitäre Sozialisierung verknüpften ein erfolgreiches Leben eng mit beruflichem Erfolg.17 Mit seiner Entscheidung für ein Leben als Privatier distanzierte er sich zwar vom Vorbild seiner männlichen Verwandten, war damit aber paradigmatisch für Männer der Erbengeneration der Oberschichtfamilien, die während des Gilded Age zu Vermögen gekommenen waren.18 Die nötigen Mittel für seinen Lebensunterhalt sicherte ihm ein Coup seiner Mutter: Nach William Thaws Tod im Jahr 1889 hätte Harry Thaw ein Sechzehntel des Familienfonds erben sollen. Damit wären jährliche Einkünfte von rund 38.000 Dollar verbunden gewesen (1.26 Mio. Dollar),19 die sein Vater jedoch kurz vor seinem Tod testamentarisch auf 2.400 Dollar (80.000 Dollar) beschränkte.20 Den vollen Zugriff sollte Thaw erst wieder erhalten, wenn »[he has] shown such settled character and course of life as to indicate proper capacity, discretion and fitness for the receipt, care and expenditure of the income«.21 Charakter und Lifestyle des Sohnes hatten für William Thaw den Ausschlag gegeben, ihm diesen Lebenswandel finanziell unmöglich zu machen. Kurz nach Williams Tod nutzte Mary Copley Thaw ihren überproportionalen Fondsanteil und ihren Sitz im Aufsichtsrat des Coke Trust, um gegen den Widerstand ihrer Stiefkinder ihrem leiblichen Sohn den vollen Zugriff auf sein Erbe zu ermöglichen.22 Einerseits handelte es sich um eine machtpolitische Demonstration gegenüber ihren Stiefkindern, andererseits war es eine Gefälligkeit gegenüber Harry Thaw, die sie jedoch später als Druckmittel würde nutzen können. Erste mediale Sichtbarkeit Mit Aufgabe seiner beruflichen Ambitionen fokussierte Harry Thaw sich auf sein Gesellschafts- und Vergnügungsleben, das er medienwirksam zu inszenieren wusste. Als er im Dezember 1897 erstmals in der New Yorker Gesellschaftsberichterstattung in Erscheinung trat, skandalisierte ihn ein Sonntagsfeature des New York Journal als 16 Vgl. Thaw: Traitor, S. 23. 17 Vgl. Townsend: Manhood, S. 23; Susanne Hamscha/Katharina Motyl/Regina Schober: Introduction: The Failed Individual, in: Katharina Motyl/Regina Schober (Hg.): The Failed Individual. Amid Exclusion, Resistance, and the Pleasure of Non-Conformity, Frankfurt 2018, S. 1130, hier S. 12-3. 18 Vgl. Beard: After the Ball, S. 3-4, 6-7. 19 Der jährliche Ertrag von 38.000 Dollar ergibt sich aus der zeitgenössisch leicht realisierbaren Verzinsung von fünf Prozent auf Thaws Fondanteil von um die 750.000 Dollar (heute rund 25  Mio. Dollar). 20 Vgl. William Thaws Testament (3.3.1888) und Codicil (5.7.1889), in: William Thaw: Personal Papers, Estate Mat. (1864-1888), SJHHC, DLAD, MSS #29, Box 5, Folder 3. 21 Codicil (5.7.1889), S. 2, ebd. 22 Vgl. Michael Macdonald Mooney: Evelyn Nesbit and Stanford White. Love and Death in the Gilded Age, New York 1976, S. 83.

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neues Enfant terrible der Stadt: Gemeinsam mit seinem Freund Hamilton »Ham« Fish  II. (1873-1898) aus der New Yorker Upper Class mache Thaw regelmäßig das städtische Vergnügungsviertel, den Tenderloin, unsicher. Wenngleich die Fishs über das Verhalten ihres Familienmitglieds nicht begeistert waren, sei Thaw wegen seiner medial sichtbaren Eskapaden »practically tabooed by his family«.23 Zwar hatte er sich damit für die High Society-Berichterstattung interessant gemacht, doch verhielt er sich konträr zu den viktorianischen Verhaltensnormen seiner Upper ClassFamilie:24 Denn auch wenn Verhaltensweisen wie exzessives Trinken, außerehe­liche Sexualkontakte oder die Überschreitung gesetzlicher Schranken bei Männern der Oberschicht verbreitet waren, hatten diese unbeobachtet von (Presse-)Öffentlichkeiten zu geschehen.25 Thaws Benehmen lässt sich jedoch mit der zeitgenössisch entwickelten »Theorie der feinen Leute« (1899) des Soziologen Thorstein Veblen erklären. Dieser identifizierte angesichts der Verhaltensweisen der amerikanischen Oberschicht zwei Strategien zur Gewinnung von Sozialprestige: Demonstrative Muße (»conspicuous leisure«) und Geltungskonsum (conspicuous consumption). Bei Letzterem handelt es sich um den für andere sichtbaren Erwerb und Verbrauch von Luxusgütern, um die eigene soziale Stellung zu belegen.26 Zwar bezog Veblen in seine Überlegungen die Frage der medialen Sichtbarkeit nicht explizit ein, doch lassen sie sich für die High Society analytisch fruchtbar machen.27 Denn Thaws exzessiver Konsum fand an Orten der High Society statt, wo er auch für Medienvertreter*innen sichtbar wurde. Dort reihte sich sein Verhalten gleichsam in das der dort verkehrenden Mitglieder ein. So pflegten in der Berichterstattung bereits etablierte Angehörige der High Society, wie James Buchanan »Diamond Jim« Bradey (1856-1917) oder John Warne »Bet-A-Million« Gates (1855-1911), ebenfalls diese, auf die Außenwirkung bedachten Konsumpraktiken.28 Thaw verlagerte sich zudem auf eine neue, ebenfalls von Thorstein Veblen beobachtete Ebene der »conspicuous consumption« So konsumierte er nicht mehr nur selbst, sondern zog andere Personen zum stellvertretenden Konsum heran, um sie damit zu Zeug*innen des eigenen Vermögens und Mittler*innen des eigenen Status

23 Vgl. The Swiftest Two Young Man in New York, New York Journal, 19.12.1897, S. 25. 24 Zum tropischen Zusammenhang von finanzieller Grenzenlosigkeit und dem Fehlverhalten der Kinder von Vermögenden vgl. Derix: Thyssens, S. 243. 25 Vgl. Howard P. Chudacoff: The Age of the Bachelor. Creating an American Subculture, Princeton 1999, S. 68-70. 26 Vgl. Thorstein Veblen: The Theory of the Leisure Class, Neuaufl., New York 1994 [1899], S. 63-5. 27 Vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 162. 28 Vgl. Lucius Morris Beebe: The Big Spenders. The Epic Story of the Rich, the Grandees of America and the Magnificoes, and How They Spent Their Fortunes, London 1966, S. 72-6, 84-5.

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zu machen.29 Dies war der Fall bei Thaws medial breit rezipierten »Beauty Dinner«30 im Mai 1900 im Pariser Grandhotel Ritz. Bei diesem waren bereits die Kosten von 8.000 Dollar (heute rund 290.000 Dollar), ein eigens engagiertes amerikanisches Orchester und die luxuriösen Geschenke für jeden Gast ungewöhnlich und demonstrierten seinen Status. Doch ging er über den reinen Stellvertreterkonsum hinaus, indem er die Veranstaltung medial sichtbar machte und somit bekannt wurde, dass unter seinen 25 Gästen ausschließlich Frauen waren, darunter einige der schönsten Pariserinnen, wie die Tänzerinnen und Femmes fatales Liane de Pougy und La Belle Otéro.31 Mit dieser Kombination außergewöhnlicher Nachrichtenwerte konnte sich Thaw über den Atlantik hinweg in der amerikanischen Gesellschaftsberichterstattung sichtbar machen.32 Das Ereignis passte zu seinem medialen Fremdbild und ordnete sich zugleich in Konsumpraktiken der High Society ein, wie weitere vergleichbare Dinnerpartys von Amerikanern im gleichen Jahr zeigen.33 Thaw hatte damit erneut seine »mania for the spectacular« belegt, was ihn stark von seiner Upper Class-Familie und insbesondere seinem »frugal, industrious father«34 abgrenzte. So schaffte er es, dass ihn die New Yorker Gesellschaftsberichterstattung als potenziellen Angehörigen der frühen High Society betrachtete, denn durch sein Verhalten sei »[Mr. Thaw] very well known«.35 So waren seine öffentlichen Auftritte entsprechend selbstbewusst, bei denen er sich für gewöhnlich mit der Aussage: »I’m Harry Thaw, of Pittsburgh!«36 vorstellte. Das beschrieb Evelyn Nesbit zwar als »trembling pride in […] revealing himself«,37 doch kann es zugleich als Referenz auf seine selbst wahrgenommene mediale Sichtbarkeit gedeutet werden. Denn er hatte gezeigt, dass sein sichtbarer Geltungskonsum es ihm ermöglichte, in die Gesellschaftsberichterstattung aufgenommen zu werden.

29 Vgl. Veblen: Theory, S. 67-8. 30 Gives Paris a Shock: Thaw’s ›Beauty Dinner‹ Causes a Sensation, Boston Daily Globe, 16.9.1900, S. 25. 31 Vgl. Thaw: Traitor, S. 73-5; John Philip Sousa: Marching Along. Recollections of Men, Women, and Music, Neuaufl., Boston 1941 [1928], S. 186; Harry K. Thaw’s $8,000 Dinner, Evening World, 21.5.1900, S. 3. 32 Vgl. Gives Paris a Shock: Thaw’s ›Beauty Dinner‹ Causes a Sensation, Boston Daily Globe, 16.9.1900, S. 25. 33 Vgl. etwa Pair of Millionaires, Washington Post, 14.10.1900, S. 20. 34 Thaw’s $8,000 Dinner, in: Republican News Item 5:3 (1900), S. 1. 35 Ebd. 36 Nesbit: Story, S. 79. 37 Ebd., S. 79-80.

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Einstieg in die New Yorker High Society »[New York] society is actually an epitome of that of the country at large, and in her theatre are enacted most of the social happenings that give tone to the rest.«38 So charakterisierte die Schriftstellerin Constance Cary Harrison im Jahre 1905 das New Yorker Gesellschaftsleben. Um zu Beginn des neuen Jahrhunderts dort Fuß fassen und sich als High Society-Mitglied etablieren zu können, reichte es nicht, sich durch Einzelereignisse sichtbar zu machen. Vielmehr musste Thaw sich den gesellschaftlichen Strukturen unterwerfen, die noch durch den social calender der Upper Class des Gilded Age vorgegeben waren. An feste Rituale geknüpft, definierte dieser, wann und wo sich seine Mitglieder aufzuhalten hatten, was klare In- und Exklusionsmechanismen festlegte.39 Diesen übernahmen die High Society-Mitglieder und bewegten sich in den gleichen Räumen wie die Upper Class, mit deren Angehörigen sie auch verkehrten. Der zentrale Unterschied bestand darin, dass sie dabei ihre gesellschaftlichen Ereignisse und ihr Privatleben medial sichtbar machten. Harry Thaws Beispiel zeigt, wie er mit diesen verschiedenen Gesellschaftsgruppen umging und dabei mit den Möglichkeiten der Sichtbarmachung experimentierte. Sichtbarkeit in der amerikanischen Winter- und Sommersaison Den Season-Auftakt der Upper Class bildete die Wintersaison in New York mit dem Beginn der Opernsaison in der Academy of Music und der Metropolitan Opera im November. Im Dezember folgten öffentliche und private Bälle, wie der wichtige Patriarch’s Ball, die Möglichkeiten des gegenseitigen »display and notoriety«40 boten und zugleich einen formalisierten Übergangsritus im Gilded Age bildeten: Diese waren häufig mit dem sogenannten coming-out der Debütantinnen verbunden, bei dem die Töchter der Upper Class in das Erwachsenenleben, die Gesellschaft und den Heiratsmarkt eingeführt wurden.41 Entsprechende Beachtung fanden diese Veranstaltungen noch in den society pages zur Jahrhundertwende, gemeinsam mit ­zurückhaltenden Berichten über Einladungen, Gästelisten und Kleiderbeschreibungen. Der gesellschaftliche Höhepunkt der Wintersaison fiel in die ersten Januar­ wochen, wenn Mrs. Astor bei ihrem Winterball in ihrer Villa mit den sogenannten Four Hundred den Kern der New Yorker Upper Class um sich versammelte und so 38 Constance Cary Harrison: Introductory, in: William D’Alton Mann (Hg.): Fads and Fancies of Representative Americans at the Beginning of the Twentieth Century. Being a Portrayal of Their Tastes, Diversions, and Achievements, Neuaufl., New York 1975 [1905], S. 7-14, hier S. 13. 39 Zur Bedeutung von Handlungen für gesellschaftliche In- und Exklusionsprozesse vgl. Raphael: Inklusion, S. 241-2. 40 van Rensselaer: Social Ladder, S. 110. 41 Vgl. Mary Rech Rockwell: Elite Women and Class Formation, in: Julia B. Rosenbaum/Sven Beckert (Hg.): The American Bourgeoisie. Distinction and Identity in the Nineteenth Century, New York 2010, S. 153-66, hier S. 159.

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definierte, wer zu diesem exklusiven Kreis gehörte. Anfang Februar endete mit dem Charity Ball im Hotel Waldorf-Astoria die Saison und ging in die weniger von offiziellen Anlässen geprägten Frühjahrsmonate über. Neben Ausflügen in andere Städte oder ihre Landhäuser auf Long Island und New Jersey widmete man sich während dieser Zeit Hochzeiten sowie Benefiz- und Clubveranstaltungen. Das gab der Upper Class bis Ostern Zeit, um sich von der Vielzahl der ritualisierten Veranstaltungen der Wintermonate zu erholen.42 Im Winter 1900/1 und 1901/2 nahm Harry Thaw erstmals an der Saison in New York teil. In seiner Autobiographie behauptet er recht selbstbewusst: »Maybe you don’t know but [it was then] when I still knew half the people in New York. […] I went to all the balls, and musicals […] besides dinners, suppers and lunches for three months.«43 In dieser Zeit begann er, erste Kontakte in die Upper Class zu knüpfen und sich zugleich in der entstehenden High Society sichtbar zu machen. Letztlich führte seine Fokussierung auf die mediale Sichtbarkeit dazu, dass er keinen wirklichen Zugang zur New Yorker Upper Class fand. Dennoch waren erste Versuche erfolgreich, da er seinen Kontakt zu dem society-Berater Harry Symes »King« Lehr (1869-1929) nutzte,44 der seit Mitte der 1890er Jahre auch für Mrs. Astor arbeitete, was ihn zu dem gefragtesten Gesellschaftsberater der Jahrhundertwende machte.45 Durch ihn hatte Thaw 1901/2 Zutritt zu privaten Veranstaltungen der New Yorker Upper Class erlangt, wie exklusive Essenseinladungen von Mrs. Astor.46 Doch verloren um die Jahrhundertwende diese privaten Veranstaltungen durch ihre starre Exklusivität und mediale Abgeschlossenheit an Attraktivität, auch weil ein Großteil der neuen Finanz- und Wirtschaftselite übergangen wurde.47 In deren Ringen um soziale Anerkennung bröckelte die »Phalanx aus gesellschaftliche[n] Ritual[en] und

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Vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 22-4. Vgl. Thaw: Traitor, S. 76-82, Zitat S. 77. Vgl. ebd., S. 47. Lehr war der Nachfolger von Ward McAllister (1827-1895). Als Berater von Caroline Astor hatte dieser mit ihr für fast drei Jahrzehnte die Zusammensetzung und Etikette der New Yorker Upper Class diktiert und den Begriff der Four Hundred geprägt, vgl. Peter Homberger: Vergoldete Zeiten. Das New York der Reichen gestern und heute, in: Barbara Dayer Gallati/Ortrud Westheider (Hg.): High Society. Amerikanische Portraits des Gilded Age: Eine Ausstellung des Bucerius Kunst Forums, 7. Juni bis 31. August 2008, München 2008, S. 28-35, hier S. 31; Gregory: Families, S. 188. Als McAllister jedoch seine Rolle medienwirksam in seinen (Ratgeber-)Memoiren verarbeitete, kostete ihm das die Gunst von Mrs. Astor, vgl. Ward McAllister: Society As I Have Found It, New York 1890. 46 Vgl. Thaw: Traitor, S. 47, 77-9; What Is Doing in Society, New York Times, 29.1.1902, S. 9. Doch bedeutete nach dem socialite Charles Wilbur de Lyon Nicholls eine einmalige Einladung noch nicht den Eintritt in deren gesellschaftlichen Olymp, vgl. ders.: The Ultra-Fashionable Peerage of America. An Official List of those People Who Can Properly Be Called Ultra-Fashionable in the United States. With a Few Appended Essays on Ultra-Smartness, New York 1904, S. 32. 47 Vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 22-4. So auch in van Rensselaer: Social Ladder, S. 64.

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Exklusivität«48 der Upper Class und machte einem »mosaic of diverse and overlapping upper strata«49 Platz, in der die High Society mit ihrer medialen Sichtbarkeit alternative Legitimationsmöglichen offerierte. So sah sich auch Thaw mit neuen gesellschaftlichen Mechanismen konfrontiert. Über Harry Lehr stand er in Beziehung zu dem weiblichen Trio, das, aus der Upper Class stammend, in der New Yorker High Society der 1900er Jahre tonangebend wurde: Alva Vanderbilt Belmont (1853-1933), Tessie Oelrichs (1871-1926) und Mamie Fish (1853-1915).50 Sie brachen mit ihrem Verhalten und ihren innovativen sozialen Events die strikte Ordnung der alternden Mrs. Astor auf und waren damit Akteurinnen, die in den späten 1890er Jahren mit definierten, wie High Society funktionierte, und damit zur Fragmentierung der Upper Class beitrugen.51 So persiflierte etwa Mamie Fish die strikten Reglements von Dinnerveranstaltungen, indem sie ein Abendessen zu Ehren eines korsischen Prinzen gab, der sich als verkleideter Affe entpuppte.52 Dabei entwickelte sich die mediale Resonanz zum neuen sozialen Distinktionsmerkmal: Die Sichtbarkeit erodierte einerseits gesellschaftlich normierte Abgrenzungspraktiken der Upper Class von innen heraus und verhalf andererseits dazu, dass die so medialisierten Personen zunehmend als gesellschaftlich distinktive Gruppe – die High Society – wahrgenommen wurden. Auch Thaw war bei Bällen und Dinnern Gast von Mamie Fish oder Alva Belmont, sodass er von 1900 bis 1902 ein häufiger Name in der New Yorker Gesellschaftsberichterstattung wurde.53 In dieser Phase avancierte Harry Thaw zum Produzenten und Profiteur der High Society, indem er mit eigenen heterosozialen Veranstaltungen zeigte, dass sich damit das Interesse der Gesellschaftsberichterstattung auf sich ziehen ließ, und er so zugleich Teil der society pages wurde: »His dinners in Paris, and some in this country, attracted attention because of their magnificence and the attendance at them of persons known on the stage, in the world of art and in the market places.«54 Da die Sichtbarkeit in Europa als »kick-start«55 der sozialen Anerkennung in New York allein meist nicht ausreichte, wurde Thaw verstärkt in der dortigen season und deren 48 Homberger: Vergoldete Zeiten, S. 35. 49 Frederic Cople Jaher: Style and Status: High Society in Late Nineteenth Century New York, in: ders. (Hg.): The Rich, the Well Born, and the Powerful. Elites and Upper Classes in History, Urbana et al. 1974, hier S. 274. 50 Vgl. Young: Café Society, S. 20; Elizabeth Drexel Lehr: »King Lehr« and the Gilded Age. With Extracts from the Locked Diary of Harry Lehr, Philadelphia 1935, S. 80-90. 51 Vgl. Nick Foulkes: High Society. The History of America’s Upper Class, New York 2008, S. 6871. 52 Vgl. Drexel: Turn, S. 105-9, 117-9. 53 Vgl. Thaw: Traitor, S. 77-9; exemplarisch What Is Doing in Society, New York Times, 29.1.1902, S. 9. 54 Mr. Harry Thaw’s Dinner Was Enlivened by the Varied Music and Arbitration, o. Z., 6.1.1904, in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 17, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358. 55 Homberger: New York, S. 20.

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sozialen Räumen aktiv.56 Er selbst betonte für diese Phase die zunehmende Bedeutung des persönlichen Kontakts zu Reportern für seine mediale Sichtbarkeit und die daraus folgende Aufnahme in die High Society.57 Als Integrationsversuch sprach er etwa am Ende der Wintersaison 1901/2 eine Dinner-Einladung in den Myrtle Room des Hotel Astoria aus. Zu diesem Zeitpunkt hatte er keine Konkurrenz durch andere, ritualisierte Veranstaltungen mehr zu befürchten, was wohl mit ein Grund für die hochkarätige Besetzung seiner knapp 40 Personen umfassenden Gästeliste gewesen sein dürfte: neben den High Society-Mitgliedern Mamie Fish, Grace Wilson Vanderbilt, Mary »May« Ogden Goelet, Caroline »Carrie« Schermerhorn Astor und James Henry Smith, waren aus dem britischen Adel die eingeheirateten Amerikanerinnen Mrs. Arthur Paget (Mary »Minnie« Stevens) und Lady Cunard (Maud Alice Burke) vertreten. Gäste, Raum und Zeitpunkt garantierten die Aufmerksamkeit der New Yorker Tageszeitungen.58 Das Beispiel ermöglicht ferner einige Betrachtungen über die Funktionsweise der frühen High Society: Erstens war seine Wahl des (halb-)öffentlichen Hotels paradigmatisch für die neuen sozialen Räume und Praktiken, welche die High Society prägten. Zur Jahrhundertwende etablierten sich Hotels als soziale Vergnügungs- und Distinktionsräume, die zu »Spielort[en] und Epiphänomen«59 des Konflikts zwischen etablierten und aufstrebenden Gesellschaftsgruppen wurden, eben da ihr Raum die conspicuous consumption ermöglichte.60 So hatte etwa das Restaurant des Waldorf-Astoria, der Palm Garden, gläserne Wände und Türen, wodurch seine Gäste von den bis zu 25.000 Schaulustigen, die täglich durch das Hotel flanierten, bestaunt werden konnten.61 Dabei war es nötig, wie Thaw die Bereitschaft an den Tag zu legen, seinen Status selbst einzufordern. So stellte May van Rensselaer fest: »Unless one has financial resources and the willingness to spend them lavishly, he [sic] can never hope to reach that eminence on which dwell the folk hailed by the society pages of the press as ›socially prominent‹.«62 Das galt insbesondere für luxuriöse Speisen, die durch ihren ephemeren Charakter als besonders schwer nachzu56 Thaw speiste in den angesagten Restaurants und nächtigte in den richtigen Hotels, vgl. At the Hotels, New York Times, 8.1.1901, S. 2. 57 Vgl. Thaw: Traitor, S. 81. 58 Vgl. Relating to Society, New York Daily Tribune, 27.2.1901, S. 7; Thaw: Traitor, S. 81-2. Dass diese Veranstaltung mit den entsprechenden Gästen kein Einzelfall war, zeigt sich an Thaws Dinnereinladung an Odgen L. Mills (28.10.1901), UC, Misc. Weitere zeitgenössische Kontakte in die Upper Class und High Society finden sich in Andenken und Einladungen, UC, Folder 3, Index H. 59 Habbo Knoch: Grandhotels. Luxusräume und Gesellschaftswandel in New York, London und Berlin um 1900, Göttingen 2016, S. 284. 60 Vgl. ebd., S. 283-4, 287-93. 61 Vgl. Molly W. Berger: Hotel Dreams. Luxury, Technology, and Urban Ambition in America, 1829-1929, Baltimore 2011, S. 185-6; zum Palm Garden vgl. George C. Boldt: The Waldorf-Astoria. New York, New York 1903, [S. 24]. 62 van Rensselaer: Social Ladder, S. 162.

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ahmender Abgrenzungskonsum gelten. Da aus soziologischer Sicht das Essen in der Öffentlichkeit zudem die Ambivalenz aus privatem Akt und öffentlichem Raum prägt, verweist es auf die in der High Society verwobenen Kategorien von Privatheit und Öffentlichkeit.63 Diese Faktoren fielen bei Thaws Dinnereinladung zusammen und machten daraus eine exemplarische Veranstaltung der High Society: private Atmosphäre, Face-to-Face-Kontakte und Sichtbarkeit überlagerten sich, wodurch das Ereignis seine inkludierende Wirkung für die Teilnehmer*innen entfaltete.64 Zweitens wurden Konsum und Vergnügung damit zu stärker performativen und distinktiv aufgeladenen Kategorien der High Society, die sich auch räumlich manifestierten. So berichtete beispielsweise die New York World 1904, dass es deren Mitglieder angeraten sei, sich im populären Madison Square Garden der Öffentlichkeit zu zeigen, wohingegen die Oper ein Refugium der Upper Class bleiben würde: »It is in the society people that a large percentage of the [Madison Square] Garden visitors are particularly interested. […] At Madison Square Garden society is on view for the benefit of the crowd; at the Metropolitan [Opera] it is on view for itself.«65 Sichtbarkeit diente nicht mehr vornehmlich nach innen gegenüber der Peergroup, sondern fungierte als Marker nach außen für und gegen die Exkludierten, die wiederum ein zunehmendes Interesse an deren medialisierten Personenkreis hatten und der Möglichkeit dorthin aufzusteigen. Dies zeigte sich besonders in den lobster palaces: Zwischen 1897 und 1899 eröffneten entlang des Broadways neue Restaurants, darunter das Martin’s, Murray’s und Rector’s, die für eine bis dahin ungekannte Art des luxuriösen und demonstrativen Konsums standen und dies einer breiteren Schicht als bislang ermöglichten. Zugleich bildeten sie semiöffentliche Räume, in denen nun auch Frauen, ohne despektierlich zu wirken, gemeinsam mit Männern interagieren konnten.66 Für die sich dort versammelnde High Society prägte der Journalist Julian L. Street (1879-1947) den zeitgenössischen Begriff der »Lobster Palace Society«,67 da sich dort deren Mitglieder räumlich verorteten: Im Gegensatz zu den bis dato renommiertesten New Yorker Restaurants, Delmonico’s und Sherry’s, diskriminierten sie ihre Kundschaft nicht mehr nach ihrer gesellschaftlichen Stellung, sondern nach ihrem ökonomischen, sozialen und zunehmend medialen Kapital. Personen, die den Aufstieg in die High Society suchten, »wanted to boast of having dined at the next table to them«.68 63 Vgl. Daloz: Sociology, S. 79. 64 Vgl. Erenberg: New York Nightlife, S. 47-50. Zum Zusammenspiel von Ritualen und In- bzw. Exklusion vgl. Ludwig Jäger: Zur medialen Logik der Rituale. Bemerkungen zu einigen Aspekten des Verhältnisses von Sprache und Ritual, in: Christoph Wulf/Jörg Zirfas (Hg.): Die Kultur des Rituals. Inszenierungen, Praktiken, Symbole, München 2004, S. 303-17. 65 O. T., New York World, 20.11.1904, S. 6, zit. nach Montgomery: Displaying Women, S. 124. 66 Vgl. Erenberg: New York Nightlife, S. 41-8, 51-3. 67 Julian Leonard Street: Welcome to Our City, New York 1913, S. 7; den Begriff prägte er bereits 1910. 68 Lehr: King, S. 201-2.

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Um daher die eigene Sichtbarkeit zu garantieren, gab Julian Street das Credo der dort versammelten (potenziellen) High Society-Mitglieder aus: »Spend money! That is the cry.«69 Entsprechend stand der sichtbare Geltungskonsum der nouveaux riches, Vertretern der Upper Class und deren Begleiter*innen aus dem Theatermilieu im Vordergrund, was die gesellschaftliche und mediale Zugkraft der Restaurants begründete.70 Auch Harry Thaw war regelmäßiger Gast im Rector’s, in dem er etwa mit Schauspieler*innen seinen Konsum in Szene setzte.71 Thaw hatte jedoch parallel zu seinem Eintritt in die New Yorker High Society erfolglos versucht, auch Zugang in die dortige Upper Class zu finden, war aber wahrscheinlich genau an der medialen Dimension seines teils exzentrischen Verhaltens, wie dem »Beauty Dinner«, gescheitert.72 Aus dem Unmut darüber versuchte er es in der Wintersaison 1902/3 stattdessen in Washington, D. C., deren lokale Upper Class weniger exklusiv und der Zutritt leichter möglich war.73 Als er im Dezember 1902 eine exklusive Villa am Lafayette Square anmietete, rezipierte ihn die regionale Presse mit genau den Charakteristika, die ihm in New York zwar mediale Aufmerksamkeit gesichert, aber den Zugang zur Upper Class erschwert hatten: Er sei »lavish in his entertainments« und seine Einladungen würden durch »up-to-date features […] all ordinary events«74 übertreffen. In der Hauptstadt avancierte er so zum vielgesehenen Gast(-geber) von Kongressabgeordneten über Minister zu ausländischen Diplomaten und stand darüber hinaus in Kontakt zu High Society-Mitgliedern, wie Alice Roosevelt.75 Thaws Integration in die Washingtoner Gesellschaft spiegelte sich auch in seiner Aufnahme in den dortigen Metropolitan Club wider.76 Entsprechende Mitgliedschaften zeigen, wie stark Upper Class-Konventionen die High Society zur Jahrhundertwende noch prägten. Clubs hatten sich am Ende des 19. Jahrhunderts als zentrale soziokulturelle Instanzen der männlichen Oberschicht herausgebildet, die raumsoziologisch als verräumlichte Abgrenzung gegenüber Nichtmitgliedern verstanden werden können.77 In ausgefeilten Aufnahmeprozessen entschieden die Mitglieder, ob der potenzielle Neuzugang dem Charakter des Clubs entsprach und die 69 Street: Welcome, S. 70. Zur Praktik des lobster palace-Besuchs vgl. ebd., S. 61-98. 70 Vgl. ebd., S. 66-71, 129-30. Zur gesellschaftlichen und medialen Bedeutung vgl. Erenberg: New York Nightlife, S. S. 33, 40-42. 71 Vgl. Thaw: Traitor, S. 83, 101. 72 Mit der gebotenen Vorsicht bestätigt diese These auch Nesbit: Prodigal Days, S. 54. 73 Vgl. Jacob: Capital Elites, S. 8-9, 188-94, 197. 74 Vgl. The World of Society and Personal Notes, Washington Times, 4.12.1902, S. 7. 75 Vgl. als Gastgeber Thaw: Traitor, S. 104; als Gast etwa in Happenings of the Day in Society, Washington Times, 28.1.1903, S. 7; In Washington Society, New York Times, 7.3.1903, S. 9. 76 Vgl. Washington’s Exclusive Club The Metropolitan, St. Louis Republic. Magazine, 3.5.1903, S. 1. 77 Vgl. Susanne Rau, S. 170, 172; zu Clubs vgl. Sven Beckert: »Bourgeois Institution Builders: New York in the Nineteenth Century«, in: Rosenbaum/Beckert: American Bourgeoisie, S. 103-17, hier S. 109, 111.

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Beziehungsstruktur der Vereinigung reproduzierte. Entsprechend aussagekräftig sind die Mitgliedschaften für die soziale Vernetzung und Anerkennung ihrer Mitglieder.78 Die Sichtbarkeit der High Society machte die privaten Clubs zunehmend obsolet, doch galten sie zur Jahrhundertwende noch immer als soziale Referenz für Charakter und social standing und dienten als Face-to-Face-Öffentlichkeit jenseits der Medien.79 Stanford White etwa war passionierter Clubmensch, der Mitgliedschaften in rund 50 Clubs hielt und seine Geschäftstermine und -kontakte ebenso wie den Hauptteil seines Sozial- und Freizeitlebens in Clubhäusern verbrachte.80 Entsprechend prestigeträchtig war für Thaw seine Aufnahme in den elitären, national bedeutsamen Metropolitan Club, der ihn auf die gleiche Stufe mit New Yorkern aus dem Union oder Knickerbocker Club stellte, in die er beide nicht aufgenommen worden war.81 Indes nahmen letztere eine Sonderstellung unter den Clubs der Ostküste ein, da sie prinzipiell und entgegen traditionellen Vereinigungen offen gegenüber wirtschaftlichen und sozialen Aufsteigern waren.82 Trotz Thaws Vermögen und seiner Kontakte zu Upper Class- und High Society-Mitgliedern, jedoch vermutlich wegen seines auf Sichtbarkeit hin ausgerichteten Geltungskonsums hatte sich keiner der Clubs in New York bereiterklärt, ihn aufzunehmen. Dass die Presse kolportierte, er sei mit einem Pferd in die Lobby des Union Club geritten, um dort seine Mitgliedschaft einzufordern,83 verweist nur umso stärker darauf, dass ihn sein öffentliches Bild als exzentrischer Lebemann für die respektableren Herrenvereine nicht infrage kommen ließ. Daran zeigt sich erneut, dass es Harry Thaw zum Eintritt in die New Yorker Upper Class noch an ausreichend social standing oder Kontakten fehlte, wogegen seine Nachrichtenwerte ihm den Zugang in die High Society ermöglichten. Zur Sommersaison verließ die High Society im Gefolge der Upper Class New York. Noch bis Ende des 19. Jahrhunderts war der Kurort Saratoga Springs, New York, der Hauptanlaufpunkt der Oberschicht gewesen. Aufgrund seiner zunehmenden Popularität verlor er jedoch an Attraktivität und wurde von Newport abgelöst. Zeitgleich führte die zunehmende Mobilität und Vernetzung der Upper Class zu einer immer kleinteiligeren Saisonuntergliederung und verschiedenen Aufenthaltsorten.84 Diese 78 Vgl. Hood: Pursuit, S. 201-3. 79 Vgl. Beckert: Institution Builders, S. 108-12. In den 1920er Jahren hatten sie für die High Society ihre Bedeutung verloren, vgl. Hornung: Welt, S. 93. 80 Vgl. Baker: Stanny, S. 133-4. 81 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 54. Thaw überspielte diese Rückschläge in seiner Autobiographie, vgl. Thaw: Traitor, S. 197. 82 Vgl. Hood: Pursuit, S. 172, 200-3. 83 Vgl. Thaw’s Life of Storm on $80.000 Yearly Income, Evening Telegram, 26.6.1906, S. 3. 84 Vgl. Jon Sterngass: First Resorts. Pursuing Pleasure at Saratoga Springs, Newport, and Coney Island, Baltimore et al. 2001, S. 181. Humoristisch beschrieben durch den späteren Vanity FairHerausgeber Francis W. Crowninshield in ders.: Manners for the Metropolis. An Entrance Key

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Fragmentierung führte dazu, dass Face-to-Face-Kontakte und abgeschottete Privatveranstaltungen nicht mehr ausreichten, um den eigenen sozialen Status zu behaupten – umfassende mediale Sichtbarkeit wurde immer wichtiger. Besonders deutlich zeigte sich diese Entwicklung in Newport. Dort hatte sich die Upper Class zur Jahrhundertwende ein eigenes Refugium geschaffen.85 Clubs und Privatvillen dominierten das Stadtbild, während (halb-)öffentliche Räume verdrängt wurden: Es gab nur wenige Hotels und ein Strandbesuch war selbst für die Mittelschicht kaum bezahlbar.86 Doch die strikte soziale Abschottung löste sich unter dem Eindruck neuer Legitimationsmechanismen und sozialer Funktionsweisen sukzessive auf. So begannen Alva Vanderbilt Belmont oder Tessie Oelrichs, mit ihren medial inszenierten Veranstaltungen Einblicke in ihre sommerlichen Veranstaltungen zu geben;87 und auch Harry Thaw verbrachte in ihrer Gesellschaft mehrere Sommer, in denen er sich bei gesellschaftlichen Veranstaltungen sichtbar machte oder zur Saison 1901 sogar medienwirksam ein eigenes Cottage anmietete.88 Die Medien beteiligten sich aktiv an dieser Sichtbarmachung, indem sie in diesen exklusiven Gesellschaftsraum vordrangen, wie zum Beispiel 1902, als die New York World das bis dahin geltende Fotografieverbot in Newport brach.89 Die so sichtbar gemachte High Society rezipierte ihre Angehörigen nicht nur über ihre Face-to-Face- oder Encounter-Öffentlichkeiten – den Treffen bei gesellschaft­ lichen Veranstaltungen –, sondern nahmen sich auch gegenseitig über die Presseberichterstattung wahr. So berichtete das High Society-Mitglied Elizabeth Wharton Drexel (1868-1944) über ihre Aufenthalte in Newport zur Jahrhundertwende: »We read the reports of our doings much more eagerly I suppose than anyone else, for they gave us a sort of perspective upon our circle, converting it very often into a series of triangles, whose story sounded like rather malicious gossip but might have some truth in it!«90 Sommersaison in Europa: Vergnügungsraum und Vergesellschaftungsmöglichkeiten Indem die High Society-Mitglieder nicht mehr gleichzeitig dieselben Räume teilen mussten, um zusammen wahrgenommen zu werden, bot sich ihnen die Möglichto the Fantastic Life of The 400, New York 1908, S. 105-8. Zur Mobilität und Vernetzung als Distinktionsmerkmale vermögender Klassen vgl. Simone Derix: »Grenzenloses Vermögen. Räumliche Mobilität und die Infrastruktur des Reichtums als Zugänge zur historischen Erforschung des »einen Prozents««, in: Gajek et al.: Reichtum, S. 164-81, hier S. 169. 85 Vgl. Burne-Jones: Dollars, S. 130-1. 86 Vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 24-6; Gregory: Families, S. 196-9. 87 Vgl. Sterngass: First Resorts, S. 226-7. 88 Vgl. Thaw: Traitor, S. 99; Society’s Sunday Review, New York Tribune, 13.4.1901, S. 9. 89 Vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 25. 90 Drexel: Turn, S. 88.

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keit, nicht mehr als Ergänzung zu Newport, sondern alternativ die Sommersaison in Europa zu verbringen.91 Damit wurden die Angehörigen der High Society Teil einer kulturellen Tourismuspraxis einer transnationalen Oberschicht aus Europäer*innen und Ameri­ka­ ner*innen.92 Sie schufen zur Jahrhundertwende ein »paneuropäische[s] Freizeit­ netz«,93 das sich von den Seebädern der Nordsee über die Haupt- und Kurstädte Mittel- und Westeuropas bis zu den südeuropäischen Küstenstädten spannte.94 Auch diese Besuche folgten einem festen Zeitplan. Das transnationale Publikum hielt sich im Herbst in Paris auf und verbrachte den Winter an der Côte d’Azur oder der italienischen Riviera. Erst dort schloss sich ihm die amerikanische High Society an, die durch die New Yorker Wintersaison verhindert gewesen war. Im Frühjahr verlagerte man sich entweder in die mitteleuropäischen Kurorte, wie Baden-Baden, Aix-les-Bains und Spa, oder besuchte eines der Bergressorts in den Schweizer Alpen. Von Mai bis Juni lockte wieder Paris mit kulturellen und gesellschaftlichen Veranstaltungen. Im späten Juni zogen sich die Briten*innen aufgrund des Beginns ihrer Londoner Saison vom europäischen Festland zurück. Entweder folgten ihnen die Amerikaner*innen oder sie verblieben bis in den Herbst in Frankreich.95 Dann mussten sie in die USA zurückkehren, denn im Gegensatz zu den amerikanischen Expatriat*innen in Europa sollten die High Society-Mitglieder das Ende der Sommersaison in Newport oder Saratoga nicht gänzlich außer Acht lassen und mussten spätestens zur Wintersaison wieder zurück in New York sein.96 Zwar unterschieden sich die europäischen Tourismusorte und -regionen durch ihre konkreten Konsum- und Vergnügungspraktiken voneinander. Doch für die High Society homogenisierte sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts der Kontinent zum touristischen Erlebnisraum:97 Monte Carlo war die Hochburg des Glückspiels, Nizza und Biarritz waren wegen ihrer Grandhotels und Promenaden beliebt 91 Vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 27. 92 Erst Ende der 1930er Jahre begann die Presse, High Society nicht mehr allein als westliches Phänomen zu konstruieren, vgl. Hornung: Welt, S. 115-6, insb. Anm. 37. 93 Hasso Spode: Zeit, Raum, Tourismus. Touristischer Konsum zwischen Regionalisierung, Nationalisierungund Europäisierung im langen 19. Jahrhundert, in: Winfried Eberhard/Christian Luebke/Madlen Benthin (Hg.): Die Vielfalt Europas. Identitäten und Räume, Leipzig 2009, S. 251-64, hier S. 258. 94 Vgl. ebd., S. 260. 95 Vgl. Harvey Levenstein: Seductive Journey. American Tourists in France from Jefferson to the Jazz Age, Chicago 1998, S. 144-6. Für diese touristische Praxis aus europäischer Perspektive am Beispiel der Familie Thyssen vgl. Derix: Thyssens, S. 194-208. 96 Vgl. Lynne Withey: Grand Tours and Cook’s Tours. A History of Leisure Travel, 1750 to 1915, New York 1998, S. 117-9. Zu amerikanischen Expatriat*innen etwa in Venedig vgl. Hanne Borchmeyer: Das amerikanische Künstlermilieu in Venedig. Von 1880 bis zur Gegenwart, Zugl.: München, Univ., Diss., 2011 (= Schriftenreihe des Deutschen Studienzentrums in Venedig, N. F., 10), Berlin 2013. 97 Vgl. Spode: Zeit, S. 253, 260, 262-3.

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und Paris war in mehrfacher Hinsicht das wichtigste Reiseziel. Dort fielen Konsum, Vergnügen, socializing und (mediale) Sichtbarkeit zusammen.98 Die Homogenität des touristischen Erlebnisses mit ihren lediglich »feinen Unterschieden« (Pierre Bourdieu) vergesellschaftete die Mitglieder der High Society in Europa: Verhaltensweisen wurden zugleich produziert und rezipiert, was bestehende Distinktionskriterien festigte. Exemplarisch zeigt sich das an Kurorten wie Baden-Baden oder Bad Ischl. Dort konnte die High Society einerseits ihrer körperlichen Erholung und dem touristischen Naturerlebnis nachgehen; andererseits war dies eingebettet in Räume, die Hasso Spode als »Orte des Unauthentischen«99 bezeichnet. Die in (Hotel-)Restaurants, Casinos oder Gartenanlagen sichtbaren Akteur*innen suggerierten vordergründig soziale Durchmischung, während eigentlich räumliche und soziale Exklusionsmechanismen bestätigt wurden.100 In diese touristischen Praktiken reihte sich auch Harry Thaw ein, als er beispielsweise 1895 in Bad Homburg weilte oder im Sommer 1899 nach Aix le Bains fuhr, um dort mit der anwesenden High Society bei Bädern, Sport und Glücksspiel zu kuren.101 Für Kurorte und Grandhotels der Küstenstädte nimmt der Tourismushistoriker John Walton an, dass sie »melting pots«102 der inter- und transnationalen High Society waren.103 Dem widerspricht Juliane Hornung überzeugend für die Zwischenkriegszeit, in der sich die amerikanische High Society durch ihre legitimatorischen Fokussierung auf die heimische Berichterstattung von Europäer*innen und transnationalen Vermögenden abgrenzte.104 Für die frühe High Society bedarf es hier jedoch einer Differenzierung: Da sie sich noch immer habituell an der Upper Class orientierte beziehungsweise mit dieser überschnitt, bestimmten deren Verhaltensweisen die High Society noch stärker. Dies zeigt sich am Umgang mit Adeligen, die aus Perspektive der Upper Class soziales Kapital versprachen, weshalb zur Jahrhundertwende noch häufiger transnationale Ehen geschlossen wurden als nach dem Ersten Weltkrieg.105 Am prominentesten suchte Alva Vanderbilt Belmont in der britischen season nach einem adeligen Bräutigam für ihre Tochter Consuelo (1877-

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Vgl. Levenstein: Journey, S. 147-52. Spode: Zeit, S. 259. Vgl. ebd., S. 259-60. Vgl. Thaw: Traitor, S. 29-30, 61; zu diesen Praktiken vgl. Derix: Thyssens, S. 198-200. John K. Walton: Seaside Resorts and International Tourism, in: Eric G. E. Zuelow (Hg.): Touring Beyond the Nation, Florence 2011, S. 19-36, hier S. 22. 103 Vgl. ebd., S. 22, 24; ebenso in Spode: Zeit, S. 259. 104 Vgl. Hornung: Welt, S. 111-3. 105 Vgl. Maureen E. Montgomery: ›Natural Distinction‹: The American Bourgeois Search for Distinctive Signs in Europe, in: Rosenbaum/Beckert: American Bourgeoisie, S. 27-44, hier S. 33-4, 36-7. Obwohl nicht explizit thematisiert, dürften race und Religion eine implizite Rolle in der High Society-Berichterstattung gespielt haben, vgl. Hornung: Welt, S. 91-2.

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1964).106 Entsprechend waren zur Jahrhundertwende in New York nicht nur amerikanisch-britische Adelige Teil der High Society-Berichterstattung, sondern auch europäische Aristokrat*innen.107 So pflegte Harry Thaw enge Kontakte zu europäischen Adeligen aus Frankreich, Italien oder Russland.108 Da etliche Mitglieder der europäischen Aristokratie am Ende der europäischen Saison mit ihm nach Newport oder New York aufbrachen – so das polnische Grafen-Paar Potocki oder die gebürtige Amerikanerin Lady Paget –,109 zeigten sich zur Jahrhundertwende bereits transnationale Tendenzen innerhalb der High Society. Die race der (süd-)osteuropäischen Ade­ ligen war dabei im aufkommenden eugenischen Diskurs über die Minderwertigkeit der Bevölkerung dieser Regionen unproblematisch, waren sie doch aufgrund ihrer aristokratischen Abstammung davon ausgenommen;110 eine Tendenz, die sich in der High Society bis in die 1930er Jahr hielt.111 Zugleich bildete Europa für die High Society einen Raum, der ihnen als »entortete Spaßgesellschaft«112 mehr Freiheit von den gesellschaftlichen Beschränkungen in den USA bot. Thaw nutzte ihn für mehrere Affären in Paris und London, und verbrachte den Sommer 1902 – medial unbemerkt – in Irland, »with a couple of girls not in society«.113 Dabei galt das Paris der Jahrhundertwende als besonders libertär, wo Amerikaner*innen gesellschaftliche Schranken überschreiten konnten, um die »sexual titillation as a goal of [American] tourism«114 einzulösen.115 Zentraler Anlaufpunkt dafür war Montmartre, das wesentlich explizitere Ausdrucksformen offe-

106 Vgl. Amanda Mackenzie Stuart: Consuelo and Alva Vanderbilt. The Story of a Daughter and a Mother in the Gilded Age, New York 2006, S. 102-3, 116-7. 107 Vgl. Maureen E. Montgomery: ›Gilded Prostitution‹. Status, Money and Transatlantic Marriages, 1870-1914, London/New York 1989, S. 40-3, 160-2. Das unterschied die frühe High Society grundlegend von der Café Society der 1930er und dem Jet Set der 1950er Jahre, da erst in der Zwischenkriegszeit die Transnationalität eine immer wichtigere Bedeutung bekam, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, vgl. Thierry Coudert: Café Society. Socialites, Patrons, and Artists, 1920-1960, Paris 2010. 108 So etwa mit dem polnischen Graf und Gräfin Roman Potocki sowie Graf Josef Gizycki, dem italienischen Marquis Rudini oder dem französischen Grafen Jean de Ganey, vgl. Thaw: Traitor, S. 51, ferner die Fotografien auf S. 52-3, 73. 109 Vgl. ebd., S. 81, 99. 110 Vgl. Antony Gerald Hopkins: American Empire. A Global History, Princeton/Oxford 2018, S. 319-20. 111 Vgl. Hornung: Welt, S. 91-2. 112 Spode: Zeit, S. 260. 113 Vgl. Thaw: Traitor, S. 31-3, 103, Zitat: S. 103. Zu seiner Affäre zwischen 1901 und 1902 vgl. Briefe von Minnie Newbold/Kentworth an Harry Thaw [1901, 1902], UC, Container 3; Testimony of Harry K. Thaw before the Commission Appointed to Examine into the Mental Condition of the Said Harry K. Thaw, Typescript, S. 596, CPP, HLM, 10d 141. 114 Levenstein: Journey, S. 209. 115 Vgl. ebd., S. 198-200, 203.

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rierte als das New Yorker Tenderloin.116 Zentrale Attraktion waren die Varietés wie das berühmte Moulin Rouge, in dem zwar biedere Tänze gezeigt wurden, in dessen Lobby aber auf Kundschaft wartende Prostituierte bestaunt werden konnten, die sich im Le Rat Mort gar unter das Publikum mischten.117 Auch Harry Thaw besuchte diese Vergnügungsorte, 1904 gar in Begleitung von Evelyn Nesbit.118 Dabei zeigt sich exemplarisch, dass Europa für amerikanische High SocietyTourist*innen als libertärer Möglichkeitsraum erfahren wurde, der sich im Detail deutlich von den Wertevorstellungen des viktorianischen Amerika unterschied. Was in Europa zur Jahrhundertwende in Bezug auf Sexualität und den Vergnügungskonsum er- und ausgelebt werden konnte, wiederholte sich hier 20 Jahre später mit dem ungestörten Alkoholkonsum während der Prohibition in den USA.119 Neben diesem Vergnügungs- und Vergesellschaftungsraum dienten die Europareisen der High Society vor allem zur gesellschaftlichen Distinktion. Bis in die 1880er Jahre hatten junge Upper Class-Generationen den Weg nach Europa als Bildungsreisende im Sinne einer Grand Tour entlang kultureller Reiseziele angetreten.120 Dies geriet unter Druck, als die nouveaux riches die darin liegende Legitimationsmöglichkeit für ihre soziale Stellung erkannten und damit nun ebenfalls ihre »›inherent‹ sensitivity and refinement« unter Beweis zu stellen versuchten.121 Ende des 19. Jahrhunderts forderte die amerikanische Bourgeoisie die distinktive Exklusivität dieser Reisen ganz grundlegend heraus. Für sie bestand vermehrt die Möglichkeit der Überseereise, da die Schifffahrtsgesellschaften die zweite Klasse ausbauten, die Taktungen erhöhten und folglich die Preise sanken.122 Auch erreichten Pauschalreisen von Anbietern wie Thomas Cook mit kulturellen Reiseprogrammen seit den 1880er Jahren ein immer größeres Publikum, sodass die Tourismusforschung von einer ­ersten Welle des Massentourismus um die Wende zum 20. Jahrhundert spricht.123 Juliane Hornung kritisiert in diesem Zusammenhang zu Recht, dass die Tourismusforschung mit der klaren Unterscheidung der Reiseziele zwischen vergnügungsorientierter High Society und kulturell interessierter Bourgeoisie den historischen 116 1894 verschob die kaum bekleidete Tänzerin La Bella Oterò (1868-1965) das erotisch Zeigbare in ihrem skandalösen Debüt im Folies Bergère. Rund zehn Jahre später konnte Mata Hari (1876-1917) bereits nackt auftreten, vgl. Catherine Guigon: Les Cocottes. Reines du Paris 1900, Paris 2012, S. 44-65. 117 Vgl. Levenstein: Journey, S. 201-2. 118 Vgl. Evelyn Nesbit Thaw Breaks Down And Wheps Under Fire From Jerome, Evening World, 21.2.1907, S. 1, hier S. 1. 119 Vgl. Hornung: Welt, S. 110. 120 Vgl. Hal Rothman: Devil’s Bargains. Tourism in the Twentieth-Century American West, Lawrence 1998, S. 32. 121 Vgl. William W. Stowe: Going Abroad. European Travel in Nineteenth-Century American Culture, Princeton 2017, S. 5-6, Zitat: S. 5. 122 Vgl. Levenstein: Journey, S. 129-30, 160-2. 123 Vgl. Rüdiger Hachtmann: Tourismus-Geschichte, Göttingen 2007, S. 66-9.

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Sachverhalt zu stark simplifiziere. Zwar machte die amerikanische High Society Freizeit und Konsum zu Leitfäden ihres (touristischen) Lebensstils, doch legt Hornung überzeugend dar, dass diese noch in den 1930er Jahren kulturelle Aktivitäten betrieb.124 Die High Society fand daher verschiedene Wege, um ihre Europareisen spezifisch zu gestalten. Dies zeigte sich bereits bei der Überfahrt mit den Transatlantikdampfern. Ganz auf den Passagiertransport ausgelegt, verfügten sie über eine luxuriöse Erste Klasse, deren Gesellschaftsbereiche und Passagierdecks baulich strikt von den Räumlichkeiten der anderen Klassen getrennt waren.125 Die Schiffe funktionierten gemeinhin als »›offene‹ Clubs auf Zeit«,126 die es ermöglichten, in einem überschaubaren Zeitraum gewisse Vermögenskulturen und Vorstellungen eines elitären Lifestyles in einer Encounter-Öffentlichkeit (vor) zu leben und zu bestätigen.127 Besonders relevant war in dieser Beziehung die eigene Sichtbarkeit. Die Tageszeitungen kündigten die Abreise der High Society-Mitglieder bereits vor der Abfahrt an, sodass es zu entscheiden galt, mit wem man an Bord verkehren wollte. Denn mit seiner Begleitung setzte man sich den Blicken der Mitreisenden aus und verortete sich sozial.128 Auch Harry Thaw nutzte die Überfahrten zur Distinktion, beginnend bei der Wahl des Schiffes, wobei er stets die modernsten und luxuriösesten Linienschiffe auswählte, welche die internationalen Reedereien anboten.129 Gemeinsam mit seinem eigenen Butler belegte er mehrräumige Privatsuiten in der Ersten Klasse.130 Mit Blick auf die Passagierlisten zeigt sich, dass er vor allem auf den Überfahrten nach Europa in Begleitung ihm bereits bekannter High Society-Mitglieder reiste,131 darunter Upper Class-Personen wie Mrs. Astor, aber auch Schauspielerinnen wie Edna Goodrich (1883-1972) oder die Theater- und Literaturagentin Elisabeth Marbury (1856-1933).132

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Vgl. Hornung: Welt, S. 110-3, v. a. S. 110. Vgl. Schellenberger: Kulturraum, S. 133-4. Levenstein: Journey, S. 125-7. Schellenberger: Kulturraum, S. 135. Vgl. ebd., S. 134-6. Vgl. Foster Rhea Dulles: Americans Abroad. Two Centuries of European Travel, Ann Arbor 1964, S. 75-6. So etwa die RMS Oceanic, die SS New York und die Kaiser Wilhelm der Große, vgl. What Is Doing in Society, New York Times, 6.11.1900, S. 7; What Is Doing in Society, New York Times, 26.3.1901, S. 9; Nesbit: Prodigal Days, S. 80-1, 117, 129; zu den Schiffen vgl. Stephen R. Fox: Transatlantic. Samuel Cunard, Isambard Brunel, and the Great Atlantic Steamships, New York 2003, S. 240-2, 383-5. Die Distinktion bei Schiffsreisen war auch deshalb so entscheidend, da diese immer alltäglicher schienen, vgl. Edmund C. Stedman/Thomas L. Stedman: The Complete Pocket-Guide to Europe, 5. Aufl., New York 1904, S.  x-xii. Vgl. Thaw: Traitor, S. 131. Vgl. etwa Relating to Society, New York Daily Tribune, 27.2.1901, S. 7. Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 117-8, 140. zugangswege in die high society

Harry Thaw in Europa: Grand Tour oder Vergnügungsreise? Mit Blick auf Harry Thaws Reiseverhalten in Europa zwischen 1895 und 1902 fällt auf, dass dieses exemplarisch für die Entstehungsphase der High Society und sein Grenzgängertum zwischen dieser und der Upper Class war. Denn an ihm zeigt sich der Übergang von bildungsorientierter Grand Tour zur konsum- und vergnügungsorientierten High Society-Reise durch Europa. Beispielhaft verdeutlichen das drei Reisen von Harry Thaw in den Jahren 1894/5, 1897 und 1900. Sie führten ihn zuerst von Frankreich aus über den Balkan nach Konstantinopel und Kairo, von dort nach Südfrankreich, Spanien und Marokko. Ein weiteres Mal reiste er von Stockholm über Moskau ans Schwarze Meer, wo er Odessa besuchte, bevor er über Warschau zurück nach Paris fuhr.133 Hinzu kamen mehrere ausgiebige Bergtouren unter anderem auf den Mont Blanc und Großglockner.134 Während insbesondere kulturelle Reiseerfahrungen seine Stationen in Südosteuropa, im Nahen Osten und Nordafrika dominierten, verweisen der Alpinismus und die Reisen nach Russland respektive den Kaukasus aufgrund der teils abenteuerlichen Reisebedingungen auf den Genderaspekt seiner Europareisen.135 Aus diesem Blickwinkel standen sie sowohl in der Tradition kultureller Bildungsreisen als auch für den amerikanischen Männlichkeitsdiskurs der Jahrhundertwende. Das unter Druck geratene viktorianische Konzept der moralischen, werteorientierten manhood wurde ab den 1890er Jahren mit dem der masculinity ergänzt, das durch Diskurse über das Frontier-Theorem, einen neuen Nationalismus und den Sozialdarwinismus geprägt wurde. Es betonte in Abgrenzung zur feminity die physische Stärke, männliche Sexualität und Durchsetzungskraft, die aktiv unter Beweis gestellt werden musste.136 Damit können Thaws Reisepraktiken als das Ausloten neuer Grenzen, Bestätigung seiner Sportlichkeit und performative Demonstration seiner Männlichkeit gedeutet werden. Diese sportlichen Leistungen und charakterliche Stärke ließen sich ferner als Substitut für Thaws fehlende wirtschaftliche Betätigung und Erfolg im Diskurs des amerikanischen self-made man deuten.137 Zudem stand, wo möglich, Konsum auf Thaws Agenda. Davon zeugen seine luxuriösen Hotelaufenthalte – im Pariser Ritz, im Londoner Claridge’s oder Roms Quiri-

133 Vgl. Thaw: Traitor, S. 23-6, 35-45. 134 Vgl. ebd., S. 61-3, 90-92. 135 Vgl. ebd., S. 117-8. Zum Alpintourismus vgl. Laurent Tissot: »From  Alpine Tourism to the ›­Alpinization‹ of Tourism«, in: Zuelow: Touring, S. 59-78, hier S. 60-4. 136 Vgl. Michael S. Kimmel: Manhood in America. A Cultural History, New York 1997, S. 89-98, 119-20, 137-41. 137 Vgl. Adelheid von Saldern: Amerikanismus. Kulturelle Abgrenzung von Europa und US-Nationalismus im frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 2013, S. 166.

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nale –138 oder der Erwerb von Antiquitäten.139 Die west- und mitteleuropäischen Reiseziele ermöglichten ihm dabei, Kultur, Konsum und Vergnügen stärker zu vermischen, wobei Letztere im Vordergrund standen.140 So stellte Harry Thaw im Sommer 1895 in Rom fest, dass er nach seiner Rückkehr aus Ägypten seinen Fokus wieder auf Gesellschaftsereignisse gelegt habe: »For after that [trip to the East] my stay in Europa was a round of meeting with friends in different places.«141 Mit diesen traf er sich entweder zufällig, wie das New Yorker Ehepaar der Townsend Burdens in Paris, oder verabredete sich mit ihnen über ganz Europa, wie mit C. B. Alexander in Cannes zu einem Segelturn auf dessen Yacht.142 Dabei führten ihn ebenso wie die anderen, über Europa verstreuten High Society-Mitglieder feste Rituale rhythmisch wieder in Paris zusammen, wie die Modeschauen im Februar und August oder die Pferderennen im Hippodrome d’Auteuil während des Frühjahrs.143 An seinen dor­ tigen Tagesabläufen zwischen Ausflügen, Café- und Theaterbesuchen lässt sich ­ab­lesen, dass Vergnügen und gesellschaftliche Zusammentreffen im Zentrum standen.144 Thaw kann daher auch beim Reisen – seien es transeuropäische Bildungs­­ reisen oder stärker gesellschafts- und konsumorientierte Vergnügungsreisen  – als Repräsentant der Entstehungsphase der High Society zur Jahrhundertwende betrachtet werden.145 Mediale Sichtbarkeit der High Society in Europa Der Aufenthalt in Europa unterschied sich zudem maßgeblich von den amerikanischen seasons durch die weniger starke Medienpräsenz. Zwar hatten Massenmedien, Newsreel-Produzenten und Bildagenturen bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein internationales Netz an Niederlassungen eröffnet.146 Doch waren diese bezüglich der Gesellschaftsberichterstattung in Europa nicht ähnlich gut ausgebaut wie in den Vereinigten Staaten. Dementsprechend wichtig war es, soziale Zugehörigkeit nicht 138 Vgl. Thaw: Traitor, S. 24, 60, 73. 139 Vgl. ebd., S. 25-7. Zu dieser Praxis der High Society vgl. Johannes Gramlich: Die Thyssens als Kunstsammler. Investition und symbolisches Kapital (1900-1970), Zugl.: München, Univ., Diss., 2013 (= Familie – Unternehmen – Öffentlichkeit, 3), Paderborn 2015, insb. Kap. 2 und 3. 140 Vgl. Thaw: Traitor, S. 25. 141 Ebd., S. 24. 142 Vgl. ebd., S. 24, 72, 102. 143 Vgl. Levenstein: Journey, S. 147-52; Cable: Top Drawer, S. 116-8. Zu Pferderennen als elitärer Sportart im Kontext der High Society vgl. Felix de Taillez: Zwei Bürgerleben in der Öffentlichkeit. Die Brüder Fritz Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza (=  Familie  – Unternehmen – Öffentlichkeit, 6), Paderborn 2017, S. 154-70. 144 Vgl. Thaw: Traitor, S. 23-9, 72, 85-6. Zu diesen Abläufen vgl. Julian Leonard Street: Paris à la Carte, New York 1912, S. 26-7, 70-2. 145 Vgl. Beard: After the Ball, S. 69-78. 146 Vgl. Raymond Fielding: The American Newsreel. A Complete History; 1911-1967, 2. Aufl., Jefferson 2006, S. 121; Ponce de Leon: Self-Exposure, S. 76-82.

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nur medial, sondern bei Encounter-Ereignissen zu demonstrieren. Doch desillusionierte der Lebemann und Society-Schriftsteller Charles Wilbur de Lyon Nicholls (1854-1923) in seinem Ratgeber zur High Society seine Leser*innen: »[D]o not suffer yourself to be deluded into the belief that the entree into America’s exclusive set is to be secured through European social alliances or meeting fashionable Americans abroad«.147 Es waren nicht allein die Kontakte in Europa, sondern deren Rezeption in den amerikanischen Medien, die für die Zugehörigkeit zur High Society ausschlaggebend waren.148 Dabei machten amerikanische Medien sowohl in den USA als auch in Europa die Tourist*innen sichtbar. Für die Sichtbarkeit auf dem alten Kontinent war der Medien­unternehmer James Gordon Bennett Jr. (1841-1918) die zentrale Figur. Er hatte 1887 mit dem Paris Herald einen Ableger seines New York Herald gegründet. Auch wenn die Zeitung seine Freizeitbeschäftigung war und bis zum Ende des Ersten Weltkriegs unprofitabel blieb, nahm sie doch eine wichtige Funktion für amerikanische Tourist*innen ein:149 Laut Al Laney, einem Redakteur der europäischen Ausgabe der New York Herald Tribune im Paris der 1930er Jahre, gründete Bennetts Paris Herald auf der Überlegung, dass amerikanische Reisende in Europa vor allem an social news interessiert seien und insbesondere die High Society an ihrer eigenen Formation größtes Interesse hätte: He ran the paper on the theory that people in society and Americans in general were much more interested in seeing their names in print than in reading large amounts of news. Americans wanted, Bennett held, to know where the Countess of So-and-So was at the moment and what their friends who had come over with them aboard ship, or ahead of them, were doing.150 Dementsprechend machte der Paris Herald auf seiner zweiten Seite das amerikanische Gesellschaftsleben und damit das Treiben der High Society sichtbar.151 Dazu hatte die Zeitung Korrespondent*innen in den wichtigsten Kurorten, Haupt- und Küstenstädten, die teils selbst adelig waren, um den Zugang in die halböffentlichen Räume der High Society zu erhalten. Die daraus resultierende society page machte die Zeitung nicht nur bei Amerikaner*innen, sondern sogar an europäischen Höfen beliebt.152 Mit dieser vereinheitlichenden Berichterstattung half der Paris Herald, die High Society als transnationale Formation zu generieren, die sich über ihre Medien-

147 Nicholls: Peerage, S. 88. 148 Vgl. ebd., S. 88-9. 149 Vgl. Michael Nelson: Americans and the Making of the Riviera, Jefferson 2008, S. 33; Al Laney: Paris Herald. The Incredible Newspaper, Neuaufl., New York 1968 [1947], S. 18-9. 150 Ebd., S. 20. 151 Vgl. Nelson: Americans, S. 34. 152 Vgl. Laney: Paris, S. 24-5.

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präsenz formierte und legitimierte.153 Auch Thaw tauchte regelmäßig in dessen Gesellschaftsberichterstattung auf: Etwa in Berichten über Dinnerveranstaltungen, wie im Mai 1900 im Pariser Armenonville oder im April 1902 bei der detaillierten Beschreibung eines Balls des Cercle Nautique in Cannes.154 Wie bereits von Charles W. de Lyon Nicholls betont, war jedoch zentral, dass die Angehörigen der High Society auch während ihrer Abwesenheit in der amerikanischen Heimatpresse sichtbar blieben. So berichtete etwa die New York Times regelmäßig in ihrer Gesellschaftsrubrik »Society at Home and Abroad« über wichtige außeramerikanische Ereignisse wie Reiseabläufe, konkrete Aktivitäten oder außergewöhnliche soziale Vorkommnisse.155 Die Meldungen stammten teils von Nachrichtenagenturen wie der Associated Press, die High Society-Mitglieder einem nationalen Publikum sichtbar machten,156 oder von eigenen Korrespondent*innen wie dem der New York Tribune. Der berichtete bereits zur Jahrhundertwende regelmäßig in der Society-Spalte »Paris«157 und wusste etwa für den 27. Mai 1900 zu melden, dass neben Mr. und Mrs. Cornelius Vanderbilt auch Harry Thaw die Pariser Weltausstellung besucht hatte.158 Besonderes Augenmerk kamen human interest stories zu, etwa wenn Mitglieder der Familie Vanderbilt bei einem Ausflug verunglückten oder die gefeierte Tänzerin Isadora Duncan (1877-1927) einen Heiratsantrag von Harry Thaw ablehnte.159 Die Berichterstattung über die europäische High Society-Season entwickelte sich zur Jahrhundertwende ausgehend von konservativen society pages hin zu stärker akteurszentrierten Berichten über Aktivitäten, Konsumpraktiken und Gesellschaftsereignisse. Hierbei galten die gleichen Mechanismen wie für die »Society at Home«, wenngleich im Vergleich zu den amerikanischen seasons die Intensität der Berichterstattung schwächer und die mediale Aufmerksamkeit, vor allem außerhalb der touristischen Hotspots, geringer war. An Thaw zeigt sich somit, wie er sich zur Jahrhundertwende, ausgehend von Ritualen und Verhaltensweisen der Upper Class, als High Society-Mitglied etablierte. Auf 153 Zur Zugkraft dieser medialen Sichtbarkeit auch für Nicht-Mitglieder vgl. Hornung: Welt, S. 114-5. 154 Vgl. Personal Intelligence. Paris, Paris Herald, 23.5.1900, S. 2; Cannes Society Notes, Paris Herald, 5.4.1902, S. 3. 155 Vgl. etwa Society at Home and Abroad, New York Times, 5.6.1903, S. 7. über Thaws Geschwister. Für Harry Thaw vgl. etwa What Is Doing in Society, New York Times, 6.11.1900, S. 7. 156 So etwa die Associated Press-Meldung in einem Nebrasker Lokalblatt über die Reise einiger High Society-Mitglieder von Südfrankreich nach Paris, die auch Harry Thaw erwähnt, vgl. Castellanes Are Honored, Omaha Sunday Bee, 21.4.1901, S. 1. 157 Auch die New York Times zog bis Mitte der 1900er Jahre nach und berichtete in der Rubrik »The Time’s Special Cable Dispatches« über die internationalen Aktivitäten der High Society. 158 Vgl. Paris, New York Tribune, 27.5.1900, S. 2. 159 Vgl. Automobile Kills Char. Fair and Wife, New York World, 14.8.1902, S. 1; How Fair Poetic Dancer Jilted Gay Millionaire, Evening World, 13.5.1901, S. 3.

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der einen Seite behinderte sein exzentrisches Verhalten in New York und Europa seine Zutrittsversuche zur New Yorker Oberschicht, da er damit immer wieder deren Distinktionspraktiken missachtete. Auf der anderen Seite gelang es ihm dadurch, mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen, wodurch er in die frühe High Society aufstieg. Im Jahr 1903 resümierte die New York Evening World seine gesellschaftliche (Selbst-)Verortung Thaws wie folgt: »He has the entree into the best society despite a disposition for high jinks.«160 Letztlich zeigte sich, dass Thaw sich durch seine Sichtbarkeit gesellschaftlich etabliert hatte: 1904 lud ihn Mrs. Astor zu ihrem Winterball ein und beförderte ihn damit zu einem Mitglied der New Yorker Upper Class.161 Zugleich nahm ihn der society-Schriftsteller Charles W. de Lyon Nicholls in seine Monographie über »The Ultra-Fashionable Peerage of America« auf, die laut Untertitel »An Official List of those People Who Can Properly Be Called Ultra-­ Fashionable in the United States«162 enthielt – ein Versuch, die relevanten Mitglieder einer sich fragmentierenden Oberschicht zu erfassen und klar abzugrenzen.163 Das Ergebnis war, dass er neben Upper Class- auch High Society-Mitglieder aufführte, wobei er neben 400 New Yorker*innen nur rund 70 weitere Amerikaner*innen nannte, darunter einen einziger Pittsburgher: Harry Thaw.164

»touched the antipodes of blatant ostentation«: Die Adelshochzeit von Alice Thaw Die Erklärung von Harry Thaws Aufstieg in die High Society und seiner Anerkennung durch Mrs. Astor griffe jedoch zu kurz, würde sie nicht parallel seine Familie berücksichtigen. Im Frühjahr 1903 erklomm die Familie Thaw eine neue Stufe im nationalen Ringen um gesellschaftliche Anerkennung: Die Verlobung und Hochzeit von Harry Thaws jüngster Schwester Alice Cornelia Thaw (1880-1955) rückte sie in den Mittelpunkt der nationalen Gesellschaftsberichterstattung. Diese Episode erlaubt es zu untersuchen, wie die Familienmitglieder der Thaws mit dieser Media­ lisierung umgingen und was die kurz- und mittelfristigen Folgen waren. Während Harry Thaw die Wintersaison 1902/3 in Washington verbrachte, mehrten sich Anfang Februar 1903 die Meldungen in den Spalten der Gesellschaftsbe-

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Yarmouth Seeks to Wed Millions, Evening World, 5.2.1903, S. 3. Vgl. Mrs. Astor’s Ball Climax of the Season, New York Times, 12.1.1904, S. 7. Nicholls: Peerage. Diese Distinktionspraxis begründete der social register, der ab 1887 jährlich für einzelne Großstädte diejenigen auflistete, die zur Upper Class gezählt werden konnten. Die Aufnahme erfolgte über Empfehlungsschreiben von fünf bereits gelisteten Mitgliedern, vgl. Higley: Privilege, S. 14-5, 27-30. 164 Vgl. Nicholls: Peerage, S. 20-2.

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richterstattung, dass George F. A. Seymour, 7th Earl of Yarmouth (1871-1940),165 um Harry Thaws Schwester Alice warb. Der in der Presse stets als »Earl« bezeichnete Engländer war zu diesem Zeitpunkt Grenzgänger zwischen Europa und Amerika, Upper Class und High Society und hatte bereits einer Nichte von Alice Thaw Avancen gemacht.166 Im Sommer 1899 war er in die USA gekommen und hatte sich in Newport in die gesellschaftliche Obhut von Mrs. Astor begeben. Trotz seines geringen finanziellen, aber aufgrund seines Adelstitels großen sozialen Kapitals nahm sie ihn während der Wintersaison 1901/2 in den auf 550 Mitglieder erweiterten Kreis der Four Hundred auf.167 Parallel hatte er erfolglos versucht, sich als Journalist und Theaterdarsteller zu etablieren.168 Doch scheiterte er nicht nur am Publikum sondern bereits am Geschäftssinn der Theatermanager, die ihn trotz seines Pseudonyms »Eric Hope« als ersten adeligen Schauspieler Amerikas bewarben.169 Beide Beispiele zeigen, wie der Adelstitel in New York half, gesellschaftliche Kontakte zu knüpfen und mediale Sichtbarkeit zu erzeugen. Im Frühjahr 1901 bescherte ihm eine Verleumdungsklage gegen den Daily Telegraph erneute Aufmerksamkeit, wobei er dem Vorwurf entgegentrat, ein »fortune hunter«170 zu sein. Die Berichterstattung über den Prozess gab ihm zwar die Chance, sich als Lebemann und ausgesuchter Gentleman zu inszenieren, doch untergruben pikante Details wie ein Foto von ihm im Ballerinakleid seine Selbstdarstellung.171 Mit seiner medialen Präsenz, seinen Kontakten und dem Verkehr an zentralen Orten – wie seiner Unterkunft im WaldorfAstoria – schaffte es der Earl, in verschiedenen sozialen Formationen und Klassen Fuß zu fassen und als potenzielles Mitglied der High Society gehandelt zu werden. Als die society pages über das Interesse des Earls an der medial bislang noch kaum sichtbaren Alice Thaw berichteten, führten die Vorgeschichten zu einem eindeutigen Narrativ der New Yorker Zeitungen: »Yarmouth Seeks to Wed Millions«.172 Ihre Verlobung im Frühjahr 1903 machte nicht nur Alice Thaw auf nationaler Ebene erstmals sichtbar,173 sondern auch Harry Thaw rückte wieder in die mediale Aufmerk-

165 Vgl. John Burke/Bernard Burke (Hg.): Burke’s Genealogical and Heraldic History of the Peerage, Baronetage, and Knightage, Privy Council, and Order of Preference, 99. Aufl., London 1949, S. 1001. 166 Vgl. Rejected by Niece, Will Marry the Aunt, Pittburgh Leader, 24.2.1903. 167 Vgl. Mrs. Astor Says Let 400 Be 550, and It Is Done!, New York World, 12.1.1903, S. 1, 6, hier S. 6. 168 Vgl. Earl of Yarmouth Studies New York’s Board of Aldermen, New York World, 25.5.1901, S. 8. 169 Vgl. Yarmouth a Star at $17.50 per Week, Evening World, 8.5.1901, S. 5; Marquis of Hertford Dead, New York Times, 24.3.1912, S. 15. 170 Probing Yarmouth’s Life, Sun, 10.5.1901, S. 10. 171 Vgl. Earl of Yarmouth Star in a Court, New York World, 7.5.1901, S. 2; Yarmouth’s Valet Was Handy as a Savings Bank, New York World, 9.5.1901, S. 4. 172 Yarmouth Seeks to Wed Millions, Evening World, 5.2.1903, S. 3. 173 Die Nachricht verbreitete sich über Nachrichtenagenturen bis zur Westküste, vgl. Objects to Daugther’s Marriage to an Earl, San Francisco Call, 19.2.1903, S. 2.

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samkeit. Er war über die Gesellschaftsberichterstattung mit dem Earl verbunden und hatte scheinbar geholfen, die Ehe mit zu arrangieren.174 Durch den adeligen Bräutigam ging das mediale Interesse über die typische Hochzeitsberichterstattung der Upper Class hinaus, da sich das Sozialkapital der Adelshochzeit und die Medienpräsenz der Akteur*innen gegenseitig bedingten.175 Das Phänomen dieser transnationalen Eheschließungen hatte nach dem amerikanischen Bürgerkrieg eingesetzt, entwickelte sich aber erst seit den 1880er Jahren zu exzeptionellen medialen und gesellschaftlichen Ereignissen.176 Maßgeblich hierfür war die Hochzeit von Consuelo Vanderbilt mit Charles Spencer-Churchill, 9th Duke of Marlborough, im Jahr 1895, als einem der wichtigsten sozialen Ereignisse zur Jahrhundertwende.177 Wichtiger noch war die damit verbundene Steigerung des Sozialprestiges der Vanderbilts. In der Phase des zunehmenden Drucks auf die gesellschaftliche Stellung der Upper Class gelang es ihnen, mit der Hochzeit ihre Familie auf neuem Wege zu legitimieren: Nach der Historikerin Maureen E. Montgomery wirkte diese Heiratspolitik nicht nur als neue Abgrenzungsfunktion im Wettbewerb um soziale Anerkennung, sondern bot zudem die Möglichkeit, sich direkt über die Heredität der europäischen Adelshäuser zu legitimieren.178 Der zeitgenössische britische Investigativjournalist William T. Stead prangerte diese Aneignung historischer und sozialer Legitimation zwar als »gilded prostitution«179 an.180 Dennoch – oder treffender: deshalb  – verheiratete die amerikanische Upper Class bis zur Jahrhundertwende rund 50 ihrer Töchter mit europäischen Adeligen.181 Mit Alice folgten die Thaws nun ebenfalls dieser elitären, prestigeträchtigen und sichtbaren Heiratspolitik. Über die Beweggründe äußerte sich im Februar 1903 Alices 174 Über den Upper Class-Zirkel um Mrs. Astor hatten sie gemeinsame Freunde, wie Lady Cunard oder James Henry Smith, vgl. Mrs. Astor Says Let 400 Be 550, and It Is Done!, New York World, 12.1.1903, S. 1, 6. Zur neuerlichen Medialisierung vgl. etwa Second Thaw to Be Wooed, Pittsburgh Press, 24.2.1903. 175 Vgl. Maureen E. Montgomery: Female Rituals and the Politics of the New York Marriage Market in the Late Nineteenth Century, in: Journal of Family History 23:1 (1998), S. 47-67, hier S. 56. 176 Vgl. dies.: Gilded Prostitution, S. 160, 162-4. 177 Vgl. Wallace B. Eberhard: Consuelo, the Duke, and the Press: Celebrity and Sensationalism in the Gilded Age, in: David B. Sachsman/Dea Lisica (Hg.): After the War. The Press in a Changing America, 1865-1900, London 2017, S. 141-8, hier S. 142-6; Montgomery: Gilded Prostitution, S. 162. 178 Vgl. ebd., S. 44. Diese Ehen beschreibt Dana Cooper als soft power einer transnational (Diplomatie-)Geschichte in dies.: Informal Ambassadors. American Women, Transatlantic Marriages, and Anglo-American Relations, 1865-1945, Kent 2014. 179 William Thomas Stead: The Americanization of the World. Or, The Trend of the Twentieth Century, New York 1902, S. 323. 180 Vgl. Montgomery: Gilded Prostitution, S. 30, 44-5, 163; Hood: Pursuit, S. 219-20. Zum finanziellen Interesse der britischen Peers an den Ehen vgl. Charles Jennings: Them and Us. The American Invasion of British High Society, Stroud 2007, S. 91-106. 181 Vgl. Montgomery: Gilded Prostitution, S. 249-253, Appendix A. Zu den folgenden Aushandlungsprozessen in den Ehen vgl. Derix: Distanzen, S. 50-8.

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Mutter, Mary Copley Thaw. Sie stünde Eheschließungen mit Aristokraten grundsätzlich kritisch gegenüber, würde sich aber dem Wunsch ihrer Tochter nach einer Liebesheirat beugen.182 Diese mediale Selbstdarstellung ist auf mehreren Ebenen bemerkenswert, da interpretatorisch ambivalent: So hatte Mary Copley Thaw versucht, vor der Verlobung mediale Aufmerksamkeit zu vermeiden.183 Ihr Verweis auf das Konzept der Liebesheirat, das sich in den 1900er Jahren vor allem in der Oberschicht durchzusetzen begann,184 widersprach jedoch einerseits der bisherigen, strategischen Heirats­ politik der Thaws, andererseits ihrem Verhalten im Folgejahr, als sie über Monate hinweg den Heiratswunsch ihres Sohnes Harry mit Evelyn Nesbit kategorisch ablehnte.185 Plausibler scheint, dass Mary Copley Thaws Aussage ihre eigene Motivation für die Heirat kaschieren sollte. Eine Hochzeit in die britische Aristokratie stellte genau die Form von Sozialkapital dar, die ihre Familie aus der regionalen Oberschicht der Industriestadt Pittsburgh auf eine Stufe mit Mitgliedern der nationalen Upper Class aus New York stellen würde.186 Dafür spricht auch, dass die Trauung in einer Pittsburgher Episkopalkirche stattfand, womit die Thaws, selbst Presbyterianer*innen, eine Verbindung zu dieser elitären Glaubensrichtung der amerikanischen Upper Class herstellten.187 Dennoch stand diese Form des sozialen Kapitals aus Adelsbeziehungen bereits seit der Jahrhundertwende wieder in der Kritik der Oberschicht und Medien: Für Erstere büßten diese Ehen wegen ihrer zunehmenden Häufigkeit an Sozialprestige ein, während Letztere ein zunehmend zynisch-nationalistischer Ton prägte, wonach die Hochzeiten nur Geldgeschäfte zu Lasten der amerikanischen Volkswirtschaft seien.188 Zwischen den Polen aus Sozialprestige und -kritik bewegte sich auch die mediale Berichterstattung über die Hochzeit von Alice Thaw. Diese diente mit ihren Beschreibungen und Fotografien einem interessierten Lesepublikum generell als Ersatz dafür, selbst nicht eingeladen zu sein.189 Dabei gilt es, zwischen der lokalen und nationalen Berichterstattung zu unterscheiden. Für die lokalen Medien und regionale Oberschicht war die für Ende April 1903 festgelegte Hochzeit »the most important social event of years«190 – entsprechend ausführlich und detailliert berichtete 182 Vgl. Earl of Yarmouth Wins Miss Thaw, New York Times, 18.2.1903, S. 1. 183 Vgl. ebd. 184 Vgl. Kristin Celello: Making Marriage Work. A History of Marriage and Divorce in the Twentieth-Century United States, Chapel Hill 2009, S. 17-8. 185 Siehe Anm. 6 auf S. 56 und Kap. I.3. Zur strategischen Heiratspolitik vgl. Derix: Distanzen, S. 48-9; Daloz: Sociology, S. 95. 186 Mary Copley Thaws pflegte schon länger solche Ambitionen. Anfang der 1880er Jahre ließ sie in Pittsburgh die Villa Lyndhurst errichten, die in Größe, Ausstattung und Setting den New Yorker 5th Avenue-Palästen nacheiferte, vgl. Melanie Linn Gutowski: Pittsburgh’s Mansions, Charleston 2013, S. 22-5. 187 Vgl. Michael Hochgeschwender: Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus, Frankfurt a. M. 2007, S. 126, 257 Anm. 17. 188 Vgl. Montgomery: Gilded Prostitution, S. 160, 163-8. 189 Vgl. Cable: Top Drawer, S. 196. 190 Pittsburgh’s Especial Interest in the Yarmouth-Thaw Nuptials, Pittsburgh Press, 14.3.1903.

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die Lokalpresse.191 Dabei verkehrte sie die sozialen Implikationen der Heirat teilweise ins Gegenteil. So betonte die Pittsburgh Press, welch Ehre es für den britischen Adeligen sei, in eine der besten Familien des Landes einzuheiraten.192 Dagegen berichteten die New Yorker Zeitungen über die Hochzeit differenzierter: Sie analysierten das kontroverse Sozialkapital dieser Adelsheirat in der Upper Class und wiesen auf die Mängel der Partie, namentlich den Ruf des Earl, hin.193 Diese Details stützen die These, dass Mary Copley Thaw gewillt war, prestigemindernde Abschläge in Kauf zu nehmen, um die Adelshochzeit zu verwirklichen.194 Die Medialität der Heirat schien ihren Legitimierungsbestrebungen Recht zu geben: Die lokale und nationale Presse berichtete detailliert über die Vorbereitungen und den eigentlichen Tagesablauf, die 300 geladenen Gäste und die Braut, ihre Kleider und Geschenke.195 Während die weiblichen Mitglieder der Familie Thaw verbreiten ließen, sie seien »not fond of display«196, und sich damit getreu der medialen Zurückhaltung der Upper Class inszenierten, wird deutlich, dass dies vorgeschoben war. Vielmehr setzten sie in dieser Übergangsphase medialer Handlungsweisen im Gleichschritt mit der Presse neue Medienformate ein: Neben konservativer Upper Class-Berichterstattung, wie den Gästelisten und chronologischen Details, visualisierten nun auch Fotografien die Hochzeit.197 Bereits im Vorhinein begleiteten Studioaufnahmen der Brautleute die Berichterstattung; im Nachgang auch Aufnahmen der Hochzeitsgesellschaft und der geschmückten Kirche (Abb. 2).198 Dies zeigte eine progressive und bewusste Bildpolitik der Familie Thaw, die das mediale Interesse bediente, indem sie private Aufnahmen an die lokale und nationale Presse weitergab:199 Einerseits sollte das 191 Vgl. Miss Thaw to Fill Forth Place, Pittsburgh Press, 27.4.1903. 192 Vgl. Pittsburgh’s Especial Interest in the Yarmouth-Thaw Nuptials, Pittsburgh Press, 14.3.1903. oder A Condensed Sketch of the Ancestry of the Earl and Countess of Yarmouth, in: Pittsburgh Bulletin 47:4 (16.5.1903), S. 6-7, hier S. 6. 193 Vgl. Miss Alice Thaw Will Become the Countess of Yarmouth at Her Home in Pittsburgh, ToMorrow, New York Tribune. Illustrated Supplement, 26.4.1903, S. 6. 194 So akzeptierte sie zudem das Drängen auf eine schnelle Hochzeit, vgl. Gossip of Society, in: Pittsburgh Bulletin 47:2 (2.5.1903), S. 6, 11, hier S. 11. 195 Vgl. auf lokaler Ebene Society, in: Pittsburgh Bulletin 47:3 (9.5.1903), S. 12; auf nationaler Ebene Harry K. Thaw Caused Delay, Boston Daily Globe, 28.4.1903, S. 1, 4; zur Medialität von Adelshochzeiten vgl. Eberhard: Consuelo, S. 145. 196 Earl of Yarmouth’s Wedding, New York Times, 5.4.1903, S. 1. 197 Bei Consuelo Vanderbilts Hochzeit 1895 musste sich die Öffentlichkeit noch mit Stichen begnügen, vgl. Eberhard: Consuelo, S. 145. 198 Studioaufnahmen vor der Ehe siehe z. B. in Miss Alice Thaw Will Become the Countess of Yarmouth at Her Home in Pittsburgh, To-Morrow, New York Tribune. Illustrated Supplement, 26.4.1903, S. 6. Aufnahmen von der Hochzeit in Gossip of Society, in: Pittsburgh Bulletin 47:2 (2.5.) (1903), S. 6, 11, S. 6 und Thaw-Yarmouth Bridal Party Makes a Beautiful Picture, Pittsburgh Dispatch, 30.4.1903. 199 Diese Medialisierungslogik zeigte sich etwa bei der Hochzeit der New Yorker Upper ClassTochter May Goelet mit dem Duke of Roxburghe, die erstmals mit Schnappschüssen dokumen-

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Foto des Brautpaares, inmitten des prunkvollen Anwesens der Thaws, umgeben von Brautjungfern der örtlichen Upper Class, das social standing des Paares demonstrieren. Andererseits inszenierten sie überdeutlich ihr Sozialprestige durch die Fotografien aus der episkopalen Hochzeitskirche und deren Referenz auf vergleichbare Upper Class-Events. Das öffentliche Interesse an diesem Gesellschaftsereignis ging jedoch über das zur Verfügung gestellte Bildangebot der Thaws hinaus. Am Tag vor der Hochzeit schlich sich ein Paparazzo auf das Privatgrundstück von Lyndhurst, der Thaw’schen Stadtvilla in Pittsburgh. Als sich die Hochzeitsgesellschaft »save from intrusion« gefühlt hätte, habe er eine Aufnahme gemacht. »Miss [Alice] Thaw was the first to discover that they had been trapped. ›You impudent scoundrel,‹ she cried, but the photographer had fled.«200 Obwohl der Philadelphia Inquirer leider offen ließ, was mit der Aufnahme geschah, zeigte der Zwischenfall die quer zur Logik der High Society liegende Einstellung von Alice Thaw, zentrale Momente ihres Privatlebens abzuschotten. Derartige Schnappschüsse erlangten zur Jahrhundertwende einen hohen Nachrichtenwert für die Society-Berichterstattung, da sie aufgrund ihrer scheinbaren Authentizität bei den Leser*innen besonders beliebt waren. Zwar behauptete noch 1907 ein Autor in dem Fachblatt Wilson’s Photographic Magazine: »There is no such thing as a photographer of celebrities.«201 Doch empfahl schon 1911 das Handbuch »Library of Amateur Photography«, bekannte Personen in unbeobachteten Momenten aufzunehmen: »Photographs of this kind are always in demand by newspapers as well as monthly publications, which pay fully twice as much for them as for the conventional photographs made in a studio.«202 Dabei prägten die Printmedien das Narrativ, dass diese im Gegensatz zu Studioaufnahmen für unverfälschte und damit vermeintlich authentische Einblicke in das Privatleben der High Society standen.203 Diese Nachfrage bediente die Amateurfotografie, die seit den 1890er Jahren durch Preissenkungen und die zunehmende Mobilität von Handkameras wie der Brownie (1900) von Eastman Kodak zu einem immer populäreren Hobby geworden war und sich der Momentaufnahme als neuem Leitmotiv verschrieben hatte.204 Genau an diesen Schnappschüssen zeigt sich jedoch die Dichotomie zwischen dem Interesse tiert wurde, vgl. Mob of Curious Women Create Unparalleled Scenes of Disorder at the Roxburghe-Goelet Fashionable Church Wedding in New York, St. Louis Republic, 15.11.1903, S. 1. 200 ›Click‹ Went Camera, ›Scoundrel!‹ Cried Bride, Philadelphia Inquirer, 28.4.1903, S. 5. 201 Sidney Allan: Histed  – Photographer of Celebrities, in: Wilson’s Photographic Magazine 44:610 (1.10.1907), S. 457, hier S. 457. 202 American School of Art and Photography: Library of Amateur Photography. Vol. 4: At Home Portraiture, Flashlight, Commercial and Press Photograhy, 4 Bde., Scranton 1911, S. 404. 203 Vgl. Robert E. Mensel: ›Kodakers Lying in Wait‹: Amateur Photography and the Right of Privacy in New York, 1885-1915, in: American Quarterly 43:1 (1991), S. 24-45, hier S. 31; Carlebach: Photojournalism, S. 15-22. 204 Vgl. ebd., S. 21-3; Orvell: American Photography, S. 35-6.

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der medialen Sichtbarmachung durch die Medien und einem neuen Verständnis von Privatsphäre. Erst gut zehn Jahre zuvor war in den USA die rechtliche Debatte über das neu auszuhandelnde Verhältnis von Presse und Privatsphäre von zwei Harvard-Juristen, Samuel Warren und Louis Brandeis, angestoßen worden.205 Auch bei ihnen waren unerlaubte Fotografien ­ ­während einer Hochzeitsveranstaltung die Auslöser g­ewesen, das Thema rechtswissenschaftlich zu behandeln.206 Sie kritisierten, dass »[i]nstantaneous photographs and newspaper enterprise have invaded the sacred precincts of private and domestic life«.207 Diesem »evil of the invasion of privacy by the newspapers«208 müsse ein »right to be let alone«209 entgegengestellt werden. Genau das forderten die Thaws mit ihrer Bildpolitik und der Abschottung ihrer Hochzeitsgesellschaft im privaten Raum ein. Besonders Alice Thaw schien dieser Logik ab­ lehnend gegenübergestanden zu haben, wie ihre scheinbar rabi-

Abb. 2: Die abgedruckte Privataufnahme des Hochzeitspaares (o.) und die der voll besetzten, festlich geschmückten Kirche (u.) zeigen das visuelle Spektrum der Hochzeitsberichterstattung.

205 New York State erließ 1903 als erster Bundesstaat ein Gesetz zum Schutz der Privatsphäre, der bis zum Ersten Weltkrieg zu einem umfassenden Rechtsrahmen entwickelte, vgl. Jessica Lake: The Face that Launched a Thousand Lawsuits. The American Women Who Forged a Right to Privacy, New Haven 2016, S. 117-81. 206 Vgl. ebd., S. 3-4. 207 Samuel Dennis Warren/Louis Dembitz Brandeis: The Right to Privacy, in: Harvard Law Review 4:5 (1890), S. 193-220, hier S. 195. 208 Ebd. 209 Ebd., S. 193.

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ate Reaktion auf den Fotografen zeigte. Gleichzeitig entsprach sie damit einem Gefühl ihrer Zeitgenoss*innen: Handkameras wurde teils als gefährliche und unkontrollierbare Objekte betrachtet, was es umso verstörender machte, ihnen bei Schnappschüssen unerwartet ausgesetzt zu sein.210 Dass Upper Class-Mitglieder auch anders auf dieses öffentliche Interesse reagierten, zeigt das Beispiel weiterer Hochzeitsgäste. Der Pittsburgh Dispatch druckte ein Foto ab, auf dem neben Harry Thaw die Familie des Earl of Yarmouth in der Pittsburgher Innenstadt zu sehen ist. Als der Fotograf die Gruppe in den Sucher seiner Kamera nahm, reagierte die Schwester des Earls ablehnend darauf: »[She] objected to the operation, shielding her face with her parasol,« während dessen Vater »goodnaturedly told The Dispatch man to fire [!] away.«211 Gleichwohl ging zur Jahrhundertwende das mediale Interesse an Hochzeiten als klassische Formen der Gesellschaftsberichterstattung zurück, während weniger harmonische Nahbeziehungen wie Beziehungsprobleme und Affären ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten.212 Der Earl hatte während der Verlobung bereits mit der Kontroverse um seine Person für entsprechende Nachrichtenwerte gesorgt. Im Zuge der Hochzeit legte die Berichterstattung, trotz des sozialen Erfolgs der Thaws, sie in Text und Bild medial sichtbar gemacht zu haben, zwei familiale Zerwürfnisse offen: Erstens blieb Alice Thaws Stiefbruder Benjamin Thaw, »[the] head of the family, both socially and financially«,213 mit seiner Familie der Hochzeit fern. Er weigerte sich zwar, diesen familialen Streitpunkt gegenüber den Medien zu kommentieren. Doch führte das paradoxerweise genau zur Preisgabe dieser konfliktreichen Nahbeziehung, was zur Spekulation führte, dass er die Entscheidung, eine Adelshochzeit medial und sozial zu kapitalisieren, nicht habe mittragen wollen.214 Dies belastete die Familienbeziehung nachhaltig und machte bereits die zwei Fraktionen aus Stiefund leiblichen Kindern von Mary Copley Thaw sichtbar, die sich in dem späteren Mordskandal gegen Harry Thaw deutlich herauskristallisieren sollten.215 Zweitens nahmen Alice Thaws Brüder, Edward und Harry, ebenfalls nicht an der kirchlichen Trauung teil. Sie brüskierten damit ihre Schwester und Mutter sowohl in der Encounter-Öffentlichkeit der geladenen, lokalen Society als auch vor der nationalen Medienöffentlichkeit. Auslöser war ein Eklat mit dem Earl kurz vor der Hochzeitszeremonie: Dieser hatte den Beginn der Zeremonie verzögert, als er plötzlich die Verdopplung der vereinbarten Zuwendung aus Alice Thaws Vermögen auf 5.000 Dollar pro Jahr (heute rund 174.000 Dollar) gefordert hatte.216 Die anwesenden 210 Vgl. Mensel: Kodakers, S. 28-30. 211 Snapshots Taken of the Thaw-Yarmouth Wedding Scenes, Pittsburgh Dispatch, 28.4.1903. 212 Vgl. Hornung: Blick, S. 6. 213 Miss Thaw and Earl Wed, Chicago Daily Tribune, 28.4.1903, S. 3. 214 Vgl. Bride’s Brother Absent from Thaw Wedding, New York Times, 28.4.1903, S. 1. 215 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 139-40. 216 Vgl. Society by Sally Sharp, San Francisco Call, 24.5.1903, S. 48.

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Thaws gewährten ihm die Forderung, um die Hochzeit nicht platzen zu lassen, was Edward und Harry Thaw nicht mittragen wollten.217 Mit ihrer Abreise verursachten sie letztlich das Scheitern einer positiven Medialisierung der Hochzeit, in deren Fokus stattdessen das Familienzerwürfnis und das negative Stereotyp ausbeuterischer Aristokraten rückte.218 Zugleich waren dies genau die Nachrichtenwerte, die einen scheinbar authentischen Blick in die Privatheit der Thaws ermöglichten und damit die Anforderungen der neuen High Society-Berichterstattung bedienten. Diese familialen Konflikte entwickelten sich nicht nur zum »gossip among the fashionable sets in Eastern cities«,219 sondern prägten nachhaltig die Wahrnehmung der Ehe. Das New Yorker Klatschmagazin Town Topics resümierte entsprechend scharfzüngig, die Heirat »[has] touched the antipodes of blatant ostentation«.220 Die erste mediale Sichtbarkeit der Familie Thaw in der nationalen High SocietyBerichterstattung kann daher als partieller Fehlschlag interpretiert werden. Neben dem bereits medialisierten Harry Thaw schafften es seine Mutter und Schwester zwar, mit den Nachrichtenfaktoren der Adelshochzeit die mediale Aufmerksamkeit zu erregen. Doch gelang es ihnen nicht, der kaum zu kontrollierenden Berichterstattung einer aggressiven nationalen Presse Kontra zu geben und deren Eindringen in ihre Privatheit zu unterbinden. Mit der Fokussierung der Medien auf diese zwischenmenschlichen Konflikte griffen sie auf Elemente voraus, die in den folgenden Jahrzehnten typisch für die High Society werden sollten. Mittelfristig schien sich für die Thaws der erwünschte Effekt nach gesteigertem Sozialkapital und Anerkennung durch die New Yorker Upper Class nicht einzustellen. Vielmehr verschwand Alice Thaw ebenso schnell wieder aus der Society-Berichterstattung, wie sie hineingekommen war. Die Hoffnung, sich wie andere, mit Adeligen verheiratete Amerikanerinnen in der Londoner Society sozial und medial zu etablieren, scheiterte an ihrem Mann. Bereits wenige Monate nach der Heirat separierte er sich von ihr, was ihr den Zugang zur englischen Gesellschaft versperrte.221 Unter dem Protest der Thaws spekulierten die amerikanischen Medien über diese Entfremdung des Paares bereits im Jahr nach der Hochzeit.222

217 Vgl. Bride’s Brother Abesent From Thaw Wedding, New York Times, 28.4.1903, S. 1. 218 Vgl. Society by Sally Sharp, San Francisco Call, 24.5.1903, S. 48. 219 For and About Women/Thaw Is Very Frigid, Saint Paul Globe, 29.4.1903, S. 7. 220 Saunterings, in: Town Topics 49:18 (30.4.1903), S. 3-4, hier S. 3. 221 Vgl. Countess of Yarmouth Has Marriage Tie Cut, Evening World, 5.2.1908, S. 2. Mit ähnlichen Anerkennungs- oder Orientierungsproblemen kämpften die meisten Amerikanerinnen in der britischen Peerage, vgl. Jennings: American Invasion, S. 93-5. 222 Vgl. Countess of Yarmouth Happy Declares Her Mother, Denying Story of Estrangement, New York World, 29.8.1904, S. 7.

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2.2. »Little Butterfly«: Evelyn Nesbits Karriere in der High Society (1900-3) Bis zum Alter von 14 Jahren fand Evelyn Florence Nesbits Leben sowohl außerhalb der Medien als auch jenseits von New York statt. Sie wurde am 25. Dezember 1885 in der Kleinstadt Tarentum, nahe Pittsburgh, geboren.223 Ihre Eltern, der Anwalt Winfield Scott Nesbit (1856-1896) und Evelyn Florence Nesbit224, waren Teil der dortigen Mittelschicht, bis ihr Vater 1896 plötzlich verstarb, was die finanzielle Situation der Familie rapide verschlechterte.225 Nesbits Mutter war aufgrund ihrer viktorianisch geprägten Sozialisierung als Alleinerziehende überfordert und es gelang ihr nicht, sich ein wirtschaftlich solides Einkommen aufzubauen.226 Ende 1898 zog Florence Nesbit mit ihren beiden Kindern Evelyn und dem jüngeren Bruder Howard (18891928) nach Philadelphia, wo alle drei im Wanamaker’s Department Store zu arbeiten begannen. Evelyn Nesbit blieb dadurch mit 14 Jahren eine weiterführende Schulbildung bis auf Weiteres verwehrt.227 Doch eröffnete sich eine neue Perspektive für Nesbit, da sie als Künstlermodell entdeckt wurde. Sie begann, für allegorische Darstellungen und sakrale Kunstwerke (über-)regionaler Künstler*innen, darunter Violet Oakley (1874-1961), Jessie Willcox Smith (1863-1935) und der renommierte Illustrator George Fort Gibbs (1870-1942), Modell zu sitzen.228 Medialen Öffentlichkeiten blieb sie unbekannt, da keine direkte Verbindung zwischen ihrer Person und den Darstellungen hergestellt wurde. Dennoch übte sie bereits medial relevante Verhaltensweisen ein: So bedeutete das Modellsitzen, sich stundenlang still zu halten und in gewünschten Haltungen zu posieren;229 223 Das Geburtsjahr von Evelyn Nesbit ist strittig. Im ersten Mordprozess gab sie 1884 an, vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 504, UC, Container 15-16, wobei offizielle Dokumente wie die eidesstattliche Erklärung ihrer Mutter vor dem Jugendgericht in Pittsburgh (1905) auf das Jahr 1885 deuten, vgl. Henry Kendall Thaw vs. Evelyn Nesbit Thaw, No. 1319 Oct. Term 1916: Master’s Report, S. 17, in: Scheidungsunterlagen Evelyn Nesbit/Harry K. Thaw (Pittsburgh, Juli 1915– März 1916), UC, Box 7. 224 Die Mutter wird im Folgenden »Florence Nesbit« genannt, um sie von ihrer Tochter klar zu unterscheiden. 225 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 15-7. 226 Vgl. ebd., S. 9-11. Die fehlende Berufsausbildung von Mittelklassefrauen war strukturelle Ursache für deren begrenzte Verdienstmöglichkeiten, vgl. Sarah Eisenstein: Give Us Bread But Give Us Roses. Working Women’s Consciousness in the United States, 1890 to the First World War, London 1983, S. 55-60. 227 Vgl. Nesbit: Story, S. 17; Lisa Cardyn: Art. ›Nesbit, Evelyn Florence‹, American National Biography, Feb. 2000, https://doi.org/10.1093/anb/9780198606697.article.1803290 (acc. 22.4.2022). 228 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 12-3; dies.: Story, S. 18-9; Lisa Cardyn: The Nesbit-Thaw-White Affair: Spectacles of Sex and Violence in Old New York, in: Frankie Y. Bailey/Steven M. Chermak (Hg.): Famous American Crimes and Trials. Vol. 2: 1860-1912 (=  Crime, Media, and ­Popular Culture, 2), Westport 2004, S. 181-206, hier S. 186. 229 Vgl. Nesbit: Story, S. 19.

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eine professionelle Körperpraktik, die in den Folgejahren für ihre Arbeit als Foto­ modell von Bedeutung sein sollte. Im Herbst 1900 zog Evelyn Nesbit mit ihrer Familie nach New York, wo sie durch ein Empfehlungsschreiben aus Philadelphia Zugang zu Künstlerkreisen bekam.230 Dort arbeitete sie zunächst als (Foto-)Modell, um 1901 an den Broadway zu wechseln und als Chorus Girl eine Theaterkarriere zu beginnen.231 Diese Zeit markierte einen neuen Lebensabschnitt: Sie wurde erstmals medial sichtbar, womit zugleich ihr Einstieg in die frühe High Society begann. Diese Phase lässt sich analytisch in zwei Bereiche gliedern: Erstens können an der jungen Evelyn Nesbit mediale Logiken nachvollzogen werden. Wie und warum konnte sie als Modell das Interesse der Medien erzeugen? Dabei stehen vor allem Bildmotive und -kontexte ebenso wie ihr Arbeitsumfeld im Mittelpunkt, über die sie die Aufmerksamkeit der Medien erregte. Zweitens trugen ihre Kontakte und ihre Präsenz in den richtigen Räumen maßgeblich zu ihrer Verortung in der High Society bei. Wo konnte Evelyn Nesbit Beziehungen zu bereits etablierten Angehörigen der High Society knüpfen? Wer waren diese Personen und wie wirkte das auf ihre mediale Aufmerksamkeit zurück? Beides gibt – in kontrastierender Kombination mit Thaws Einstieg in die High Society – ­einen Eindruck davon, wie verschieden die Zugangswege und -mechanismen waren.

Aufmerksamkeit über Körperlichkeit Evelyn Nesbits Sichtbarkeit als Modell Zwischen Winter 1900 und Frühjahr 1901 arbeitete Nesbit als Modell für einige der renommiertesten Künstler der amerikanischen Ostküste.232 In ihren Gemälden, wie die ihres ersten New Yorker Malers und Förderers, des Impressionisten J. Carroll Beckwith (1852-1917), zeigte sich bereits die Flexibilität ihrer körperlichen Zuschreibungen und ihrer Performance: Sie repräsentierte darin sowohl kindliche Unschuld als auch exotisch-orientalische Erotik.233 Durch die hervorragende Vernetzung von Beckwith schaffte Nesbit den »entrée into New York’s studio world«.234 Darin be230 Vgl. dies.: Prodigal Days, S. 14-5. 231 Vgl. ebd., S. 15-23. 232 Sie saß Modell für Künstler wie James Wells Champney, George Grey Barnard, Herbert Morgan, Samuel Isham oder Herbert Levy, vgl. Barbara J. Mitnick/Thomas Folk: The Artist and His Model: J. Carroll Beckwith and Evelyn Nesbit, in: Arts & Crafts Quarterly 5 (1992), S. 12-8, hier S. 14. 233 Vgl. David Jeremiah Slater: The American Girl, Her Life and Times: An Ideal and Its Creators, 1890-1930. unveröff. Diss., University of Minnesota 2005, S. 98. Dies zeigt sich bspw. an Beckwiths Gemälden »Girlhood« und »Portrait of Evelyn Nesbit« (beide 1901), vgl. Mitnick/Folk: Artist, S. 14-5. 234 Nesbit: Prodigal Days, S. 15; vgl. ferner Pepi Marchetti Franchi/Bruce Weber: Intimate Revelations: The Art of Carroll Beckwith (1852-1917), New York 1999, S. 24-5.

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schränkte sie sich nicht nur auf das Modellsitzen, sondern hatte auch außerberuf­ liche Kontakte mit Künstlern, etwa dem renommierten Gesellschaftsmaler John Singer Sargent (1856-1925).235 Dennoch fehlten ihr weitere »in«-Faktoren, wie Geld und Beziehungen, um aus diesen Kontakten mehr als berufliche Engagements zu gewinnen.236 Daher gelangten weder diese Treffen noch die von ihr angefertigten Gemälde in die mediale Öffentlichkeit, sondern blieben zunächst innerhalb kleiner Face-to-Face- und Encounter-Öffentlichkeiten. Ihr Debüt in den New Yorker Printmedien machte Nesbit erstmals im März 1901, da sie zu einem der gefragtesten Modelle der Stadt avanciert war.237 Mehrere Journalisten versuchten Exklusivgeschichten zu bekommen, was Evelyn Nesbit und ihre Mutter zunächst verunsicherte.238 Dennoch zeigte sich, dass beide das in ihrer Sichtbarkeit liegende Potenzial für ihre weitere Karriere erkannten: Ihre Mutter gab daher Studioaufnahmen ihrer Tochter an einige Journalisten weiter, die in Sonntagsausgaben und dem Broadway Magazine erschienen.239 Ihre Tätigkeiten als Künstlermodell waren zur Jahrhundertwende gesellschaftlich noch immer problematisch und sollten ihr mediales Bild langfristig prägen. Den Modellen wurde durch den unbeaufsichtigten Kontakt mit fremden Männern und zeitgenössisch populären Sujets, wie unbekleideten Allegorien, unterstellt, nackt zu posieren.240 Obwohl dieses Stereotyp vor der Jahrhundertwende eigentlich rückläufig war, verstärkten Fotografien es wieder, indem sie den Unterschied zwischen Nacktmodell und pornographischer Darstellung verschwimmen ließen.241 Künstlermodelle würden sich außerdem aus Mangel an beruflichen Alternativen korrumpieren lassen: »[T]he artist’s modell becomes in time acclimated and gradually changes her personality. That this is a natural consequence [!] of the profession she leads

235 Vgl. James Carroll Beckwith: Diaries, 1900-1901, Eintrag vom 8.9.1901, SI, AAA, James Carroll Beckwith Papers, Series 3: Diaries, 1871-1917: Box 2, Folder 1. Mit Beckwith pflegte familiären Umgang, vgl. Mitnick/Folk: Artist, S. 14. 236 Vgl. Kathleen L. Butler: Art. ›Sargent, John Singer (1856-1925), Painter‹, American National Biography, Feb. 2000, https://doi.org/10.1093/anb/9780198606697.article.1700778 (acc. 22.4.2022). Sargent pflegte enge Kontakte zu Stanford White, Augustus Saint-Gaudens (18481907) und weiteren New Yorker High Society-Mitgliedern, vgl. Annelise K. Madsen: Sargent’s Circle. Friendship, Collaboration, Innovation, and Chicago Connections, in: Annelise K. Madsen/Richard Ormond (Hg.): John Singer Sargent & Chicago’s Gilded Age, Chicago et al. 2018, S. 135-81, hier S. 156-7. 237 Vgl. Mitnick/Folk: Artist, S. 14. 238 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 16-7; dies.: Story, S. 23. 239 Ferner erschienen ihre Fotografien in der Sunday World und Sunday American, vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 574, UC, Container 15-16. 240 Susan Waller: The Invention of the Model. Artists and Models in Paris, 1830-1870, Florenz 2005, S. 39-49. 241 Vgl. Marie Lathers: Bodies of Art. French Literary Realism and the Artist’s Model, Lincoln 2001, S. 236.

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need not strike us with surprise.«242 Folglich diskreditierten unbekleidet modelnde Frauen den gesamten Berufsstand und rückten ihn in die Nähe zur Prostitution.243 Um diesem Vorwurf gegenzusteuern, begleitete Florence Nesbit ihre Tochter anfangs noch zu ihren Engagements.244 Dieses Bild der fürsorglichen Mutter als Anstandsdame griff die Berichterstattung über Evelyn Nesbit auf und unterstrich damit ihre Respektabilität in Abgrenzung zu den Stereotypen ihrer Tätigkeit – obwohl die dazu abgedruckten Fotografien divergierten, wie sich zeigen wird.245 Den Eindruck, den Nesbit in ihren Bildern vermittelte, schilderte das Broadway Magazine wie folgt: »She is a slight, almost fragile girl, with a magnificent head of hair, fresh eyes, and a smile that is girlish winsomeness itself […][;] artists are particularly fond of putting her head in their pictures«.246 Die Betonung ihrer Physiognomie war viktorianischen Konventionen geschuldet, die nur ein begrenztes Repertoire zur Thematisierung von Frauen(-körpern) erlaubten. Eingebettet in das Sprechen über Schönheit, konnten sexuell konnotierte Körperregionen angesprochen werden, wie etwa die Füße oder der Kopf mit offenen Haaren, dem Symbol sexuellen Verlangens.247 Bereits zu Beginn der Medialisierung von Evelyn Nesbit zeigten sich die bestimmenden Kategorien, die ihr mediales Bild entlang von genderbedingten Machtvorstellungen prägen sollten: Ihre Schönheit und Jugendlichkeit waren verknüpft mit ihrem unschuldigen Charakter. Dieser verhinderte, dass sie ihre offensichtliche Sexualität erkennen konnte, was ihr eine paradoxerweise machtlose Anziehungskraft verlieh.248 Das stilisierte sie nach dem Kunsthistoriker Richard Guy Wilson zur »quintessence of the American Virgin«.249 Nesbit ließ sich damit nicht nur in den viktorianischen Diskurs über die Reinheit der Frau – und 242 T. J. de Freece: Under the Skylights, in: Broadway Magazine 10:2 (Nov. 1902), S. 276-84, hier S. 278-82, Zitat S. 279. 243 Vgl. Alison Smith: The Victorian Nude. Sexuality, Morality and Art, Manchester 1996, S. 189, 196-202, 229-37. 244 Die häufig geäußerte These, Nesbit habe nackt postiert, darf bezweifelt werden, vgl. Uruburu: American Eve, S. 139. 245 She Is Making a Hit in New York’s Art Word, New York Standard, 7.9.1901. 246 Evelyn Florence, a Beautiful Sixteen-Year-Old Model of the New York Studios, in: Broadway Magazine 6:6 (Mar. 1901), S. 330-1. Laut Nesbit erschienen diese auch in zwei Sonntagsbeilagen, die jedoch nicht ausfindig gemacht werden konnten, vgl. dies.: Story, S. 23. 247 Vgl. Sarah Heaton: Gender and Sexuality: Tresses Adorned and Adored, Locks Coiled and Cut, in: dies. (Hg.): A Cultural History of Hair in the Age of Empire. Vol. 5, 6 Bde., London et al. 2019, S. 101-16, hier S. 114-6; Mary Helen Dunlop: Gilded City. Scandal and Sensation in Turn of the Century New York, New York 2000, S. 61-2. 248 Zum Zusammenhang von Gender und Machtverhältnissen, vgl. Joan W. Scott: »Gender: A Useful Category of Historical Analysis«, in: The American Historical Review 91:5 (1986), S. 105375, hier S. 1069-70, 1073. 249 Richard Guy Wilson/Dianne H. Pilgrim/Richard N. Murray: The American Renaissance, 1876-1917, New York 1979, S. 41. Dies verkörperte Nesbit in Gemälden wie Carle John Blenners »Pompeian Beauty« oder Frederick S. Churchs »Undine« (beide 1901/2).

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insbesondere der von Mädchen – einschreiben, sondern wurde selbst zu deren idealisierter Repräsentantin.250 Dies wurde einer medialen Öffentlichkeit mit ihren künstlerischen Studioaufnahmen vermittelt, so etwa in dem mit hochwertigen Fotodrucken verlegten »Metropolitan Magazine Portfolio of Beauty«,251 das Nesbit mit anderen Schönheitsidolen wie der Theaterdarstellerin Ethel Barrymore (1879-1959) zeigte. Zugleich hielt Nesbits Modelltätigkeit ihren Körper und ihre damit verbundene Unschuld in einem prekären Schwebezustand. So sah sich etwa ein*e Autor*in des Enquirer genötigt, Stereotypen über ihre Person zu begegnen: Though frequently found in the studios Miss Nesbitt [sic] was no Trilby [!], and it is doubtful if she even knew that there was such a thing as posing for art altogether. Her innocence, her artlessness, her undoubted ladylikeness, carried her through the most trying scenes [!] of studio life.252 Der*Die Journalist*in grenzte Nesbit von der Figur der Trilby ab. Diese war mit dem Erfolg von George du Mauriers gleichnamigen Roman (1896) zum romantisierten Stereotyp der jugendlichen Fallen Woman in der Lebenswelt künstlerischer Bohème geworden. In deren Kontext galten Trilbys sexuelle Normverstöße in gewissem Maße als akzeptabel, da sie zugleich eine transfigurative Macht über die Männer zugesprochen bekam.253 Vor diesem kulturgeschichtlichen Hintergrund verkehrte Nesbit in den Studios und Ateliers und fügte sich durch ihr Alter sowie ihre eigene Arbeits­tätigkeit passgenau in die Vorstellung der Trilby.254 Entsprechend nötig schien ihre Abgrenzung davon, um nicht den in ihren Bildern mitschwingenden Eindruck moralischer Grenzüberschreitungen Teil ihres medialen Bildes werden zu lassen. Nesbit als ikonischer Frauentyp Diese Abgrenzung schien insofern berechtigt, da, obwohl Evelyn Nesbit die unschuldige (Jung-)Frau verkörpern konnte, in ihren Bildern auch das Deutungspotenzial der erotisch-exotischen New Woman lag. Dies resultierte aus dem Kontext sich wandelnder Frauen- und Körperideale zur Jahrhundertwende. Die Voluptous 250 Vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 54-5. 251 Vgl.o. A.: Metropolitan Magazine Portfolio of Beauty, o. O. [ca. 1901/2], UC, Portfolio 2. 252 Evelyn Nesbitt. Americas Prettiest Girl Model Has Exchanged the Pose and the Gauze Draperies for the Students Cap and Gown, Enquirer, 27.11.1903. 253 Vgl. Phyllis Weliver: Music, Crowd Control and the Female Performer in Trilby, in: Nicky Losseff/Sophie Fuller (Hg.): The Idea of Music in Victorian Fiction, London 2016, S. 51-81, hier S. 79-80; Nina Auerbach: Woman and the Demon. The Life of a Victorian Myth, Cambridge 1982, S. 7-24. 254 Vgl. Kirby-Jane Hallum: Aestheticism and the Marriage Market in Victorian Popular Fiction. The Art of Female Beauty (= Literary Texts and the Popular Marketplace, 8), London 2015, S. 136-7.

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Woman des Viktorianismus, wie sie die fülligere, korsetttragende Opernsängerin Lillian Russell (1861-1922) verkörpert hatte, wurde von der New Woman abgelöst.255 Ihr Name vereinte ein Spektrum verschiedener Vorstellungen der modernen Frau, wie etwa die Natural Woman, deren verschiedene Ausprägungen einen schlanken, vom Korsett befreiten, teils sogar sportlichen Frauenkörper als Idealform bewarben und diesen mit größerer (sexueller) Selbstbestimmung verknüpften.256 Evelyn Nesbit repräsentierte nicht nur die New Woman, sondern prägte diesen Frauentypus durch ihre mediale Sichtbarkeit selbst mit: So stand sie etwa für vitale Jugendlichkeit, indem sie »innocence«, »joyousness« aber auch »infinite compassion«257 verkörperte. Die moralisch strittige, selbstbestimmte Erotik, welche die New Woman für sich reklamierte, konnten Evelyn Nesbits Fotografien durch ihre unschuldige Sinnlichkeit auffangen. Dadurch machte sie das Frauenbild, laut der Historikerin Mary Panzer, für eine breite Öffentlichkeit akzeptabel.258 Mit einer speziellen Ausprägung des Frauentyps verband sich Nesbits Name wie mit keinem anderen: der des Gibson Girl. Dessen namensgebender Schöpfer, der ­Illustrator Charles Dana Gibson (1867-1944), hatte Nesbit mit seiner Tuschezeichnung »The Eternal Question« (1901) zur Ikone dieses Typus gemacht (Abb. 3).259 Das attraktive Gibson Girl baute eine Brücke zwischen der viktorianischen Dame und der modernen New Woman, die sich beide in Darstellungen von Evelyn Nesbit wiederfanden.260 Das Gibson Girl betonte nicht nur seine selbstbewusste Attraktivität und einen spielerischen Umgang mit dem männlichen Geschlecht, sondern auch ihre Konsumentinnenrolle. Letztere trug aktiv dazu bei, den Unterschied zwischen dem cult of true womanhood – der Mütterlichkeit und die Fokussierung auf das Häusliche – und dem consumerism – der Selbstverwirklichung durch Konsum – zu verwischen. Die Qualitäten des Ersten wurden eingebettet in Freizeit- und Vergnügungsaktivitäten

255 Vgl. Lois W. Banner: American Beauty. A Social History Through Two Centuries of the American Idea, Ideal, and Image of the Beautiful Woman, New York 1983, S. 129-31, 135-6. 256 Zu verschiedenen Idealvorstellungen vgl. Martha Banta: Imaging American Women. Idea and Ideals in Cultural History, New York/Guildford 1987, S. 48-58; Banner: American Beauty, S. 136. 257 Alle drei Zitate aus Ella Adelia Fletcher: The Power and Beauty of Woman’s Eyes, in: Cosmopolitan 35:1 (May 1903), S. 11-20, hier S. 12, 15, 19. 258 Vgl. Mary Panzer: In My Studio: Rudolf Eickemeyer, Jr. and the Art of the Camera 1885-1930. Catalogue for the Exhibition ›Pictorialist Pioneer: The Photography of Rudolf Eickemeyer, Jr.‹, the Hudson River Museum, Dec. 3, 1986 through Febr. 22, 1987, Yonkers 1986, S. 39, 72-5; zur Debatte über das Frauenbild vgl. Showalter: Sexual Anarchy, S. 38-48. 259 Vgl. Charles Dana Gibson: Eighty Drawings Including ›The Weaker Sex‹. The Story of a Susceptible Bachelor, New York/London 1903, Cover; zum Ikonenstatus vgl. Uruburu: American Eve, S. 73-6. 260 Vgl. Banner: American Beauty, S. 165-6.

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des Letzteren.261 Dabei blieb das Gibson Girl mit ihren Konsumanstrengungen auf ihren Gatten als Fluchtpunkt ausgerichtet, indem ihre conspicuous consumption dazu diente, seinen Status sichtbar zu machen.262 Gerade der visuelle Eindruck von Evelyn Nesbits unbewusster Erotik hegte ihre Repräsentation als Gibson Girl ein. Indem sie ihre erotisierende Wirkung nicht wahrzunehmen schien, suggerierte dieses Unbewusstsein ihre gesellschaftliche Kontrollierbarkeit. Sichtbarkeit durch Werbung Evelyn Nesbits erotische Einhegung zeigt sich bei der Verwendung ihrer Fotografien in Werbeanzeigen.263 Diese waren in Form von ZeitungsAbb. 3: Evelyn Nesbit als enigmatische annoncen oder Werbekatalogen zur JahrhunFrau in »The Eternal Question«. dertwende in jedem amerikanischen Haushalt zu finden.264 Nesbits Abbildungen warben darin etwa für das Zahnreinigungsprodukt Rubifoam (Abb. 4). Diese Annonce setzte sie in den zeitgenössischen Kontext von Reinheit und whiteness, der zunehmend als ästhetisches sowie rassistisches Merkmal für Schönheit galt.265 Zudem sollte ihr Porträt – in Verbindung mit den symbolischen Misteln zwischen ihren Zähnen – für das Produktversprechen werben, sexuell attraktiv und verführerisch zu werden.266 Nesbit erfüllte somit zeitgenössische Schönheitsvorstellungen, die sie selbst in der Öffentlichkeit zu erzeugen half. Auch erschien sie in Modewerbungen, die seit den 1890er Jahren zunehmend die Seiten der Printmedien füllten. Für die Annoncen posierte sie etwa bei Joel Feder, 261 Vgl. Jennifer E. Moore: ›They’d Vote for What is Pure and Good?‹: Representations of Women in the Gilded Age Press, in: Sachsman/Lisica: After, S. 329-40, hier S. 337; Patterson: Gibson Girl, S. 32-48; Stacy A. Cordery: Women in Industrializing America, in: Calhoun: Gilded Age, S. 119-41, hier S. 120-1. 262 Vgl. Patterson: Gibson Girl, S. 43-4. Dieses Rollenbild führte die Frau in die Verbraucherkultur ein, woran Nesbit ihren Anteil hatte, vgl. William R. Taylor: In Pursuit of Gotham. Culture and Commerce in New York, New York 1992, S. 71-5. 263 Vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 573, UC, Container 15-16. 264 Vgl. W. Bernard Carlson: Technology and America as a Consumer Society, 1870-1900, in: Calhoun: Gilded Age, S. 29-52, hier S. 38, 44. 265 Vgl. Kathy Lee Peiss: Making Faces: The Cosmetics Industry and the Cultural Construction of Gender, 1890-1930, in: Genders: Art, Literature, Film, History 7:1 (1990), S. 143-69, hier S. 151-3, 157-60. 266 Vgl. Banta: Imaging, S. 71-5.

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Abb. 4: Werbung für den Rubifoam Tooth Powder (1904).

einem auf Modefotografie spezialisierten Fotografen.267 Dafür eignete sie sich nicht nur als Modell, sondern nach ihrem angesprochenen Wechsel ans Theater im Jahr 1901 auch als bekannte Broadway-Darstellerin. Marlis Schweitzer betont, dass spätestens mit der Jahrhundertwende das Theater zum bestimmenden Präsentationsraum der neuesten Mode geworden war. Schauspielerinnen versuchten, sich im Laufe der 1900er Jahre daher immer stärker als modische Trendsetterinnen zu präsentieren bot dies doch eine der effektivsten Möglichkeiten, sich medial sichtbar zu machen268 – eine Handlungsweise, die sie in die High Society transferierten. Ferner lag Nesbits Porträt als Sammelkarte in Zigarettenpackungen bei (Abb. 5). Diese besondere Form der Werbung machte die Beigaben – unabhängig vom Produkt selbst – zu begehrenswerten Objekten. Indem sie den Anreiz schufen, die vollständigen Kartenreihen zu sammeln, sollte Kundenbindung erzeugt werden.269 Evelyn Nesbit wurde dabei in einer Serie mit weiteren sichtbaren Theaterdarstellerinnen verlegt. und selbst zum Sammelprodukt. Mit beiden Werbeformaten knüpften die Aufnahmen von Nesbit an Fotopraktiken an, die berühmte Schauspielerinnen bereits kurz vor der Jahrhundertwende einzusetzen begonnen hatten, um sowohl finanziell zu profitieren als auch ihre 267 Vgl. das – mutmaßlich unerlaubt verwendete – Porträt von Nesbit in einer Pelzmantelwerbung in Wear Albert’s Distinct Furs, in: Woman’s Home Companion: (Nov. 1903), S. 46; zur Modellarbeit vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 16; zur Werbepraxis vgl. Jan Whitt: Women in American Journalism. A New History, Urbana 2008, S. 38. 268 Vgl. Schweitzer: Broadway, S. 122-4. 269 Vgl. Hiram Kümper: Nichts als blauer Dunst?, in: GWU 59:9 (2008), S. 492-508, hier S. 494-5.

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Abb. 5: Zigarrenbildchen »Florence Evelyn Nesbit« (1902) mit umseitigen Biogramm der American Tobacco Co. und die Zigarettensammelkarte »Miss Florence Nesbit« der Gallaher Ltd. Cigarettes.

Sichtbarkeit zu erhöhen.270 Zwar erhielt Nesbitkein Geld für die Sekundärverwendung ihrer Aufnahmen von 1901/2, doch hielt deren andauernde Verwendung sie medial sichtbar und machten ihr Gesicht sowie ihren Körper wiedererkennbar.271 Im Gegensatz zur Werbung von High Society-Frauen wie Gloria Morgan Vanderbilt (1904-1965) in den Abb. 5 1920er Jahren warben Annoncen mit Nesbit zwar noch nicht explizit mit ihr als Privatperson.272 Doch sorgte die Verwendung ihrer Fotografien auch nach ihrer aktiven Modellkarriere weiter dafür, dass ihr Gesicht öffentlich sichtbar zirkulierte. »Capitalize on the flattering publicity«: Evelyn Nesbits Theaterkarriere Kontakte und mediale Sichtbarkeit ermöglichten Evelyn Nesbit 1901 den Wechsel an den Broadway: »[A theatre manager] came to the house, lured by the newspaper stories. […] His idea was to put me on the stage right away and capitalize on the flattering publicity.«273 Ihre Sichtbarkeit eröffnete ihr somit einen neuen Möglichkeitsraum, als Theatermanager auf sie aufmerksam geworden waren und annahmen, von ihrer medialen Inszenierung als Schönheit profitieren zu können.274 270 271 272 273

Vgl. Marcus: Drama, S. 153. Vgl. Ben L. Bassham: The Theatrical Photographs of Napoleon Sarony, Kent 1978, S. 4. Vgl. Hornung: Welt, S. 46. Nesbit: Prodigal Days, S. 17; vgl. ferner ebd., S. 19; dies.: Story, S. 28-31. Auch Beckwith stellte Kontakte zu Theatermanagern her, vgl. James Carroll Beckwith: Diaries, 1900-1901, Eintrag vom 27.11.1901, SI, AAA, James Carroll Beckwith Papers, Series 3: Diaries, 1871-1917:  Box 2, Folder 1. 274 Vgl. Benjamin McArthur: Actors and American Culture, 1880-1920, Philadelphia 1984, S. 143-6.

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Trotz anfänglichem Widerstand dürften finanzielle Überlegungen Nesbits Mutter dazu bewogen haben, dem Wunsch ihrer Tochter, ans Theater zu gehen, zuzustimmen.275 Als Alleinverdienerin sicherte diese so mit bis zu 50 Dollar pro Woche (heute rund 1.800 Dollar) der Familie einen überdurchschnittlichen Lebens­ unterhalt.276 Diese finanzielle Macht und Nesbits Durchsetzungsvermögen waren syntagmatisch für ihre Jugendzeit, da sie damit von üblichen Geschlechter- und Familienkonstellationen abwich, wenngleich die Rolle als Ernährerin unter Theaterdarstellerinnen verbreiteter war als unter anderen werktätigen Frauen.277 Nesbits Wechsel an das Theater war dabei ein typischer Transfer zwischen den Branchen, den Darstellerinnen respektive Modellen zur Jahrhundertwende vollzogen.278 Die Bedeutung ihres Theaterdebüts für ihre mediale Sichtbarkeit und damit auch für ihren Zutritt in die High Society lässt sich an der Popularität des Stücks ermessen, in dem Nesbit ihre erste Rolle bekam. Florodora war erstmals am 12. November 1900 in den USA im New Yorker Casino Theater aufgeführt worden und entwickelte sich zum erfolgreichsten Musical zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit allein 553 Aufführungen am Broadway. Die Liebesgeschichte um eine betrogene Erbin fand ihren Höhepunkt im Auftritt einer weiblichen Tanzgruppe, des Florodora-Sextetts. Gemeinsam mit männlichen Counterparts sangen sie das Stück »Tell Me, Pretty Maiden«, das unter Zeitgenoss*innen einen regelrechten »Florodora fad«279 auslöste und die Sängerinnen zu einem neuen Broadway-Typus machte: Mit rund 60 kg und einer Größe von 1.60 Meter waren diese sogenannten Chorus Girls wesentlich schlanker und kleiner als die bisherigen, eher matronenhaften Darstellerinnen.280 Entscheidend aber war, dass die Sängerinnen aufgrund ihrer körperlichen Attraktivität und des Publikumsinteresses in bislang ungekanntem Ausmaß die Aufmerksamkeit der Medien erregt hatten.281 Dass es der gesamten Erstbesetzung des Sextet275 Vgl. Nesbit: Story, S. 16, 21, 24-8; dies.: Prodigal Days, S. 20. Sehr kritisch gegenüber der Mutter äußert sich Uruburu: American Eve, S. 59. 276 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 21, 28. Dies beziffert auch Bruce Smythe: The Show Girl, in: Metropolitan Magazine 10:1 (Okt. 1902), S. 11-8, hier S. 16-7. 277 Unverheiratete Frauen steuerten in der Regel ihren Verdienst dem Familieneinkommen bei, vgl. Kathy Lee Peiss: ›Charity Girls‹ and City Pleasures: Historical Notes on Working-Class Sexuality, 1880-1920, in: Vicki Ruíz/Ellen Carol DuBois (Hg.): Unequal Sisters. A Multicultural Reader in U. S. Women’s History, 2. Aufl., New York 1994, S. 157-66, hier S. 161-2. Zur besonderen Rolle der Darstellerinnen vgl. Claudia Durst Johnson: American Actress. Perspective on the Nineteenth Century, Chicago 1984, S. 56-7. 278 Bis zum Ersten Weltkrieg war die Prostitution eine verbreitete Alternative (arbeitsloser) Darstellerinnen, was zu ihrem zweifelhaften Ruf beitrug, vgl. McArthur: Actors, S. 148-9. 279 Rudolph Aronson: Theatrical and Musical Memoirs, New York 1913, S. 235. 280 Vgl. ebd., S. 235-6; Banner: American Beauty, S. 181-2; Andrew Lamb: Leslie Stuart. Composer of Floradora (= Forgotten Stars of the Musical Theatre, 3), New York 2002, S. 111. 281 Vgl. Marc Kenig: Reviving a Legend of Musical Theatre, in: The Patter Post o. J.:2 (2009), S. 6-8, hier S. 7. Winfried Fluck sieht den Erfolg der Chorus Girls performativ begründet, in ihrer »Bereitschaft zur unbekümmerten Selbstdarstellung in der Performanz«, vgl. ders.: Amerika-

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tes zudem gelang, noch während ihres Engagements Millionäre zu heiraten, schien ihre Medialisierung zu legitimieren. Insgesamt durchliefen während der Spielzeit knapp 70 Frauen die Sechsergruppe, was umso stärker zu ihrer Mystifizierung beitrug: Die Zeitungen inszenierten sie als Belege dafür, dass Frauen aus der Arbeiterschicht allein durch ihre Schönheit – anstatt Talent und Können, wie es das Narrativ des self-made man suggerierte – den sozialen Aufstieg durch reiche Ehen schaffen konnten.282 Körperliche Schönheit, welche die Musicals stets mehr oder minder subtil inszenierten, wurde zum zentralen Anstellungskriterium, wie der Theaterkritiker Hjalmar H. Boyesen kritisch anmerkte: »Grace, moderate beauty and good carriage is all that is demanded of them.«283 Diese Kriterien erfüllte Evelyn Nesbit, die zwar keine Rolle im Sextett von Florodora bekam, aber in einem der anderen Chöre des Stücks. Mit dieser Rolle ging ein gesteigerter Nachrichtenwert einher und machte Nesbit in einer für sie bislang ungekannten Intensität sichtbar.284 Dies sollte mittelfristig dazu führen, dass sie auch in den Räumen der High Society in Face-to-Face-Bekanntschaften zu deren Mitgliedern würde treten können. Laut dem Journalisten Julian Street strebte bereits 1913 jedes Chorus Girl danach, seine Fotografien in den Medien zu sehen.285 Rund eine Dekade zuvor leitete Evelyn Nesbit diese Entwicklung mit ein. Die Bedingungen dafür waren denkbar günstig, da sich das soziale Ansehen von Darstellerinnen zur Jahrhundertwende durch die gesellschaftliche Aufwertung des Theaters und der medialen Sichtbarkeit ihrer Privatleben gebessert hatte. Seit den 1890er Jahren hatte sich die amerikanische Öffentlichkeit zunehmend für die Personen hinter den Rollen der Schauspielerinnen interessiert und die Medien entsprechend immer neue Details über deren Privatleben geliefert.286 Berühmten Darstellerinnen, wie Sarah Bernhardt (1844-1923) oder Eleanore Duse (1858-1924), wurde gar ein offener Umgang mit ihrer Sexualität zugestanden, etwa indem sie sich selbst ermächtigen konnten, männliche Rollen zu spielen,

nisierung der Kultur. Zur Geschichte der amerikanischen Populärkultur, in: Harald Wenzel (Hg.): Die Amerikanisierung des Medienalltags (= Nordamerikastudien, 4), Frankfurt a. M. 1998, S. 13-52, hier S. 32-3, Zitat: S. 33. 282 Vgl. John Kenrick: Musical Theatre. A History, London 2009, S. 110-2; Banner: American Beauty, S. 181-2. Laut dem Musicalproduzenten Rudolph Aronson behaupteten noch Mitte der 1900er Jahre neun von zehn Chorus Girls, dass sie in Florodora aufgetreten seien, vgl. ders.: Memoirs, S. 236. 283 Hjalmar Hjorth Boyesen: Beauty in the Modern Chorus, in: Cosmopolitan 34:5 (1903), S. 48394, hier S. 486. Vgl. ferner Banner: American Beauty, S. 182. 284 Zur medialen Aufmerksamkeit für Chorus Girls vgl. Smythe: Show, S. 11, 18. 285 Vgl. Street: Welcome, S. 120. 286 Vgl. Susan Anita Glenn: Female Spectacle. The Theatrical Roots of Modern Feminism, Cambridge 2000, S. 216-7; Bruce A. McConachie: Pacifying American Theatrical Audiences, 18201900, in: Richard Butsch (Hg.): For Fun and Profit. The Transformation of Leisure into Consumption, Philadelphia 1990, S. 47-70, hier S. 61-2.

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oder relativ offen über ihre Liebesaffären berichtet wurde.287 Gleichwohl wurden insbesondere Chorus Girls, denen die künstlerische Qualität von Rollendarstellerinnen abgesprochen wurde, noch immer mit unmoralischem Sexualverhalten assoziiert, denn »suppers and frivolous pleasures take the place of the constant study required of an actress«.288 Nesbits Eintritt in Florodora fand somit im Kontext der zunehmenden Medialisierung des Theaters auf der einen Seite, der moralischen Ambivalenz ihrer Rolle auf der anderen Seite statt. Damit war Nesbit für die Presse besonders interessant, gab es durch ihre Studioarbeit doch genug publizierbare Fotografien. Dem Chorus Girl entsprechend lag der Fokus auf ihrem Körper.289 Die Fotografien entmächtigten Nesbit dabei vor allem hinsichtlich der Deutung über ihr Alter und pluralisierten ihr Bild weiter: So erschien in der Dezemberausgabe des Broadway Magazine ein Foto, das sie mit offenen, unordentlichen Haaren in einer Bluse im Halbporträt zeigte.290 Der darin zum Ausdruck kommende »provozierende Widerspruch von kindlicher Unschuld und weiblicher Erotik«291 machte sie zur erotischen Kindfrau. Dies stand im Kontext der Abbildungspraxis von Kunst- und Theatermagazinen. In den 1890er Jahren hatten Magazine wie Munsey’s Magazine oder das Metropolitan Magazine mit dem Argument, es handle sich um künstlerische Darstellungen, begonnen, allegorische oder historische Aktdarstellungen (halb-)nackter Frauen zu zeigen. Das führte binnen kurzem zur Lockerung der Bildpraxis, wodurch stärker lasziv posierende Frauen in einschlägigen Publika erschienen.292 Dies geschah gleichwohl verschleiert, etwa wenn Titel wie »Beauty in Summer Photography« Nesbits Aufnahmen in den Schönheitsdiskurs stellten und so von dem darin vermittelten Bild der Kindfrau ablenkten.293 In diesem Kontext erschienen Theaterdarstellerinnen so häufig, dass sie zur stärksten Assoziationsgruppe für Erotik avancierten, was sich sogar noch steigern ließ, wie Katie Johnson feststellt: »Readers could pursue

287 Vgl. Mary Louise Roberts: Rethinking Female Celebrity. The Eccentric Star of NineteenthCentury France, in: Edward Berenson/Eva Giloi (Hg.): Constructing Charisma. Celebrity, Fame, and Power in Nineteenth-Century Europe, New York/Oxford 2010, S. 103-16, hier S. 106, 113-4; Glenn: Female Spectacle, S. 20, 22. 288 Boyesen: Beauty, S. 486. 289 Florence Nesbit Watching the Yacht Races, in: Vanity Fair 10:6 (Sept. 1901), Deckblattinnenseite; She Is Making a Hit in New York’s Art Word, New York Standard, 7.9.1901. 290 Broadway Beauty, in: Broadway Magazine (Feb 1903), o. S., UC, Container 9. 291 Antje Dechert: Stars all’Italiana. Kino und Körperdiskurse in Italien (1930-1965), Zugl.: Köln, Univ., Diss., 2008 (= Italien in der Moderne, 21), Köln 2014, S. 361. Ausführlich diskutiert diese Vorstellung Andrea Bramberger: Die Kindfrau. Lust – Provokation – Spiel, München 2000. 292 Vgl. Joseph W. Slade: Art. ›Pornography‹, in: M. Thomas Inge/Dennis Hall (Hg.): The Greenwood Guide to American Popular Culture, Bd. 3, 4 Bde., Westport 2002, S. 1277-325, hier S. 1280-1. 293 Beauty in Summer Photography, in: Broadway Magazine 9:6 (Sept. 1902), S. 233-48, hier S. 233.

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their sexual fantasies through the ersatz-figure of the actress.«294 Die Magazine dienten damit als subversive Ersatzform für Pornographie unter dem Deckmantel der Kunst- und Kulturvermittlung.295 Entsprechend oft gelang es nicht, über die erotische Dimension von Nesbits Fotografien hinwegzutäuschen. Vielmehr lenkte der Hauptteil ihrer abgedruckten Studioaufnahmen den »male gaze« (Laura Mulvey),296 den entmächtigenden und objektifizierenden Blick des männlichen Betrachters, auf ihre Erotik und sexuellen Attribute, was den des Theaterbesuchers verstetigte.297 Diesem hatten sich, laut zeitgenössischen Kritiker*innen, die Darstellerinnen jedoch ohnehin bereits verkauft, als sie sich im Tausch für Aufmerksamkeit seinem Blick preisgaben.298 Diese Funktionalisierung als männliches Lustobjekt begann sich bei Nesbits Fotografien in Zeitschriften abzuzeichnen.299 Das Spektrum ihrer Studioaufnahmen reichte dabei von Darstellungen als unschuldige junge Frau über die erotische Kindfrau hin zu subversiven Aufnahmen als Darstellerin in Tommy Rot (1902). In diesen hinterfragte sie Gendervorstellungen, etwa indem sie sich als Page im Hosenanzug, neckisch und in legerer, sittenloser Pose auf einem Stuhl räkelt (Abb. 6).300 Somit scheint es angebracht, in Bezug auf die visuelle Aufmerksamkeit für Nesbit mit dem »Wohlgefallen und Begehren«301 zu argumentieren, wie dies Jens Jäger für Fotografien von Darstellerinnen vorschlägt, da ihre Erotik und Sexualität explizit im Zentrum stand. Die private Theaterdarstellerin? Evelyn Nesbit in den Printmedien Ihren Durchbruch als Theaterdarstellerin und in den Medien erlangte Evelyn Nesbit, als sie im März 1902 eine der Hauptrollen im Musical The Wild Rose am renommierten Knickerbocker Theatre übernahm.302 Die Komödie in zwei Akten war »probably the most notable collection of pretty women that a single stage has ever

294 Katie N. Johnson: Sisters in Sin. Brothel Drama in America, 1900-1920 (= Cambridge Studies in American Theatre and Drama, 24), Cambridge/New York 2006, S. 26. 295 Vgl. Slade: Pornography, Bd. 3, S. 1280-1. 296 Laura Mulvey: Visual Pleasure and Narrative Cinema, in: Screen 16:3 (1975), S. 6-18, hier S. 11. 297 Vgl. Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, 4. Aufl., München 2011, S. 136-7. 298 Vgl. John Stokes/Michael R. Booth/Susan Bassnett: Introduction, in: dies. (Hg.): Bernhardt, Terry, Duse. The Actress in Her Time, Cambridge/New York 1988, S. 1-13, hier S. 2-3. 299 Vgl. Cobb: Exit, S. 199. 300 Zur Wechselbeziehung zwischen Gender und Kleidung auf viktorianischen Bühnen vgl. Tracy C. Davis: Actresses as Working Women. Their Social Identity in Victorian Culture, London/ New York 1991, S. 114-5. 301 Jens Jäger: Globalisierte Bilder – Postkarten und Fotografie, in: zeitenblicke 10:2 (2011), https:// www.zeitenblicke.de/2011/2/Jaeger/dippArticle.pdf (acc. 22.4.2022), Abs. 33. 302 Spielplan »The Wild Rose« (Knickerbocker Theatre, NY) ([Mai]–Juni 1902), UC, Container 17.

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Abb. 6: Spektrum der erotisierenden Aufnahmen von Evelyn Nesbit (1902/3).

disclosed«.303 Entsprechend erfolgreich war es beim überwiegend männlichen Publikum.304 Die Town Topics führten das auf die zunehmende Erotisierung von Frauen am Broadway zurück: »It seems to be a dictum of the theater that, when in doubt, play underwear; and when the doubt persists, remove it.«305 Der Produzent George Lederer (1862-1938) gilt als einer der Erfinder der amerikanischen Revue und Girl Shows, da er bereits in den 1890er Jahren seine Darstellerinnen dezidiert nach Schönheitskriterien an Stelle von schauspielerischem Talent auszuwählen begonnen hatte. Dazu zählten einige der berühmtesten Broadway- und Stummfilmdarstellerinnen der 1900er Jahre, wie Lillian Russell (1860-1922), Edna May (1878-1948) oder Elsie Ferguson (1883-1961).306 Dieses Schema verknüpfte er bei der Ankündigung von The Wilde Rose mit der Medienpräsenz von Evelyn Nesbit: Am 4.  Mai 1902 brachte der New York Herald einen zweiseitigen, reich bebilderten Bericht über ihr 303 304 305 306

George Jean Nathan: The Theatre, the Drama, the Girls, New York 1921, S. 278. Vgl. ebd. The First-Nighter: At the Play, in: Town Topics 47:19 (8.5.1902), S. 14. Vgl Smythe: Show, S. 11; Nathan: Theatre, S. 275-80.

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Engagement. Lederer habe mit ihr einen einjährigen Exklusivvertrag aufgesetzt, der sie zudem verpflichte, ihre körperliche Schönheit zu erhalten, ledig zu bleiben und in der Öffentlichkeit nur verhüllt und in Begleitung zu erscheinen. Den Artikel flankierten Illustrationen der Vertragsinhalte, die das Bild einer behüteten und züchtigen jungen Frau zeichneten (Abb. 7).307 Die formulierten Anforderungen grenzten Nesbit klar von den Stereotypen der unsittlichen Theaterdarstellerinnen ab und knüpften an vergleichbare Vorbilder aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, wie das der Opernsängerin Jenny Lindt (1820-1887).308 Mit Nesbit arbeitete George Lederer zugleich an der Schaffung eines neuen Broadway-Typus, des Show Girl. Diesen hatte er im gleichen Jahr als Zwischenstufe zwischen Chorus Girl und Rollenschauspielerin postuliert, der »apart from the chorus in ability and attractiveness«309 stehe und als talentierte Schönheitsikone die Fantasie des Publikums anregen sollte.310 Evelyn Nesbit repräsentierte dessen Prototypen und verlieh ihm durch ihre Sichtbarkeit ein medial wiedererkennbares Gesicht. Zugleich wurde ihr Körper regelrecht zum Objekt, denn das Ziel des Vertrages sei es, »to preserve the exclusiveness of the young woman as an exhibit«.311 Das schrieb sich auf visueller Ebene fort (Abb. 8). Darin repräsentierte zwar – wie im Text suggeriert  – das Foto im zeitgenössischen viktorianischen Spitzenkleid mit hochgesteckten Haaren und Hut eine bourgeoise und damit tugendhafte Frau. Jedoch divergieren davon die restlichen Fotografien, welche Stephen Gundles These widersprechen, wonach bereits zur Jahrhundertwende die Sexualisierung von Theaterschauspielerinnen zurückging.312 Stattdessen zeigen sie die gesamte Bandbreite erotisch ambivalenter Motive von Evelyn Nesbit: Auf der einen Seite des Spektrums ihr Bild in Bauernbluse, die für unverdorbene Natürlichkeit stand und mit halb hochgestecktem Haar ihre Jugendlichkeit kennzeichnete (Abb. 7, re.). Durch das Bärenfell wird die Aufnahme jedoch zur spannungsgeladenen Metapher für bedrohte Jungfräulichkeit und verborgene Sexualität, was ihre, über die Schultern gerutschten Blusenärmel nochmals unterstrichen.313 Auf der anderen Seite charakterisieren Nesbit ihre erotisierenden Fotografien deutlich als spielerisch-lasziv im Kimono oder außerhalb gesellschaftlicher Zwänge stehende »Zigeunerin« (Abb. 7, li. unten und Mitte).314 Die letzten beiden Motive lassen sich in den zur Jahrhundertwende in Eu307 Vgl. Her Winsome Face to Be Seen Only From 8 to 11 p. m., New York Herald, 4.5.1902. 308 Vgl. Marcus: Drama, S. 29. 309 Smythe: Show, S. 12. Vgl. diese Nomenklatur in Evelyn Florence Nesbitt, o. Z., 15.11.1902, in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 15, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358. 310 Vgl. Stephen Gundle: Glamour. A History, Oxford et al. 2008, S. 133. Die Quellen nahmen diese Unterscheidung jedoch nicht trennscharf wahr. 311 Her Winsome Face to Be Seen Only From 8 to 11 p. m., New York Herald, 4.5.1902. 312 Vgl. Gundle: Glamour, S. 133. 313 Zur verborgenen Erotik dieser Symbole vgl. Dunlop: Gilded City, S. 61. 314 Dieses Stereotyp dekonstruiert Frank Reuter vortrefflich in seiner Studie über »Zigeuner*­ innen« in der Fotografie; vgl. insb. seine Motivanalyse in ders.: Bann, S. 112-4.

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Abb. 7: Illustrationen des Vertrags von Nesbit mit George Lederer; Fotografien zeigen ihr Motivspektrum (v.l.n.r.): im Kimono, als »Zigeunerin«, im viktorianischen Spitzenkleid und mit Bauernbluse.

ropa und den USA populären Orientalismus einordnen. Die Faszination für den Mittleren und Fernen Osten als exotische und erotische Räume fand dabei kulturellen Widerhall in der Literatur über die Kunst bis hin zur Mode und Werbung.315 Die beiden Aufnahmen stehen dabei für entgrenzte und fremde Erotik. Ihr OrientalisAbb. 7 mus respektive Japonismus bedeuteten eine kulturelle sowie gesellschaftliche Transgression:316 Der Kimono galt Zeitgenoss*­innen als erotisch-faszinierendes Symbol Japans, der auf die Trägerin zurückwirkte, wie eine Autorin im Broadway Magazine festhielt: »You cannot imagine the contents of a kimono being repellant or haughty in her manner. The idea is absured [sic]. No, it is an instinct on your part to close your arms around such contents and – snatch an 315 Vgl. T. J. Jackson Lears: No Place of Grace. Antimodernism and the Transformation of American Culture 1880-1920, 2. Aufl., Chicago 1996, S. 175-7; William R. Leach: Land of Desire. Merchants, Power, and the Rise of a New American Culture, New York 1993, S. 104-11. 316 Vgl. Patterson: Gibson Girl, S. 47-8; Kelly Hurley: ›The Inner Chambers of All Nameless Sin‹: The Beetle, Gothic Female Sexuality, and Oriental Barbarism, in: Lloyd Davis (Hg.): Virginal Sexuality and Textuality in Victorian Literature, Albany 1993, S. 193-213, hier S. 193-8.

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artless Japanese kiss!«317 Noch stärker erotisch aufgeladen war das Motiv der »Zigeunerin«, ein viktorianischer Code für exotische Freizügigkeit und sexuelle Entgrenzung, wie er auch in der Oper Carmen (1875) zu tragen kam.318 An der Berichterstattung wird somit deutlich, dass Nesbits mediale Sichtbarkeit stark durch erotische Motive geprägt war, die sie – unabhängig vom jeweiligen Kontext – zum Objekt der Begierde machten. Über die Motivik kann auf einer Metaebene argumentiert werden, dass Evelyn Nesbit nicht nur szenisch posierte, sondern in den Fotografien einen Teil ihrer Persönlichkeit ausdrückte. Demnach bediente sie ein zeitgenössisches Schlüsselkonzept, das wesentlich zur Entstehung der High Society-Berichterstattung um die Jahrhundertwende beitrug.319 Denn nach den Überlegungen Warren Susmans kann für den Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert ein Wandel von einer »culture of character«320 zu einer »culture of personality«321 konstatiert werden. Im Gegensatz zu innerlichen Charaktereigenschaften zeichnete sich die Persönlichkeit durch die Betonung äußerlicher Qualitäten wie Schönheit, Charme oder Anziehungskraft aus. Wichtig war dabei, dass diese Eigenschaften authentisch und überprüfbar erschienen, indem sie sichtbar gemacht wurden.322 Dies öffnete Kulturschaffenden jenseits des kostspie­ ligen Geltungskonsums der Vermögenden die Möglichkeit, sich für die Gesellschaftsberichterstattung interessant zu machen. Indem sie private Details bekanntgaben, inszenierten sie ihre Persönlichkeit. Bei Evelyn Nesbit führte die Erotik ihrer Posen und ihres Körpers in der Bildberichterstattung dazu, dass diese scheinbar Rückschlüsse auf ihre Persönlichkeit zuließen. Besonders deutlich wird dies bei der näheren Betrachtung ihrer Studiobilder. Nesbit arbeitete 1901 und 1902 für renommierte New Yorker Fotografen und Studios, die auch die High Society frequentierten, wie Burr McIntosh (1862-1942) und Rudolf Eickemeyer Jr. (1862-1932), Gertrude Käsebier (1852-1934) oder das Studio Otto ­Sarony.323 Die Fotograf*innen profitierten künstlerisch und finanziell von Nesbit, 317 Aline Scott Edwards: The Kimono-Girl, in: Broadway Magazine 10:5 (Feb. 1903), S. 546-8, hier S. 547. 318 Vgl. Abby Bardi: The Gypsy as Trope in Victorian and Modern British Literature, in: Romani Studies 16:1 (2006), S. 31-42, hier S. 34-6. 319 Vgl. Ponce de Leon: Self-Exposure, S. 37-40; Susman: Personality, S. 282-3. 320 Ebd., S. 273. 321 Ebd., S. 284. 322 Vgl. ebd., S. 273. 323 Diese publizierten Nesbits Aufnahmen in Fotomagazinen, vgl. von Burr McIntosh: Innocence, in: Burr McIntosh-Monthly 10:37 (Apr. 1906); von Rudolf Eickemeyer Jr.: Little Butterfly, in: Photographic Times-Bulletin 35:2 (Feb. 1903), S. 49 opp.; von Gertrude Käsebier: Portrait (Miss N.), in: Camera Work: A Photographic Quarterly 1 (1903), Abb. 4. Käsebiers Porträtaufnahme sollte zwar für Nesbits enigmatische Erotik ikonisch werden, vgl. Brandon K. Ruud: A Model Sitter: Gertrude Käsebier’s Portrait of Evelyn Nesbit, in: Sheldon Museum of Art (Hg.): Partners and Adversaries. The Art of Collaboration, Lincoln 2012, S. 20-7, wurde jedoch zeitgenössich nicht massenmedial rezipiert.

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indem sie ihre Aufnahmen in Fachzeitschriften veröffentlichten und sie zugleich in ihren Studios an die Presse oder Postkartenhersteller weiterverkauften.324 Besonders verbreitet war die japanische Bilderserie von Nesbit, die Eickemeyer 1901 anfertigte und über die von ihm geführte Alfred S. Campbell Art Company als Postkarten vertrieb (Abb. 8).325 Auch in diesen schien Nesbit die erotische Kindfrau zu repräsentieren, was ihre Rolle als selbstbestimmtes Gibson Girl relativierte und sie stärker zum sexuellen Objekt machte. Die Tageszeitung The Enquirer berichtete im Herbst 1903, dass »[Evelyn’s pose] makes the typical Beauty and the Beast and her pictures with her head pillowed on a Royal Bengal tiger have sold everywhere.«326 Mit der Referenz auf »Die Schöne und das Biest« sprach der Artikel zugleich die fragile, bedrohte Weiblichkeit an, die in Nesbits Status als erotisierte junge Frau mitschwang. Die Popularität ihrer Karten lässt sich dabei einerseits an der Breite der teils sehr ähnlichen Motive ermessen, andererseits an den diversen Neuauflagen zwischen 1902 und 1906.327 Beides gilt in Kombination mit der hohen Nachfrage nach den Postkarten als Indikator für Nesbits großen Bekanntheitsgrad, wobei sie durch die Untertitel wie »Posed by Evelyn Nesbit« wiedererkennbar blieb.328 Dieser mediale Transfer von Nesbits Fotografien in populärkulturelle Erzeugnisse ist dabei syntagmatisch für Theater­darsteller*innen und Künstler*innen zur Jahrhundertwende. Zur Hochphase des »collecting craze«329 von 1900 bis 1910 bedienten sie die Nachfrage nach Fotopostkarten in einem wechselseitigen Prozess, indem sie die Nachfrage zugleich selbst mit neuen Kartenmotiven stimulierten.330 Nicht nur der Wiedererkennungswert der Darsteller*innen steigerte sich durch die Verbreitung. Vielmehr fungierte die Postkarte für die Konsument*innen als »Vergegenwärtigungs­ medi[um]«331 der abgebildeten Person und ermöglichte, die Distanz visuell aufzuhe324 Vgl. Mensel: Kodakers, S. 32. 325 Roy Nuhn: Evelyn Nesbit. Notorious Postcard Beauty, in: Postcard Collector o. J. (o. D.), S. 18. vermutet 1903 oder 1904 als Verkaufsbeginn, doch lies die Alfred S. Campbell Art Co. bereits 1902 sämtliche Aufnahmen urheberrechtlich schützen; vgl. auch Evelyn Nesbit with a Stuffed Tiger Head (1902), SI, AAA, Aline and Eero Saarinen Papers (1906-1977). 326 Vgl. Evelyn Nesbitt. Americas Prettiest Girl Model Has Exchanged the Pose and the Gauze Draperies for the Students Cap and Gown, Enquirer, 27.11.1903. 327 Allein in der UC, File 7 sind elf verschiedene Auflagen der japanischen Postkarten von Evelyn Nesbit zu finden; weitere bei Nuhn: Evelyn; Bertram Silman: The Eternal Question, in: Postcard Dealer, o. J., S. 184-6, hier S. 185-6. 328 Vgl. Knut Hickethier: Vom Theaterstar zum  Filmstar. Merkmale des Starwesens um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Werner Faulstich/Helmut Korte (Hg.): Der Star. Geschichte – Rezeption – Bedeutung, München 1997, S. 29-47, hier S. 41. 329 Christraud M. Geary/Virginia-Lee Webb: Introduction. Views on Postcards, in: dies. (Hg.): Delivering Views. Distant Cultures in Early Postcards, Washington, D. C./London 1998, S. 1-11, hier S. 5. 330 Vgl. Tonie Holt/Valmai Holt: Picture Postcards of the Golden Age. A Collector’s Guide, London 1971, S. 43. 331 Hickethier: Theaterstar, S. 39.

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Abb. 8: Postkartenserie (1901–7) von Evelyn Nesbit mit ihren am weitesten verbreiteten Karten (v.l.i. UZS): »Little Butterfly«, »Beauty and the Beast« und »Ready for Mischief«.

ben, ihr Abbild dabei faktisch in Besitz zu nehmen und – in Form der Serie – verschiedene Zustände von ihr zu sammeln.332 Evelyn Nesbit wurde somit durch ihre Medialität, die Privatheit und Nähe, Faszination und Erotik suggerierte, konsumierbar. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass ihre mediale Sichtbarkeit, die von visuellen Eindrücken und physischen Beschreibungen dominiert wurde, durch den Besitz der Karte als haptisches Ersatzobjekt ergänzt werden konnte. Der Erfolg von The Wild Rose im Frühjahr und Sommer 1902 sicherte Evelyn Nesbit die regelmäßige Präsenz in den Theaterrubriken der Tageszeitungen und einschlägigen Kulturmagazinen.333 Parallel dehnten die Medien ihre Aufmerksamkeit auf ihre Privatheit aus, womit sie für die High Society-Berichterstattung interessant wurde, wie der Artikel der Sonntagsausgabe des New York Herald verdeutlicht (Abb. 9). Darin zeigt eine zweiseitige Bilderserie aus acht Aufnahmen, wie Evelyn Nesbit ihre Ausgehtoilette anlegt, vom Wechseln des Morgenrocks in die Ausgehkleider über das Schnüren ihrer Stiefel bis hin zum Frisieren und Schminken. Zwar handelt es 332 Vgl. ebd., S. 39-40. 333 Vgl. etwa In the New York Studios, in: Broadway Magazine (Mai 1902) und Beautiful Florence Nesbitt, Whose Face Is Her Fortune, o. Z., 30.6.1902, beide in: Evelyn  Nesbit, Vol. 1, S. 1, 9, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358.

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sich um Studiobilder, doch suggeriert die Szenerie auf mehreren Ebenen Privatheit: Die Betrachter*innen konnte Nesbit bei einer der Öffentlichkeit eigentlich verborgenen Praktik beobachten. Ferner galt der Schminktisch mit Toilettenartikeln als »material representation of the woman’s sexual and marital status«,334 da er mit dem Schlafzimmer und ehelichem Beischlaf verknüpft war. Er symbolisierte damit verborgene Intimität und Sexualität auf der einen, die potenzielle Erotik ihrer Ausgehtoilette auf der anderen Seite.335 Nesbit offerierte so einen ersten visuellen Einblick ins Private geboten, womit sie Logiken der High Society-Berichterstattung folgte336 und sich wie andere Schauspielerinnen auch durch die Preisgabe ihres scheinbar privaten Verhaltens und ihrer Kleiderwahl als Mitglied einer »curator group«337 (Erving Goffman) inszenierte. Diese Rolle nahmen in erster Linie Frauen ein, was sich besonders deutlich in Abgrenzung zur Upper Class zeigt: Deren Mitglieder nutzten bislang ihren Lebensstil, Veranstaltungen oder auch Kleidung als Statussymbole, um ihre gesellschaftliche Stellung zu legitimieren. Genau auf diesen Gebieten wurden sie von Theaterdarstellerinnen übertroffen, indem diese dieselben sozialen Legitimationsweisen und -symbole nutzten, sie jedoch medial wirksamer einzusetzen wussten. So schaffte es beispielsweise die spätere Innenarchitektin Elsie de Wolfe (1865-1950) in den 1890er Jahre als Schauspielerin, mit ihrem prägenden Kleidungsstil Mitglied in der frühen High Society zu werden.338 Wie andere Darstellerinnen auch stellte sie damit die bis dato vorherrschende Führungsrolle der Upper Class-Frauen in Modefragen zur Disposition, was sich ab 1913 spätestens in der eigenen Sektion »Gowns Seen on Stage« des Harper’s Magazine manifestierte. Indem Nesbits Fotografien vor 1903 häufig in Frauenmagazinen wie dem Cosmopolitan oder Metropolitan Magazine auftauchten, schrieb auch sie sich in die letzten Modetrends und Konsumentscheidungen ein.339 Schauspielerinnen nahmen diese Vorreiterrolle nicht nur in der Presse ein, sondern erweiterten ihre mediale Selbstinszenierung auch auf andere mediale und populärkulturelle Produkte wie Bücher, Fotopostkarten und seit Beginn der 1900er Jahre auf die Werbung.340 Damit legitimierten sie sich in den beiden Dekaden um die Jahr334 Ariel Beaujot: Victorian Fashion Accessories, London/New York 2012, S. 139. 335 Vgl. ebd. 336 Diese Öffnung des privaten Konsumverhaltens setzte auch die Upper Class unter Zugzwang. 1906 gab die Bankiersgattin Giulia Morosini dem New York Herald ein Exklusivinterview, bei dem sie ihre zwei Millionen Dollar teure Garderobe (heute rund 68 Mio. Dollar) präsentierte. Dies erzeugte jedoch keine Nahbarkeit, wie die High Society-Berichterstattung, sondern porträtierte sie als Vertreterin einer abgehobenen Schicht, vgl. Dunlop: Gilded City, S. xi-xiv. 337 Erving Goffman: Symbols of Class Status, in: The British Journal of Sociology 2:4 (1951), S. 294304, hier S. 303. 338 Vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 138. 339 Vgl. Tebbel/Zuckerman: Magazine, S. 98-104. 340 Vgl. Schweitzer: Broadway, S. 8; Banner: American Beauty, S. 176-80. Homestorys erschienen etwa auch in Buchformat, z. B. Gustave Kobbé: Famous Actors and Actresses and Their Homes, Boston 1903.

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Abb. 9: Fotostrecke von Evelyn Nesbit bei der Vorbereitung ihrer Ausgehtoilette

hundertwende über die Medien und wurden nicht nur Teil, sondern Leitfiguren der High Society. Zusammenfassend gilt festzuhalten, dass Nesbits zwischen 1900 und 1902 vor allem von Dritten sichtbar gemacht wurde. Selbst weitgehend ohne mediale Agenda, besaß sie dennoch mit ihrem Abb. 9 Körper und dem damit repräsentierten Frauenbild die Nachrichtenfaktoren für den Eintritt in die High Society, jedoch fehlten noch die Kontakte mit anderen Angehörigen dieser Gruppierung. Ferner blieben private Details über sie in der Regel eindimensional, deskriptiv oder wichen gar von den Bildinhalten ab. Dagegen ermöglichten ihre Fotografien, sie als nahbare Person auf einem intimen Level zu konsumieren, wobei ihre Sexualisierung klar im Vordergrund stand.

Evelyn Nesbit in der New Yorker High Society Evelyn Nesbits mediale Sichtbarkeit als Modell und Schauspielerin ermöglichten ihr, zwischen 1901 und 1902 in Kontakt mir New Yorker High Society-Mitgliedern zu treten. Obwohl nicht all ihre Beziehungen und ihre Verhaltensweisen die Aufmerk108

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samkeit der Medien erregten, begann sie sich mit Angehörigen der High Society zu treffen und deren Räume zu frequentieren, wodurch sie letztlich von der Gesellschaftsberichterstattung sichtbar gemacht und zum Mitglied der Formation wurde. Zentrale Figur für ihren Einstieg in die High Society war Stanford White (18531906). Als Partner des Architekturbüros McKim, Mead & White galt er als einer der wichtigsten Architekten der Vereinigten Staaten. Mit seiner Heirat in die New Yorker Upper Class im Jahr 1884 hatte er sich finanziell und gesellschaftlich abgesichert. Als Mitglied aller wichtigen Herrenclubs der Stadt war er mit führenden Künstler*innen und Mitgliedern der Upper Class vernetzt.341 Aufgrund seines ausschweifenden Lebensstils war sein Name seit den 1890er Jahren in den Spalten der New Yorker Gesellschaftsberichterstattung geläufig.342 Daneben führte er ein vor der Medienöffentlichkeit weitgehend verborgenes Doppelleben, das den gängigen Moralvorstellungen zuwider lief. So dienten ihm und einem ausgesuchten Freundeskreis mehrere geheimgehaltene Appartements zu alkoholischen und sexuellen Ausschweifungen.343 Zudem führte er außereheliche Affären mit vornehmlich jungen, teils minderjährigen Frauen aus den Künstlerstudios und dem Theater.344 Obwohl dieses Doppelleben in den Encounter-Öffentlichkeiten der Herrenclubs und am Broadway bekannt war, gelang es ihm, eine entsprechende Berichterstattung zu unterbinden. Dazu nutzte er seine Kontakte zu befreundeten Verlegern oder zahlte Schweigegeld.345 White war damit paradigmatisch für Männer der Oberschicht zur Jahrhundertwende, deren Mitglieder zwischen Upper Class- und High SocietyVerhalten oszillierten: gefangen zwischen dem zunehmenden medialen Interesse an ihrem – skandalösen – Privatleben und dem Versuch, ein öffentlich tadelloses Bild aufrechtzuerhalten. Durch Nesbits Freundschaft mit ihrer Florodora-Kollegin Edna Goodrich (18831972) wurde sie in Stanford Whites Kreis eingeführt, der sich stark über seine mediale Unsichtbarkeit bei gleichzeitiger Sichtbarkeit seiner Einzelmitglieder definierte. Goodrich selbst war eine erfolgreiche Broadwaydarstellerin und in der High Society-Berichterstattung präsent.346 Wie zu Beginn von Nesbits Modellkarriere zeigte 341 Vgl. Baker: Stanny, S. 91-116, 133-48. Zur Verortung zwischen Upper Class und High Society vgl. Barbara Dayer Gallati: »Identität und Ästhetik. Amerikanische Portraits des Gilded Age«, in: dies./Westheider: High, S. 14-27, hier S. 21-3. 342 Vgl. Baker: Stanny, S. 133. 343 White schrieb 1895 in einem Brief an den Skulpteur Frederick W. MacMonnies (1863-1937): »Monday Tuesday + party Wednesday – so if you can have one 18 year old smooth skinned firm breasted pretty little model ›in tap‹ for me – I shall be more than ever your friend«, Brief von Stanford White an Frederick William MacMonnies (6.7.1895), UC, Misc. 344 Vgl. Baker: Stanny, S. 280-1, 288-90. 345 Vgl. Ruth St. Denis: An Unfinished Life, New York/London 1934, S. 24. Whites Erfolg zeigt sich ex negativo, als es ihm 1895 nicht gelang, eine Sexparty mit einer 16-Jährigen vor der Presse geheim zu halten, vgl. Sarah Burns: Inventing the Modern Artist. Art and Culture in Gilded Age America, New Haven 1996, S. 86-7. 346 Vgl. etwa Italien Artist’s Choice of Type of American Beauty, Evening World, 21.8.1901, S. 7.

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sich, dass die mediale Sichtbarkeit allein nicht der einzig gangbare Weg war, um Zutritt in die High Society zu bekommen, sondern ebenso die Einführung durch bereits etablierte Mitglieder. Die häufige Abschottung von Stanford Whites Zirkel eröffnet ex negativo die Möglichkeit, frühe Aushandlungsmechanismen zum Schutz der Privatsphäre vor den Medien zu untersuchen. White konnte aufgrund seiner Ehe und gesellschaftlicher Moralvorstellungen seine (intimen) Kontakte zu Schauspielerinnen nicht publik werden lassen.347 Das galt in besonderem Maße für seine seit Herbst 1901 geführte Affäre mit Evelyn Nesbit. Seit seiner Ermordung fünf Jahre später ist es eine strittige Frage, ob er sie zu Beginn ihrer Beziehung vergewaltigte. Mit Blick auf teils widersprüchliche Aussagen von Nesbit und der Vorgeschichte von White scheint es am wahrscheinlichsten, dass er seine Machtposition und eine für ihn günstige Situation nutzte, um sie sexuell zu missbrauchen.348 Ihr alters- und genderbedingtes Machtgefälle gebrauchte er dazu, um sie hinterher von der Harmlosigkeit der Vergewaltigung zu überzeugen. Ohne Nesbits Schicksal als Betroffene sexueller Gewalt infrage zu stellen, gelang es ihr dennoch, sich nicht allein auf die Rolle des manipulierten Opfers reduzieren zu lassen. Nach eigenen Angaben gelang es ihr, White in der Folge emotional an sich zu binden, wodurch sie auch über das Ende ihrer bis Sommer 1902 andauernden sexuellen Beziehung hinaus pekuniär von ihm profitieren konnte.349 Ihre Affäre wurde erst durch Whites Privatwohnungen möglich, die er neben seiner Familienvilla unterhielt, insbesondere eine exklusive Etagenwohnung im Madison Square Garden Tower. In diesen fanden vor der Presse abgeschirmte Feiern, gesellige Abendessen und intime Treffen statt. Indem White zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen traf, wie Nesbit von anonymen Taxen abholen zu lassen, schützte in diesem Zeitraum der Privatraum und die Face-to-Face-Gesellschaft noch ihre Privatsphäre.350 Trotz der Vorkehrungen begannen Gerüchte über die Affäre von White und Nesbit innerhalb der High Society zu zirkulieren. Das weckte die Aufmerksamkeit von Medienvertreter*innen, die den Kontakt zwischen beiden jedoch lediglich als fach347 Zudem könnten seine Affären strafbar gewesen sein, da das Alter für einvernehmlichen Geschlechtsverkehr in New York State seit Ende der 1880er Jahre bei 16 Jahren lag, vgl. Mary E. Odem: Delinquent Daughters. Protecting and Policing Adolescent Female Sexuality in the United States, 1885-1920, Chapel Hill et al. 1996, S. 30. 348 Nesbits widersprüchliche Aussagen resultieren aus ihrem Vergewaltigungsvorwurf in den Strafprozessen 1907 und 1908 sowie in ihrer ersten Autobiographie, siehe Kap. II.2.2, II.3 und vgl. Nesbit: Story, S. 69-78, 82-5; andererseits entlastete sie White in ihrer zweiten Autobiographie, dies.: Prodigal Days, S. 40-2. Zu Whites vermutlich pädophilen Neigungen siehe Anm. 343 und 345 auf S. 109. 349 Vgl. ebd., S. 39-43, 47-8, 68, 77-8. Eine ausführliche Diskussion der bisherigen Debatte liefert Simon Baatz in ders.: Girl, S. 247-9. 350 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 32-3.

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liches Interesse von White für ihre Karriere ansprachen.351 Dies führte von Seiten anderer Schauspielerinnen zu teils starkem Konkurrenzdruck. Insbesondere Edna Goodrich begann, gegen sie zu intrigieren, da sie wegen Nesbit ihren eigenen Zugang zu White verloren hatte. Als Reaktion auf Goodrichs Verhalten veranlasste Stanford White über seine Broadway-Kontakte, dass sie dort keine Anstellung mehr fand.352 Dies macht das soziale Kapital von Nahbeziehungen innerhalb der frühen High Society deutlich – in dem durch Rivalitäten und Beziehungsgeflechte geprägten Theatergeschäft war mediale Sichtbarkeit allein noch kein Erfolgsgarant.353 Doch gelang es Stanford White nur kurzfristig, Goodrich vom Broadway auszuschließen. Durch die Fluidität und Heterosozialität der High Society sowie ihre Beziehungen zu anderen Gruppen konnte Goodrich ihre Sichtbarkeit erhalten und mittelfristig wieder Anstellungen finden.354 An Evelyn Nesbit lässt sich ferner nachvollziehen, wie zur Jahrhundertwende noch zeitgenössische Klassenwahrnehmungen für die Zusammensetzung der High Society relevant waren und zu welchen Spannungen die neue Heterosozialität führen konnte. Die Zunahme der Berührungspunkte zwischen Upper Class-Mitgliedern und Kulturschaffenden des Broadways zeigt exemplarisch eine Privataufführung von The Wild Rose im Sommer 1902 für Grace Graham Wilson Vanderbilt. Zu kolportierten Kosten von 5.000-25.000 Dollar (heute rund 178.000-888.000 Dollar) hatte sie die Besetzung des Knickerbocker Theatre engagiert, um in ihrer Newporter Villa Beaulieu eine gekürzte Version des Musicals aufführen zu lassen; eine Idee, die die Veranstaltung zum »Social Triumph«355 der Sommersaison machte.356 Nach der Aufführung mischten sich die Darsteller*innen unter die geladenen Mitglieder der Upper Class. Dabei kam es nach Evelyn Nesbit zu teils skurrilen Szenen, da viele der anwesenden Herren auf die Frage, woher sie die Darstellerinnen kannten, in Erklärungsnot gerieten.357 Dies verweist trotz der gesellschaftlichen Überlagerung vor Ort darauf, dass Upper Class- und High Society-Sphären situativ, räumlich und teils noch genderspezifisch separiert waren. Brach diese eingespielte Ordnung auf – wie hier 351 Vgl. Picturesque Career of Little Evelyn Nesbit, New York American. Weekend Supplement, 20.11.1904. 352 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 49-50. Zu diesem genderbedingten Machtverhältnis in der frühen High Society vgl. das ehemalige Chorus Girl Belle Livingstone: Belle Out of Order, New York 1959, S. 30-50. 353 Vgl. Mike Wallace: Greater Gotham. A History of New York City from 1898 to 1919, New York 2017, S. 462-3. 354 Vgl. etwa The Theater, The Evening Star, 11.11.1903, S. 16. 355 A Social Triumph by Mrs. Vanderbilt, Washington Times, 26.8.1902, S. 1-2, hier S. 1. 356 Vgl. Mrs. Vanderbilt’s Theatre Party Hit of the Season in Newport, Evening World, 26.8.1902, S. 3. Solch außergewöhnliche, medienwirksamen Veranstaltungen begannen sich um 1900 zu häufen, vgl. Drexel: Turn, S. 94, was als Anpassung an die High Society gedeutet werden kann. 357 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 61-2.

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bei der Verlagerung von Theaterdarsteller*innen ins räumlich exklusive Newport –, entstanden Irritationen.358 Zwar zitierte die New York World den Hauptdarsteller Eddie Foy mit den Worten: »We feel the compliment of being invited to eat supper at the same tables with the [upper class] guests«,359 womit die Veranstaltung mit ihrer sozialen Heterogenität bereits in Richtung der High Society zu tendieren schien. Doch verortete die Gesellschaftsberichterstattung das Ereignis noch klar im Raum und Deutungsrahmen der Upper Class. High Society und der Broadway funktionierten zu diesem Zeitpunkt also noch in erster Linie als semipermeable Membran, in die Upper Class-Mitglieder zwar eindringenkonnten, der Transfer in die andere Richtung jedoch weiterhin versperrt blieb. Durch Nesbits Theaterengagement bekam nicht nur ihre Präsenz in den Massenmedien einen Schub; ihr öffneten sich auch Räume und Praktiken, die für die High Society konstitutiv waren. Einen Ort, an dem beide Elemente zusammenfielen  – und der wie kein anderer für die Fluidität der frühen High Society stand – bildeten die lobster palaces. Wer hier konsumierte, wurde von der Encounter-Öffentlichkeit der High Society wahrgenommen und schaffte es vielleicht am Folgetag in die society pages der Tageszeitungen.360 Eine solche Episode beschreibt Evelyn Nesbit in ihrer Autobiographie. Während ihrer Zeit als Florodora-Tänzerin führte der zukünftige Ehemann ihrer Mutter, Mr. Holman, sie beide zu Rector’s aus: Rector’s was the after-the-theater rendezvous. It was renowned for its unexcelled food. There you saw everybody who was anybody in the Broadway milieu. […] The restaurant was divided in two: the famous – and infamous – sitting on the right side; hoi polloi on the left. And we were given a table on the right!361 Nesbit betont die Vergesellschaftung der Angehörigen der High Society im Restaurant und ihre sichtbare Abgrenzung von Nicht-Mitgliedern. Die Zugehörigkeit wurde performativ zelebriert: Sobald eine bekannte Person das Restaurant betrat, stoppte kurz die Musik, um den Gästen den Moment sensorisch zu markieren. Sodann begann die Band – falls möglich –, ein mit dem neuen Gast assoziiertes Musikstück zu spielen, während dieser an seinen Platz geführt wurde.362 Als einfaches Chorus Girl kam Nesbit für diese Behandlung zwar nicht infrage. Jedoch setzte sie der Oberkellner, der in diesem Fall als Gatekeeper über das »in« und »out« zur High

358 Auf das gleiche Verhalten verweist Lewis Erenberg in Bezug auf Restaurants, vgl. ders.: New York Nightlife, S. 52. 359 Mrs. Vanderbilt’s Theatre Party Hit of the Season in Newport, Evening World, 26.8.1902, S. 3. 360 Vgl. Wallace: Gotham, S. 426-7. 361 Nesbit: Prodigal Days, S. 24. 362 Vgl. Michael Batterberry/Ariane Ruskin Batterberry: On the Town in New York. The Landmark History of Eating, Drinking, and Entertainments from the American Revolution to the Food Revolution, New York 1999, S. 167.

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Society entschied, auf die Seite der sichtbaren Personen;363 – Nesbit wurde über das »in« und »out« zur High Society als Angehörige der High Society rezipiert. Durch diese doppelte Sichtbarkeit in den Medien und an Orten der High Society kam Evelyn Nesbit in Kontakt mit etablierten Mitgliedern, darunter mit Vertretern der Erbengeneration der robber barons. Seit Herbst 1901 traf sie sich etwa mit dem Verlegersohn Robert »Bobby« Joseph Collier (1876-1918), dem Bankierssohn James W. Barney (1878-unbek.) oder dem Polospieler James Montaudevert »Monty« Waterbury (1876-1920).364 Ihre Begegnungen fanden in den privaten Speisezimmern der lobster palaces statt,365 womit sie zu Face-to-Face-Ereignissen innerhalb der High Society wurden, jedoch nicht zwingend medialisiert werden mussten.366 Anders gelagert war der Fall mit dem späteren Theaterdarsteller und Filmstar John Barrymore (1882-1942). Ihre gemeinsamen Auftritte am Broadway, in Hotelrestaurants und lobster palaces erregten das Interesse der Medien. Barrymore hatte sie im Sommer 1902 bei einer von Stanford Whites Abendveranstaltungen kennengelernt.367 In den Folgemonaten kam es zwischen ihnen zu einer in der Gesellschaftsberichterstattung rezipierten Romanze. So schrieb der New York Morning Telegraph: »We knew that Jack Barrymore had fallen head over heels in love with Evelyn Nesbit, but we did not know that she had affected his mind to this extent: Says Barrymore: ›She is a quivering pink poppy in a golden wind-swept space.‹«368 Die ironische Beschreibung von Barrymores Zuneigung für Nesbit gab einen saloppen, lebendigen und nahbaren Einblick in eine exemplarische Beziehungsgeschichte der High Society. Nachdem Nesbit im Oktober 1902 eine Rolle in der Musical-Komödie Tommy Rot angenommen hatte, berichtete der New York Herald erneut über ihre Liebelei. Sie sei bislang von »joy and sunshine for three months of devoted camaraderie« geprägt gewesen: Gay and joyous with the freshness of youth, Evelyn Nesbit danced and sang her way into the hearts of all, but she showed preference to none until Jack [sic] Barrymore paid sudden and tempestuous court. Like two happy children, the after-theater Broadway began to see them with eyes for none others in the fashionable restaurants. Nightly he waited for her at the stage door […] In the afternoon they would drive or walk through the Park.369 Vgl. Knoch: Grandhotels, S. 292-3. Explizit für lobster palaces vgl. Street: Welcome, S. 63. Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 77-8. Vgl. ebd., S. 47-8. Vgl. Requate: Öffentlichkeit, S. 12. Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 60; Baker: Stanny, S. 328; John Kobler: Damned in Paradise. The Life of John Barrymore, New York 1977, S. 72. 368 O. T., New York Morning Telegraph, [Aug./Sept. 1902], zit. nach Nesbit: Prodigal Days, S. 60-1. 369 O. T., New York Herald, [Okt./Nov. 1902], zit. nach Richard O’Connor: Courtroom Warrior: The Combative Career of William Travers Jerome, Boston/Toronto 1963, S. 191. 363 364 365 366 367

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Der Artikel liefert Details ihres Alltags, ihres privaten Verhaltens und die von ihnen frequentierten Orte. Auffällig ist hierbei, dass trotz der Relevanz solcher Themen für die High Society-Berichterstattung die mögliche Brisanz des engen – aber unverheirateten – Kontakts von Nesbit zu Barrymore noch durch die Topoi von Kameradschaft und Jugendlichkeit eingefangen und entschärft wurde. Da beide durch ihr Verhalten mit viktorianischen Normen für Unverheiratete brachen, schien diese Zurückhaltung bei dem Bericht angebracht.370 Evelyn Nesbits Mutter war über das Verhältnis zu John Barrymore konsterniert. Dennoch blieb sie gegenüber dem Eigensinn ihrer Tochter machtlos, der sich aus ihrer familialen Versorgerinnenrolle und ihrem selbstständigen High Society-Lebensstil am Broadway und dessen Zirkeln speiste.371 Zudem prägte ein generationeller Konflikt ihr Verhältnis, da Nesbit die zur Jahrhundertwende zunehmend üblich werdende Erfahrung gemacht hatte, dass Großstädte erste sexuelle Freiräume für Unverheiratete eröffneten.372 Genau deshalb endete die Geduld ihrer Mutter, als Nesbit und Barrymore Ende 1902 eine Nacht miteinander verbrachten.373 Um weitere mediale Aufmerksamkeit zu vermeiden, die ihre Tochter mit konkreteren Gerüchten über eine Affäre öffentlich diskreditiert hätte, schickte sie sie auf ein Internat in Pompton, New Jersey; finanziert von dem ebenfalls wenig erfreuten Stanford White.374 Mit ihrem erzwungenen Rückzug aus New York endete Evelyn Nesbits Eintrittsund frühe ­Zugehörigkeitsphase in die High Society und die meisten ihrer Kontakte brachen ab.375 Dies zeigt, wie wichtig die Sichtbarkeit an Orten und der Umgang mit Angehörigen der High Society waren, da die damit verbundene mediale Aufmerksamkeit den eigenen Status bestimmte. Evelyn Nesbit gelang in der Zeit zwischen dem Beginn ihrer Theaterkarriere im Frühjahr 1901 bis zu ihrem räumlichen Ausscheiden Ende 1902 der Zutritt in die 370 Zur Bedeutung der Jungfräulichkeit im viktorianischen Sexualdiskurs vgl. Lloyd Davis: »The Virgin Body as Victorian Text: An Introduction«, in: Davis: Virginal Sexuality, S. 3-24, hier S. 3-5. Gleichwohl nahm vorehelicher Geschlechtsverkehr zur Jahrhundertwende zu, vgl. Edwards: New Spirits, S. 130-4. 371 Vgl. Brief von Florence Nesbit an Stanford White [Sommer–Herbst 1902], UC, Folder 10, Index K-L. 372 Vgl. John D’Emilio/Estelle B. Freedman: Intimate Matters. A History of Sexuality in America, 3. Aufl., Chicago 2013, S. 76-8; Edwards: New Spirits, S. 147-9. 373 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 63-5, 66-7; Prozessprotokoll (1907), S. 758-60, UC, Container 1516. 374 Vgl. Nesbit: Story, S. 83; dies.: Prodigal Days, S. 65. Noch in der Zwischenkriegszeit konnte vorehelicher Sex den Ruf einer Frau runieren, da physische mit moralischer Jungfräulichkeit gleichgesetzt wurde, vgl. D’Emilio/Freedman: Intimate Matters, S. 76-8; Joan Jacobs Brumberg: The Body Project. An Intimate History of American Girls, New York 1998, S. 143-5. 375 Vgl. etwa Notes of the Players, New York Times, 13.11.1902, S. 9; ferner Nesbit: Story, S. 84; dies.: Prodigal Days, S. 68; Baker: Stanny, S. 329.

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frühe High Society. Dieser vollzog sich graduell: Während er durch phasenweise stärkere und schwächere Verbindungen zu bereits etablierten Mitgliedern geprägt war, nahm ihre Sichtbarkeit vor allem durch Fotografien zu, die schnell einen hohen Verbreitungsgrad erreichten und sie wiedererkennbar und zur Ikone eines neuen Frauentyps, des Gibson Girl, machten. Damit zeigt sich an Nesbit, dass für Frauen die Kategorien der Schönheit und Körperlichkeit ausschlaggebende Faktoren waren, um mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen, wodurch sie in die High Society aufsteigen konnte. Dabei zeigte Evelyn Nesbit anfangs wenig Eigeninitiative bezüglich ihrer Sichtbarkeit. Vielmehr wurde sie durch Dritte, wie Fotograf*innen, die ein finanzielles Interesse an ihr hatten, oder durch ihre Theaterrollen sichtbar gemacht. Dann gelang es ihr aber, ihre Kontakte zu nutzen, um »in«-Faktoren zu bedienen, wie dass sie lobster palaces besuchte.

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3. Evelyn Nesbit und Harry Thaw als High Society-Paar Die bisherigen Kapitel vollzogen nach, wie Evelyn Nesbit und Harry Thaw aus unterschiedlichen sozialen Kontexten und unabhängig voneinander als Teil der sich etablierenden High Society reüssiert hatten. Dies ermöglichte ihnen, sich 1902 in den Encounter-Öffentlichkeiten des Broadways zu begegnen. Auf einer Europareise 1903 begannen sie eine Liaison und heirateten schließlich im April 1905. Dabei stellt sich die Frage, wie beide durch ihre Zugehörigkeit zur High Society zueinander fanden und welchen Lifestyle sie als Paar pflegten. Wie ihr Paarstatus Aufmerksamkeit generierte und wie sie damit umgingen, gilt es ferner zu untersuchen. Hierbei zeigt sich, welche individuellen Aushandlungsprozesse die Sichtbarkeit als High SocietyMitglied notwendig machte, was insbesondere bei Harry Thaws Verhältnis zu seiner Familie aus der Upper Class erkennbar wird. Die Phase verdeutlicht, wie stark die mediale Entmachtung und der damit einhergehende Kontrollverlust in den Medien ebenso wie in der Familie sein konnte, auch wenn daraus (erfolglose) Gegenmaßnahmen und der Aufbau von Medienkompetenzen resultierten.

3.1. High Society-Lifestyle und unregelmäßige Sichtbarkeit in den Medien (1903-4) Kontakt und Europareise Harry Thaw war während des Frühjahrs 1901 als Zuschauer auf Evelyn Nesbit in Florodora aufmerksam geworden und nahm im Folgejahr Kontakt zu ihr auf.1 In der Retrospektive stellte Nesbit seine Annäherungsversuche als großspurig, lästig und persistent dar, was sich jedoch aus dem Bruch ihrer Beziehung nach 1908 erklären lässt.2 Dagegen zeigt ihr zeitgenössischer Briefwechsel, dass Harry Thaw einer der wenigen war, zu dem sie in ihrer Internatszeit 1902/3 Kontakt hielt; sie war ihm zugeneigt, freute sich über seine Geschenke und forderte weitere Zuwendungen ein.3 Dabei dürften auch finanzielle Überlegungen eine Rolle gespielt haben, da die Heirat eine der wenigen gesellschaftlichen Aufstiegschancen für Frauen war und ein junger

1 Nesbit: Prodigal Days, S. 52-4; Thaw: Traitor, S. 101-2, 104. 2 Siehe dazu Kap. III.2.1. 3 Vgl. Briefe von Evelyn Nesbit, Pompton, an Harry Thaw, New York (9.2.1903 und o. D.), UC, Folder 8, Index F-G.

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Millionenerben eine attraktive Option darstellte.4 Diese klassenübergreifenden Hochzeiten waren ein vergleichsweise neues Gesellschaftsphänomen, das sich parallel zur Entstehung der High Society herausbildete. Die Ursachen für Heiraten von Angestellten oder Theaterschauspielerinnen mit vermögenden Männern erklärte die Berichterstattung in der Regel mit körperlicher Schönheit oder ihren Kontaktmöglichkeiten in heterosozialen Räumen wie dem Theater; es waren genau die Kriterien, die parallel für Frauen für den Einstieg in die High Society relevant wurden.5 Zugleich waren diese klassenübergreifenden Verbindungen Zeugnisse für den sich zunehmend etablierenden Selbstverwirklichungsgedanken, der auch die Partnerwahl betraf und Scheidungszahlen ansteigen ließ, wenn Ehen nicht den Vorstellungen entsprachen.6 Die Beziehung zu Harry Thaw wurde ernsthafter, als im Frühjahr 1903 eine akute Blinddarmentzündung Evelyn Nesbits Internatsaufenthalt beendete und eine Erholungsreise notwendig machte.7 Ihre Mutter war zunächst gegen Thaws Angebot, eine gemeinsame Europareise zu finanzieren. Sein mediales Bild passte nicht zu ihren Vorstellungen eines respektierlichen (Ehe-)Manns. Gegen den Widerstand der Mutter akzeptierte Evelyn Nesbit das Angebot und überzeugte jene schließlich, als Anstandsdame mitzureisen.8 Ihre Reise wich in einigen Punkten signifikant von Thaws bisherigen Europaaufenthalten ab und eröffnet damit eine neue Perspektive auf die Reisepraktiken der High Society zur Jahrhundertwende. Sie bereisten England, Frankreich und Italien, mit Zwischenstopps in der Schweiz und auf dem Balkan, wobei Konsum- und Vergnügungspraktiken dominierten. Dies zeigte sich besonders in Paris, wo Thaw und die Nesbits ein Appartement in der Avenue Matignon, einem der exklusivsten Pariser Boulevards, bezogen. Neben Besuchen von kulturellen Zielen wie dem Louvre stand der Konsum als Praxis und Erlebnis im Mittelpunkt. Hierbei führte Harry Thaw Evelyn Nesbit in die Räume des amerikanischen Upper Class-Tourismus ein, in denen er in den Jahren zuvor bereits verkehrt war.

4 Vgl. Howard P. Chudacoff/Judith Smith/Peter Baldwin: The Evolution of American Urban Society, 8. Aufl., Old Tappan 2016, S. 120. 5 Vgl. Banner: American Beauty, S. 181-3. 6 Vgl. Stephanie Coontz: Marriage, a History. From Obedience to Intimacy or How Love Conquered Marriage, Princeton 2005, S. 201-2. Für mediale Aufmerksamkeit sorgte etwa Edna Goodrichs Heirat mit dem Millionär Edward F. Stancey aus Cincinnati im März 1902, nur um sich bereits im August wieder von ihm zu trennen, nicht ohne finanziell davon profitiert zu haben, vgl. Loses His ›Pretty Maiden;‹ She Wants Freedom, New York World, 14.8.1902, S. 7. 7 Vgl. Nesbit: Story, S. 84-5; dies.: Prodigal Days, S. 74-5. 8 Vgl. ebd., S. 76-9. Deutlich formulierte ihre Mutter ihren Widerwillen gegen die Reise in einem Brief an Stanford White, vgl. Brief von Florence Nesbit an Stanford White [Apr. 1903], UC, Folder 10, Index D. ������������������������������������������������������

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Mit seiner weiblichen Begleitung veränderte sich jedoch seine Konsumpraxis strukturell: Zur Jahrhundertwende verband weiblicher Konsum – insbesondere von Mode – immer stärker die privaten Wünsche mit öffentlichem Auftreten und Status, sodass Kaufentscheidungen zunehmend zur Charakterfrage stilisiert wurden.9 Dementsprechend bedeutsam waren geschlechterspezifische Händler*innen und Waren: So erwarb Nesbit in der Rue de la Paix oder dem Bois de Boulogne die neueste Mode oder kaufte Schmuck bei Tiffany’s.10 Bald besaß sie »[n]ew hats and gowns for every occasion«,11 wobei sie sich erinnerte, dass »anything my eyes beheld in the Paris shops was mine for the asking. Genuine diamond buckles for my black satin evening slippers. Dazzling hats and frocks. Ermine and silver fox. Rare perfumes.«12 Folglich trat Evelyn Nesbit die Rückreise mit 21, Harry Thaw mit drei Gepäckstücken an.13 Ihre mehrmaligen Stopps in Paris prägte also ein – im Gegensatz zu Thaws alleinigen Reisen – ungekannter Konsum von Luxusgütern, da dieser für die Selbstinszenierung von Frauen in Encounter-Öffentlichkeiten besonders relevant war.14 Dagegen glichen sich die Freizeitveranstaltungen mit Ausflügen nach Versailles oder Fontainebleau, sonntägliche Pferderennen in Longchamp, Auteuil oder Maisons-Laffitte sowie »an incessant round of dinners, operas, theaters, parties, [and] picnics«.15 Im Gegensatz zu New York agierten sie nun gemeinsam in diesen Räumen und der touristischen Gemeinschaft, wobei sie in den Encounter-Öffentlichkeiten füreinander Aufmerksamkeit erzeugten: »Tout Paris became interested in me because of my extreme youth and the fact that I was seen about with Harry Thaw.«16 Nesbits Beobachtung bestätigt, dass Harry Thaw in der Face-to-Face-Öffentlichkeit der High Society über Kontakte verfügte, sichtbar war und die Möglichkeit hatte, Dritte einzuführen. Dies resultierte aus seiner Sichtbarkeit in der europäisch-amerikanischen Presseöffentlichkeit – die beide durch ihre Lektüre amerikanischer Zeitungen in Europa wiederum selbst rezipierten –,17 aber vor allem aus seiner regelmäßigen Teilhabe an den touristischen Räumen und Veranstaltungen der High Society. Seine Kontakte veränderten sich dabei zum Teil durch Nesbits Anwesenheit, wie 9 Vgl. Tracey Deutsch: Gender and Consumption in the Modern United States, in: Ellen Hartigan-O’Connor/Lisa G. Materson (Hg.): The Oxford Handbook of American Women’s and Gender History, Oxford 2018, S. 356-75, hier S. 359-60, 364. 10 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 82, 103-4; Thaw: Traitor, S. 108. Den Schmuck kauften sie zwar in London, was aber umso deutlich zeigt, dass die gewandelten Konsumpraktiken während der ganzen Europareise galten und strukturell mit Nesbit als weiblicher Reisender zusammenhingen. 11 Nesbit: Prodigal Days, S. 130. 12 Ebd., S. 115. 13 Vgl. Thaw Sends Miss Nesbitt Here to Save Allowance, o. Z., 1.11.1904, in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 16, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358. 14 Vgl. diese Form des conspicuous display bei Veblen: Theory, S. 86. 15 Nesbit: Prodigal Days, S. 82; vgl. ferner ebd., S. 82, 115. 16 Ebd., S. 82; Thaw: Traitor, S. 108. 17 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 129.

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dass er über ihre früheren Beziehungen in das Theatergewerbe in Kontakt mit dortigen High Society-Mitgliedern kam, wie etwa mit der – wieder mit Nesbit versöhnten – Edna Goodrich.18 Das gleiche galt für Nesbit, die durch Harry Thaw in Kontakt mit einem internationalen Set aus europäischen und internationalen Adeligen, wie dem iranischen Aga Kahn III. (1877-1957), Vertreter*innen der Unterhaltungsindustrie, wie die Varieté-Sängerin Cléo de Mérode, und Mitgliedern der New Yorker High Society, wie der Innenarchitektin Elsie de Wolfe, kam.19 Wie stark bei ihrer Reise noch Moralvorstellungen des Gilded Age ihr Verhalten an sichtbaren Orten bestimmte, zeigt sich am Beispiel der Anstandsdame. Im Laufe des Sommers 1903 kam es in London zum Zerwürfnis mit Nesbits Mutter, sodass Nesbit und Thaw allein weiterreisten. Daher brauchten sie für Paris eine neue Aufsichtsperson, wofür sie eine alleinstehende Pittsburgherin engagierten, denn wie Nesbit festhielt: »Unchaperoned in Paris, I would have been branded a cocotte.«20 Außerhalb dieses gesellschaftlichen und medialen Zentrums der amerikanischen High Society in Europa, war die Reisebegleitung dagegen kein conditio sine qua non mehr.21 Die restlichen Reisestationen entsprachen den üblichen Zielen der High Society und Harry Thaws vorherigen Aufenthalten in Mitteleuropa. Für einige Reiseetappen mietete er ein Auto, das er, für die Upper Class unüblich, selbst steuerte. Diese sportliche Betätigung stellte performativ seine Männlichkeit unter Beweis.22 Mit Aufenthalten in London, Paris und München umfasste die Reiseroute 1903 wieder Elemente einer Kulturreise und führte sie in den Alpen nach Innsbruck, Meran sowie Zürich und wieder zurück nach Paris.23 Dort begann auch ihre zweite gemeinsame Reise im Folgejahr. In Monte Carlo schaffte es Harry Thaw, sich durch sein Verhalten ins Zentrum der Encounter-Öffentlichkeit des Casinos zu stellen, wie Evelyn Nesbit beklagte: »His eccentric ways, his unique ›system‹ of play were the talk of Monaco.«24 Bereits in den Jahren zuvor hatte er es durch seine Spielweise geschafft, in der amerikanischen Presse rezipiert zu werden.25 18 Vgl. Thaw: Traitor, S. 131-2. 19 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 82-83, 86-7, 97-8; Thaw: Traitor, S. 113; Robert Coughlan: The Aga, the Aly, and the Rita, in: LIFE Magazine (16.5.1949), S. 125-42, hier S. 136. 20 Nesbit: Prodigal Days, S. 104. 21 Vgl. ebd., S. 101-2, 106-7; Thaw: Traitor, S. 109-10. Der Zwang zur Anstandsdame hatte sich erst in den 1890er Jahren langsam zu lockern begonnen, vgl. Maureen E. Montgomery: ›The Fruit That Hangs Highest‹: Courtship and Chaperonage in New York High Society, 1880-1920, in: Journal of Family History 21:2 (1996), S. 172-91, hier S. 186-8. 22 Vgl. Thaw: Traitor, S. 110-1, 129-31; Nesbit: Prodigal Days, S. 136. Zur Performanz des Autofahrens und Bedeutung für Männlichkeitsbilder vgl. Gijs Mom: Atlantic Automobilism. Emergence and Persistence of the Car, 1895-1940 (=  Explorations in Mobility, 1), New York 2015, S. 39-63. 23 Vgl. Thaw: Traitor, S. 110-1; Nesbit: Prodigal Days, S. 107, 115. 24 Ebd., S. 131. 25 Vgl. Tammany and Other Things of Which New Yorks Gossip, Denison Review, 4.2.1902, S. 2. ������������������������������������������������������

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Den Sommer 1903 verbrachten sie in Norditalien und der Schweiz, wo sich ihre Wege trennten: Evelyn Nesbit blieb zur Kur im Baur-au-Lac Hotel in Zürich, während Harry Thaw eine einmonatige Reise mit dem Auto über Wien nach Budapest mit dem Pittsburgher Benjamin »Sport« Donnelly (1869-1922) unternahm.26 Hier zeigt sich die gesellschaftliche Durchlässigkeit der High Society, da Thaw zusammen mit einem der ersten professionellen Footballspieler reiste. Sport Donnelly war Teil der sich seit den 1890er Jahren parallel zur High Society herausbildenden neuen Gesellschaftsgruppe der Profisportler. Ebenso wie bei der High Society verantwortete die Intensivierung der Sportberichterstattung maßgeblich ihre Professionalisierung.27 Diese getrennte Reise zeigt wiederum, wie stark auch Gender die Reisemodalitäten beeinflusste. Harry Thaw brach allein in diese touristisch weniger stark frequentierte Region Europas auf,28 wohingegen Evelyn Nesbit als Frau dorthin scheinbar nicht mitreisen musste. Das steht in starkem Kontrast zum Frauenbild in der High Society der späten 1920er und frühen 1930er Jahre, als Frauen sogar expeditionsartige Unternehmungen nach Afrika oder Indien als Teil ihres exzeptionellen Lifestyles inszenierten.29 In Zürich genoss Nesbit Massagen, nahm Kurbäder und spielte Billiard.30 Neben der Erholung war bereits die Arbeit am eigenen Körper ein großes Thema. Dies wurde zwar erst in den 1910er Jahren zur Maxime erhoben,31 doch begannen bereits zur Jahrhundertwende unter dem Eindruck schlanker werdender Körperideale in der Unterhaltungsindustrie, der sportliche natural look und erste Diäten um sich zu greifen.32 Dementsprechend nahm Evelyn Nesbit andere Frauen im Seebad bewusst als Vergleichskörper und sichtbare Konkurrentinnen wahr: »There was one very fine looking girl she was very blonde & very long & slim & looked like Undine is supposed to look.«33 Als Folge achtete sie nicht nur verstärkt auf einen ausgewogenen Speiseplan, sondern begann auch mit täglichen Schwimmübungen.34 Obwohl Evelyn Nesbit in ihrer Autobiographie das Verhältnis zu Harry Thaw während dieser ersten Reise sehr negativ darstellte, lässt ihr zeitgenössischer Briefwechsel auf eine intime und zärtliche Beziehung schließen. Zwar ergibt sich hier das generelle Problem der historischen Sexualforschung, wonach die zeitgenössischen Kontexte es häufig nicht erlaubten oder verunmöglichten, dass Akteur*innen über

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Vgl. Thaw: Traitor, S. 129-31; Nesbit: Prodigal Days, S. 130, 134-135. Richard O. Davies: Sports in American Life. A History, 2. Aufl., Chichester 2012, S. 51-2. Vgl. Thaw: Traitor, S. 131. Vgl. Hornung: Welt, S. 209-65. Vgl. Brief von Evelyn Nesbit an Harry Thaw [Herbst 1903], UC, Folder 10, Index K-L. Vgl. Brumberg: Body, S. 95-137. Vgl. Banner: American Beauty, S. 128-9. Brief von Evelyn Nesbit an Harry Thaw [Herbst 1903], Zitate S. 1, 7, 3, UC, Folder 10, Index K-L. Vgl. ebd. evelyn nesbit und harry thaw als high society-paar

ihre Sexualität oder bestimmte Aspekte davon schrieben.35 Doch weisen die Formulierungen in Nesbits Briefen auf ihre sexuelle Beziehung hin. So klagte sie Thaw während ihrer getrennten Zeit in Zürich und Ungarn, dass ihre Nächte »most terrible lonesome« seien, während derer sie »wished and wished for him«.36 Ihre Beziehung konnten sie in Europa – im Gegensatz zu New York – vergleichsweise öffentlich ausleben, da nicht beständig ihre Medialisierung drohte. Deutlich wird dies insbesondere daran, dass Evelyn Nesbit und Harry Thaw 1903 und 1904 auf verschiedenen Reiseetappen auf eine Anstandsdame verzichteten, ohne fürchten zu müssen, mediale Resonanz hervorzurufen. Doch stellte sich diese Gewissheit als trügerisch heraus: Die Florodora-Darstellerin und High Society-Angehörige Frances Belmont hatte 1902 phasenweise die europäische Saison gemeinsam mit Harry Thaw verbracht und sich offensichtlich Chancen bei ihm ausgemalt – entsprechend konsterniert war sie im Folgejahr, als sie Evelyn Nesbit in Paris traf, die ihre Position eingenommen hatte.37 Zurück in New York versuchte Belmont, Nesbits Ruf als jugendliches Gibson Girl in der Encounter-Öffentlichkeit der High Society zu ruinieren, wie Nesbit von dort erfuhr: »Frances Belmont has done all she can to make your name a by-word in New York.«38 Noch deutlicher wurde die Problematik ihres freizügigen Verhaltens in Europa im Konflikt mit der späteren Afrikaschriftstellerin Ida Vera Simonton (1870-1931). Sie entstammte einer reichen Pittsburgher Familie, und Thaw hatte sie als Anstandsdame für ihren Pariser Sommer im Jahr 1903 gewinnen können.39 Wie mit Nesbits Mutter ging auch diese Anstellung im Streit auseinander und setzte sich bis nach New York fort, in das Ida Simonton zurückkehrte. Im Oktober 1903 drohte der Konflikt zwischen ihr und Evelyn Nesbit zu eskalieren: Nesbits und Thaws Versuche, sie mit Drohungen ebenso wie mit Geldgeschenken davon abzuhalten, ihre als nonkonform geltende Europareise publik zu machen, kommentierte Ida Simonton hämisch: »[Y]our trip to Switzerland alone with Mr. Thaw is [already] known and is being commented upon.« Vor allem auf Nesbits Versuche, sie unter Druck zu setzten, reagierte sie mit der Androhung medialer Sichtbarkeit: Employ all the lawyers you please, make all the noise you please – nobody cares. You forget I am a newspaper woman and can show up some things not very complimentary to yourself. […] You must remember I found you living alone in a house with a man […] and as the whole affair is to be made public newspaper 35 Vgl. John D. Wrathall: Reading the Silences Around Sexuality, in: Kathy Lee Peiss (Hg.): Major Problems in the History of American Sexuality. Documents and Essays, Boston 2002, S. 16-25, hier S. 19. 36 Brief von Evelyn Nesbit an Harry Thaw [Herbst 1903], S. 3, UC, Folder 10, Index K-L; zu diesen Formulierungen als Chiffren für Sex vgl. Karen Lystra: »Sexuality in Victorian Courtship and Marriage«, in: Peiss: Major Problems, S. 229-36, hier S. 231. 37 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 97-8. 38 Brief von Ida Vera Simonton an Evelyn Nesbit (20.10.1903), UC, Folder 10, Index K-L. 39 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 105, 119-20. ������������������������������������������������������

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scandal, it [Nesbits eigene Darstellung der Geschichte, ES] will not be very creditable to some people.40 Durch die überschaubare Gruppe der Upper Class- und High Society-Mitglieder, die ihre jährliche Sommersaison in die europäischen Hotspots unternahm, konnten Verhaltensweisen kaum geheim gehalten werden. Entsprechend stark stiegen Erpressungsversuche mit sexuellem Fehlverhalten um die Jahrhundertwende an.41 Doch trat bei der frühen High Society zunehmend das Interesse der Medialisierung dieser gesellschaftlichen Normbrüche in den Vordergrund und nicht allein die Drohung der gesellschaftlichen Exklusion.42 Der Konflikt zwischen Nesbit und Simonton schien sich zu verlaufen, da bis 1904 keine Berichte über ihre Reisen mit Thaw in den social news auftauchten. Simontons Rolle kam im Zuge der beiden Mordprozesse (1907/8) erneut auf, da sich die Staatsanwaltschaft von ihr Ein­blicke in Thaws Verhalten erhoffte,43 dem sie sich jedoch mit einer fast zweijährigen Afrikareise entzog.44

Nesbit und Thaw in New York Während der gemeinsamen Europareise wurde Harry Thaw sexuell übergriffig und missbrauchte Evelyn Nesbit während eines Aufenthalts auf Schloss Katzenstein in Südtirol. Da sie in Europa finanziell von ihm abhängig war, konnte sie nicht umgehend zurückreisen, kehrte aber einige Wochen vor Thaw im Oktober 1903 allein nach New York zurück.45 Ihr Ziel war es, ihre Broadway-Karriere wieder aufzunehmen.46 Als problematisch erwies sich hierbei ihre räumliche Abwesenheit und fehlende mediale Präsenz in New York seit fast einem Jahr. Daher versuchte sie, ihren Körper erneut als genderspezifisches Eintrittsmedium einzusetzen. Das lässt sich exemplarisch an ihrer Beziehungsarbeit zu Sam Shubert (1875-1905), einem der wichtigsten Broadway-Produzenten des frühen 20. Jahrhunderts, zeigen.47 Sie be40 Beide Zitate im Brief von Ida Vera Simonton an Evelyn Nesbit (20.10.1903), UC, Folder 10, ­Index K-L. 41 Vgl. Angus McLaren: Sexual Blackmail. A Modern History, Cambridge 2002, S. 60-3. 42 Vgl. Lawrence M. Friedman: Name Robbers:  Privacy, Blackmail, and Assorted Matters in ­Legal History, in: Hofstra Law Review 30:4 (2002), S. 1093-132, hier S. 1113. 43 Vgl. Trial of Thaw May be Delayed Untill Summer, Evening World, 3.12.1906, S. 1; Her Testimony to Change Thaw Case, Evening World, 12.11.1907, S. 2. 44 Vgl. Jeremy Rich: Ida Vera Simonton’s Imperial Masquerades: Intersections of Gender, Race and African Expertise in Progressive-Era America, in: Gender & History 22:2 (2010), S. 322-40, hier S. 325-6. 45 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 108-14, 116. 46 Vgl. Brief von Evelyn Nesbit, Pompton, an Harry Thaw, New York (9.2.1903), UC, Folder 8, Index F-G. 47 Vgl. Jonas Westover: The Shuberts and Their Passing Shows. The Untold Tale of Ziegfeld’s Rivals, New York 2016, S. 6-9.

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kam bei ihm eine kleine Rolle in dem Broadwaystück The Girl from Dixie, das ab dem 14.  Dezember 1903 im Madison Square Theatre lief, jedoch nach nur drei Wochen floppte.48 Gegenüber Shubert setzte Nesbit d ­ ezidiert ihre körperliche Schönheit als sozialen und wirtschaft­ lichen Aktivposten ein, als sie ihm den Abzug einer ihrer Studioaufnahmen als Weinachtsgruß übersandte (Abb. 10). Die Fotografie zeigt Nesbit im Zweidrittelporträt vor planem Hintergrund in einem schlichten, hellen Kleid. Dabei verschwimmt die Grenze zwischen nackter und bedeckter Haut. Diese Rahmung lenkt den Blick des Betrachters auf ihren Körper, Gestus und Mimik. Erstere sind dabei doppeldeutig, da offenbleibt, ob sie Abb. 10: Evelyn Nesbits signierte Weihnachtsmit ihrem Griff in ihr fast ganz entblößtes karte an Sam Shubert (1903). Dekolleté ihr Kleid am endgültigen Herabgleiten hindert oder es bewusst herabzieht. Diesen Schwebezustand unterstreicht, dass sich unter dem Stoff ihre Brustwarzen sichtbar abheben. Ebenso enigmatisch ist ihre Mimik: Nesbits halb geschlossenen Augen erwidern direkt den Blick des Beobachters und scheinen in Verbindung mit dem sinnlich geöffneten, leicht lächelnden Mund die Aufnahme in einem erotischen Schwellenmoment zu fixieren. Damit betonte sie einerseits auf herausfordernde Art ihre körperliche Schönheit; andererseits erzeugten ihre Gestik und Mimik einen imaginativen Möglichkeitsraum für den Betrachtenden. Durch ihre handschriftliche Widmung an Sam Shubert – »Just me« – erzeugte sie eine über das Bild hinausgehende Verbindung mit ihm, die auf eine intime, sie selbst gleichsam offenbarende Ebene abzielte. Dieses Beispiel zeigt, dass Nesbit nicht mehr allein die von Dritten zum erotischen Objekt reduzierte junge Frau war wie noch zwei Jahre zuvor. Vielmehr schöpfte sie nun selbst ihre Erotik gezielt aus, um sich in der Konkurrenz am Broadway strategisch zu positionieren. Der Erfolg ihrer gesteigerten sozialen und medialen Kompetenz schien sich abzuzeichnen, da sie Shubert trotz des Fehlschlags von The Girl from Dixie weiterhin zu Partys einlud und beide, auch während ihrer erneuten Europareise im Sommerhalbjahr 1904, Kontakt hielten.49 Gleichwohl konnte sie 48 Vgl. Spielplan ›A Girl From Dixie‹ (Madison Square Theatre, NY) (Dez 1903), UC, Container 17. 49 Vgl. Brief (25.12.1903) und Postkarte (27.7.1904) von Evelyn Nesbit an Sam Shubert, beide in ShA, Evelyn Nesbit Letters to Sam Shubert, 1903-4. ������������������������������������������������������

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diese Verbindung nicht in mediale Sichtbarkeit oder weitere Bühnenanstellungen umwandeln. Darüberhinaus knüpfte Nesbit wieder an alte Kontakte in der High Society an: Sie traf sich mit Mitgliedern des Florodora-Musicals und anderen Kolleginnen, erneuerte Beziehungen wie etwa zu Bobby Collier und auch zu Stanford White, an dessen Abendveranstaltungen sie wieder regelmäßig teilnahm.50 Dennoch generierte sie dadurch ebenso wie mit ihrer Rolle in dem erfolglosen Shubert-Musical keine mediale Aufmerksamkeit. Somit zeigte sich in der Wintersaison 1903/4, dass Evelyn Nesbit die Möglichkeiten fehlten, sich selbst wieder sichtbar zu machen, nachdem sie aus der High Society ausgeschieden war. Dadurch fiel sie erneut auf ihren vorherigen Status als Schauspielerin zurück, der sie für die Presse nicht per se berichtenswert machte. Im Gegensatz zu Evelyn Nesbit konnte Harry Thaw nach seiner Rückkehr wieder nahtlos an die Wintersaison in New York anschließen. Ihr beider Vergleich macht offenkundig, wie stark mediale Sichtbarkeit während dieser Phase noch von Klasse respektive Vermögen abhing. Thaw konnte durch beides einerseits wieder Anschluss an die Encounter-Öffentlichkeiten von 1900/1 und 1901/2 finden, was ihn erneut zur medial interessanten Person machte.51 Andererseits erlaubte ihm sein finanzielles Handlungspotenzial, selbst medienrelevante Ereignisse zu veranstalten.52 Damit hatte er bereits Aufmerksamkeitskapital angesammelt, das er für seine Vergesellschaftung in der High Society nutzen konnte. Er nahm wieder an Dinner-Veranstaltungen in den lobster palaces wie dem Rector’s oder Sherry’s teil, suchte diesmal aber verstärkt Kontakt zu nicht aus der Upper Class stammenden High Society-Mitgliedern wie den Theaterdarstellerinnen May Hopkins und Edna Chase oder den Sportlern Charlie Sands und Sport Donnelly. Diese breitere Vernetzung innerhalb der High Society rezipierte die Gesellschaftsberichterstattung: »His dinners […] attracted attention because of their magnificence and the attendance at them of persons known on the stage, in the world of art and in the market places.«53 Erst ihre gemeinsame Sichtbarkeit mit Harry Thaw auf seinen Veranstaltungen bescherte Evelyn Nesbit wieder die Aufmerksamkeit der society pages, wenngleich ihre Beziehung weiterhin geheim blieb.54 Laut eigener Aussage hatte sie Thaw im Laufe der Wintermonate den sexuellen Missbrauch verziehen und sich ihm erneut angenähert – womit sie dem gleichen Verhaltensmuster

50 Nesbit: Prodigal Days, S. 119-22. 51 Vgl. Mrs. Astor’s Ball Climax of the Season, New York Times, 12.1.1904, S. 7. 52 Vgl. Derix: Thyssens, S. 15; die Einladungen von 1903/4 in Briefe von Harry Thaw (1903-26), S. 5-12, UC, Folder 8, Index F-G. 53 Mr. Harry Thaw’s Dinner Was Enlivened by the Varied Music and Arbitration, o. Z., 6.1.1904, in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 17, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358. 54 Vgl. ebd.

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wie gegenüber White folgte –, da er sich in dieser für sie schwierigen Findungsphase erneut intensiv um ihre Gunst bemüht hatte.55 Es kann damit gezeigt werden, dass Harry Thaw durch seine Herkunft und die Handlungsmöglichkeiten, die sich aus den verschiedenen Dimensionen seines Vermögens ergaben, Optionen eröffneten, mit denen er sich im Gegensatz zu Evelyn Nesbit selbst wieder sichtbar machen konnte. Die Klasse als Binnendifferenzierung der High Society in (potenzielle) Mitglieder von »oben« oder »unten« bildete somit weiterhin einen ausschlaggebenden Faktor für ihre Sichtbarkeit.56

3.2. (Un-)Kontrollierbare Medienpräsenz (1904-5): Das Spannungsfeld aus Beziehung, Familie und Medienöffentlichkeit [Evelyn Nesbit’s] face has become pretty familiar by this time […] but it seems an age since her name was last in the papers. Almost three days, isn’t it? Nobody seems to know for a fact whether Miss Nesbit is or is not married to Harry Thaw, the Pittsburg [sic] young man about town, but one thing is dead sure, and that is, that it must be a mighty important reason why it should be necessary for a young girl’s name to be bandied back and forth with the abandon that this girl’s cognomen has met.57 Mit diesem Resümee blickte ein New Yorker Magazin im Dezember 1904 auf die intensive Medialisierung von Evelyn Nesbit im Kontext eines Skandals zurück, der die High Society-Berichterstattung Ende des Jahres in Anspruch genommen hatte. Über Syndikatsmeldungen wurde die Geschichte in den ganzen USA gelesen.58 Im Oktober des Jahres hatten Zeitungen über die Affäre von Evelyn Nesbit und Harry Thaw zu berichten begonnen, indem sie Hochzeitsgerüchte verbreiteten. An dieser Episode in der Frühphase der High Society lassen sich grundsätzliche Aushandlungsprozesse in der Dreierkonstellation aus Upper Class, High Society und Medien nachvollziehen. Dies gilt vor allem in Bezug auf die Medialisierung von Nahbeziehungen, das Wechselspiel aus medialer Ermächtigung und Entmachtung sowie auf die aus der Berichterstattung resultierenden Verhaltenspraktiken und Klassenfragen. Ferner ermöglicht die Detailanalyse dieser paradigmatischen Episode Rück55 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 128. 56 Dies hing kausal mit den finanziellen Möglichkeiten zusammen, die sich in der Regel aus der Klassenzugehörigkeit ergaben und Handlungspotenzial verliehen, vgl. Derix: Thyssens, S. 15. 57 Florence Evelyn Nesbit (Thaw?), in: o. Z., 30.12.1904, in: Evelyn  Nesbit, Vol. 1, S. 33, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358. 58 Vgl. This Photograph Brought Fame and Fame Brought a Millionaire Husband to an Unknown Philadelphia Girl, Sunday Press, 30.10.1904, S. T.20.

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schlüsse auf allgemeine Verhaltensweisen und Logiken der High Society, wie etwa Akteur*innen mit einem bislang ungekannten Grad an medialer Aufmerksamkeit umgingen und welche kurz- und mittelfristigen Folgen dies für sie hatte.

»A story as amazing as that of Cinderella«: Heiratsgerüchte und Handlungszwänge in der Upper Class und High Society Der Skandal begann im Herbst 1904, als sich Evelyn Nesbit und Harry Thaw zur season in London aufhielten und dabei das Interesse eines amerikanischen Korrespondenten erregten.59 Am 23. Oktober berichtete das New York American and Journal und tags darauf sogar die New York Times in ihrer Gesellschaftsrubrik, dass Nesbit und Thaw vermählt seien.60 Als direkte Folge ihrer Berichterstattung stellten die Zeitungen fest, dass Thaws Familie ihn nach Pittsburgh zurückbeordert habe, da er mit der öffentlich sichtbaren Liaison zu einem Chorus Girl den Bogen des gesellschaftlich Erträglichen überspannt habe. Die Drohung stand im Raum, ihm sein jährliches Einkommen von rund 80.000 Dollar wieder auf die testamentarisch festgelegten 2.500 Dollar zu kürzen (von heute rund 2.330.000 Dollar auf 73.000 Dollar).61 Nach seiner Ankunft in New York reiste Harry Thaw aber nicht nach Pittsburgh weiter, sondern nahm gemeinsam mit Evelyn Nesbit, das High Society-Leben in der New Yorker Wintersaison auf.62 Sie begleitete eine für beide bislang ungekannte mediale Aufmerksamkeit, die um die Frage ihres Beziehungsstatus zirkulierte. Trotz wiederholter Dementis konnten sie die Berichterstattung nicht kontrollieren oder wesentlich mitgestalten. Stattdessen ergingen sich die Medien in wilden Spekulationen über ihren Beziehungsstatus, Vermögens- und Verwandtschaftskonflikte und befragten dazu scheinbar Eingeweihte. Das Medienereignis glich ähnlichen zeitgenössischen Gesellschaftsskandalen klassenübergreifender Ehen, wie die Heirat des Pittsburgher Millionenerbes John A. Moorhead mit dem Zimmermädchen seiner Mutter.63 Die Skandalberichterstattung machte Evelyn Nesbit aus Sicht der New York American zeitweilig zur »Most Talked-of Woman in America«.64 Das mediale Interesse verebbte erst, als nach über einem Monat Thaw New York verließ und Nesbit sich aus der Öffentlichkeit zurückzog. Dies war gleichsam die Kapitula-

59 Vgl. Thaw: Traitor, S. 132. 60 Vgl. Thaw’s  Bride a ›Florodora‹ Beauty, New York American and Journal, 23.10.1904, S. 33; H. K. Thaw Weds Chorus Girl, New York Times, 24.10.1904, S. 6. 61 Vgl. Harry Thaw Is Hurrying Home to Be Spanked, Morning Telegraph, 30.10.1904. 62 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 142-3. 63 Damit wurden Nesbit und Thaw direkt verglichen, vgl. Heir to Millions Has Wed His Mother’s Maid, Evening World, 21.5.1906, S. 5. 64 Picturesque Career of Little Evelyn Nesbit, New York American. Weekend Supplement, 20.11.1904.

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tion der beiden vor der medialen Aufmerksamkeit und der daraus resultierenden unkontrollierbaren Berichterstattung. Nach dem Medienwissenschaftler Steffen Burkhardt lassen sich Skandale in fünf Phasen unterteilen.65 In der Latenzphase des Skandals benannten die New Yorker Zeitungen die sittliche Grenzüberschreitung, um die sie in den Folgewochen das journalistische Narrativ der human interest story entwickelten: Mit dem Heiratsgerücht als Schlüsselereignis verhandelte die Presse die Frage, ob eine Frau aus der Unterhaltungsindustrie einen Mann der Oberschicht heiraten könne. Dies war zugleich ein medialer Aushandlungsprozess darüber, in welchem Spannungsverhältnis High Society und Upper Class zueinanderstanden. Denn Harry Thaw wurde in erster Linie als High Society-Mitglied dargestellt: Laut New York American and Journal war seine mediale Sichtbarkeit sein zentrales Charakteristikum geworden: »[D] uring the past two years [Thaw] has managed to make news at about the rate of about a column a week«.66 Die Gesellschaftsberichterstattung rekapitulierte seine am stärksten rezipierten Aktionen, wie das »Beauty Dinner« von 1900 oder Auftritte mit Mrs. Arthur Paget bei der Londoner season, als Belege seines exzentrischen, mit Upper Class-Werten nonkonformen Verhaltens. Genau damit sei es ihm gelungen, sich als »one of the idols of the ultra rich smart set«67 zu etablieren.68 In dieses Bild passten nun schlüssig die Heiratsgerüchte mit einem Modell und einer Schauspielerin. Da Nesbit in den vergangenen eineinhalb Jahren durch ihre räumliche Abwesenheit ihren High Society-Status weitestgehend eingebüßt hatte, referierte die Tagespresse in der Aufschwungphase des Skandals auf ihre Karriere zwischen 1900 und 1902. Im Gegensatz zu Harry Thaw erfolgte dies erneut in erster Linie über Fotografien. Die Zeitungen experimentierten mit Nesbits Aufnahmen aus diesen Jahren und verstärkten wahlweise bestimmte Deutungen ihres öffentlichen Images. Zwar resultierte darauf zuerst kein kohärentes Bild von ihr, jedoch ging es schließlich in einen neuen Deutungsrahmen über:69 Verglichen mit der zum Entstehungszeitpunkt der Fotografien vorherrschenden Erotisierung von Nesbit als Jugendliche oder Chorus Girl traten nun moderate Deutungen hinzu, die sie als respektable Frau der gehobenen Mittelschicht erscheinen ließen. Im Laufe des Skandals machten erotische Aufnahmen zunehmend Platz für stärker respektable Abbildungen im Stile des Gibson Girl. Diese Verschiebung macht deutlich, was Paula-Irene Villa als die »körperliche (Re-)Produktionen sozialer Ordnung«70 bezeichnet: Visuelle Marker geben soziales Standing und Zugehörigkeit 65 Vgl. Burkhardt: Medienskandale, S. 183-205. 66 Thaw’s Bride a ›Florodora‹ Beauty, New York American and Journal, 23.10.1904, S. 33. 67 This Photograph Brought Fame and Fame Brought a Millionaire Husband to an Unknown Philadelphia Girl, Sunday Press, 30.10.1904, S. T.20. 68 Vgl. ebd; Evelyn Nesbitt Is Now Mrs. Thaw, Says Her Ma, Morning Telegraph, 25.10.1904. 69 Vgl. Sikorski/Ludwig: Relevanz, S. 198-206. 70 Paula-Irene Villa: Der Körper als kulturelle Inszenierung und Statussymbol, in: APuZ 18 (2007), S. 18-26, hier S. 25.

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wieder und bestimmen damit ganz wesentlich die Wahrnehmung einer Person.71 Für Evelyn Nesbit bedeutete das, dass die Gesellschaftsberichterstattung nun Fotografien von ihr abdruckte, die zu dem Status als potenzielle Gattin eines Millionärs passten. Auf sprachlicher Ebene veränderten sich die Begrifflichkeiten ebenfalls vom moralisch ambivalenten Chorus Girl zur künstlerisch legitimierten »actress«.72 Beides ermöglichte, sie als Vertreterin einer Erfolgsgeschichte präsentieren zu können und dabei zugleich das darin liegende Spannungsfeld auszubreiten: Evelyn Nesbit habe es durch ihre Schönheit geschafft, von der armen Theaterdarstellerin zur Ehegattin eines reichen Erben aus der Upper Class aufzusteigen (Abb. 11). Dass ihr Protestantismus und ihre angloamerikanische whiteness eine Grundbedingung waren, um für eine derartige Beziehung überhaupt infrage zu kommen, ließ die Presse unerwähnt.73 In diesem Zuge tendierte die Berichterstattung in der Hochphase des Skandals zu einer immer stärkeren Emotionalisierung. Nesbits medial bekannter Lebensweg machte ihre Beziehung mit Thaw in den Augen eines Kommentators zum »climax of a story as amazing as that of Cinderella«.74 Zu diesem rags to riches-Narrativ passten zudem die Berichte über ihren High Society-Lifestyle in Europa: Meanwhile little nineteen-year-old Evelyn Nesbit stands revealed as the most conspicuous young woman of her years in America – in rapid leaps she has sprung from a boarding-house keeper’s daughter to all the comforts and luxuries of millions; servants, furs, jewels, automobiles and the $2,000 ›royal suite‹ on the ocean liner which brought the little model back from Europe the other day.75 Nesbit erschien damit nicht nur als mögliches Beispiel für den gesellschaftlichen Aufstieg; die Berichterstattung machte sie zudem zur beispielhaften (Luxus-)Konsumentin – auch wenn noch häufig ein moralisierender Unterton entsprechende Berichte begleitete. Angesichts dieser Medialisierung von Evelyn Nesbit liefern die parallel abgedruckten Abbildungen von Harry Thaw weitere Rückschlüsse auf die High Society. Bei ihm begnügten sich die Medien mit Zeichnungen, die kaum Ähnlichkeit mit ihm aufwiesen,76 während Pressefotografen zugleich versuchten, aktuelle Schnapp71 Vgl. ebd., S. 24-6. 72 Editorial, in: The Stage (18.11.1904), o. S., in: Evelyn  Nesbit, Vol. 1, S. 26, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358. 73 Vgl. etwa Lida Rose McCabe: Poor Girls Who Marry Millions, in: Cosmopolitan 41:3 (1906), S. 249-58. 74 This Photograph Brought Fame and Fame Brought a Millionaire Husband to an Unknown Philadelphia Girl, Sunday Press, 30.10.1904, S. T.20. 75 Picturesque Career of Little Evelyn Nesbit, New York American. Weekend Supplement, 20.11.1904. 76 Vgl. etwa ›I’ll Horsewhip Thaw!‹ Cries Miss Nesbit’s Mother, New York American, 3.11.1904, S. 1, 3, hier S. 1.

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Abb. 11: Ausführlicher Artikel über Nesbits Lebensweg von ihrer Kindheit zur potenziellen Gattin von Thaw in der Sonntagsbeilage der New York American.

schüsse von Nesbit zu bekommen.77 Ex negativo demonstriert diese Bildpraxis, dass der visuelle Wiedererkennungswert von Männern weniger wichtig war als der von Frauen – was ihre geringere Bedeutung in der High Society-Berichterstattung widerspiegelt. Besonderes Interesse zeigte die Presse an den Nahbeziehungen der Thaws. Die Drohung, Thaws Einkommen zu kürzen, zeugte von einer ungewohnten Einigkeit der Familie. Mit Simone Derix demonstriert der Vorfall, dass Vermögen als »Medium des Sozialen«78 wirken kann, das Familienmitglieder in Konfliktsituationen verbindet und einigt. Denn die Entscheidungsgewalt über das Familienvermögen obliegt in der Regel nicht Einzelnen, sondern wird wesentlich von familialen Interessen bestimmt.79 So führten Harry Thaws Verhalten und skandalöse Präsenz in den Medien dazu, dass Mary Copley Thaw sich mit ihren Stiefsöhnen auf gemeinsame Konsequenzen einigen konnte. Thaws drohende finanzielle Einschränkung entfachte zudem Spekulationen über familieninterne Streitigkeiten bezüglich der richtigen Verwendung des Vermögens, was allgemeinere Transformationsprozesse im Habitus der vermögenden Oberschicht widerspiegelte: Auf der einen Seite standen Personen wie Thaws ältester Halbbruder Benjamin, der sein Vermögen gemäß den normativen Regeln der Upper Class des Gilded Age konsumierte.80 Deren private Konsumpraktiken, wie Bälle und 77 Vgl. ›Married. Oh, No!‹ Thaw and Miss Nesbit Arrive, New York American, 2.11.1904. 78 Simone Derix: Zwischen Meritokratie und Heritokratie, in: Zeiträume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung (2014), S. 32-42, hier S. 37. 79 Vgl. ebd., S. 37-8; Gajek/Kurr: Reichtum, S. 15-6. 80 Vgl. etwa The Newport Carnival, New York Tribune, 7.8.1906, S. 7.

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Dinner, zielten vor allem auf Anerkennung innerhalb der eigenen Klasse.81 Als Vertreter der anderen Seite konsumierte Harry Thaw sein Privatvermögen in (halb-) öffentlichen Räumen, um sich über die anwesenden Rezipient*innen vor einer (medialen) Öffentlichkeit zu inszenieren. Letztere wirkte konstitutiv auf die Entstehung der High Society, was May van Rensselaer auf folgendes Beziehungsgeflecht brachte: »There is no universal qualification for acceptance, except the possession of money and the knack of spending it so as to assure the maximum of publicity.«82 Doch zeigte der Skandal, dass diese Handlungsmaxime der High Society bei Upper ClassMitgliedern wie Thaw an innerfamiliären Machtgefällen zu scheitern drohte.83 Er besaß keine autonome Verfügungsgewalt über sein Vermögen, sondern hing von der Unterstützung seiner verwittweten Mutter ab, die als matriarchales Familienoberhaupt fungierte, sowie vom Wohlwollen der übrigen Trustees. Diese Abhängigkeit verwendete die Familie nun als Disziplinierungsmittel, um von Harry Thaw ein normatives Verhalten im Sinne ihrer Upper Class-Vorstellungen zu erzwingen.84 Dabei war es nicht nur der Beziehungskonflikt, den die Skandalberichterstattung sichtbar machte. Sie benannte die Familie Thaw zudem als Antagonistin in Nesbits Aufstiegsnarrativ. Der Fokus rückte vom Konventionsbruch hin zur Klassenfrage: Für wen und warum war die Beziehung der beiden aufgrund ihres Status nicht angemessen? Über den eigentlichen Fall der Thaws hinaus kann dies als Aushandlungsprozess über die Zusammensetzung der High Society interpretiert werden. Insbesondere Mary Copley Thaw stand in der Berichterstattung stellvertretend für die Abgrenzungsbemühungen der Upper Class: Angered by his [Harry Thaw’s] continued stay in New York and the consequent scandal it has brought on the family, which realized only part of its high ambitions when the daughter was married to the Earl of Yarmouth, Mrs. Thaw has decided, so she said to-day, to materially reduce her son Harry’s income […]. More than that, all family ties have been broken.85 Zwar ist es fraglich, ob Mary Copley Thaw selbst dieses Statement herausgab.86 Bereits Ende Oktober 1904 hatte sie es abgelehnt, gegenüber dem Evening Telegraph Stellung zu beziehen, wobei sie wenig Feingefühl im Umgang mit der Öffentlichkeit erkennen ließ: »I will not answer any question whatever with a man who works on

81 Vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 31-2. 82 Van Rensselaer: Social Ladder, S. 165; vgl. ferner Ponce de Leon: Self-Exposure, S. 164-7. 83 Vgl. Derix: Thyssens, S. 26-7. 84 Vgl. Harry Thaw Is Hurrying Home to Be Spanked, Morning Telegraph, 30.10.1904. 85 Harry Thaw Gives Up Income of $75,000 For Evelyn Nesbit, New York Evening Journal, 5.11.1904. 86 Im Gerichtsverfahren 1907 dementierte sie aktive Pressearbeit, vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 3087, UC, Container 15-6.

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the Lord’s Day.«87 Damit verweigerte sie sich nicht nur den Medien, sondern bestätigte Vorurteile gegen eine von der breiten Schicht der Amerikaner*innen abgekapselte Oberschicht, die mediale Unsichtbarkeit vorzog.88 Doch verdeutlicht die Sichtbarmachung der familialen (Konflikt-)Beziehung das zunehmende Interesse der Medien – und damit indirekt der Öffentlichkeiten – an der Privatsphäre und den Konflikten innerhalb dieser medialisierten Gesellschaftsformation. Aus den Reaktio­ nen der Thaws lässt sich ferner schließen, dass sie es als übergriffiges Eindringen in ihre Privatsphäre empfanden.89 Wie Evelyn Nesbit rückblickend anmerkte, wollte Mary Copley Thaw unter allen Umständen diese »mésalliance«90 verhindern. Dass dies ebenso wie der Familienkonflikt auch die Wahrnehmung der medialen Öffentlichkeit war, unterstreicht obiger Artikelauszug unabhängig von der Authentizität des Statements. Demnach falle Thaws skandalöses Verhalten auf die Familie zurück, die aus ihrer Upper Class-Logik heraus die Verbindung und die Medialisierung ihrer Privatheit ablehne. Wesentlich positiver fiel dagegen die Berichterstattung über Nesbits Mutter aus, die wieder in Pittsburgh lebte, wo sie zwischenzeitlich Chales J. Holman, den Präsidenten der Pittsburgher Börse, geheiratet hatte. Im Gegensatz zu Mary Copley Thaw war sie bereit, mit den Medien zu kommunizieren. Sie bestätigte die Vermählung und lieferte weitere Detailinformationen über die Europareise.91 Diese Rollenverteilung lieferte den Medien die Möglichkeit, die konfligierenden privaten Interessen und Nahbeziehungen weiter auszudifferenzieren und einer interessierten Leserschaft zu unterbreiten. Da diese society-Berichte von ihren Einblicken in die Privatheit der Medialisierten zehrten,92 gelang es auch Dritten, ihre Verbindungen mit den Akteur*innen zu nutzen, um sich selbst sichtbar zu machen. So berichtete der Morning Telegraph, dass Harry Thaw »a lot of friends« in der Stadt habe, »[who are] busy circulating stories about his generosity and charity.«93 Exemplarisch zeigt der Fall von Nesbit und Thaw im Winter 1904 das zunehmende Interesse der Redakteur*innen der society pages an konfliktreicheren Meldungen und moralisch strittigeren Themen.

87 Vgl. This Photograph Brought Fame and Fame Brought a Millionaire Husband to an Unknown Philadelphia Girl, Sunday Press, 30.10.1904, S. T.20. 88 Vgl. Alan Dawley: »The Abortive Rule of Big Money«, in: Fraser/Gerstle: Ruling, S. 149-80, hier S. 149-51, 163-4. 89 ›I’m Not Harry  Thaw’s Wife,‹ Declares Evelyn  Nesbitt.  Scandal Prostrates Mother, Morning Telegraph, 4.11.1904. 90 Nesbit: Story, S. 91. 91 Vgl. etwa ›I’ll Horsewhip Thaw!‹ Cries Miss Nesbit’s Mother, New York American, 3.11.1904, S. 1, 3. 92 Vgl. Hornung: Blick, S. 4. 93 ›I’m Not Harry  Thaw’s Wife,‹ Declares Evelyn  Nesbitt.  Scandal Prostrates Mother, Morning Telegraph, 4.11.1904.

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Die Betrachtung des Skandals ermöglicht es ferner nachzuvollziehen, wie stark die Medien auch jenseits der von ihnen medial geschaffenen Öffentlichkeiten in das Alltagsleben der High Society-Mitglieder eindrangen und ihre Verhaltensweisen beeinflussten. Bereits auf der Rückfahrt von England hatte Harry Thaw auf dem Luxusliner Kaiser Wilhelm II. für sich und Nesbit – da unverheiratet – je eine royale Suite mit fünf Zimmern zum Preis von insgesamt 4.000 Dollar gebucht (heute rund 137.000 Dollar). So konnten sie den Kontakt zu Mitreisenden vermeiden.94 Die mediale Aufmerksamkeit wirkte auf die (halb-)öffentlichen Räume der Encounter-Gesellschaft aus Upper Class- und High Society-Mitgliedern zurück und konnte sich über ein erträgliches Maß hinaus steigern.95 Als Ausweg kam nur mehr ein Rückzug in einen abgeschirmten Privatraum in Betracht, was dem Rechtsphilosophen Raymond Wacks zufolge das Gefühl von Autonomie zurückgibt.96 Bei ihrer Rückkehr nach New York bezogen beide Räume im Cumberland Hotel, das sie jedoch aufgrund ihres ungeklärten Familienstands noch am gleichen Tag verlassen mussten.97 Evelyn Nesbit warf dem Manager vor, die Situation bewusst eskaliert zu haben, um von ihnen als Werbefaktor zu profitieren: »He just talked to reporters by the hour. I really think he wanted to advertise his hotel, for I’m sure no one ever heard of his hotel before.«98 Zwar waren laut der Journalistin Ishbel Ross (1895-1975) die Gesellschaftsreporter*innen noch bis Mitte der 1900er Jahre »as welcome in a hotel as a burglar. It was incredible that he [the reporter] should have any motive for being there except murder, suicide, robbery, fire or scandal.«99 Doch zeigt das Beispiel von Nesbit und Thaw, dass Hoteliers bereits zur Jahrhundertwende unter bestimmten Vorzeichen selbst skandalträchtige Berichterstattung willkommen hießen, wenn sie dadurch von der Sichtbarkeit ihrer Gäste profitieren konnten.100 Die anschließende Flucht der beiden vor Reportern und ihre Einquartierung in verschiedenen Unterkünften füllte die Ereignisberichterstattung der Abendausgaben. Sie ermöglichte den Leser*innen, den Skandal mitzuverfolgen (Abb. 12). Die städtische Presse hielt die intensive Berichterstattung in den Folgetagen aufrecht, getragen von vermeintlich neuen Details, Statements der Verwandten und

94 Vgl. Thaw Sends Miss Nesbitt Here to Save Allowance, o. Z., 1.11.1904. 95 Vgl. Brighenti: Visibility (2007), S. 335. 96 Vgl. Raymond Wacks: Privacy and Media Freedom, Oxford 2013, S. 21. 97 Vgl. Harry Thaw Home to Face Mother, o. Z., 2.11.1904, in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 21, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358; Nesbit: Prodigal Days, S. 141. 98 Marion the Maid (=May MacKenzie): ›I’m Not Harry  Thaw’s Wife,‹ Declares Evelyn  Nesbitt.  Scandal Prostrates Mother. Evelyn Longs for Dear Paris Again, Morning Telegraph, 4.11.1904. 99 Ross: Ladies, S. 449. 100 Diese Erkenntnis setzte sich erst Ende der 1900er Jahre flächendeckend durch, vgl. ebd., S. 449-50.

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Abb. 12: Ein Stadtplan mit den Fluchtrouten von Evelyn Nesbits und Harry Thaws Kutschen aus dem Cumberland Hotel.

Ortswechseln der Akteur*innen.101 Nesbit und Thaw wussten mit diesem ungekannten Maß an Aufmerksamkeit nicht umzugehen, das ihnen die Zeitungen als Taktgeber vorgaben.102 Die mediale Entmachtung und die damit einhergehende Überforderung zeigt sich im Verhalten der Skandalisierten: Sie dementierten erfolglos die Heiratsgerüchte, nahmen aber zugleich ihren High Society-Alltag wieder auf. Unter der Prämisse, dass ihre Beziehung nun medial bekannt sei, besuchten sie gemeinsam das Theater, die Oper und Feste oder aßen in lobster palaces wie dem St. Regis oder Martin’s öffentlich zu Abend.103 Das stellte sich als Fehler heraus, da ihnen die Aufmerksamkeit, die sie erregten, zur Belastung wurde. Evelyn Nesbit erinnerte sich: »The more obdurate we were in our silence on the subject, the more it excited the newspaper men.«104 Folglich stellten ihnen Reporter*innen nach; sie mussten Theaterbesuche und Abendessen abbrechen oder ganz absagen und konnten sich nicht mehr unbehelligt in öffentlichen Räumen wie städtischen Parks bewegen.105 Ohne seine Strategie zu ändern, reflektierte der Morning Telegraph: »Both remained in se-

101 102 103 104 105

Vgl. etwa Thaw and ›Bride‹ Lost. Baggage Separated, New York American, 4.11.1904, S. 3. Vgl. Burkhardt: Skandal, S. 15. Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 142; Prozessprotokoll (1907), S. 1344-5, 1347, UC, Container 15-6. Nesbit: Prodigal Days, S. 142. Vgl. Evelyn Nesbit Drives in Park, o. Z., 7.11.1904, in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 19, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358.

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clusion yesterday, evidently overcome by the surfeit of notoriety which they have obtained«.106 Neben diesen Folgen für ihre sozialen Räume beeinflusste die Skandalisierung die Interaktion zwischen Reporter*innen und Akteur*innen. Eines der Hauptprobleme für Evelyn Nesbit waren dabei Interviewanfragen.107 Dieses journalistische Format hatte sich erst im Laufe der 1890er Jahren durchzusetzen begonnen, nachdem der Zeitungsmagnat Joseph Pulitzer als Erster dessen Potenzial erkannt hatte. Interviews verliehen human interest stories eine neue, nahbare Dimension und vermittelten Emotionen, weshalb sie großen Anklang in den Redaktionen der society pages sowie unter den Leser*innern fanden.108 Sie lösten die bis dato üblichen deskriptiven Berichte aus zweiter Hand ab. Denn sie suggerierten größere Nähe der Leser*innen zur*zum Interviewten, da sie sowohl ein scheinbar authentisches Bild der Person lieferten als auch Einblicke in deren*dessen Privatleben vermittelten.109 Ende des 19. Jahrhunderts ging zwar die Skepsis gegenüber dieser journalistischen Form zurück, ebenso wie die Kritik am zu starken Eindringen der*des Interviewers*in in die Privatsphäre der Befragten.110 Doch wurde häufig die journalistische Praxis beanstandet, Interviews entweder frei erfunden oder zu stark überarbeitet zu haben.111 Letzteres galt in der Leserschaft jedoch gemeinhin nicht als verfälschend, sondern als notwendige Interpretationsleistung angesehen, um hinter die »scheinhaft-artifizielle Oberflächen«112 der Interviewten zu gelangen.113 Mit dieser journalistischen Praxis sahen sich Harry Thaw und insbesondere Evelyn Nesbit im Jahr 1904 erstmals konfrontiert. Auf Nesbits Weigerung, sich zu äußern, wurden Reporter*innen selbst kreativ und erfanden ganze Interviews mit ihr,114 allein 25 innerhalb der letzten Oktoberwoche.115 Beispielsweise druckte der

106 ›I’m Not Harry Thaw’s Wife,‹ Declares Evelyn Nesbitt. Scandal Prostrates Mother, Morning Telegraph, 4.11.1904. 107 Vgl. Evelyn Nesbit Drives in Park, o. Z., 7.11.4. 108 Vgl. Ruchatz: Individualität, S. 39-52; Silvester: Introduction, S. 9; Fahs: Assignment, S. 93-4. 109 Vgl. Ponce de Leon: Self-Exposure, S. 57-9; Ruchatz: Individualität, S. 84, 89, 95-6. 110 Vgl. ebd., S. 56-61. 111 Vgl. ebd., S. 64-6; Fahs: Assignment, S. 109-10. 112 Ruchatz: Individualität, S. 36. 113 Vgl. Fahs: Assignment, S. 109-10; Ruchatz: Individualität, S. 116-7. 114 Vgl. ›Horrid Reporters!‹ Cries Miss Nesbit, New York American, [04.11.1904]. Wie mit Nesbits idealtypischer Zurückhaltung umzugehen sei, erläuterten zeitgenössische Journalistikhandbücher, vgl. etwa Grant Milnor Hyde: Newspaper Reporting and Correspondence. A Manual for Reporters, Correspondents, and Students of Newspaper Writing, New York/London 1912, S. 170-2. 115 Vgl. Marion the Maid (=May MacKenzie): ›I’m Not Harry Thaw’s Wife,‹ Declares Evelyn Nesbitt.  Scandal Prostrates Mother. Evelyn Longs for Dear Paris Again, Morning Telegraph, 4.11.1904.

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New York Herald das Interview einer »›Miss Nickalls‹, a friend of Miss Nesbit«,116 das diese mit ihr geführt habe und für dessen Echtheit Harry Thaw bürge. Darin berichtete Nesbit von Details ihres Aufenthalts in London und von den emotionalen Belastungen durch ihre momentane Situation.117 Für die Gesellschaftsberichterstattung waren die dabei vermittelten Emotionen von besonderem Interesse.118 Daneben erschienen Interviews mit tatsächlichen Freundinnen von Nesbit, wie ihrer ehemaligen Kollegin Hattie Forsyth. Sie lieferte weitere Details zum Skandal und machte sich damit zugleich selbst sichtbar.119 Sie gaben der Berichterstattung den Anschein großer Authentizität, Nähe und Kenntnis der Akteur*innen.120 Jedoch waren sie in ihrer Entgrenzung für Evelyn Nesbit und Harry Thaw absolutes Neuland. Dabei handelte es sich um eine spezifische Form des Eindringens in ihre Privatsphäre: Interviews machten scheinbar intime Informationen öffentlich und entmächtigten beide, da sie auf deren Inhalte nicht einwirken konnten. Auf diesen Kontrollverlust konnte ein medialer Normierungsdruck folgen, da die erzwungene Sichtbarmachung die Betroffenen nötigt, innerhalb des so von den Medien abgesteckten Rahmens selbst aktiv zu werden.121 Folglich reagierte Nesbit auf die externen Formungen ihres medialen Bildes mit ihren ersten eigenen Interviews, die sie über einen Kontakt im New York American platzierte. Dort verfasste ihre ehemalige Florodora-Kollegin und enge Freundin May MacKenzie eine Gesellschaftskolumne. Seit Sommer 1904 berichtete sie aus der Innenperspektive über die High Society und nahm dabei die Doppelrolle einer Produzentin und Rezipientin ein, indem sie selbst für die mediale Aufmerksamkeit sorgte, von der sie als Mitglied wiederum profitierte.122 Bis in die 1920er Jahre entwickelten sich Kolumnen zu einem der zentralen Instrumente der High Society-Berichterstattung. Kolumnisten wie Maury Paul (18901942) oder Elsa Maxwell (1883-1963) berichteten aus und über die High Society und nahmen damit wesentlichen Einfluss auf deren Medialität und Zusammensetzung.123 MacKenzies Interviews antizipierten eine Entwicklung in den society pages der 1910er Jahre, in denen die Freundschaft zwischen Interviewer*innen und High 116 Reports Untrue, Says Miss Nesbit, New York Herald, 4.11.1904. 117 Vgl. ebd. 118 Vgl. Glenn Wallach: ›A Depraved Taste for Publicity‹: The Press and Private Life in the Gilded Age, in: American Studies 39:1 (1998), S. 31-57, hier S. 32, 53. 119 Thaw and ›Bride‹ Lost. Baggage Separated, New York American, 4.11.1904, S. 3. 120 Vgl. Ruchatz: Individualität, S. 36-7, der betont, dass die Authentizität von Interviews kulturgeschichtlich irrelevant ist, solange das zeitgenössische Publikum diese annimmt. 121 Vgl. Brighenti: Visibility (2007), S. 335. 122 So nahm MacKenzie etwa regelmäßig an der Sommersaison in Europa teil, vgl. Briefe von Harry Thaw an May MacKenzie (o. D.), UC, Folder 8, Index D; zu ihrer Kolumne vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 129-30. MacKenzie stand damit in der Tradition von Schauspielerinnen wie Lillian Russell (1861-1922), die sich ebenfalls mittels Kolumnen selbst inszenierten, vgl. Fahs: Assignment, S. 24. 123 Vgl. Hornung: Welt, S. 37-8, 40-2.

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Society-Mitgliedern immer wichtiger für eine authentische Berichterstattung wurde.124 Ferner verdeutlichen ihre Interviews die Bedeutung von Gender in der High Society-Berichterstattung: Auf der einen Seite vertraute sich Evelyn Nesbit explizit einer Frau an, was einen authentischeren Einblick liefern sollte. Auf der anderen Seite eröffnete dies Gesellschaftsreporterinnen einen der wenigen Bereiche, in denen sie in den Medien gegen ihre männliche Konkurrenz reüssieren konnten.125 In ihren ersten Interviews dementierte Nesbit die Ehegerüchte und beklagte ihre mediale Entmachtung: »Almost everything that has been printed has been wrong. […] I haven’t spoken to a single reporter, yet there are whole […] interviews credited to me.«126 Zugleich versuchte sie, damit die Deutungshoheit über die mediale ­Verschiebung der Grenze ihrer Privatsphäre zurückzugewinnen. Gegenüber May ­MacKenzie war sie bereit, diese Einblicke zu gewähren. In deren Kolumnen erschien sie als typisches High Society-Mitglied, etwa indem sie ihr neues »georgeous set of silver fox furs« beschrieb und ihr Raum gegeben wurde, zu erklären, warum sie und Harry Thaw nicht in London geheiratet hätten.127 Sie passte sich damit der medialen Logik an, die das Interview als authentischen Einblick in das Leben der High Society-Mitglieder inszenierte. Dennoch ließ die zuvor gesuchte und nun paradoxerweise zu intensive mediale Aufmerksamkeit nicht nach und setzte das Paar immer weiter unter Druck. Als Ausweg zogen sich Nesbit und Thaw Ende November ganz aus der Öffentlichkeit zurück,128 wozu ihnen die Flüchtigkeit medialer Aufmerksamkeit verhalf: Nach nur drei Tagen konstatierte die Presse, es sei »an age since her name was last in the papers.«129 Nesbit verbrachte die nächsten Monate unter falschem Namen in verschiedenen Apartments im Norden Manhattans,130 sehr zum Verdruss der Medienöffentlichkeit: »Miss Nesbit still keeps herself sedulously from the public gaze [!]«.131 Harry Thaw reiste seinerseits nach Pittsburgh ab, um seine Mutter von seinen Eheplänen zu überzeugen.132

124 Vgl. Ponce de Leon: Self-Exposure, S. 60-2. 125 Vgl. Silvester: Introduction, S. 13. 126 Marion the Maid (=May MacKenzie): ›I’m Not Harry  Thaw’s Wife,‹ Declares Evelyn  Nesbitt.  Scandal Prostrates Mother. Evelyn Longs for Dear Paris Again, Morning Telegraph, 4.11.1904. 127 Marion the Maid (=May MacKenzie): Evelyn Has the Proofs Now, and She’s Very, Very Happy, Morning Telegraph, 21.11.1904. 128 Vgl. Says Miss Nesbit Has Moved Again, o. Z., 22.11.1904, in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 27, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358. 129 Siehe Anm. 57 auf S. 125. 130 Vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 1354-5, 1357, 1359-65, UC, Container 15-16. 131 Seeking Proof of Brother’s Marriage, Benjamin Thaw Will Race to Europe, o. Z., 18.11.1904, in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 26, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358. 132 Vgl. Miss Nesbitt Has Made No Demands of Thaw Family, o. Z., 16.11.1904, in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 21, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358.

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Nesbit und Thaw wurden von der Intensität der medialen Aufmerksamkeit erst überrascht, dann desillusioniert und schließlich überfordert. Durch ihre Zurückhaltung gegenüber den Reporter*innen scheiterten sie anfangs daran, die sich zum Skandal entwickelnde Geschichte mit beeinflussen zu können. Ohne sich anscheinend wirklich der medialen Logik der High Society bewusst zu sein, wonach die größtmögliche Preisgabe privater Details Aufmerksamkeit erzeugte und darüber die eigene Sichtbarkeit gesteuert werden konnte, verhielten sie sich dazu konträr. Dementsprechend fruchtlos waren ihre späteren Versuche, Verständnis für ihre Abschottung einzufordern und ihre Version der Geschichte zu platzieren. Als auch das ihre mediale Sichtbarmachung nicht beendete, blieb ihnen nur mehr der Ausweg, sich räumlich zu entziehen.

»Objects of Steel Millionaire’s Infatuations«: Frühe High Society-Ehen Durch ihre Abwesenheit in New York verpassten Evelyn Nesbit und Harry Thaw eines der wichtigsten sozialen Ereignisse der New Yorker Society vor dem Ersten Weltkrieg, den Kostümball von James Haze Hyde.133 Dafür hatte Thaw in Pittsburgh seine Mutter von der Hochzeit mit Nesbit überzeugen können.134 Nesbit schien ihm seit ihrer Bekanntschaft im Jahr 1902 stärker zugeneigt gewesen zu sein, als sie später einzugestehen bereit war.135 In Kombination mit ihrer finanziellen Absicherung und ihrem sozialen Aufstieg gab dies den Ausschlag, auf Thaws Heiratspläne einzugehen.136 Laut Aussage von Mary Copley Thaw hatte ihre Schwiegertochter gewusst, dass es »a very unsuitable  – unsuitable [!] marriage«137 für ihren Sohn bedeuten würde. Doch sei es seit spätestens 1903 »his great desire«138 gewesen, Nesbit zu ehelichen.139 Am 4. April 1905 fand ihre Trauung in kleinem Familienkreis in Pittsburgh statt, über die erst am Folgetag die regionalen wie nationalen Zeitungen berichteten.140 133 Vgl. Susan Gail Johnson: »Like a Glimpse of Gay Old Versailles«, in: Albrecht/Falino: Gilded, S. 83-105, hier S. 99-105. 134 Vgl. Thaw: Traitor, S. 134-7. 135 So die Beobachtung ihres väterlichen Freundes J. Carroll Beckwith über ihre Beziehung: »[They] were very much in love, and their love was of a quality that was not to be denied«, ders.: Note in Scrapbook, o. D. [April 1905], zit. nach Slater: American Girl, S. 102. Darauf deuten auch die erotischen Zeichungen und emotionalen Briefe zwischen beiden aus den Jahren 1902 und 1903 hin, vgl. Briefe von Evelyn Nesbit an Harry Thaw (1901, 1903, Feb. 1907), UC, Folder 4, Index F-G. 136 Vgl. Nesbit: Story, S. 86, 90, 92; dies.: Prodigal Days, S. 148-50. 137 Prozessprotokoll (1907), S. 3114, UC, Container 15-16. 138 Ebd., S. 3088, thematisch S. 3085-8. 139 Vgl. Thaw: Traitor, S. 134. 140 Vgl. Marriage License Docket, 4.4.1905, CLP, PD, Pgh. Biography: Thaw, Evelyn Nesbit; Nesbit: Prodigal Days, S. 151-3.

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Gesellschaftlich war die Eheschließung zwischen Upper Class-Mitgliedern und Theaterdarstellerinnen nach wie vor problematisch. Hatte im November 1904 noch die Frage nach dem Ob vorgeherrscht, rückte nach der Hochzeit die Frage nach dem Weshalb in den Fokus der Medien. Diese fokussierte nun ganz auf die sich ergebende Klassendifferenz, welche die Ehe zwischen Nesbit und Thaw zugleich prägte und überbrückte, sowie das darin liegende Konfliktpotenzial. Den Referenzrahmen bildeten Vergleichsfälle aus Chicago und Pittsburgh, Philadelphia und New York, wo es sich zur Jahrhundertwende häufte, dass Millionäre oder deren Erben Chorus Girls heirateten. Der Cosmopolitan untersuchte 1906 dieses Phänomen eingehender, wobei die Autorin der Reportage, die Journalistin und Schriftstellerin Lisa Rose McCabe, zwei Ursachen identifizierte: Erstens würden Männer den körperlichen Reizen und dem selbstbewussten Verhalten der Darstellerinnen erliegen,141 da auf der Bühne »the most effective surroundings for the exhibition of female beauty«142 bestünden. Zweitens erwecke die Sichtbarkeit dieser Frauen im Theater sowie den Orten der High Society, wie den lobster palaces, das Interesse der Millionäre.143 Im Ergebnis stünden »Actresses Who Figure as Objects of Steel Millionaires’ Infatuations«,144 die laut Tenor der Medien ihre körperliche Schönheit nur nutzten würden, um über den Aufstieg in die High Society ihre späteren Ehegatten kennenzulernen.145 Dieses Verhalten galt als despektierlich, waren doch die späteren Ehefrauen durch ihre (mediale) Sichtbarkeit »more or less public property«146 geworden.147 Gleichwohl waren die Ehen Zeugnis dafür, dass die Klassenschranken der Upper Class nicht nur in heterosozialen Räumen zu bröckeln begann, sondern diese Auflösungstendenzen auch individuelle Nahbeziehungen betrafen. Dennoch zeigte etwa die skandalöse Heirat des Stahlmillionärs Allen F. Wood mit der vaudeville-Darstellerin Goldie Mohr im Jahr 1904, dass Paare noch mit gesellschaftlichen und familiären Restriktionen rechnen mussten;148 ein Muster, das bis in die 1930er Jahre hinein anhielt.149 Der starke Konformitätsdruck, den die Heiraten für die ehemaligen Schauspielerinnen bedeuteten, macht das Beispiel Goldie Mohr ersichtlich: »Of course, she left the stage; but more than that, she turned her back on all of her old associates and lived the conventional life of a grande dame«.150 Trotz entsprechender 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150

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Vgl. McCabe: Poor Girls, S. 251. Ebd., S. 252. Vgl. ebd., S. 253-4. Actresses Who Figure as Objects of Steel Millionaires’ Infatuations, Chicago Sunday Tribune, 10.12.1905, S. 2. Vgl. ebd; What Is the Fetish of the Fair Young Woman of the Footlights that Makes Western Croesus Lay His Heart and Gold at Her Feet?, Morning Telegraph, 6.12.1905. McCabe: Poor Girls, S. 253. Sie wurden daher häufig als »defeminized« wahrgenommen, vgl. Davis: Actresses, S. 105-6. Vgl. As Wealth Comes Old Helpmeets Go, Chicago Sunday Tribune, 10.12.1905, S. 1-2; McCabe: Poor Girls, S. 258. Vgl. Hornung: Welt, S. 71 What Is the Fetish of the Fair Young Woman of the Footlights that Makes Western Croesus Lay His Heart and Gold at Her Feet?, Morning Telegraph, 6.12.1905. evelyn nesbit und harry thaw als high society-paar

Abgrenzungsbemühungen der Frauen von ihrem ehemaligen High Society-Status bedachten die Medien sie mit ihrer Aufmerksamkeit.151 Körperliche Schönheit blieb somit der Schlüssel, der es Frauen ermöglichte, die Klassendifferenz zu überkommen.152 »A beautiful face – Armed with it woman has her battle won. She may rise to great wealth, social distinction, and to influence among the world’s elect women«.153 Wie Lois Banner herausarbeitet, verstärkte das die diskursive Verbindung zwischen Chorus Girl und Gibson Girl, da beide auf ihre Art Schönheit ins Zentrum stellten.154 Bei Evelyn Nesbit war diese Assoziation besonders stark, war sie doch zu einer der Ikonen dieses Frauentyps geworden.155 Entsprechend legten die society pages bei der Hochzeitsberichterstattung im April 1905 den Fokus auf Nesbits Körper, und schrieben ihm sogar ein Agens im Umgang mit Männern zu, der ihr den gesellschaftlichen Aufstieg ermöglicht habe.156 Dabei galt Schönheit noch als gegebenes Faktum, das zwar gepflegt, jedoch im Gegensatz zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg noch nicht erarbeitet werden musste.157 Aus dieser Kombination von Körperlichkeit und der für Nesbit daraus resultierenden Handlungsmacht vermittelte sie ein der High Society inhärentes Versprechen: Der eigene Aufstieg in diese Gesellschaftsform sei möglich. Nicht nur mit ihrem Aufstieg über Bühne und Schönheit folgte Nesbit einer paradigmatischen Biographie von High Society-Frauen; auch ihr anschließender Eintritt in die Upper Class in Pittsburgh durch ihre Heirat fügte sich in dieses Bild. Die CosmopolitanAutorin McCabe beobachtete ein Muster für Frauen mit entsprechenden Lebenswegen. Kaum eine von ihnen [likes] to recall their association with the stage or to recommend its pursuit to the aspirant. […] [T]hey are solicitous that all pictures identifying them with their past calling be destroyed. To scorn the ladder by which they did ascend or descend, as you will, to matrimonial estate is the universal tendency.158 McCabe ging letztlich noch von der gesellschaftlichen Dominanz der Upper Class aus, an deren Seite jedoch genau in dieser Phase die High Society trat. Wie stark der gesellschaftliche Status der Oberschicht dennoch die Denk- und Verhaltensweisen

151 Vgl. ›Florodora‹ Girl a Peeress, New York Times, 20.2.1906, S. 4. 152 Vgl. Banner: American Beauty, S. 182-3.] 153 A Beautiful Face that Won Millions, St. Louis Star-Chronicle, 2.7.1905. 154 Vgl. Banner: American Beauty, S. 182. 155 Vgl. Picturesque Career of Little Evelyn Nesbit, New York American. Weekend Supplement, 20.11.1904. 156 Vgl. A Beautiful Face that Won Millions, St. Louis Star-Chronicle, 2.7.1905. 157 Vgl. Hornung: Welt, S. 78-9, 178-88. 158 McCabe: Poor Girls, S. 258.

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von Evelyn Nesbit prägten, verdeutlichen ihre Versuche, darin Anerkennung zu finden. Auch nach ihrem räumlichen Rückzug aus der New Yorker High Society im Winter 1904 zeigte sich, dass Nesbit und Thaw Aufmerksamkeitskapital akkumuliert hatten, als sie im Anschluss an ihre Eheschließung im April 1905 auf eine dreimonatige Hochzeitsreise quer durch die USA aufbrachen. Diese führte von den Great Lakes zum Grand Canyon, an die Westküste in das Yosemite Valley und über das kanadische Alberta zurück nach Pittsburgh.159 An den meisten dieser Stationen erwarteten sie Reporter*innen, da sie durch ihren nachhallenden High Society-Status in kleineren Städten noch als berichtenswert galten. Über das kalifornische Pasadena klagte Evelyn Nesbit etwa: »[R]eporters and photographers pestered us day and night for pictures and interviews.«160 Diesmal berichteten sie diesen jedoch freimütig von privaten Details wie Reiseanekdoten oder Berufsplänen,161 was als medialer Lerneffekt der erfolglosen Verweigerungshaltung im Vorjahr interpretiert werden kann. Das änderte sich mit ihrer Rückkehr nach Pittsburgh, wo das frisch vermählte Paar einen Flügel von Lyndhurst bezog.162 Damit unterlagen sie räumlich dem matriarchalen Regime von Mary Copley Thaw, die damit sicherstellen konnte, ihre familiale Agenda durchzusetzen:163 Ihr Plazet zur Hochzeit hatte sie nicht nur davon abhängig gemacht, dass Nesbits »past should be a closed book«,164 sondern auch ihren Rückzug aus den Medien gefordert. Stattdessen sollte sie sich in ihre neue Rolle als Ehefrau einzufügen.165 Darunter verstand sie das viktorianische Frauenbild, beruhend auf der Doktrin der separate spheres, wonach das Private und Häusliche der Frau, das Öffent­liche und Soziale dem Mann zufalle.166 Dem fügte sich Evelyn Nesbit und beschränkte ihren Alltag von nun an vorrangig auf häusliche Aktivitäten: Lektüre, Sprach- und Gesangsunterricht, private Abendessen und Gottesdienste.167 Bei Besuchen in New York City gelang es ihr, die Aufmerksamkeit von Journalist*innen zu vermeiden, obwohl sie dort öffentliche Räume wie Theater aufsuchte.168 Diese performative Anpassung betraf auch Upper ClassKonventionen der Sichtbarmachung. So ließ sie im Frühjahr 1905 ein heute ver159 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 155-7. 160 Ebd., S. 156. 161 Vgl. Thaw and Bride Talk Right Out, Morning Telegraph, 7.4.1905; o. T., o. Z., 30.5.1905, in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 33, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358. 162 Vgl. Nesbit: Story, S. 92. 163 Vgl. dies.: Prodigal Days, S. 159. 164 Prozessprotokoll (1907), S. 3114, ähnlich auch auf S. 3093, 3095, UC, Container 15-6. 165 Nesbits neue Prämisse sollte lauten: »start afresh – live quietly«, ebd., S. 3095. 166 Vgl. Coontz: Marriage, S. 177-8. 167 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 159, 163-4; Pittsburgh Balks at Evelyn Nesbit, Morning Telegraph, 9.10.1905. 168 Vgl. einen der wenigen Artikel All Is Harmony With the Thaws, o. Z., 7.12.1905, in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 42, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358.

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schollenes Gemälde von J. Carroll Beckwith anfertigen.169 Es zeigte sie im Stil einer wohlsituierten Upper Class-Dame, um damit ihren gesellschaftlichen Anspruch zu untermauern.170 Mit Nesbits neuer Rolle als Ehefrau eines Thaws sollte eigentlich ihre Integration in die Pittsburgher Upper Class einhergehen.171 Doch stellte der New Yorker Morning Telegraph bald fest: »It is easier for a rich man to pass through a camel’s eye than for a former actress and artist’s model to break into Pittsburg [sic] society.« Diese erfolglosen Eintrittsversuche führten gar dazu, dass die Pittsburgher Gesellschaft plante, »to revolt at her introduction as a member of the inner set.«172 Erst als Mary Copley Thaw nach mehreren Monaten als eine der führenden Gesellschaftsdamen Druck ausübte, akzeptierte die lokale Upper Class deren Schwiegertochter.173 Wie die Gesellschaftsberichterstattung zu berichten wusste, blieb diese Position jedoch prekär.174 Trotz ihrer Verbindung mit den Thaws scheiterte ihre Etablierung an genau den Eigenschaften, die Nesbit zuvor den Aufstieg in die High Society ermöglicht hatten: ihre vormalige Berufstätigkeit und die daraus resultierende Medienpräsenz. Nur zweimal bescherten unerwartete Ereignisse den frisch vermählten Thaws die Aufmerksamkeit der Medien. Im Dezember 1905 verteilte ein Pittsburgher Metzger einen Kalender an seine Kund*innen, in denen er seine Wurst- und Fleischwaren mit Nesbits Fotografie »The Beauty and the Beast« (Rudolf Eickemeyer Jr., 1901) bewarb (Abb. 13, li.). Mary Copley Thaw kaufte nach Bekanntwerden alle noch vorhandenen Kalender auf und drohte mit rechtlichen Schritten.175 Aus der gleichen Fotoserie stammte ein Abzug, der einen Monat später im Second American Photograph Salon in den Pittsburgher Carnegie Art Galleries ausgestellt wurde: »In My Studio« zeigt die schlafende Nesbit im Kimono auf einem Eisbärenfell (Abb. 13, re.). Die Fotografie erregte die größte Aufmerksamkeit der Besucher*innen, was heftige Kritik von Seiten der Thaws auslöste.176 In beiden Fällen suggerierten die Aufnahmen Nähe und Privatheit, Körperlichkeit und Erotik, was für eine Upper Class-Frau als unzulässige Überschreitung der Privatsphäre erschien. Beide Ereignisse waren unangenehme, jedoch singuläre Reaktivierungen von Nesbits medialer Sichtbarkeit aus ihrer Modell- und Broadway-Zeit. Das nur knapp über ein Jahr dauernde Eheleben der Thaws bis zum Mord an Stanford White fand somit weitgehend außerhalb der Medien statt und markierte 169 170 171 172 173 174

Vgl. Mitnick/Folk: Artist, S. 17. Vgl. Katherine Joslin: Edith Wharton and the Making of Fashion, Durham 2009, S. 110. Vgl. Ingham: Iron Barons, S. 107-20. Zitate aus Pittsburgh Balks at Evelyn Nesbit, Morning Telegraph, 9.10.1905. Vgl. ebd. Noch 1906 berichtete der Cosmopolitan, Nesbit befände sich in einem »struggle for social position«, McCabe: Poor Girls, S. 258. 175 Vgl. Butcher Angers Mrs. Thaw, New York Times, 26.12.1905, S. 1; Evelyn Nesbit as Sausage Ad, Morning Telegraph, 25.12.1905. 176 Vgl. The Thaws Annoyed Again, New York Times, 13.1.1906, S. 1.

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Abb. 13: Evelyn Nesbits Aufnahme im Kalender (li.) und in der Fotoausstellung (re.)

zwei prägnante Unterschiede zwischen High Society und Upper Class: Waren auf der einen Seite bis zur Heirat die öffentliche Sichtbarkeit und Dynamik das Merkmal der sozialen Zugehörigkeit gewesen, garantierte nun das genaue Gegenteil – mediale Abschottung und Abgrenzung der eigenen Klasse – die Inklsion in die Upper Class. Auf der anderen Seite wurde weibliche High Society-Zugehörigkeit in der Frühphase vor allem über körperliche Schönheit gedacht. Diese diente dabei nicht als legitimierender Selbstzweck, sondern wurde als mögliche gesellschaftliche Aufstiegschance in die Upper Class begriffen.

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II. »The most sensational trial

of the twentieth century«



The People vs. Harry K. Thaw als Medienereignis (1906-8)

Evelyn Nesbits und Harry Thaws selbstverordneter Rückzug aus der High Society hatte weitgehend reibungslos funktioniert – ein Zustand, der sich am 25. Juni 1906 mit dem Mord an Stanford White grundlegend änderte. Der Tatort selbst war Inbegriff der High Society: Der von White entworfene Madison Square Garden galt als bedeutendster Vergnügungskomplex New Yorks und die auf ihm thronende, vier Meter hohe, nackte Dianastatue galt konsternierten Öffentlichkeiten als dekadentes Symbol der New Yorker Vergnügungsgesellschaft.1 Thaw hatte den mit White assoziierten Ort eigentlich stets gemieden, da er mit ihm seit 1901 eine in der High Society wohlbekannte Feindschaft pflegte, die sich aus einem Konflikt über die Bekanntschaft mit Theaterdarstellerinnen entwickelt hatte.2 Dennoch besuchten die Thaws am Abend des 25. Juni 1906 den Madison Square Roof Garden, um die Premiere des Musicals Mam’zelle Champagne anzusehen. Tags darauf wollten sie sich nach Liverpool einschiffen, um erstmals als Ehepaar die season in Europa zu verbringen. Von dem Musical scheinbar gelangweilt, brachen sie noch vor Ende der Vorstellung auf. Auf dem Weg zum Ausgang entfernte sich Harry Thaw in Richtung Bühne. An einem der vorderen Tische blieb er stehen. Ob er mit dem dort sitzenden Stanford White noch Worte wechselte, konnte im Nachhinein nicht mehr zweifelsfrei geklärt werden. Sicher ist, dass Thaw plötzlich eine Pistole zückte und dreimal abdrückte. Bereits die erste Kugel tötete Stanford White. Ein herbeigeeilter Polizist nahm Thaw widerstandslos fest; sein Motiv verkündete er noch am Tatort: »I did it for my wife.«3 Drei Tage später beschloss eine grand jury, seinen Fall zum Prozess wegen Mordes zuzulassen, der in der letzten Januarwoche 1907 beginnen sollte.4 Mit diesem Ereignis verschoben sich die paradigmatischen und syntagmatischen Elemente der High Society-Viten von Thaw und Nesbit: Stach vor dem Mord noch die Regelhaftigkeit ihrer Biografien hervor, schienen sie danach kaum mehr repräsentative High Society-Mitgliedern zu sein. Dieser Eindruck täuscht jedoch, da er das Potenzial exzeptioneller Beispiele unterschätzt. Die Außergewöhnlichkeit ihrer 1 Vgl. Edwin G. Burrows/Mike Wallace: Gotham. A History of New York City to 1898, New York 1998, S. 959; Baker: Stanny, S. 158-61. 2 Vgl. Cardyn: Nesbit-Thaw-White Affair, S. 191. 3 Thaw Driven To Kill White By Treatments of Mrs. Thaw. To Tell The Story On Stand, Evening World, 4.2.1907, S. 1. 4 Vgl. Nesbit: Story, S. 110; eine anschauliche Rekonstruktion des Mordes findet sich in Mooney: Evelyn Nesbit, S. 220-2.

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Medienbiographien ermöglicht es, an ihnen prismatisch vergrößert typische Entwicklungen und Aspekte der High Society herauszuarbeiten, ebenso wie Differenzen und Abweichungen.5 Der Nesbit-Thaw-White-Skandal bietet für den Zeitraum zwischen Mordfall und Verurteilung (Juni 1906–April 1908) durch seine intensive mediale Aufmerksamkeit ein Brennglas, um die High Society zu untersuchen. Erst im Skandal, dann nochmal gesteigert im ersten massenmedialen Sensationsprozess des 20. Jahrhunderts, verschoben sich die Grenzen der Berichterstattung dahingehend, dass Sexualität öffentlich thematisierbar wurde und sich die Abgrenzung des Privaten neu justierte. Zudem definierten die Prozesse das Genre der Gerichtsberichterstattung neu, was wiederum in enger Wechselwirkung damit stand, was bislang über High Society-Mitglieder berichtet werden konnte. Daher stehen folgende Fragen im Zentrum der Untersuchung: Wie konnte sich der Mord zum Medienskandal entwickeln? Wie gingen die Akteur*innen aus High Society und Upper Class sowie den Medien, der Justiz und der Psychiatrie mit der Medialität des Falles um und welche Wechselwirkungen bestanden zwischen diesen Gruppen? Dabei gilt es auch danach zu fragen, wie die mediale Aufmerksamkeit Handlungsmacht verlieh oder entzog. Die Frage der medialen Ermächtigung respektive Entmachtung stellte sich den beteiligten Akteur*innen in einem neuen Maße, wie Evelyn Nesbit reflektierte: »[The murder] had released the curtain which hid us all from the gaze of the world. I was startled by all theses eyes that stared, all these fingers that pointed.«6 Historische Skandalanalysen bergen das Risiko, sich in den Details zu verlieren. Stattdessen muss das Augenmerk auf den sich darin offenbarenden gesellschaft­ lichen Zusammenhängen und Implikationen liegen.7 Hierzu bietet es sich in einem ersten Schritt an, die Phase der medialen Vorverurteilung vor dem ersten Gerichtsverfahren zu untersuchen, in der sich die zentralen Skandalthemen entfalteten. In diesem Zeitraum versuchten die High Society-Mitglieder, mit der neuen Dimension medialer Aufmerksamkeit umzugehen und dabei die Deutung des Mordes sowie ihr Fremdbild zu beeinflussen. Diese medialen Aushandlungsprozesse erlebten mit Verfahrensbeginn im Januar 1907 nochmals einen qualitativen Schub, der der Gegenstand des folgenden Kapitels ist. Dabei wird zuerst das Medienereignis des Gerichtsverfahrens untersucht, um dann in jeweils einem Kapitel auf Evelyn Nesbit und Harry Thaw einzugehen. Durch die Inszenierung im Gerichtsaal mussten sich beide juristischen Gegebenheiten, Regeln und Abläufen anpassen, wobei der Prozess sie als Paar ins Blickfeld rückte. Er erweiterte den Einblick in ihre Privatsphäre und machte zudem neue Personen sichtbar, was diesen den Zutritt in die High Society 5 Vgl. Christian Klein: Vom Ende erzählen – über das Sterben in Biographien, in: Andreas Mauz/ Simon Peng-Keller (Hg.): Sterbenarrative. Hermeneutische Erkundungen des Erzählens am und vom Lebensende (= Studies in Spiritual Care, 4), Berlin/Boston 2018, S. 97-114, hier S. 99-100. 6 Nesbit: Story, S. 113. 7 Vgl. Rolf Ebbighausen/Sighard Neckel: Einleitung, in: dies. (Hg.): Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt a. M. 1989, S. 7-14, hier S. 8-9.

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ermöglichte. Erfolg, Anpassung oder Scheitern der Medialisierungsstrategien und -mechanismen während der Verfahren zeigte der zweite Prozess im Jahr 1908, der so gleichsam als Bilanz der bisherigen Entwicklungen fungiert. Ein separates Kapitel untersucht abschließend die populärkulturellen Folgen des Nesbit-Thaw-WhiteSkandals. Denn die Skandalisierten wurden zunehmend zum Produkt eines Medienensembles, das wirkmächtig bestimmte Aspekte ihres High Society-Lifestyles und ihrer Privatleben interpretierte. Die Reaktionen der Konsument*innen bieten die Möglichkeit, die öffentlichen Rezeption des (multi-)medialen Bildes der High Society im Skandal zu analysieren. Insgesamt intensivierte der Mordskandal die Medialisierung von Nesbit und Thaw, ebenso wie diese High Society-Mechanismen verstärkten und normalisierten. Durch intensive und detailreiche Reportagen, Kommentare und Fotoberichte über den Mord, seine Hintergründe und Themen erzeugten und bedienten die New Yorker Tageszeitungen das massive öffentliche Interesse. Die so zur »crime of the century«8 avancierte Tat wurde genau dadurch zu einem der wichtigsten und meistdiskutierten Gesellschaftsthemen der Jahre 1906 bis 1908.

8 Cobb: Exit, S. 161.

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Die mediale Vorverurteilung (1906-7)

»[In] June we had one of these startling glimpses of the moral leprosy and death that fester in circles of wealth and culture«.9 Mit diesem Satz begann das Meinungsmagazin The Arena in seiner Augustausgabe 1906 die Retrospektive auf die vergangenen fünf Wochen Medienberichterstattung. Es leuchtete die (Be-)Deutungsebenen des Thaw-White-Skandals aus: [A young millionaire] was drawn into the maelstrom of vicious life where unbridled appetites and passions dominate. After a time he came under the fascination of a girl who had been one of the many toys and vessels of dishonor used by one of the greatest of America’s architects, who appears to have […] the degradation that marked the civilizations of ancient Babylon[.]10 Die Themen reichten von Moral- und Klassenfragen über Degenerationsdiskurse und Konflikte um Vergnügen und Geschlechterrollen. Sie schufen die Grundlage für die Presse, um aus dem Thaw-White-Mordfall einen die Öffentlichkeiten fesselnden Medienskandal zu machen.11 Ohne es konkret zu benennen, echote The Arena in seinem Kommentar die Vorverurteilung von verschiedenen medialen Akteur*innen in dieser Phase.12 Die Skandalisierung des Mordes ermöglichte es, gesellschaftliche Streitfragen an individuellen Beispielen zu problematisieren, was die Sichtbarkeit der Skandalisierten massiv steigerte.13 Die Berichterstattung entwickelte sich entlang dreier thematischer Narrative: der Degeneration der Oberschicht, insbesondere ihre sexuelle Perversion; der negativen Folgen der Vergnügungs- und Konsumkultur sowie der Verletzlichkeit und Gefährdung von Frauen in der Vergnügungsgesellschaft.14 Die bisherige Forschung wählte 9 The Democrarcy of Darkness: A Fruit of Materialistic Commercialism, in: Arena 36:201 (Aug. 1906), S. 191-2, hier S. 192. 10 Ebd. 11 Vgl. Grieveson: Thaw-White Scandal, S. 28-9. 12 Zwar werden im Folgenden die Vorwürfe falls möglich quellenbasiert abgewogen, doch steht deren mediale Konstruktion und die daraus resultierenden Handlungen im Fokus. Zu diesem Vorgehen bei historischen Skandalanalysen vgl. Bösch: Geheimnisse, S. 5. 13 Nach dem Historiker Friedrich Lenger verdichten sich in diesen »Schlüsselereignisse[n] […] gesamtgesellschaftlicher Kommunikation […] zentrale Thematiken der jeweiligen Zeit«, ders.: Einleitung:  Medienereignisse der Moderne, in: ders. (Hg.): Medienereignisse der Moderne, Darmstadt 2008, S. 7-13, hier S. 8. 14 Am konzisesten herausgearbeitet von Lee Grieveson: Policing Cinema. Movies and Censorship in Early-Twentieth-Century America, London 2004, S. 40-3.

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als Ausgangspunkt stets die Prozesse, sodass bislang die Interimsphase zwischen Mord und erstem Prozess nicht als eigenständige Phase der Medialisierung der Akteur*innen begriffen wurde.15 Ferner galten die Skandalisierten in erster Linie als Objekte der Berichterstattung, anstatt sie als Akteur*innen der Medialisierung zu sehen.16 Letztlich verfehlte die Forschung zu erkennen, dass die Gesellschaftskritik nicht pauschal gegen die Oberschicht, sondern speziell gegen die High Society gerichtet war. Im Gegensatz zum Gerichtsverfahren fungierte die Presse zwischen Mord und Verhandlungsbeginn als dominante Akteurin ihres selbst geschaffenen medialen Feldes.17 Der Mord lieferte den (Sensations-)Medien den Vorfall, um mit den Akteur*innen und den dahinterstehenden Thematiken von Geschlechterrollen und -verhältnissen, Klassenprivilegien und gesellschaftlichen Moralfragen einen Skandal auszulösen und öffentlich zu diskutieren.18 Vor diesem Hintergrund stellen sich die Fragen, wie und welches Fremdbild die Presse von den Akteur*innen erzeugte. Dabei fokussiere ich mich auf die Hochphase der medialen Vorverurteilung zwischen Juni und Juli 1906. Sie bildete den Ausgangspunkt der öffentlichen Wahrnehmung von Nesbit und Thaw im kommenden Verfahren und reichte mit ihrer vorverurteilenden Interpretationsmacht gar in die Prozesse selbst hinein.19 Dabei geht die folgende Analyse von drei sich ergänzenden Thesen aus: Erstens ermöglichte es die Kombination aus Skandal- und High Society-Berichterstattung in besonderem Maße, gesamtgesellschaftlich relevante Themen zu verhandeln, wobei dies vor allem auf die High Society zurückwirkte. Zugespitzt bedeutet dies, dass die suggerierte Intimität der High Society es erlaubte, bislang kaum Sagbares in den medialen Diskurs einzubringen. Zweitens schuf der Skandal neue Möglichkeiten der Medialisierung, wobei vor allem die yellow press neu definierte, wie und was über die High Society berichtet werden konnte. Drittens verschob die Presse im Skandal die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit.

15 Nur in Ansätzen taucht dies bei Martha Merrill Umphrey: »Media Melodrama! Sensationalism and the 1907 Trial of Harry Thaw«, in: New York Law School Law Review 43:3/4 (1999/2000), S. 715-39, hier S. 717-9, 724-6 auf, doch wählt auch sie letztlich den Fluchtpunkt des Prozesses. 16 Ausnahme und zugleich Bestätigung hiervon ist Martha Umphrey, die zwar mediale Logiken thematisiert, jedoch Nesbit eine aktive Rolle abspricht, vgl. dies.: Dementia Americana, S. 197. 17 Vgl. Robert Hariman: »Performing the Laws: Popular Trials and Social Knowledge«, in: ders.: Popular Trials, S. 17-30, hier S. 19, 22; Thompson: Media, S. 117-8. 18 Vgl. Kristin Bulkow/Christer Petersen: »Skandalforschung:  Eine methodologische Einführung«, in: Bulkow: Skandale, S. 9-25, hier S. 17. 19 Vgl. Not a Juror Secured in the Tiresome Morning Session, Evening World, 24.1.1907, S. 2.

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1.1. »A state of homicidal hysteria«: High Society als Melodram Bereits am Morgen des 26. Juni waren die Titelseiten derTageszeitungen gefüllt mit detaillierten Artikeln über den Mord.20 In New York zeigte sich eine zweigeteilte Medienlandschaft: Konservative Medien, wie die New York Times, lieferten eine weitgehend nüchterne, unbebilderte Schilderung der Ereignisse,21 kritisierten aber Thaws Selbstermächtigung im Ehrenmord.22 Dagegen schöpfte die yellow press mit Fotografien, Skizzen, Biogrammen und Gerüchten das volle Spektrum ihres Genre aus. Der Herausgeber des Chicago Chronicle bemerkte dazu, dass in New York »[f] rom the moment when Thaw slew White yellow journalism has been in a state of homicidal hysteria«.23 Dabei überlagerten sich Gesellschafts- und Kriminalberichterstattung. Sie erzeugten ein breites Panorama, das bereits mit Interpretationen der Tat aufwartete. So deutete der New York American die emotionale Dimension einer Dreiecksbeziehung an,24 während das New York Evening Journal den Fall in ihrer Titelmeldung bereits als Melodram interpretierte: »Harry Did Just Right! He Did a Noble Act!  /  Wife in Whose Defense Young Pittsburgher Killed Architect Lauds Husband’s Courage – Says Dead Man Persecuted Her«.25 Sie legten damit den Grundstein der Deutung des Mordes als dramatische, aber gerechtfertigte Beziehungstat,26 und fokussierten sich in den Folgewochen auf den Fall, erfüllte er doch ihre »murder/sin/ sex formula«.27 Als Reporter einige Tage nach dem Mord den zuständigen Staatsanwalt, William Travers Jerome (1859-1934), in seinem Urlaub in Atlanta aufgestöbert hatten, zeigte er sich von der medialen Aufregung irritiert. »What is there important about one 20 Über die Associated Press gelangte die Nachricht nicht nur in die Zentren entlang der Westküste und den Great Lakes sondern erreichten in weniger als 12 Stunden die Ostküste sowie Regionalzeitungen in den entlegensten Bundesstaaten der USA, vgl. New York’s Tragic Sensation, Daily Alaskan, 27.6.1906, S. 1; New York’s Scandal, Hawaiian Star, 26.6.1906, S. 1. 21 Dieser Stil war mehr Anspruch als wirkliche journalistische Praxis, vgl. Dryer: News, S. 543. 22 Vgl. Thaw Murders Stanford White, New York Times, 26.6.1906, S. 1. 23 Editorial, Chicago Chronicle, [vor 23.7.1906], zit. in: Yellow Journalism on Trial, Toledo Blade, 23.7.1906, in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 74, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358. 24 »[Harry Thaw] Shoots Architect as Result of Quarrell Over Actress-Wife«, Harry Thaw Kills Stanford White on Roof Garden, New York American, 26.5.1906, S. 1. Die New York World druckte in ihrer Wochenendausgabe vom 30. Juni 1906 gleich eine dazu passende Dreiecksgeschichte mit einem Mordfall des Bestsellerautors E. Phillips Oppenheim (1866-1946), vgl. ders.: The Betrayal, New York World. Fiction Section, 30.6.1906, S. 1-4. 25 »Harry Did Just Right! He Did a Noble Act!«, New York Evening Journal, 26.6.1906, S. 1, zit. nach Umphrey: Media Melodrama, S. 720. 26 Vgl. ebd. 27 Chambers et al.: Women, S. 20.

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man killing another for jealousy? […] [I]t’s just an everyday police court story.«28 Doch unterschätzte er damit das Skandalpotenzial außerehelicher Affären.29 Am Nesbit-Thaw-White-Skandal sollte sich zeigen, wie es die Medien dazu nutzten, um den Mord auf dem »schwankenden Boden der Moderne«30 zu einem der maßgeblichen Medienereignisse zu entwickeln, in dem die normative Sexualitätsdebatte und das Recht auf Selbstjustiz verhandelt wurden.31 Es war der soziokulturelle Kontext des Skandals, der ein derartiges mediales Interesse hervorrief, dass er alle bisherigen Medienereignisse über vergleichbare gesellschaft­ liche Vorkommnisse in den Schatten stellte.32 Um das Ereignis zu vermitteln, griffen Journalist*innen auf das Narrativ des Melodrams zurück. Seit seinem Aufkommen am Theater Mitte des 19. Jahrhunderts hatte es sich durch seine eindeutigen Moralbotschaften zur kulturell prägenden Erzählweise entwickelt, indem Konflikte auf den Kampf zwischen Gut und Böse reduziert wurden.33 Darin erretteten Helden tugendhafte, aber verführte junge Frauen vor ihrem Ruin durch böse Schurken, womit sie die moralische Ordnung wiederherstellten.34 Das Melodram erlaubte, skandalöse Informationen über Sexualität und Unmoral anzusprechen, da die Rollenverteilung und der eindeutige Schluss die Themen entschärften.35 Laut dem Literaturwissenschaftler Peter Brooks wirkten sie sinnstiftend: Ihre klaren Narrative sollten die lebensweltliche Umbruchphase zu Beginn des langen 20. Jahrhunderts erklären, die mit klassischen Mustern viktorianischer Moralvorstellungen nicht mehr zu dechiffrieren waren.36 Dabei eignete sich das Melodram besonders zur Erzählung von Skandalen, deren individuelle Fälle es erlaubten, abstrakte Fragestellungen zu thematisieren.37 28 Zitiert nach O’Connor: Courtroom, S. 197. 29 Dies war zeitgenössisch in der Presse evident, etwa beim Scheidungsskandal um Alva Vanderbilt im Jahr 1895 wegen der Affären ihres Mannes, vgl. Johanna Neuman: Gilded Suffragists. The New York Socialites Who Fought for Women’s Right to Vote, New York 2019, S. 82. 30 Siemens: Metropole, S. 383. 31 Vgl. Grieveson: Policing Cinema, S. 39. 32 Vgl. Ponce de Leon: Self-Exposure, S. 49-50. 33 Vgl. Thomas Postlewait: From Melodrama to Realism:  The Suspect History of American Drama, in: Michael Hays/Anastasia Nikolopoulou (Hg.): Melodrama. The Cultural Emergence of a Genre, New York 1996, S. 39-60, hier S. 54-5; Peter Brooks: The Melodramatic Imagination. Balzac, Henry James, Melodrama and the Mode of Excess, aktual. Neuaufl., New Haven/London 1996, S. 4-5. 34 Vgl. ebd., S. 20, 27-8, 30-2. 35 Vgl. Umphrey: Media Melodrama, S. 717-9. 36 Vgl. Brooks: Melodramatic Imagination, S. 20, 28. 37 Nach dem Geschichtstheoretiker Hayden V. White ordnen sich Narrative durch ihre Faktenauswahl und erzählerische Strukturierung automatisch in einen moralischen Deutungsrahmen ein, vgl. ders.: Die Bedeutung von Narrativität in der Darstellung der Wirklichkeit, in: ders. (Hg.): Die Bedeutung der Form. Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung, Frankfurt a. M. 1990, S. 11-39, hier S. 34-5.

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Sowohl der Nesbit-Thaw-White-Skandal als auch die High Society-Berichterstattung konnten gut in die melodramatische Erzählstruktur eingefügt werden, waren doch nach Karen Roggenkamp literarische Konventionen auch in nicht-fiktionalen Erzählungen der Presse verbreitet.38 Das galt für den Skandal ab Juni 1906, wobei schnell klar wurde, dass er bisherige moralische Bemessungssysteme sprengen werde.39 Dies erklärt die Beobachtung, dass im Moment des beginnenden Mordskandals sich die society pages sowohl der konservativen als auch sensationellen Tageszeitungen über den Vorfall ausschwiegen. Wie Maureen Montgomery richtig beobachtet, wollten die Redaktionen die Oberschicht von moralisch problematischen Geschichten, wie dem Mordfall, freihalten.40 Gleichwohl überlagerten sich Ereignis- und Gesellschaftsberichterstattung in den journalistischen Formaten, mit denen über den Fall berichtet wurde. Zudem hielt die Trennung nur temporär, da die Hauptprotagonist*innen nach dem Skandal wieder Teil der society pages wurden  – ein Zeugnis der verschobenen Bewertungsmaßstäbe für High Society-Mitglieder. Die Offenlegung der »utter degeneracy which exists among a large class of our richest Americans«41 bildete den Ausgangspunkt der melodramatischen Erzählung. Stanford White kam eine paradoxe Rolle zu: Während sich konservative Zeitungen auf eine weitgehend respektvolle Beschreibung des Mordopfers und dessen Hinterbliebenen beschränkten,42 konterkarierte die Sensationspresse sein Schicksal, indem sie ihn zum eigentlichen Täter machte. Dazu deckte sie Details seines Doppellebens auf, wie Affären mit jungen Broadwaydarstellerinnen.43 Entsprechend deutlich urteilte die yellow press, die den Mord teilweise gar als »in the interest of society«44 rechtfertigte und Harry Thaw zum Verteidiger seiner Gattin im Speziellen und Frauen im Allgemeinen erkor.45 Die stereotype, passive Opferrolle fiel Evelyn Nesbit zu:46 Ahnungslos sei sie 38 Vgl. Karen Roggenkamp: Narrating the News. New Journalism and Literary Genre in Late Nineteenth-Century American Newspapers and Fiction, Kent 2005, S. 121-2, 132. 39 Vgl. The Thaw-White-Tragedy, Evening World, 27.6.1906, S. 12. 40 Vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 144. 41 Minister Speaks for Thaw, New York Times, 2.7.1906, S. 2. 42 Vgl. White Funeral Party Eluded the Curious, New York Times, 29.6.1906, S. 2; Jerome Will Get All White’s Papers, New York Times, 2.7.1906, S. 1. 43 Damit fügten sich Schauplatz und Akteur*innen des Falls passgenau in melodramatische Ausbeutungs- und Vergewaltigungsnarrative des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein: In der Regel situiert in den neuen urbanen, heterosexuellen Arbeits- und Freizeiträumen, tauchte darin ein weißes Mädchen der Arbeiterschicht auf, die ein Geschäftsmann aus der Mittelklasse sexuell missbrauchte, vgl. Odem: Delinquent Daughters, S. 16-8. 44 Ella Wheeler Wilcox: Nation’s Peril Lies in Men Like White, New York American, 30.6.1906, S. 4. 45 Vgl. Madison C. Peters: ›White Tragedy a Warning to the Nation‹, New York American, 2.7.1906, in: Scrapbook of Newspaper Clippings (1906-1907), FAMFMRL, Harry Thaw Collection (1890-1914), Coll. No. 131, Vol. 1. 46 Siehe dazu Anm. 214.

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am Broadway in Kontakt mit White gekommen, der sie erst moralisch korrumpiert, dann »drugged, ruined and insulted«47 habe. Trotzdem hätte Harry Thaw sie geheiratet und »draped her with his own clean name to hide the hurts and bruises she bore from other hands besides his own«.48 Als White ihr auch dann noch nachstellte, ­sicherte Thaw ihre Tugendhaftigkeit mit seiner drastischen Tat. Durch den Mord als öffentlichem Akt habe er die moralische Ordnung wiederhergestellt, sich dabei jedoch selbst zum Justizopfer gemacht.49 Whites gewaltsamer Tod erlaubte es den Zeitungen, die Grenzen des Sagbaren erstmals massiv in die sexuelle Privatheit eines High Society-Mitgliedes zu verschieben. Etwa berichteten sie von »very young girls«, die der Staatsanwaltschaft alle die gleiche Geschichte erzählt hätten: White habe als »chief promoter and designer of gatherings« fungiert, »where the maddest of rites and the strangest of excesses were performed.«50 Diese Informationen gaben Einblicke in vormals nicht sichtbare Bereiche der High Society. Die Rhetorik bediente genau den emotionalen Sensationalismus, der das Lesepublikum der yellow press ansprach.51 Da das konkrete Alter der Mädchen ebenso wie die Riten und Exzesse unbestimmt blieben, regten sie die Phantasie der Leser*innen über die verborgenen Verhaltensweisen der High Society an. Die Sensationsblätter erzeugten damit Neugier und Aufmerksamkeit unter ihren Publika,52 die sie durch immer neue Details und Geschichten beförderten.53 In diesem medialen Kontext blieben Rehabilitationsversuche für White weitgehend aus.54 Zwar gab es einige Nachrufe über seine Leistungen als Architekt in einschlägigen Fachmagazinen.55 Doch lediglich der renommierte Journalist und ikoni47 Emotional Insanity the Thaw Defense, New York Times, 29.6.1906, S. 1. 48 Clara Morris: Was a Wife’s Ruin Sought?, New York American, 27.6.1906, S. 5. 49 Vgl. Insults Goaded Thaw to Kill. White Made Name of the Young Man’s Bride a By-Word. Millions Ready for Defence, New York American, 27.6.1906, S. 1. 50 Mrs. Thaw to Tell All on Witness Stand, Evening World, 30.6.1906, S. 3. 51 Vgl. Umphrey: Media Melodrama, S. 724. 52 Vgl. Jürgen Gerhards/Friedhelm Neidhardt: Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit. Fragestellungen und Ansätze, in: Stefan Müller-Doohm/Klaus Neumann-Braun (Hg.): Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation. Beiträge zur Medien- und Kommunikationssoziologie (= Studien zur Soziologie und Politikwissenschaft), Oldenburg 1991, S. 31-90, hier S. 48. 53 So etwa die »Girl in the Pie«-Geschichte, wonach White im Herbst 1895 für den society-Fotografen James L. Breese eine Party veranstaltet hatte. Als Höhepunkt sei die 15-jährige Susie Johnson, in einem durchsichtigen Gaze-Stoff gekleidet, einer Torte entsprungen und habe sich dann unter die Männer gemischt. In der Folge sei sie in die Prostitution abgerutscht und verarmt gestorben, vgl. White Turned ›Girl in Pie‹ into Street, New York American, 27.6.1906, S. 4. Erstaunlicherweise war dies bereits ohne medialen Aufschrei 1895 publiziert worden, vgl. The ›Girl in the Pie‹ at the Three Thousand Five Hundred Dollar Dinner in Artist Breese’s New York Studio, New York World, 13.10.1895. 54 Vgl. Baker: Stanny, S. 377. Besonders drastisch war der Nachruf Stanford White, Voluptary and Pervert, Dies the Death of a Dog, American Standard and Vanity Fair, 13.7.1906, S. 3. 55 Vgl. Frederick L. Collins: Glamorous Sinners, New York 1932b, S. 81-8, 181-5.

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sche Modellfigur Richard Harding Davis (1864-1916)56 unternahm den Versuch, Whites künstlerisches Erbe angemessen zu würdigen.57 Dies machte ihn jedoch zur Zielscheibe von Kritiker*innen in konservativen wie sensationellen Tageszeitungen und Zeitschriften.58 Im weiteren Verlauf des Skandals spielte Whites Status als Mordopfer im öffentlichen Diskurs keine Rolle mehr. Die Folgen waren deutlich spürbar: Sein Umfeld entzog sich der unerwünschten medialen Aufmerksamkeit,59 was soweit ging, dass zu seiner Beerdigung am 28. Juni kaum Bekannte oder Mitglieder der High Society kamen.60 Dagegen drangen yellow press-Fotografen in diesen pietätvollen Ort ein und fotografierten die private Beerdigungszeremonie.61 Die Hinterbliebenen belastete dies auf doppelte Weise, da sie nicht nur mit der Ermordung, sondern auch mit den Diffamierungen umgehen mussten.62 Versuche, diesem »further blackening«63 von Stanford Whites postumen Ansehen entgegenzuwirken, schlugen angesichts der Dominanz des melodramatischen Narrativs fehl.64 Insgesamt lieferte der Mord an White den (Sensations-)Medien somit die Möglichkeit, mit den Akteur*innen, ihrem soziokulturellen Kontext und den dahinterstehenden Thematiken wie Geschlechterverhältnissen oder städtischen Konfliktfeldern ein derartiges Interesse zu entfachen, dass der Skandal als Medienereignis bisherige Berichterstattung über vergleichbare Gesellschaftsereignisse in den Schatten stellte.65

56 Richard Harding Davis diente als Vorlage für das männliche Pendant des Gibson Girl, vgl. Lutes: Newspapers, Bd. 6, S. 106. 57 Vgl. Richard Harding Davis: Stanford White, in: Collier’s Weekly 37:19 (4.8.1906), S. 17. 58 Vgl. Gerald Langford: The Richard Harding Davis Years, New York 1961, S. 254-5. Einzig Augustus Saint-Gaudens (1848-1907), renommierter Bildhauer und Intimfreund Whites, rühmte ­Richard Davis Eloge, vgl. Editorial. Praise From Ceasar, in: Collier’s Weekly 37:21 (18.8.1906), S. 1. 59 Vgl. Evening World, 14.7.1906, S. 1-2, hier S. 2; Nesbit: Prodigal Days, S. 186. 60 Vgl. Few Friends View the Body of White, New York American, 27.6.1906, S. 4; White Funeral Party Eluded the Curious, New York Times, 29.6.1906, S. 2. 61 Sie fertigten mindestens zwei Aufnahmen an, vgl. Stanford White Is Laid at Rest, New York Herald, 29.6.1906; White’s Mother Not at His Funeral, New York American, 29.6.1906, S. 4. 62 Vgl. Stanford White/Claire Nicolas White: Letters to His Family. Including a Selection of Letters to Augustus Saint-Gaudens, New York 1997, S. 9-16. Wie nachhaltig das Trauma gewesen sein dürfte, zeigen die Erinnerungen von Whites Witwe Bessie Springs Smith White, in denen sie den Mordskandal nicht erwähnt, vgl. dies.:  Memories, Written May, 1926, S. 6, SI, AAA, Aline and Eero Saarinen Papers (1906-1977), 2.3.4: Original Material, Box 10, Folder 16. 63 White’s Family Begins War on Thaw, New York American, 2.7.1906, S. 5. 64 Bessie Springs Smith White, Whites Witwe, verlies für die Dauer des Skandals New York, um der medialen Aufmerksamkeit zu entgehen, vgl. Baker: Stanny, S. 382-3. 65 Vgl. Ponce de Leon: Self-Exposure, S. 49-50. Dies resümierte so auch der zeitgenössische Beobachter Irvin S. Cobb, in ders.: Exit Laughing, S. 198-9. Zum entsprechenden Skandalpotenzial vgl. Bulkow/Petersen: Skandalforschung, S. 17.

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1.2. Harry Thaw im medialen Spannungsfeld Mit der Rekapitulation von Harry Thaws bisheriger Medienbiographie reaktivierten die Zeitungen sein Aufmerksamkeitskapital und damit seinen Status als »wealthy idler«66 der High Society.67 Augenfällig ist dabei seine unausgesprochene, aber durch diese Leerstelle umso deutlichere Abgrenzung von der New Yorker Upper Class: Seine bekannten Kontakte zu deren (sichtbaren) Mitgliedern, wie Mrs. Astor oder Mamie Fish, blieben unerwähnt, ebenso wie die Presse deren Reaktionen in den Rubriken der Gesellschaftsberichterstattung verschwieg.

Phase 1: Thaws Ermächtigung als Ehrenmörder Bereits bei seiner Festnahme hatte Thaw behauptet, einen Ehrenmord begangen zu haben, womit er die Grundlage für die Deutung als Melodram geliefert hatte. Welche zentrale Rolle der Presse bei der Verbreitung dieser Darstellung in der dafür entscheidenden ersten Woche nach dem Mord hatte, betonte Thaw retrospektiv: Let me thank the Lord for the reporters! […] [A]t that time they were our salvation. They bared with harsh, cold facts the glaring crimes of White and his friends. They garnered everything for two days and even for five [after the murder.] […] In those five days a tremendous feeling had been built up in our behalf among regular people.68 Die Medien halfen dabei, seine Interpretation des Mordes zu verbreiten und erzeugten dabei öffentliche Sympathie. Das bestärkte Thaw nach Martha Umphreys Ansicht darin, die unwritten law-Verteidigung zu wählen,69 was in Ermangelung juristischer Alternativen aber irrelevant erscheint. Mit der Deutung als Ehrenmord und seiner Selbstinszenierung als Verteidiger viktorianischer Weiblichkeit, Häuslichkeit und Moral referierte er auf zwei große gesellschaftliche Krisenfelder: Die Frage nach Geschlechterrollen in der städtischen (Vergnügungs-)Gesellschaft sowie zeitgenössische Männlichkeitsdiskurse. Das unwritten law und Harry Thaw Thaws Behauptung des Ehrenmordes referierte auf die unwritten law-Verteidigung, welche Mitte des 19. Jahrhunderts aufzutauchen begann und zwischen der Jahrhun66 Harry K. Thaw, as Wealthy Idler, Photographed as Murderer, in Consultation with Lawyer. His Cell Between Felons, Evening World, 27.6.1906, S. 2. 67 Vgl. Thaw’s Life One Long Round of Pleasure, New York American, 26.6.1906, S. 3. 68 Thaw: Traitor, S. 157-8. 69 Vgl. Umphrey: Dementia Americana, S. 174-8. harry thaw im medialen spannungsfeld

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dertwende und dem Ende des Ersten Weltkriegs ein Hoch erreichte.70 In dieser Periode entwickelte sie sich zur Doktrin und war nach dem Rechtshistoriker Lawrence M. Friedman ein regelrechtes »ticket to freedom«.71 In Reaktion auf die Debatte, die um Harry Thaws Gewalttat entbrannt war, versuchte Thomas J. Kernan, ein renommierter Anwalt aus Louisiana, die nicht kodifizierten Gesetzmäßigkeiten dieses alternativen Rechtsverständnisses zu identifizieren.72 Auf Basis gemeinschaftlicher Werte identifizierte er zwei Fälle, in denen ein Ehrenmord bei sexuellen Übergriffen straffrei bleibe: Bei Ehebruch (»adultery«) und der Verführung Minderjähriger (»seduction«); in letztem Fall galt sogar heimtückischer Mord als zulässig.73 Die darauf basierenden Verteidigungsnarrative referierten auf die Verletzung des sakral – und konstitutionell  – überhöhten Heims und kombinierten es mit der sexuellen Entmachtung des Ehegatten respektive Ehrverletzung der Familie.74 Das unwritten law bestätigte damit genderbezogene Machtverhältnisse: Sie schrieb das viktorianische Rollenbild der moralisch reinen, aber sexuell leicht verführbaren Frau fort, die als potenzielles Opfer von ihrem Mann verteidigt werden müsse.75 Die sprunghafte Zunahme der unwritten law-Verteidigung zur Jahrhundertwende war somit eine Reaktion auf die diskursiv wahrgenommene Auflösung der separate spheres zwischen Männern und Frauen in einer zunehmend städtischen Gesellschaft.76 Dieser Entwicklung stellte das konservative Konzept des Ehrenmordes klare Geschlechterrollen und Sexualvorstellungen entgegen.77 Wenngleich die unwritten

70 Vgl. Robert M. Ireland: The Libertine Must Die: Sexual Dishonor and the Unwritten Law in the Nineteenth-Century United States, in: Journal of Social History 23:1 (1989), S. 27-44, hier S. 30-1. 71 Friedman/Havemann: Rise, S. 1032. 72 Vgl. Thomas J. Kernan: The Jurisprudence of Lawlessness, in: American Lawyer 14:10 (1906), S. 452-6, hier S. 452. Die zeitgenössische Relevanz der Abhandlung zeigt sich an ihrer großen Verbreitung, da der Artikel wiederholt neu aufgelegt wurde, wie etwa in Green Bag 18:11 (November 1906), S. 588-97; Annual Report of the American Bar Association 29 (1906), S. 450-67. 73 Vgl. ebd. 74 Vgl. Jonathan L. Hafetz: ›A Man’s Home is His Castle?‹: Reflections on the Home, the Family, and Privacy During the Late Nineteenth and Early Twentieth Centuries, in: William & Mary Journal of Women and the Law 8:2 (2002), S. 175-242, hier S. 184-5. Die sogenannte House is His Castle-Doktrin beeinflusste sogar das 4th Amendment der USA, vgl. ebd., S. 180-3. Vgl. zur Entmachtungs- und Ehrenthematik Hendrik Hartog: Lawyering, Husbands’ Rights, and ›the Unwritten Law‹ in Nineteenth-Century America, in: The Journal of American History 84:1 (1997), S. 67-96, hier S. 75, 77-78. 75 Vgl. Ireland: Libertine, S. 32-3, 35. Die Möglichkeit, dass Frauen eine aktive Rolle beim Ehebruch eingenommen haben könnten, wurde konsequent ausgeblendet, vgl. Friedman: Big Trial, S. 82. 76 Vgl. ders./Havemann: Rise, S. 1005, 1012, 1041-4. Diese Unsicherheit flankierte eine sukzessive Liberalisierung des Eherechts im ausgehenden 19. Jahrhundert, die als massive Veränderungen von Ehe und Entmachtung der Ehegatten wahrgenommen wurde, vgl. Jill Elaine Hasday: Contest and Consent, in: California Law Review 88:5 (2000), S. 1373-505, hier S. 1464. 77 Vgl. Ireland: Libertine, S. 32, 35-6, 38-9; Lawrence M. Friedman: American Law in the 20th Century, New Haven/London 2002, S. 81.

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law-Verteidigung vor allem in den Südstaaten angewandt wurde,78 sympathisierte ein Gros der amerikanischen Öffentlichkeit mit ihr, was sich in der nationalen Anteilnahme für Täter, positiver Berichterstattung und Jury-Freisprüchen zeigte.79 Harry Thaw war selbst von der Rechtmäßigkeit seiner Tat als Ehrenmord überzeugt.80 Definitionsgemäß konnten sich Angeklagte vor Gericht jedoch nicht explizit auf das unwritten law berufen. In Thaws Fall war zudem der Tathergang unstrittig, sodass sich die Verteidiger des juristischen Kniffs der insanity defense bedienen mussten. Der berühmte Sickles-Key-Fall aus dem Jahr 1859 hatte es vorgemacht: Der Kongressabgeordnete Daniel Sickles hatte tagsüber in Washington, D. C. den Liebhaber seiner Ehefrau, Philip Barton Key, erschossen. Im medial stark rezipierten Prozess plädierte er auf zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit (insanity defense). In diese habe ihn die Untreue seiner Frau gestürzt, unter dieser habe er Key getötet und von dieser habe ihn dessen Ableben wieder geheilt. Die Jury sprach Sickles frei und die Washingtoner Society integrierte ihn erneut umstandslos in ihre Reihen.81 Auch in New York hatte Thaw juristische Vorbilder, da in den Jahren zuvor einige Prozesse medienwirksam verhandelt worden waren, in denen die Beschuldigten eine insanity defense vorgeschoben und dabei argumentativ das unwritten law bedient hatten, wodurch sie straffrei geblieben waren. So im Fall von David Hannigan, der 1895 den Liebhaber seiner noch unverheirateten Schwester erschossen oder Josephine Terranova, die 1906 ihren Onkel und Vergewaltiger erstochen hatte.82 Harry Thaws Vorwürfe gegen White konnten erst durch die Vermittlung der Medien das Momentum gewinnen, mit dem seine Verteidigungsstrategie öffentlich verfing.83 Das war angesichts der Urteilsfindung durch eine Jury wichtig: Die Ehrenmordestrategie wurde dadurch wirkmächtig, dass Bürger ihre medial geschürte Entrüstung als Juroren in das Verfahren trugen und die Beschuldigten – trotz fehlender Rechtsgrundlage – freisprachen.84

78 Vgl. ders./Havemann: Rise, S. 1004. 79 Vgl. Ireland: Libertine, S. 37. Das unwritten law war Weißen vorbehalten, was die Bedeutung von race im Kontext dieser Verteidigungsstrategie verdeutlicht, vgl. Friedman/Havemann: Rise, S. 1040-1. 80 Diese Meinung vertrat er noch 20 Jahre später, beim Abfassen seiner Autobiographie, vgl. Thaw: Traitor, S. 149. Auch Nesbit beteuerte, dass Thaw »never then or at any subsequent time expressed the slightest regret for his act«, dies.: Story, S. 114. 81 Vgl. Friedman: Big Trial, S. 78-9; ders./Havemann: Rise, S. 997-8, 1008. 82 Vgl. zum Hannigan-Fall: Judith D. Hoover: Irvin S. Cobb: A Rhetorical Biography. unveröff. Diss., Indiana University 1983, S. 173; zum Terranova-Fall: Jacob M. Appel: The Girl-Wife and the Alienists: The Forgotten Murder Trial of Josephine Terranova, in: Western New England Law Review 26:2 (2004), S. 203-32, hier S. 210. 83 Siehe Anm. 68 auf S. 153. 84 Vgl. Friedman: Big Trial, S. 79. harry thaw im medialen spannungsfeld

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Thaw bestand darauf, auf Basis des unwritten law verteidigt zu werden.85 Problematisch war dessen zugrundeliegendes melodramatisches Narrativ, das die Protagonist*innen in gut und böse gliederte. Dies kollidierte um 1900 verstärkt mit den lebensweltlichen Erfahrungen der städtischen Gesellschaft und dem sich wandelnden Verständnis von individuellen zu strukturellen Kriminalitätsursachen.86 Umso wichtiger war es für Thaw und seine Anwälte, den »sozio-kulturellen Code« des Melodrams als »gewachsenes kohärentes System von zugelassenen und ausgeschlossenen Handlungsalternativen«87 zu aktivieren, um die Öffentlichkeit zu überzeugen.88 Dafür betrieben sie aktive Pressearbeit, wie dass sich Thaws Anwalt Clifford Hartridge täglich mit Reportern traf, »[to influence] newspaper reporters to write only friendly comment on the trial«.89 Ebenso trat Thaw selbst in Kontakt zu Pressevertreter*innen und versuchte, in seinem Sinne in die Berichterstattung einzugreifen. So dementierte er beispielsweise das Interview eines seiner Ärzte, der Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit geäußert hatte. Hierbei zeigte sich seine Handlungsmacht, da es ihm mutmaßlich seine privilegierte Stellung als Häftling aus der Upper Class ermöglichte, im Gefängnis in Kontakt zu Journalisten zu treten.90 Indizien weisen darauf hin, dass die Thaws bei der Prozessvorbereitung sogar vor gesetzeswidrigen Methoden nicht zurückschreckten. Im Februar 1911 strebte die New York Bar Association ein Ausschlussverfahren gegen Thaws ehemaligen Anwalt Hartridge an.91 Dieser hatte sich in einer Honorarklage gegen Mary Copley Thaw im Jahr 1910 versehentlich selbst der Unterdrückung von Beweismaterialien bezichtigt: Während der Prozessvorbereitung gegen Harry Thaw habe er rund 39.000 Dollar Schweigegeld (heute rund 1.33 Mio. Dollar) ausgezahlt, um negative Geschichten über Thaw und Evelyn Nesbit aus der medialen Öffentlichkeit und dem Prozess zu halten.92 Mit

85 Vgl. Thaw Says He Shot As Sickles Shot Key, New York Times, 26.6.1912, S. 9. 86 Vgl. Robert H. Wiebe: The Search for Order, 1877-1920, New York 1967, S. 133-4. 87 Christian J. Jäggi: Sozio-kultureller Code, Rituale und Management. Neue Perspektiven in interkulturellen Feldern, Wiesbaden 2009, S. 51-3, Zitate: S. 51. 88 Vgl. Umphrey: Dementia Americana, S. 181-3, die, ohne es theoretisch zuzuspitzen, in die gleiche Richtung argumentiert. 89 Thaw Sees Broadway Again, New York Times, 30.3.1910, S. 12. 90 Vgl. Millionaire Prisoner ›Pennisless‹ in Tombs. ›My Lawyer Never Said Was Insane,‹ Announces Thaw, New York American, 11.7.1906, S. 4; 91 Vgl. Hartridge Case in  Court, Evening World, 16.12.1910; To Try Hartridge for Keeping Thaw Witnesses Silent, Evening World, 17.2.1911. 92 Vgl. ebd; An Incautious Action for Fees, in: Law Notes 14:2 (1910), S. 22-3, hier S. 22. Auch gibt es Anzeichen auf die gezielte Anwerbung falscher Zeug*innen, vgl. Memorandum von Russel A. Peabody an Harry Thaw [April 1907], in: Peabody, Items, FAMFMRL, Harry Thaw Collection (1890-1914), Coll. No. 131, Box 1, Folder 7. Wahrscheinlich bezahlten die Thaws sogar Florence Holman, während des Prozesses außerhalb der New Yorker Jurisdiktion und damit dem Zugriff der Staatsanwaltschaft zu bleiben, vgl. Thaw’s Lawyer Appeases Anger of Mrs. Holman, Evening World, 5.1.1907, S. 1. So auch in Mooney: Evelyn Nesbit, S. 250-1.

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viel Glück konnte Hartridge seine Zulassung behalten,93 doch gab er einen detaillierten Einblick in die Bedeutung, welche die Thaws der öffentlichen Meinung zugewiesen hatten. Die Reaktion der Gegenseite lässt die Effektivität dieses Maßnahmenbündels ermessen. Der Assistent der Staatsanwaltschaft, Francis P. Garvan, kritisierte die Praxis der Thaws als unlautere Einflussnahme auf die Öffentlichkeit: The case is not to be settled in the newspapers, although a section of the press has pre-supposed the righteousness of the dead man having been shot down […] [The prosecution] is aware that a strenuous effort is being made to sway public opinion in favor of the prisoner by methods that could hardly be called reputable.94 Zudem verstärkten Dritte Thaws Narrativ, indem sie von seiner medialen Sichtbarkeit zu profitierten suchten. Über die Moraldebatte gelang dies Anthony Comstock (1844-1915). Als Sekretär der New York Society for the Suppression of Vice (NYSSV) befand er sich seit den 1870er Jahren im Kampf gegen die Verbreitung obszöner und pornographischer Materialien, wie Erotika, aber auch Sexualratgeber und Verhütungsmittel. Zur Jahrhundertwende war er einer der sichtbarsten Akteure in den Debatten um die Lockerung der Sexualmoral.95 Comstock erzählte die Geschichte, dass er gemeinsam mit Harry Thaw Stanford White der sexuellen Verführung von Minderjährigen überführt habe, ihre Anklage jedoch an institutionellen Widerständen gescheitert sei.96 Zwar relativierte er später teilweise seine Behauptung und wurde im Prozess nicht vorgeladen, doch war das für die mediale Rezeption unwesentlich. Denn Comstock lieferte zur medialen Erzählung passende Einblicke in das sexuelle respektive heroische Privatleben der Akteure.97 93 Vgl. die Kritik daran in Carl Snyder: Juridical Tyranny and Juridical Ethics, in: Collier’s Weekly 48:21 (10.2.1912), S. 11-2, hier S. 12. 94 Zit. nach Gerald Langford: The Murder of Stanford White, London 1963, S. 42. Die Beeinflussung der medialen Öffentlichkeit, etwa mit durchgestochenen Zeugenaussagen, schien aber schnell auch Praxis der Staatsanwaltschaft zu werden, wie Thaws Anwalt John B. Gleason in der Vorverhandlung beklagte, vgl. New York Court of General Sessions, Part IV: The People of the State of New York, Against Harry K. Thaw, Before John W. Goff, New York, October 16th, 1906, S. 33, JJC, LSL, Special Collections, Criminal Trial Transcripts of New York County Collection (1883-1927), Reel 97/Trial No. 602. 95 Vgl. Amy Beth Werbel: Lust on Trial. Censorship and the Rise of American Obscenity in the Age of Anthony Comstock, New York 2018, S. 2-3. 96 Vgl. Comstock Wants to Tell about White and Others, New York Times, 29.6.1906, S. 2. Vgl. zu Thaws legalen Schritten gegen White: People of the State of New York vs. Harry K.  Thaw. Defendant’s Exhibit P, S. 2-4, CPP, HLM, Charles K. Mills Compiler, 10d 24. Briefe Harry Thaw an Anthony Comstock (13.9.1904, undat. und vor 13.10.1904), in: New York (State) Attorney General’s Office.: The People of the State of New York on the Relation of Mary C. Thaw, against John W. Russell, Medical Superintendent Matteawan State Hospital, Defendant: Exhibits., Albany 1912, S. 26, 40-6 (Exhibit 13, 18-21). 97 Zur Irrelevanz der Wahrheit in Skandalen vgl. Bösch: Geheimnisse, S. 5. harry thaw im medialen spannungsfeld

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Öffentliche Sympathie durch Privatheit: Pressekontakte und visuelle Einblicke Die Folge dieser Berichterstattung in den Anfangstagen konstatierte Harry Thaw selbst wie folgt: »The man in the street was for us, so was every policeman and detective in New York City, and every mother everywhere, and the great tide of sentiment could not be turned back.«98 Zwar diente ihm diese Feststellung in seiner Autobiographie in erster Linie, um seine Handlungsohnmacht in den Folgemonaten zu beschönigen,99 doch benannte er korrekt den Effekt der melodramatischen Skandalberichterstattung auf einen Teil der Öffentlichkeit. Eine Woche nach dem Mord forderte das New York Evening Journal seine Leser*innen auf, über Harry Thaw zu richten. Das Ergebnis fiel eindeutig aus: Zwei Drittel der ersten 100 Zuschriften hielten ihn für unschuldig; »the great majority«100 begründete ihr Urteil mit dem unwritten law. Die Gegenstimmen fokussierten vor allem auf Thaws Lifestyle als High Society-Mitglied. Adry P. Norton warf ihm vor, »not a single story of usefulness or decent living, not an act in his whole misspent and wasted life« vorzeigen zu können, und stimmte darin mit C. P. Denslow überein, dass des »murderer’s life […] as bad as that of the murdered«101 gewesen sei. Auf die darin liegende Kritik an der Oberschicht wird später einzugehen sein, doch zeigt sich bereits die Ablehnung der Lebensweisen von Thaw und White als Teil der High Society. Ob die Zuschriften lediglich das Thaw’sche Fremdbild in der yellow press echoten,102 die Umfrage ein manipuliertes Stimmungsbild war oder doch eine repräsentative Mehrheitsmeinung abbildete,103 muss letztlich offenbleiben. Zumindest für die Leser*innen der Sensationsblätter darf der Umfrage eine gewisse Repräsentativität zugebilligt werden, da das Evening Journal diese weiterführte und auch Ende August 1906 zwei Drittel der mittlerweile über 7.000 Zusender*innen für Thaws Unschuld votiert hatten104 – seine Darstellung schien öffentlich verfangen zu haben. Grund dafür dürfte zudem die Einbindung der Leser*innen in den Kommunikationsprozess, etwa über Umfragen und Leserbriefe, und die Emotionalisierung der Berichterstattung gewesen sein. Dadurch trat Thaws individuelle Schuld in den

98 99 100 101 102 103

Thaw: Traitor, S. 158. Vgl. ebd., S. 159-63. The Public’s Thaw Verdict, New York Evening Journal, 3.7.1906, S. 2. Beide Zitate aus ebd., S. 2. Vgl. Umphrey: Media Melodrama, S. 726. Zu dieser grundlegenden Problematik bei Umfragen vgl. John Richardson: Readers’ Letters, in: Bob Franklin (Hg.): Pulling Newspapers Apart. Analysing Print Journalism, London 2008, S. 58-69, hier S. 58-9. 104 Vgl. 160 in Favor Thaw, 74 Vote ›Guilty‹ in Letters to Journal, New York Evening Journal, 5.7.1906 und das abschließende Ergebnis mit 7.174 Stimmen in o. T., New York Evening Journal, 31.8.1906, zit. nach Cardyn: Nesbit-Thaw-White Affair, S. 195.

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Hintergrund und die gesellschaftliche Thematik, die jede*n Stadtbewohner*in etwas anging, rückte nach vorne.105 Über die Deutung des Mordes hinaus interessierten sich die Tageszeitungen weiterhin für Thaws Privatleben – eine Privatheit, die sie ihrer Leserschaft offerierten und zugleich selbst produzierten. Sie erschien sowohl auf textueller wie visueller Ebene: Ersteres in Form von Berichten über Thaws Alltag im Gefängnis, wie seinen täg­ lichen Routinen oder die Kontakte zu seiner Familie. Ein besonders nahbares Bild vermittelte der New York American, der ein Interview mit Thaw führen konnte. Es unterstrich Thaws »democratic manner[s]« gegenüber den Mithäftlingen und seine stoische Haltung aus »both hope and confidence«. Der Reporter versicherte: »Thaw is sane to the core.«106 In der neuen Situation waren es auch bei Thaw Visualisierungen, die einen Einblick in sein Privatleben liefern sollten und dabei erprobten Mustern zur Darstellung Krimineller folgten.107 Zur Jahrhundertwende hatte die Popularisierung phrenologischer und physiognomischer Erkenntnisse in Gesellschaft und Justiz zur Überzeugung geführt, dass sich eine kriminelle Veranlagung in der äußerlichen Erscheinung niederschlage.108 Die resultierenden Überzeichnungen von Straftäter*innen in den Printmedien gingen zur Jahrhundertwende zunehmend zurück, als diese verstärkt Halbtonaufnahmen verwendeten, die in Diskrepanz zur postulierten erkennbaren Äußerlichkeit von Kriminellen standen.109 Der Nesbit-Thaw-White-Skandal fiel genau in diese Übergangsphase. Entsprechend interessant sind die Visualisierungsstrategien, mit welcher die yellow press ihre Berichterstattung ergänzte. Darstellungen zeigten nicht Thaws physiognomische Devianz, sondern unterstrichen durch Zeichnungen seiner Empfindsamkeit, die zeigte, wie stark ihn sein Gefängnisaufenthalt emotional belastete.110 In diesen kamen Kriminalität und Emotionalität zusammen, wie der Medienhistoriker Will Straw für die Berichterstattung von Familiendramen um Gewaltverbrechen feststellte: 105 Vgl. Siemens: Sensationsprozesse, S. 170-1. 106 Alle drei Zitate aus William T. MacIntyre: First Interview With Thaw in Prison, New York American, 9.7.1906, S. 1-2, hier S. 2. 107 Vgl. Michael Ayers Trotti: Murder Made Real: The Visual Revolution of the Halftone, in: The Virginia Magazine of History and Biography 111:4 (2003), S. 379-410, hier S. 385-90. 108 Vgl. Stephen Jay Gould: The Mismeasure of Man, aktual. und erw. Aufl., New York 1996, S. 114135, 165-172. 109 Vgl. Trotti: Murder, S. 390-1, 403-4. Die These, dass noch in den späten 1920er Jahren die Fotoberichterstattung bei Sensationsprozessen oft von physiognomischen Analysen begleitet war, wie Paula S. Fass: Making and Remaking an Event, in: The Journal of American History 80:3 (1993), S. 919-51, hier S. 925, 935, behauptet, lässt sich dagegen nur schwer aufrechterhalten. 110 Vgl. Law on Track of Weahlthy Men Who Shared White’s Orgies, New York Tribune, 28.6.1906, S. 2. harry thaw im medialen spannungsfeld

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Abb. 14: Das kriminalistische Erfassungsbild (li.) diente als Vorlage für Fotomontagen von Harry Thaw im Gefängnis (re.) sowie für die selbstreferenzielle Zuschreibung einer guten Bericht­ erstattung durch das New York Journal, indem es Thaw ihre eigene Sonntagsausgabe mit einer Abbildung von Evelyn Nesbit lesen ließ (Mitte).

[T]he intimate occasions of family life are magnified and the conventions of domestic photography made to circulate across public image platforms […] [leave] an archive of publicly circulating images in which the intimate rituals and sentiments of familial life are captured[.]111 Im vorliegenden Fall behalfen sich die Printmedien auf zwei Arten: Erstens machten sie mit Zeichnungen nicht zugängliche Orte oder Situationen sichtbar und vermittelten darüber Leser*innen gezielt human interest-Elemente, wie Emotionen. Zweitens mangelte es an Fotografien von Thaw, was den Visualisierungstendenzen von High Society- und Kriminalitätsberichterstattung gleichermaßen zuwiderlief. Zwei im Juni 1906 vorhandene Fotografien von Thaw konnten bis Prozessbeginn auf kaum ein Duzend erweitert werden.112 Haupthindernis war die Technik, wie etwa das New York Evening Journal seiner Leserschaft ausführlich erklärte. So sei es trotz Spezialkameras und geschulter Fotografen unmöglich, Thaws Hofspaziergänge aus dem gegenüberliegenden Hochhaus heraus zufriedenstellend abzulichten.113 Deshalb verwendeten die Zeitungen vorhandene Fotografien für Fotomontagen. Damit imaginierten sie alltägliche Aktivitäten und ermöglichten fiktive Einblicke in abgeschlossene Räume (Abb. 14). 111 Will Straw: The Face of the Journal: Photojournalism and l’affaire Lindbergh, in: COnTEXTES. Revue de Sociologie de la Littérature 24 (2019), https://journals.openedition.org/contextes/8222 (acc. 22.4.2022). Abs. 30. 112 Vgl. etwa die Fotos des rogues march in Thaw Photographed for the Rogues’ Gallery. Shackled to Detective Like Ordinary Felon, Evening World, 26.6.1906, S. 1. 113 Vgl. Remarkable Photograph of the ›Muderers‹ Parade’ in the Tombs, in which Harry K. Thaw Participated, New York Evening Journal, 4.7.1906, S. 3.

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Abb. 15: Gegenüberstellung des Alltags von Harry Thaw und Evelyn Nesbit als High Society-Mitglieder vor und nach dem Mord.

Diese Bandbreite an Visualisierungsstrategien der Sensationspresse lässt auf die mediale Logik schließen, wonach Einblicken in private Räume eine maßgebliche Bedeutung in der Berichterstattung über die High Society zukamen.114 Dies hatten die New Yorker yellow papers bereits in den beiden Vorjahren im Mordprozess gegen die Abb. 15 Broadway-Darstellerin Nan Patterson (1904/5) durchgespielt. Trotz erdrückender Beweise, dass sie ihren Liebhaber erschossen habe, gelang es den Medien durch eine nahbare Berichterstattung, wie mit Darstellungen ihrer Haftbedingungen, öffentliche Sympathie zu erzeugen.115 Die gleichen Mechanismen wendete die Sensationspresse auf den Nesbit-Thaw-White-Skandal an, nur dass sie hierbei auf die Medialisierungsmechanismen der High Society zurückgreifen konnten. Dies wurde nirgends so deutlich wie bei der dezidierten Gegenüberstellung von Harry Thaws und Evelyn Nesbits Leben vor und nach dem Mord (Abb. 15). So zeigt eine Zeichnung Thaw als einzigen Mann auf seinem »Beauty Dinner« (1900), umgeben von Gibson Girls und Champagner trinkend; gegenüber stand eine Fotomontage seiner tristen Haft, allein und nachdenklich. Dieser »brilliant contrast«116 wurde noch deutlicher dem Schaubild des Alltags von Nesbit: Die Zeit vor dem Mord, hell dargestellt im Inneren, prägten Autofahrten und Yachtausflüge, Dinner- und Tanzveranstaltungen. Dagegen auch bei ihr: Trauer und Tristesse im äußeren, dunklen 114 Vgl. Hornung: Welt, S. 81-3. 115 Vgl. Newman Levy: The Nan Patterson Case, New York 1959, S. 66, 71-81. 116 Mrs. Evelyn Thaw’s Day, as It Was and as It Is, Evening World, 5.7.1906, S. 3. harry thaw im medialen spannungsfeld

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Abb. 16: Emotionalisierender Vergleich von Evelyn Nesbits Erscheinungsbild als Upper Class-Frau und nach dem Mord (Juli 1906).

Kreis ihrer Gegenwart. Dies zeigte sich laut yellow press auch in Nesbits Erscheinung, da ihre Kleidung und ihr Körper »Completely Transformed by [the] Tragedy«117 seien. Begleitende Zeichnungen verstärkten diese emotionalisierende Botschaft der Textebene (Abb. 16). Durch die Kontrastierung bestätigte die Presse teils explizit, teils durch Negation, was als High Society-Praktik und -Verhaltensweisen galt.118 Deren Fehlen in der Zeit nach dem Mord verdeutlicht, dass Konsum und Veranstaltungsöffentlichkeiten mit ­ihrem Status als High Society-Mitglieder verbunden worden waren.

Phase 2: Thaws Entmachtung durch die Skandalisierung seines Verhaltens Invertierung von Thaws Fremdbild Die zweite Phase der Vorverurteilung von Harry Thaw prägte seine zunehmende Handlungsohnmacht und Delegitimierung in der Presse. Das elitäre, aber viel gelesene Harper’s Weekly hatte drei Wochen nach dem Mord festgestellt, dass die Printmedien Whites »post-mortem defamation«119 noch immer beflissentlich vorantreiben würden. Bereits eine Woche später relativierte das Magazin seinen Befund über diese kontradiktorische Situation: The trial by newspaper of the late Stanford White on the charge of having indicted Harry Thaw to murder him is at this writing still proceeding blithely and with increased prospect of the acquittal of the accused. After all, when enough newspapers pursue a subject long enough, the odds are in favor of the truth coming out.120 117 118 119 120

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Mrs. Thaw Completely Transformed by Tragedy, New York American, 12.7.1906. Vgl. Sikorski/Ludwig: Relevanz, S. 195-8. Comment, in: Harper’s Weekly 50:2586 (14.7.1906), S. 976-8, hier S. 978. Comment, in: Harper’s Weekly 50:2587 (21.7.1906), S. 1012-5, hier S. 1015.

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Was war geschehen? Die Sensationsblätter, mit ihrem Verständnis von investigativem Journalismus im Stile des muckraking, hatten begonnen, selbst zu recherchieren, und bislang medial nicht sichtbare, unvorteilhafte Details von Thaws Privat­ leben publik gemacht. Was folgte, bezeichnete der erste Chronist des Skandals, Frederick Collins, als »an almost unbelievable metamorphosis.«121 Das New York Evening Journal berichtete, auch Thaw habe jungen Mädchen nachgestellt, Schauspielerinnen angegriffen und Prostituierte misshandelt.122 Diese Informationen griffen andere Zeitungen auf und ergänzten sie,123 was die New York Times urteilen ließ, Thaw habe einen »character unfit to describe«.124 Sogar die Thaw-freundliche New York Evening World pathologisierte sein Verhalten und schrieb es in den zeitgenössischen sozialdarwinistischen Diskurs degenerierter Krimineller ein.125 Das ergänzte die Kritik an ererbtem Wohlstand, der gegenüber dem selbst erwirtschafteten, meritokratischen Reichtum diskreditiert war.126 Thaw, zuvor nur ein »irresponsible idler of wealth«,127 wirkte plötzlich als ebenso perverser Vertreter der High Society, wie er selbst es Stanford White vorwarf. Dabei gehe ich von der These aus, dass die Dekonstruktion von Thaws Abgrenzung von White und der daraus resultierenden Fallhöhe erst das Momentum erzeugen konnte, das sein Fremdbild nachhaltig delegitimierte.128 Bezeichnend ist, dass diese Gerüchte – obwohl seit 1904 bekannt –129 gerade in der dritten Woche nach dem Mord aufkamen und damit in einer Phase, als Thaws Verteidigungsstrategie auf der Kippe zwischen unwritten law und insanity defense 121 Frederick L. Collins: Glamorous Sinners, New York 1932, S. 98. Zu diesem investigativen Vorgehen der Medien vgl. Requate: Öffentlichkeit, S. 19-20; Saldern: Magazine; Harold S. Wilson: McClure’s Magazine and the Muckrakers, Princeton 2015, S. 129-47; weiterführend Robert Miraldi: Muckraking and Objectivity. Journalism’s Colliding Traditions (= Contributions to the Study of Mass Media and Communications, 18), New York 1990. 122 Vgl. Thaw Beat Evelyn Black and Blue, Declares Witness, New York Evening Journal, 25.7.1906, in: Scrapbook of Newspaper Clippings (1906-1907), FAMFMRL, Harry Thaw Collection (18901914), Coll. No. 131, Vol. 1. 123 Vgl. etwa Another Thaw Charge, New York Daily Tribune, 14.7.1906. 124 Beide Zitate aus Girl Accused Thaw Four Years Ago, New York Times, 14.7.1906, S. 3. 125 Little Girl Thaw Pursued Was only 16, New York World, 16.8.1906. Vgl. Roy Porter: Mental Illness, in: Roy Porter (Hg.): The Cambridge History of Medicine, New York 2006, S. 238-59, hier S. 255-6. 126 Vgl. Derix: Meritokratie, S. 35-6. 127 Charles Somerville: His Story of the Architect Must Then Be Corroborated by Mrs. Thaw, New York Evening Journal, 5.7.1906. 128 Die moralische Fallhöhe ermöglicht es häufig erst, das volle Potenzial skandalöser Normverletzung zu diskutieren, vgl. Ari Adut: On Scandal. Moral Disturbances in Society, Politics, and Art (= Structural Analysis in the Social Sciences, 31), Cambridge 2008, S. 21-2. Dies sieht Daniel Siemens als eine der Grundbedingungen, weshalb insb. Verbrechen der Mittel- und Oberschicht zu Sensationsfällen aufgebaut werden können, vgl. ders.: Metropole, S. 391. 129 Vgl. Picturesque Career of Little Evelyn Nesbit, New York American. Weekend Supplement, 20.11.1904. harry thaw im medialen spannungsfeld

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stand. Laut New York Evening World wusste er um die Gefahren letzterer für sein Fremdbild, da er darin würde zeigen müssen, »that his nature is perverted, that he was guilty of practices as unnatural as any that have ever been charged against the man he killed.«130 Da diese Vorwürfe jedoch medial immer breiteren Raum einnahmen, bedrohten sie zunehmend Thaws Wunsch nach einer unwritten law-Verteidigung. Um die öffentliche Sympathie nicht zu verlieren, interagierte sein Anwaltsteam um Hartridge intensiver mit Reportern und versuchte, die negativen Gerüchte über Thaws skandalöse Verhaltensweisen mit einem noch negativeren Bild von Stanford White einzudämmen – alles mit mäßigem Erfolg.131 Nicht nur Thaws Narrativ war durch die neuen skandalösen Details gefährdet. Ähnlich erging es der yellow press, deren melodramatische Erzählung über ihn ebenfalls in Bedrängnis gebracht worden war. Entsprechend bemühte sie sich, diese Informationen über Thaw zugleich zu entschärfen, indem sie ihn als Justizopfer darstellte: Sein Ehrenmord werde ungerechterweise verfolgt, weshalb er, um einer Verurteilung zu entgehen, einen juristischen Ausweg brauche. Die sexuellen Anekdoten würden sich anbieten, um vor Gericht den insanity plea (Antrag auf geistige Unzurechnungsfähigkeit) zu untermauern,132 wie der New York Journal-Kommentator Charles Somerville feststellte: »Thaw’s defense to the people for his act is a different matter than Thaw’s defense must be before a court of law«.133 Diese Deutung hinterfragten Wochen- und Monatszeitschriften mit ihrer stärker resümierenden Perspektive. Laut Harper’s Weekly hätte Thaws privates Verhalten seine öffentliche Inszenierung dekonstruiert und ihn auf eine Stufe mit White gestellt: »Thaw is a failure, a renegade, a degenerate […] And White, the victim, presents no better preachment.«134 Doppelmoral: Kritik an der Oberschicht oder Einblick in die High Society? Die neue Berichterstattung über Harry Thaw referierte auf Debatten über Doppelmoral, die bereits an Stanford Whites Affären durchexerziert worden waren. Als nicht minder skandalös galt, dass dieses Doppelleben innerhalb der High Society

130 Vgl. Evelyn Nesbit in New Statement Changes Ground, Evening World, 20.7.1906, S. 1. 131 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 194; Brief von Clifford W. Hartridge an Harry Thaw (4.8.1906), in: Clarence J. Shearn/Charles Morschauser/Henry R. Barrett: Supreme Court of the State of New York. The People of the State of New York Ex. Rel. Mary C. Thaw Against John W. Russell, Medical Superintendent of Matteawan State Hospital. Brief and Summing Up in Behalf of Relator, New York 1912, S. 50 (Exhibit 23); Typecast of Adolf Meyer’s Comments on the Harry Thaw Case, not dated [1912], S. 24, JHMI, AMCMA, Meyer Collection, Box 500690, Folder 10; ex post berichtete davon auch Thaw Sees Broadway Again, New York Times, 30.3.1910, S. 12. 132 Vgl. Umphrey: Media Melodrama, S. 718-9. 133 Charles Somerville: His Story of the Architect Must Then Be Corroborated by Mrs. Thaw, New York Evening Journal, 5.7.1906. 134 Henry Frank: The Thaw-White-Tragedy, in: Arena 36:202 (Sept. 1906), S. 262-5, hier S. 263.

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bekannt gewesen war.135 Dieses Schweigen kommentierte der Saunterer süffisant in den Town Topics: »Some such deplorable incident [with White] has been anticipated. Every society man knows circumstances that preceded it, and those who do not know them are to be congratulated upon their ignorance.«136 Doch erst der Mord erlaubte es, dieses Wissen publik zu machen. Zugleich berührten die Umstände des Skandals die Klassenfrage, welche die normative Vorbildfunktion der Oberschicht zu delegitimieren drohte.137 So kritisierte vier Tage nach der Tat der Redakteur des New York Evening Journal, Arthur Brisbane: »It is not a mere murder. The flash of that pistol lighted up depths of degradation, an abyss of moral turpitude that the people must think of, because it reveals some of the hidden features of powerful, reckless, openly flaunted wealth.«138 Er ordnete den Mordfall damit in die breitere gesellschaftliche und politische Kritik an der Macht und Stellung der vermögenden Amerikaner ein.139 Sie sollte zu einem wichtigen Element der Moral- und Wertedebatten des Medienskandals werden. Vor dem Hintergrund dieser Kritik sind die Überlegungen von Daniel Siemens in Bezug auf die Verbindung und Kontinuität von Sexualität und Normalitätsdiskurs in Sensationsprozessen weiterführend. Er dehnt Thomas Nipperdeys Feststellung, wonach »normgerechtes Sexualverhalten, Kontrolle und Normalität und bürgerliche Respektabilität«140 im langen 19. Jahrhundert eng verwoben gewesen seien, bis in die Zwischenkriegszeit aus. Diese Verbindung wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend problematisch, wobei es die »zeitgenössische Virulenz des Themas Sexualität«141 war, die Sexualstraftaten zu medialen Sensationen machten.142 Der Nesbit-Thaw-White-Skandal stand genau an der Wegscheide zwischen diesen beiden Ausprägungen. So wurden die sexuellen Skandalthemen über die damit verbundenen Normbrüche verhandelbar, wie etwa die Kontrolle promiskuitärer Männer oder die Bedrohung bürgerlicher Werte durch vorehelichen Sex. Das Sensationelle zog der Fall aber genau aus der zeitgenössischen Umbruchphase, die nun erstmals in einer noch nicht gekannten Intensität und Intimität auf medialisierte Personen ausgedehnt wurde.

135 Siehe Anm. 129 auf S. 163. Das Schweigen über Whites Privatleben kann dabei als gruppenspezifisches Wissen der High Society gedeutet werden, vgl. Alois Hahn: Schweigen, Verschweigen, Wegschauen und Verhüllen, in: Aleida Assmann/Jan Assmann (Hg.): Schweigen (= Archäologie der literarischen Kommunikation, 11), München 2013, S. 29-50, hier S. 37. 136 Saunterings, in: Town Topics 55:26 (28.6.1906), S. 1, vgl. ferner Nesbit: Prodigal Days, S. 187. 137 Vgl. Ludwig/Schierl: Mediated Scandals, S. 26-7. 138 Arthur Brisbane: A Dramatic and Terrible Murder, New York Evening Journal, 29.6.1906, S. 2. 139 Vgl. Fraser/Gerstle: Introduction, S. 10-1. 140 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, 2 Bde., München 1990, S. 96. 141 Siemens: Sensationsprozesse, S. 170. 142 Vgl. ebd., S. 169-70. harry thaw im medialen spannungsfeld

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Im Anschluss daran erscheint die Überlegung des Medienhistorikers Lee Grieveson folgerichtig, der die Moraldebatte um White und Thaw mit dem Foucault’schen Bild des »Anderen« verbindet. Die sexuelle Devianz ihrer moralischen Übertritte diente demnach in der medialen Debatte als Abgrenzungsangebot für die Mittelklasse. Durch die beiden Abschreckungsbeispiele aus der Oberschicht konnten sie ihre Definitionshoheit über die Unterscheidung zwischen Normalität und Andersartigkeit bestätigt sehen.143 Hierbei übersieht Grieveson aber die Nuancierung der Klassenfrage in der Skandalberichterstattung. Meines Erachtens war genau diese dafür maßgeblich, die High Society als eigene Formation zu kennzeichnen und zunehmend abzugrenzen. Denn es zeigte sich hier noch teilweise das Grenzgängertum von White und Thaw: Einerseits beschrieben Medienvertreter*innen sie vor ihrem familialen Hintergrund als Angehörige der Upper Class,144 doch sobald diese konkrete Vorwürfe thematisierten, verorteten sie beide in der High Society: »[Their] fads and vagaries, their pranks and escapades, their routine scandals and improprieties«145 kennzeichneten ihr soziales Umfeld und genau die Themen, welche die Gesellschaftsberichterstattung nicht an der Upper Class, dafür umso mehr an der High Society behandelte. Somit seien beide zwar »in society, but not of it«,146 wie der in Klassenfragen sophistisch unterscheidende Saunterer in den Town Topics feststellte. Entsprechend interviewten die Printmedien nicht das Upper Class-Umfeld von White und Thaw, sondern zitierten Mitglieder ihres »fast life of Bohemia«147 wie Tänzerinnen und Schauspielerinnen, Produzenten und Personen des New Yorker Nachtlebens.148 Mit solchen Inside-Storys aus dem Tenderloin grenzte die Berichterstattung klar die im Skandal verwickelten Akteur*innen und ihre Praktiken von der Upper Class ab und verortete sie über ihre Kritik als eigene, medialisierte Formation.

Medialisierte Machtkämpfe in der Familie In dieser Phase der Vorverurteilung zeigt sich, dass Harry Thaws Fremdbild nicht unabhängig von seinen innerfamilialen Beziehungen betrachtet werden kann. Denn seine Familienbande wirkten medienwirksam auf seine Verteidigungsstrategie und rückten ebenso selbst in das Interesse der Medien.

143 Vgl. Grieveson: Thaw-White Scandal, S. 32. 144 Vgl. Minister Speaks for Thaw, New York Times, 2.7.1906, S. 2. 145 Beide Zitate aus Julian Hawthorne: Slain Worse than Slayer, Say Hawthorne, New York American, 27.6.1906, S. 4. 146 »Saunterings«, in: Town Topics 55:26 (28.6.1906), S. 1. 147 The Three Figures in the Startling Tragedy that Has Laid Bare the Fast Life of Bohemia, Evening World, 28.6.1906, S. 3. 148 Vgl. etwa Lederer Says Thaw Seemed Half Crazed, Evening Herald, 26.6.1906.

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Harry Thaws erstes Verteidigerteam um den ehemaligen Richter William Olcott und Thaws persönlichen Anwalt Lewis L. Delafield hatte sich geweigert, seine unwritten law-Verteidigung ohne eine insanity defense zu verfolgen.149 Als Berichte über Thaws Geisteskrankheit an die Öffentlichkeit drangen, die von seinen Anwälten beauftragte Psychiater festgestellt hatten,150 entband sie Thaw in der dritten Haftwoche ihres Mandates mit der Begründung: »I won’t plead insanity. I’m no more crazy than you are.«151 Stattdessen setzte er mit dem befreundeten Clifford W. Hartridge auf einen im Strafrecht unerfahrenen, aber bereitwilligen Juristen.152 Diese Entscheidung revidierte Thaws Mutter zwei Tage später, wogegen er machtlos war, da die Haft bei ihm Liquiditätsprobleme ausgelöst hatte.153 Dass diese Entmachtung öffentlich wurde, war für ihn in zweierlei Hinsicht beschämend: Zum einen hatte das »qualitative[] Differenzierungspotenzial«154 seines Vermögens als »in«-Faktor ihm seine High Society-Mitgliedschaft überhaupt erst ermöglicht. Zum anderen entmächtigten ihn diese fehlenden Finanzmittel, da sie ihm sowohl die Symbolhaftigkeit des Geldes als auch Handlungsoptionen entzogen.155 Der sich daraus entwickelnde, teils sichtbare Familienkonflikt um Thaws finanzielle Handlungsmacht und die Ausrichtung der Verteidigungsstrategie ist aus familiengeschichtlicher Perspektive interessant, da in der Forschung zu Familienbeziehungen bislang erfolglose oder gescheiterte Mitglieder weitgehend ausgeschlossen wurden.156 In dem Streit entwickelten sich die Medienöffentlichkeit zur »Arena familialer Auseinandersetzungen«.157 Dies war kein rein US-amerikanisches Phänomen zur Jahrhundertwende. Simone Derix zeigt an familiären Konflikten der Fami149 Vgl. Nesbit: Story, S. 114; dies.: Prodigal Days, S. 183-4; Collins: Sinners, S. 92. Zu diesem Verfahrenstrick vgl. Patricia E. Erickson/Steven K. Erickson: Crime, Punishment, and Mental Illness. Law and the Behavioral Sciences in Conflict, New Brunswick 2008, S. 91-2. 150 Vgl. Injunction Ties Jerome’s Hands in Thaw Inquiry, Evening World, 17.7.1906, S. 1-2, hier S. 1; Say Thaw Is Insane, New York Daily Tribune, 8.7.1906. 151 Harry Thaw in Anger Turns Off His Counsel, New York Times, 15.7.1906, S. 1. 152 Vgl. ebd. 153 Vgl. Mrs. Thaw Re-Engages W. M.K. Olcott’s Firm, New York Times, 17.7.1906, S. 1; Millionaire Prisoner ›Pennisless‹ in Tombs. ›My Lawyer Never Said Was Insane,‹ Announces Thaw, New York American, 11.7.1906, S. 4. 154 Vgl. Christine Wimbauer: Geld und Liebe. Zur symbolischen Bedeutung von Geld in Paarbeziehungen, Frankfurt a. M. 2003, S. 282. 155 Vgl. Eva Boesenberg: Männlichkeit als Kapital: Geld und Geschlecht in der US-amerikanischen Kultur, in: Birgitta Wrede (Hg.): Geld und Geschlecht. Tabus, Paradoxien, Ideologien, Wiesbaden 2003, S. 32-45, hier S. 37; Wimbauer: Geld, S. 282-3; Scott A. Sandage: Born Losers. A History of Failure in America, Cambridge/London 2006, S. 4-6. 156 Vgl. Derix: Thyssens, S. 34. Erst seit den späten 2000er Jahren befasst sich die Forschung zunehmend mit (individuellem) Scheitern, vgl. Ingo Köhler/Roman Rossfeld: Bausteine des Misserfolgs: Zur Strukturierung eines Forschungsfelds, in: dies. (Hg.): Pleitiers und Bankrotteure. Geschichte des ökonomischen Scheiterns vom 18. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2012, S. 9-35, hier S. 10-1. 157 Derix: Distanzen, S. 59. harry thaw im medialen spannungsfeld

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lie Thyssen um Erbregelungen oder die Unternehmensführung, dass auch sie europäische Medienlandschaften zur Austragung ihrer Kontroversen nutzen.158 Dieser Vergleich verdeutlicht, dass die Sichtbarmachung ihrer Privatheit vermögende Oberschichten in eine ambivalente Situation brachte: Zwar gab es die Option, sich juristisch zur Wehr zu setzen, doch barg sie das Potenzial ungewollter Medienberichterstattung.159 Die Presse breitete den Familienstreit über die richtige Verteidigungsstrategie aus: Auf der einen Seite stand Thaw mit Nesbit, die sich für die unwritten law-Verteidigung aussprachen.160 Auf der anderen Seite sympathisierten Thaws Mutter und Geschwister mit der insanity defense.161 Sie galt als sichere Option, der Todesstrafe zu entgehen und zugleich einen öffentlichen Prozess zu vermeiden, der durch seine Sichtbarkeit »difficult [for] the social position of the Thaw family«162 werden würde. Zugleich bot dieses Vorgehen die Möglichkeit, sich außergerichtlich auf Thaws Einweisung in eine psychiatrische Anstalt zu einigen, aus der er unter Umständen bald wieder freikommen könnte.163 Jedoch dekonstruierten sie mit diesem Ansinnen von innen heraus seine Behauptung, wertebasiert und richtig gehandelt zu haben. Obwohl Thaw mit dem Konflikt weiter an medialer Interpretationshoheit eingebüßt hatte, gelang es ihm schließlich, seine Geschwister und Mutter umzustimmen.164 Dabei nahm Evelyn Nesbit eine tragende Rolle ein. Wie Thaw war auch sie gegen den ursprünglichen Plan der Anwälte, ihn unter Vermeidung eines Strafverfahrens in eine Psychiatrie einweisen zu lassen, und stellte sich öffentlich hinter seine Deutung der Tat als Ehrenmord, womit sie sich bewusst als treue Ehefrau inszenierte.165 Mit Hilfe von Thaws Anwalt Clifford A. Hartridge gelang es ihr, Thaws Schwester und deren Mann, Margaret und George Carnegie, von der Notwendigkeit eines Prozesses zu überzeugen.166 Das brachte Evelyn Nesbit jedoch in Konflikt mit 158 Vgl. ebd. 159 So verzichtete z. B. die Witwe von Friedrich Alfred Krupp auf einen Verleumdungsprozess gegen die Verleger, die ihn der Homosexualität beschuldigt hatten, um keine weitere Berichterstattung anzufachen, vgl. Frank Bösch: Historische Skandalforschung als Schnittstelle zwischen Medien-, Kommunikations- und Geschichtswissenschaft, in: Fabio Crivellari/Sven Grampp (Hg.): Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive (= Historische Kulturwissenschaft, 4), Konstanz 2004, S. 445-64, hier S. 459-60. 160 Vgl. Thaw’s Mother and Wife Leave Tombs Arm in Arm, Evening World, 18.7.1906, S. 1, 3, hier S. 3; Nesbit: Prodigal Days, S. 188. 161 Vgl. Kin Not Aiding Thaw, New York Times, 16.7.1906, S. 2. 162 Vgl. Injunction Ties Jerome’s Hands in Thaw Inquiry, Evening World, 17.7.1906, S. 1-2, hier S. 2. 163 Vgl. Thaw’s Mother and Wife Leave Tombs Arm in Arm, Evening World, 18.7.1906, S. 1, 3, hier S. 3; Thaw’s Mother Again Fails to Appeal to Him, Evening World, 21.7.1906, S. 2. 164 Vgl. Mrs. Thaw, Won Over, Accepts Son’s Lawyer, New York Times, 2.8.1906, S. 14; Thaw: Traitor, S. 173-5. 165 Sie hätte zwar die Möglichkeit gehabt, als Gattin die Aussage zu verweigern, vgl. Hafetz: Man’s Home, S. 192-5, verzichtete aber darauf, vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 189-91. 166 Brief von Evelyn Nesbit an Harry Thaw (22.7.1906), S. 1-2, UC, Folder 10, Index K-L.

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Harry Thaws jüngerem Bruder, Josiah »Joe« Thaw, der sich strikt dagegen aussprach. Er lud sie folglich in der zweiten Woche nach dem Mord von dem ersten gemeinsamen Familienrat aus, auf dem die Thaws vorläufig die insanity defence festlegten.167 Für diese Entscheidung sei insbesondere Mary Copley Thaw verantwortlich gewesen, wie Nesbit mutmaßte: »Her one idea is to protect the name ›Thaw‹ and stop the papers – the easiest way to do this is to railroad Harry [in an asylum.]«168 Da bei ihr letztlich die Entscheidungsmacht lag, empfahl Nesbit ihrem Mann in einem Brief Ende Juli 1906, seine Mutter in einem Vieraugengespräch von der unwritten lawVerteidigung zu überzeugen: »I think the only hope is that you see your mother alone. Keep Joe away, make her see Hartridge. He will make her see clearly.«169 Neben der Identifikation von Mary Copley Thaw als Schlüssel­figur bei Familien­ entscheidungen zeigt der selbe Brief das Spannungsverhältnis zwischen Vermögen und Handlungsmacht.170 Denn in Bezug auf ihre Liquiditätsprobleme riet Nesbit ihrem Ehemann: »[Your mother] must be made to see what Joe has done. Be sure to tell her that you gave Joe $5000 + that he has taken it away from you. […] Be sure to tell your mother that, thanks to Joe’s dishonesty we are without funds.«171 Obwohl Harry Thaw selbst Millionär war, konnte er über seine größtenteils im Familienfond gebundenen Mittel nicht frei verfügen. Da Joe Thaw das Gros seines Barvermögens eingezogen hatte, waren er und Nesbit nun doppelt von Mary Copley Thaw abhängig. Diese Liquiditätsschwierigkeiten überlagerte jedoch ein viel gravierenderes Problem. Postalisch warnte Nesbit ihren Mann vor den mutmaßlichen Folgen des Familienzwists auf das öffentliche Bild der Thaws: Please do not spare Joe [from your mother] as I have much more to tell you of his perfidy when I see you on Monday. He would not let me come down [to the Tombs] with your mother which is going to raise an awful hue + cry in the papers. [!] […] I do not care about myself – but I care for you + the public will be so much more with you if your mother is decent with me.172 Evelyn Nesbit war sich somit bewusst, dass der getrennte öffentliche Auftritt mit ihrer Schwiegermutter einen ungewollten und aller Voraussicht nach unkontrollierbaren Einblick in die Thaw’schen Familienbeziehungen bot. Zeigten sie sich stattdessen gemeinsam, könnte dies der kritischen Berichterstattung entgegenwirken und familialen Zusammenhalt demonstrieren. Daher drängte sie Harry Thaw geradezu, 167 168 169 170

Thaw’s Mother and Wife Leave Tombs Arm in Arm, Evening World, 18.7.1906, S. 1, 3, hier S. 3. Brief von Evelyn Nesbit an Roger O’Mara (21.7.1906), S. 1, UC, Folder 10, Index K-L. Brief von Evelyn Nesbit an Harry Thaw (22.7.1906), S. 3, 5, in: ebd. Diesen Zusammenhang von Vermögen und Zugriffsrechten betonen die Soziologen Janet Finch/Lorraine Wallis: Death, Inheritance and the Life Course, in: David Clark (Hg.): The Sociology of Death. Theory, Culture, Practice, Oxford 1993, S. 50-68. 171 Brief von Evelyn Nesbit an Harry Thaw (22.7.1906), S. 5, UC, Folder 10, Index K-L . 172 Ebd., S. 3-4. harry thaw im medialen spannungsfeld

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den innerfamilialen Konflikt eskalieren zu lassen, um Mary Thaw auf ihre Seite zu ziehen. Doch dazu kam es nicht. Die Tageszeitungen berichteten über die separaten Gefängnisbesuche, wie von Nesbit prognostiziert, und diagnostizierten einen Bruch innerhalb der Familie über die Interpretation des Mordes und die Verteidigungsstrategie.173 Letztlich gelang es Thaw mit der Unterstützung von Evelyn Nesbit, seine Mutter von seiner unwritten law-Verteidigung zu überzeugen, und brach damit den Widerstand seiner Geschwister. Hinter der Entscheidung seiner Mutter vereint ­war  der Zusammenhalt innerhalb der Familie zumindest nach außen wiederher­ gestellt,174 womit ihre Familienbande »als komplexes Wechselspiel des Zusammengehens und Auseinanderstrebens«175 funktionierten. In Hinblick auf Harry Thaws Medienpräsenz kam sein Erfolg einem Pyrrhussieg gleich. Zwar hatte er sich letztlich als handlungsfähiger und selbstbestimmter Mann inszenieren können.176 Doch basierte seine Verteidigung nun allein auf der Hoffnung, die Jury werde im Strafprozess seiner Ehrenmorderzählung folgen. Deren Glaubwürdigkeit hatte durch die Details seines Sexuallebens jedoch bereits stark an Plausibilität eingebüßt. Entsprechend betonte sein Anwalt Hartridge, dass »such stories have got to be kept out of print at any cost! They will destroy all sympathy on the part of the American people for Mr. Thaw and ruin his case.«177 Nun zeigte sich die inkludierende Wirkung von High Society-Mitgliedern auf ihr Umfeld. Die Sensationspresse bedachte erneut – wie bereits 1904 – Thaws Schwiegermutter, Florence Nesbit, mittlerweile Holman,178 mit ihrer Aufmerksamkeit. Sie sollte sich in den Folgemonaten zu »[Thaw's] Nemesis«179 entwickeln. Denn wiederholt behauptete sie, dass er ihre Tochter während ihrer Europareisen körperlich missbraucht und sie nur unter Androhung juristischer Schritte geheiratet habe. Dagegen betonte sie die Fürsorge, mit der sich Stanford White um Nesbit und ihre Familie gekümmert habe.180 Erschwerend kam hinzu, dass Staatsanwalt William T. Jerome regelmäßig den Prozessbeginn verschob,181 womit er die unwritten law-Verteidigung unterminierte. Sie funktionierte vor allem deshalb, da die schnell aufgebaute öffentliche Empörung zügig Freisprüche durch zeitnahe Gerichtsverfahren produzierte.182 173 174 175 176 177 178

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Vgl. Thaw’s Mother Snobs His Wife at the Tombs, Evening World, 30.7.1906, S. 1. Vgl. Mrs. Thaw, Won Over, Accepts Son’s Lawyer, New York Times, 2.8.1906, S. 14. Derix: Distanzen, S. 48. Zur Bedeutung dieses Narrativs für das männliche Selbstbild, vgl. Lears: Rebirth, S. 100-1. Nesbit: Prodigal Days, S. 194. Sie hatte Anfang 1905 den Vorstand der Pittsburgher Börse, Charles J. Holman, geheiratet und war damit in die gehobene städtische Mittelschicht augestiegen, vgl. Uruburu: American Eve, S. 54; in dem Social Register der Stadt erschienen sie jedoch nicht. Vgl. Harry Thaw Has His Nemesis in Mother-in-Law, Philadelphia Enquirer, 3.1.1907. Vgl. etwa Nesbit Girl Said Thaw Would Kill Her, Evening World, 25.7.1906, S. 1-2, 5. Vgl. Thaw Trial Is Off Until May, Perhaps Longer, Evening World, 6.12.1906, S. 1; Thaw Rails at Jerome, Evening World, 30.11.1906, S. 1. Vgl. Friedman: Big Trial, S. 79.

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Dass sich das melodramatische Narrativ dennoch bis zum Prozessbeginn im Januar 1907 hielt, verdankte Thaw weitgehend der medialen Inszenierung von Evelyn Nesbit, der im Folgenden nachgegangen wird.

1.3. Evelyn Nesbits mediale Ambivalenz: Zwischen Kontrollverlust und Adaption medialer Logiken Mit der Intensivierung der Skandalberichterstattung im Juli 1906 wandte die New Yorker Presse ihre Aufmerksamkeit verstärkt Evelyn Nesbit zu, da es als gesichert galt, dass sie »[the] cause of the murder«183 sei. Damit kam ihr eine Schlüsselposition im Verständnis der Dreiecksbeziehung zu, die konträr interpretiert werden konnte. Sie schwankte zwischen zwei Polen, die der melodramatischen respektive gesellschaftskritischen Erzählung über den Falls entsprangen und praktisch keine Zwischentöne zuließen: Einerseits stellten Medien(-vertreter*innen) sie als von Stanford White ruiniertes »innocent girl«184 dar; andererseits galt sie als nicht minder korrupte »woman with a past«,185 die aufgrund ihrer Geltungs- und Vergnügungssucht in die öffentlichen Räume des Broadway und den Zirkel um White gekommen sei.186 Für beide Interpretationen gilt meines Erachtens, dass sie maßgeblich auf den bildlichen Repräsentationen von Evelyn Nesbit basierten, welche insbesondere die Sensationspresse verwendete und ambivalente Deutungen zuließen.187 Mit ihren Bildern konnten Pressevertreter*innen sowohl die Geschichte ihres unschuldigen Ruins als auch die ihrer Mittäterschaft erzählen. Diese Ambiguität stellte für Evelyn Nesbit das zentrale Hindernis dar, um ihr Selbstbild als Opfer medial lancieren zu können, und sollte ihr Fremdbild über den Skandal hinaus bestimmen.

Evelyn Nesbits Fremdbild zwischen Opfer und Mitschuldige Die erste Interpretation folgte klassisch viktorianischen Geschlechtervorstellungen. Evelyn Nesbit sei als junges Mädchen nach New York gekommen, »shy and retiring,

183 Harry K. Thaw Kills Stanford White on Madison Square Roof, Morning Telegraph, 26.6.1906, S. 1. 184 Vgl. Evelyn Nesbit as an Innocent Girl, o. Z., [26.6.1906], in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 10, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, v. 358. 185 Editorial des Chicago Chronicle, zitiert in Yellow Journalism on Trial, Toledo Blade, 23.7.1906. 186 Vgl. Grieveson: Policing Cinema, S. 46. 187 Damit grenze ich mich von der Deutung von ebd., S. 46-50; ders.: Thaw-White Scandal, S. 325, ab, der zwar Evelyn Nesbits Fremdbild analysiert, das aber praktisch ausschließlich auf die Phase der Prozesse verengt und sich dabei auf die Textebene konzentiert. evelyn nesbits mediale ambivalenz

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with an ignorance of the world and its ways«.188 Während sie für den Unterhalt ihrer Familie arbeitete, lernte sie am Broadway Stanford White kennen. Die Presse ließ zwar offen, ob und zu welchen Intimitäten es in ihrer Bekanntschaft gekommen war. Doch berichtete bereits am Tag nach dem Mord die – den Thaws gegenüber sehr kritisch eingestellte – New York Times von Gerüchten, dass »Thaw knew when he married her that Stanford White had been very friendly [!] to Evelyn Nesbit, the artist’s model and actress, who later became Mrs. Thaw.«189 Diese Formulierung durfte dabei als Andeutung einer sexuellen Beziehung verstanden werden. Zudem weckten die Bezeichnungen als Künstlermodell und Schauspielerin Assoziationen mit zeitgenössischen Stereotypen, wie etwa der sexuellen Freizügigkeit von High Society-Mitgliedern am Broadway oder deren Bruch mit viktorianischen Geschlechterrollen.190 Konkreter äußerte sich die yellow press, die innerhalb weniger Tage eine ähnliche Zurückhaltung aufgegeben hatte.191 Sie fügte Evelyn Nesbit in die Opferrolle ein, wonach sie unbedarft an den Broadway gekommen und dort Opfer eines Systems unmoralischer Männer, skrupelloser Theatermanager und finanzieller Verlockungen geworden sei.192 Printmedien konnten so bestimmte feeling rules über Evelyn Nesbit aktivieren und verstärken. Dieses 1975 von der Soziologin Arlie Russell Hochschild geprägte Konzept geht davon aus, dass emotionale Reaktionen keine per se privaten Handlungen seien, sondern vielmehr »standards used in emotional conversation to determine what is rightly owed and owing in the currency of feeling.«193 Dadurch erzeugen sie eine soziale und gesellschaftliche Metaebene, auf die Menschen bei Emotionsäußerungen situativ referieren.194 Bis zur Einführung des Fernsehens fungierte die Presseberichterstattung als maßgeblicher Referenzrahmen dafür, welche feeling rules in bestimmten Situationen als angemessen galten.195 Indem die yellow press Evelyn Nesbits Verletzlichkeit und Opferstatus wiederholt betonte, referierte sie auf zeitgenössische Diskurse über die Vulnerabilität von Frauen im urbanen Raum, die um 1900 von progressiven Bewegungen wie anti-vice movements in ihrem Kampf gegen Prostitution angeheizt worden waren.196 In diese fügte sich die Erzählung über Evelyn Nesbit passgenau ein. Sie verstärkte einerseits den Eindruck der Betroffenen; andererseits 188 Not Mrs. Thaw’s First Taste of Notoriety, Evening Telegram, 28.6.1906, S. 2. Auch ein Jahr nach Nesbits Debüt am Broadway hatte sie noch den Spitznamen »the Innocent Kid«. 189 Murders’ Row Gets Harry Thaw, New York Times, 27.6.1906. 190 Siehe Kap. I.2.2. 191 Vgl. Thaw’s Keenest Motive Was Personal Revenge, New York Telegraph, 30.6.1906. 192 Vgl. Julian Hawthorne: Slain Worse than Slayer,  Say Hawthorne, New York American, 27.6.1906, S. 4. 193 Arlie Russell Hochschild: Managed Heart. Commercialization of Human Feeling, Berkeley 2012, S. 27. 194 Vgl. ebd., S. 26-7, 50-3. 195 Vgl. Siemens: Metropole, S. 268-9. 196 Vgl. Flanagan: America, S. 189-92.

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bestätigte es genderbasierte Machtverhältnisse, indem Männer an ihrem Beispiel Verhaltensweisen und Räume markierten, die für Frauen als despektierlich oder gefährlich galten. Dies machte Nesbit zur Exponentin der Gefahren, die jungen Frauen in städtischen Vergnügungsvierteln drohten, und verwies auf die Problematik weiblicher Berufstätigkeit, insbesondere des Schauspielberufs. Zudem griff es der white slave-panic der Folgejahre voraus, als es Anfang der 1910er Jahre zur regelrechten Hysterie über die Befürchtung kam, dass massenhaft unschuldige, junge Frauen der Mittelschicht zwangsprostituiert werden würden.197 Zu dieser emotionalen Interpretation des Nesbit-Thaw-White-Skandals trugen maßgeblich Journalistinnen bei, die in Zeitungsredaktionen eine dezidiert weibliche Perspektive in die tägliche Berichterstattung bringen sollten.198 Entgegen den Deutungen ihrer männlichen Kollegen störten sich die Kommentatorinnen jedoch daran, Nesbit eine Teilschuld zuzuweisen. Vor allem dem Chorus Girl, so die Meinung der Kolumnistin und Theaterschauspielerin Clara Morris (1849-1925), komme stets die Rolle »as a siren« zu, »whose sole occupation is the decoying and destruction of the gilded youth of America«.199 Doch stattdessen seien es Männer, welche die prekäre wirtschaftliche Situation und Naivität junger Frauen ausnutzen würden, um ihre Gelüste zu befriedigen.200 Die Dichterin und New York Evening World-Kolumnistin Ella Wheeler Wilcox (1850-1919) ging einen Schritt weiter und verurteilte Männer in der Vegnügungsgesellschaft als »moral lepers«, die mit ihrem Verhalten »a nation and a race in peril«201 bringen würden. Morris und Wilcox forderten somit die Deutungshoheit über weibliches Verhalten ein, indem sie dieses nicht ausgehend von einer männlichen Perspektive, sondern in Relation zu dieser beurteilten. Dadurch erschienen Männer als die eigentlichen Verursacher der Stigmatisierung des weiblichen Körpers. Letztlich verhandelten sie damit tieferliegende Fragen nach weiblicher Aktivität oder Passivität in der Vergnügungsgesellschaft; Themen, die im Mordprozess aufgegriffen werden sollten. Mit der gleichen Kritik, aber von einer anderen Warte aus, beurteilten konfessionelle Teilöffentlichkeiten den Fall. Der regelmäßige New York American-Kommentator und Reformed Church-Reverend Dr. Madison C. Peters sah Mädchen wie Nesbit in einer doppelten Opferrolle: Sie seien nicht nur Leidtragende der »corruption of innocent girlhood«, sondern würden zugleich an ihren eigenen Ambitionen scheitern. Entsprechend gebe es kein christlicheres Werk »than to help to self-support and self197 Vgl. David J. Langum: Crossing Over the Line. Legislating Morality and the Mann Act, Chicago/London 2006, S. 15-7, 26-35. 198 Vgl. Jean Marie Lutes: Front Page Girls. Women Journalists in American Culture and Fiction, 1880-1930, Ithaca 2006, S. 69-71. 199 Beide Zitate Clara Morris: Clara Morris Warns of Perils of Chorus Girls, New York American, 1.7.1906, S. 36. 200 Vgl. ebd. 201 Beide Zitate Ella Wheeler Wilcox: Nation’s Peril Lies in Men Like White, New York American, 30.6.1906, S. 4. evelyn nesbits mediale ambivalenz

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respect the many young girls who are poor but ambitious […] to fight their way in the world.«202 Doch stattdessen demonstriere Nesbits Fall, dass ein einziger moralischer Fehltritt genüge, um das gesellschaftliche Ansehen einer Frau zu ruinieren.203 Sie sei somit nur sichtbares Exponat der gegenwärtigen urbanen Herausforderungen. Mit dem Appell von Reverend Peters, »the woman with a past«204 als Opfer zu begreifen und ihr zu vergeben, grenzte er sich von der zweiten Interpretationsweise von Evelyn Nesbit ab: die der aktiv Beteiligten. Wirkmächtig äußerte das die National Police Gazette, eines der auflagenstärksten Magazine zur Jahrhundertwende und Vorläuferin des Sex and Crime-Genres der 1920er Jahre.205 Die gesamte erste Seite ihrer Juliausgabe 1906 zierte Abb. 17: Evelyn Nesbit auf dem Cover der ein Foto von Nesbit (Abb. 17). Darauf blickt National Police Gazette, 14.7.1906. sie unter einem fellverbrämten Mantel verträumt zum Himmel, während ihre reich beringten Hände das schulterfreie Kleid an ihren Körper drücken. Die Deutung folgte in der Bildunterschrift: »Beautiful Chorus Girl and Artist’s Model for Whom Harry Thaw of Pittsburg Killed Stanford White.«206 Diese Kombination aus Arbeitermädchen und Luxuskleidung war an sich schon eine moralische Wertung, referierte sie doch auf die diskursive Verbindung prachtvoller Kleider mit moralisch gescheiterten Frauen, den Fallen Women. So wurden Arbeiter- und Mittelklassefrauen, die nach unstandesgemäßer Couture strebten, nicht nur die Vernachlässigung weiblicher Tugenden und Pflichten unterstellt, sondern sie wurden auch mit moralischen Ausschweifungen und Prostitution in Verbindung gebracht.207 Diese Assoziationen aufgreifend, berichtete im Heft ein ganzseitiger Artikel über den Fall und seine Akteur*innen, der die Ereignisse noch202 Beide Zitate aus Madison C. Peters: ›White Tragedy a Warning to the Nation‹, New York American, 2.7.1906. 203 Vgl. ebd. 204 Ebd. 205 Vgl. Daniel Straubel: National Police Gazette, in: Alan Nourie/Barbara Nourie (Hg.): American Mass-Market Magazines, New York/London 1990, S. 284-91, hier S. 288, 291. 206 Evelyn Nesbit Thaw, in: National Police Gazette (14.7.1906), Cover. 207 Vgl. Mariana Valverde: The Love of Finery: Fashion and the Fallen Woman in NineteenthCentury Social Discourse, in: Peter McNeil (Hg.): Fashion: Critical and Primary Sources. Vol. 3: The Nineteenth Century, 4 Bde., Oxford 2009, S. 155-74, hier S. 155, 157-8.

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mals dramatisierte.208 Dies war symptomatisch für vergleichbare Beschreibungen von Mordfällen in den Printmedien zur Jahrhundertwende, die teils fiktionale Erzähltechniken nutzen und Anleihen an dem in den 1890er Jahren etablierten Genre der Kriminalgeschichten nahmen.209 Folglich beschrieb der Artikel »The Wife’s Story of Ruin« en detail Evelyn Nesbits Beziehungen zu White und Thaw, gab ihr eine aktive Rolle und letztlich die Mitschuld am Mord. Kaum angekommen in New York, [she] mingled with the gayest set in the city. Almost from the start she was possessed of an overwhelming desire for wealth and she sought the company of men who could gratify her whims. White met her when she was a chorus girl. He took a strong liking to her, gave her money, dresses and jewels and for a time he was seen almost daily in her company. […] [White’s] love for young girls had been a scandal in the white light district, and when these rumors spread Evelyn Nesbit suddenly disappeared.210 Während ihrer Abwesenheit vom Broadway in einem Internat habe sich ihr Charakter zum Schlechteren entwickelt, sodass sie nach ihrer Rückkehr auf Thaws Avancen einging und ihn des Geldes wegen heiratete. Why Evelyn Nesbit Thaw told her husband that she had been ruined by White has not been established. Friends of the couple said that probably she did it to justify herself in his eyes, pleading that her case was that of the rich man luring the poor girl to destruction.211 Zudem habe sie vor Dritten in den beiden Jahren vor dem Mord diese Geschichte erzählt und ihren Mann wiederholt dazu aufgefordert, ihre verlorene Ehre wiederherzustellen. Zugleich habe White nach Nesbits Heirat mit ihrer gemeinsamen Affäre geprahlt.212 Der Artikel setzte sich zum Ziel, einen Einblick in das Liebesleben der Akteur*innen zu geben und ihr Verhalten nachzuzeichnen. Dabei zeigt sich die Anschlussfähigkeit dieser Berichterstattung über High Society-Mitglieder: Zwar richtete sich die National Police Gazette vornehmlich an ein männliches Publikum,213 doch verschmolzen hier mediale Logiken der Gesellschafts- mit denen der Skandalberichterstattung. Das machte High Society-Mitglieder über beide Einzelgenres hi208 Vgl. Harry Thaw of Pittsburgh, Husband of Evelyn Nesbit, Murders Stanford White, in: National Police Gazette (14.7.1906), S. 7. 209 Vgl. Roggenkamp: Narrating, S. 56. 210 Harry Thaw of Pittsburgh, Husband of Evelyn Nesbit, Murders Stanford White, in: National Police Gazette: 14.7. (1906), S. 7. 211 Ebd. 212 Vgl. ebd. 213 Vgl. Jon Enriquez: Coverage of Sports, in: William David Sloan/Lisa Mullikin Parcell (Hg.): American Journalism. History, Principles, Practices, Jefferson 2002, S. 198-208, hier S. 199. evelyn nesbits mediale ambivalenz

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naus transferierbar. Die Darstellung Evelyn Nesbits als Repräsentantin der Vergnügungsgesellschaft der High Society, als moralisch nicht nur leichtfertiges, sondern haltloses Mädchen bildete die narrative Basis der Behauptung, sie sei ein selbstverschuldetes Opfer Whites oder gar eine Mittäterin.214 Beide Erzählungen referierten auf die verbreiteten und auch dem Sexualstrafrecht zugrundeliegende Annahmen, dass Frauen sich entweder selbst in diese Situationen brachten oder sie durch ihr Verhalten mit verschuldeten.215 Die Grundlage dieser Vorwürfe bildete dabei Nesbits Vorgeschichte als Modell und Chorus Girl.216 Bereits Ella Wilcox, ihr gegenüber eigentlich positiv eingestellt, merkte an, dass »young girls who are lured into the sumptuous dems of such men [as White] are blinded by vanity and ignorance. They imagine it is their own peculiar charm which attracts the man of the world«.217 Für sie und andere Kommentator*innen stand zwar außer Frage, dass die eigentliche Schuld bei den Männern liege.218 Doch treffe Frauen eine Teilschuld, wenn sie sich bewusst auf die heterosoziale Vergnügungsgesellschaft am Broadway einließen und nach den dortigen, oberflächlichen Verlockungen streben würden – diese Ambivalenz war aus Evelyn Nesbits Fremdbild nicht wegzudiskutieren. Der Topos ihrer Mitschuld war somit letztlich sowohl eine moralische als auch juristische Zuschreibung. Evelyn Nesbit selbst bezeichnete diese Berichte als »attacks on my reputation«,219 die Mitte Juli 1906 begonnen hätten, nachdem bekannt geworden war, dass Thaws unwritten law-Verteidigung auf ihrer Beziehung zu White basieren sollte. Es zeigt sich jedoch, dass die Geschichte ihres Verhältnisses bereits zu Beginn des Medienskandals eine Facette ihres Fremdbildes bildete, da die Presse die Details ihrer Nahbeziehungen in die Berichterstattung auszudehnen begonnen hatte.220 So mehrten sich Vorwürfe gegenüber Evelyn Nesbit, sowohl Stanford White als auch Harry Thaw finanziell ausgenutzt zu haben.221 Auch wenn diese Geschichten sich in eine Vielzahl anderer Übertreibungen einreihten – ein Spezifikum, das den Leser*innen wohl durchaus bewusst war –,222 schienen sie im Kern dennoch plausibel: Sie ent214 Evelyn Nesbit die Mitschuld an dem Mord zu geben, stellte dabei eine ungewöhnliche Zuschreibung von Agenda an die Frau dar, siehe Kap. II.2.1. 215 Vgl. Patricia Smith: Social Revolution and the Persistence of Rape, in: Keith Burgess-Jackson (Hg.): A Most Detestable Crime. New Philosophical Essays on Rape, New York 1999, S. 32-45, hier S. 33-4. 216 Vgl. etwa Anna Steese Richardson: How Glitter and Greed Tempt the Chorus Girl, New York World, 7.7.1906, S. 2. 217 Ella Wheeler Wilcox: Nation’s Peril Lies in Men Like White, New York American, 30.6.1906, S. 4. 218 »It is not the girl but the men!«, Clara Morris: Clara Morris Warns of Perils of Chorus Girls, New York American, 1.7.1906, S. 36. 219 Nesbit: Prodigal Days, S. 192. 220 Vgl. so bereits in Experts Again Say that Thaw is Sane, Evening World, 27.6.1906, S. 1-3. 221 Vgl. Evening World, 7.7.1906, S. 1-3, hier S. 3. 222 Vgl. Smythe: Gilded Age Press, S. 210.

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sprachen nicht nur im Wesentlichen dem, was über Beziehungsgeschichten und das Verhalten von Chorus Girls aus den Medien bekannt war,223 sondern verstetigten die Berichterstattung über das vermeintlich private Beziehungsleben der Akteur*innen. Die Vorbehalte referierten dabei auf zeitgenössische Bedenken gegenüber der Lockerung der Sexualmoral und Rollenbilder, welche konservative Öffentlichkeiten in Vergnügungsvierteln sahen.224 Daher kann Nesbits Darstellung als High SocietyMitglied in der Wertedebatte um Frauenrollen verortet werden. Mit ihrer beruf­ lichen Tätigkeit am Broadway, ihrer Integration in die dortigen Zirkel und ihrer medialen Sichtbarkeit negierte sie zentrale Elemente des viktorianischen Frauenbildes wie Häuslichkeit, Zurückhaltung und Respektabilität. In der diskursiven Debatte um häusliche Werte, bei der es um den Schutz der Ehe, Familie und religiöser Überzeugungen vor dem scheinbar alles konsumierenden Materialismus der Moderne ging, galt sie als Sinnbild für Letzteres.225 Nach dieser Lesart hatte sie aufgrund ihres Verhaltens ihren Ruin durch White selbst verschuldet.226 Diese beiden dichotomen Interpretationen von Nesbit stehen für einen Moment, in dem die Diskussion um die Geschlechterrollen in der entstehenden heterosozialen Vergnügungskultur einen ersten Höhepunkt erreichte.227 In diesem Kontext intensivierte sich die Presseberichterstattung über Nesbit im Skandal und ermöglichte es, Details aus ihrem Leben konträr zu interpretieren. Dabei wogen die Vorwürfe gegen ihren als unsittlich interpretierten Lebensstil schwer und drohten, das Opfernarrativ in den Hintergrund zu drängen. Doch nicht allein schriftliche Berichte waren dafür verantwortlich: Maßgeblich für diese ambivalente Deutung waren die parallel dazu veröffentlichten Abbildungen von Evelyn Nesbit.

Die Relevanz des Visuellen für Evelyn Nesbits Fremdbild Fotografien und Zeichnungen von Evelyn Nesbit dominierten die Bebilderung des Skandals. Einerseits standen von ihr mehr Aufnahmen als von Thaw und White zur Verfügung; andererseits war sie die Einzige der drei, die sich noch frei bewegen konnte und damit fotografierbar blieb. An Nesbit konnte die yellow press so eine der 223 Vgl. etwa How Fair Poetic Dancer Jilted Gay Millionaire, Evening World, 13.5.1901, S. 3; Actresses Who Figure as Objects of Steel Millionaires’ Infatuations, Chicago Sunday Tribune, 10.12.1905, S. 2. 224 Vgl. Erenberg: New York Nightlife, S. 61-3. 225 Vgl. Edwards: New Spirits, S. 133-4. Zum Konflikt zwischen viktorianischen und modernen Frauenbildern in der städtischen Gesellschaft vgl. Carroll Smith-Rosenberg: Disorderly Conduct. Visions of Gender in Victorian America, New York 1986, S. 199-200. 226 Vgl. Grieveson: Thaw-White Scandal, S. 33. 227 Vgl. Erenberg: New York Nightlife, S. 60-1. Diese Frage erlebte in den 1920er Jahren eine zweite Hochphase. evelyn nesbits mediale ambivalenz

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zentralen Kriterien ihres Sensationalismus und der Gesellschaftsberichterstattung umsetzen: die großzügige und imaginative Verwendung von Fotografien.228 Darauf soll im Folgenden näher eingegangen werden. In Bezug auf die von Nesbit abgedruckten Fotografien spricht Martha Umphrey von einem Anachronismus, da die Bilder größtenteils zwischen 1901 und 1903 entstanden waren und sie dennoch bis zum Ende des Skandals als Repräsentationen von Nesbit abgedruckt wurden.229 Dabei verweist Umphrey zurecht darauf, dass die zunehmende Fokussierung auf Nesbit sich implizit wie explizit in die kulturelle Logik der Berichterstattung einpasste, wonach es ihre weibliche Schönheit war, die das Leben zweier Männer ruiniert habe.230 Jedoch beschäftigt sich Umphrey lediglich oberflächlich mit den Bildern und lässt deren eigene Agenda weitgehend unbeachtet. Dabei rahmten Nesbits Gesicht und Körper nicht nur die Berichterstattung über den Skandal,231 sondern es darf angenommen werden, dass ihre Auswahl und Suggestionskraft aktiv zur Vorverurteilung und Verstärkung der Narrative im Skandal beitrugen.232 Denn durch die Visualität und Performativität von Bildern entfalteten sie eine Wirkmächtigkeit, die sie zu eigenen Akteuren der Medialisierung machten, wie dies bei Evelyn Nesbit bislang noch nicht der Fall gewesen war. Möglichkeiten medialer Selbstinszenierung? Performativität im Bild Das Betrachten von Bildern kann als performativer Akt verstanden werden, der Wirklichkeit konstruiert und Handlungen anleitet.233 Am Beispiel des Gesichts – respektive des Porträts – erkannte dies bereits Georg Simmel und problematisierte es in seinem »Exkurs über die Soziologie der Sinne« als soziologisches Phänomen. Für Betrachtungssituationen folgerte er eine spezifische soziale Wechselbeziehung, die sich in den simultanen Rollen der Beteiligten ausdrückt, zugleich Blickende und Angeblickte zu sein.234 In den 1990er Jahren entwickelte die Kunstgeschichte die Theorie des Bildakts, wonach das Bild in eine kommunikative Beziehung mit den Betrachter*innen tritt.235 Dabei betont der Kunsthistoriker Hans Belting mit Ver228 229 230 231 232 233

Vgl. Campbell: Yellow Journalism, S. 8. Vgl. Umphrey: Media Melodrama, S. 728-9. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 727. Siehe auch Anm. 187. Zur Bedeutung von Visualisierungen in Skandalen vgl. Sikorski/Ludwig: Relevanz, S. 198-206. Vgl. Ludger Schwarte: Einleitung. Die Kraft des Visuellen, in: ders. (Hg.): Bild-Performanz, München 2011, S. 11-31, hier S. 11-2. 234 Vgl. Georg Simmel: Exkurs über die Soziologie der Sinne, in: ders. (Hg.): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Hrsg. von Otthein Rammstedt (= Gesamtausgabe, 11), Frankfurt a. M. 1992 [1908], S. 722-42, hier S. 723-4. 235 Vgl. Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010, S. 49-51. Bereits David Freedberg hatte in seiner »The Power of the Images« (1989) darauf hingewiesen, dass Bilder erst durch ihre Betrachter*innen eine transformative Wirkung ent-

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weis auf Sartres Blicktheorie den Unterschied zwischen sehen und blicken: Während beim Sehen das Angesehene zum Objekt wird, kennzeichnet die Blickbeziehung ein wechselseitiges Verhältnis aus Subjekt- und Objekthaftigkeit. Indem die Anblickenden durch ihre Blicke agency gewinnen, entziehen sie diese dem Angeblickten und vice versa.236 Aus performanztheoretischer Perspektive kann dies auf ein »Spiel der Blicke«237 zugespitzt werden, in dessen Wechselseitigkeit sich Ermächtigung und Entmachtung der Akteur*innen überlagern.238 Diese Performanz der Bilder zeigt sich in den von Evelyn Nesbit veröffentlichten Fotografien. Sie untergliederten sich in bereits existierende Studioaufnahmen und aktuelle Schnappschüsse, die jeweils unterschiedliche Bildakte und Deutungen evozierten. Dabei gehe ich davon aus, dass die Fotografien für die Narrative über Nesbit maßgeblich waren, da sie durch ihre visuelle Wirkmächtigkeit eine eigene, suggestive Überzeugungskraft entwickelten. Die Studioaufnahmen lassen sich nach ihrer Entstehungszeit in zwei Gruppen einteilen, die vor und die nach Nesbits Heirat im Frühjahr 1905. In der ersten Phase war sie Teil der High Society, während sie in der zweiten versuchte, sich nach der Hochzeit in die Pittsburgher Upper Class zu integrieren.239 Bei den Aufnahmen der zweiten Gruppe handelt es sich fast ausschließlich um Ganzporträts (Abb. 18, o.). Dieses Format etabliert ein gleichwertiges Blickverhältnis, indem Betrachter*in und Abgebildete sich auf Augenhöhe befinden. Zudem kommt die getragene Kleidung, die von aufwendig gewebten Gewändern über reichen Schmuck bis zu kostspielig verzierten Hüten reichte, zur vollen Geltung. Doch nicht nur diese Konsumgüter platzierten Evelyn Nesbit im sozialen Raum der Upper Class,240 auch ihre Körperhaltung und Mimik entsprachen den Darstellungskonventionen vergleichbarer Fotografien von Damen der Oberschicht, womit sie einen entsprechenden Habitus

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falten. Seit den 1990er Jahren gibt es vor allem in der Kunstgeschichte und Filmwissenschaften entsprechende Auseinandersetzungen, vgl. z. B. Belting: Bild-Anthropologie als Impulsgeberin in den Filmwissenschaften maßgeblich Mulvey: Visual Pleasure. Vgl. Hans Belting: Zur Ikonologie des Blicks, in: Christoph Wulf/Jörg Zirfas (Hg.): Ikonologie des Performativen, München 2005, S. 50-8, hier S. 50-2; ders.: Blickwechsel mit Bildern. Die Bilderfrage als Körperfrage, in: ders. (Hg.): Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, S. 49-75, hier S. 66-7, 69-70. Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung (=  Kulturwissenschaft, 10), 2. Aufl., Bielefeld 2013, S. 149. Vgl. ebd. Martha Umphrey unterteilt Nesbits Bilder in unschuldige oder verführerische Aufnahmen, vgl. dies.: Media Melodrama, S. 729. Dabei vermischt sie aber die Bildpolitik der yellow press aus der Zeit vor und nach Evelyns Gerichtsaussage im Februar 1907, was einen Wandel ihres Fremdbildes verdeckt. Aus soziologischer Perspektive ist luxuriöse Kleidung in westlichen Gesellschaften ein zentrales Distinktionsmerkmal, lässt sich jedoch zugleich am besten imitieren, vgl. Daloz: Sociology, S. 64-8.

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ausstrahlte (Abb. 18,   u.). Sie adaptierte und verstetigte dadurch diese fotografischen Kon­ventionen.241 Die in den Porträts immanente agency als Frau der Upper Class distanzierte sie visuell von despektierlichen Vorwürfen, einen aktiven Part im Konflikt zwischen Thaw und White eingenommen zu haben. Wie wichtig diese mediale Selbstdarstellung als Teil der respektablen Oberschicht im Gegensatz zu Nesbits Modellaufnahmen war, zeigt die Weitergabe privater Studiobilder an die Presse (Abb. 19). Nach ihrer Hochzeit hatte Evelyn Nesbit in der New Yorker 5th Avenue bei Otto Sarony, dem renommiertesten Fotostudio Abb. 18: Reihe oben: Fotografien von Evelyn Nesbit als der Stadt, aktuelle AufnahUpper Class-Dame in den Printmedien während der Etablierungsphase des Skandals (Juni und Juli 1906). men anfertigen lassen. Sie Reihe unten: Zeitgenössische Vergleichsbilder der New nutzte dabei ihre Kleidung, Yorker Upper Class-Frauen und späteren High Societyum ihre neue soziale Stellung Mitglieder Cynthia Roche (1884–1966) und Consuelo performativ zu bestätigen, inVanderbilt. dem sich in ihnen ihr soziales, ökonomisches und symbolisches Kapital materialisierte. So zeugte ihr elegantes Kleid mit Straußenfedernhut oder ihr Hermelinmantel von ihrem finanziellen Vermögen. Letzterer galt seit Jahrhunderten als herrschaftliches Attribut, womit er symbolisch Nesbits Anspruch auf eine führende soziale Stellung einforderte.242 Sowohl die Motive als auch die Posen von Nesbits Fotografien – insbesondere die Inszenierung im monarchischen Herrscherporträt (Abb. 19, u.) – zeugen von ihrem doppelten Legitimationsversuch als Upper Class-Dame: Einerseits sollte ihre conspicuous consumption, also ihr sichtbarer Geltungskonsum, von sich aus ihren Status 241 Vgl. Silke Betscher: Von großen Brüdern und falschen Freunden. Visuelle Kalte-Kriegs-Diskurse in deutschen Nachkriegsillustrierten, Zugl.: Liverpool, Univ., Diss., 2010, Essen 2013, S. 34. 242 In HU, HL, HTC, Theatrical Cabinet Photographs of Women ca. 1866-1929 (TCS 2), Box 365, Nesbit, Evelyn finden sich elf entsprechende Kabinettkarten.

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festigen. Andererseits bekräftigten die Fotografien erneut die visuellen Referenzen auf Vergleichsporträts von Frauen der Oberschicht, womit sich Evelyn Nesbit des Mediums Fotografie bemächtigte, um sich an einer eigenen, selbstbewussten Medienpolitik zu versuchen.243 Ihr Vorgehen erhielt zusätzliche Bedeutung durch die »increasingly ocularcentric culture«244 der Jahrhundertwende, in der mit Bildern immer stärker Fragen nach sozialer Stellung, Rollenbildern und Weiblichkeit verhandelt wurden. Dabei konnten Frauen ihr Selbstbild mit ihren eigenen Bildern steuern. Wie der Historiker Jens Jäger betont, folgen Fotoaufnahmen künstlerischen Konventionen, die wiederum sozialen Regularien entsprechen. Damit geben sie Sicht- und Interpretationsweisen vor, wie etwa über die gesellschaftliche Stellung der Abgebildeten.245 EntspreAbb. 19: Kabinettkarten mit je einem Halb- und chend besaßen Nesbits Fotografien als Ganzporträt von Evelyn Nesbit als Upper ClassUpper Class-Dame das Potenzial, ihre Dame (1905-6) und deren Verwendung in der mediale Rezeption nachhaltig zu prä- Pittsburgh Press (o. li.) und Buffallo Times (u. re.) (Juni und Juli 1906). gen. Zentral dafür war die Kontrolle über Produktion, Verbreitung und Verwendung der Fotografien – sprich die Kontrolle der eigenen Sichtbarmachung. Wie genau die Printmedien an die neu angefertigten Fotografien gelangten, lässt sich nicht mehr zweifelsfrei klären. Wahrscheinlich ist, dass sie Nesbit an die Presse weitergab, um die alten Studioaufnahmen mit ihrem neuen Selbstbild als Pittsburgher Millionärsgattin im Hermelin zu überschreiben.246 Da auch Mary Copley Thaw ein genuines Interesse an dieser Neuinterpretation hatte, darf vermutet werden, dass sie hierbei ebenfalls eine Rolle spielte. Darüberhinaus gab Evelyn Nesbit, höchstwahrscheinlich ihre explizite Zustimmung zur Ver243 244 245 246

Vgl. Belting: Bild-Anthropologie, S. 220-2. Lake: Face, S. 12. Vgl. ebd., S. 12-3; Jäger: Fotografie, S. 60-1. Aufgrund der Verwendung ihres Halbporträts am Tag nach dem Mord (Abb. 19, o.li.) erscheint es plausibel, dass es sich zu diesem Zeitpunkt bereits im Besitz der Pittsburgh Press befand.

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Abb. 20: Kabinettkarte von Evelyn Nesbit von Otto Sarony, New York [1905/6] und Privataufnahme der Thaws, im Familien-Cottage Elmhurst in Cresson, Pennsylvania, im Sommer 1905.

breitung der Fotografien durch das Fotostudio.247 Denn Otto Sarony fertigte sogenannte Kabinettkarten, auf Karton aufgeklebte Fotodrucke, an (Abb. 20, li.). Mit diesen ersten Fanartikeln hatten in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Theaterdarsteller*innen begonnen, ihre eigene Sichtbarkeit lokal und überregional zu steigern:248 Die Fotostudios verkauften die Fotokarten direkt im Laden oder verschickten sie per Post, was sich zu einem einträglichen Geschäft entwickelte.249 In den 1890er Jahren hatten sowohl Upper Class-Frauen als auch (potenzielle) Mitglieder der High Society das Potenzial dieser Praxis für die eigene Sichtbarmachung entdeckt und nutzten die Kabinettkarten zur eigenen Inszenierung.250 Denn sie gaben vermeintliche Einblicke in das Private, wie Nesbits Karte sie etwa mit ihrem Schoßhund zeigt (Abb. 20, li.). Als privates Accessoire zeugte er von ihrem Konsumverhalten und offenbarte zugleich ihr Gefühlsleben, da sie sich innig an den Hund schmiegt. Obwohl das Studiofoto nicht an den 247 Häufig verbreiteten Fotostudios die Aufnahmen auch ohne Zustimmung der Abgebildeten, was aufgrund der oben genannten Gründe jedoch kaum deren Missfallen provozierte, vgl. Mensel: Kodakers, S. 35. 248 Diese Praktik hatte unter Schauspieler*innen mit der Amerikatournee (1850-2) der schwedischen Opernsängerin Jenny Lind (1820-1887) eingesetzt, vgl. Lilti: Invention, S. 242-5. 249 Vgl. Bassham: Photographs, S. 3-4. 250 Vgl. Orvell: American Photography, S. 188.

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vermeintlichen Intimitätsgrad tatsächlicher Privataufnahmen heranreichte (Abb. 20, re.), gab es dennoch die genannten privaten Informationen über Nesbit preis. Dementsprechend unterstrichen diese Fotografien nicht nur Evelyn Nesbits Upper ClassStatus, sondern rekurrierten zugleich  auf Fotopraktiken der High Society, die sie damit selbst half, mit zu erzeugen. Sowohl die Zeitungsbilder als auch die Kabinettkarten zeigen somit eine dezidierte Bildpolitik: Mit Strategien der Selbstinszenierung wollte Evelyn Nesbit die Visualisierungen aus ihrer Modell- und Broadway-Zeit durch konkurrierende Bildakte überschreiben. Obwohl dieses Angebot eines alternativen Selbstbilds für ihre eigene Sichtbarkeit zentral war, traten diese Bilder angesichts der zweiten Gruppe an Fotografien in den Hintergrund. Zeugnisse einer unsittlichen Evelyn? Die Authentizitätsillusion im Bild Nach Whites Ermordung nahmen Aufnahmen aus Evelyn Nesbits Zeit als Modell und Chorus Girl aus den Jahren 1901 bis 1903 in der Zeitungsberichterstattung weit größeren Raum ein. Dabei gehe ich von der These aus, dass deren Bildakte eine eigene Dynamik sowohl im Skandal als auch für Nesbits High Society-Status entfalteten: Sie stärkten das Narrativ von Nesbit als Mitschuldiger und entwickelten durch ihre visuelle Wirkmächtigkeit eine starke Eigendynamik. Der Kontrollverlust untergrub nicht nur Evelyn Nesbits öffentliche Deutungshoheit, sondern auch die über Harry Thaws Ehrenmordgeschichte. Bereits während Nesbits Zeit als Fotomodell hatte sich gezeigt, dass ihre Aufnahmen eine eigene performative Wirkung entfalten konnten, als sie ihr zum Zutritt in die High Society verhalfen.251 Mit dem Mordfall änderte sich das, denn genau diese Fotografien zeigten nun, dass Bildakte ihren Modus und ihre Deutung dem historischen Kontext und zeitgebunden Diskursen anpassen.252 So konnten zuvor unbedeutende oder in andere Diskurse eingebettete Elemente, ebenso wie solche ohne Darstellungsabsicht, plötzlich neue, ursprünglich nicht intendierte Bildakte erzeugen.253 Eben das traf auf die Fotografien von Evelyn Nesbit zu. Die Ursache für diese Deutungsverschiebungen liegt im Wunsch der Betrachtenden nach authentischem Erkennen.254 Genau dieses Trugbild der »Augenzeugen­ 251 Siehe Kap. I.2.2. 252 Vgl. Belting: Bild-Anthropologie, S. 32, 214. Bilder funktionieren dabei eben nicht, wie der Philosoph Ludger Schwarte betont, »als Speicher oder Archive, sondern als Verkörperungen« der abgebildeten Person, die dem zeitlichen Wandel unterliegen, vgl. ders.: »Bilder bezeugen, was nicht ausgesagt werden kann. Überlegungen zur visuellen Performanz«, in: ders.: Bild, S. 137-62, hier S. 138. 253 Vgl. ebd., S. 137-8. Dies kann als rückwirkendes Framings bezeichnet werden, das Bildinhalten nachträglich zukunftsweisende Eigenschaften zuspricht, vgl. Sikorski/Ludwig: Relevanz, S. 198. 254 Vgl. Saupe: Authentizität 2015, [S. 7-8]. evelyn nesbits mediale ambivalenz

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schaft«255 erzeugen Fotografien, die vordergründig nicht als Interpretationen oder Deutungen, sondern als Schlaglichter der Wirklichkeit erscheinen.256 In der Bilderflut der Massenmedien zielen Abbildungen darauf, die »Grenzen der eigenen Bildlichkeit zu verschleiern«257, sodass es leicht geschieht, »das Bild für das Dargestellte selbst zu halten, es als Bild gleichsam zu übersehen«.258 Das Medium versteckt somit seinen medialen Charakter. Zwar widerspricht das dem kulturwissenschaftlichen Kenntnisstand,259 doch bleibt davon die populäre Wahrnehmung von Fotografien als »incontrovertible proof that a given thing happened«260 weitgehend unberührt. Das galt gerade für die Jahrhundertwende, als sowohl die Presse als auch die immer deutungsmächtigeren Naturwissenschaften diese Perzeption intensivierten. Verwendete Erstere zunehmend Fotografien als visuelle Belege ihrer Meldungen,261 verstärkten Letztere diesen Anspruch mit ihrer wissenschaftlichen Autorität, da auch sie zur Legitimierung ihrer Wissenschaftlichkeit auf Fotografien als Ergebnisdokumentationen zurückgriffen.262 Diese vermeintliche Authentizität wurde besonders relevant für die Wahrnehmung von Nesbit in den Fotografien, die ihre Erotik und ihren Körper ins Zentrum stellten. Exemplarisch zeigen das zwei ihrer Halbporträts, worin sich typische Elemente ihrer Modellfotografien verdichten: Die gelösten Haare, der geöffnete Übermantel respektive die unbedeckte Bluse sowie der offene oder herausfordernde Blick strahlten Naivität und Sinnlichkeit, Erotik und Verführung aus (Abb. 21). Sie bildeten damit ein regelrechtes Metamotiv der sexualisierenden Broadway-Darstellerinnen und damit der Rolle, die der Ausgangspunkt von Nesbits High Society-Mitgliedschaft war. Die Aufnahmen lassen sich im Kontext ihrer Akt- und Kunstfotografien verorten, in denen unter dem Deckmantel der Kunstvermittlung die Anfertigung solch erotisierender Aufnahmen legitim und weit verbreitet war.263 Mit Beginn des NesbitThaw-White-Skandals wandelte sich allerdings der Deutungsrahmen dieser Foto255 So der Titel von Burke: Augenzeugenschaft, vgl. ferner ebd., S. 13. Zur kritischen Diskussion dieser Annahme vgl. Paul: Bild, S. 29. 256 Vgl. Gerhard Paul: »Visual History«, in: Bösch et al.: Zeitgeschichte, S. 391-419, hier S. 396-403, v. a. S. 399. 257 Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, in: ders. (Hg.): Was ist ein Bild?, 4. Aufl., München 2006, S. 11-38, hier S. 35. 258 Ebd., S. 34. 259 Dies ist spätestens seit Pierre Bourdieus Feststellung des bildlichen Konstruktionscharakters bekannt, vgl. ders.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt a. M. 1981, S. 88-9. 260 Susan Sontag: On Photography, in: David J. Crowley/Paul Heyer (Hg.): Communication in History. Technology, Culture, Society, 4. Aufl., Boston et al. 2003, S. 166-70, hier S. 167. 261 Vgl. Harris: Iconography, S. 306-7. 262 Vgl. Jennifer Tucker: Nature Exposed. Photography as Eyewitness in Victorian Science, Baltimore 2006. 263 Vgl. Lathers: Bodies, S. 223, 229.

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Abb. 21: Sinnlich-erotische bzw. verführerische Fotografien von Evelyn Nesbit (ca. 1901-3) in der Skandalberichterstattung zwischen Juni und Juli 1906.

grafien. Sie erschienen nun als Belege von Nesbits sexueller Unmoral – zeigten sie diese doch in einer eigentlich nicht einsehbaren, vermeintlich erotischen Situation, in der sie durch ihre Blickkontakte zum erotisch handelnden Subjekt wurde. Dass hierbei wieder die Ambiguität ihrer Erotik und Naivität als Kindfrau in den Vordergrund trat, thematisierte der Boston American: Ihre Bildakte hätten den »sweetly appealing look of innocence of the nun or the child that made the face of Evelyn Thaw so winsome and seductive.«264 Wenn Nesbit mit gelöstem Haar herausfordernd in die Kamera blickt (Abb. 21, re.) oder scheinbar naiv ihren Mantel über dem nackten Körper gerade noch geschlossen hält (Abb. 21, li.), rückte ihr erotischer Körper ins Zentrum und bestätigte das Narrativ von ihr als (Mit-)Schuldige. Doch war es nicht vielmehr das fotografische Konstrukt einer verführerischen Pose, die keine Aussage über das Selbstbild des Modells zuließ, sondern lediglich das Fremdbild wiedergab, das (bürgerliche) Betrachter*innen darin sehen wollten?265 Nesbits Blick schien dieses Narrativ zu bestätigen, indem er die antizipierte Erotik der Dreiecksbeziehung visualisierte. Die Aufnahmen zeigen somit, dass Blick- und Wissensordnungen bestimmen, was in Abbildungen sichtbar wird.266 264 Evelyn Nesbit Thaw, Boston American. Sunday Magazine, 21.10.1906, S. 9. 265 Siehe Anm. 314 auf S. 102. Zu viktorianischen Stereotypen über Modelle siehe Kap. I.2.2. 266 Vgl. Roswitha Breckner: Offenheit – Kontingenz – Grenze? Interpretation einer Porträtfotografie, in: Michael R. Müller/Jürgen Raab/Hans-Georg Soeffner (Hg.): Grenzen der Bildinterpretation, Wiesbaden 2014, S. 123-53, hier S. 129; spezifisch zum Gesicht vgl. Hermann Kappelevelyn nesbits mediale ambivalenz

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Nesbits Blickakte suggerierten dabei einen Einblick in ihr Sexualleben, was die Blickbeziehungen der Porträtaufnahmen zu stützen schienen, da sie Nahbarkeit und erotische Verfügbarkeit erzeugten.267 Sie öffneten damit einen Intimbereich, der in den zeitgenössischen Massenmedien noch nicht explizit angesprochen werden konnte.268 Da jedoch Fotografien laut dem Philosophen Ludger Schwarte »bezeugen, was nicht ausgesagt werden kann«,269 schienen sie durch ihre vermeintliche Zeugenschaft die Erzählung von Evelyn Nesbit als sexueller Akteurin und Mitschuldige zu verifizieren. Es ergibt sich so der Eindruck einer Verschiebung von Bildinhalten. Zum Entstehungszeitpunkt bedienten die Aufnahmen genau solche Kategorien – wie Jugendlichkeit und Erotik –, die Evelyn Nesbit Aufmerksamkeit generierten und ihren Weg in die High Society ebneten.270 Die zeitgenössische Deutung ihrer Blickakte, im Sinne eines starken weiblichen Selbstbewusstseins, gepaart mit naiver Unschuld, entsprach dabei nicht nur neueren Weiblichkeitsvorstellungen wie dem Gibson Girl, sondern prägten diese aktiv mit.271 Mit dem neuen Wissen über Nesbit seit Beginn des Skandals schienen die Aufnahmen ihre eigene erotische Agenda oder mögliche außereheliche Sexualkontakte zu bestätigen. Der zuvor im Wechselspiel der Blicke eher untergeordnete Subjektstatus von Evelyn Nesbit trat nun in den Vordergrund. Das verlieh ihr ex post eine starke agency, was das Narrativ des Opfers ein ums andere Mal zu konterkarieren schien. Nesbits Medialisierung vor dem Mord – Studiobilder, ihre Auftritte und Kontakte am Broadway – wurde somit in der Presse nach dem Tode Whites zum sichtbaren Ausdruck ihrer moralischen Ambivalenz. Dies zeigt, dass die Einblicke in die vermeintliche Privatheit der High Society-Mitglieder, wie Kleidung, Orte der Vergemeinschaftung oder Vergnügungspraktiken, im Skandal auf die Beteiligten zurückfallen konnten. Das verdeutlicht die Zweischneidigkeit der Medienpräsenz, wenngleich auch die negative Darstellung wiederum mediale Sichtbarkeit erzeugte.

hoff: Bühne der Empfindungen, Leinwand der Emotionen – das bürgerliche Gesicht, in: Helga Gläser/Bernhard Groß/Hermann Kappelhoff (Hg.): Blick, Macht, Gesicht (=  Traversen, 7), Berlin 2001, S. 9-41. 267 Im Gegensatz zur Distanziertheit beim Betrachten von Objekten erzeugen Blickbeziehung eine »distanzlos[e] Anwesenheit«, in Sybille Krämer: »Gibt es eine Performanz des Bildlichen? Reflexionen über ›Blickakte‹«, in: Schwarte: Bild, S. 63-90, hier S. 70. 268 Vgl. Jesse F. Battan: »›The Word Made Flesh‹: Language, Authority, and Sexual Desire in Late Nineteenth-Century America«, in: Peiss: Major Problems, S. 252-64, hier S. 254-5. 269 So bereits im Titel von Schwarte: Bilder; vgl. ferner ebd., S. 148-9, 153. 270 Siehe Kap. I.2.2. 271 Vgl. Patterson: Gibson Girl, S. 43-5. Nesbits Bildakte passten dabei insb. zur Ambivalenz des Gibson Girls zwischen Selbstbestimmung und Unterwerfung, vgl. Banner: American Beauty, S. 165-6.

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Inszenierte Privatheit zwischen Ermächtigung und Entmachtung Die Tombs, das New Yorker Stadtgefängnis, entwickelten sich zum zentralen Ort des Thaw-White-Skandals, da dort die Skandalisierten zusammentrafen. Entsprechend lief Nesbit bereits bei ihren ersten Besuchen »through a lane of clicking cameras. Mrs. Thaw instinctively lowered her head and half covered her face as she hurried up the steps [towards the entrance]«.272 Die vor dem Skandal noch aktiv gesuchte Sichtbarmachung durch die Verbreitung von Studioaufnahmen wandelte sich im Spießrutenlauf durch ein Fotografenspalier zur öffentlich stattfindenden Entmachtung. Gegenüber den posierten Aufnahmen zogen Schnappschüsse ihren Nachrichtenwert nicht aus dem scheinbar häufig banalen Bildinhalt – wie Evelyn Nesbit auf der Straße oder beim Einsteigen in ein Automobil –, sondern aus der Bildrezeption der Zeitgenoss*innen: Demnach konnten Schnappschüsse die Zeit einfrieren und machten so die unbewusst beziehungsweise unwillig Fotografierten zu Studienobjekten.273 Die damit mögliche Teilhabe an der Alltäglichkeit der High Society-Mitglieder machte Evelyn Nesbit für die Fotoreporter so interessant. Doch gelang es Fotografen nur gelegentlich, verwertbare Schnappschüsse von Nesbit anzufertigen. Denn einerseits schaffte sie es, durch ihren Kleidungsstil und ihr Verhalten agency zu reklamieren  – beides mediale Praktiken der Oberschicht wie auch der High Society, die es zu erlernen gegolten hatte.274 Andererseits verunmöglichte die häufig schlechte Qualität der Fotografien deren Publikation, sodass Zeitungen häufig auf Fotomontagen und Retuschen zurückgriffen, um den Nachrichtenwert von Bildern nutzen zu können. Trotz qualitativ höchst unterschied­ licher Ergebnisse vermittelten diese bearbeiteten Bilder einen gewissen Grad an Augenzeugenschaft und damit Teilhabe an den Ereignissen um die High SocietyMitglieder. Wie stark die High Society-Berichterstattung die Skandalberichterstattung beeinflusste und vice versa, zeigen die Versuche, die Nachrichten mit Details aus der Privatheit der Akteure anzureichern. »Rumor had to work double shifts«275, rekapitulierte Evelyn Nesbit die Falschmeldungen, die in den Medien zirkulierten:276 etwa über den Idealzustand ihrer Ehe, ihre anstehende Scheidung oder baldige Mutterschaft;277 Meldungen, die teils kaum von den tatsächlichen Ereignissen zu unterscheiden waren.

272 Mrs. Thaw Faces Big Crowd at the Tombs, New York American, 28.6.1906, S. 4. 273 Vgl. Linkof: Public Images, S. 51-2. 274 Vgl. Evelyn Nesbit Thaw Leaving the Tombs, Eager Crowds Watching Her, New York Evening Journal, 3.7.1906, S. 2. 275 Nesbit: Story, S. 113. 276 Vgl. ebd. 277 Vgl. zur Ehe: Wife of Pittsburg Millionaire, Charged with Murder, Hastens to His Aid, Pittsburgh Press, 26.6.1906; zur Scheidung: Evelyn Thaw Denies Divorce Suit Rumors, Evening evelyn nesbits mediale ambivalenz

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Auch wenn Evelyn Nesbit in ihren Autobiographien die mediale Aufmerksamkeit vor dem ersten Gerichtsprozess kaum näher thematisierte, prägte sich deren Intensität bei ihr ein: »I have a dim recollection of being haunted by an army of reporters.«278 Die vorangegangene Analyse verdeutlichte Nesbits Entmachtung durch Medien­ vertreter*innen und ihre problematische Passung zur unwritten law-Verteidigung. Davon ausgehend betonte die bisherige Forschung, dass Evelyn Nesbit eher Objekt als Subjekt der Skandalberichterstattung war.279 Jedoch zeigt sich ihr Akteursstatus bereits bei der Analyse der in den Medien verwendeten Fotografien. D ­ aher vertrete ich die These, dass es Evelyn Nesbit war, der es gelang, durch den Rückgriff auf ihr bekannte Medialisierungsstrategien die Logiken der Skandalberichterstattung zu bedienen. Dadurch beeinflusste sie nicht nur ihr eigenes Fremdbild, sondern half mit, das stark unter Druck stehende unwritten law-Narrativ ihres Ehemannes zu stützen. Martha Umphrey spricht Nesbit ab, ihre öffentlichen Auftritte vor und während des Prozesses selbst inszeniert zu haben; sie seien stattdessen von ihren Anwälten choreographiert worden.280 Doch ein genauerer Blick auf Nesbit zeigt, dass sie sich der Bedeutung ihrer medialen Sichtbarkeit für die Verteidigungsstrategie und das Fremdbild ihres Mannes bewusst war. Dies verdeutlicht ein von ihr 1914 geschilderter Zwischenfall mit ihrer Schwiegermutter, Mary Copley Thaw, aus dem Sommer 1906, nachdem sie in der Öffentlichkeit mit einem Verkehrspolizisten gesprochen hatte: »Evelyn,« she said reproachfully, »how can you speak with these people? Don’t you realise the social position you hold?« I was very angry for I had no illusion as to the social status of the Thaws. »Mrs. Thaw,« I said, »you have got to realise that the social position your son now holds is associated with the Tombs Prison. He is on trial for his life, and anything you can do or that I can do to sway public opinion in his favour [!] has to be done. With reporters watching our every movement [!] and on the hunt for ›copy,‹ what kind of a story do you imagine it would make, if I turned up my nose at men whose social position is, at the moment, infinitely superior to Harry’s?«281 Beim Verfassen ihrer Autobiographie war Nesbits Ehe mit Harry Thaw und ihre Beziehung zu seiner Familie bereits seit mehreren Jahren zerrüttet,282 weshalb angenommen werden darf, dass sie diese Passage aus einer explizit gegen Mary Thaw

280 281 282

World, 24.7.1906, S. 4; zur Mutterschaft: Mrs. Thaw to Become a Mother in Short Time, Buffalo Times, 2.7.1906. Nesbit: Story, S. 113. Siehe Anm. 187 auf S. 171 und Anm. 280 auf dieser Seite; ein differenzierteres Bild zeichnet Cardyn: Nesbit. Vgl. Umphrey: Dementia Americana, S. 197. Nesbit: Story, S. 114-5. Siehe Kap. III.2.1.

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gerichteten Perspektive schrieb. Entsprechend ist deren Unwissenheit über die Wirkung medialer Sichtbarkeit mit Vorsicht zu betrachten, ebenso wie die Distanziertheit gegenüber der arbeitstätigen Bevölkerung. Vor allem Letzteres war im Diskurs der Progressive Era ein schwerer Vorwurf und muss hier mehr als negatives Stereotyp denn verbürgte Einstellung bewertet werden.283 Dennoch ist diese Schilderung interessant, da Evelyn Nesbit ihre eigene Motivation vor dem Hintergrund des Gesprächs mit dem Polizisten erklärt: Sie müsse versuchen, jedwede Aufmerksamkeit zu nutzen, um mit ihrem Verhalten die öffentliche Meinung für sich und Harry Thaw zu beeinflussen. In diesem Fall bedeutete das, sich mit einem Vertreter der Staatsmacht zu unterhalten, um dem Vorwurf der sozialen Abgrenzung zu entgehen. Denn der soziale Status und das Vermögen der Thaws schien sich zu einem öffentlichen und juristischen Nachteil für die Verteidigung zu entwickeln.284 Während die Presse Nesbit teils als Objekt, teils als Auslöser der Geschehnisse darstellte,285 übte sie wie bereits gesehen unbeobachtet von der Öffentlichkeit einen starken Einfluss auf Harry Thaw und die Verteidigung aus.286 Dies verknüpfte sie mit ihrer medialen Agenda, mit der sie versuchte, das unwritten law-Narrativ von Thaw zu verifizieren und damit zu stabilisieren. Nach wiederholten Vorwürfen gegen Thaw und Gerüchten über ihre zerrüttete Ehe intensivierte Nesbit ihre Pressestrategie. Sie gab der New York American-Kolumnistin Viola A. Rodgers ihr erstes Interview seit Herbst 1904. Das Interview fand in der Kanzlei von Thaws Anwälten statt und war sorgsam vorbereitet. Womöglich war es geskriptet, eine Praxis, die sich unter Broadway-Agenten seit der Jahrhundertwende als canned interview durchzusetzten begonnen hatte und derer sich eventuell auch Thaws Anwälte bedienten.287 Die begleitende Fotografie, wiewohl nachretuschiert, übernahm Nesbits Selbstbild: In einer wohlsituierten Umgebung lehnt sie in schlichtem Outfit in einer – für eine Upper Class-Dame viel zu legeren, aber aus der Berichterstattung von ihr bekannten – Pose elegant und selbstbewusst, in einem Sessel, während ihre Interviewerin mit einer explizit neutral-professionellen Haltung neben ihr sitzt (Abb. 22). Die Emotionslosigkeit in Nesbits Gesicht wurde durch die drei begleitenden Zeichnungen aufgehoben, deren Sentimentalität bereits vor der Lektüre des Interviews in Richtung des Opfernarratives verwies. Dabei griff die Bild-Text-Relation des Arti283 Vgl. Kevin Phillips: Die amerikanische Geldaristokratie. Eine politische Geschichte des Reichtums in den USA (= Frankfurter Beiträge zu Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 9), Frankfurt a. M./New York 2003, S. 82-5. 284 Charles Somerville: Thaw’s Millions Likely to Be a Handicap in Battle for Life, New York Evening Journal, 4.7.1906, S. 3. 285 Vgl. Not Mrs. Thaw’s First Taste of Notoriety, Evening Telegram, 28.6.1906, S. 2; Evelyn Nesbit in New Statement Changes Ground, Evening World, 20.7.1906, S. 1. 286 Auch in ihren Autobiographien thematisierten weder Thaw noch Nesbit ihre Rollen in der Medien- und Verteidigungsstrategie. 287 Vgl. Glenn: Female Spectacle, S. 35-6. evelyn nesbits mediale ambivalenz

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Abb. 22: Evelyn Nesbits erstes Interview nach dem Mord auf der Frontseite des New York American, 23.7.1906.

kels bereits auf der Inhaltsebene voraus: Nesbits ambiguitäre Haltung und Aussehen, das zwischen Modell und unschuldiger Gattin schwankte, stand im Spannungsverhältnis zum Titel des Interviews, in dem sie ihre fehlende Erziehung beklagt. Sich im privaten Rahmen nahbar zu machen, war das Ziel des Interviews. Nesbit nutzte dabei geschickt die bekannten Vorbehalte der Oberschicht gegen dieses Format für sich:288 So stellte sie es als Überwindung dar, sich interviewen zu lassen, und es war explizit eine Reporterin, der sie sich anvertraute.289 Das bestätigte wechselseitig Rollenvorstellungen: Nesbit schien im Interview viktorianische Gendernormen über Ehegattinnen zu bekräftigen, während die Kolumnistin mit ihrer Perspektive, Wortwahl und Themensetzung eine dezidiert professionelle Form des Journalismus zu erfüllen schien.290 Dabei verschmolzen Skandal- und High Society-Berichterstat-

288 Vgl. Ruchatz: Individualität, S. 56-63. 289 »[She] permitted herself to be interviewed«, Viola A. Rodgers: Mrs. Harry Thaw Gives to The American Her First Interview Since Husband’s Arrest for Killing White, New York American, 25.7.1906, S. 1. 290 Dagegen galt investigativer Journalismus aufgrund von Geschlechtervorstellungen als problematisches Betätigungsfeld, vgl. Fahs: Assignment, S. 41-4.

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tung, indem Viola Rodgers das Porträt einer wertekonformen, von der Presse missinterpretierten Kindfrau ohne mütterlichen Beistand in ihrer Jugend zeichnete. Die grundsätzliche Frage »Is the child-woman responsible?«291 beantwortete Viola Rodgers mit Blick auf Nesbits private Details, Äußerlichkeit und der Beziehung zu ihrem Ehemann. Zuerst lieferte das Interview Einblicke in ihre Verhaltensweisen und persönliche Informationen. Erstens lüftete sie die Ursache ihres neuen, schlichten Kleidungsstils: Ihre alten »pretty clothes«292 seien nach der Zäsur des Mordes nicht mehr angebracht. Zweitens berichtete Rogers über Nesbits Modelltätigkeit. Die Frage nach ihrer Lieblingsfotografie aus dieser Zeit galt noch einmal ihrem Ruf als moralisch ambivalente Akteurin am Broadway. Sie selbst habe keine, betonte aber, dass Harry Thaw die Hermelin-Serie am besten gefalle (Abb. 19, re.). Damit rückte sie geschickt den Fokus weg von ihren erotisierenden Aufnahmen hin zu ihrer Selbstdarstellung als Upper Class-Dame. In diesem Zuge trat auch sie entschieden dem Vorwurf entgegentrat, die mediale Aufmerksamkeit zu genießen. Vielmehr hasse sie es, »to appear conspicuous at such a time«. Gerne würde sie dem »curious mob« entfliehen, insbesondere da es sich dabei um Personen handle, »who don’t know me, but who look at me from idle curiosity«.293 In Bezug auf ihre äußere Erscheinung führte Viola Rogers die Theorie der Spiegelung von Charakter und Äußerlichkeit an: I was gazing straight into the soft, appealing brown eyes of a mere girl. She looked timid – hopelessly unsophisticated – young, so very, very young. This is the woman I have heard so many stories of; this is the girl who has been termed adventurous; has been called scheming; had been given every epithet that stood for the un-innocent [sic], wily, premediating woman of the world  – the woman of studios, of the midnight hours of Broadway. […] I felt that I should be ashamed to write what I saw; it was so different from the preconceived notions.[!]294 Rogers negierte damit die – auch selbst geteilten – Bilder von Evelyn Nesbit als Chorus Girl und New Woman und charakterisierte sie stattdessen als genau die unschuldige, agendalose und unbewusst erotische Kindfrau, die zu Nesbits Opferrolle im Melodram des Mordes passte. Dass Rogers zudem auf Nesbits fehlende Mutterfigur abhob, lies ihren teilweise scheinbar fehlenden moralischen Kompass umso verzeihlicher erscheinen. Schließlich ermöglichten Fragen zur Beziehung mit Harry Thaw es Evelyn Nesbit, sich sowohl in das unwritten law-Narrativ einzuschreiben als auch ihr Selbstbild als 291 Viola A. Rodgers: Mrs. Harry Thaw Gives to The American Her First Interview Since Husband’s Arrest for Killing White, New York American, 25.7.1906, S. 1. 292 Ebd. 293 Alle drei Zitate aus ebd. 294 Ebd. evelyn nesbits mediale ambivalenz

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werteorientierte Ehefrau zu betonen. Sie beteuerte ihre gegenseitige Liebe, ihren Zusammenhalt und ihre Zuversicht auf einen Freispurch. Dazu gab sie Einblicke in ihre sexuelle Privatheit, als sie Gerüchte über ihre Beziehung zu Stanford White indirekt bestätigte: Sie habe bislang »none but my lawyers the real story of my life« erzählt und werde sie einzig vor Gericht wiederholen. »And then only for just one reason. You know that reason. I love Harry. Love makes anything possible with a woman, doesn’t it?«295 Mit ihrer Referenz auf das viktorianische Eheideal der Liebesheirat, das vor allem in der Mittel- und Oberschicht verbreitet war und das Rodgers mit dem Kommentar »[Harry Thaw] had gone out of his class to marry the girl he loved« unterstrich, konstruierte sie sich und Thaw zu tragischen Idealtypen einer klassenüberschreitenden Liebesbeziehung.296 Deshalb sei sie bereit, sich mit ihrer Aussage für Thaw zu opfern und ihre gesellschaftliche Diskreditierung in Kauf zu nehmen, was wiederum Thaws These des Ehrenmordes plausibilisierte. Viola Rodgers abschließendes Urteil fiel eindeutig aus: I felt for the first time [!] a genuine sympathy for her. However one judges her, the girl has a quality at once appealing, ingenuous, and so youthful that it is irresistible – a beauty more harmful, a charm more subtle than can be described. It is the beauty of fresh, sweet youth, outwardly unsullied, but with a realization of its own charm that made her the victim [!] and not the victor. This made the Thaw tragedy possible; it gave ›incentive‹ for a tragedy.297 Durch den persönlichen Kontakt und die Einblicke in Nesbits Privatheit hatte sich Rodgers Bild der Interviewten zum Positiven gewandelt. Mit dieser medialen Selbstinszenierung lieferte Evelyn Nesbit der yellow press die Vorlage, um ihre melodramatische Deutung des Mordfalls weiter zu verfolgen. Mitte August 1906 ließ das mediale Interesse am Skandal nach, da sich abzeichnete, dass es zu keiner schnellen Gerichtsverhandlung kommen sollte.298 Da die Thaws in Kombination mit der Sensationspresse die melodramatische Interpretation erfolgreich im Diskurs über den Mord verankert hatten, suchte Nesbit vorerst keine weitere mediale Aufmerksamkeit. Bis zum Prozessbeginn Ende Januar 1907 aktua­ lisierte sie nur mehr in unregelmäßigen Abständen ihre mediale Sichtbarkeit, indem sie vereinzelt Einblicke in ihre Beziehung zu Thaw und ihre Alltagsabläufe gab.299 295 Beide Zitate aus ebd. 296 Vgl. Celello: Making Marriage, S. 17-8. 297 Viola A. Rodgers: Mrs. Harry Thaw Gives to The American Her First Interview Since Husband’s Arrest for Killing White, New York American, 25.7.1906, S. 1. 298 Vgl. No Chance of Thaw’s Trial For Month Yet, Evening World, 5.11.1906, S. 11. 299 Vgl. New Photo of Mrs. Thaw, Who Talks to The World, New York World, 21.10.1906; Evelyn Nesbit Training for Her Great Ordeal, New York Evening Journal, 22.12.1906, S. 3; Evelyn Thaw and the Teddy Bear, a Christmas Present from Her Husband, New York Evening Journal, 29.12.1906.

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Es hat sich gezeigt, dass es Evelyn Nesbit gelang, den Interpretationen der Presse ihr Selbstbild entgegenzustellen. Diese Entwicklung war nicht vorgezeichnet: Die Bildakte ihrer Fotografien vermittelten eine starke, suggestive Erotik, die auf Gendervorstellungen basierten und auf die sich die Berichterstattung über Nesbit als selbstverschuldete junge Frau oder gar Mittäterin stützte. Doch gelang es ihr, in Kombination mit der Agenda der yellow press dieser Deutung eine eigene Interpretation entgegenzustellen. Dazu nutzte sie explizit die Möglichkeiten der High Society-Berichterstattung, indem sie ihre Privatsphäre inszenierte, womit sie eine scheinbar authentische Gegenerzählung im medialen Diskurs etablierte.

1.4. Selbstjustiz als (populärkulturelles) Erlebnis: Die Intermedialität des Nesbit-Thaw-White-Skandals Nicht allein die Presse beschäftigte sich mit dem Nesbit-Thaw-White-Skandal. Innerhalb des halben Jahres zwischen Mord und Strafverfahren verarbeitete ein plurimediales Ensemble das Ereignis. Dabei gehe ich davon aus, dass dessen Rezeption in der Populärkultur300 einerseits einen wichtigen Beitrag zur Durchsetzung der melodramatischen Deutung leistete, andererseits durch die Intermedialität neu definiert wurde, welche Formen der Sichtbarkeit High Society-Zugehörigkeit bedeuteten. Durch diese populärkulturellen Erzeugnisse wurde der Skandal auf eine neue Ebene medialer Sichtbarkeit überführt und die High Society-Mitglieder erlangten eine neue soziale Bedeutung, indem sie medial verwertet und konsumiert werden konnten.

»The Thaw-White Tragedy«: Authentisches Miterleben in Bewegtbildern Bereits am Tag nach dem Mord begann die American Mutoscope & Biograph Company aus New York mit den Dreharbeiten zu »The Thaw-White Tragedy«, einem gut halbminütigen actuality.301 Dabei handelte es sich um die zwischen 1904 und 1906 florierende Frühform der Nachrichtensendung, die aktuelle Schlagzeilen verfilm300 Mit dem Kulturwissenschaftler Kaspar Maase sollen unter Populärkultur die Medien verstanden werden, die unabhängig von Genre oder Materialität massenhaft – räumlich, finanziell und niedrigschwellig – konsumiert werden können und einfach verständlich sind, vgl. ders.: Unscharfe Begriffe, Unterscheidungen und Familienähnlichkeiten. Zur kulturwissenschaftlichen Theoretisierung des Populären, in: Ines Keller/Fabian Jacobs (Hg.): Das Reine und das Vermischte – 15 Jahre danach. Festschrift für Elka Tschernokoshewa (= Hybride Welten, 8), Münster/New York 2015, S. 99-111, hier S. 106. 301 »The Thaw-White Tragedy«, USA 1906, P/R: American Mutoscope & Biograph Co., 00:35 Min., LoC, Paper Film Collection, FLA 4041. Die Erstaufführung fand am 27.6.1906 statt. selbstjustiz als (populärkulturelles) erlebnis

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te.302 Der Kurzfilm lief in der Folgewoche in Filmarcaden, in vaudevilles, den amerikanischen Varietés, sowie in ausgewählten nickelodeons, den ersten Filmtheatern (Szene 1).303 Im Kurzfilm wird der dokumentarische Anspruch des neuen Mediums Film deutlich, dessen separaten Genre, die Dokumentation und das Nachrichtenformat sich erst noch herausbilden sollten.304 Bis auf einen Mord ist im Film nichts selbsterklärend. Erst die parallele Zeitungsberichterstattung über den Mordskandal lieferte das notwendige Hintergrundwissen und bestimmte zugleich Szene 1 maßgeblich den Bildaufbau:305 So hatten die drei Protagonist*innen große Ähnlichkeit mit den realen Personen, und das Filmset verwies mit den Palmen auf den Madison Square Roof Garden. Welch große Bedeutung die American Mutoscope dem transmedialen Wissenstransfer zumaß, wird an den Details ersichtlich, die der Regisseur aus der Presse übernommen hatte: Wie berichtet, trägt auch der Thaw-Darsteller einen auffälligen Wintermantel und feuert genau drei Schüsse ab. Letzteres wird besonders deutlich, da sich der dritte Schuss erst nicht löst und völlig verzögert vom Schauspieler abgegeben wird – einzig, um dem realistischen Anspruch der Szene zu genügen.306 Das in dieser Szene steckende »subversive, weil unkontrollierbare Potenzial«307 verdeutlicht das Dokumentarische des Kurzfilms: Dokumentationen geben nicht das Vergangene wieder, sondern sind »zeitgenössische Verfahren der Wirklichkeits­ konstruktion«,308 die dem Publikum präsentiert werden.309 Das Genre der actualities

302 Vgl. Charles Musser: Before the Nickelodeon. Edwin S. Porter and the Edison Manufacturing Company, Berkeley 1991, S. 282-4. 303 Zur Entstehung der ersten Kinos zwischen 1905 und 1907 vgl. ders.: The Emergence of Cinema. The American Screen to 1907 (= History of the American Cinema, 1), Berkeley et al. 1994, S. 417-48. 304 Vgl. Fielding: American Newsreel, S. 3-4, 33-42. 305 Vgl. Andreas Wagenknecht: Filminterne Beglaubigungen und Kontextualisierungen von ReEnactments im dokumentarischen Fernsehen, in: Harro Segeberg (Hg.): Referenzen. Zur Theorie und Geschichte des Realen in den Medien (= Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaft, 16), Marburg 2009, S. 198-210, hier S. 199-205. Auf diesen Zusammenhang zwischen Populärkultur und Presse verweist Martin Conboy: The Press and Popular Culture, London/Thousand Oaks 2001, S. 6-9. 306 Die explizite Gewaltdarstellung war typisch für frühe Kriminalfilme und trug zum Authentizitätsanspruch des Films bei, vgl. Drew Todd: The History of Crime Films, in: Nicole Hahn Rafter (Hg.): Shots in the Mirror. Crime Films and Society, 2. Aufl., New York 2006, S. 21-60, hier S. 23. 307 Szöllösi-Janze: Film, S. 21-2. 308 Hornung: Blick, S. 14. 309 Vgl. Manfred Hattendorf: Dokumentarfilm und Authentizität. Ästhetik und Pragmatik einer Gattung, Zugl.: München, Univ., Diss., 1993 (=  CLOSE UP, 4), Konstanz 1994, S. 67-68, 71, Abb. 4.

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definierte sich über diesen »claim on truth«310 und schuf damit eine affirmative Erwartungshaltung unter den Zuschauer*innen.311 Auch das eigentlich irritierende Desinteresse der Anwesenden wird nur durch das Wissen um entsprechende Augenzeugenberichte plausibel. Erst mit einiger Verzögerung war eine Panik ausgebrochen, da die meisten Gäste dachten, die Schüsse seien Teil des Theaterstücks. Indem die American Mutoscope diese printmedialen Paratexte berücksichtigte und damit die Strukturmerkmale des actuality befolgte, lieferte sie den Zuschauer*innen »filminterne pragmatische Markierungen«, die in ihrer Summe »spezifische Authentizitätsversprechen eines dokumentarischen Films«312 einlösten.313 Den Realitätsanspruch und die Plausibilität des Kurzfilms unterstützte parallel die Totale der Kameraeinstellung, welche dem Filmpublikum den Überblick auf das Gesamtgeschehen ermöglichte.314 Wenngleich die New Yorker High Society erst in den 1920er Jahren zum regelmäßigen Gegenstand der Nachrichtensendungen, den newsreels, wurde,315 begann die Filmindustrie bereits mit Beginn der nickelodeon-Ära zwischen 1905 und 1912, (Gesellschafts-)Ereignisse öffentlicher Personen zu verfilmen.316 Das Nachstellen sensationeller Ereignisse, ob society-Event oder Naturkatastrophe, entwickelte sich zur bewährten Methode, um den ökonomischen Erfolg zu garantieren. So erschien etwa 1909 eine mutmaßlich echte Dokumentation über Theodore Roosevelts Afrika-­ Safari, in der ein Double auf Löwenjagd ging.317 Ähnlich zeigte »The Thaw-White Tragedy«, was medial bekannt, jedoch nicht sichtbar gewesen war: den Mord an Stanford White. Im Gegensatz zu den Presseberichten beinhaltete das actuality über den Mord keine moralische Wertung, sondern schien ein objektives Bild wiederzugeben. Daher erregte der Film weder Resonanz in der Debatte über die Tat noch in der parallel aufkeimenden Diskussion über die moralischen Folgen von Kinobesuchen.318 Dennoch bildete er, wie Bewegtbilder per se, eine Reflexionsfläche der damaligen Gesell-

310 Brian Winston: Claiming the Real. The Griersonian Documentary and Its Legitimations, London 1995, S. 104. 311 Vgl. ebd., S. 104-5. 312 Hattendorf: Dokumentarfilm, S. 311. 313 Vgl. ebd; Nicholas Pronay. The Newsreels: The Illusion of Actuality, in: Paul Smith (Hg.): The Historian and Film, Cambridge 1976, S. 95-120, hier S. 95-6. 314 Vgl. Nils Borstnar/Eckhard Pabst/Hans Jürgen Wulff: Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft, 2., überarb. Aufl., Konstanz 2008, S. 106. 315 Vgl. Hornung: Welt, S. 42. 316 Vgl. Fielding: American Newsreel, S. 36-8. 317 Vgl. ebd., S. 37-8, 41-2; Nicolai Hannig: Kalkulierte Gefahren. Naturkatastrophen und Vorsorge seit 1800, Göttingen 2019, S. 244-6; Kevin Brownlow: The War, the West, and the Wilderness, New York 1979, S. 405-6. 318 Ausführliche Recherchen in Tageszeitungen und einschlägigen Filmmagazinen lieferten keine Ergebnisse. selbstjustiz als (populärkulturelles) erlebnis

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schaft.319 Deren Mitglieder waren an der Visualisierung des Ereignisses und seinen Details interessiert und nutzten das neue Medium, um einen scheinbar authentischen Blick auf die Akteur*innen und das Ereignis zu bekommen.

»A Millionaire’s Revenge«: Audiovisuelle Einblicke in High Society-Leben Zeigte das actuality bereits den Wissenstransfer zwischen Medien, nahm dieser in der literarisch-künstlerischen Verarbeitung eine nochmals stärkere Bedeutung ein. Dabei stellen sich die Fragen, welches Medienensemble den Skandal thematisierte und was es dazu aus der Presse übernahm. Wie machte dies die Skandalisierten im Besonderen und die Vorstellung von High Society im Allgemeinen sichtbar? Beschränkte sich das actuality noch auf den Mord, änderte sich das drei Monate später: In der letzten Septemberwoche 1906 wurde der Fall tatsächlich zum Melodram, als in Brooklyn das Theaterstück »A Millionaire’s Revenge« anlief. Plakate, auf denen die von Nesbit beschriebenen Feste von Whites Freundeskreis mit jungen Frauen abgebildet waren, warben dezidiert mit dem Bezug des Bühnenstücks auf den Nesbit-Thaw-White-Skandal: Es sei »[a] play true to life founded on the New York Madison Square Garden tragedy«320 (Abb. 23). Entsprechend offensichtlich waren die Namensbezüge der drei Hauptdarsteller*innen: Emeline Hudspeth, Harold Daw und Stanford Black  – insbesondere Whites Namensänderung war programmatisch.321 Das zweieinhalbstündige Stück übernahm die bekannten Stationen des Beziehungsdramas und überzeichnete sie mit melodramatischen und emotionalen Details. Rezensent*innen etwa im Boston Globe betonten diese genaue und schonungslose Übernahme: »The author has followed the story as it appeared in the newspapers very closely. […] [A]ny one who sees the show cannot fail to notice the great similarity of persons and events«.322 Am Beginn des Stücks stehen einige anzügliche Szenen mit Black, die lose auf den Erzählungen um Stanford Whites angebliche Perversionen basieren. Das in der Folgeszene gezeigte Eheglück von Emeline Hudspeth und Harold Daw versucht dieser mehrmals zu zerstören. Als Daw erfährt, dass Black nicht nur seiner Frau nachstellte, sondern andere Frauen sexuell ruiniert habe, kulminiert das Theaterstück: Daw erkennt in einer Vision, dass er eigenmächtig dessen Taten sühnen müsse.323 Der letzte Akt schließt kurz vor Beginn der Mordverhandlung. Von seiner Unschuld 319 Vgl. James Chapman: Film and History, Basingstoke 2013, S. 91-4. 320 Le Meurtre de Madison Square Theatre, in: o. Z., [Herbst 1906], PStb. 321 Vgl. The Harry Thaw Tragedy on the Stage, American Journal-Examiner, o. D., S. 16. So auch Grieveson: Thaw-White Scandal, S. 35. 322 Drama and Music. A Millionaire’s Revenge, Boston Globe, 16.10.1906, S. 6. 323 Vgl. The Harry Thaw Tragedy on the Stage, American Journal-Examiner, o. D., S. 16; Scenes in Play Founded on the Thaw-White Tragedy, New York Evening Journal, 22.9.1906.

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Abb. 23: Fotografie von Werbeplakaten für das Theaterstück »A Millionaire’s Revenge« in New York, abgedruckt in einem französischen Journal [1906].

überzeugt, versichert Daw: »No jury on earth will send me to the [electric] chair, no matter what I have done or what I have been, for killing the man who defamed my wife […] It is the unwritten law made by men themselves. And upon this virtue I will rely and stake my life.«324 So favorisierte das Melodram nicht nur überdeutlich Harry Thaws Interpretation der Akteur*innen und Ereignisse. Auch das unwritten law taucht, einem Mantra gleich, als gesellschaftliche und sakral überhöhte Norm im ganzen Stück auf,325 das zugleich in einem latenten Spannungsfeld mit städtischer Moderne wie dem elektrischen Stuhl als Tötungsart stand.326 Dieser Legitimationsversuch schürte öffentliche Vermutungen, dass die Thaws das Theaterstück finanziert hätten.327 Konkrete Belege

324 Das Zitat entstammt dem weitgehend inhaltsgleichen Groschenroman Olive Harper [Helen Burrell Gibson D’Apery]: A Millionaire’s Revenge. A Novel: Founded on Hal Reid’s Great Play of New York Life (= Play Book Series, 92), New York 1906, S. 186, siehe auch Anm. 337. 325 Vgl. ebd., passim. 326 Vgl. Jürgen Martschukat: Geschichte der Todesstrafe in Nordamerika. Von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart, München 2002, S. 86-93. 327 Die Chicago Tribune bezweifelte, dass der Autor des Stücks, Hal Reid, eine solche Auftragsarbeit nötig gehabt hätte, vgl. o. T., Chicago Tribune, 14.10.1906. selbstjustiz als (populärkulturelles) erlebnis

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für eine PR-Aktion fehlen zwar,328 doch scheint eine Medienoffensive der Thaws nicht gänzlich abwegig. So gibt es die Indizien gegenseitiger Sympathie und Kooperation, da der Autor des Stücks, James Halleck »Hal« Reid (1863-1920), später mit Harry Thaw zusammenarbeitete.329 Die Thaws erkannten also vermutlich, dass die Deutungshoheit über den Prozess nicht allein vor Gericht oder in der Presse, sondern auch auf Ebene der Massenkultur ausgetragen wurde. Unabhängig von der Finanzierungsfrage schien zeitgenössischen Kritikern der Fall eindeutig: Dramaturgisch sei das Stück ein »theatrical joke«,330 sei es doch so offensichtlich mit dem »purpose of making public sympathy for Thaw« verfasst worden.331 Im Gegensatz zur Presse erreichte diese undifferenzierte, übersteigerte Ehrenmorderzählung im Theater auch Analphabet*innen und Immigrant*innen, die kein mediales Korrektiv besaßen.332 Dennoch – oder gerade deshalb – war das Theaterstück vergleichsweise erfolgreich und lief nicht nur in verschiedenen New Yorker Theatern, sondern auch in Boston, Pittsburgh und weiteren Städten entlang der Ostküste.333 Dies kann als aktiver Rezeptionsprozess von Öffentlichkeiten verstanden werden, die durch ihren gezielten Medienkonsum entschieden, welche populärkulturellen (Unterhaltungs-)Angebote angenommen wurden und sich durchsetzten.334 Obwohl es etwa von dem Komitee der Frauenclubs aus Brooklyn Widerstand gegen die Aufführung gab,335 reagierten die Zuschauer*innen – im Gegensatz zu den Theaterkritiker*innen  – durchweg positiv auf das Melodrama, was sich an ihrem »thunder of applause«336 an den verschiedenen Spielorten zeigte. Dies lässt zwei Rückschlüsse zu: Erstens schienen die städtischen Publika mit ihrem Applaus die melodramatische Begründung der Tat als Ehrenmord affirmativ zu bestätigen. Zweitens verfing das Melodram mutmaßlich über die miterlebbaren Einblicke in sonst unübliche Lebensbereiche der bekannten Akteur*innen aus den Tageszeitun328 Dies äußerte erstmals Langford: Murder, S. 50, jedoch ohne Belege. Vgl. die ausführliche Rekonstruktion bei Grieveson: Policing Cinema, S. 246, Anm. 69. 329 Siehe Kap. III.1.2. 330 O. T., Chicago Tribune, 14.10.1906. 331 New York World, 20.9.1906, S. 7, zit. in Grieveson: Thaw-White Scandal, S. 35. Ähnlich auch in The Harry Thaw Tragedy on the Stage, American Journal-Examiner, o. D., S. 16. 332 Vgl. Robert W. Snyder: Big Time, Small Time, All Around the Town: New York Vaudeville in the Early Twentieth Century, in: Butsch: Transformation, S. 118-35, hier S. 120-1. 333 In New York im Amphion und Blaney’s Theatre (beide Brooklyn, NY), ›A Millionaire’s Revenge‹ at Blaney’s Theatre, Daily Standard Union, 25.9.1906. Ferner z. B. im Grand Opera House (Boston, MA), Drama and Music. A Millionaire’s Revenge, Boston Globe, 16.10.1906, S. 6, im Bijou Theatre (Pittsburgh, PA), Theaters, Topeka State Journal, 29.9.1906, S. 17 oder im Lyceum Theatre (Wilmington, DE), Lyceum Theatre, Evening Journal, 12.11.1906, S. 8. 334 Vgl. Jens Ruchatz: Der Ort des Populären, in: Gereon Blaseio/Hedwig Pompe/Jens Ruchatz (Hg.): Popularisierung und Popularität (= Mediologie, 13), Köln 2005, S. 139-45, hier S. 141. 335 Vgl. Check on Thaw Play, New York Times, 12.2.1907, S. 2. 336 ›A Millionaire’s Revenge‹ at Blaney’s Theatre, Daily Standard Union, 25.9.1906. So z. B. auch in Boston, vgl. Drama and Music. A Millionaire’s Revenge, Boston Globe, 16.10.1906, S. 6.

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gen, wie ihre Laster oder emotionale Beziehungskonflikte. Das erweiterte die Möglichkeit, sie über die Bild- und Textebene hinaus konsumieren zu können.

Der Skandal im Groschenroman Die mediale Rezeption ging über das Theater hinaus, da das Stück als günstiger Groschenroman unter gleichnamigem Titel erschien.337 Dieser dime novel reihte sich in eine Reihe ähnlicher Veröffentlichungen über den Skandal ein, die noch vor oder während des Mordprozesses im Januar 1907 auf den Markt kamen. Dime novels als billige und leicht lesbare Hefte waren Ende des 19. Jahrhunderts zur standardisierten Massenware geworden.338 Sie hatten den Anspruch, Lebenswirklichkeiten mit einem dokumentarischen Realismus wiederzugeben. Seit den 1870er Jahren nutzten sie dafür zunehmend tagesaktuelle Sensationen als Vorlage. Im Zentrum stand, »[life] as it is«339 abzubilden,340 womit auch die Publikationen über den NesbitThaw-White-Skandal in ihren Titeln warben.341 Zudem gab es seit den 1880er Jahren in den USA einen großen Markt für Kriminal- und Detektivromane, in den der Skandal mit seinem städtischen Setting, der Doppelmoral der Oberschicht und der Mischung aus Gewalt, Sexualität und Verbrechen passte.342 Diese Themenfelder gaben das breite Interesse der Öffentlichkeiten an gesellschaftlichen Grenzbereichen wieder, die sich teils in den Romanfiguren selbst spiegelten, wie etwa bei Dr. Jekyll und Mr. Hyde oder eben den Variationen von Stanford White.343 Helen Burrell Gibson D’Apery, die Autorin des Groschenromans, orientierte sich eng an Hal Reids Theaterstück, das als Leitmedium fungierte.344 Auch »The Arm of 337 Harper [D’Apery]: Millionaire’s Revenge. Die Autorin war darauf spezialisiert, erfolgreiche Theaterstücke in Romane abzuwandeln, vgl. die Liste ihrer Erscheinungen in ebd., Backcover. 338 Ellen M. Litwicki: »The Influence of Commerce, Technology, and Race on Popular Culture in the Gilded Age«, in: Calhoun: Gilded Age, S. 187-209, hier S. 197. 339 Franz-Josef Söndgerath: Wandlungen der amerikanischen »dime novels«, Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 1981 (= Studien zur englischen und amerikanischen Literatur, 4), Frankfurt a. M. 1985, S. 43. 340 Vgl. ebd., S. 42-4, 66-7. 341 Die Geschichte sei »the Most Talked Of Sensation of the Day« und eine »Stirring Story of New York Life«, Harper [D’Apery]: Millionaire’s Revenge, Frontcover. Ebenso der Untertitel von Asa Arp: Arm of the Unwritten Law: A Novel Founded on the Latest Sensation in New York’s Gilded Set, Baltimore 1907. Wahrscheinlich gab es noch weitere literarische Bearbeitungen, da mindestens ein weiterer, verschollener dime novel den Skandal thematisierte: John Regan: The Sensation of the Age: From Poverty to Affluence. The Wonderful Case of Evelyn Nesbit Thaw and Harry K. Thaw, Chicago 1906. 342 Vgl. Pamela Bedore: Dime Novels and the Roots of American Detective Fiction, Basingstoke 2013, S. 5; Söndgerath: Wandlungen, S. 103-4, 123. 343 Vgl. Friedman: Big Trial, S. 126-32. 344 Siehe Anm. 323 auf S. 196. Diese Textübernahmen waren gängige Praxis, vgl. Söndgerath: Wandlungen, S. 183. selbstjustiz als (populärkulturelles) erlebnis

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the Unwritten Law« von Asa Arp folgt dessen Grundstruktur, legt aber mit stärker fiktionalen Passagen den Fokus auf die Gefahren der Vergnügungsgesellschaft und Dekadenz der Oberschicht.345 So wird ausführlich ein Prostitutionsring um Sangford Blight/Stanford White beschrieben, in dem sich Estelle Yvette/Evelyn Nesbit verfängt.346 Den Mord von Harry Thor/Harry Thaw begründet Arp mit einer Verbindung aus göttlichem und Naturrecht – »for the UNWRITTEN LAW is the LAW of God, the HIGHEST LAW of ALL« 347 – und endet wie D’Apery mit der Zuversicht eines Freispruchs. Methode und Wirkung der dime novels beschreibt der Kulturwissenschaftler Michael Denning wie folgt: »These crime stories inform, titillate, moralize and entertain; but as they do so they also form the heart of an ideological conflict over the meaning of the crime, and over different conceptions of justice.«348 Diese Bandbreite lösten die Autor*innen ein und machten die High Society-Mitglieder zu konsumierbaren Protagonist*innen ihrer fiction. Dabei blieb einerseits bewusst in der Schwebe, ob diese fiktionalen Einblicke wirklich bislang private Verhaltensweisen zeigten oder ob an ihnen eher exemplarisch tabuisierte Themenbereiche wie Prostitution oder sexuelle Gewalt verhandelt wurden.349 Andererseits übernahmen die Autor*innen das Narrativ der Sensationspresse und der Thaws, indem sie für die Legitimität des Ehrenmordes als alternatives Rechtsverständnis eintraten. Offensichtlich war, dass diese Deutung für verschiedene soziale Gruppen als anschlussfähig galt und sich daher zwischen verschiedenen Medienformaten verbreitete. Die Zielgruppe dieser Belletristik waren Arbeiter*innen und Migrant*innen,350 doch erreichte sie, ebenso wie die yellow press, breite Publika. Denn »[m]odern war die neue Massenkultur gerade darin, dass sie keine Klassenkultur darstellt[e].«351 Während Auflage und Wirkung der Romane nicht mehr rekonstruierbar sind,352 345 Mit dem Fokus auf die Fallen Woman und ihre Körperlichkeit lässt sich der Groschenroman stärker dem viktorianischen sensational novel zuordnen, vgl. Jessica Cox: Victorian Sensation Fiction, Oxford 2019, S. 65-6, 82, 86-7. 346 Vgl. Arp: Arm, S. 20-35, 51-72. 347 Vgl. ebd., S. 94, 104, 107, Zitat: S. 107. 348 Michael Denning: Mechanic Accents. Dime Novels and Working-Class Culture in America, 2., aktual. Aufl., London 1998, S. 118. 349 Die Vergewaltigung war im Theater thematisierbar, da der Täter bestraft wurde, vgl. Timothy Daniel Budke: Assessing the »Offense of Public Decency«: The Advent of Censoring Particular Dramas on the New York Stage, 1890-1905. unveröff. Diss., University of Missouri 1989, S. 49. 350 Vgl. Shelley Streeby: American Sensations. Class, Empire, and the Production of Popular Culture (= American Crossroads, 9), Berkeley 2002, S. 28-9; Söndgerath: Wandlungen, S. 27-46. 351 Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2007, S. 22. Hinzu kam die Reichweite der Groschenromane, mit im Schnitt fünf bis zehn Leser*innen pro Heft, vgl. ebd., S. 21. 352 Vgl. zu dieser Problematik historischer Rezeptionsforschung Philipp Müller: MedienAneignung, in: SOWI 4 (2005), S. 4-13, hier S. 6; zur Irrelevanz quantitativer Verbreitungsfragen in Bezug auf Populärkultur vgl. Maase: Unscharfe Begriffe, S. 102.

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zeugen sie dennoch von einer gewandelten Wahrnehmung der High Society: Der Skandal und seine Mitglieder wurden als Produkt begriffen, deren Vermarktung sich lohnte. Ausgehend von diesem Ökonomisierungsgedanken und dem niedrigschwelligen Zugang zu diesen populären Medien darf von einer gesteigerten Sichtbarkeit und Nähe zu High Society-Mitgliedern ausgegangen werden. Die Skandaladaptionen verdeutlichen, wie stark die Intermedialität, also der Transfer medialer Bilder zwischen verschiedenen Medienformaten,353 zwischen Presseberichterstattung, Theater und Buchmarkt war. Beginnend bei den beiden Romanen von D’Apery und Arp, versuchten diese, das Fiktive ihrer Erzählungen durch den Rückgriff auf die Medienberichterstattung über die High Society-Mitglieder authentisch erscheinen zu lassen: einerseits, indem sie eine Vielzahl zeithistorischer Anspielungen als Authentizitätsmarker streuten, Leser*innen abholten und den Roman als realistisches Zeugnis aktueller Geschehnisse verorteten. So etwa bei Hudspeth/ Nesbit: Ihre Vergangenheit »seemed to be tigers lying in wait for her«,354 was Assoziationen mit ihren weitverbreiteten »Beauty and Beast«-Postkarten geweckt haben dürfte.355 Andererseits übernahmen die Autor*innen bekannte Elemente aus der High Society- und Skandalberichterstattung: Ersteres, indem sie die Medialisierung der Akteur*innen durch die Presse, ihre Verhaltensweisen und Räume – Einrichtung und Kleidung, das Café Martin oder Treffen mit White – einbauten; Letzteres, wenn sie Familienkonflikte der Thaws, Gerüchte über Evelyn Nesbits Vergewaltigung oder Whites Doppelleben thematisierten.356 Die teils widersprüchliche Medienberichterstattung über den Skandal erschien in den Groschenromanen als kohärente Erzählung.357 Dadurch wurde die melodramatische Konstruktion der Protagonist*innen schlüssig und das Ehrenmordnarrativ plausibel. Während die Romane die High Society-Berichterstattung nutzten und literarisch überformten, unterlag sie einem intermedialen Wandel bei ihrem Transfer auf die Bühne: Bild und Text wurden zu Handlung und Sprache, die von den Publika miterlebt werden konnten.358 Dies zeigt das Beispiel der Familienbesuche der Thaws in den Tombs: Die Sensationspresse und die Groschenromane bereiteten sie in Text353 Vgl. Belting: Bild-Anthropologie, S. 214. 354 Harper [D’Apery]: Millionaire’s Revenge, S. 85. 355 Vgl. Abb. 8. 356 Vgl. Arp: Arm, S. 173 (Medialisierung), 20-35, 52, 65-9 (Doppelmoral), 57-9, 65-7, 101 (Räume), 73-5, 77, 80 (Familie Thaw), 47-50 (Vergewaltigung); Harper [D’Apery]: Millionaire’s Revenge, S. 85, 104 (Medialisierung), 110-2 (Räume), 14-36, 84, 90-3, 104-6 (Doppelmoral), 70-3, 77-8, 173-6 (Familie Thaw), 48-50, 99-100, 142 (Vergewaltigung). 357 Zu dieser Form der melodramatischen Erzählstruktur vgl. Tom Gunning: Horror of Opacity: The Melodrama of Sensation in the Plays of Andre de Lorde, in: Jacky Bratton/Jim Cook/ Christine Gledhill (Hg.): Melodrama. Stage, Picture, Screen, London 1994, S. 50-61. 358 Aus diskursanalytischer Perspektive vgl. Conboy: Press, S. 7-9. selbstjustiz als (populärkulturelles) erlebnis

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und Bildform als human interest stories auf, was das Bühnenstück zur audiovisuellen Erfahrung unwandelte. Ende 1906 nahm die American Mutoscope & Biograph Co. diese Episode auf, um mit »In the Tombs« ein weiteres actuality zu produzieren.359 In dem 45-sekündigen Film erhält Harry Thaw erst von seiner Mutter, dann von seiner Frau Besuch. Seine offensichtlich stark besorgte Mutter wird von Evelyn Nesbit abgelöst, die ihrem Gatten durch die Gitterstäbe in die Arme fällt. Thaw besticht den Wärter, ihm die Zelle zu öffnen, woraufhin er und Nesbit sich küssend im Zellgang umschlingen.360 Die so ins Bewegtbild überführte Darstellung der Thaw’schen Beziehungen glich dabei der des Theaterstücks. Die Zeitungen druckten in Theaterkritiken wiederum Bilder dieses intermedialen Transferprodukts ab und bestätigten damit die ursprünglich von ihnen selbst geschaffene Realität des Falls (Abb. 24). Eine genaue Bestimmung der medialen Wechselwirkungen wird zwar von der Forschung immer wieder gefordert,361 kann aber häufig quellenbedingt nicht eingelöst werden. Vorliegender Fall bietet am Beispiel der skandalösen Ménage-à-trois die Möglichkeit zu analysieren, wie intermediale Rezeptionen und Aushandlungsprozesse auf die Skandalnarrative zurückwirkten. Wo Wechselbeziehungen nachvollzogen werden konnten, zeigte sich, dass Produzenten das in der Presse aufgebaute Melodram als so plausibel und resonanzfähig werteten, dass sie es wiederholt unterschiedlichen Publika präsentierten, die dieses positiv aufnahmen. Das wirkte wiederum auf die Berichterstattung zurück und stabilisierte so in einem selbstreferenziellen Prozess das melodramatische Narrativ von Thaws Ehrenmord. Die Phase der Vorverurteilung zeigte, wie schnell es zur thematischen und inhalt­ lichen Ausdehnung der Berichterstattung kam, indem die Medien aus dem Mordfall einen Skandal erzeugten und sich, angeregt durch die Fallhöhe der Beteiligten, gegenseitig überboten. Die Ursache lag einerseits am Fall selbst, der es ermöglichte, gesellschaftliche Konflikte um Normen wie Sexualität, weibliche Rollenbilder und Verhaltensweisen sowie das Recht auf Selbstjustiz zu verhandeln. Andererseits profitierte vor allem die Sensationspresse vom High Society-Status der Akteur*innen. Deren öffentlich bereits bekannte Verhaltensweisen und Intimitäten erlaubten es ihnen, die Berichterstattung auch in bislang tabuisierte Themenbereiche auszudehnen – das Skandalöse wurde mutatis mutandis zum Bestandteil einer sich ausdifferenzierenden High Society-Berichterstattung. Die gesteigerte Sichtbarkeit verlieh Evelyn Nesbit und Harry Thaw neue mediale Handlungsmöglichkeiten, doch gelang es ihnen nicht gleichermaßen, diese zu nutzen. Thaws Selbstbild scheiterte maßgeblich an der medialen Aufmerksamkeit für sein Sexualverhalten, der Delegitimierung durch seine Familienkonflikte, aber auch durch seine beschränkte Handlungsmacht 359 »In the Tombs«, USA 1906, P/R: American Mutoscope & Biograph Co., 00:45 Min., LoC, Paper Film Collection, FLA 3609. 360 Vgl. ebd. 361 Vgl. Bösch/Vowinckel: Mediengeschichte, S. 379-80; oder jüngst für Bildmedien Paul: Bild, S. 57.

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Abb. 24: Das Beispiel familialer Zusammentreffen der Thaws in den Tombs zeigt die Intermedialität des Skandals, indem das Bild der Presseberichterstattung (li., Jul. 1906) im »The Thaw-White Tragedy«-Theaterstück (re., Sept. 1906) übernommen wurde.

im Gefängnis. Dagegen nutzte Nesbit die Ambiguität ihrer Fotografien, um mögliche Rückschlüsse auf ihre Rolle im Mordfall geschickt weg von ihrer Mitschuld hin auf ihren Opferstatus zu lenken. Dabei zeigte Nesbit, dass sie Medialisierungsstrategien entwickeln konnte und Logiken der Sichtbarmachung verstand, mit denen sie auch auf die öffentliche Wahrnehmung ihres Ehemanns positiv einwirken konnte. Dass sich letztlich in der Phase der Vorverurteilung die Interpretation des Ehrenmordes stabilisierte, war ferner der plurimedialen Verarbeitung des Mordes in der Populärkultur zu verdanken. Sie ermöglichte eine über die Berichterstattung hinausgehende (fiktive) Annäherung an die Akteur*innen und stütze mit ihren Erzählungen die melodramatische Deutung der Ereignisse.

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2. »The most spectacular criminal case«

Sensationsprozess und High Society (1907)

Als Benjamin Atwell im Herbst 1907 seine 300-seitige Darstellung über den ersten Thaw-Prozess in den Druck gab, war er sich sicher: Der Prozess sei »the most sensational trial of the twentieth century«.1 Diese zeitgenössische Wahrnehmung bewahrheitete sich insofern, als bis in die 1920er Jahre kein Prozess mehr diesen Titel für sich reklamieren konnte.2 Die Trias aus Medialisierung, Verhandlung und Rezeption des Gerichtsverfahrens veränderte Evelyn Nesbits und Harry Thaws Zugehörigkeit zur High Society: Beide profitierten kurz-, mittel- und langfristig von dieser medialen Sichtbarkeit, indem sie ihr dabei akkumuliertes Aufmerksamkeitskapital in andere, so noch nicht medialisierte Felder transferieren konnten. So verhandelte der Sensationsprozess nicht nur gesellschaftliche Konfliktthemen wie die Vergnügungsgesellschaft oder Traumata wie sexuelle Übergriffe, sondern prägte deren gesellschaftliche Deutung und damit verbundene gesellschaftliche Teilbereiche.3 Der Prozess begann am 21. Januar 1907 und endete nach fast drei Monaten am 12. April ohne Ergebnis, da die Jury kein einstimmiges Urteil fällen konnte. Nach der Auswahl der Jury eröffnete Assistant District Attorney Francis P. Garvan am 4.  Februar 1907 die Plädoyers und brauchte für seine Darstellung des Falls nur zwei Stunden. In einer knappen, präzisen Eröffnung beschrieb er Harry Thaws Tat als »cruel, deliberate, malicious, premediated taking of a human life«4 und klagte ihn des vorsätzlichen Mordes (murder in the first degree) an. Nacheinander bestätigten neun Zeugen seine Schilderung des Tathergangs und identifizierten Thaw als Stanford Whites Mörder.5 Garvans Rekonstruktion des Tathergangs war unumstritten, jedoch divergierte die Deutung, wie das anschließende Eröffnungsplädoyer der Verteidigung zeigte. Kern 1 Benjamin H. Atwell: The Great Harry Thaw Case or A Woman’s Sacrifice, Chicago 1907, S. 77. 2 Dies galt erst wieder für den Hill-Mills-Case (1926), vgl. Tribukait: Sensationen, S. 61; vgl. ferner Edward J. Larson: Law and Society in the Courtroom: Introducing the Trials of the Century, in: UMKC Law Review 68:4 (2000), S. 543-8, hier S. 544. 3 Vgl. Shoshana Felman: The Juridical Unconscious. Trials and Traumas in the Twentieth Century, Cambridge/London 2002, S. 62-3. 4 Prozessprotokoll (1907), S. 8, UC, Container 15-16. Garvans Eröffnungsplädoyer wurde aufgrund seiner vorbildlichen Präzision noch zwei Jahrzehnte später verlegt, vgl. Francis P. Garvan: Opening Address for the People in the Thaw Murder Trial. Criminal Branch, New York Supreme Court, New York, February 4, 1907, in: Frederick Charles Hicks (Hg.): Famous American Jury Speeches: Addresses Before Juries and Fact-Finding Tribunals, St. Paul 1925, S. 488-91, Zitat: S. 491. 5 Vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 9-67, UC, Container 15-16.

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ihrer Argumentation war, dass Thaw unter einer ererbten und stressbedingten »disease of the brain«6 gelitten habe, die sich in den vergangenen drei Jahren, bedingt durch Whites Verhalten, zur Wahnvorstellung gesteigert hätte.7 Thaw habe daher »under the influence of his insanity«8 die Waffe abgefeuert, weswegen er schuldunfähig sei.9 Obwohl Thaws vortragender Verteidiger, John B. Gleason, entschieden dem Eindruck entgegen trat, »that this defendant or his counsel claims the protection of any other or higher law than the laws of the State of New York«,10 ebnete er mit seiner Argumentation den Weg für die von der (Medien-)Öffentlichkeit erwarteten unwritten law-Verteidigung. Sie bildete die Synthese aus den beiden im Eröffnungsplädoyer angeführten Elementen aus Thaws geistiger Unzurechnungsfähigkeit und seiner Überzeugung, Whites Ehrverletzung »[as] an act of Providence«11 gesühnt zu haben.12 Das Herzstück der Verteidigung bildete somit die Frage nach Thaws geistiger Verfassung zum Tatzeitpunkt, wofür die Aussage seiner Ehefrau Evelyn Nesbit zentral wurde. Sie wechselte im Vergleich zum Sommer 1906 ihre Strategie, indem sie nun ebenfalls auf die insanity defense einschwenkte. Sie behauptete, Harry Thaw drei Jahre vor dem Mord die Geschichte ihrer Vergewaltigung durch Stanford White erzählt zu haben, was ihn in eine geistige Zerrüttung gestürzt habe und er somit zum Tatzeitpunkt schuldunfähig gewesen sei.13 Zwar gelang es dem Staatsanwalt William T. Jerome im darauffolgenden Kreuzverhör, Zweifel an Nesbits Darstellung zu wecken und zu zeigen, dass sie wohl nicht jenes unschuldige Opfer von White gewesen war, als das sie sich ausgab.14 Dennoch konnte er ihre Erzählung selbst nicht angreifen, womit die Behauptung über Thaws Geisteskrankheit weiterhin bestehen blieb. Den juristisch notwendigen Nachweis dieses Zustands sollten letztlich psychiatrische Gutachter liefern. Die von der Staatsanwaltschaft berufenen Experten opponierten dagegen und befanden Thaw stattdessen für voll schuldfähig.15 Jerome war im Laufe der Gutachteranhörung jedoch selbst zur Überzeugung gekommen, dass Thaw geisteskrank war. Daher forderte er eine richterliche Untersuchungskommission, die nach dreitätiger Befragung Thaws Gesundheit zum Verhandlungszeitpunkt

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Ebd., S. 71. Vgl. ebd., S. 81-5, 88. Ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. 88. Ebd., S. 68. Ebd., S. 71. Vgl. ebd., S. 104. Dies war ein übliches Muster der unwritten law-Verteidigung, vgl. Robert M. Ireland: Insanity and the Unwritten Law, in: The American Journal of Legal History 32:2 (1988), S. 157-72, hier S. 157 und Anm. 81. 13 Vgl. Evelyn Thaw Tells Her Story, New York Times, 8.2.1907, S. 1-4. 14 Vgl. Evelyn Nesbit Thaw Breaks Down And Wheps Under Fire From Jerome, Evening World, 21.2.1907, S. 1. 15 Vgl. Evelyn Nesbit Can’t Testify Against Abe Hummel, But Delmas Flays Him, Evening World, 15.3.1907, S. 1-2.

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feststellte.16 Damit endete die Beweisaufnahme, doch konnte sich die Jury nach den Abschlussplädoyers und 47-stündiger Beratung zu keinem Urteil durchringen.17 Aus narratologischer Perspektive hat Martha Umphrey den Prozess bereits eingehend analysiert, worin sie die verfahrensimmanenten Anklage- und Verteidigungsnarrative untersucht, in die sich Thaw und Nesbit einschrieben. Hierbei blendet sie den Einfluss der medialen Sichtbarkeit der Akteur*innen für die Medialisierung des Falls und seiner gerichtlichen Logiken weitgehend aus.18 Einen Schritt weiter geht Jean Marie Lutes, die aus kulturgeschichtlicher Perspektive die Bedeutung von Journalistinnen für das Verfahren herausarbeitet. Sie stellt deren maßgebliche Rolle bei der Durchsetzung des melodramatischen Narrativs der Verteidigung dar, das sie explizit durch ihre »bodily reciprocity«19 mit Evelyn Nesbit erzeugen konnten. Lutes bezeichnet es als spezifisch weiblichen Blick auf Nesbit, den die Reporterinnen glaubhaft vermitteln konnten, und sich damit die Deutungshoheit über das Verfahren sicherten.20 Die vorliegende Analyse möchte darüber hinausgehen und argumentieren, dass es sich hierbei um eine aus der High Society-Berichterstattung stammende Logik handelt, die den Kolumnistinnen diese Selbstzuschreibung von Interpretationsmacht ermöglichte.

2.1. Eine neue Dimension des medialen Sensationsprozesses Es stellt sich die Frage, wie sich die mediale Sichtbarkeit der High Society-Mitglieder auf den Mordprozess auswirkte. Um Verfahren in Medienereignisse zu verwandeln, müssen sie eine besondere soziale Relevanz haben.21 Lawrence M. Friedberg postuliert, dass Sensationsprozesse »a natural outgrowth of a celebrity society«22 seien. Doch zeichnete sich meines Erachtens dieser Determinismus in der Entstehungsphase der High Society nicht zwangsläufig ab, sondern wurde vielmehr durch den Thaw-Prozess erst angestoßen. Erst durch ihn wurde das mediale Potenzial von Skandalprozessen für die High Society deutlich: Sie bedeuteten für die Presse nicht nur, mehr Zeitungen zu verkaufen als üblich, sondern Skandalprozesse – und speziell Strafverfahren – ermöglichten es, gesamtgesellschaftliche Themen an den darin involvierten High Soci16 Vgl. Jerome Rages as Thaw is Declared Mentally Sound, Evening World, 5.4.1907, S. 1-2. 17 Vgl. Thaw Jury Disagrees 7 Vote to the End for Death, Evening World, 12.4.1907, S. 1-2. 18 Vgl. Umphrey: Dementia Americana, Kap. 4 »Melodrama«. 19 Lutes: Front Page Girls, S. 80. 20 Vgl. ebd., S. 80-3. 21 Dazu gibt es verschiedene Typologien zu Sensationsprozessen, vgl. Richard Logan Fox/Robert W. van Sickel/Thomas L. Steiger: Tabloid Justice. Criminal Justice in an Age of Media Frenzy, 2.  Aufl., Boulder 2007, S. 27-8. 22 Lawrence M. Friedman: Front Page: Notes on the Nature and Significance of Headline Trials, in: Saint Louis University Law Journal 55:4 (2011), S. 1243-84, hier S. 1276.

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Abb. 25: Schaubild der Rezeptionstiefe des Thaw-Prozesses.

ety-Mitgliedern verhandeln zu können. Dabei ließen sich bisherige Modi und Themen der Berichterstattung über sie intensivieren, da sie ebenso wie die Prozesse auf dem »public-private nexus«23 basierten. Dies hatte sich während der Vorverurteilungsphase bereits abgezeichnet und sollte sich im eigentlichen Verfahren nochmals steigern. Abb. 25 Dabei gehe ich von der These aus, dass es die Beibehaltung spezifischer Charakteristika der High Society-Berichterstattung war, die dazu beitrug, die Verhandlung des Verbrechens zu dem dreimonatigen Medienereignis zu machen, das den »standard of spectacularity«24 für alle folgenden medialen Sensationsprozesse des 20. Jahrhunderts setzte.25 Bereits vor Prozessbeginn war es das Wissen um die High Society-Mitglieder, das die Erwartungshaltung der Öffentlichkeiten schürte. Wo für gewöhnlich die Familie das zentrale Sozialgefüge war, das als Intermedium zwischen privater und öffent­ licher Meinung die Medienrezeption bestimmte,26 griff die Aufmerksamkeit für den Thaw-Prozess auf alle städtischen Lebensbereiche über. Diese Rezeptionstiefe visu23 Vgl. Joy Wiltenburg: True Crime: The Origins of Modern Sensationalism, in: The American Historical Review 109:5 (2004), S. 1377-404, hier S. 1380. 24 Umphrey: Dementia Americana, S. 2. 25 In der Regel wurde in jeder Dekade ein Jahrhundertprozess postuliert, vgl. Mark J. Phillips/ Aryn Z. Phillips: Trials of the Century. A Decade-by-Decade Look at Ten of America’s Most Sensational Crimes, Amherst 2016. 26 Vgl. Andreas Ziemann: Soziologie der Medien, 2., überarb. und erw. Aufl., Berlin 2012, S. 87. eine neue dimension des medialen sensationsprozesses

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alisierte die New York World in einem humoristischen Schaubild bereits am Tag des Prozessbeginns (Abb. 25). Der Cartoon zeigt einen Querschnitt des städtischen Alltags in privaten und öffentlichen Räumen, in denen der Prozess, seine Streitfragen und seine Protagonist*innen schicht- und genderübergreifend debattiert werden.27 Die Sprechblasen zeigen, dass das Interesse gleichermaßen dem Privat­leben der Thaws und der Schuldfrage galt. Das in diesen Themen liegende Konfliktpotenzial, wie es sich etwa in den abgebildeten Tischgesprächen zeigt, verdeutlicht, wie stark die prozessualen Moral- und Wertedebatten nicht nur intermedialer Diskurs blieben, sondern Teil der eigensinnigen Rezeption klassenübergreifender Öffentlichkeiten wurden.28 Deren Aufmerksamkeit richte sich dabei explizit auf die High SocietyMitglieder sowie deren Beziehungsdetails und damit genau auf die Themen, die bereits vor dem Skandal ihre mediale Sichtbarkeit und Lifestyle geprägt hatten.29 Somit waren es Aspekte der Gesellschaftsberichterstattung, die für Leser*innen die Berichte über das Verfahren interessant machten und auf diesem Wege High Society zur zentralen Bestimmungsgröße im Prozess werden ließen.

Medialisierte Gerichtsverfahren als gesellschaftliches Spektakel Die rechts- und mediengeschichtliche Forschung beschäftigt sich seit dem cultural turn wieder intensiver mit der Gerichtsberichterstattung im Allgemeinen und Sensationsprozessen im Besonderen.30 Dabei ist besonders die Bedeutung von Skandalprozessen für die gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskurse hervorzuheben: Einerseits dienten sie den Medien der didaktischen Wertevermittlung, andererseits den Leser*innen zur Selbstverortung und moralisch-normativen Orientierung im fluiden urbanen Raum, in welchem das vereinzelte Individuum zunehmend mit ­einer unüberschaubar Gesellschaft konfrontiert schien.31 Dabei ist sowohl die High Society- als auch die Skandalberichterstattung an die Über­legungen des Philoso27 Zwar ist der Cartoon mediales Produkt, doch dient er als Genre »as revealing reflectors of ­popular attitudes, tastes, and mores«, M. Thomas Inge: »Comic Strips«, in: Inge/Hall: Guide, S. 307-39, hier S. 307. 28 Vgl. Siemens: Metropole, S. 40-1; Müller: MedienAneignung, S. 6. 29 Vgl. Frank Irving Cobb: A Phase of the Thaw Case, Evening World, 22.1.1907, S. 14. 30 Vgl. für den angloamerikanischen Kontext Robert A. Ferguson: The Trial in American Life, Chicago et al. 2008; Fox et al.: Tabloid; Ray Surette: Media, Crime, and Criminal Justice. Images, Realities, and Policies, 4. Aufl., Belmont 2011. 31 Vgl. Johannes Stehr: Kriminalität als moralische Lektion, in: Michael Walter/Harald Kania/ Hans-Jörg Albrecht (Hg.): Alltagsvorstellungen von Kriminalität. Individuelle und gesellschaftliche Bedeutung der Kriminalitätsbilder für die Lebensgestaltung (= Kölner Schriften zur Kriminologie und Kriminalpolitik, 5), Münster et al. 2004, S. 377-92, hier S. 377-8. Der Soziologe Rolf Lindner bringt das mit dem trefflichen Bild der »Symbiose von Großstadt und Presse« auf den Punkt, ders.: Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage, Neuaufl., Frankfurt a. M. 2007, S. 17.

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phen Guy Debord in seiner »Gesellschaft des Spektakels« anschlussfähig, die dieser in Abgrenzung zu Foucaults »Überwachen und Strafen« ausarbeitete. In Anschluss an Debort macht Jonathan Crary in seiner kulturtheoretischen Arbeit zum Thema Aufmerksamkeit deutlich, dass Aufmerksamkeit für ein Spektakel32 als Substitut für die Vereinzelung des Menschen in der modernen Gesellschaft dient, indem es die Annäherung an die Protagonist*innen des Ereignisses ermögliche. Entsprechend kann das Medienspektakel den Mord und den Einblick in private Informationen über die High Society als Ersatz von oder Ergänzung zu Sozialkontakten verstanden werden. Da die Teilnahme an Spektakeln wiederum trennend wirken kann, da es die*den Einzelne*n als Zuschauer*in isoliert, kompensierte die High Society-Berichterstattung dies teilweise, da sie Nähe und Detailwissen suggerierte und damit der Isolation entgegenwirkte.33 Gerichtsverfahren als Theater und Agon Im Zentrum des Spektakels stand das Gerichtsverfahren, das als Ritual und Transformationsphase begriffen werden kann. Während Letzteres für Angeklagte in den neuen Rollen der Verurteilten oder Freigesprochenen mündet,34 manifestiert der ritualisierte Ablauf durch die immer gleichen Teilschritte die Vorstellung von Recht und ermöglicht dabei, das gesellschaftliche Selbstverständnis zu verhandeln.35 In der räumlichen und zeitlichen begrenzten Verhandlung, den geregelten Rollen der Prozessbeteiligten und durch die Anwesenheit der Zuschauer*innen kann ein Prozess als theatralische performance verstanden werden.36 Diese Theatralität hat dabei nach der Medientheoretikerin Cornelia Vismann massive Auswirkungen auf die innergerichtlichen Abläufe und die öffentlich-mediale Rezeption.37 Denn neben der 32 Der Begriff des Spektakels soll hierbei auf die Inszenierungsweise der Aufführung abzielen, indem mit performativen, (multi-)medialen oder emotionalen Darbietungen ein bestimmtes Wissen geschaffen wird, um die Rezipient*innen zu beeinflussen, vgl. Simon Frisch/Elisabeth Fritz/Rita Rieger: Perspektiven auf das Spektakel, in: Simon Frisch/Elisabeth Fritz/Rita Rieger (Hg.): Spektakel als ästhetische Kategorie. Theorien und Praktiken (= inter/media, 5), Paderborn 2018, S. 9-32, hier S. 12-4. 33 Vgl. Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt a. M. 2002, S. 64-6. 34 Vgl. Fischer-Lichte: Performativität, S. 117. 35 Vgl. Annemone Christians: Das Private vor Gericht. Verhandlungen des Eigenen in der nationalsozialistischen Rechtspraxis (=  Das Private im Nationalsozialismus, 2), Göttingen 2020, S. 90, 94-96. 36 Vgl. Christoph Wulf: Ritual und Recht. Performatives Handeln und mimetisches Wissen, in: Ludger Schwarte (Hg.): Körper und Recht. Anthropologische Dimensionen der Rechtsphilosophie, München 2003, S. 29-46, hier S. 31; David Ray Papke: Law in American Culture, in: The Journal of American Culture 15:1 (1992), S. 3-14, hier S. 9; Wulf: Ritual, S. 31-3. 37 Der Vergleich von Theater und Gericht verleitet häufig dazu, die persönlichen und psychischen Folgen eines Strafverfahrens auf die Angeklagten aus den Augen zu verlieren, was hier vermieeine neue dimension des medialen sensationsprozesses https://doi.org/10.5771/9783835348974

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ritualisierten Aufführung von Recht sind juristische Verhandlungen Wettstreite um Deutungshoheit.38 Deshalb werden auf der Bühne des Gerichts die Straftat, ihr Hergang und Kontext erneut aufgeführt, wobei konfrontativ um die Interpretation gerungen wird.39 Als letzte Determinante begleiten anwesende Medienvertreter*innen diesen Prozess, indem sie »mal agonale, mal theatrale Elemente betonen«40 und damit eigene Deutungen des Falls schaffen.41 Zugleich kommt ihnen dabei eine Vermittlerfunktion zu, indem sie das theatralische Spektakel vor Gericht ebenso wie die juristischen Fachdiskurse ihrer Leserschaft vermitteln.42 Daran schließt sich die Frage nach der Bedeutung der medialen Sichtbarkeit der High Society für das Justizsystem selbst an. Die agonalen und theatralischen Elemente des Gerichtsverfahrens sind in einen performativen Ablauf aus ritualisierten Handlungen eingebunden, der sicherstellen soll, dass rechtliche Normen umgesetzt werden.43 Entsprechende Bedeutung kommt dem Funktionieren der juristischen Inszenierung im Gericht zu, die sich bei Thaws Prozessen 1907/8 besonders deutlich zeigte. Denn bereits vor dem ersten Verfahren hatten nicht nur die Presse, sondern auch Bürger*innen in Leserbriefen angemahnt, dass der Reichtum der Familie Thaw den Prozess beeinflussen oder gar mitentscheiden könnte.44 Entsprechend hing die gesellschaftliche Gewissheit von einer gerechten Justiz vom Gelingen des juristischen Rituals ab. Öffentlichkeiten Als Mittlerinstanz für gerichtliche Narrative spielte die Presse die zentrale Rolle, die zudem juristische oder medizinische Spezialdiskurse übersetzte und in den Alltagsdiskurs überführte.45 Dabei neigten Zeitungen zu Überzeichnungen, Fehlinterpretationen und frühzeitlicher Parteilichkeit, die, gepaart mit wertenden Berichten über die Prozessbeteiligten, in starkem Widerspruch zum Anspruch eines rechtsstaatlichen Justizwesens standen.46 Dies kritisierte Arthur Cheney Train (1875-1945), Kriminalautor und zum damaligen Zeitpunkt Assistent des Staatsanwalts Jerome, mit Blick auf die Thaw-Prozesse: »The impression that public trials are the scenes of coarse buffoonery and brutality is due to the manner in which these trials are den werden soll, vgl. Pnina Lahav: Theater in the Courtroom: The Chicago Conspiracy Trial, in: Law and Literature 16:3 (2004), S. 381-474, hier S. 391-2. 38 Vgl. Vismann: Medien, S. 17-18, 81. 39 Vgl. ebd., S. 31-3. 40 Ebd., S. 17. 41 Vgl. Anthony G. Amsterdam/Jerome S. Bruner: Minding the Law, 2. Aufl., Cambridge 2002, S. 110. 42 Vgl. Siemens: Metropole, S. 24-6. 43 Vgl. Wulf: Ritual, S. 30-9. 44 Vgl. Jersey Justice and New York’s, Evening World, 15.2.1907, S. 14. 45 Vgl. Lindner: Entdeckung, S. 45-7; Siemens: Metropole, S. 24-25, 44; Friedman: Big Trial, S. 156-8. 46 Vgl. ebd., S. 140-1.

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e­ xploited by the sensational press.«47 Diese so geschaffene »eigene Medien­ wirklichkeit«48 prägte im Thaw-Prozess in erster Linie die Perspektive der Gesellschaftsberichterstattung. Sie ließ das Verbrechen selbst in den Hintergrund rücken und verband Einblicke in vergangene Lebenswirklichkeiten mit Erläuterungen über die Skandalakteur*innen.49 Zugleich beobachteten die Pressevertreter*innen mit ihrer Berichterstattung das Ritual der objektiven Rechtsfindung und schienen es dadurch zu legitimieren.50 Denn Gerichtsprozesse reihen sich in die Gruppe der von dem Ethnologen Milton Singer geprägten cultural performances ein und schaffen, ebenso wie Feste, Hochzeiten oder Bälle, ein Vergemeinschaftungsgefühl unter den Teilnehmenden.51 Den Thaw-Prozess in den Medien zu verfolgen, bedeutete folglich, an der Durchsetzung von Rechtsnormen teilzunehmen, was wiederum deren Gültigkeit und Akzeptanz sicherte.52 Diese Funktion war in modernen Gesellschaften umso wichtiger, als deren zunehmende Ausdifferenzierung Ende des 19. Jahrhunderts die Bedeutung der performances zunehmend verunklarte.53 Die Jury als Blackbox Bereits der erste Prozessschritt, die Juryauswahl, zeigte, wie stark gerichtliche und mediale Akteur*innen das Verfahren von Beginn an als mediales Ereignis wahrnahmen. Dessen Prozedere verdeutlichte zwei Dinge: Erstens, welche Wirkung die seit Juni 1906 laufende Berichterstattung über den Nesbit-Thaw-White-Skandal hatte. Es dauerte acht Verhandlungstage, bis beide Prozessparteien aus 330 Kandidaten zwölf ausgewählt hatten.54 Dabei wurde offensichtlich, dass sich der Großteil von ihnen bereits auf Basis der Berichterstattung ein Urteil gebildet hatte.55 Dies hob hervor, wie wichtig die mediale Inszenierung insbesondere von Evelyn Nesbit nach dem Mord dafür gewesen war, einen für Harry Thaw günstigen Grundtenor in der Öffentlichkeit und unter den potentiellen Jurykandidaten zu schaffen. Zweitens machte die Vereidigung der Jury deutlich, wie wirkmächtig diese Medialisierung von Zeitgenoss*innen wahrgenommen wurde. Denn der vorsitzende Richter James Fitzgerald beschloss, die Juro47 Arthur Cheney Train: Sensationalism and Jury Trials, in: Everybody’s Magazine 25 (1911), S. 337-40, hier S. 340. 48 Hickethier: Einführung, S. 34. 49 Vgl. Cobb: Exit, S. 198. 50 Vgl. Siemens: Metropole, S. 44. 51 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Performance, Inszenierung, Ritual. Zur Klärung kulturwissenschaftlicher Schlüsselbegriffe, in: Jürgen Martschukat/Steffen Patzold (Hg.): Geschichtswissenschaft und »performative turn«. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit (= Norm und Struktur, 19), Köln et al. 2003, S. 33-54, hier S. 38, 49. 52 Vgl. Wulf: Ritual, S. 30-1. 53 Vgl. Siemens: Metropole, S. 45. 54 Vgl. Thaw Jury Box is Filled at Last. Trial Will Begin Monday, Evening World, 1.2.1907. 55 Vgl. Not a Juror Secured in the Tiresome Morning Session, Evening World, 24.1.1907, S. 2; vgl. zu dieser Problematik Uwe Kischel: Rechtsvergleichung, München 2019, S. 363-4. eine neue dimension des medialen sensationsprozesses

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ren für die Dauer des Verfahrens in einem Hotel unter polizeilicher Aufsicht zu isolieren – eine für einen Mordfall beispiellose Maßnahme.56 Der Jury fiel als Entscheidungsinstanz die zentrale Rolle im Verfahren zu,57 sodass die Prozessparteien versuchten, ihre Meinung – und damit stellvertretend die der Öffentlichkeit – zu gewinnen.58 Das machte die Narrative der Juristen zu einem soziokulturellen Resonanzraum für Konflikte und Ängste der Gesellschaft.59 Obwohl die Juroren letztlich an geltendes Recht gebunden waren, trafen sie ihre Entscheidung im Geheimen, was sie zur »blackest of black boxes«60 machte. Dies erlaubt ihnen zugleich, das Strafrecht ihrer Meinung entsprechend zu flexibilisieren und sich in ihrem Urteil über bestehendes Recht hinwegzusetzen, wie einige der ThawJuroren im Nachhinein zugaben.61 Die Medialisierung der High Society im Mordprozess: Mechanismen und Akteur*innen Das nationale wie internationale Interesse an dem Prozess zeigte sich gut sichtbar vor und im Gerichtssaal.62 Über 100 Presseausweise waren für Journalist*innen und Illustratoren aus dem In- und Ausland ausgestellt worden.63 Die New Yorker Justiz hatte extra zum Zwecke der schnellen Nachrichtenvermittlung der Western Union Telegraph Company gestattet, eine Telegrafenstation in der Aula des Strafgerichtshofs zu installieren.64 Es bildete ein Symbol der Gleichzeitigkeit der (inter-)nationalen Berichterstattung durch die Entkoppelung von Raum und Zeit mittels moderner Kommunikationstechnik.65 Zugleich unterstrich es das internationale Interesse,

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Vgl. Close Guard on Jury, Washington Post, 26.1.1907, S. 12. Vgl. Friedman: American Law, S. 87. Vgl. ders.: Big Trial, S. 7. Vgl. Richard K. Sherwin: When Law Goes Pop. The Vanishing Line between Law and Popular Culture, Chicago 2000, S. 5. Friedman: Big Trial, S. 7. Vgl. Kischel: Rechtsvergleichung, S. 322-3; Friedman: American Law, S. 87-8; vgl. zur Erläuterung ihrer Entscheidung in der Thaw-Jury In the Jury Room by Juror No. 6, New York Times, 13.4.1907, S. 1-3. Vgl. Thaw Trial Begins; Defense Still Hidden, New York Times, 24.1.1907, S. 1. Vgl. J. H. C.: Our Murder Trial Industry, in: Saturday Evening Post (27.4.1907), S. 23. Darunter etwa der bekannte Londoner Journalist Charles E. Hands (London Daily Mail) oder der Pariser M. Paratoud (Le Matin). Für Nachrichtenagenturen berichtete etwa Roy W. Howard (ScrippsMcRae League Press Association), vgl. Samuel Williams: Reporting the Great Murder Trial, in: Pearson’s Magazine (Apr. 1907), S. 455-62, hier S. 458-9, 461. Vgl. ebd., S. 461. Vgl. Thompson: Media, S. 31-7. Diese Erfahrung kann in eine allgemeine »Beschleunigung der Geschichtserfahrung« westlicher Gesellschaften im ausgehenden 19. Jahrhundert eingeordnet werden, vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, 5. Aufl., München 2009, S. 1023-7, Zitat: S. 127.

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dessen es in der Wahrnehmung der Zeitgenoss*innen bedurfte, um einen Sensationsprozess zu erzeugen.66 Formen der Berichterstattung Die Intensität der Berichterstattung machte das Verfahren mit den Worten Daniel Siemens zum »Fortsetzungsroman mit Authentizitätsanspruch«.67 Doch gingen Presseberichte im Falle des Thaw-Prozesses über das Romanhafte hinaus: Die täglichen Zeitungsberichte schwankten von einer halben bis fünf Seiten und sprengten damit nicht nur bisherige Sensationsberichterstattungen, sondern sollten langfristig das journalistische Format der Gerichtsberichterstattung prägen.68 Dabei unterscheidet Martha Umphrey vier Typen journalistischer Beiträge, die sich im Laufe des Prozesses herausbildeten: Erstens die Reportagen, die von Zusammenfassungen bis zu seitenlangen Wortprotokollen reichten. Zweitens Expertenbeiträge, die juristische oder medizinische Fachdiskurse übersetzten und die Mittlerfunktion der Presse legitimierten. Kommentare bildeten den dritten Typ, in denen Herausgeber und Kolumnist*innen ihre Einschätzungen und Interpretationen lieferten. Viertens versuchten Zeitungen in dichten Beschreibungen, die Rhetorik, Gestik und Mimik der Akteur*innen im Gerichts nachvollziehbar zu machen, was journalistisch in allen zuvor genannten Formaten auftauchte.69 Das ermöglichte, sowohl das juristische Spektakel plastisch darzustellen als auch dessen zentrale Figuren lebendig zu machen. Meines Erachtens sind Umphreys Typen noch zwei weitere hinzuzufügen, die den Prozess maßgeblich prägen sollten: Erstens Überblicksdarstellungen, die wiederholt die singuläre Dimension des Verfahrens verdeutlichten; zweitens Visualisierung in Form von Illustrationen.70 Über ihre inhaltsreichen und multimedialen Artikel konnten die Zeitungen in Verbindung mit ihren Morgen-, Abend- und Extraausgaben eine regelrechte Live-Berichterstattung gewährleisten und den Leser*innen so66 Vgl. am Beispiel der Weimarer Republik Heidi Sack: Moderne Jugend vor Gericht. Sensationsprozesse, »Sexualtragödien« und die Krise der Jugend in der Weimarer Republik (= Histoire, 103), Bielefeld 2016, S. 155. 67 Siemens: Metropole, S. 298-9. 68 Irvin S. Cobb berichtete, allein er habe im Laufe des ersten Verfahrens Artikel im Umfang von über 500.000 Wörter verfasst, vgl. ders.: Stickfuls. Compositions of a Newspaper Minion, New York 1923, S. 274. 69 Vgl. Umphrey: Media Melodrama, S. 717. Vor allem die Protokolle wurden zum Kennzeichen der Gerichtsberichterstattung, wie es keine zehn Jahre später bereits in journalistische Handbücher angeführt wurde, vgl. etwa in Willard Grosvenor Bleyer: Types of News Writing, Boston 1916, S. 77. 70 Zu Illustrationen siehe Anm. 99 auf S. 217; vgl. zur Chronologie: Thaw Case Condensed, o. Z., [13.4.1907], in: Scrapbook »Thaw Trial Clippings«, SI, AAA, Aline and Eero Saarinen Papers (1906-1977), 2.3.4: Original Material, Bessie White Papers, Box 10, Folder 14; zu Überblicksdarstellungen: $313,686 Spent on the Trial by Thaw and State, Evening World, 12.4.1907, S. 2. eine neue dimension des medialen sensationsprozesses

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mit das Gefühl geben, selbst im Gerichtssaal zu sitzen.71 Anders als zuvor in den social news lieferte die Presse nun nicht mehr selektive Einblicke in das Privatleben der Prozessteilnehmer*innen, sondern steigerte sich vor allem bei Evelyn Nesbit und Harry Thaw zur durchgehenden Dokumentation ihres Lebens. Unterschieden sich diese journalistischen Formate aber in Abhängigkeit von der Ausrichtung der Tageszeitungen? Zwar betont die Forschung wiederholt die Unterschiede zwischen Sensationsblättern und Qualitätsmedien,72 so auch im Falle des Thaw-Prozesses.73 Doch zeigen jüngere Untersuchungen, dass Zeitungen aller Couleur sehr flexibel sensationellen Journalismus betrieben, weshalb die Dichotomie zwischen Unterhaltungs- und Informationsjournalismus nicht aufrechtzuerhalten ist.74 So nutzte auch die sogenannte Qualitätspresse emotionalisierende Reportagen, detaillierte Porträts und starke Meinungsartikel bezüglich der Frage nach Schuld oder Unschuld von Harry Thaw.75 Sie bediente damit die von der yellow press gesetzten feeling rules, die die melodramatische Berichterstattung prägten. Interessanterweise sah die zeitgenössische Rezeption diese Parallelität jedoch häufig nicht. Stattdessen wiesen die auflagenstarken Magazine wie etwa Collier’s Weekly, die aufgrund ihrer Erscheinungsrhythmen den Fall weniger dokumentierten als kommentierten, diese Art der Berichterstattung praktisch ausschließlich der Sensationspresse zu: »One of the most offensive scandals of the trial was the reek of nauseous sentimentality in which it was soaked by some of the yellow newspapers.«76 (Gerichts-)Reporter*innen Zwar gab es zur Jahrhundertwende auf Kriminalgeschichten spezialisierte Reporter*innen, wie etwa Jacob A. Riis (1849-1914), doch noch nicht das Genre der Gerichts­berichterstattung.77 Daher schickten die Zeitungen vor allem ihre bei der Leserschaft beliebten Jour­nalist*innen in die Gerichtssäle. Im Falle von Thaw und 71 Am Beispiel des Deutschen Kaiserreichs vgl. Peter Fritzsche: Talk of the Town: The Murder of Lucie Berlin and the Production of Local Knowledge, in: Peter Becker/Richard F. Wetzell (Hg.): Criminals and Their Scientists. The History of Criminology in International Perspective, Cambridge 2006, S. 377-98, hier S. 379; Siemens: Sensationsprozesse, S. 142; ausführlich Müller: Suche; zur entsprechenden Lesererfahrung ebd., S. 150-72. 72 Vgl. Schudson: Discovering, S. 89-91. 73 Vgl. Cardyn: Nesbit-Thaw-White Affair, S. 200. 74 Vgl. Randall S. Sumpter: Sensation and the Century: How Four New York Dailies Covered the End of the Nineteenth Century, in: American Journalism 18:3 (2001), S. 81-100, hier S. 83-6. 75 Vgl. Lutes: Sob Sisterhood, S. 506-7. Dieser Stil findet sich etwas auch in der New York Times, vgl. etwa Editorial. The Thaw Disagreement, New York Times, 13.4.1907, S. 10. 76 Hobbled Justice, in: Collier’s Weekly 39:5 (27.4.1907), S. 30, 32, hier S. 30. Eine Ausnahme hiervon fand sich v. a. im Kontext der Kritik an der detaillierten Wiedergabe von Nesbits Aussage, vgl. etwa Editorial. The Thaw Case, in: Outlook. A Family Paper (20.4.1907), S. 877-8, hier S. 878. 77 Vgl. Lindner: Entdeckung, S. 29-40; Siemens: Metropole, S. 101.

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Nesbit bedingte sich ihr High Society-Status mit den ihnen von der Presse zugeordneten Medienver­treter*innen. Unter diesen waren »highly-paid special writers of reputation«,78 die jeweils spezifische Perspektiven auf den Prozess und seine Akteur­ *innen liefern sollten.79 Obwohl die Zeitungslandschaft insgesamt ähnlich über den Fall berichtete, kam der Sensationspresse die zentrale Rolle zu, da sie – im Gegensatz zu den sogenannten Qualitätszeitungen – von einem Querschnitt der Bevölkerung konsumiert wurde.80 Trotz einiger renommierter Namen berichtete das Gros der Journalist*innen anonym;81 eine Praxis, die sich jedoch im Laufe des Prozesses teilweise ändern sollte: Indem sie ihre eigene Berichterstattung reflektierten, sich gegenseitig porträtierten und kritisierten, konnten sich einige Reporter*innen medial sichtbar machen und ihre Artikel mit ihrem Namen versehen.82 Denn in dem verdichteten Medienereignis wurde deutlich, dass Zeitungen, wenn sie über die Charaktere, Privatleben oder Probleme der High Society-Angehörigen überzeugend berichten wollten, auch deren Nähe zu ihren Journalist*innen vermitteln mussten – mit ihrer namentlichen Nennung wurden auch diese für Leser*innen zu wiederkehrenden Personen. Das reihte sich zwar in die parallele Professionalisierung des Journalistenberufs ein, doch scheint es in diesem Fall die explizite Reaktion auf den High Society-Status der Prozessakteur*innen gewesen zu sein.83 Da High Society-Mitglieder im Zentrum des Verfahrens standen, war es nur logisch, dass Reporterinnen aus den Ressorts der society pages zu dessen Dokumentation beordert wurden.84 Ihre Anwesenheit im Gerichtssaal wurde aufgrund ihres Geschlechts selbst zum Nachrichtenwert und trug zum Spektakel des Prozesses 78 C.: Murder Trial Industry. 79 So berichtete etwa der Investigativreporter Samuel Hopkins Adams für die New York World und die Romancier Laura Jean Libbey sollte das Ereignis für das New York Evening Journal literarisch adäquat festhalten, vgl. Williams: Reporting, S. 461; James McGrath Morris: The Rose Man of Sing Sing. A True Tale of Life, Murder, and Redemption in the Age of Yellow Journalism (= Communications and Media Studies, 8), New York 2003, S. 192. 80 Vgl. Campbell: Yellow Journalism, S. 55-9. 81 Vgl. Cobb: Exit, S. 228. Das verunmöglicht häufig die Zuordnung der Artikel zu einzelnen Reportern. 82 Vgl. ebd. Dies war bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein Weg, um sich selbst zu medialisieren. So der Fall bei Nellie Bly [Elizabeth Jane Cochran] (1864-1922) von der New York World und ihrer investigativen Geschichte über die Haftbedingungen in einer New Yorker Psychiatrie im Jahr 1887, vgl. Roggenkamp: Sympathy, S. 76-7; Glenn: Female Spectacle, S. 34-5. 83 Eigentlich versuchten Zeitungen möglichst lange, die Lohnkosten ihrer Journalist*innen durch deren Anonymität niedrig zu halten, vgl. Lutes: Newspapers, Bd. 6, S. 106-7. 84 Meinen Recherchen zufolge kommentierten mindestens elf Reporterinnen den Prozess für yellow papers, manche nur phasenweise aus dem Gerichtsaal: Neben den auf der folgenden Textseite erwähnten vier Frauen waren das Annette Bradshaw (New York Evening World), Emma H. deZouche (New York World), Fannie Fair (New York Evening Telegram), Beatrice Fairfax, Ella Wheeler Wilcox (beide New York Evening Journal), Clara Morris (New York American) und Viola Rodgers (New York Evening Journal und New York American). eine neue dimension des medialen sensationsprozesses

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bei,85 denn Frauen waren weder als Teil des juristischen Systems noch als Jurorinnen im Verfahren zugelassen und selbst als Zuschauerinnen schloss sie der Richter nach zwei Verhandlungswochen aus.86 Unter den über den Fall berichtenden Journalistinnen waren vier als Berichterstatterinnen akkreditiert, was ihnen besondere Beachtung bescherte, da sie durch einen eigenen Pressetisch auch räumlich aus der Gruppe der Medienvertreter herausstachen: Winifred Black [Winifred Sweet Black Bonfils] (1863-1936) (New York American), Dorothy Dix [Elizabeth Meriwether Gilmer] (1861-1951), Ada Patterson (1867-1939) (beide New York Evening Journal) und Nixola Greeley-Smith (1880-1919) (New York Evening World).87 Während in jüngerer Zeit die Pionierrolle von Journalistinnen im langen 19. Jahrhundert intensiv erforscht wurde,88 schreibt die einschlägige Studie von Phyllis Leslie Abramson über die vier genannten Reporterinnen zeitgenössische Stereotype fort. Sie rekonstruiert deren Arbeit als emotionalisierende Berichterstattung, womit sie die despektierliche Zuschreibung der »sob sisters«89 übernimmt, mit der diese zeitgenössisch verspottet wurden.90 Dagegen arbeitete jüngst die Historikerin Jean Marie Lutes aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive heraus, dass es »[t]heir embodiment«91 mit Evelyn Nesbit war, aus dem sich im Prozess deren Doppelfunktion als Subjekte und Objekte medialer Aufmerksamkeit entwickelte.92 In dem männerdominierten Gerichtssaal blieb den Reporterinnen nur die journalistische Nische, aus einer dezidiert weib­ lichen Sichtweise das Prozessgeschehen zu begleiten.93 Dabei gelang es ihnen, die zentrale Deutungsmacht über Evelyn Nesbit im Interdiskurs zwischen Gericht und Öffentlichkeit an sich zu ziehen.94 Diese Interpretationshoheit war nicht allein das Resultat ihrer gemeinsamen Weiblichkeit mit Nesbit, wie Lutes annimmt, sondern auch die Assoziation des weiblichen Journalismus mit der Gesellschaftsberichter85 Vgl. dies.: Front Page Girls, S. 70. 86 Vgl. Jerome Checks Thaw Defense, New York Times, 12.2.1907, S. 1-2, hier S. 2. 87 Vgl. Lutes: Sob Sisterhood, S. 504. 88 Vgl. Chambers et al.: Women; Bradley: Women; Lutes: Front Page Girls; Whitt: Women; Fahs: Assignment; Roggenkamp: Sympathy. 89 Den bis in die 1920er Jahre üblichen Begriff für Journalistinnen etablierte Irvin Cobb im Verfahren von 1907, vgl. ders.: Exit, S. 230; Roggenkamp: Sympathy, S. 6. 90 Vgl. Phyllis Leslie Abramson: Sob Sister Journalism (= Contributions to the Study of Mass Media and Communications, 23), New York 1990. Sie erschöpft sich in einer ungenauen und fehlerhaften Nacherzählung der Berichterstattung, statt eine erkennbare Analyse zu verfolgen. Das größte Problem ist dabei, dass sie frauenfeindliche Vorurteile reproduziert, statt diese zu dekonstruieren. 91 Lutes: Front Page Girls, S. 79. 92 Vgl. ebd., S. 70, 79. 93 Vgl. dies.: Sob Sisterhood, S. 508-9, 515-6; Mary Chapman/Glenn Hendler: Introduction, in: dies. (Hg.): Sentimental Men. Masculinity and the Politics of Affect in American Culture, Berkeley 1999, S. 1-16, hier S. 3-4, 7-8. 94 Vgl. Lutes: Front Page Girls, S. 78-80. Zum Begriff des Interdiskurses vgl. Siemens: Metropole, S. 24-6.

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stattung. Ihre Annäherung an die High Society eröffnete Journalistinnen also die Möglichkeit, ihre Verortung in den society pages auf andere Themenbereiche zu erweitern und damit von der (wechselseitigen) Sichtbarkeit zu profitieren. High Society-Bildberichterstattung im Gericht Die anderen Prozessakteure waren Männer. Unter ihnen hatten die rund zwei Dutzend Zeichner, Maler und Karikaturisten eine wichtige Rolle inne, da deren Visua­ lisierungen zur Jahrhundertwende in der Gerichts- wie Gesellschaftsberichterstattung einen immer größeren Raum einnahmen.95 Dementsprechend fanden sich unter ihnen bekannte Illustratoren wie Charles Allan Gilbert (New York World) oder Isaac »Ike« Morgan (New York American). Sie illustrierten das Verfahren mit Gerichtsszenen, Porträts, Charakter- und Emotionsstudien sowie Karikaturen.96 Da ein Fotografieverbot im Gerichtssaal herrschte, oblag den Illustratoren die wichtige Aufgabe, die Verhandlung sichtbar zu machen,97 wobei vor allem (emotionale) Schlüsselszenen im Zentrum standen.98 Im Gegensatz zu Abbildungen auf den society pages, die vor allem auf Körper und Gesichter fokussierten, zielten diese Zeichnungen darauf ab, Verhaltensweisen abzubilden und damit die Personen und ihre Emotionen zu illustrieren.99 Folglich war der Interpretationsspielraum von Gerichtszeichnern deutlich größer als der von Fotografen, da sie ihre visuellen Narrative, etwa über die Thaws, freier gestalten konnten.100 Letztere warteten vor dem Justizgebäude und versuchten, Prozessbeteiligte für die Zeitungen und Agenturen abzulichten. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich diese fotographische Begleitung von Kriminalfällen sukzessive zur journalistischen Routine entwickelte.101 Entsprechend geübt waren die Fotografen und lenkten si95 Siehe Anm. 108 auf S. 219. Deren Bedeutung steigerte sich nochmals mit dem Aufkommen der tabloids in den 1920er Jahren, vgl. Tribukait: Sensationen, S. 57-60. 96 Vgl. Trotti: Murder, S. 400-4. Er zählt allein in der New York World 106 Illustrationen aus dem Gerichtssaal und 113 Halbton-Aufnahmen der Prozessbeteiligten. 97 Vgl. Wilson Lowrey: Altered Plates: Photo Manipulation and the Search for News Value in the Early and Late Twentieth Century, in: Association for Education in Journalism and Mass Communication (Hg.): Proceedings of the Annual Meeting of the Association for Education in Journalism and Mass Communication (81st, Baltimore, Maryland, August 5-8, 1998). Visual Communication, Baltimore 1998, S. 256-82, hier S. 264. Erst in den 1920er Jahren wurde dieses Verbot gelockert, vgl. Tribukait: Sensationen, S. 64. 98 Siehe Kap. II.2.2.1. 99 Vgl. Rössler: Wert, S. 19. 100 Ereignisse situativ besser einfangen zu können, galt zu Beginn der Pressefotografie noch als Vorzug der Illustrationen, vgl. Wolfgang Pensold: Eine Geschichte des Fotojournalismus. Was zählt, sind die Bilder, Wiesbaden 2015, S. 28. 101 Vgl. Carlebach: Photojournalism, S. 44-5; Trotti: Murder, S. 400-2. Der erste diesbzgl. maßgebliche Medienprozess war das Verfahren wegen Mordes (1902) gegen Florence Burns, Tochter einer Mittelschichtsfamilie und Mitglied der Bedford Avenue Gang aus Brooklyn, vgl. den Beeine neue dimension des medialen sensationsprozesses https://doi.org/10.5771/9783835348974

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cherlich absichtlich ihr Interesse auf Nesbit, eine der zentralen Prozessbeteiligten: »Day after day as she went to court she ran the gauntlet of camera men outside.«102 Die Kombination aus Illustrationen und Fotografien entfaltete in den Printmedien ein multimediales Panorama der Pro­zess­teil­neh­mer*innen, wie exemplarisch die ganzseitige Fotoreportage des Leslie’s Weekly von Anfang Februar 1907 zeigt (Abb. 26): Mittig aktivieren Porträtfotografien der Beteiligten und eine Fotografie des Tatorts das ­Wissen um die High Society-Mitglieder und den Skandal. Dar­ über zeigen zwei Schnappschüsse, wie Mary Copley Thaw und Evelyn Nesbit ihre Automobile auf dem Weg zum Abb. 26: Panorama der Visualisierungen des Thaw-Prozesses Gerichtsgebäude verlas(Feb. 1907). sen. Obwohl beide in den Bildern nicht identifizierbar sind, legen die Fotografien ein materielles Zeugnis dieser Ereignisse ab und suggerieren, daran teilhaben zu können. Zeichnungen zentraler Personen ergänzen die Reportage in der unteren Bildhälfte. Gezielte Akzente, wie die Verschleierung von Alice Thaw, der direkte Blickkontakt von Evelyn Nesbit oder die Abbildung von Staatsanwalt Jerome als einzigem Juristen, legen den Fokus stark auf zentrale Prozessakteure und schufen damit visuelle Interpretationen, die  – wie später gezeigt wird – die Gesamtdeutung des Prozesses beeinflussten. richt des teilnehmenden Fotoreporters Harry J. Coleman: Give Us a Little Smile, Baby, New York 1943, S. 55-6. 102 Williams: Reporting, S. 462.

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Die geringe Erfolgsquote guter Fotografien hielt weder Sensationszeitungen noch Magazine davon ab, auch qualitativ schlechte Bilder abzudrucken (Abb. 26, o.). Stattdessen war es relevant, das Ereignis mit einem vermeintlich authentischen Zeugnis zu dokumentieren.103 Einige Fotografen trieb der Erfolgsdruck durch die Zeitungen und die Konkurrenz untereinander zu Grenzüberschreitungen.104 Sie setzten sich über das gerichtliche Fotografieverbot hinweg und versuchten, mit versteckten Kameras erfolglos Bilder aus dem Verhandlungsraum zu machen.105 Einzig Edmunds E. Bond, einem Fotografen des Boston Daily Globe, gelang es Anfang Februar 1907, mit einer Kamera in seiner Weste Fotografien anzufertigen (Abb. 27, o. li.; Abb. 27, u. li.).106 Bei diesen Fotografien handelt es sich um die ersten überlieferten Aufnahmen aus einem laufenden Gerichtsverfahren in der Geschichte der Fotografie.107 Obwohl der Boston Daily Globe das Sensationelle der Aufnahmen betonte (Abb. 27, u. re.), blieb wohl aus Ablehnung dieser Vorgehensweise oder der fehlenden Einbindung des Globe in ein Zeitungssyndikat das mediale Echo aus;108 andere Zeitungen begnügten sich weiterhin mit Zeichnungen der gleichen Situation.109 Die Aufnahmen befriedigten nicht nur das Interesse an der visuellen Teilhabe am Gerichtsverfahren, sondern speisten sich auch aus der medialen Logik der High Society-Berichterstattung. Diese verlangte nach ungestellten, authentischen Schnappschüssen, die Fotografien scheinbar lieferten: Die Originalaufnahmen zeigen einen heimlichen, voyeuristischen »Blick durchs Schlüsselloch«110 auf die Thaws. Das gilt insbesondere für die von Harry Thaw, welche auf Brusthöhe über 103 Vgl. Lowrey: Altered Plates, S. 260. 104 Der renommierte Fotojournalist und spätere Drehbuchautor Ben Hecht (1894-1964) berichtet über den Erfolgsdruck im Chicago der 1910er Jahre, exklusive Fotografien zu liefern, und die daraus resultierenden Grenzüberschreitungen, vgl. ders.: A Child of the Century, New York 1954, S. 123-7. Allg. zum Berufsalltag vgl. Vowinckel: Agenten, Kap. 3.1, insb. S. 73-6. 105 Vgl. Williams: Reporting, S. 462. Performativ überschritten sie damit nicht nur ihre Zuschauerrolle, sondern drangen auch in den rituell geschützten Raum der Prozessbeteiligten ein, vgl. Wulf: Ritual, S. 32, 35. 106 Vgl. Sam L. Conner: Ed. Bond, Boston Globe Star Photographer from Maine And Stunt He Put Over on New York Camera Men at Thaw Trial, Boston Globe, 16.3.1929. Die nur faustgroße Kamera bediente er über einen Auslöser in der Jackentasche, vgl. Edward Querzoli: 70 Years Married – ›Behaved Ourselves,‹ Wollaston Couple Say, The Patriot Ledger, 23.6.1962. 107 Trotz intensiver Recherchen konnten keine Hinweise auf frühere Gerichtsaufnahmen gefunden werden. Harry J. Coleman, Fotoreporter im Hearst-Syndikat, versuchte 1902 wohl erstmals, eine heimliche Aufnahme aus einem laufenden Gerichtsprozess zu machen, scheiterte jedoch, vgl. ders.: Give, S. 56-8. Fotografie- und Gerichtshistoriker*innen setzten den Beginn der offiziellen Gerichtsfotografie erst in den späten 1910er oder frühen 1920er Jahren an, vgl. etwa Tribukait: Sensationen, S. 8-9. 108 Diese Debatte hielt bis in die Zwischenkriegszeit an, wobei sich für das rechtlich teils hochproblematische Verhalten der Reporter der Begriff des crimson journalism herausbildete, vgl. Siemens: Metropole, S. 101. 109 Vgl. Mr. Garvan Assistant to Mr. Jerome, Accusing Thaw of Murder, New York Herald, 5.2.1907. 110 So der Titel von Hornung: Blick. eine neue dimension des medialen sensationsprozesses

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Abb. 27: Originalaufnahme der Familie Thaw im Gerichtssaal (o. li.). Daneben die vermutlich zur Folgeaufnahme passende und im Boston Daily Globe (06.2.1907) abgedruckte Fotografie (o. re.), darauf (v.l.n.r.) George Carnegie, May MacKenzie, Margaret Carnegie Thaw und Alice Thaw; Originalaufnahme mit Russel A. Peabody und Harry Thaw (u. li.) sowie die davon im Boston Daily Globe (6.2.1907) abgedruckte Fotografie (u. re.).

mehrere Stuhlreihen hinweg aufgenommen wurde (Abb. 27, u. li.). Dagegen lässt die aus der Horizontalen gekippte Fotografie seiner weiblichen Verwandtschaft stärker den physischen Akt des Fotografierens erkennen (Abb. 27, o. li.): Sie gibt die Drehung des Oberkörpers des Fotografen wieder, dessen Bewegung die Kamera im Moment der Aufnahme folgte. Diese Sichtbarkeit des fotografischen Prozesses wurde bei den abgedruckten Aufnahmen im Boston Daily Globe getilgt (Abb. 27, o. re.). Indem für die Abbildung die Originalaufnahme ausgeschnitten, vergrößert und geneigt wurde, wurde die Kamera selbst wieder zum unsichtbaren Transfermedium, das der*dem Betrachter*in den unverstellten Blick auf die abgelichteten Personen 220

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ermöglicht.111 Damit wird die abgedruckte Fotografie von ihrer geheimen und illegitimen Aufnahmesituation befreit und zu einem scheinbar besonders authentischen Zeugnis des Verfahrens. Der (Mehr-)Wert der Gerichtsberichterstattung: Kosten und Zirkulation Doch weshalb betrieben die Zeitungen solch einen Aufwand, um das Strafverfahren zu dokumentieren? Allein die Nachrichtenagenturen schickten täglich an rund 2.000 nationale Zeitungen ihre Meldungen über den Fall.112 Die Ursache lag in der wirtschaftlichen Bedeutung für ihre Absatzzahlen, welche die Printmedien dem Skandalprozess und den darin verwickelten High Society-Mitgliedern beimaßen. Dessen ökonomischer Wert lässt sich aus den Kosten ableiten, welche die Verleger bereit waren dafür aufzuwenden.113 Schätzungen zufolge beliefen sich allein die täglichen Lohn- und Telegrafiekosten der Pressevertreter*innen vor Ort auf rund 1.000 bis 5.000 Dollar (heute rund 34.000 bis 170.000 Dollar).114 Insgesamt summierten sich laut Saturday Evening Post beispiellose Gesamtkosten von rund zwei Millionen Dollar (heute rund 65 Mio. Dollar).115 Dies rechtfertigten die Absatzzahlen der Tageszeitungen, die in New York während des ersten Prozesses um rund zehn Prozent stiegen.116 Samuel Williams, Journalist bei der New York Evening Post, machte dafür weniger neue Leser*innen, sondern vielmehr die Stammkundschaft verantwortlich.117 Das deckt sich mit den bisherigen Erkenntnissen dazu, wie die Tagespresse die Mechanismen der High Society-Berichterstattung aktivierte, um den Prozess zu media­lisieren. Entsprechend gilt zu vermuten, dass vor allem die Stammleser*innen die weiterführenden und detaillierten Informationen über die ihnen bekannten High Society-Mitglieder erhalten wollten und deshalb mehr Zeitungen kauften: »[They] read every line and looked at every picture [of the trial], and then wanted more.«118 Dabei folgten die Printmedien einer Doppelstrategie: Einerseits band die emotionale Berichterstattung ihre Stammleser*innen. Andererseits erzeugten die 111 Vgl. Sybille Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat, in: dies. (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2000, S. 73-94, hier S. 74. 112 Vgl. C.: Murder Trial Industry, S. 23. 113 Die pekuniäre Quantifizierung war dabei eine zeitgenössisch typische Ausprägung des boosterism, womit die Bedeutung des Ereignisses und des eigenen Einsatzes unterstrichen werden sollte, vgl. Elaine Naylor: Frontier Boosters. Port Townsend and the Culture of Development in the American West, 1850-1895, Montreal 2014, S. 6-9, 18-9. 114 Vgl. C.: Murder Trial Industry; Williams: Reporting, S. 456. 115 Vgl. C.: Murder Trial Industry. 116 Vgl. Mooney: Evelyn Nesbit, S. 236. 117 Vgl. Williams: Reporting, S. 456. 118 Ebd., S. 462. So auch die These von Helen MacGill Hughes in ihrem Standardwerk, worin sie den Zusammenhang von Leserinteressen und human interest stories betont, vgl. dies.: News and the Human Interest Story, Neuaufl., New York 1968 [1940], S. 83-4, 220-2. eine neue dimension des medialen sensationsprozesses

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mehrmals täglich erscheinenden Auflagen die Notwendigkeit, auf dem neuesten Stand zu bleiben,119 sodass die Stadt voller New Yorker*innen war, »[who] carried home bundles of them at night, and on the way to business in the morning purchased more.«120 Sensationsprozesse boten damit aus verlegerischer Perspektive einen praktikablen Mechanismus, um auf dem hochkompetitiven Zeitungsmarkt den Kampf um Leser*innen zu führen.121 Damit das Verfahren gegen Harry Thaw zum ersten massenmedialen Sensationsprozess der Moderne werden konnte, bedurfte es der skizzierten Verbindung aus Medieninteresse, den Bedingungen und Möglichkeiten des Strafverfahrens und den bereits sichtbaren High Society-Mitgliedern. Ausgehend von dieser Kombination ermöglichte Thaws Prozess, bereits angelegte mediale Entwicklungen im Entstehungsprozess der High Society zu intensivieren, wie das folgende Kapitel zeigen wird.

2.2. »Neither Victim Nor Vampire«: Evelyn Nesbit als High Society-Mitglied im Zeugenstand Evelyn Nesbits Zeugenaussage im Februar 1907 markierte gleich zu Beginn der Verhandlung dessen Höhepunkt, wie der New York American feststellte: »We had waited for it long – we had pictured the scene, imagined the swift moving chapters, pondered upon the denouement. It overtopped everything that had been expected.«122 Er betonte dabei die Theatralik des Verfahrens, die öffentliche Erwartungshaltung und das eingelöste Versprechen durch die Aussage. Die Öffnung ihrer sexuellen Intimsphäre hatte dabei drei Folgen: Erstens verschob sie das potenziell Sagbare über High Society-Mitglieder, zweitens öffnete sie eine neue Dimension dessen, was als Sensationsprozess galt, und drittens prägte sie den weiteren Verfahrensverlauf. Entsprechend steht Nesbits Gerichtsaussage im Zentrum der folgenden Analyse: Dabei stellt sich die Frage, wie sie ihre Erzählung vor Gericht performativ umsetzte, um sie den Medienvertreter*innen und Juroren glaubhaft zu vermitteln. Dabei gehe ich von der These aus, dass sie ihren Auftritt und ihr mediales Verhalten bewusst an das Opfernarrativ anpasste, das die Sensationspresse über sie popularisierte. Damit demonstrierte sie ihre Medienkompetenz, die sie im Zuge ihres Zutritts zur High Society und ihrer Medialisierung als deren Mitglied entwickelt hatte. Zugleich überlagerte sich die Öffnung ihrer Privatheit in der Aussage mit der medialen Logik der 119 Vgl. Paul R. Baker/Mark L. Taff: The Murder of Stanford White, in: Long Island Historical Journal 8:1 (1995), S. 39-55, hier S. 54; Siemens: Metropole, S. 301. 120 Williams: Reporting, S. 456. 121 Vgl. Siemens: Metropole, S. 301. 122 William Hoster: Mrs. Thaw Shows White a Villain, New York American, 8.2.1907, S. 1-2, 4, hier S. 2.

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High Society und formte sowohl Prozessverlauf als auch die Formation selbst wesentlich mit. Da sich Nesbit zudem in das Konfliktfeld (devianter) Sexualität einschrieb, thematisierten sie Teilöffentlichkeiten unterschiedlich, wobei ihre Mitgliedschaft in der High Society stets von Bedeutung war. Das auf die Zeugenaussage folgende Kreuzverhör zeigt hingegen, wie das Eindringen der High Society-Logiken in den Prozess, hier insbesondere die Betonung privaten Verhaltens, auf die Akteur*innen zurückfallen konnte. Der Staatsanwalt Jerome nutzte explizit Nesbits High Society-Status bei seinem Angriff auf das juristische Narrativ der Verteidigung. Zwar versuchte Nesbit selbst dieser Dekonstruktion ihres Fremdbildes entgegen zu wirken, doch bedurfte es der Hilfe der Sensationsmedien, um ihre Darstellung zu stabilisieren. Da im Zuge des Kreuzverhörs besonders stark weibliche Rollenbilder zur Disposition standen, bietet es sich an, die Analyse auf die mit Nesbit befreundeten Broadway-Akteurinnen auszuweiten. Dies verdeutlicht, welche verschiedene Vorstellungen von Weiblichkeit parallel verhandelt wurden, und zeigt, wie die Nähe zu High Society-Mitgliedern die eigene Sichtbarkeit ermöglichen konnte.

»One of those things that seem impossible to tell«: Evelyn Nesbit im Zeugenstand Als Julian Hawthorn, Kommentator der New York American, auf Evelyn Nesbits ersten Tag im Zeugenstand zurückblickte, versicherte er: »Undoubtedly such another story has never been told in a courtroom in this country. It was one of those things that seem impossible to tell until they have been told«.123 Nesbit war es gelungen, die öffentliche Aufmerksamkeit ganz auf sich und ihre Beziehungsgeschichte mit Harry Thaw zu fokussieren, und damit seine geistige Zerrüttung angesichts ihrer Vergewaltigungserzählung plausibel erscheinen zu lassen.124 Die Aussicht, ihre sexuelle Gewalterfahrung öffentlich zu machen und ein Kreuzverhör bestreiten zu müssen, belastete Nesbit körperlich und psychisch. Hinzu kam das Bewusstsein der enormen medialen Aufmerksamkeit. So schreibt sie: »The fear of cross-examination is increased tenfold by the fear of publicity, especially if the case be of any interest to the newspaper.«125 Doch war sich Nesbit ebenso wie die Presse bewusst, dass sie mit ihrer Aussage Thaws Schicksal zwischen Freispruch und elektrischem Stuhl bestimmen könnte.126 Dabei trieb sie nicht nur ihre emotionale 123 Julian Hawthorne: Court Scene Like Roman Coliseum in Days of the Caesars, New York American, 8.2.1907, S. 3, 7. 124 Vgl. Umphrey: Dementia Americana, S. 204-5. 125 Nesbit: Story, S. 127. Diesen Effekt der Presseberichterstattung auf Vergewaltigungsopfer zeigen Carol Smart/Smart Barry: Accounting for Rape. Reality and Myth in Press Reporting, in: dies. (Hg.): Women, Sexuality and Social Control, London 1978, S. 87-103. 126 Vgl. Nesbit: Story, S. 134.

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Bindung zu Thaw an, wie aus ihren zeitgenössischer Briefen hervorgeht, sondern auch die Vorstellung, dass es ihre eheliche Pflicht sei, ihren Mann zu verteidigen.127 Als Thaws Hauptverteidiger Delphin Michael Delmas ([1844]–1928) sie in den Zeugenstand berief, gelang ihm ein juristischer Coup: Laut Prozessordnung wäre Nesbits Aussage über ihre Liaison mit White unzulässig gewesen, da das Thema zu weit von der eigentlichen Prozessfrage weggeführt hätte.128 Der Anwalt fragte jedoch nicht nach ihrer Beziehung, sondern danach, welche Geschichte sie Harry Thaw darüber im Sommer 1903 erzählt und wie er darauf reagiert habe.129 Damit stand die Faktizität ihres Missbrauchs nicht zur Debatte, womit ihre Erzählung ­darüber von Seiten der Staatsanwaltschaft praktisch unangreifbar wurde.130 Deren einzige Möglichkeit bestand noch darin, Nesbits Glaubwürdigkeit selbst anzugreifen, um dadurch indirekt Zweifel an ihrer Aussage zu wecken. »She gave her reputation for his life«: Evelyn Nesbits Zeugenaussage Am 7. Februar 1907 berichtete Evelyn Nesbit im Zeugenstand über zwei Stunden hinweg von ihrem Gespräch mit Harry Thaw, in welchem sie ihm folgende Geschichte erzählt haben will: Im Sommer 1901 habe sie als 16-Jährige Stanford White kennengelernt und eine enge, freundschaftliche Beziehung zu ihm entwickelt, die von seinem paternalistischen Verhalten geprägt gewesen sei. Er beschenkte sie, lud sie zu Hauspartys mit Künstlern, Theaterdarsteller*innen und anderen High Society-Mitgliedern in seine New Yorker Appartements ein und unterstützte finanziell ihre Familie.131 Im Winter 1901 habe White es Nesbits Mutter ermöglicht, ihre Verwandtschaft in Pittsburgh zu besuchen, während er auf ihre Tochter aufpassen sollte.132 Unter dem Vorwand einer Feier lud er sie in sein Penthaus im Turm des Madison Square Garden ein. Dort führte er Nesbit in ein verspiegeltes Schlafzimmer, wo er sie nötigte, ein Glas Champagner zu trinken. Nach kurzer Zeit verlor sie das Bewusstsein. Als sie es wiedererlangte, lag Evelyn Nesbit nackt im Bett neben Stanford White und stellte fest, dass er mit ihr geschlafen hatte.133 Sie schilderte, dass sie trotz ihrer fehlenden Sexualaufklärung intuitiv den physischen Missbrauch und die moralische Grenzüberschreitung begriffen habe und zutiefst verstört gewesen sei.134 White gelang es, sie zu beruhigen, indem er ihr versicherte: »[I] must not be worried or upset; that everything was all right and that he would […] do a great many things 127 Vgl. Brief von Evelyn Nesbit an Harry Thaw (1.1.1907), UC, Folder 10, Index K-L; Nesbit: Story, S. 134. 128 Vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 522-5, UC, Container 15-16. 129 Vgl. ebd., S. 534-4. 130 Vgl. so erstmals bei Frederick Arthur MacKenzie: The Trial of Harry Thaw, London 1928, S. 56. 131 Vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 526-8, 530-2, 535-6, 539, 541-5, UC, Container 15-16. 132 Vgl. ebd., S. 545-6. 133 Vgl. ebd., S. 551-5. 134 Dies betonte sie im Kreuzverhör, vgl. ebd., S. 1606-7, 1646-7, 1673.

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for me«. Zudem treffe Nesbit eine Mitschuld: »[H]e said I was so nice looking and slim and that he couldn’t help it [!], that I was so pretty.«135 Mit der Versicherung, »that everybody was doing these things«,136 habe White sie letztlich beschwichtigen und dazu bringen können, im Hinblick auf ihrer beider Reputation Stillschweigen über den Vorfall zu bewahren.137 Nachdem Nesbit diese Geschichte Thaw erzählt hatte, habe er einen emotionalen Zusammenbruch erlitten.138 Zwar habe er sie von jeglicher Mitschuld entbunden und ihr rund zwei Monate später – »in spite of it«139 – einen Heiratsantrag gemacht. Doch lehnte Nesbit diesen mit der Begründung ab, Thaw zum Gespött der New Yorker High Society zu machen, sollte ihr Geheimnis gelüftet werden. Da er hartnäckig geblieben sei, habe sie schließlich in die Heirat einwilligt. Jedoch habe sich Thaw immer manischer mit White und dessen devianten Umtrieben beschäftigt.140 Nesbit hatte mit ihrer Aussage sowohl die Verteidigung als auch den Journalist*innen gleichsam die Bestätigung des Melodrams und des Ehrenmordes geliefert. Die unmittelbare Wirkung ihrer Aussage auf das anwesende Publikum schien überzeugend gewesen zu sein: »The audience was manifestly relieved to know that Evelyn herself had been a victim, not a guilty participant, in the affair.«141 Die Ursache hierfür lag in ihrer geschickten Erzählstruktur, in deren Fokus die »story of wrongs visited upon her by a man in the guise of a protector«142 stand. Darin verwob sie ihre eigene moralische Unzulänglichkeit, die sie auf ihre prekäre Situation und Whites Verführungskünste zurückführte.143 Gerade dass Nesbit mit ihrer Lebensgeschichte Mittelklassenormen widersprach, legten Journalist*innen ihr als Zeichen der Stärke und Wahrhaftigkeit aus: »Evelyn Thaw could have saved her reputation. But this would have meant death or a mad-house for Harry Thaw. Instead, she gave her reputation for his life.«144 Sie hatte in ihrer Aussage nicht nur Einblicke in ihre emotionale Verfassung gegeben, sondern auch Verhaltens- und Konsumpraktiken, wie solche während ihrer Europareisen, geschildert, die den Leser*innen bereits aus der High Soci135 136 137 138 139 140 141

Alle drei Zitate aus ebd., S. 556. Ebd., S. 557. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 558-9. Ebd., S. 561. Vgl. ebd., S. 560-2, 595-616, 680-92. Julian Hawthorne: Court Scene Like Roman Coliseum in Days of the Caesars, New York American, 8.2.1907, S. 3, 7, hier S. 7. 142 Evelyn Thaw Tells Her Story, New York Times, 8.2.1907, S. 1-4, hier S. 1. 143 Vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 565-76, UC, Container 15-16. Indem Nesbit das Thema Sexualität ansprach, überwand sie zugleich die Schamgrenze und emotionalisierte ihre Erzählung, vgl. Ute Frevert: Vergängliche Gefühle (= Historische Geisteswissenschaften, 4), 2. Aufl., Göttingen 2013, S. 31. 144 Nixola Greeley-Smith: Evelyn Thaw’s Impressive Confession of Stanford White’s Crime Will Likely Outweigh All the Evidence Against Her Husband, New York World, 11.2.1907, S. 3.

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ety-Berichterstattung bekannt waren. Zudem hatte sie weiterführende I­nformationen geliefert, etwa dass White ihr die rote Jacke geschenkt hatte, die sie auf einem bekannten Postkartenmotiv trug.145 Zugleich gab Nesbit neue Einblicke in bislang verborgene Räume, wie Whites Apartment, das sie als dekadent mit eindeutig sexuellen Konnotationen beschrieb: »all [was] hung in velvet […] velvet divans and pillows everywhere«.146 Dieser hohe Detailgrad unterstrich einerseits die Glaubwürdigkeit ihrer Geschichte, andererseits offerierte sie damit den anwesenden Medienver­ treter*innen interessante Nachrichtenwerte.147 Nesbits Eintritt in den Zeugenstand markierte den Moment im Ablauf des Melodrams, der die Rollen der beteiligten Akteur*innen offenbarte.148 Eine kommunikationstheoretische Analyse des Prozesses legt Martha Umphrey vor: Demnach war die Offenbarung im Thaw-Skandal differenzierter als für zeitgenössische Melodramen üblich, da bei Nesbit und Thaw noch ihre ambivalenten Zuschreibungen aus der Phase vor dem Verfahren nachwirkten. Einerseits die der Opfer: Thaw sei durch ein ungerechtes Rechtssystem als Mörder kriminalisiert, während Nesbit, eigentlich das Opfer von White, als Fallen Woman stigmatisiert werde. Andererseits die der Held*innen: Thaw als gesellschaftlicher Wohltäter durch den Mord an dem unmoralischen White, Nesbit, die ihre Ehre für das Schicksal ihres Mannes opfere. Beide Rollen kanalisierten sich in Nesbits Geschichte ihrer Viktimisierung, die als performativer Höhepunkt das Melodram auflöste und bislang missverständliche Interpretationen aufklärte.149 Als mediales Vehikel nutzten die Medien das human interest an Evelyn Nesbit, die durch die Thematisierung ihrer Sexualität einen Blick in ihre Intimsphäre, den »Kernbereich des Privaten«,150 ermöglicht hatte.151 Sie widersetzte sich damit der Skandallogik, wonach Skandalisierte Ausweich- oder Abwehrstrategien entwickeln, um dergleiches zu vermeiden.152 Stattdessen bestätigte sie ein bereits zirkulierendes Gerücht über ihre Affäre mit White. Indem sie dieses private Geheimnis preisgab, transformierte Nesbit es aus der Parallelwelt privater Informationen in die Öffentlichkeit und machte es so zum skandalösen Faktum.153 145 Vgl. Mrs. Evelyn Nesbit Thaw Describes How Stanford White Wronged Her, Evening World, 7.2.1907, S. 1-5, hier S. 2. 146 Prozessprotokoll (1907), S. 531, UC, Container 15-16. 147 Vgl. Evelyn Thaw Tells Her Story, New York Times, 8.2.1907, S. 1-4, hier S. 2. 148 Vgl. Brooks: Melodramatic Imagination, S. 32. 149 Vgl. Umphrey: Dementia Americana, S. 203-4. 150 Imhof: Medienskandale, S. 76. 151 Vgl. Dennis Gräf/Stefan Halft/Verena Schmöller: Privatheit. Zur Einführung, in: dies. (Hg.): Privatheit. Formen und Funktionen (= Medien, Texte, Semiotik, 3), Passau 2011, S. 9-28, hier S. 24. 152 Vgl. Thompson: Political Scandal, S. 85. 153 Vgl. Imhof: Medienskandale, S. 76-7.

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»[Evelyn Nesbit Thaw’s] story has written itself indelibly in the hearts of all who heard it«,154 konstatierte Nixola Greeley-Smith, womit sie das Narrativ der weiblichen Prozessbeobachter ausbreitete: die Emotionalität, das Mitgefühl und die melodramatische Überzeichnung der Verhandlung.155 Obwohl dieser Stil gleichermaßen die Arbeiten weiblicher und männlicher Gerichtsberichterstatter auszeichnete, traf der Vorwurf dieser Zuschreibung nur die anwesenden Journalistinnen.156 Diese nutzten journalistische Methoden des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als frühere Fachvertreterinnen ihre journalistische Arbeit über eine »highly gendered sympathetic language«157 zu legitimieren suchten.158 Damit fanden sie auch 1907 eine Nische in der Prozessberichterstattung: Sie behaupteten, das Verfahren aus einer dezidiert weiblichen und emotionalen Perspektive zu begleiten, womit sie sich von dem scheinbar nüchternen und objektiven Stil ihrer männlichen Kollegen abgrenzten.159 Doch prägte damit ihr Gender ihre Stilkritik.160 Indem sie ihre Geschlechterrolle zur Prämisse ihrer Arbeit als Journalistinnen machten, gelang es ihnen, sich als Korrektiv im männlich dominierten Gerichtssaal zu positionieren.161

»Flung wide open the book of her tragic life, that all might read«: High Society-Logiken in der Zeugenaussage Nesbits Aussage im Kontext des Sexualdiskurses Die öffentliche Sichtbarmachung von Evelyn Nesbits intimster Privatheit wurde diskursiv als Grenzverschiebung gewertet. Sie ereignete sich im Kontext des viktorianischen Sexualdiskurses. Lange bestand das Bild der Viktorianer*innen als prüder Gesellschaft, jedoch hat die jüngere Forschung viel dazu beigetragen, dies zu differenzieren.162 Wichtigster Schritt hierbei war, dass Michel Foucault die These des viktorianischen Unterdrückungs- und Tabuisierungsdiskurses infrage stellte. Er überzeugte mit der gegenteiligen These, dass die Sexualität gerade im Viktorianismus neue diskursive Macht gewann: Juristische, medizinische und sexologische Akteur*innen erlangten die Kontrolle über das Sexualleben und damit den Diskurs, 154 Nixola Greeley-Smith: Evelyn Thaw’s Impressive Confession of Stanford White’s Crime Will Likely Outweigh All the Evidence Against Her Husband, New York World, 11.2.1907, S. 3. 155 Vgl. Lutes: Sob Sisterhood, S. 508-9. 156 Vgl. Sharon M. Murphy: Winifred Black Bonfils. Annie Laurie, Reformist Rpeorter (18631936), in: dies./Madelon Golden Schilpp (Hg.): Great Women of the Press, Carbondale 1983, S. 148-57, hier S. 151-2. 157 Roggenkamp: Sympathy, S. 6. 158 Vgl. ebd. 159 Vgl. Anm. 453. 160 Vgl. Lutes: Sob Sisterhood, S. 509. 161 Vgl. dies.: Front Page Girls, S. 88. 162 Vgl. Battan: Word, S. 252-3.

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indem sie die Definitionen devianter – und damit reziprok normativer – Sexualverhaltenen festlegten, ständig erweiterten und damit zum öffentlich diskutablen Gegenstand erhoben.163 Entsprechend war die Thematisierung von Sexualität in Gerichtsverfahren wie in Nesbits Fall nicht völlig ungewöhnlich.164 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich der Sexualitätsdiskurs jedoch vornehmlich entlang bestimmter Strukturkategorien wie Klasse, Ethnie und race, oder Geschlecht und Alter entwickelt, und dabei klare Vorstellungen davon geprägt, wer oder was als normativ zulässige*r Sexualpartner*in und -verhalten galt: die heterosexuelle Fortpflanzung in der Ehe.165 Nesbits Aussage erschütterte dieses Bild, was sie diskursiv so brisant machte: ­Einerseits zeigte sie, dass Mitglieder der normgebenden Oberschicht von diesen Verhaltensregeln abwichen, was Whites Normverletzung über den Missbrauch hinaus umso schwerer wiegen ließ. Andererseits legte sie die Doppelmoral der Oberschicht in puncto Sexualität offen. Nesbit hatte den zeitgenössischen double standard sichtbar gemacht, der Frauen strikt an voreheliche Jungfräulichkeit und innereheliche Keuschheit band, wohingegen Männer außereheliche Sexualkontakte als Ventile ihrer Lust nutzen durften.166 Nesbits Geschichte hatte mit White eine Figur gezeichnet, die als Negativbeispiel dienen konnte.167 Der Thaw-Prozess bewirkte dadurch, dass dieser grundsätzlichen, von den Medien teils mitgetragenen Geheimhaltung ein Ende bereitet wurde. Die Verleger hatten häufig selbst mit geschwiegen, da sie als Teil der Oberschicht die Doppelleben ihrer Peergroup deckten.168 Indem die Kommentator*innen dem Narrativ der Thaws folgten, forderten sie gleichzeitig die Offenlegung der Gruppe um Stanford White, die sich sexuelle Vergehen habe 163 Vgl. Michel Foucault: »Wir Viktorianer«, in: ders.: Sexualität, S. 9-23, hier S. 9-12. Seine Thesen wurden zuvor bereits von frühen feministischen Forscherinnen erdacht, wie etwa Nancy F. Cott: Passionlessness: An Interpretation of Victorian Sexual Ideology, 1790-1850, in: Signs 4:2 (1978), S. 219-36. 164 Besonders stark hatte sich der Beecher-Tilton-Skandal (1875) in das kollektive Gedächtnis eingeprägt. Darin war der kongregationalistische Pastor Henry Ward Beecher (1813-1887) des Ehebruchs mit der Frau seines Freundes und Kollegen Theodore Tilton (1835-1907) bezichtigt worden, vgl. Richard Wightman Fox: Trials of Intimacy. Love and Loss in the Beecher-Tilton Scandal, Chicago/London 1999. 165 Vgl. Stephanie Coontz: Die Entstehung des Privaten. Amerikanisches Familienleben vom 17. bis zum ausgehenden 19.  Jahrhundert (=  Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, 6), Münster 1994, S. 312-4. 166 Vgl. D’Emilio/Freedman: Intimate Matters, S. 178-80. Diese diskursiven Leitbilder waren gleichwohl nicht stets partnerschaftliche Praxis, vgl. Steven Seidman: The Power of Desire and the Danger of Pleasure: Victorian Sexuality Reconsidered, in: Journal of Social History 24:1 (1990), S. 47-67, hier S. 52-9. 167 Vgl. Alfred Henry Lewis: To Confuse Evelyn Thaw Would Bring No Victory, New York American, 12.2.1907, S. 3. 168 Vgl. Louis Pizzitola: Hearst over Hollywood. Power, Passion, and Propaganda in the Movies, New York 2002, S. 87. Siehe diese Praxis von Stanford White in Anm. 53.

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zuschulden kommen lassen: »Neither genius nor money should be allowed to act as a cloak to such enormities.«169 Entsprechend scharf kritisierten sie William T. Jerome, als dieser verhinderte, dass Nesbit Namen aus dem Umfeld von White nannte.170 So seien diese »unnamed and unkilled [!] hordes of Stanford Whites« noch immer frei, doch »mankind must forget it all and say no more about it«,171 wie Alfred Henry Lewis sarkastisch kommentierte. Dieses Vorgehen sollte die Oberschicht schützen und stellte sie doch zugleich unter Generalverdacht. Dies entsprach einer Entwicklung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wonach Erfolge dem Individuum zugeschrieben wurden – wie Thaws Demaskierung von White –, Korruption und Verbrechen jedoch Netzwerke oder Gruppierungen begangen  – wie die sexuelle Ausbeutung junger Frauen durch White und seinen Freundeskreis.172 Im Kontext des Sexualdiskurses wirkten Ereignisse wie Nesbits Aussage disruptiv, da sie das Stillschweigen brachen und die Brüchigkeit der oberflächlichen Gewissheit über das Sexualverhalten der normgebenden Ober- und Mittelschicht vor Augen führten. Die Vielzahl stillschweigend akzeptierter Graubereiche und flexibler Ausweichmöglichkeiten wurde sichtbar.173 Vergleichbar war der 1905 stattfindende Prozess gegen den Verleger des Gesellschaftsmagazins Town Topics, Colonel William d’Alton Mann (1839-1920). Ihm wurde vorgeworfen, Mitglieder der Upper Class und High Society mit ihren Liebesaffären erpresst zu haben. Das Verfahren führte zum öffentlichen Skandal, die Details über das Doppelleben der Kläger blieben jedoch unveröffentlicht.174 Schon vor Prozessbeginn war jedoch bekannt gewesen, dass d’Alton Mann die entsprechenden Geschichten nicht zahlungswilliger Opfer in seinen Town Topics chiffriert abgedruckt hatte, was die Popularität des Magazins bei Leser*innen erklärte.175 Damit trieb das Magazin die Berichterstattung über die High Society mit voran, die sich mit diesen Nachrichtenfaktoren von den social news über die Upper Class stark absetzte. Vor diesem Hintergrund lieferte zur Jahrhundertwende die Gerichtsberichterstattung über Sexualstraftaten einen wichtigen Beitrag dazu, den diskursiven Rahmen abzustecken, der normale Sexualität konstruierte.176 Wie bereits während der 169 Frank Irving Cobb: On Trial, Evening World, 8.2.1907, S. 16. 170 Vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 525-6, UC, Container 15-16. 171 Alfred Henry Lewis: Alfred Henry Lewis Calls Prisoner ›A Picture of Infinite Sorrow‹, New York American, 29.1.1907, S. 2. 172 Vgl. Derix: Meritokratie, S. 34. 173 Vgl. Roy Porter/Lesley Hall: The Facts of Life. The Creation of Sexual Knowledge in Britain, 1650-1950, New Haven/London 1995, S. 132. Ausführlich in Peter Gay: The Bourgeois Experience: Victoria to Freud. Vol. 5: Pleasure Wars, 5 Bde., New York 1998. 174 Vgl. King: Season, S. 407-15. 175 Vgl. Mark Caldwell: A Short History of Rudeness. Manners, Morals, and Misbehavior in Modern America, New York 2000, S. 17. 176 Vgl. Nancy Erber/George Robb: Introduction, in: George Robb/Nancy Erber (Hg.): Disorder in the Court. Trials and Sexual Conflict at the Turn of the Century, Basingstoke 1999, S. 1-11, hier S. 6-7.

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Vorverurteilungsphase entfaltet, lieferte nun der Thaw-Prozess einen maßgeblichen Beitrag dazu, indem die Medien sowohl deviante Sexualität als auch die Frage nach sichtbarer Norm und versteckter Perversion thematisierte. Mediale Dimensionen der Missbrauchsaussage Wie die Presse mit Nesbits Aussage umging und wie sie diese mit ihrer Performanz im Zeugenstand beeinflusste, ist daher von zentraler Bedeutung. Essenziell für beides war, dass Nesbit das Interesse und Mitgefühl der Öffentlichkeiten erregte, als sie ihre Privatheit öffnete, was die Illusion von Authentizität und Nähe schuf; oder, wie der New York American-Korrespondent William Hoster es ausdrückte: »[Evelyn Nesbit Thaw] flung wide open the book of her tragic life, that all might read«.177 Insbesondere die Schilderung ihrer Schreie, als sie nach der Vergewaltigung wieder zu sich gekommen war, machte das von ihr Durchlebte unmissverständlich. Nesbit räumte später in ihrer Autobiographie ein, die Schreie aus theatralischen Gründen erfunden zu haben, um den Geschlechtsverkehr als Missbrauch zu kennzeichnen.178 Sie hatte folglich ihre erzählerische Selbstinszenierung dem juristischen Narrativ angepasst. Dass sie den Tabubruch des sexuellen Übergriffs explizit ansprach, war zwar der Verteidigung geschuldet. Es speiste sich aber mutmaßlich auch aus ihrer Medienkompetenz, die sie als High Society-Mitglied erlernt hatte und zu der unkonventionelle Einblicke in ihre Privatsphäre gehörten. Entsprechend rückte in der medialen Wahrnehmung Nesbits Selbstbild als Upper Class-Ehefrau von Harry Thaw angesichts ihrer Erzählungen über ihre Broadway-Zeit wieder in den Hintergrund und sie wurde vielmehr wieder als der High Society zugehörig inszeniert. Auch in Nesbits eigenem Vorgehen überlagerten sich juristische und High Society-Logiken. So schildete sie zum einen intime Details, wie Gefühle, Gedanken oder sensorische Eindrücke, die als entscheidend für die Überzeugungskraft gerichtlicher Aussagen über Vergewaltigungen sind.179 Zum anderen bediente sie damit das Interesse der Medien und weitete dieses aus: Denn ihre Beschreibungen nicht sichtbarer Privaträume, den Einblicken in (Konflikt-)Beziehungen und bislang als intim markierter Informationsbereiche führten in der Summe zur »Verwischung der Raumgrenzen«180 zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Das skandalträchtige Thema Sexualität durchzog alle diese drei Ebenen von Privatheit.181 Die Charakteri177 William Hoster: Mrs. Thaw Shows White a Villain, New York American, 8.2.1907, S. 1-2, 4, hier S. 2. 178 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 41-2. 179 Vgl. Thomas-Michael Seibert: Zeichen, Prozesse. Grenzgänge zur Semiotik des Rechts (= Schriften zur Rechtstheorie, 174), Berlin 1996, S. 192, 195; Paul Gewirtz: »Victims and Voyeurs: Two Narrative Problems at the Criminal Trial«, in: Brooks/Gewirtz: Law, S. 135-61, hier S. 140-1, 144-5. 180 Hickethier: Einführung, S. 214. 181 Vgl. ebd., S. 214-5.

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Abb. 28: Die unterschiedliche Bedeutung, die dem Prozess zugeschrieben wurde, zeigte bereits das Layout: links die ganzseitige, stark protokollarische und bebilderte Berichterstattung der New York World; rechts die Meldung in der New York Times im Reportagestil (s. Pfeilmarkierung, ES), auf die erst auf den hinteren Seiten das Protokoll folgt.

sierung als »human sacrifice«182 lässt den Tabubruch ihrer Aussage ermessen. Jedoch ermöglichte dieser der Presse, bestehende Privatheitsgrenzen neu auszuhandeln und den Bereich des Sagbaren zumindest partiell auf das Sexuelle auszudehnen, was bislang auf chiffrierte Andeutungen reduziert gewesen war.183 Abb. 28 Um das zu bedienen, widmete etwa die New York Evening World in ihrer Abendausgabe vom 7. Februar 1907 ihre ersten fünf Seiten Nesbits Aussage, die sie ausgiebig protokollarisch wiedergab.184 Zwar ­widersetzten sich diverse Zeitungen zu Beginn des Verfahrens noch dem neuen Protokollstil, doch sah sich selbst die New York Times gezwungen, angesichts der Exzeptionalität der Aussage, ihren Widerstand aufzugeben.185 Sie gab Nesbits

182 Wife Is Martyr for Thaw’s Sake, Chicago Daily Tribune, 8.2.1907, S. 1-3, hier S. 1. 183 Vgl. Stephen Murray Robertson: Crimes Against Children. Sexual Violence and Legal Culture in New York City, 1880-1960, Chapel Hill 2005, S. 46-8. 184 Vgl. Mrs. Evelyn Nesbit Thaw Describes How Stanford White Wronged Her, Evening World, 7.2.1907, S. 1-5, hier S. 1-5. 185 Amerikanische Medien setzten Gerichtsprotokolle erstmals im Skandal um den Beecher-Tilton-Prozess (1875) ein, siehe Anm. 164 auf S. 228. Massive Kritik verhinderte, dass es sich als journalistisches Mittel etablierte, vgl. Richard Wightman Fox: Intimacy on Trial. Cultural

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»own [!] degradation«186 größtenteils wieder, wenngleich in erkennbar reduzierter Form als die yellow papers (Abb. 28).187 Lediglich die Sun, New Yorks konservativste Zeitung, verzichtete gänzlich darauf.188 Mehrheitlich beugte sich die Tagespresse damit dieser neuen Form der Skandalberichterstattung, um einen maximalen Detailgrad zu liefern und das human interest an den Verfahren zu bedienen. Der Thaw-Prozess verankerte dadurch das Protokoll in der Gerichtsberichterstattung, sodass es keine zehn Jahre später der Journalistikprofessor Willard Gros­ venor Bleyer bereits als Standardverfahren in seinen Handbüchern empfahl.189 Die von Nesbit geschilderten sexuellen Handlungen konnten im medialen Diskurs nach wie vor nur chiffriert thematisiert werden.190 Laut Gerichtsprotokoll sparte Nesbit nicht mit Details und berichtete sogar über Blutflecke auf dem Betttuch, die sie entdeckte, als sie nach dem Missbrauch wieder zu sich kam: And then when I woke up all my clothes had been pulled off of me but a little shirt that I had and I sat up in the bed and I started to scream […] I screamed more and more and then he [White] brought a kimono over to me and he went out of the room. Then as I got out of the bed I began to scream more than ever because I saw large blotches of blood all over everything […].191 In den Zeitungen, sogar in jenen, die am plakativsten über den Prozess berichteten, wurde dieses Detail ausgelassen.192 So protokollierte die New York Evening World: Then, when I woke up all my clothes were pulled off of me, and I was in bed. I sat up in the bed, and I started to scream. […] Then I screamed, and screamed, and screamed, and he [White] came over and asked me to please be quiet, that I must not make so much noise. He said, »It is all over, it is all over.« Then I screamed, »Oh, no.« [!] And then he brought a kimono over to me and he went out of the room.193

186 187 188 189 190

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Meanings of the Beecher-Tilton Affair, in: ders./T. J. Jackson Lears (Hg.): The Power of Culture. Critical Essays in American History, Chicago 1993, S. 103-32, hier S. 109. Evelyn Thaw Tells Her Story, New York Times, 8.2.1907, S. 1-4, hier S. 1. Die Reportage auf S. 1-2, gefolgt von dem Protokoll auf S. 2-4, in ebd. Vgl. O’Connor: Courtroom, S. 222. Vgl. Willard Grosvenor Bleyer: Newspaper Writing and Editing, Boston 1913, S. 126-7, 156; ders.: Types, S. 77. Dazu rieten auch journalistische Ratgeber, wie Robert Luce: Writing for the Press. A Manual for Editors, Reporters, Correspondents, and Printers, 5., aktual. und erw. Aufl., Boston 1907, S.  172. Gleiche Chiffrierung galt im juristischen Diskurs, vgl. Odem: Delinquent Daughters, S. 58-62. Jerome sprach etwa von »the night you were drugged«, Prozessprotokoll (1907), S. 1783, UC, Container 15-16. Ebd., S. 554-5. Über die konkrete Vergewaltigung schrieb sogar der New York American: »At this point the testimony was of a character unfit for publication in The American«, William Hoster: Mrs. Thaw Shows White a Villain, New York American, 8.2.1907, S. 1-2, 4, hier S. 4. Mrs. Evelyn Nesbit  Thaw Describes How Stanford  White Wronged Her, Evening World, 7.2.1907, S. 1-5, hier S. 3.

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Nesbits Aussage wurde durch die Aussparung zwar fragmentarisch, blieb aber im Kontext eindeutig. Sie lieferte die Verbindung von Details, Gefühlen und Informatio­ nen, die ihre Geschichte authentisch und plausibel machte und zugleich bei den Zeitungsleser*innen Kopfkino auslöste. Für die Tagespresse war es hingegen völlig neu, Geschlechtsverkehr so klar anzusprechen.194 Normalerweise geschah dies, wie der Historiker Ed Cohen am Beispiel des Strafprozesses gegen Oscar Wilde wegen des Vorwurfs homosexueller Handlungen (1895) herausarbeitete, »[as] a complex web of signifiers that endlessly deferred specifying the unnamed and unnameable accusations […] in order to avoid having to specify positively the actual sexual acts«.195 Auch der Thaw-Prozess bildete hiervon noch keine Ausnahme. Reporter*innen paraphrasierten Nesbits Vergewaltigung als »terrible story«,196 »degradation«197 oder »ruin«,198 dem Synonym vorehelichen Geschlechtsverkehrs schlechthin.199 Diese Chiffren versperrten aber nicht den Blick der Leser*innen auf die eigentlichen Inhalte, sondern ermöglichten es erst den Medienschaffenden, das Thema des Sexualverhaltens und der Doppelmoral der Oberschicht öffentlich zu thematisieren. Sicherlich war hierbei auch entscheidend, dass das Thema der Sexualität bereits Teil von Nesbits Aufmerksamkeitskapital gewesen war und sich so im Prozess intensivieren lassen konnte. Nesbits Vergewaltigungserzählung war der entscheidende Ausgangspunkt für die neue Qualität dieses medialen Sensationsereignisses, das den »moralische[n] Systemcode«200 sprengte. Dabei ist einer der zentralen Anreize der Skandalisierung, bestimmte Themenfelder zu enttabuisieren, wodurch moralische Diskurse angeregt und gesellschaftliche Reflexionsprozesse ausgelöst werden.201 Dies war der Fall für Nesbits Aussage, an der im medialen Diskurs die Doppelmoral angeschnitten, die sexuelle Verwundbarkeit junger Frauen in der Großstadt thematisiert und die Fol-

194 Ex negativo belegt dies das Beispiel des Ladies’ Home Journal, dessen Herausgeber es 1906 wagte, eine aufklärerischer Artikelserie über Geschlechtskrankheiten zu veröffentlichen, und dadurch 75.000 Abonnement*innen verlor, vgl. D’Emilio/Freedman: Intimate Matters, S. 207. 195 Vgl. Ed Cohen: Talk on the Wilde Side. Toward a Genealogy of a Discourse on Male Sexua­ lities, New York 1993, S. 144. Im Kontext kriminalisierter Milieus oder Minderheiten konnte freier über sexuelle Gewalt berichtet werden, wie etwa im Vergewaltigungsfall der Italienerin Maria Barbella (1895), vgl. Marina Cacioppo: ›Curious Victories‹: The Famous Murder Case of Maria Barbella and Italian-American Women in the Press Between the 1890s and 1910s, in: Italiana Americana 18 (2019), S. 119-38, hier S. 121-2. 196 Mrs. Evelyn Nesbit  Thaw Describes How Stanford  White Wronged Her, Evening World, 7.2.1907, S. 1-5, hier S. 5. 197 Evelyn Thaw Tells Her Story, New York Times, 8.2.1907, S. 1-4, hier S. 1. 198 William Hoster: Mrs. Thaw Shows White a Villain, New York American, 8.2.1907, S. 1-2, 4, hier S. 1. 199 Vgl. Robertson: Crimes, S. 99. 200 Burkhardt: Skandal, S. 14. 201 Vgl. ebd., S. 16, 18; Adut: Scandal, S. 183-5.

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gen der Vergnügungsgesellschaft zur Disposition gestellt wurden.202 Indem sie das Tabu der sexuellen Intimität als eine der »letzten Waffen im Medienskandal«203 öffentlich machte, erlangte sie zugleich Handlungsmacht zurück, sie es nutzte, um ihren Mann zu verteidigen. Diese hatte sie, wie für Skandalisierte üblich, durch den Medienskandal bereits teilweise eingebüßt.204 Mit der Trias aus Aussage, Performanz und medialer Fremdinszenierung gelang es Nesbit, authentisch zu wirken, was besonders deutlich in dem Moment wurde, als sie im Zeugenstand von dem Missbrauch erzählte und dabei fast zusammenbrach.205 Ihre Aussage wurde so zum »spectacle of intimacy«.206 Individuelle und institutionelle Rezeptionen Doch wer rezipierte auf welche Weise diese Öffnung von Nesbits Privatheit? Stand dabei das Gerichtsverfahren oder ihr High Society-Status im Mittelpunkt? Genau diese Perspektive von Rezipient*innen zu berücksichtigen, ist eine meist geforderte, aber selten eingelöste Frage von Medienanalysen.207 Durch die wechselseitige Kopplung von Medien und Teilöffentlichkeiten bestimmen Medieninhalte alltagswelt­ liche Vorstellungen und Verhalten von Leser*innen.208 Gleichwohl wurden abgesehen von Moraldebatten bislang für den Thaw-Prozess die Intermedialität und die Rezeption durch breitere Öffentlichkeiten noch nicht detailliert untersucht.209 Doch genau diese Themen bilden das Fundament, auf dem die Medialisierung der High Society – und darüber auch die des Prozesses – beruhte, indem das Interesse der Leserschaft an ihrer scheinbaren Privatheit und einer damit vermittelten Nahbarkeit erzeugt wurde. Dabei bieten sich zwei verschiedene Untersuchungsebenen an, auf denen diese Rezeptionsfragen verfolgt werden können: Erstens die Reaktion auf die Medialisierung von Nesbits Aussage; zweitens die konkrete Rezeption ihres Auftritts vor Gericht durch die Leser*innen. In Bezug auf den ersten Punkt zeigt sich, dass die neue, detaillierte Berichterstattung zu einer regelrechten »moral panic«210 führte. Sie rief scharfe individuelle und institutionelle Kritik an der Presse hervor, da die vermeintliche Obszönität der Pro202 Vgl. Erenberg: New York Nightlife, S. 60-1. 203 Burkhardt: Skandal, S. 25. 204 Vgl. Eisenegger: Reputation, S. 37-8. 205 Vgl. Mrs. Evelyn Nesbit Thaw Describes How Stanford White Wronged Her, Evening World, 7.2.1907, S. 1-5, hier S. 2. 206 Karen Chase/Michael Levenson: The Spectacle of Intimacy. A Public Life for the Victorian Family, Princeton 2000, S. 12. 207 Vgl. Führer et al.: Öffentlichkeit, S. 16-8. 208 Vgl. Ziemann: Soziologie, S. 89-90. 209 Vgl. etwa Umphrey: Dementia Americana, S. 206. Zwar erwähnt Cardyn: Nesbit-Thaw-White Affair, S. 199-201, weitere Rezeptionsformen, doch geht sie nicht ins Detail. 210 Erich Goode/Nachman Ben-Yehuda: Moral Panics. The Social Construction of Deviance, 2.  Aufl., Chichester/Malden 2009, S. 31.

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tokollinhalte  – trotz ihrer Chiffrierungen  – die öffentliche Moral gefährden würden.211 Gegen die Veröffentlichung dieser »offensive and indecent [details]«212 gingen in einer Vielzahl an Bundesstaaten und Landkreisen Bürger*innen und Vereine, Bundes- und Staatsanwälte sowie grand juries vor.213 Darin brach sich häufig ein Stadt-Land-Konflikt Bahn über der Frage, wer das »Modernitätspotenzial der USA definieren durfte«.214 Sogar Präsident Theodore Roosevelt schaltete sich ein und ließ verlauten, er wolle in Reaktion auf die Vielzahl an Zuschriften besorgter Amerika­ ner*innen die Berichterstattung über den Thaw-Prozess verbieten lassen. Hinzu käme, dass Kanada bereits entsprechende Maßnahmen eingeleitet habe und die USA hierbei nicht hinter ihrem nördlichen Anrainer zurückstehen dürfe.215 Dies rief Abgeordnete wie Charles S. Wharton aus Chicago auf den Plan. Er brachte im Kongress in Washington, D. C., einen Gesetzesvorschlag ein, der die verbreiteten Bedenken und Argumente bündelte. Darin hieß es: [A]s a protection to the honor and good name of the womanhood of America, the President of the United States is hereby authorized and empowered to exclude from the mails of the United States any and all publications containing the revolting details of this case and others of a similar nature.216 Der Text reflektierte, wie groß das öffentliche Interesse an dem Fall war, wie stark die Aussage als Normbruch verstanden und als welcher Tabubruch die Berichterstattung über das Thema Sexualität empfunden wurde. Auch wenn die Zensurforderungen ergebnislos blieben, da sich die Zeitungen erfolgreich zur Wehr setzten und sich legislative Initiativen verliefen, setzten sie die Medien dennoch unter enormen Rechtfertigungsdruck. Frank I. Cobb, Chefredakteur der New York World, verteidigte die Publikationspraxis mit klassischen Argumenten der Sensationspresse, wie dem journalistischen Objektivitätsanspruch und dem pädagogischen Mehrwert der schockierenden Inhalte.217 Zudem hatte er schon in vorherigen Leitartikeln den Fall eng mit der Klassenfrage verknüpft,218 womit er 211 Vgl. Umphrey: Dementia Americana, S. 206. 212 So zitiert in Papers Indicted on Thaw Reports, New York Times, 15.2.1907, S. 2. 213 Vgl. The Exposure of Vice, in: Nation 84:2173 (21.2.1907), S. 169-70, hier S. 169. Von Massachusetts im Nordosten der USA, über Kentucky im Mittleren Westen bis in das südliche Texas berichteten Zeitungen über entsprechende Initiativen, vgl. Papers Indicted on Thaw Reports, New York Times, 15.2.1907, S. 2. 214 Hochgeschwender: Amerikanische Religion, S. 123; dieser Konflikt entbrannte immer wieder an sichtbaren Zeichen des städtischen Norm- und Moralwandels, vgl. ebd., S. 122-3. 215 Vgl. Roosevelt Plans Thaw Censorship, New York Times, 12.2.1907, S. 1-2, hier S. 1; zu Kanada: Canada’s Mails Bar Thaw Revelations, Evening Telegram, 9.2.1907. 216 Zit. nach Papers Indicted on Thaw Reports, New York Times, 15.2.1907, S. 2. 217 Vgl. Frank Irving Cobb: An Important Trial, Evening World, 12.2.1907, S. 12. 218 Frank Irving Cobb: On Trial, Evening World, 8.2.1907, S. 16. Dieses Argument ist typisch für die Berichterstattung über (sexuelle) Sensationsprozesse um 1900, vgl. Siemens: Metropole, S. 310-1.

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offensichtlich einen Nerv der Leserschaft traf. So betonte etwa C. H. Walling aus Port Monmouth, New Jersey, in einem Leserbrief, dass die Berichterstattung als öffentliche Kontrollinstanz die Gleichheit vor dem Recht sicherstelle.219 Die yellow press nutzte damit dieselben Argumente wie konfessionelle Stimmen in der Interimszeit zwischen Mord und Strafverfahren. Vor allem baptistische Geist­ liche sprachen sich für die wortgetreue Veröffentlichung der Prozessaussage aus.220 Denn sie beinhalte nach dem Reverend T. E. Bartlett, Sprecher der Union Federation of the Evangelical Ministers of Providence and Its Vicinity aus Providence, Rhode ­Island, die »greatest moral lessons of the age.«221 Diese Forderung war insofern bedeutsam, als dass konfessionelle Gruppen den Sexualdiskurs maßgeblich mitprägten und ihre Vertreter*innen einen im Vergleich zu anderen Diskursteilnehmer*innen ungleich höheren Redeanteil besaßen.222 Ihr Hinweis, es handle sich um ein mora­ lisches Lehrstück, bestätigte damit einerseits das Thaw'sche Narrativ und war andererseits ein gewichtiger Beitrag zur Legitimierung von Nesbits Opferrolle. (Un-)Mittelbares Spektakel: Das Erlebnis des Thaw-Prozesses Unabhängig von dieser zivilgesellschaftlichen und politischen Kritik betonten insbesondere die Sensationsmedien weiter das Spektakuläre des Prozesses, um damit die Aufmerksamkeit ihrer Leser*innen zu binden. Dies bläute ihnen der New York Evening Telegram in einem speziellen Kasten auf der Titelseite ein: »You cannot afford [!] to miss this complete [daily] chronicle of the most famous trial of modern times.«223 Dabei stellt sich die Frage, wie Leser*innen diese Darbietung rezipierten: Fühlten sie sich angesprochen, folgten sie den medialen Interpretationen oder wichen sie davon ab?224 Insbesondere die Arbeiten von Jean Lutes und Martha Umphrey bleiben mit ihren medienwissenschaftlichen respektive narratologischen Analysen des Prozesses entsprechende Antworten schuldig.225 Die Beantwortung dieser Fragen kann jedoch helfen zu zeigen, ob und wie Evelyn Nesbits Geschichte und mediale Interpretation, die sie auf Basis ihres High Society-Status erzählte, sich bei den Leser*innen verfingen. Dabei zeigt sich, dass verschiedene Teilöffentlich­

219 Vgl. Letters from the People, New York World, 23.2.1907, S. 8. 220 Dies reiht sich in die Versuche der fundamentalistischen Erweckungsbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein, viktorianische Moralvorstellungen stärker in Städten zu verbreiten und gesetzlich zu verankern, vgl. Hochgeschwender: Amerikanische Religion, S. 136. 221 Vgl. Clergy Want Testimony, New York Times, 12.2.1907, S. 2. 222 Vgl. Janet Staiger: Bad Women. Regulating Sexuality in Early American Cinema, Minneapolis 1995, S. 18. 223 Evening Telegram’s Stenographic Report of the Thaw Trial, New York Evening Telegram, 8.2.1907, S. 1. 224 Vgl. Müller: Suche, S. 22-3; Müller: MedienAneignung, S. 6. 225 Vgl. Lutes: Sob Sisterhood; Umphrey: Dementia Americana.

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keiten Nesbits Aussage rezipierten, Details über ihre Person konsumierten und sie damit zum medialen Produkt machten. Mit der medial vermittelten Teilhabe sowie der Möglichkeit, selbst Teil des Spektakels zu werden, lassen sich zwei Rezeptionsformen unterscheiden.226 Letzteres zeigte sich besonders deutlich am Morgen von Nesbits mit Spannung erwarteten ersten Vernehmungstags, als rund 4.000 Personen vor dem Gerichtsgebäude erschienen und versuchten, hinein zu gelangen.227 Da Extrablätter den skandalösen Inhalt von Nesbits Aussage im Laufe des Vormittags verkündet hatten, schwoll die Menschenmenge zur Nachmittagssitzung auf rund 10.000 New Yorker*innen an.228 Nachdem es Verletzte gegeben hatte und Familienmitglieder der Thaws körperlich bedrängt worden waren,229 reglementierte Richter Fitzgerald den Zutritt auf mit dem Fall befasste Personen.230 Diese Zuschauermengen waren die Folge eines wechselseitigen Verstärkungsprozesses zwischen Medienberichterstattung und rezipierenden Öffentlichkeiten: Zuerst erzeugte die Presse mit ihrer Berichterstattung den spektakelartigen Skandalprozess, woraufhin sie die dadurch mobilisierten Personen als Belege ihrer Behauptung verwendeten.231 Die Präsenz von Schaulustigen bei angekündigten Medienereignissen kann als Lackmustest ihrer Wirkmächtigkeit betrachtet werden.232 Die New Yorkerin Suesi klagte ihrer Freundin, Miss J. H. Thurlow aus Dorchester, Massachusetts, dass sie erfolglos versucht habe, in den Gerichtssaal zu gelangen. Auf eine Ansichtskarte des Strafgerichtshofs schrieb sie: »Tried to get in here yesterday, but were informed that ladies are not allowed in side [sic].«233 Dass das Thaw-Verfahren nicht nur ein mediales, sondern ein gesellschaftliches Spektakel war, verdeutlichte Suesis Verbindung von Ort, Ereignis und eigener Teilnahme, womit sie sich für ihre Freundin zum Teil des Medienspektakels machte.

226 Diese Unterscheidung treffen die Celebrity Studies für das individuelle Fan-Sein und das Gemeinschaftserlebnis, vgl. Sean Redmond: Celebrity, London/New York 2019, S. 228-9. 227 Vgl. Morbid Crowd Begs Sight of Evelyn Thaw, Evening Telegram, 8.2.1907, S. 5. 228 Vgl. 10,000 Persons Turned Away at Thaw Trial, New York World, 7.2.1907, S. 5. 229 Vgl. Langford: Murder, S. 85; Thaw  Trial  Begins;  Defense Still  Hidden, New York Times, 24.1.1907, S. 1. 230 Vgl. Woman Are Barred From the Court To-Day, Evening World, 11.2.1907, S. 2. 231 Vgl. diesen medialen Zirkelschluss in Women Exkluded from Court Room. Lodgers Get In, New York American, 12.2.1907, S. 5. Dagegen betont Niklas Luhmann die stärkere »Eigenwertproduktion« der Zeitungen, da sie nicht die Reaktionen ihrer Leser*innen abwarten könnten, vgl. ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2001, S. 1101-2, Zitat: S. 1102. In vorliegendem Fall darf jedoch eine starke Leserorientierung angenommen werden, vgl. Anm. 104. 232 Vgl. Gerhards/Neidhardt: Strukturen, S. 55. 233 Postkarte »Criminal Court Building and Bridge of Sighs«, gelaufen am 21.3.1907, UC, File 2.

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Die Verhandlung selbst inszenierte die yellow press als Gesellschaftsereignis der Oberschicht und High Society, da Upper Class-Herren und Politiker, wie der Pittsburgher Kongressabgeordnete John Dalzell, durch Kontakte ebenso Zugang erhielten wie »chorus girls, actors and other Broadway characters«.234 Im Saal waren High Society-Mitglieder wie Aimée Crocker (1864-1941) und Richard Harding Davis, die Schauspielerin Cissie Loftus (1876-1943) oder May MacKenzie anwesend.235 Insbesondere Letztgenannte erinnerte mit ihrer farbenfrohen Kleidung  – »as if for a Broadway promenade«236 – das anwesende Publikum an Nesbits Vergangenheit als Chorus Girl. Damit spiegelte die Situation vor Ort die Personenkonstellationen wider, die vor Gericht verhandelt wurden. Für die Schaulustigen bestand die Chance, den Personen real begegnen zu können, zu denen sie, nach dem Soziologen John B. Thompson, über die Medien bereits »a kind of non-reciprocal intimacy at distance«237 aufgebaut hatten. Dass hierbei emotionale Beziehungen und der sensationelle Charakter des Verfahrens zusammenfielen, verdeutlichte der New York Evening Telegram, der eine vor dem Gerichtshof anwesende Frau mit dem Ausruf zitierte: »Oh, if I only get a glimpse of that girl and hear her story I’d consider it the happiest moment of my life.«238 Damit führte das Interesse der Leserschaft an den High SocietyMitgliedern und insbesondere Evelyn Nesbit zur wechselseitigen Verstärkung von Angebot und Nachfrage nach diesem medialen Spektakel.239 Dass der Prozess ein gesamtgesellschaftliches Momentum entwickelte, zeigen die Rezeptionen weiterer, nicht anwesender Teilöffentlichkeiten, die durch alle Gesellschaftsschichten gingen. So ließ sich auf der einen Seite die politische Elite in ­Washington, D. C., von dem Gesellschaftsskandal fesseln, und statt Senats- oder Kommitteesitzungen beizuwohnen, lasen Senatoren gemeinsam die neuesten Nachrichten über den New Yorker Fall.240 Auf der anderen Seite verfolgten normale Bürger*innen in anderen Städten den Prozessverlauf. So besuchte Sue R. Preston, eine junge Frau Anfang 20 aus der Detroiter Mittelklasse, täglich die örtliche Bücherei, um über das Verfahren zu lesen  – sonntags verbrachte sie dort teilweise den ganzen Tag mit der Lektüre verschiedener Zeitungen. Besondere Details, wie, dass Nesbit sich täglich die Haare wasche, hielt sie in ihrem Tagebuch fest. Sie hoffte, dass Harry Thaw freikommen möge, und bedauerte »poor Evelyn« während ihres Kreuzverhörs.241

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Morbid Crowd Begs Sight of Evelyn Thaw, Evening Telegram, 8.2.1907, S. 5. Evelyn Thaw’s Story True, Admits Jerome to the Jury, Evening World, 30.1.1908, hier S. 1. Thaw Approves Three Jurors for His Trial, Evening World, 23.1.1907, S. 1-2, hier S. 2. Thompson: Political Scandal, S. 86. Morbid Crowd Begs Sight of Evelyn Thaw, Evening Telegram, 8.2.1907, S. 5. Vgl. Fritzsche: Talk, S. 379, 382. Thaw Upset Congress, New York Times, 9.2.1907, S. 3. Vgl. Sue R. Preston Diary, Einträge des Februars 1907, insb. Einträge vom 21. bis 24.2.1907, Zitat vom 23.2.1907, VPISU, UL, SC, Ms2008-034.

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Entsprechende Zeitungslektüren über den Thaw-Prozess vermittelten nach Knut Hickethier die »Suggestion einer unmittelbaren Teilhabe an […] [dem] kulturellen Geschehen, das gleichwohl medial erzeugt«242 war. Dementsprechend überrascht es nicht, dass Sue R. Preston in ihren Tagebucheinträgen sprachlich und interpretativ die empathischen Pressestimmen über die Skandalisierten übernahm. Ihre Reaktion auf die Thaws entsprach dem Gefühlsspektrum, das die Sensationspresse in Form des »emotional regime«243 in ihrer Berichterstattung über Nesbit erzeugt hatte.244 Dies zeigt, wie die (Gerichts-)Berichterstattung die wahrgenommene Realität der Menschen mit zu erzeugen half und lenkte.245 Doch muss diese Erklärung differenziert werden. Die Annahme, dass die Deutung der High Society rein unidirektional durch die Medien erfolgte, greift zu kurz, würde das doch den Eigensinn und die Handlungsmacht der Rezipient*innen ausblenden.246 Diese These stützten Frank Böschs Beobachtungen über die Medienrezeption von Arbeitern während des gleichen Zeitraums im Deutschen Reich. Auch unter diesen führte die eingehende Auseinandersetzung mit sensationellen Medienereignissen, die nicht unmittelbar ihre eigene Lebenswelt betrafen, zu intensiven Debatten mit stark emotionalen Affekten.247 Eben dies zeigt etwa eine von der Chicagoer Sozialreformerin Jane Adams (1860-1935) geschilderte Episode, in der die Tochter einer Bekannten im Streit drohte: »Some day I shall be taken into court and then I shall dress just as Evelyn did and face my accusers as she did in innocence and beauty.«248 Dies macht deutlich, wie trotz der starken medialen Kritik an Evelyn Nesbits Umfeld, das ihr Schicksal verursacht habe, ihr Lebensweg scheinbar dennoch als mögliches Vorbild für Jugendliche dienen konnte. Damit überlagerte sich die affektive Nähe der Berichterstattung mit der Rezeption und der Identifikation mit Nesbit.249 Zu den beschriebenen Rezeptionsformen trat die Rezeption von Nesbits Sichtbarkeit, welche entlang der High Society-Zugangsfaktoren erfolgte: So prägte das Thema Konsum als integraler ­Bestandteil der society pages ganz maßgeblich Modetrends und damit auch Kleiderwahl und Kaufentscheidungen von Leserinnen. Diese Konsumführerschaft hatten Ende des 19. Jahrhunderts Schauspielerinnen den U ­ pper 242 Knut Hickethier: Zeitgeschichte in der Mediengesellschaft, in: ZH/SCH 6:3 (2009), S. 347-66, hier S. 358. 243 William M. Reddy: The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, Cambridge 2001, S. 124. 244 Vgl. ebd., S. 125-6. 245 Vgl. Siemens: Metropole, S. 40. 246 Vgl. Führer et al.: Öffentlichkeit, S. 16-8. Gleichwohl gilt diese Monokausalität überwiegend für die Sichtbarkeit der High Society, vgl. Thompson: Shifting, S. 56. 247 Vgl. Frank Bösch: Zeitungsberichte im Alltagsgespräch: Mediennutzung, Medienwirkung und Kommunikation im Kaiserreich, in: Publizistik 49:3 (2004), S. 319-36, hier S. 322, 324, 330. 248 Jane Adams: Twenty Years at Hull-House. With Autobiographic Notes, New York 1912, S. 433. 249 Zum Zusammenhang zwischen medialer Sichtbarkeit und affektiver Nähe vgl. Redmond: Celebrity, S. 17-9.

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Abb. 29: Im linken Bild zeigt die rechte Studioaufnahme den »Evelyn Thaw Hat«, einen schwarzen Strohhut mit glatten Straußenfedern. Im rechten Bild ist ein Schaubild von Nesbits Kleidung – hier während des zweiten Prozesses – abgedruckt, das ihr Outfit entschlüsselt und damit ihre modische Leitfunktion verdeutlicht.

Class-Damen streitig gemacht, eine Funktion, die zunehmend an die High Society überging.250 Diese Zuschreibung übernahm Evelyn Nesbit in doppeltem Sinne durch ihren Zutritt in die High Society aus dem Theatergewerbe und ihrem Aufstieg in die Upper Class. Die detaillierten Beschreibungen ihrer Kleider führten dazu, dass Abb. 29 nach ihrem Auftritt im Zeugenstand nicht nur auf der New Yorker 5th Avenue Frauen in ihrem Kleidungsstil flanierten, sondern ihr Modegeschmack in ganz Amerika nachgeahmt wurde.251 Dies ging so weit, dass die Daily News den von Nesbit getragenen Hut nach ihr benannte (Abb. 29). Aus populärgeschichtlicher Perspektive überschreiben sich darin medial dargestellte Praktiken mit der eigenen Lebenswirklichkeit.252 Mit ihren Konsumentscheidungen imitierten die New Yorkerinnen Nesbits High Society-Status und bestätigten ihre Rolle als modische Trendsetterin, was nochmals ihren »in«-Faktor unterstrich und ihre Zugehörigkeit zur High Society unter Beweis stellte.

250 Vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 122-3; Daloz: Sociology, S. 64-8. So konstatierte die Broadway-Darstellerin und Autorin Clara Morris bereits 1902, dass »the actresses of a great city are supposed to set the fashion for the coming season.« Dies.: Stage Confidences. Talks About Players And Play Acting, London 1902, S. 149. 251 Zur 5th Avenue vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 196; Charles Samuels: The Girl in the Red Velvet Swing, New York 1953, S. 19. Etwa für Chicago vgl. Adams: Hull-House, S. 433. 252 Kaspar Maase betont diese Inbezugnahme als eine der wesentlichen Faktoren der Populärkultur, vgl. ders.: Populärkulturforschung, S. 125.

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Performanz im Zeugenstand Die vielfältigen Rezeptionsformen waren eine Folge von Evelyn Nesbits konzertiertem Auftritt vor Gericht: Ihr Erscheinungsbild referierte auf ihr Verhalten, beides passte zu ihrer Aussage, die wiederum auf die Verteidigungsstrategie abgestimmt war. Den Raum des Gerichts eignete sich Nesbit mit ihrer Performanz gleichsam an und konnte im Zentrum der Aufmerksamkeit ihre Aussage überzeugend vermitteln.253 Dazu inszenierte sie Strukturkategorien, die auch für die Sichtbarkeit in der High Society zentral waren: Körper, Alter und Authentizität. Zwar behauptete Evelyn Nesbit, ihr äußeres Erscheinungsbild nicht auf ihre Aussage abgestimmt zu haben,254 doch legt ihre Kleidung das Gegenteil nahe: »Dressed as a schoolgirl might have been dressed by her mother […] [the cloths] accentuating the girlishness of her form«.255 Dieser Inszenierung waren sich Pressevertreter*innen bewusst, sodass sie vorab einen auf Gerichtstermine spezialisierten Schneider interviewten. Er bestätigte, dass die Kleidung zum gerichtlichen Narrativ passen müsse. Es sei daher »an art in itself, this making of frocks for the jury and the newspaper photographers«.256 Dies gelang Nesbit, indem sie während ihrer Aussage ihr äußeres Erscheinungsbild mit dem ihrer Geschichte überlagerte. Sie betonte ihr kurzes, für Mädchen übliches Kleid, das sie bei ihrem ersten Treffen mit Stanford White trug. Zudem verknüpfte sie ihren Missbrauch kausal mit ihrer Jugendlichkeit, als sie schilderte, wie White sich gerechtfertigt habe: »Then he told me that only very young girls were nice and that the thinner they were the prettier they were«.257 Im Zeugenstand verstärkte ihr Körper die Überlagerung ihrer Aussage mit ihrem Äußeren, indem sie »pitiably small and paltry and weak […] almost like a tired child«258 wirkte. Mit dieser Performance schuf Nesbit den Eindruck, noch immer die 16-Jährige zu sein, deren Geschichte sie erzählte.259 Damit schrieb sie sich in zeitgenössische Debatten um die Schutzbedürftigkeit junger, weißer Mädchen vor sexuellem Missbrauch ein. Diese hatten bereits zur Anhebung der sexuellen Mündigkeit und Verschärfung des Sexualstrafrechts geführt, vor deren Hintergrund Whites Handlungen umso devianter erschienen.260 253 254 255 256

Vgl. Erber/Robb: Introduction, S. 7. Vgl. Nesbit: Story, S. 129; dies.: Prodigal Days, S. 195-6. Evelyn Thaw Tells Her Story, New York Times, 8.2.1907, S. 1-4, hier S. 1. ›Court‹ Gowns for the Thaw Trial, o. Z., [Jan./Feb. 1907], in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 54, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358. 257 Prozessprotokoll (1907), S. 556, UC, Container 15-16. Zum Kleid vgl. ebd., S. 531. 258 Mrs. Evelyn Nesbit  Thaw Describes How Stanford  White Wronged Her, Evening World, 7.2.1907, S. 1-5, hier S. 1. 259 Nesbit erscheine wie »a slip of fifteen«, ebd., S. 1. Vgl. so auch Lutes: Front Page Girls, S. 83. 260 Vgl. Estelle B. Freedman: Redefining Rape. Sexual Violence in the Era of Suffrage and Segregation, Cambridge/London 2013, S. 126-7, 132-6. Erst seit den 1880er Jahren wurde Pädophilie verstärkt problematisiert, vgl. Julie Peakman: The Pleasure’s All Mine. A History of Perverse Sex, London 2013, S. 317-20. Ohne explizit Thema zu werden, war Nesbits race für ihre Kredi-

»neither victim nor vampire« https://doi.org/10.5771/9783835348974

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Laut David Slater zeigte Nesbits Auftritt wieder die Ambivalenz ihrer Person, da sie durch die Entsexualisierung und Agendalosigkeit als Schulmädchen zugleich unschuldig und erotisch wirkte.261 Zwar mochte das auf Nesbits frühe High SocietyPhase zutreffen, doch unterschätzt Slater hierbei meines Erachtens die Wirkmächtigkeit von Nesbits Auftritt auf die anwesenden Medienvertreter*innen, die in ihren Artikeln über die Aussage auf erotische Anspielungen verzichteten. Vielmehr verlieh Nesbit diese Neuinszenierung ihrer kindlichen Unbescholtenheit eine paradoxe Stärke: »Her childhood has revenged itself upon its violators by becoming perpetual.«262 Obwohl zu Beginn noch vereinzelte Stimmen Nesbit vorwarfen, ihren Auftritt inszeniert zu haben, verfestigte sich letztlich der Eindruck ihrer Authentizität als naive und verletzliche junge Frau.263 Mit ihrer Aussage habe sie sich geopfert, »[to be crucified] for the sake of her husband«.264 Insgesamt gilt zu vermuten, dass Evelyn Nesbit bei ihrem Zeugnauftritt sowohl die gerichtlichen als auch die medialen ­Öffentlichkeiten mitdachte und die Blicke der Publika antizipierte, indem sie sich deren Erwartungen anpasste.265 Eben diese dürfen für den Erfolg performativer Aufführung nicht vernachlässigt werden, da stets die »Ko-Präsenz von Akteur[*inn]en und Zuschauer[*inne]n, das Flüchtige und Transitorische«266 mitgedacht werden müssen. Indem im Gerichtssaal »[m]en and women wept as this life-story was unfolded«,267 wie die Evening World versicherte, legitimierten diese die von der Presse aktivierten feeling rules und trugen mit ihrem Verhalten zur Akzeptanz von Nesbits Auftritt vor Gericht bei. Somit verifizierte Nesbit die Öffnung ihrer Intimsphäre mit narratologischen, performativen und visuellen Elementen, womit sie den Logiken der Sichtbarmachung folgte, die sie in der High Society erprobt hatte. Durch die Sensationsmedien an die Leser*innen transferiert, rezipierten diese erneut die Frage der moralischen Grenzverschiebung des Privaten. Dies machte evident, dass solche, aus der High Society bekannten Einblicke bereitwillig und durchaus eigensinnig aufgenommen sowie teilweise in die eigene Lebenswirklichkeit übertragen wurden. bilität ausschlaggebend, da die »[performance of] pure white womanhood« entscheidendes Erfolgskriterium in Vergewaltigungsprozessen war, vgl. Ariela Julie Gross: What Blood Won’t Tell. A History of Race on Trial in America, Cambridge 2008, S. 58. 261 Vgl. Slater: American Girl, S. 105. 262 Nixola Greeley-Smith: Evelyn Thaw’s Impressive Confession of Stanford White’s Crime Will Likely Outweigh All the Evidence Against Her Husband, New York World, 11.2.1907, S. 3. 263 Vgl. etwa Joseph Fox: How a Big Murder Trial is Staged, in: Munsey’s Magazine (Sept. 1907), S. 811-6, hier S. 815; Lutes: Front Page Girls, S. 83. 264 Mrs. Evelyn Nesbit  Thaw Describes How Stanford  White Wronged Her, Evening World, 7.2.1907, S. 1-5, hier S. 1. 265 Vgl. Müller: MedienAneignung, S. 6. 266 Fischer-Lichte: Performance, S. 41. 267 Mrs. Evelyn Nesbit  Thaw Describes How Stanford  White Wronged Her, Evening World, 7.2.1907, S. 1-5, hier S. 1.

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Idem sich Nesbit als Kindfrau inszenierte, schien sie ihre Vergewaltigungsgeschichte zu bestätigen, was erheblich die Überzeugungskraft ihrer Erzählung – und damit die Erfolgsaussicht der Verteidigung – steigerte.268 Nicht nur setzte sie ihre Kleidung bewusst ein, um ein bestimmtes Fremdbild zu erzeugen, sondern griff auf für sie nützliche Bildkonventionen und Diskurse zurück, wie Vorstellungen von Jugendlichkeit. Gemeinsam verdeutlicht dies den von ihr vollzogenen medialen Professionalisierungsprozess.

»Vivisection of a woman’s soul«: Evelyn Nesbit im Kreuzverhör Aus der Rückschau von sieben Jahren stellte Evelyn Nesbit fest, dass sie erst im Zuge ihrer Aussage der Theatralität der Verhandlung und der Konkurrenz der juristischen Narrative gewahr wurde: »It dawned on me that this trial was a game – a game played according to set rules.«269 Dass sie dieses Spiel beherrschte, demonstrierte sie im Kreuzverhör. Darin parierte sie die Angriffe des Staatsanwalts William T. Jerome auf ihr Privatleben, wobei dennoch bestimmte, aus der High Society-Berichterstattung bekannte Vorkommnisse auf sie zurückfielen. Hatte bislang das Theatralische den Gerichtsprozess dominiert, rückte nun durch das Kreuzverhör und dessen Personenkonstellation das Agonale ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Ersteres dient im angloamerikanischen Strafrecht der Wahrheitsfindung, da durch die Befragung der gegnerischen Zeug*innen deren Glaubwürdigkeit infrage gestellt, Zweifel unter den Juror*innen gesät und letztlich die eigene Rekonstruktion des Falls gestärkt werden soll.270 Letzteres ergab sich aus den beiden Hauptakteur*innen, da neben Evelyn Nesbit der medial und politisch sichtbare Bezirksstaatsanwalt von Manhattan das Verhör führte. Seit den 1890er Jahren hatte Jerome eine steile Karriere durch seinen Kampf gegen Korruption bei der New Yorker Polizei und Stadtverwaltung gemacht.271 Seinem Ruf half, dass er sich bewusst für die Medien inszenierte: So führte er etwa Razzien gegen illegale Spielhöllen persönlich an und machte den Betreibern noch vor Ort den Prozess, wobei er sich von Reportern und Fotografen begleiten ließ, die seine Aktionen medienwirksam in Szene setzten.272 268 Um 1900 stieg laut Stephen Robertson die Wahrscheinlichkeit von Verurteilungen in Vergewaltigungsprozessen signifikant an, wenn die Betroffenen minderjährig waren, vgl. ders.: Crimes, S. 54. 269 Nesbit: Story, S. 136. 270 Vgl. Paul Gewirtz: »Narrative and Rhetoric in the Law«, in: Brooks/Gewirtz: Law, S. 2-13, hier S. 7-8. 271 Vgl. O’Connor: Courtroom, S. 56-60, 66-9. Zu Jeromes Korruptionsermittlungen gegen die demokratische Partei von New York, der sogenannten Tammany Hall, vgl. Richard F. Welch: King of the Bowery. Big Tim Sullivan, Tammany Hall, and New York City from the Gilded Age to the Progressive Era, Albany 2009, S. 23-8, 60-1, 65-6. 272 Vgl. O’Connor: Courtroom, S. 70-3.

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Mit diesen populären Maßnahmen akkumulierte er das Aufmerksamkeitskapital als unbestechlicher Kämpfer gegen Korruption und Verbrechen, das ihm 1901 und 1905 die Wahl zum Bezirksstaatsanwalt sicherte.273 Während seiner Amtszeiten führte er nicht nur spektakuläre Prozesse gegen die organisierte Kriminalität, sondern auch mehrere sensationelle Prozesse gegen bekannte Personen des Broadway, die seinen Ruf als brillanter und unbestechlicher Staatsanwalt festigten.274 Thaw stand damit ein würdiger Gegner gegenüber, der um die Relevanz medialer Inszenierung wusste. Den Prozess sah Jerome dabei als repräsentativen Kampf zwischen Gerechtigkeit und Vermögen; ein Thema, das er mit seinen beruflichen Ambitionen verknüpfte.275 Als er Nesbit ins Kreuzverhör nahm, konnte Jerome zwar den Inhalt ihrer Aussage nicht angreifen, doch Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit säen, indem er ihr Selbstbild als tragisches, aber normkonformes Opfer zu widerlegen suchte.276 Das Kreuzverhör lieferte unfreiwillige Einsichten in Nesbits und Thaws Privatheit und schuf ein kompromittierendes Gegennarrativ zu Nesbits Erzählung. Dabei gehe ich von der These aus, dass es paradoxerweise gerade Nesbits partielle Entmachtung durch Jerome war, die ihr dazu verhalf, die Deutungshoheit über ihr Fremdbild und ihren High Society-Lifestyle zu verteidigen. Die neuen Einblicke in die Leben der Akteur*innen gefährdete zwar Nesbits und Thaws Verteidigungsstrategie, festigten aber mittelfristig ihren High Society-Status. Nesbits Kreuzverhör: Einblicke in die unsichtbaren Seiten der High Society Während die Öffentlichkeit darauf wartete, durch das Kreuzverhör neue Details aus den Privatleben der Protagonist*innen zu erfahren, setzte Nesbit die Aussicht darauf stark unter Druck.277 Isoliert in ihrem Hotelzimmer und unter Schlafstörungen leidend, versuchte sie sich in einem Brief an ihren Ehemann – in der für ihre Korrespondenz typischen dritten Person – Zuversicht einzureden: »To-morrow Her will most likely be cross-examined most unpleasantly by the Dist. Att’y [Jerome] – her will stick to the truth hard so then Jerome cannot hurt at all.«278 Diese Befürchtungen waren durchaus berechtigt: Jerome konfrontierte sie mit Gerüchten, wonach sie eine Abtreibung gehabt oder mit »the breast exposed

273 Vgl. ebd., S. 74-82, 115-6. 274 Vgl. ebd., S. 146-70. Dazu zählten die Verfahren gegen den Town Topics-Herausgeber D’Alton Mann (1905, Erpressung), den Broadway-Anwalt Abraham »Abe« Hummel (1906-7, Justizbehinderung) oder das Chorus Girl Nan Patterson (1904-5, Mord). 275 Vgl. ebd., S. 211-2. 276 Dies antizipierten die Gerichtsreporter*innen, vgl. Evelyn Nesbit Thaw to Take Up Her Life Story Again On Monday, Evening World, 16.2.1907, hier S. 1. 277 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 204-5; Brief von Evelyn Nesbit an Harry Thaw (24.2.1907), S. 1, UC, Folder 10, Index K-L. 278 Brief von Evelyn Nesbit an Harry Thaw (12.2.1907), UC, Folder 10, Index K-L

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nude«279 gemodelt habe.280 Zwar widersprach sie beidem, doch nutzte er diese Angriffe auf ihren Körper, um stereotype Zweifel an ihrer Tugendhaftigkeit und Keuschheit zu wecken.281 Da Nesbit mit ihrer Vergewaltigungsaussage ihre Jungfräulichkeit zur Disposition gestellt hatte, konnte sie dieses »[symbol] of control over communal integrity and purity«282 nicht mehr als schützendes Argument gegen Jerome gebrauchen.283 So rückte er Nesbit wieder stärker in den herrschenden Moraldiskurs, demzufolge Abweichungen von der ideologischen Sexualmoral als deviantes Verhalten und Bedrohung der gesellschaftlichen Integrität galten.284 Ihr Körper wurde so erneut zum Austragungsort und Gegenargument ihres Moralanspruchs. Ähnlich problematisch für Nesbits Fremdbild war, dass Jerome bislang nicht sichtbare Facetten ihres Privatlebens und Konsumverhaltens offenlegte. Dazu ­gehörten unbeaufsichtigte Männerkontakte während ihrer Modell- und Schau­ spielzeit,285 die noch unverheirateten Europareisen mit Thaw und Pariser Nachtclubbesuche.286 So sehr diese Details ihr zuvor aufgebautes Narrativ beschädigten, so sehr aktualisierte es ihren High Society-Status: Medien wie der Morning Telegraph griffen die Geschichten auf und nahmen sie zum Anlass, erneut ausführlich über ihren High Society-Lifestyle in Europa zu berichten. So erläuterte er seinen Leser*innen den im Kreuzverhör erwähnten Pariser Nachtclub Rat Mort: Diesen anrüchigen Ort würde keine respektable Französin, jedoch amerikanische Touristinnen besuchen, um dort den Kitzel des »[s]lumming« zu erleben.287 Nesbit musste in diesem Zuge eingestehen, gleichzeitig von Thaw und White Luxus- und Geldgeschenke angenommen zu haben.288 Das kehrte ihr bisher gepflegtes Cinderella-Motiv um und ließ sie als berechnende junge Frau erscheinen, die ­finanziell von ihren Partnern zu profitieren suchte.289 Diese unfreiwilligen Einblicke 279 Prozessprotokoll (1907), S. 1464, UC, Container 15-16. 280 Vgl. ebd., S. 1885-9. Dort, wo die Berichterstattung sinngemäß von den Protokollaussagen abweicht, wird dies explizit thematisiert. 281 Vgl. D’Emilio/Freedman: Intimate Matters, S. 146-7. 282 Davis: Virgin Body, S. 11. 283 Vgl. ebd., S. 3-5, 11; Smith: Social, S. 34. 284 Vgl. Graham J. Barker-Benfield: The Horrors of the Half-Known Life. Male Attitudes Toward Women and Sexuality in Nineteenth-Century America, 2. Aufl., New York 2000, S. xiii. 285 Vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 1525-36, UC, Container 15-16. 286 Vgl. ebd., S. 1634-5, 1807-29, insb. S. 1808-10. 287 Paris Women Shun ›Rat-Mort‹, Morning Telegraph, 1.3.1907. Zur Jahrhundertwende war das Rat Mort einer der interessantesten und zugleich anrüchigsten touristischen Orte in Paris, siehe Anm. 117 auf S. 73. 288 Vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 1552-76, 1582-6, 1923-5, 2071-9, 2124-5, UC, Container 15-16. Zwar galt Konsum zunehmend als Selbstverwirklichung und Tugend – wozu die High Society selbst beitrug –, doch war Luxuskonsum noch immer schwer mit Vorstellungen von true womanhood vereinbar, vgl. Leach: Land, S. 148-9. 289 Der Begriff des gold digger, einer Frau auf der Suche nach einem reichen Ehemann, prägte erst gleichnamige Broadway-Musical »The Gold Diggers« (1919).

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untergruben ihr Fremdbild als normkonformes Mittelklassemädchen und agendaloser Spielball der Männer. Noch problematischer waren Jeromes Fragen über Nesbits Verhältnis zu White. Zwar konnte er die Geschichte ihres Missbrauchs trotz seiner Betonung ihres alkoholisierten Zustands am Tatabend nicht erschüttern.290 Widersprüchlichkeiten erzeugte aber Nesbits Eingeständnis, noch Monate danach nicht nur engen Kontakt mit White, sondern auch eine sexuelle Beziehung mit ihm gepflegt zu haben.291 Ihre rund zehnmaligen Treffen im Herbst und Winter 1902 steigerte die Sensationspresse zu fast täglichen Kontakten.292 In diesem Zuge erzielte Jerome einen weiteren, wichtigen Vernehmungserfolg, der zudem eine Erklärung für Nesbits damaliges Verhalten lieferte: Er bat sie, White zu charakterisieren, woraufhin sie zu Protokoll gab, er sei »a very kind friend« gewesen. »[O]utside of this one terrible thing about Stanford White he was a very great man […]. He was kind and considerable and exceedingly thoughtful«.293 Nesbits Sympathiebekundung warf die Frage auf, welchem der beiden Männer eigentlich ihre Loyalität galt,294 und viel gravierender: Sie stellte damit die melodramatische Überzeichnung von White infrage.295 Sonderfälle erzwungener Intimität: Nesbits Tagebuch und eidesstattliche Aussage Die ersten Tage des Kreuzverhörs waren für Evelyn Nesbit psychisch stark belastend. Sie befürchtete, Jerome könnte weitere, von ihr bewusst verschwiegene Informationen preisgeben, wodurch sie gesellschaftlich diskreditiert würde. Mit Thaw teilte sie ihre Ängste, die sich zu Selbstmordfantasien steigerten: Jerome spent much time on trivial things. He is waiting for something […]. He said he could + would break me before he finished – so far he has only played. […] E[velyn] is suffering – + that I will have to make an end of myself – before Monday? […] She cannot live much longer now anyhow – so what difference will her going make?296 Nesbits Angst vor ihrer öffentlichen Bloßstellung fußte auf dem enormen sozialen Konformitätsdruck, den bereits im 19.  Jahrhundert Beobachter*innen des öffent­ 290 Vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 1806-7, UC, Container 15-16. 291 Vgl. ebd., S. 1655, 1662-8. Obwohl sie ihre weitere Beziehung als Abfolge weiterer Missbrauchserfahrungen beschrieb – »Q: Was it [intercourse] done by force and violence? A: Partly«, ebd., S. 1664 –, fand dies nicht Eingang in die Berichterstattung, vgl. Evelyn Nesbit Thaw Breaks Down And Wheps Under Fire From Jerome, Evening World, 21.2.1907, S. 1, hier S. 2. 292 Vgl. ebd., S. 2. 293 Prozessprotokoll (1907), S. 1741-3, UC, Container 15-16. 294 Vgl. ›My Poor, Dear, Little  Wife!‹ Sobbs Thaw When Evelyn Visits Him, Evening World, 22.2.1907, S. 1-2, hier S. 2. 295 Vgl. Umphrey: Dementia Americana, S. 210-1. 296 Brief Evelyn Nesbit an Harry Thaw [22-24.2.1907], UC, Folder 10, Index K-L.

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lichen Diskurses wie Alexis de Tocqueville diagnostiziert hatten.297 Kulturkritische Zeitgenoss*innen machten die sensationelle Berichterstattung über das Privatleben skandalisierter Personen gar für die eklatant gestiegene Selbstmordrate in den Nullerjahren mitverantwortlich.298 Nesbits fürchtete, im Falle ihrer Stigmatisierung ihr soziales und finanzielles Kapital zu verlieren und beraubt von ihren persönlichen Ressourcen existenziell zu scheitern, womit sie den »soziale[n] Tod«299 zu erleiden drohte.300 Anhand der Auslassungen, um die Nesbit ihr mediales Bild inszenierte, lassen sich ihre Medienkompetenzen erkennen.301 Entsprechend ihren Befürchtungen konfrontierte sie Jerome mit zwei für ihr Fremdbild und die melodramatische Verteidigung äußerst problematischen Beweisstücken: erstens ihrem Tagebuch aus dem Internat in Pompton aus dem Jahr 1902, das er von ihrer Mutter erhalten hatte; zweitens einer eidesstattlichen Erklärung, die Nesbit scheinbar 1903 über ihre Europareise mit Thaw gegenüber einem New Yorker Anwalt abgegeben hatte. Die Intimität von Tagebüchern macht nach Irina Paperno ihr Verlesen zu einem Offenbarungsakt und ermöglicht einen scheinbar authentischen Blick in die Gedankenwelt der Verfasser*innen.302 Entsprechend aufschlussreich schien die von Jerome verlesene Passage der damals 16- oder 17-jährigen Nesbit: A girl who has always been good and never had a word of scandal breathed about her is fortunate in more ways than one. These girls are all just that kind. They have been kept from the world all their lives and know very little of the mean side of it; and then on the other hand there is not one of them who will ever be ›anything.‹ Be ›anything.‹ I mean just that. Th[ey] will perhaps be good wives and mothers and die good wives and mothers. Most people would say what could be better. But whether it is ambition or foolishness I want to be a good actress first.303 Darin parallelisiert die jugendliche Evelyn Nesbit traditionelle Weiblichkeit – Häuslichkeit und moralische Reinheit, Eheleben und Mutterschaft  – damit, im Leben gescheitert zu sein. In der zitierten Stelle schien sie genau dem Bild ihrer Kritiker zu 297 Vgl. Tom Mannewitz: Warum Konformitätsdruck der Demokratie schadet. Die »Tyrannei der Mehrheit« auf dem Prüfstand, in: ders. (Hg.): Die Demokratie und ihre Defekte. Analysen und Reformvorschläge, Wiesbaden 2018, S. 289-308, hier S. 290-1. 298 Vgl. Campbell: Yellow Journalism, S. 100-1. 299 Wolfram Backert: Kulturen des Scheiterns: Gesellschaftliche Bewertungsprozesse im internationalen Vergleich, in: Matthias Junge/Götz Lechner (Hg.): Scheitern. Aspekte eines sozialen Phänomens, Wiesbaden 2004, S. 63-78, hier S. 63. 300 Vgl. Brief von Evelyn Nesbit an Harry Thaw [21.-23.2.1907], UC, Folder 4, Index F-G. 301 Vgl. Schultz: Visuelle Kommunikation, S. 12. 302 Vgl. Irina Paperno: What Can Be Done with Diaries?, in: Russian Review 63:4 (2004), S. 56173, hier S. 564-5. 303 Prozessprotokoll (1907), S. 2049-50, UC, Container 15-16.

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entsprechen, die ihren Lebensstil als nonkonform anprangerten.304 Dass sie zudem ihre Theaterambitionen betonte, nutzte Jerome, um Zweifel aufkeimen zu lassen, ob ihr Prozessauftritt nicht doch eigentlich eine theatralische Aufführung gewesen sei.305 Letztlich kulminierte Jeromes Beweisführung mit der Tagebuchpassage, in der sich Nesbit selbst charakterisierte: »Everybody knows that some people have strong moral characters and others are susceptible to their surroundings. I am one of the susceptible persons. If I stay here long enough, I expect to be a noble character before I get out!!!«306 Dies warf laut Evening World einen »sinister shadow«307 auf ihre Unschuldsbekundungen. Maßgeblich war jedoch, dass Nesbit errötete, während Jerome vorlas. Ihre Scham werteten Prozessbeobachter*innen als unkontrollierbares, körperliches Schuldeingeständnis.308 Somit öffnete sich wieder stark die Dichotomie zwischen Opfer und Mitschuldiger, die latent Nesbits Fremdbild im Skandal prägte. Interessant ist hierbei, dass in dieser Episode die Deutungen der Kommentatorinnen am stärksten von denen ihrer männlichen Kollegen abwichen,309 indem sie die Tagebuchauszüge als Ausdruck jugendlichen Übermuts bagatellisierten.310 Sie nahmen dabei Nesbit erneut aus der Warte ihrer besonderen geschlechtlichen Interpretationsmacht in Schutz,311 doch überdeckten sie zugleich die mit dem Tagebuch aufgeworfenen Fragen nach weiblichen Rollenbildern und der eigenen Verortung in der Vergnügungsgesellschaft. Noch pikanter war die von Evelyn Nesbit gegenüber dem berüchtigten New Yorker Anwalt Abraham »Abe« Hummel abgegebene Erklärung über ihre Europareise mit Harry Thaw. Jener hatte sie dem Staatsanwalt übergeben, die am Verhandlungstag alle städtischen Tageszeitungen wortgetreu abdruckten. Darin versicherte Nesbit eidesstattlich, dass Thaw sie während ihrer Europareise im Sommer 1903 mehrfach körperlich und sexuell misshandelt habe.312 Sie bezichtigte ihn, kokainabhängig zu sein, sie bestohlen zu haben und von Detektiven beschatten zu lassen. Insgesamt sei 304 Ebd., S. 2050. 305 Vgl. Lutes: Front Page Girls, S. 85. 306 Prozessprotokoll (1907), S. 2050, UC, Container 15-16. 307 Evelyn Thaw, in Trying Day on the Stand, Shows Mother in Bad Light, Evening World, 26.2.1907, S. 1-3, hier S. 1. 308 Vgl. Lutes: Front Page Girls, S. 85-6. 309 Vgl. ebd., S. 86-7. 310 Vgl. Kate Burr: Evelyn Thaw’s Ordeal, Buffalo Times, 28.2.1907. 311 Vgl. Lutes: Front Page Girls, S. 86-7. 312 In Tirol, der Schweiz und Paris habe er sie mit einer Peitsche bettlägerig geprügelt, sie sexuell missbraucht und mehrfach mit dem Tode bedroht, vgl. Thaw Testimony May Close To-Day, New York Times, 19.3.1907, S. 1-2, hier S. 2. Hummels Aussagen sind nicht im Prozessprotokoll der Uruburu Collection erhalten, sodass hier auf Presseberichte zurückgegriffen werden muss.

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ihr sein Verhalten als das eines »demented man« erschienen.313 Zur Begründung seiner Übergriffe habe Thaw ihre Weigerung angeführt, Stanford White der Vergewaltigung zu bezichtigen: »Thaw has begged me time and [time] again to swear to written documents which he had prepared, involving this married man and charging him with drugging me and having betrayed me when I was 15 years of age. This was not so; and I so told him«.314 Dem Verlesen der Erklärung ging ein juristisches Tauziehen vorweg, ob es als Beweismittel zugelassen werden dürfe. Die Bewilligung war für »Harry Thaw’s cause the hardest blow it has yet sustained«.315 Jerome versuchte damit auf einen Streich beide Strategien der Verteidigung zu durchkreuzen, indem er erstens bewies, dass Nesbit bei ihrer Vergewaltigungsaussage gelogen hatte, und zweitens, dass Thaw bereits seit langem eine Aversion gegen White gehegt und daher mit Vorsatz und nicht aus zeitweiliger Unzurechnungsfähigkeit gemordet hatte. Aus Perspektive der High Society lieferte dieses Dokument skandalöse Details über als deviant rezipiertes Sexual- und Konsumverhalten und bot einen Einblick in die teils toxische Beziehung zwischen Thaw und Nesbit. Diese neuerliche, massive Entgrenzung der Informationen über den sexuellen Intimbereich waren zentral für Nesbits Opfernarrativ und hafteten sich über den Skandal hinaus an ihr mediales Bild. Sie wirkte somit als nachklingendes »halo«316 ihres Aufmerksamkeitskapitals. Die eidesstattliche Erklärung zeigte eine der Grundproblematiken des Prozesses: Anklagen gegen Vertreter*innen der Oberschicht bergen, laut dem Rechtshistoriker Lawrence M. Friedman, grundsätzlich die Gefahr, die Glaubwürdigkeit der von ihnen verkörperten Werte zu erschüttern. Diese sichtbare Erosion verunsichere wiederum das gesellschaftliche Selbst- und Werteverständnis.317 In besonderem Maße traf dies auf die Frühphase der High Society zu, als diese sich als gesellschaftliche Formation erst noch etablieren musste. So steigerten die Informationen über die sexuelle Gewalt von Thaw und White gegen Nesbit zwar das intime Wissen über deren Leben, unterminierten aber zugleich deren sozialen Anspruch auf Nahbarkeit, Nachahmbarkeit und ihrer Funktion als role models. Denn insbesondere Thaws gewaltsame Sexualpraktiken müssen im Kontext zeitgenössischer Norma­ litätsvorstellungen betrachtet werden. Obwohl die Spanne sexueller Transgression im Viktorianismus in der Praxis breit, fluide und vielschichtig war, fiel sein Verhalten eindeutig in die Kategorie tabuisierter Perversionen.318 Entsprechend schädlich 313 Vgl. ebd., S. 2, Zitate ebd. Fast identisch in Evelyn Thaw’s Affidavit Reproduced in Full, Evening World, 18.3.1907, S. 1. 314 Thaw Testimony May Close To-Day, New York Times, 19.3.1907, S. 1-2, hier S. 2. 315 Vgl. Evelyn Nesbit Can’t Testify Against Abe Hummel, But Delmas Flays Him, Evening World, 15.3.1907, S. 1-2, hier S. 1. 316 Brighenti: Visibility (2007), S. 340. 317 Vgl. Friedman: Big Trial, S. 125-6. 318 Vgl. Ellen Bayuk Rosenman: Unauthorized Pleasures. Accounts of Victorian Erotic Experience, Ithaca 2003, S. 4, 167-96.

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war der darauf gerichtete Blick der Presse für Thaws Fremdbild, wenngleich dieser umso reizvoller für Leser*innen sein konnte. Das Dokument von Hummel hatte Nesbit bereits in ihrer eigenen Aussage erwähnt und es als erzwungene und fiktive Anschuldigung gegen Thaw abgetan.319 Konsequenterweise bestritt sie auch im Kreuzverhör dessen Richtigkeit,320 obwohl sie 1934 in ihrer Autobiographie diese Missbrauchsvorwürfe gegen Thaw bestätigen sollte.321 Jerome berief daraufhin Abe Hummel in den Zeugenstand.322 Dieser sollte die Authentizität der eidesstattlichen Erklärung bestätigen, um die Jury von Nesbits Falschaussage zu überzeugen, damit diese »decide for themselves whether or not Evelyn Nesbit recited to Harry Thaw in Paris the story which she says she told him and in consequence of which […] this defendant became insane.«323 Ausgangs- und gleichzeitiger Schwachpunkt von Jeromes Beweisführung war Abe Hummel, medial bekannt für seine Scheidungs- und breach of promise-Klagen von und gegen Broadway-, Upper Class- und High Society-Angehörige sowie die Verteidigung von Kriminellen.324 Gerade in der Woche vor Hummels Aussage im Thaw-Prozess hatte er selbst eine einjährige Haftstrafe wegen Justizbehinderung antreten müssen: Dass er nicht nur findiger Jurist war, sondern selbst Gesetze brach und Personen erpresste, war ihm zum Verhängnis geworden. Für die Anklage gegen ihn hatte ausgerechnet Jerome Verantwortung gezeichnet.325 Auf dieser Basis untergrub Delphin Delmas im Kreuzverhör Hummels Glaubwürdigkeit und Jeromes Professionalität. Er stellte fest, dass gegen den Zeugen noch immer zwei Klagen anhängig waren: wegen der Fälschung einer eidesstattlichen Erklärung und wegen der Verleitung zur Falschaussage.326 Beides stellte die Echtheit des gegen Nesbit verwendeten Dokuments und die Richtigkeit von Hummels Aussage infrage. Obwohl Jerome aus Sicht der gegenüber Thaw kritischen New York Times zeigen konnte, dass Nesbits »sworn statement in direct contradiction to her story«327 stand, überwogen für das Gros der Medien die Zweifel an der Authentizität der Gegenbeweise. So folgte die Sensationspresse Delmas Argumentation, wonach »Mr. Jerome convicted Abe Hummel of almost identically the same trick which we [the defence] contend Abe Hummel practised upon Evelyn Nesbit in 1903«, namentlich »to affix 319 Vgl. Fled From White, Thaw’s Wife Says, New York Times, 9.2.1907, S. 1-3, hier S. 2. 320 Vgl. How White and Thaw Struggled for the Love of Evelyn Nesbit, Evening World, 25.2.1907, S. 1-3, hier S. 2-3. 321 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 105-13. Weder die Misshandlungen während ihrer Europareise noch die eidesstattliche Erklärung erwähnt Nesbit in ihrer ersten Autobiographie von 1914, da sie wohl noch fürchtete, wegen Meineides belangt zu werden, vgl. dies.: Story, S. 86-92, 164-5. 322 Vgl. Hummel’s Story Told to Thaw Jury, New York Times, 16.3.1907, S. 1-2, hier S. 2. 323 Mrs. Evelyn Thaw’s Story Contradicted by Hummel, Evening World, 13.3.1907, S. 1, hier S. 2. 324 Vgl. Cait Murphy: Scoundrels in Law. The Trials of Howe & Hummel, Lawyers to the Gangsters, Cops, Starlets, and Rakes Who Made the Gilded Age, New York 2010. 325 Vgl. ebd., S. xiv–xix, 244-8; O’Connor: Courtroom, S. 141-3. 326 Vgl. Hummel’s Story Told to Thaw Jury, New York Times, 16.3.1907, S. 1-2, hier S. 2. 327 Ebd., S. 1.

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her signature to a bogus affidavit«.328 Die New York World produzierte sogar ein Faksimile der letzten Seite des Schriftstücks mit Nesbits Unterschrift, um zu demonstrieren, wie leicht eine Fälschung zu bewerkstelligen sei.329 Durch die Unzulänglichkeit des Belastungszeugen Hummel, die Zweifel an der Authentizität des Beweismittels sowie die mediale Rezeption missglückte die von William T. Jerome intendierte Wirkung seiner Beweisführung.330 Der Opferstatus von Evelyn Nesbit stand zu dominant gegen die Aussage eines verurteilten Anwalts, der unlautere Geschäftspraktiken betrieben hatte.331 Durchsetzung des Opfernarratives Zwar hatte Jerome es geschafft, Nesbits Darstellung als unschuldige Kindfrau und die melodramatische Schwarzweißzeichnung von Stanford White zu hinterfragen, indem er Teile ihrer Aussage als unglaubwürdig darstellte. Doch warum gelang es ihm nach Ansicht der yellow press nicht, Nesbits Selbstinszenierung und ihr Narrativ »in any viral point«332 ernsthaft zu gefährden? Während Jerome selbst von Nesbits Falschaussage überzeugt war,333 folgte die Sensationspresse weiterhin ihrem Narrativ, obwohl dessen kategorische Unterscheidung in Gut und Böse immer schwieriger aufrechtzuerhalten war. Der Prozess ­bildete damit die urbane Realität zur Jahrhundertwende ab, wie Peter Fritzsche zeitgleich für den deutschsprachigen Raum feststellt, wo Juristen und Medien­vertre­ ter*­innen ebenfalls zunehmend Probleme hatten, komplexe Fälle melodramatisch zu deuten.334 Trotz der kontradiktorischen Informationen ließ die yellow press kaum Zweifel an Nesbits grundsätzlicher Glaubwürdigkeit aufkommen.335 Erstens hatte Nesbits Öffnung ihrer Privatheit einfach ein zu starkes Narrativ geschaffen. Dem war die Sensationspresse bislang gefolgt und um diese Darstellung nicht zu unterlaufen, nutzte sie die ambivalenten Deutungsmöglichkeiten der Ménage-à-trois, um weiterhin allein an White ihre Gesellschaftskritik anzubringen.

328 Evelyn Nesbit Can’t Testify Against Abe Hummel, But Delmas Flays Him, Evening World, 15.3.1907, S. 1-2, hier S. 1. 329 Vgl. How a Photograph May Be Juggled to Show a Signature That Was Not Made On the Sheet, Evening World, 20.3.1907, S. 2. 330 Vgl. Mrs. Evelyn Thaw’s Story Contradicted by Hummel, Evening World, 13.3.1907, S. 1, hier S. 1. 331 Vgl. Murphy: Scoundrels, S. 257. 332 Evelyn Thaw, in Trying Day on the Stand, Shows Mother in Bad Light, Evening World, 26.2.1907, S. 1-3, hier S. 1. 333 Jerome hatte scheinbar für den 5. November 1901, den Abend der mutmaßlichen Vergewaltigung, ein Alibi für White, das er jedoch aus verfahrenstechnischen Gründen nicht einbringen konnte, vgl. Mr. White Not in Studio on Night Evelyn Charges, New York Herald, 27.2.1907. 334 Vgl. Fritzsche: Talk, S. 385-90. 335 Vgl. Collins: Sinners, S. 186-7.

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Zweitens behinderte William T. Jerome seine eigene Gegendarstellung, als er die theatralische Wirkung seines Verhörstils unterschätzte: Unter seinen »pressing demands for all the smaller hideous details of her alleged wrong at the hands of Stanford White«336 war Evelyn Nesbit im Zeugenstand zusammengebrochen. Mit dieser »chopping block, butcher-boy fashion of getting at the truth or falsity of her story«337 verspielte Jerome viel öffentliche Sympathie und untergrub seine mediale Handlungsmacht.338 Die Prozessbeobachterin Kate Burr zeigte zwar Verständnis für seine Pflicht zur Wahrheitsfindung, doch nicht um den Preis von Nesbits öffentlicher Demütigung: »The issue is WAS THAW SANE OR CRAZY WHEN HE SHOT WHITE? How has the cross-examination of Evelyn Nesbit Thaw touched either horn of that issue?«339 Über seine Fokussierung auf Nesbit hatte Jerome die eigentliche Prozessfrage, Thaws Geisteszustand zum Tatzeitpunkt, aus den Augen verloren.340 Die Kritik der Gerichtsberichterstatterin ist auch aus gendergeschichtlicher Perspektive interessant. Wie ihre Kollegin Burr sah auch Nixola Greeley-Smith in Jeromes Vernehmungsstil die unerträgliche Reviktimisierung von Nesbit: »Here was the vivisection of a woman’s soul, the tearing from its profoundest secrets, a rendering, wrenching, merciless digging into its depths that by comparison made the rack seem less hideous and awful.«341 Greeley-Smith parallelisierte das Verhör von Evelyn Nesbit semantisch mit ihrer Vergewaltigung, wodurch die Situation im Gerichtssaal zur performativen Wiederholung wurde. Damit entrückte Nesbits Geschlechtlichkeit die Vernehmungssituation dem juristischen Kontext und bettete ihn in geschlechtliche Machtgefüge ein. Wie Jean Marie Lutes argumentiert, bestätigte diese Interpretation die Flucht einiger der anwesenden Gerichtsberichterstatterinnen. Diese hatten im Zuschauerbereich Nesbits öffentliche, psychische Misshandlung miterleben müssen und in einem Akt der Verschwesterung demonstrativ den Raum verlassen, womit sich Nesbits körperlicher Zusammenbruch im Zeugenstand in ihrem räumlichen Entzug spiegelte.342 Während Lutes betont, dass die Identifikation mit Nesbit für die Kommentatorinnen toxisch werden konnte, da sie aufgrund ihrer Deutungshoheit auch problematische Details verteidigen mussten, ist es zugleich ein früher Beleg dafür, wie Reporterinnen als Gatekeeperinnen der High Society fungierten: 336 Evelyn Nesbit  Thaw Breaks Down And Wheps Under Fire From Jerome, Evening World, 21.2.1907, S. 1, hier S. 1. 337 Evelyn Nesbit Thaw Balks Jerome in His Effort to Discredit Her Story, Evening World, 20.2.1907, S. 1-2, hier S. 1. 338 In Mount Vernon, Ohio, wurde die Thaw Penny Medal Association gegründet, die Geld sammelte, um Evelyn Nesbit für das Kreuzverhör eine Medaille zu verleihen, vgl. Organize to Give Medal of Honor to Mrs. Evelyn Thaw, New York Evening Journal, 28.2.1907. 339 Kate Burr: Evelyn Thaw’s Ordeal, Buffalo Times, 28.2.1907. 340 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 205-6. 341 Nixola Greeley-Smith: ›The Vivisection of a Woman’s Soul,‹ Nixola Greeley-Smith Calls District Attorney Jerome’s Cross-Examination of Evelyn Thaw, Evening World, 22.2.1907, S. 3. 342 Vgl. Lutes: Front Page Girls, S. 80, 82-3.

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Durch ihre Identifikation mit Evelyn Nesbit konnten sie plausibel vermitteln, über sie als Privatperson berichten zu können und dabei weniger objektiv zu schreiben als vielmehr aus einer persönlichen Nahperspektive. Zusammengenommen setzte sich im medialen Diskurs der Sensationspresse über die Bewertung von Nesbits Aussage – und damit die Kernfrage des Verfahrens als Ehrenmord – die Interpretation durch, die William T. Jerome selbst noch zu Beginn prophezeit hatte: »[I]f this story of hers is true, I know nothing in all literature that exceeds it in devotion, renunciaiton and heroic self-sacrifice.«343 Sexuelle Devianz und gesellschaftlicher Deutungsrahmen Das Kreuzverhör bettete Evelyn Nesbit in weitere Themenfelder des Sexualdiskurses ein, wie die Frage nach dem Voyeurismus oder der Gefahr weiblicher Sexualität. Die intensive Berichterstattung insbesondere über Nesbits Aussage stand symptomatisch für die diskursive Explosion des Sexuellen zur Jahrhundertwende.344 Sexualität und Perversion prägten Nesbits Erfahrungen: erst in Form sexueller Gewalt, dann bei ihrer aufopfernden Selbstoffenbarung, schließlich im Kreuzverhör als übergriffige Intimitätsverletzung, deren mediale Verarbeitung sich als Ausprägung der zeitgenössischen »pornography of pain«345 interpretieren lassen. Bis zum Beginn des 19.  Jahrhundert hatte ein mit zivilisatorischen Begründungen argumentierender bürgerlicher Humanismus öffentliche Gewalt als nicht tolerable Praxis gekennzeichnet und zunehmend reglementiert. Darin sieht die Kulturhistorikerin Karen Halttunen die Entwicklung begründet, dass physische und sexuelle Gewalt aus öffent­ lichen und institutionellen Räumen in das Fiktionale verschoben wurden:346 Reale Erfahrungen wurden durch Text- und Bildmedien, wie Romane, Zeitungberichte oder Bilder, ersetzt. Diese erlaubten, weiterhin über (sexuelle) Gewalt zu fantasieren und diese zu konsumieren. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden in einem zweiten Schritt auch diese Formen des Gewaltkonsums als nonkonformer Voyeurismus tabuisiert.347 Zeitlich in die Endphase dieser erneuten Tabuisierung fallend, bot der Thaw-Prozess genau jene Mischung aus medial vermitteltem Spektakel und detaillierten Einblicken in sexuelle und psychische Gewalt, die den Voyeurismus der »pornography of pain« bediente. Nesbits Bericht ihrer (sexuellen) Gewalterfahrungen konnten von Leser*innen erst nachvollzogen, dann im Kreuzverhör performativ miterlebt werden, wobei dessen Gewaltpotenzial – soweit darstellbar – visualisiert wurde. Mit den Details über Thaws Misshandlungen in der eidesstatt­lichen Erklä343 Mrs. Evelyn Thaw’s Story Contradicted by Hummel, Evening World, 13.3.1907, S. 1, hier S. 2. 344 Dies resultierte aus dem öffentlichen Verlangen nach Wissen über Sexualität, vgl. Foucault: Sexualität, S. 47-9. 345 Karen Halttunen: Humanitarianism and the Pornography of Pain in Anglo-American Culture, in: The American Historical Review 100:2 (1995), S. 303-34. 346 Vgl. ebd., S. 303, 311-2, 314-8, 334. 347 Vgl. ebd., S. 315, 317, 320, 330.

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rung schrieb sich (sexuelle) Gewalt schließlich in jede der Beziehungen zwischen den drei Akteur*innen im Nesbit-Thaw-White-Skandal ein, sodass sich die Kommentatorin Lillian Bell letztlich fragen konnte: »[W]hich of those two men has done her the most lasting harm?«348 Neben dieser voyeuristischen Dimension des Verfahrens hatte William T. Jeromes Befragung die Ambiguität der Interpretationen von Evelyn Nesbits High SocietyLeben sichtbar gemacht, die sich wieder an ihrem Frauen- und Körperbild festmachte. Hatte sich Nesbits Aufstieg in die High Society und ihre Heirat mit Harry Thaw zwischen 1903 und 1905 medial in das Cinderella-Motiv einpassen lassen, löste ihre von Jerome im Kreuzverhör herausgearbeitete aktive Rolle in der Dreiecksbeziehung eine Neubewertung dieser Phase aus: Nesbit erschien nun als Femme fatale, ein künstlerischer Frauentypus des Fin de Siècle, der »Sexual- und Todestrieb miteinander [verband.]«349 Zusätzlich verbanden kritische Stimmen unter den Beobachter*innen Evelyn Nesbit mit dem gleichzeitigen »Salome craze«,350 der die USA erfasst hatte. Am 22. Januar 1907 wurde Richard Strauss’ Skandaloper »Salome« (1905) auf Basis von Oscar Wildes gleichnamigen Drama (1893) erstmals in New York aufgeführt und sorgte sogleich für einen Eklat.351 Im Stück forderte Salome, Tänzerin am Hofe des biblischen Herrschers Herodes, als Belohnung den Kopf von Johannes dem Täufer. Dies war ihre Rache dafür, dass er sich ihr zuvor sexuell entzogen hatte. Den abgeschlagenen Kopf als Fetisch ihrer (sexuellen) Macht liebkost sie in einem ekstatischen Tanz, woraufhin ein entsetzter Herodes sie töten lässt.352 Die scharfe zeitgenössische Kritik richtete sich gegen den erotischen Tanz, aber viel mehr noch gegen die zur Schau gestellte destruktive Weiblichkeit. Beide Thematiken verbanden Salome bis zum Ersten Weltkrieg mit keinem anderen Frauentyp mehr als mit der Figur der Femme fatale, wobei sie durch die Entkontextualisierung bei Wildes Textvorlage auf beliebige Dreiecksbeziehungen übertragen werden konnte.353 Genau das geschah mit dem Beziehungsdrama um Nesbit, Thaw und White, indem Rezipient*innen die sichtbar gemachten Details nutzten, um Nesbits Parallelen 348 Vgl. Lillian Bell: Lillian Bell on Thaw’s Insanity, New York American, 28.1.1908, S. 2. Den Artikel schrieb Bell zwar über den Folgeprozess, was aber die Persistenz dieses Motives bestätigt. 349 Vgl. Sandra Walz: Tänzerin um das Haupt. Eine Untersuchung zum Mythos »Salome« und dessen Rezeption durch die europäische Literatur und Kunst des Fin de siècle, Zugl.: ErlangenNürnberg, Univ., Diss (= Forum Europäische Literatur, 18), München 2008, S. 113-4, 125, Zitat: S. 125. 350 Toni Bentley: Sisters of Salome, New Haven 2002, S. 34. 351 Vgl. ebd., S. 35-6, 38-9. 352 Vgl. Linda A. Saladin: Fetishism and Fatal Women. Gender, Power, and Reflexive Discourse (= Writing about Women, 4), New York et al. 1993, S. 140-1. 353 Vgl. Walz: Tänzerin, S. 125-6; Clair Rowden: Introduction: Performing Salome, Revealing Stories, in: dies. (Hg.): Performing Salome, Revealing Stories, Farnham 2013, S. 1-14, hier S. 1-4.

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zu Salome als Männer ruinierende Frau aufzuzeigen. Sogar die progressive Wochenzeitschrift The Independent gab diese Sichtweise ihrer Kommentatorin L. H. Harris wieder: »While I was there [in New York] Stanford White, Evelyn Thaw and her husband were the ones in court, and ›Salome‹ the one on the stage.«354 Die Autorin parallelisierte die Salome der (Populär-)Kultur mit der des Verfahrens, beide verbunden durch ihre mediale Sichtbarkeit. Mittels der sexuellen und moralischen Entgrenzung im Theater und vor Gericht würden die Skandalisierten zu »popular heroes and heroines«355 stilisiert. In dieser kritischen Deutung als Salome wurde Nesbit in die Tradition großer Theaterdarstellerinnen wie Sarah Bernhardt gestellt, denen es damit gelungen war, Gendervorstellungen und weibliche Sexualnormen herauszufordern.356 Zudem schalt Harris die Sympathie von Frauen für »›poor Evelyn.‹ Poor Evelyn, by all means! But it is as disgraceful to discuss her as it is to tear the rags off of a body that has been dragged out of the river.«357 Ihre Kritik zeigt, als wie bedrohlich Nesbits selbstbewusstes Handeln für Vorstellungen weiblicher Zurückhaltung und sexueller Passivität wahrgenommen wurde. Visuelle Deutungen: Die Emotionalität des Ehepaars Thaw Welch emotionales Potenzial die Bebilderung der Prozessakteur*innen für das mediale Narrativ entfalten konnte, zeigt sich an Evelyn Nesbit und Harry Thaw als Paar. Gerichtszeichner nutzten für Nesbit während ihrer Zeit im Zeugenstand die Spannbreite der melodramatischen Frauenfigur zwischen Heldin und Opfer. Insbesondere für letztere verstärkten sie ihre Darstellungen mit Überzeichnungen wie Tränen (Abb. 30). Diese galten als Beleg für die Authentizität weiblicher Gefühle und einer »deep femininity«,358 was in Kombination mit fehlendem Blickkontakt, der den Objektstatus von Nesbit weiter verstärkte, bildlich ihre Agendalosigkeit stütze.359 Diese emotionsgeschichtliche Dimension ihrer Zeichnungen speiste sich in erster Linie aus ihrer Situation im Zeugenstand, passte aber nichtsdestotrotz in das mediale Bild einer nahbaren und mit ihren Emotionen sichtbaren High Society.360

354 L. H. Harris: Yeast-Stirrers in New York City, in: Independent 62:3046 (18.4.1907), S. 890-5, hier S. 894. 355 Ebd. 356 Vgl. Sharon Marcus: Salomé!!, in: PMLA 126:4 (2011), S. 999-1021, hier S. 1000-2, 1005-13, 101618. 357 Harris: Yeast, S. 894-5. 358 Glenn: Female Spectacle, S. 20. 359 Vgl. Evelyn Thaw Pictured at a Crucial Moment of Her Ordeal as a Witness, o. Z., [25.2.1907], in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 66, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358; Evelyn Nesbit Thaw in Tears Under Jerome’s Questions, Chicago Record Herald, 27.2.1907. 360 Vgl. Ute Frevert/Anne Schmidt: Geschichte, Emotionen und die Macht der Bilder, in: Ute Frevert (Hg.): Geschichte, Emotionen und visuelle Medien (= Geschichte und Gesellschaft. Sonderhefte, 37.1), Göttingen 2011, S. 5-25, hier S. 23-4.

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Die Illustrationen mit Harry Thaw unterstützen diese Bildbotschaften, indem sie ihn über das Opfernarrativ mit in die visuelle Interpretation von Nesbit einbanden. Im Gegensatz zu ihr war Thaw durch seine bislang fehlende Rolle im Prozess in den Hintergrund gerückt. Im Zuge von Nesbits Aussage und seiner (sicht­baren) emotionalen Reaktion rückte er plötzlich als ihr Partner mit in den medialen Fokus. Thaws emotionale Bindung griffen die Pressevertreter*innen auf, einen Aspekt, der schon vor dem Skandal die High Society-Berichterstattung über das Paar geprägt hatte. Im Zeugenstand schilderte Nesbit einerseits Thaws Gefühlsleben, andererseits lieferte er mit seiner Reaktion darauf den nachdrücklichsten Beleg seiner Gefühle für Nesbit und ihr Schicksal (Abb. 31).361 Seine Emotionalität stand damit Pate für die Authentizität ihrer Abb. 30: Zwei Ansichten von Evelyn Nesbit Aussage und legte plastisches Zeugnis während ihrer Aussage im Schulmädchenkosseiner Zerrüttung ab.362 Genau mit dieser tüm. Tränen (u. li.) betonen ihre Emotionalität emotionalen Überlagerung machte Wilund Authentizität. liam Hoster, Korrespondent des New York American, Thaw seinen Leser*innen nahbar und den Mord als Beziehungstat verständlich, wenn er ihnen die rhetorische Frage stellte: »Is it any wonder, when Harry Thaw […] had heard this whole story, that the seeds of madness were then sown?«363 Wenn Thaw selten, aber umso sichtbarer im Gericht agierte, stand meist seine Beziehung zu seiner Frau im Vordergrund, etwa wenn er ihre Glaubwürdigkeit verteidigte, den Verhörstil kritisierte oder selbst Zeichnungen von ihr anfertigte.364 Mit diesen Interaktionen wurden beide laut der Kommentatorin Clara Morris endlich 361 Zum Zusammenhang von Bild, Text und Emotionen vgl. Cornelia Brink: »Bildeffekte. Überlegungen zum Zusammenhang von Fotografie und Emotionen«, in: Frevert: Geschichte, S. 104-28, hier passim, insb. S. 126-7. 362 Diese Kommunikationsstrategie vor Gericht war für den Erfolg des unwritten law zentral, vgl. Friedman/Havemann: Rise, S. 1008-9. 363 William Hoster: Mrs. Thaw Shows White a Villain, New York American, 8.2.1907, S. 1-2, 4, hier S. 2. 364 Vgl. etwa Thaw Writes Note Gloating Over Jerome’s Failure to Trap His Wife, Evening World, 27.2.1907, S. 1-2, hier S. 1.

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Abb. 31: Harry Thaws emotionale Reaktion auf die Vergewaltigungsaussage seiner Ehefrau.

als Paar sichtbar: »To-day – the past ignored – Harry Thaw and his wife, Evelyn, are matched as well as married. That they waded through sin and shame and blood to secure their perfect union is but a mere detail to the young egotism of their passsionate love«.365 »Neither Victim Nor Vampire«: Deutungshoheit durch Medienkompetenz Auch außerhalb des Gerichtssaals versuchte Evelyn Nesbit den Vorbehalten, die das Kreuzverhör erzeugt hatte, zu begegnen, und gab dafür zwischen Januar und März 1907 Interviews mit Reporterinnen, namentlich Nixola Greeley-Smith, Clara Morris und Viola Rogers. Mit Rodgers hatte Nesbit kurz nach dem Mordfall bereits gute Erfahrungen gemacht, und auch diesmal sah diese von unangenehmen Fragen ab und stellte Nesbit als sympathische, bescheidene und Thaw liebende Ehefrau dar.366 Nixola GreeleySmith war über ihre Kolumne in Pulitzers World eine der sichtbarsten Beobachterinnen des Mordprozesses und galt als wichtigste Interviewerin der New Yorker High Society vor dem Ersten Weltkrieg. Erst ihr war es gelungen, Interviews als Form der Gesellschaftsberichterstattung zu etablieren, indem sie diese als Methode zur eigenen Sichtbarmachung für Frauen in der High Society popularisierte.367 Dass Evelyn Nesbit am Tag nach dem Ende des Kreuzverhörs Greeley-Smith ein Interview gab, in dem es über sie als Privatperson und expliztit nicht als Prozessteilneh365 Clara Morris: ›While Harry Lives None Shall Part Us,‹ Swears Mrs. Thaw, Chicago Examiner, 27.3.1907. 366 Vgl. Viola A. Rodgers: Remarkable Interview with Mrs. Evelyn Thaw in Court, New York American, 26.1.1907, S. 4. 367 Vgl. Ross: Ladies, S. 87.

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merin ging,368 ermöglicht zwei Rückschlüsse auf ihre Medienkompetenz: Erstens generierte Nesbit selbst ein mediales Ereignis in Reaktion auf ihre partielle Entmachtung im Zeugenstand; zweitens verfolgte sie mutmaßlich eine strategische Sprechposition, wenn sie das Interesse wichtiger Medienvertreter*innen an sich ernst nahm. Als sich Ende März die Gutachteranhörung über Thaws Geisteszustand festzufahren drohte, gab Nesbit erneut ein Interview, diesmal Clara Morris für das Zeitungssyndikat von William Randolf Hearst. Darin schilderte Nesbit ihren »four-day terror of cross-examination«,369 den sie aus Liebe für ihren Mann und der Überzeugung von seiner Unschuld bereitwillig auf sich genommen habe,370 womit sie ein sympathisches Bild von Thaw und ihrer Beziehung den Debatten über seine schwere Geisteskrankheit gegenüberstellte. Die Interviewerinnen nutzten für ihre Berichte Traditionen sentimentaler Literatur des 19. Jahrhunderts, die zur Identifikation mit unterdrückten Subjekten aufriefen, wodurch sie die »idea of sympathetic fellow feeling into a journalistic credential« wandelten. Dadurch lieferten die Reporterinnen mit dem Bild einer sympathischen und nahbaren jungen Frau in einer stabilen Ehe mit einem Ehrenmann »manifeste[] Lesarten«371 der Akteur*innen vor Gericht, was die Bedeutung der Interviews für Nesbit und Thaw erklärt. Demnach ist es nach Adelheid von ­Salderns Überlegungen zu medialen Produktions- und Rezeptionsweisen wahrscheinlicher, dass die Sichtweisen der Medienschaffenden die der Rezipient*innen maßgeblich beeinflussen, als dass sie von diesen uminterpretiert oder abgelehnt werden.372 Dies ergänzt die Feststellung von Jean Marie Lutes, wonach die Journalistinnen bei der Darstellung von Nesbit gerade nicht feministische, sondern konservative Rollenverhältnisse bestätigten.373 Obwohl Lutes darin eine reaktionäre Interpretation von Weiblichkeit sieht, stellte es aus Nesbits Perspektive den Erfolg ihres strategischen Sprechens dar, eben nicht als handlungsmächtige und selbstständige Frau wahrgenommen zu werden. Letztlich produzierte das Verfahren und die Medien einen interpretativen Pluralismus über Evelyn Nesbit. Entsprechend wurde Nixola Greeley-Smiths vor Verhandlungsbeginn geäußerte Erwartung enttäuscht: Es blieb unklar, ob Nesbit eindeutig 368 Nixola Greeley-Smith: Evelyn Nesbit Thaw in Her Home Impresses Nixola Greeley-Smith, Who Declares After an Interview That She Believes the Young Wife, New York World, 28.2.1907, S. 3. 369 Vgl. Clara Morris: ›Harry and I Cannot Part‹, New York American, 27.3.1907, S. 1-2, hier S. 2. Das gleiche Interview erschien in gekürzter Fassung über das Hearst-Syndikat, etwa im Chicago Examiner, vgl. dies.: ›While Harry Lives None Shall Part Us,‹ Swears Mrs. Thaw, Chicago Examiner, 27.3.1907. 370 Vgl. Clara Morris: ›Harry and I Cannot Part‹, New York American, 27.3.1907, S. 1-2, hier S. 2. 371 Saldern: Magazine, S. 173. 372 Vgl. ebd. 373 Vgl. Lutes: Front Page Girls, S. 91-2.

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Opfer oder Mitschuldige gewesen war. Obwohl sie als die Schlüsselfigur des Mordfalls galt, war sie zugleich das Enigma, dessen agency sich nicht klar fassen ließ. Dazu hatten einerseits ihre performativen Auftritte beigetragen, die  – so sehr sie auch durchschaubar blieben – äußerst wirkungsvoll waren. Andererseits hatten die Einblicke in ihre Privatsphäre es ermöglicht, sie zwischen selbstbestimmter Erotik und bedrohter Weiblichkeit oszillieren zu lassen, sodass übliche Zuschreibungen zu verwischen drohten. Diese Ambivalenz ließ Nesbit zur Übergangsfigur von »Victorian angel to sexy starlet«374 werden.375 Schließlich stand sie stellvertretend für die Themen, Probleme und Fragestellungen, welche die neue Urbanität und Vergnügungsgesellschaft für die städtischen Bevölkerungen in den USA aufgeworfen hatten. Die Unschärfen dieser Felder spiegelnd, war Nixola Greeley-Smiths Mutmaßung über Evelyn Nesbit vor Beginn ihrer Aussage prophetisch geblieben: Diese sei »Neither Victim Nor Vampire, but Like a Wistful Child«376.

Sichtbarkeit mit der High Society: Die Medialisierung Dritter Mit Beginn des Prozesses hatte die Berichterstattung ihre mediale Aufmerksamkeit auf das Umfeld der Thaws ausgeweitet, da Nesbit und Thaw nicht als Sonderfälle der New Yorker Vergnügungsgesellschaft gedacht wurden, sondern als Teil der High Society.377 High Society-Mitglieder Die erste Gruppe aus High Society-Mitgliedern schwankte zwischen den Polen, die Aufmerksamkeit kontrollieren zu können oder davon entmachtet zu werden. Bereits mit Beginn des Mordskandals schadete dem renommierten Maler J. Caroll Beckwith seine Rolle als Nesbits frühem Förderer.378 Die unbelegte Geschichte, Nesbit habe nackt für ihn posiert, ließ mindestens einen Verkaufsvertrag platzen und schädigte langfristig seinen Ruf bei seiner Upper Class-Kundschaft.379 Noch gravierender waren die Folgen für Beatrice DeMilles Mädcheninternat in Pompton, das Nesbit besucht und in ihrem viel zitierten Tagebuch beschrieben hatte. Einmal im 374 Joanne Meyerowitz: Sexual Geography and Gender Economy, in: Gender & History 2:3 (1990), S. 274-97, hier S. 288. 375 Vgl. Grieveson: Policing Cinema, S. 48; Cardyn: Nesbit-Thaw-White Affair, S. 200. 376 Nixola Greeley-Smith: Evelyn Nesbit Thaw Now Only the X-Ray Picture of a Famous Beauty As She Sits in Court Studying Faces of Talesmen Called as Jurors, Evening World, 25.1.1907, S. 3. 377 Vgl. die Beobachtung des Ausgreifens von Skandalen auf Dritte in den Celebrity Studies in Olivier Driessens: Celebrity Capital, in: Theory and Society 42 (2013), S. 543-60, hier S. 547. 378 Vgl. Franchi/Weber: Intimate Revelations, S. 71. 379 Vgl. James Carroll Beckwith: Diaries, 1906-1907, Eintrag vom 26.6.1906, SI, AAA, James Carroll Beckwith Papers, Series 3: Diaries, 1871-1917:  Box 2, Folder 3; Franchi/Weber: Intimate Revelations, S. 72.

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Prozess medial sichtbar geworden zu sein, reichte, damit Eltern ihre Töchter von der Schule nahmen und das Internat im Dezember gleichen Jahres schließen musste.380 Beide Beispiele zeigen, welch unkontrollierbare Folgen die mediale Aufmerksamkeit respektive Sichtbarkeit in Verbindung mit High Society-Mitgliedern haben konnte. Dagegen konnten bereits in der High Society etablierte Schauspieler*innen vom Prozess profitieren, da sie wesentlich geschickter mit den Medien agierten als etwa die darin ungeübte Beatrice DeMille. Dazu gehörten Nesbits Freundinnen und Kolleginnen Edna Goodrich, Paula Desmond, Hattie Forsythe und Mazie Follette. Dass gerade sie die Aufmerksamkeit der Medien erregten, erklärt sich mit medialen und gesellschaftlichen Entwicklungen: Um die Jahrhundertwende setzte eine Phase ein, in der sich insbesondere die Stadtbevölkerung durch die Veränderung der Familienstrukturen stärker mit Gleichaltrigen als neuer Peergroup identifizierte.381 Diese, aus alltagsweltlichen Erlebnissen in Tanzhallen, Freizeitclubs und Jugendgangs resultierende Erfahrung, spiegelte die High Society-Berichterstattung, in der vor allem gleichaltrige Mitglieder gemeinsam thematisiert wurden.382 Eben so rückten die Broadway-Darsteller*innen um Evelyn Nesbit in den Fokus. Zugleich ist jedoch interessant zu sehen, dass Medien andere Personen, die durchaus im Prozess thematisiert wurden, nicht mit ihrer Aufmerksamkeit bedachten. Dabei lässt sich ein genderspezifischer Unterschied erkennen: Dem zeitweise im Gerichtssaal anwesenden Schauspieler John Barrymore wurde die kurze Liaison mit Nesbit im Herbst 1902 medial weder angelastet, noch angerechnet.383 Sein damaliges Alter und tolerantere Moralvorstellungen ­gegenüber Männern machten sein Verhalten weder ungewöhnlich noch beanstandungswürdig. Dagegen fokussierten die Tageszeitungen sich auf Nesbits Freundinnen, die sie mit Studioaufnahmen oder Schnappschüssen sichtbar machten, wobei sie parallel zu den Skandalisierten ihre beruflichen und privaten Tagesabläufe in den Fokus rückten.384 Dies war beispielsweise in der Washington Times der Fall (Abb. 32): In der Zeichnung einer Frau in durchsichtigem Kleid, das vor einem Maler und Fotografen posiert, spielte die Zeitung erneut mit der sexuellen Ambiguität des Modells als Frauenideal und erotischem Objekt. Der Artikel konstatiert, dass diese für die Leserschaft bislang »an obscure nonenty« gewesen seien. »[B]ut now all the details of her daily life have been emblazoned to the reading world«, sodass Leser*innen mittlerweile »intimately acquainted with her«385 wären. Ähnlich wie bei Nesbit überlagerten sich bei ihnen me­diale Visualisierungs- und 380 Vgl. Simon Louvish: Cecil B. DeMille and the Golden Calf, London 2007, S. 28-9. 381 Vgl. Howard P. Chudacoff: How Old Are You? Age Consciousness in American Culture, Princeton 1989, S. 105-6. 382 Vgl. Hornung: Welt, S. 59. 383 Vgl. Collins: Sinners, S. 128-30. 384 Vgl. etwa Five Actresses Whom the District Attorney Will Interrogate in Regard to Stanford White’s Entertainments, New York American, 10.2.1907, S. 2. 385 The Rule of the Artist’s Model in Gotham After Dark, Washington Times. Magazine, 24.3.1907, S. 1, 8.

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Ins­zenierungsstrategien der High ­Society mit der Prozessberichterstattung.386 Diesen war das Potenzial medialer Aufmerksamkeit durch ihre Theaterkarrieren bewusst. So konnte sich das High SocietyMitglied Mazie Follette wenigstens für gewisse Zeit die mediale Aufmerksamkeit durch den Prozess für ihre Sichtbarkeit am Theater und in der Gesellschaftsberichterstattung nutzen, bevor die Geschichte auf sie zurückfallen sollte. Follette galt durch ihre enge Freundschaft zu Stanford White als mögliche Schlüssel­ zeugin, um Nesbits Vorwürfe a­ ufzuklären.387 Sehr zu deren Missfallen bot sie sich der Staatsanwaltschaft erst mit einer Gegendarstellung zu Nesbits Vor- Abb. 32: Darstellung der Modell- und Schauspieltätigkeiwürfen gegen White an,388 entzog ten von High Society-Mitgliedern mit den Porträts sich letztlich aber der Aussage.389 (v.r.i.UZS) von Mazie Follette, Evelyn Nesbit, May Indem sie sich in dieser Phase je- ­MacKenzie und Edna Chase (März 1907). doch geschickt in Szene gesetzt hatte, wie mit einer der Presse zugesandten Privataufnahme aus Florida, wohin sie sich abgesetzt hatte (Abb. 33), konnte sie laut dem Theatermagazin Standard and V­anity Fair »considerable newspaper advertising«390 für sich erzeugen. Noch ein halbes Jahr nach Prozessende konstatierte das Magazin über Follettes damit akkumulierte Aufmerksamkeit: »Everybody who knows anything about New York knows about Mazie, for even if they didn’t go to the theater the must have read of the Thaw affair, and in that Miss F[ollette]. played a more or less prominent part, 386 Women Who Figure in Celebrated Murder Case Now Nearing Its Final Climax, Evening Telegram, 21.1.1907. 387 Vgl. Actress to Go on Stand to Tear Down Wife’s Story, Buffalo Courier, 23.2.1907, S. 2. 388 Vgl. Former Chums of Mrs. Evelyn Thaw Help Jerome Set Many Traps For Her On Stand, Evening World, 23.2.1907, S. 1, hier S. 1. Dies erregte Nesbits Ärger: »Everyboday [sic] has turned against me but you. Even the rotten M[azie]. Follette«, in: Brief von Evelyn Nesbit an Harry Thaw [22-24.2.1907], UC, Folder 10, Index K-L. 389 Vgl. Would You Take Her for a Whit, in: Standard and Vanity Fair (Mär. 1908). 390 Miss Mazie Follette, in: Standard and Vanity Fair 39:915 (1.3.1907), Cover.

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mainly anti-Thaw.«391 Dennoch darf angenommen werden, dass ihre enge Verbindung mit Stanford White letztlich zum Problem wurde, als sich Nesbits Deutung des Falls durchsetzte. Vermutlich deshalb ging Folette ein Jahr später für ein Schauspielengagement nach London und schied damit aus der New Yorker High Society aus.392 Dagegen gelang es anderen, wie Edna Goodrich oder Edna Chase, sich von ihrer Verbindung zu White zu distanzieren.393 So konnten sie das im Thaw-Prozess angesammelte Aufmerksamkeitskapital nutzen, um ihre Theaterkarrieren weiter voranzubringen und ihre Face-to-Face-Kontakte in der High Society zu erweitern.394 Familie und Formen der Sichtbarkeit Mit dem Prozessbeginn rückte die zweite Untersuchungsgruppe, die FaAbb. 33: Fotopostkarte mit einer Aufnahme von milie Thaw, wieder in die mediale Hattie Forsythe in Palm Beach, Florida, welche sie Aufmerksamkeit, da Verwandte von ­ mit »Best Wishes H. F.« an die Evening World Skandalisierten doch per se für die schickte, die sie prompt abdruckte. Skandalberichterstattung von Interesse sind.395 Wie diese mit Teilöffentlichkeiten umgingen, macht deutlich, welche teils »erhebliche Binnendifferen­zierung«396 sich in Reaktion auf mediale Sichtbarkeit ergab. Dabei lassen sich zwei Muster unterscheiden: Entweder akzeptierten sie ihre

391 Tennyson’s Dream of Fair Women, in: Standard and Vanity Fair (Okt. 1907). 392 Vgl. Rennold Wolf: Chronicles of Broadway, in: Green Book Album 6:5 (Nov. 1911), S. 967-91, hier S. 972-4. 393 Vgl. Edna Goodrich Denies Going to White’s Studio, New York World, 9.2.1907, S. 2. 394 Edna Goodrich blieb bis 1914 am Broadway und wechselte dann in das Filmgeschäft, vgl. ›Florodora‹ Revival Recalls Romances of Original Sextet, Sun and New York Herald, 21.3.1920, S. VII.5. Zwischen 1908 und 1911 war sie durch eine skandalöse High Society-Ehe mit dem Schauspieler Nathaniel »Nat« C. Goodwin medial sichtbar, vgl. Goodwin Divorce Case on. Lambs Can’t Hear Trial, Evening World, 23.1.1911, S. 3. 395 Vgl. Burkhardt: Skandal, S. 19-20, 25. 396 Taillez: Bürgerleben, S. 21.

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Verbindung mit Harry Thaw und stellten sich der medialen Aufmerksamkeit oder sie versuchten sich abzukoppeln. Letzteres war der Fall für Thaws Halbgeschwister. Fast alle waren Mitglieder der Pittsburgher Upper Class mit Verbindungen nach New York und verweigerten nach dem Mord ihre mediale Sichtbarmachung. Das gelang zwar in den ersten Monaten, doch nur zum Preis ihres Rückzugs aus New York, da ihre Verwandtschaftsbeziehung es verunmöglichte, die Stadt unbehelligt zu besuchen.397 Dies galt insbesondere für ihre sichtbarsten Mitglieder, die Familie von Thaws ältestem Bruder Benjamin.398 Im Dezember 1906 sah sich seine Frau, Elma Dows Thaw, sogar gezwungen, ihr erst kürzlich erworbenes Haus an der 5th Avenue zu verkaufen, das ein ostentatives Symbol ihres Anspruchs war, zur nationalen Upper Class zu gehören.399 Als Grund identifizierten die Printmedien die »unpleasant notority which this celebrated case has brought upon the family«.400 Mit dem räumlichen Rückzug aus New York konnten sie sich dieser Sichtbarmachung weitestgehend entziehen. Die andere Familienfraktion bildeten Harry Thaws vier Geschwister, die während des Skandals öffentlich zu ihm hielten: Margaret Thaw Carnegie, Alice Thaw Countess of Yarmouth, Josiah »Joe« und Edward. Trotz des darin liegenden Konflikt­ potenzials hatte ihre Mutter von ihnen verlangt, im Gericht zu erscheinen, um medial das Bild einer zusammenstehenden Familie zu erzeugen.401 Der so sichtbar werdende Bruch der Thaws in die Fraktionen der Halbgeschwister von Harry Thaw auf der einen, der seiner Vollgeschwister und Mutter auf der anderen Seite, vertiefte sich während des Prozesses.402 Trotz ihrer fundamentalen Unstimmigkeiten über die Bewertung von Thaws Tat blieben sie jedoch durch den Coke Trust weiterhin mit­einander verbunden.403

397 Vgl. Brief von Lidia Thaw Edwards an ihre Tante Mary Thaw Thompson (2.3.1907), in: Children of Wm Thaw: Mary Thaw Thompson, Corr. (1876-1910), SJHHC, DLAD, MSS #29, Box 7, Folder 6. 398 Die society pages berichteten etwa über deren Teilnahme an der Sommersaison in Newport, entkoppelte das aber von dem Skandal, vgl. The Newport Carnival, New York Tribune, 7.8.1906, S. 7; About People and Social Incidents, New York Tribune, 11.9.1906, S. 6. 399 Vgl. The Real Estate Market, Sun, 19.12.1906, S. 11. Zur sozialen Distinktionsfunktion der New Yorker Stadtpalais im Gilded Age vgl. Homberger: New York, S. 15-6; ferner Wayne Craven: Gilded Mansions. Grand Architecture and High Society, New York/London 2009. 400 People, National Tribune, 27.12.1906, S. 2. 401 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 196. 402 Vgl. Brief von Alexander Blair Thaw an Mary Thaw Thompson (24.3.1907), in: Children of Wm Thaw: Mary Thaw Thompson, Corr. (1876-1910), SJHHC, DLAD, MSS #29, Box 7, Folder 6. 403 Dieser Konnex zwischen Privatem und Geschäftlichem mache laut Simone Derix »Distanz und Nähe in familialer Perspektive [zu] kein[em] eindeutige[n] Gegensatzpaar.« Dies.: Distanzen, S. 59.

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Die im Gerichtssaal versammelte Familie bot Pressevertreter*innen willkommene human interest stories.404 Edward und Josiah Thaw erlangten als regionale Upper Class-Mitglieder aus Pittsburgh, die bislang medial kaum in Erscheinung getreten waren, weiterhin keine Aufmerksamkeit.405 Dies verdeutlichte, dass es sich um eine begrenzte Ressource handelte, wie es auch der Journalist Irvin S. Cobb als Spezifikum im Prozess hervorhob: »From a reporter’s point of view you couldn’t beat that trial as a continuing story. There was something to write about every minute.«406 Thaws Schwestern verdeutlichten hingegen, wie die Verbindung zu High SocietyMitgliedern es Individuen ermöglichen konnte, ohne eigene Anstrengung in den Fokus der Medien zu gelangen. Nach dem medialen Flop ihrer Hochzeit im Frühjahr 1903 war Alice Thaw weder in den USA noch im Vereinigten Königreich medial in Erscheinung getreten. Erst der Skandal um ihren Bruder machte sie erneut zum »object of much attention«.407 Erstens wurde ihre Beziehung zu Harry Thaw entlang moralischer Idealvorstellungen von Geschwisterlichkeit thematisiert: Alice Thaw kündigte an, im Prozess zu ihrem Bruder stehen zu wollen, zeigte öffentliche Einigkeit mit ihrer Schwägerin Evelyn Nesbit und ließ sich sowohl emotional wie physisch von der Aussicht auf das Verfahren so mitnehmen, dass dieser Zustand selbst wiederum Thema der Gesellschaftsberichterstattung wurde.408 Dabei waren es eher Pressevertreter*innen, die sie sichtbar machten, als dass sie sich selbst um mediale Aufmerksamkeit bemühte. Diesen galt Alice Thaw als so »touchingly fond of her brother«,409 dass sie sie unter Thaws Geschwistern zum emotionalen Pendant von Nesbit als Ehefrau aufbauten. Zudem rückten ihre Kleidung und ihr Auftreten in den Fokus. Sie galt als »[the] prettiest of all the Thaw stock«,410 doch bot diese Exponiertheit zugleich eine Angriffsfläche, wie Nixola Greeley-Smith demonstrierte: She is a pretty woman, and her attire is distinctly smarter than that [of the other Thaw women and Nesbit, ES] […] Her beauty has not the unusual quality that 404 Damit greift die eindimensionale Bewertung von Familienmitgliedern etwa nach finanziellem Erfolg zu kurz. Während Harry Thaw für einen Teil seiner Familie zur Persona non grata wurde, ermöglichte er anderen mediale Sichtbarkeit. Dies konzeptionalisierte für Familiennetzwerke dies.: Thyssens, S. 41. 405 Über eine bloße Nennung ihrer Anwesenheit gingen die Zeitungen nicht hinaus, vgl. bspw. Court Rebukes Jerome in the Thaw Lunacy Hearing, Evening World, 21.3.1907, S. 1-2, hier S. 1. 406 Cobb: Stickfuls, S. 275. 407 Williams: Reporting, S. 460. 408 Vgl. Camp on Trail of May M’Kenzie at the Lorraine, Evening World, 17.1.1907, S. 3; Thaws Agree on an Insanity Plea, Evening World, 26.7.1906, S. 1-2, hier S. 2; Thaw’s Sister Broods over White Murder, Evening World, 5.1.1907, S. 1. 409 Nixola Greeley-Smith: Countess of Yarmouth a Great Beauty, but of a Different Type From Pale, Shrinking Young Wife, Who Smiles Tenderly at Thaw, Evening World, 29.1.1907, S. 3. 410 Jerome Backs Down in His Row With Thaw’s Lawyers, Evening World, 22.3.1907, S. 1-2, hier S. 1.

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made Evelyn Nesbit the idol of New York studios. In fact, if she were not well dressed and a countess, she would not be likely to attract any marked degree of attention.411 Gerade der körperliche Vergleich mit Evelyn Nesbit war für Alice Thaw unvorteilhaft. Ihre durchschnittliche Schönheit festzustellen, war besonders demütigend, stellte diese doch eine der Zugangskriterien für Frauen in die High Society dar. Doch ermöglichte ihr die Anwesenheit vor Gericht, ihren Schmuck und teure Kleidung auszuführen, was die Kommentatorinnen dezidiert positiv bewerteten. Somit erzeugten die drei Nachrichtenfaktoren ihrer Verwandtschaft mit Thaw, ihrer Erscheinung und ihres Verhaltens mediale Aufmerksamkeit.412 Dass diese Faktoren nicht automatisch die Sichtbarkeit in den Medien garantierten, zeigt das Beispiel ihrer Schwester, Margaret Thaw Carnegie. In Aussehen, Kleiderwahl und Auftreten galt sie als »the least conspicuous figure in the group of [Thaw-]women«,413 und wurde so von den Journalist*innen kaum erwähnt. Während Alice Thaw neben offiziellen Porträtfotografien auch durch Illustrationen eine aktiven (Zuschauer-)Rolle zugeschrieben bekam und ihr Körper ins Zentrum rückte – C. Allan Gilbert porträtierte sie beispielsweise als Gibson Girl  –,414 blieb Margaret Thaw Carnegie auch visuell unsichtbar.415 Somit rückte Alice Thaw aufgrund ihrer medialen Vorgeschichte, ihres sozialen Kapitals als Adelige und ihrer besseren Verwertbarkeit als gutaussehende, konsum­ orientierte Frau in das Interesse der Medien. Damit zeigte sich an ihr im Kleinen, was für den Prozess im Großen galt: Die Konkurrenz um Aufmerksamkeit konnte einerseits von Individuen fordern, sich medial in Szene zu setzten, da davon abhing, ob sie sichtbar wurden oder unsichtbar blieben; andererseits konnten Verbindungen und die nötigen Nachrichtenfaktoren wie Aussehen oder Schönheit dazu führen, die Aufmerksamkeit der Medien zu erregen. Als zweite Gruppe rückten die Mütter von Evelyn Nesbit und Harry Thaw, Florence Holman und Mary Copley Thaw, stärker in den medialen Fokus. Einerseits aus diskursiven Gründen, da Müttern zur Jahrhundertwende noch immer eine besondere

411 Nixola Greeley-Smith: Countess of Yarmouth a Great Beauty, but of a Different Type From Pale, Shrinking Young Wife, Who Smiles Tenderly at Thaw, Evening World, 29.1.1907, S. 3. 412 Vgl. zu diesen Faktoren auch Hornung: Welt, S. 78-9. 413 Nixola Greeley-Smith: Four Women Who Figure Conspicously in Millionaire’s Trial. Young Wife a Pathetic Spectacle, Emaciated and Waxen-White, Evening World, 24.1.1907, S. 3. 414 Vgl. Thaw, His Wife and the Countess of Yarmouth in the Courtroom, Evening World, 1.2.1907, S. 3. Zu Fotografien vgl. Titled Sister to See Thaw, New York American, o. D. [Ende Juli 1906]. 415 Selbst in einer nur den Prozessakteurinnen gewidmeten Collage fehlt Margaret Thaw Carnegie, vgl. Women Figures in the Famous Thaw Tragedy. Widow of the Victim and the Devoted Mother, Sister and Wife of Millionaire Slayer, Evening World, 21.1.1907, S. 3.

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Rolle im Leben ihrer Kinder – vor allem der Söhne – zugeschrieben wurde.416 Andererseits entwickelten die Medien aus den Beziehungen zu ihren Kindern ein besonderes Spannungsfeld, das maßgeblich auf ihren medialen Status zurückwirkte. Bereits in den Wochen nach dem Mord urteilten die Sensationsmedien kontrovers über beide, die sie an Idealen viktorianischer Mutterschaft, wie Fürsorge und Schutz, Selbstständigkeit und Stärke maßen.417 Florence Holmans Charakterisierungen schwankte zwischen der einer verantwortungslosen Mutter, die sich gegen Harry Thaw und damit das Glück ihrer Tochter gestellt habe,418 und ihrer Verteidigung als überforderte Alleinerziehende.419 Kurz vor Prozessbeginn konstruierte die yellow press ein zunehmend positives Bild von Holman, die mit der Staatsanwaltschaft kooperiere, um ihre Tochter vor den Thaws zu schützen, die sie mit ihrer Aussage auszunutzen drohten.420 Mary Copley Thaw zeichneten die Sensationspresse ebenso wie die Leser*innen als ideale Mutterfigur und bemitleidenswertes Opfer: Als Inbegriff viktorianischer Mütterlichkeit halte sie weiter zu Thaw, obwohl sie seine Tat an den Rand des Nervenzusammenbruchs geführt habe.421 Angelpunkte ihrer Wahrnehmung waren ihr Vermögen und ihr Alter von 65 Jahren, worüber Medienvertreter*innen sie als alte Frau und wohltätige Matriarchin konstruierten.422 Damit schlossen sie einerseits an sentimentale Diskurse im letzten Drittel des 416 Vgl. Rebecca Jo Plant: Mom. The Transformation of Motherhood in Modern America, Chicago 2010, S. 89-90. Nach der Amerikanistin Ann Douglas ist »[the Victorian matriarch] the ascendant cultural force in late-Victorian America«, dies.: Terrible Honesty. Mongrel Manhattan in the 1920s, New York 1996, S. 7. Mutter-Sohn-Beziehungen sollten durch die Arbeiten Sigmund Freuds in den 1910er Jahren nochmal eine neue Bedeutungsebene erhalten, vgl. Mark A. Holowchak: Freud’s Oedipus Complex. Shibboleth or Canard?, in: ders. (Hg.): Radical Claims in Freudian Psychoanalysis. Point/Counterpoint, Lanham 2011, S. 9-30. 417 Diese Kontroverse passte zu zeitgenössischen Ansichten über Familienrollen: »[They] were continuously shifting from absolute to relative, conditional, flexible, and fluid.« David Barrett/ Maria Kukhareva: Family Relationships, in: Joseph M. Hawes/N. Ray Hiner (Hg.): A Cultural History of Childhood and Family in the Modern Age (= A Cultural History of Childhood and Family, 6), Oxford 2010, S. 21-37, hier S. 23-4, Zitat: S. 23. 418 Vgl. Hard Blow for Thaw, New York Tribune, 23.7.1906, S. 2. 419 Vgl. The Home Circle: The Problem of a Daughter, in: Watchman 88:32 (9.8.1906), S. 12. 420 Vgl. Thaw Lashed His Wife; Her Mother to Get Revenge, Evening World, 2.1.1907, S. 1-2, hier S. 1; Harry Thaw Has His Nemesis in Mother-in-Law, Philadelphia Enquirer, 3.1.1907. 421 Vgl. den Leserbrief in Editorial. Not a Strange Providence, in: New York Observer and Chronicle 84:45 (8.11.1906), S. 583-4, hier S. 583; vgl. ferner Harry Thaw’s Mother, Real Victim of Madison Square Roof Tragedy, Evening World, [19.7.1906]. Zum Topos unbedingter Mutterliebe vgl. Jan Lewis: Mother’s Love: The Construction of an Emotion in Nineteenth-Century America, in: Rima D. Apple/Janet Lynne Golden (Hg.): Mothers & Motherhood. Readings in American History, Columbus 1997, S. 52-71, hier S. 58. 422 Vgl. etwa A New Theory in Pittsburg, New York Times, 2.7.1906, S. 2. Dies war Ausdruck eines kulturellen Alterskonzepts, vgl. Brigitte Röder: Von der Urgeschichte bis nach Sulawesi: die kulturelle Vielfalt des Alter(n)s, in: dies. (Hg.): Alter(n) anders denken. Kulturelle und biologische Perspektiven (= Kulturgeschichte der Medizin, 2), Köln 2012, S. 15-50, hier S. 26-8.

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19. Jahrhunderts über Patriarchenfiguren an, in denen diese als charakterfeste Ruhepole der Familie fungierten,423 andererseits an die Ideologie der true womanhood, die sich in charity, der christlichen Wohltätigkeit, entfaltete.424 Damit widersprach sie erst einmal den Kriterien, die für die High Society-Berichterstattung interessant waren, doch hielt sie über ihre Bedeutung für die Verteidigung und ihre kontrastierende Rolle zu Florence Holman und deren Tochter Einzug in die Medienberichte. Das Spannungsverhältnis der drei Frauen zeigte sich besonders an ihrer Altersdifferenz, die im Bild, in Semantiken sowie im Alters-Handeln, dem doing age, sichtbar wurde.425 Florence Holman konnte ihr Alter performativ nicht sichtbar machen, da sie nicht am Verfahren teilnahm und nur durch wenige, bereits vorhandene Abbildungen visualisierbar war. Diese zeigten eine Frau, »not yet forty, and […] very beautiful«,426 die Anklänge an das Schönheitsideal des Gibson Girl hatte (Abb. 34, li.). Im Kontext ihres ambivalenten Fremdbildes und in Gegenüberstellung mit Mary Copley Thaw ließ sich das jedoch als Zeichen moralischer Korrumpiertheit interpretieren.427 Bei Letzterer war vor allem das doing age ausschlaggebend, das in Anlehnung an Judith Butlers doing gender von der performativen statt biologischen Zuschreibung von Alter ausgeht.428 Mary Copley Thaw betonte ihre gesundheitliche Fragilität, ließ sich teilweise bei ihren Gerichtsauftritten von Dritten stützen und erzeugte mit ihren weißen Haaren zu kontrastierender schwarzen Witwentracht den Eindruck einer Frau fortgeschrittenen Alters.429 Ihr doing age fand Eingang in die Semantiken der Presse: Während nur wenige Jahre zuvor der nur zwei Jahre jüngeren Theaterschauspielerin Sarah Bernhardt die erotische Rolle der Salome angeboten worden war,430 ordneten die Bilder und Berichte Harry Thaws Mutter in die

423 Vgl. Thomas R. Cole: The Journey of Life. A Cultural History of Aging in America, Cambridge 1992, S. 144-7. 424 Vgl. Sylvia D. Hoffert: A History of Gender in America. Essays, Documents, and Articles, Upper Saddle River 2003, S. 125. Zu den Ursprüngen dieses Konzepts vgl. McCarthy: Frauen, S. 19-28. 425 Vgl. Antje Kampf: Alter(n), Gender, Körper. Neue Verbindungen für die zeithistorische Forschung, in: ZH/SCH 10:3 (2013), S. 464-70, hier S. 467; zu doing age siehe Anm. 428 auf dieser Seite. 426 Evelyn Thaw’s Mother to Testify, New York Journal, 2.11.1906. 427 Vgl. so bei der textuellen und visuellen Gegenüberstellung in Nixola Greeley-Smith: Remarkable Contrast Presented by the Mothers in the Thaw Trial, One Fighting Loyally For, the Other Covertly Against Her Child, Evening World, 1.3.1907, S. 3. 428 Vgl. Klaus R. Schroeter: Altersbilder als Körperbilder: Doing Age by Bodyfication, in: Frank Berner/Judith Rossow/Klaus-Peter Schwitzer (Hg.): Individuelle und kulturelle Altersbilder (= Expertisen zum Sechsten Altenbericht der Bundesregierung, 1), Wiesbaden 2012, S. 155-229, hier S. 159-62. 429 Vgl. Mrs. William Thaw Tearfully Adds Her Testimony to Save Son’s Life: Lunacy Commission is Barred, Evening World, 6.3.1907, S. 1-2. 430 Vgl. Glenn: Female Spectacle, S. 97-8.

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Abb. 34: Die visuelle Kontrastierung der drei mit Thaw familiär verbundenen Frauen Florence Holman, Mary Copley Thaw und Evelyn Nesbit.

Kategorie einer asexuellen Witwe ein, deren Körper ihr fortgeschrittenes Alter illustrierte (Abb. 34).431 Im Prozess kumulierte der Vergleich der Mütterlichkeit von Holman und Copley Thaw: Letztere schien bereit, für ihren Sohn die häusliche Sphäre zu verlassen und private Details offenzulegen, um sich gleichsam für ihr Kind zu opfern.432 Das löste sie mit einer brüchig und tränenreich vorgetragenen Zeugenaussage ein, in der sie ein »simple but pathetic narrative« zu Protokoll gab: Harry Thaw sei aufgrund der Verge­ waltigungsgeschichte mit »unsound mind«433 aus Europa zurückgekehrt, habe ein Familiendrama ausgelöst und seine Balance erst wieder durch die Heirat mit Evelyn Nesbit gefunden.434 Diese human interest stories ermöglichten der Presse, einen Blick in ihre Privatheit zu geben, den auszuweiten sie sich bemühten, etwa indem sie ihr Upper Class-Le-

ben sichtbar machte.435 Die Überzeugungskraft von Mary Copley Thaws Rolle als »Militant Mother«436 war umso größer, als die Medien sie in ein Spannungsverhältnis mit Florence Holman setzten: Vor Prozessbeginn noch als Harry Thaws »Nemesis«437 rezipiert, kollabierte deren mediales Bild mit der Aussage ihrer Tochter.438 Evelyn Nesbit hatte sie bezichtigt, dem Missbrauch durch White Vorschub geleistet zu haben, womit sie erfolgreich einen Teil ihres im Kreuzverhör sichtbar gewordenen, als deviant wahr-

431 Vgl. Mrs. William Thaw Tearfully Adds Her Testimony to Save Son’s Life: Lunacy Commission is Barred, Evening World, 6.3.1907, S. 1-2. 432 Vgl. Lewis: Mother, S. 59-60. Dies passte auch zu ihrem Witwenstatus, vgl. Thomas A. J. ­McGinn: Widows and Patriarchy. Ancient and Modern, London 2008, S. 119-20. 433 Beide Zitate aus Mrs. William Thaw Tearfully Adds Her Testimony to Save Son’s Life. Lunacy Commission is Barred, Evening World, 6.3.1907, S. 1-2, hier S. 1. 434 Vgl. ebd., S. 2. 435 Vgl. z. B. Thaw Mansion Has Mystery Of Wife’s Suicide, Evening World, 22.4.1907, S. 2. 436 Nixola Greeley-Smith: Mrs. William Thaw a Militant Mother and a Good Witness for Her Son, Her Story Impressing Its Truth on the Minds of All Who Heard It, Evening World, 7.3.1907, S. 3. 437 Harry Thaw Has His Nemesis in Mother-in-Law, Philadelphia Enquirer, 3.1.1907, hier S. 1. 438 Vgl. Evelyn Thaw, in Trying Day on the Stand, Shows Mother in Bad Light, Evening World, 26.2.1907, S. 1-3, hier S. 2.

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genommenen Verhaltens ihrer Mutter zuschrieb.439 Zudem sprachen Kommentatorinnen wie Winifred Black Florence Holman mit der Vernachlässigung von Kind und Haushalt zentrale Werte viktorianischer Weiblichkeit ab.440 Der Vergleich mit Mary Copley Thaw war folglich desaströs: Statt hinter Tochter und Schwiegersohn zu stehen, hatte Holman mit der Staatsanwaltschaft kooperiert und dieser mit Nesbits Tagebuch gar »A WEAPON WITH WHICH TO STAB AT HER OWN CHILD«441 in die Hand gegeben.442 Der daraus folgende Popularitätsverlust der Mutter führte zum Entzug ihrer medialen Sichtbarkeit durch die Pressevertreter*innen. Zugleich reichte die Auseinandersetzung mit den zugrundeliegenden Gender- und Moralvorstellungen in die Alltagskultur: So verteilte wahrscheinlich seit Anfang März 1907 der Saloon-Betreiber James H. Barrrett aus Rushville, Indiana, Visitenkarten seiner Exchange Bar, auf deren Rückseiten das Gedicht »A Mother’s Appeal« zu lesen war (Abb. 35). Es beginnt mit dem Wunsch einer Jugendlichen, abends eine Schlittschuhbahn besuchen zu dürfen. Ihre »wise mother« verweigert dies mit Verweis auf Evelyn Nesbit: Wäre diese »close to home« geblieben, hätte weder Thaw sie verAbb. 35: Visitenkarte der Exchange Bar in führt noch White sie unter Drogen gesetzt und Rushville, Indiana. das Verhör durch Jerome wäre ihr erspart geblieben. Indem die Mutter die Tugendhaftigkeit ihrer Tochter schützt, bewahrt sie diese vor öffentlicher Bloßstellung, persönlichem Schmerz und gesellschaftlichem Ruin, womit sie das genaue Gegenteil zu Florence Holman bildet. Das Beispiel der drei Frauen zeigt die Vielschichtigkeit und Ambiguität von Frauenbildern zur Jahrhundertwende. Während Florence Holman und Mary Copley 439 Vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 530-1, UC, Container 15-16. 440 Winifred Black: People Were Stilled as with the Shadow of a Horrible Tragedy, New York American, 8.2.1907, S. 3. 441 Evelyn Nesbit Thaw Balks Jerome in His Effort to Discredit Her Story, Evening World, 20.2.1907, S. 1-2, hier S. 2. 442 Vgl. Nixola Greeley-Smith: Remarkable Contrast Presented by the Mothers in the Thaw Trial, One Fighting Loyally For, the Other Covertly Against Her Child, Evening World, 1.3.1907, S. 3.

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Thaw die Spanne der Idealbilder und Probleme moderner Mutterrollen umfassten, stand die idealisierte Mütterlichkeit Letzterer in dichotomem Verhältnis zur New Woman, die Evelyn Nesbit repräsentierte. Zusammenfassend zeigt sich, dass die Medialisierung von Nesbit und Thaw weitere High Society-Mitglieder und Verwandte sichtbar machen konnte, wobei deren Sichtbarkeit nur bedingt von ihrer eigenen Agenda abhing. Vielmehr wurden sie in Prozessnarrative und Rollenvorstellungen eingebettet, derer sie sich nur schwer entziehen konnten.

2.3. »Brain storm« oder »coldblooded cowardly murder«? Deutungskämpfe um Harry Thaw Nachdem das Verteidigerteam mit Evelyn Nesbits Aussage die Begründung für den Ehrenmord geliefert hatte, musste es der Jury noch ein juristisch valides Argument für einen Freispruch liefern. Dazu zog der Strafverteidiger Delphin Delmas psychiatrische Gutachter heran, die Thaws Unzurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt des Mordes nachweisen sollten. Laut New Yorker Strafgesetzbuch konnte in diesem Fall die Jury die Schuldunfähigkeit des Angeklagten feststellen – was in schweren Fällen jedoch die Einweisung in die Psychiatrie nach sich ziehen konnte.443 Diese insanity defense stand in ambivalentem Verhältnis zur unwritten law-Argumentation, konnte sie doch dem Angeklagten die Legitimität entziehen, wenn der Nachweis psychischer Probleme zu überzeugend gelang.444 Entsprechende Bedeutung kam den beiden juristischen Kontrahenten, Delmas und Jerome, zu, die Expertenmeinungen vor der Jury und der medialen Öffentlichkeit in eine für ihre Seite günstige Erzählung umzuformen. Davon ausgehend interessiert in dieser Studie, wie die Psychiater ihre medizinische Fachexpertise und -logiken der medialen Öffentlichkeit im Prozess vermittelten. In Kombination mit den beiden federführenden Juristen gibt dies Aufschluss darüber, wie unterschiedliche Akteursgruppen respektive Fachrichtungen auf die Medialisierung des Prozesses reagierten. Die Anstrengungen von Delmas und Jerome, mit ihrer Interpretation des Falls zu überzeugen, konzentrierten sich in ihren Schlussplädoyers, die abschließend gesondert betrachtet werden.

443 The Code of Criminal Procedure and Penal Code of the State of New York, as Amended, and in Force at the Close of the 129th Session of the Legislature. Annotated by John T. Cook, Albany 1906, §§ 21, 336, 454. 444 Vgl. Umphrey: Dementia Americana, S. 211.

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Expertenanhörung zwischen Fachzwängen und medialer Delegitimierung Der Thaw-Prozess wurde aufgrund seiner psychiatriegeschichtlichen Bedeutung für die Etablierung der dementia praecox (Schizophrenie) und als Höhepunkt der insanity defense aus medizingeschichtlicher Perspektive bereits intensiv untersucht.445 Der Medizinhistoriker Richard Noll bezeichnet ihn gar als Scheidemoment der amerikanischen Psychiatriegeschichte.446 Erst Anfang der 1880er Jahre – und damit vergleichsweise spät – war es der Psychiatrie gelungen, sich in den USA als wissenschaftliche Teildisziplin der Medizin zu etablieren.447 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand sie sich in einer Umbruchsituation, da sie einerseits zur Jahrhundertwende zunehmend in einer wissenschaftlichen Sackgasse gefangen zu sein schien, die verstärkt den Ruf einer Verwahrdisziplin hatte,448 andererseits neue Krankheitsbilder erforscht wurden und dadurch neue Diagnosen entstanden.449 Im Verfahren gegen Thaw zeigte sich erstmals das Potenzial der neuen Diagnosemöglichkeiten des deutschen Psychiaters Emil Kraepelin (1856-1926). Dessen Standardwerk »Psychiatrie« war im Jahr 1902 als Übersetzung in den Vereinigten Staaten erschienen. Es gab Psychiatern mittels eines differenzierten, symptombasierten Klassifikationssystems eine gemeinsame Basis für Diagnosen;450 jedoch setzte es sich erst Anfang der 1910er Jahre durch.451 So war es in Thaws Strafverfahren zwar allein sein Gutachter Charles G. Wagner, der ihm auf Basis von Kraepelin eine dementia praecox diagnostizierte, damit aber zu ihrer Etablierung als neues Krankheitsbild in den USA beitrug.452 Die Psychiatrie hatte gemeinsam mit der Kriminologie eine zunehmend gewichtige Rolle bei der juristischen Beurteilung von Straftätern erlangt.453 Sie war damit Teil der von Lutz Raphael für westliche Gesellschaften festgestellten »Verwissen­ 445 Vgl. Noll: American Madness, insb. Einführung und Kap. 6; Pinta: Examining; ders.: Paranoia; aus narratologischer Sicht vgl. Umphrey: Dementia Americana. 446 Vgl. Noll: American Madness, S. 2. 447 Vgl. ebd., S. 17. 448 Vgl. Peter McCandless: Curative Asylum, Custodial Hospital. The South Carolina Lunatic Asylum and State Hospital, 1828-1920, in: Roy Porter/David Wright (Hg.): The Confinement of the Insane. International Perspectives, 1800-1965, Cambridge 2003, S. 173-92, hier S. 188-90. 449 Vgl. Porter: Mental Illness, S. 255-6. 450 Ursprünglich 1883 erschienen, schuf die fünfte, überarbeitete Auflage von 1896 das Fundament einer wissenschaftlichen Diagnostik in der Psychiatrie, vgl. Noll: American Madness, S. 66-70. 451 Vgl. ebd., S. 110-1, 151-3. 452 In der Folge nutzten Psychiater immer häufiger die dementia praecox und schrieben sie fort, sodass sie sich bis zu Beginn des Ersten Weltkrieg auch in den benachbarten Feldern der Eugenik und Hygienebewegung etabliert hatte, vgl. ebd., S. 2. 453 Vgl. Nicole Hahn Rafter: Criminal Anthropology in the United States, in: Criminology 30:4 (1992), S. 525-45, hier S. 530-5, 539. Zur Verknüpfung von Kriminalität und Geisteskrankheit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in New York State vgl. Markus Hedrich: Medizinische Gewalt. Elektrotherapie, elektrischer Stuhl, psychiatrische »Elektroschocktherapie« in der USA, 1890-1950 (= Histoire, 67), Bielefeld 2014.

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schaftlichungsprozesse«,454 wobei Psychiater als Experten die Urteilsfindung objektivieren und absichern sollten.455 Diese institutionelle Legitimation und Kompetenzerweiterung führte jedoch zu permanenter juristischer und medialer Kritik an ihren Diagnosefähigkeiten.456 Ende des 19. Jahrhunderts zeigte sich das der nationalen Öffentlichkeit eindrücklich im Prozess gegen Charles J. Guiteau (1881-2), den Mörder von US-Präsident James A. Garfield. Die widersprüchlichen Diagnosen lösten massive öffentliche Empörung aus und führten dazu, dass die Geschworenen die Expertise der Psychiater schließlich ignorierten.457 Auch im Thaw-Prozess lässt sich diese grundsätzliche Problematik von Gutachteranhörungen beobachten. Daher wird im Folgenden genauer untersucht, wie die Psychiater daran scheiterten, ihre Fachexpertise und -zwänge medial zu vermitteln und welche Folgen dies für die Ärzte, ihr Fachgebiet und Harry Thaw hatte. Expertenrolle und Begutachtung Ausgangspunkt der Gutachteranhörung war Thaws Antrag auf Schuldunfähigkeit (plea of insanity), die es laut New Yorker Strafgesetzt mit einem right-wrong-test nachzuweisen galt. Dazu mussten Mediziner klären, ob die*der Angeklagte im Moment der Tat wusste, dass ihre*seine Handlung unrechtmäßig war (wrong), oder eine geistige Störung dies verhinderte (right).458 Zwar bildete diese simplifizierende Ja-Nein-Antwort den medizinischen Kenntnisstand der Mitte des 19. Jahrhunderts ab, doch deckte er sich mit dem theoretischen Grundverständnis des angloamerikanischen Strafrechts, wonach der freie Wille als Maßstab der Bestrafung galt.459 454 Vgl. Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20.  Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22:2 (1996), S. 165-93, hier S. 167-8, Zitat: S. 182. 455 Zur Konzeptualisierung vgl. Margit Szöllösi-Janze: Wissensgesellschaft in Deutschland: Überlegungen zur Neubestimmung der deutschen Zeitgeschichte über Verwissenschaftlichungsprozesse, in: Geschichte und Gesellschaft 30:2 (2004), S. 277-313, hier S. 277, 279-83, Zitat: S. 279; mit Blick auf die Psychiater vgl. Urs Germann: Der Ruf nach der Psychiatrie. Überlegungen zur Wirkungsweise psychiatrischer Deutungsmacht im Kontext justizieller Entscheidungsprozesse, in: Désireée Schauz/Sabine Freitag (Hg.): Verbrecher im Visier der Experten. Kriminalpolitik zwischen Wissenschaft und Praxis im 19. und frühen 20. Jahrhundert (= Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, 2), Stuttgart 2007, S. 273-93, hier S. 277-8. 456 Vgl. Janet A. Tighe: The Legal Art of Psychiatric Diagnosis: Searching for Reliability, in: Charles E. Rosenberg/Janet Lynne Golden (Hg.): Framing Disease. Studies in Cultural History, New Brunswick 1992, S. 206-26, hier S. 208. 457 Vgl. Charles E. Rosenberg: The Trial of the Assassin Guiteau. Psychiatry and Law in the Gilded Age, Chicago et al. 1968, S. 183-5, 253-6. 458 Vgl. The Code of Criminal Procedure and Penal Code of the State of New York, as Amended, and in Force at the Close of the 129th Session of the Legislature, Annotated by John T. Cook, Albany 1906, §§ 20, 21. 459 Vgl. Robert Allan Carter: History of the Insanity Defense in New York State, Albany 1982, S. 7; Lawrence M. Friedman: Crime and Punishment in American History, New York 1993, S. 143-4.

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­ agegen standen vermehrt die Erkenntnisse der zeitgenössischen gerichtsmediziniD schen Disziplinen, wie Psychologie, Psychiatrie und Kriminologie, deren determi­ nistische und empirische Erklärungsansätze diese Gewissheit infrage stellten.460 Dennoch war der Test seit 1881 unverändert im New Yorker Strafgesetzbuch verankert. Folglich divergierten das juristische und medizinische Verständnis geistiger Unzurechnungsfähigkeit: Betteten die Mediziner die Frage nach Thaws Schuldfähigkeit in seine Krankengeschichte und Untersuchungen nach der Tat ein, reduzierten sie die Juristen allein auf die Frage der freien Willensentscheidung im Moment der Straftat.461 Dieser Systemfehler stand unter entsprechend scharfer Kritik von beiden Seiten,462 doch bildete er auch noch 1907 die Grundlage der Gutachteranhörung. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die berufenen Psychiater diese Grundproblematik verständlich machten und ob die Medienvertreter*innen diese Divergenz überhaupt wahrnahmen. Denn letztlich hing die Legitimation der psychiatrischen Wissenschaftlichkeit vom erfolgreichen Wissenstransfers aus ihrem Arkanbereich in die Laienöffentlichkeit ab.463 Der Verteidiger Delphin Delmas behauptete gegenüber den Juroren, dass Thaw unzurechnungsfähig war, als er White tötete. Dessen Wahnvorstellungen seien eine Folge von Nesbits Vergewaltigungsgeschichte gewesen, von denen er sich mit dem Mord an ihrem Verursacher befreit habe.464 Doch blieb dieses Argument nicht der juristisch notwendige Steigbügel für die Ehrenmorderzählung, als der er gedacht war, sondern entwickelte eine Eigendynamik.465 Einerseits schienen die Belege für Thaws Geisteskrankheit nicht – wie bei dem unwritten law sonst üblich – vorgeschoben zu sein: Die Kombination aus den Geschichten seiner sexuellen Perversionen in Nesbits Kreuzverhör und den Aussagen von Laienzeugen über Thaws irrationales Verhalten am Mordabend hatte bereits eine gewisse Wirkmacht erzeugt, die der Anhörung der Psychiater vorwegging.466 Andererseits drohte der Verlauf der Gutachteranhörung die Verteidigungsstrategie in ihrer Gesamtheit zu erschüttern. 460 Vgl. Erickson/Erickson: Crime, S. 10; James C. Mohr: Doctors and the Law. Medical Jurisprudence in Nineteenth-Century America, New York/Oxford 1993, S. xiii. 461 Vgl. Roger Smith: Trial by Medicine. Insanity and Responsibility in Victorian Trials, Edinburgh 1981, S. 161-75, insb. S. 168-9. 462 Vgl. etwa J. W. Robertson: The Medico-Legal Responsibilities of the Physician in Cases Where Insanity Is Alleged as a Defense, in: California State Journal of Medicine 2:7 (1904), S. 224-8, hier S. 226. 463 Vgl. Petra Boden/Dorit Müller: Popularität – Wissen – Medien, in: dies. (Hg.): Populäres Wissen im medialen Wandel seit 1850 (= LiteraturForschung, 9), Berlin 2009, S. 7-14, hier S. 7-8. 464 Vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 915-922.1/2, UC, Container 15-16. 465 Vgl. Umphrey: Dementia Americana, S. 212. 466 Damit bildeten auch in Thaws Fall »[d]anger and perversion […] the essential theoretical core of expert medico-legal opinion«, wie Michel Foucault konstatiert; ders.: Abnormal. Lectures at the Collège de France, 1974-1975, New York 2003, S. 34.

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Beide Prozessparteien hatten einige der renommiertesten Psychiater Amerikas verpflichtet.467 Als Erstes sagten Charles G. Wagner und Britton D. Evans für die Verteidigung aus. Sie hatten Harry Thaw in den Wochen nach dem Mord mehrmals untersucht und ihn aufgrund seiner physischen und psychischen Symptome für unzurechnungsfähig befunden.468 Konträrer Meinung war William T. Jeromes sechsköpfiges »squadron of experts«,469 die Thaw – ohne persönliche Anamnese – für voll schuldfähig hielten.470 Daraufhin führte die Verteidigung fünf weitere Gutachter ins Feld, die erneut das Gegenteil behaupteten.471 Der mediale Eindruck der Unwissenschaftlichkeit Während die New York Times versuchte, weitgehend wertungsfrei diesen Aufmarsch der Gutachter wiederzugeben,472 rezipierte die Sensationspresse die widersprüchlichen Diagnosen als Farce: »Never before were there so many theories and so much ›bughose‹ knowledge dumped at one time at the feet of justice«,473 kommentierte Dorothy Dix. Der Psychiatrie Unwissenschaftlichkeit vorzuwerfen, war zur Jahrhundertwende bereits selbst klischeehaft.474 Gleichwohl hatten Fachvertreter, wie der Verleger des Medico-Legal Journal, Charles H. Hughes, noch vor Beginn des Medienereignisses im Thaw-Prozess die Chance gesehen, endlich öffentlichkeitswirksam die Deutungshoheit der Psychiatrie über die Frage nach der Schuldfähigkeit von Angeklagten durchzusetzen.475 Jedoch intensivierte sich in den Kreuzverhören der Mediziner der Eindruck ihrer Unwissenschaftlichkeit. Weder Jerome noch Delmas gelang es, ihnen übereinstimmende Diagnosen zu entlocken.476 Dabei kann die These formuliert werden, dass die Gutachter die mediale Aufmerksamkeit nicht mitdachten, als sie sich gegenseitig angriffen und wechselseitig ihre Expertise absprachen. 467 Da die Berichterstattung nicht zwischen Psychiatern und Neurologen differenzierte, wurde auch in dieser Untersuchung auf eine Unterscheidung verzichtet, da sich daraus kein analytischer Mehrwert ergibt. 468 Vgl. Thaw Crazy on Night of Murder, Expert Swears, Evening World, 12.2.1907, S. 1-3, hier S. 2; Mrs. Thaw Tells of Note Passed to Her Husband, Evening World, 11.2.1907, hier S. 2. 469 Vgl. Thaw Knew It Was Murder, New York Times, 16.3.1907, S. 2. 470 Vgl. Evelyn Nesbit Can’t Testify Against Abe Hummel, But Delmas Flays Him, Evening World, 15.3.1907, S. 1-2, hier S. 2. 471 Vgl. Evelyn Nesbit Thaw to Go on the Witness Stand Again, Evening World, 19.3.1907, S. 1-2; Evelyn Thaw’s Affidavit Is At Last Before The Jury, Evening World, 18.3.1907, S. 1-2. 472 Vgl. etwa in Dr. Flint Declares Thaw Was Sane, New York Times, 15.3.1907, S. 1, 3. 473 Dorothy Dix, o. T., New York Evening Journal, 15.3.1907, S. 2, zit. nach Umphrey: Dementia Americana, S. 215. 474 Vgl. Mohr: Doctors, S. 198-9. Siehe ferner Anm. 817. 475 Vgl. Charles H. Hughes: Editorial. The Case of Thaw, in: Medico-Legal Journal 24:3 (Dez. 1906/7), S. 490-2, hier S. 490-1. 476 Vgl. Pinta: Paranoia, S. 18.

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Besonders deutlich macht das der Hauptgutachter der Verteidigung, Dr. Britton Evans, Leiter des State Asylum in Morris Plains, New Jersey. Er diagnostizierte Thaw Wahnvorstellungen während der Mordnacht: »I observed a nervous agitation and restlessness, such as comes from a severe brain storm[!], and [it] is common in persons who have recently gone through an explosive or fulminating condition of mental unsoundness«.477 Zwar schien der Befund im Nachgang zu Nesbits Aussage verständlich, illustrierte anschaulich Thaws mentale Zerrüttung und ermöglichte es, Sympathien zu wecken.478 Doch schaffte Evans es damit weder, die Deutungshoheit über seine medizinische Expertise zu behaupten, noch seine Diagnose im medialen Narrativ über Thaw zu verankern. An erstem Punkt scheiterte er, als er im weiteren Verlauf seiner Anhörung Thaws Zustand als »paranoidic form of insanity« bezeichnete.479 Paranoia galt als schwere, praktisch unheilbare Geisteskrankheit – eine Zuschreibung, die Evans im Kreuzverhör nur mühsam wieder relativieren konnte. Dadurch erweckte Jerome für die Medienöffentlichkeiten den Eindruck, Evans habe mit dem »brain storm« eine schwere Geisteskrankheit verschleiern wollen und sei als Experte käuflich.480 Ebenso heftig fiel die Kritik der Gutachter der Anklage an Evans aus, wie die Evening World berichtete: »›There is no such thing [as a brain storm]‹ said Hirsch, showing animation for the first time, ›No such term is knwon among scientific men. It is not a scientific term.‹« Für ihn stünde vielmehr außer Zweifel: »[Thaw] did know the nature and quality of the act, and he undoubtedly knew the act was wrong«.481 Hirschs Urteil folgten zwar vier seiner Kollegen, jedoch gab es unter ihnen auch abweichende Meinungen.482 Mit diesen Auseinandersetzungen untergruben die Mediziner vor den Augen der Gerichtsberichterstatter*innen nicht nur die Fachautorität ihrer Kollegen, sondern zugleich die ihrer Profession.483 Entsprechend fragte der Kommentator William Hooster am Ende der ersten Kreuzverhöre ratlos die Leser*innen des New York American: »Balancing so many experts on the one side, with strong convictions, against so many other experts on the other side with eqully strong convitions, what is the answer?«484

477 Thaw Insane When He Shot, New York Times, 13.2.1907, S. 1, 3, Zitat: S. 3. 478 Vgl. Pinta: Examining, S. 87. 479 Vgl. Thaw Says He Feared Assassination; His Own Story of Killing of White, Evening World, 18.2.1907, S. 1-2, hier S. 2. 480 Vgl. Umphrey: Dementia Americana, S. 214-5. 481 Evelyn Nesbit Can’t Testify Against Abe Hummel, But Delmas Flays Him, Evening World, 15.3.1907, S. 1-2, hier S. 2. 482 Vgl. ebd. Die entsprechenden Passagen fehlen im überlieferten Prozessprotokoll in der UC. 483 Vgl. Paul Starr: The Social Transformation of American Medicine. The Rise of a Sovereign Profession and the Making of a Vast Industry, New York 1982, S. 12, 15. 484 Mother, on Stand To-Day, Will Tell Why Thaw Went Mad, New York American, 5.3.1907, S. 1, 4, hier S. 1.

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Dies zeigt zweitens, dass nicht nur Evans an dem überzeugenden Wissenstransfer und der medialen Aufmerksamkeit gescheitert war. Zwar hatte er mit dem »brain storm« ein griffiges Schlagwort geliefert, dass innerhalb weniger Tage Eingang in die Alltagssprache fand und etwa als Musikstück unter dem Titel »Brain-Storm Rag«485 Teil der Populärkultur wurde.486 Auch hatte er laut dem Historiker und Psychiater Emil Pinta eine insgesamt plausible Diagnose entwickelt.487 Doch konnte sich Evans vor dem Hintergrund der öffentlich ausgetragenen, jedoch nicht verständlich kommunizierten Fachdebatten in den Augen der Medienvertreter*innen nicht behaupten. Die Delegitimierung betraf nicht nur einzelne Individuen, sondern erstreckte sich auf die Psychiatrie im Allgemeinen. Dies zeigten die weiteren Befunde der Verteidigung, welche zwischen »insane delusions«488 (Britton Evans), »a possible hereditary taint [of insanity]« und »maniacal furor«489 (Graeme Hammond) zu »signs of adolescent insanity and dementia praecox«490 (Charles Wagner) changierten.491 Dabei offenbarte die Vielfalt der Thaw zugeschriebenen Psychosen, dass eine Krankheitsklassifikation in der Psychiatrie ebenso fehlte wie eine Begriffssystematik für Krankheitsbilder.492 Als der Neurologe Graeme M. Hammond diese Fehlstelle schließlich explizit einräumte,493 lieferte er Teilen der Presse die Steilvorlage, seine Aussage als Beleg für die unwissenschaftliche Beliebigkeit psychiatrischer Gutachten heranzuziehen.494 In der Rückschau konstatierte einer von Thaws Experten, William A. White, diese Problematik, mit der er sich und seine Kollegen konfrontiert sah: »[T]he facts are frequently distorted in their passage through this medium [the newspapers] to the public«, mit der Folge, dass ihre Gutachten vor dem Hintergrund einer »most inadequate idea«495 des Falles in der Öffentlichkeit verhandelt werden würden. 485 Bud Manchester (=E. J. Stark): Brain-Storm Rag, Stark Music Co., St. Louis 1907, NYPL, PARC, M, P. I. (Rag) (Manchester. Brain-storm rag). 486 Der »brain storm« fand Eingang »into the current coinage of Broadway slang«, Thaw Makes Attack on Jerome Methods; Trial May Be Stopped, Evening World, 28.2.1907, S. 1, hier S. 2. 487 Vgl. Pinta: Examining, S. 88. 488 Thaw Says He Feared Assassination; His Own Story of Killing of White, Evening World, 18.2.1907, S. 1-2, hier S. 1. 489 Thaw Testimony May Close To-Day, New York Times, 19.3.1907, S. 1-2 oder Evelyn Thaw’s Affidavit Is At Last Before The Jury, Evening World, 18.3.1907, S. 1-2, hier S. 2. 490 Thaw’s Mother Next Witness for Defense, Evening World, 4.3.1907, S. 1-2, hier S. 2. 491 In den Diagnosen überlagerten sich mehrere medizinische Diskurse, die von Neurasthenie (Evans) über die Eugenik (Hammond) bis hin zu verschiedenen Theorien über Geisteskrankheit (Hammond und Wagner) reichten, vgl. dazu Lynn Gamwell/Nancy Tomes: Madness in America. Cultural and Medical Perceptions of Mental Illness before 1914, Ithaca 1995, S. 125-35. 492 Vgl. Noll: American Madness, S. 46-47, 74-6, 154. 493 Vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 4019-24, insb. S. 4022-3, UC, Container 15-16. 494 Vgl. Thaw Testimony May Close To-Day, New York Times, 19.3.1907, S. 1-2, hier S. 2; so auch Noll: American Madness, S. 154, 157; Umphrey: Dementia Americana, S. 214-5. 495 William A. White: Expert Testimony and the Alienist, in: New York Medical Journal 88:4 (1908), S. 150-4, hier S. 150.

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Nur zwei Gutachter, Charles Wagner und Smith Ely Jelliffe, weigerten sich, Thaws Krankheit zu spezifizieren, obwohl sie im right-wrong-test seine Unzurechnungsfähigkeit bestätigt hatten.496 Sie entkoppelten damit die juristische Frage seiner Schuldfähigkeit vom psychiatrischen Wissenschaftsdiskurs über die Klassifikation seiner Symptome. Das grenzte sie von den anderen Medizinern ab, die Diagnosen anboten und damit die beiden Diskurse vermischten.497 Spätestens mit den Kreuzverhören der Gutachter entkoppelte die Sensationspresse die medizinischen Debatten weitgehend von ihrem Prozessnarrativ, da deren Relevanz nicht mehr vermittelbar schien.498 Die Aussage von Allan McLane Hamilton, einem der renommiertesten Psychiater auf dem Gebiet der Gerichtsmedizin, bedrohte kurzfristig den weiteren Prozessverlauf. Im Gegensatz zu seinen Kollegen der Anklage erklärte er Harry Thaw für schuldfähig und attestierte ihm eine schwere, unheilbare Paranoia.499 Daraufhin änderte Jerome seine Taktik: Er behauptete, Thaw sei noch immer geisteskrank und damit prozessunfähig. Folglich müsse dieser bis zu seiner Genesung in die Psychiatrie eingewiesen werden.500 Um das zu klären, setzte Richter Fitzgerald eine durch das Gericht bestellte, unabhängige Gutachterkommission (lunacy commission) ein.501 Deren Mitglieder kamen nach zweiwöchiger Beratung zum Ergebnis, dass Thaw im Moment gesund sei und der Prozess fortgesetzt werden konnte.502 Damit beschied letztlich eine gerichtliche Instanz den Psychiatern, unsauber gearbeitet zu haben – ein Bild, das diese nicht mehr revidieren konnten. Im Gegensatz zur Ansicht von Martha Umphrey und im Vergleich zu ähnlichen Strafprozessen, deren eigentlicher Kern die medizinische Begutachtung der Angeklagten bildete, war die Gutachteranhörung im Thaw-Prozess nicht der Höhepunkt, sondern blieb eine Episode.503 Im Medienskandal waren die Mediziner damit auf zwei Ebenen gescheitert: Erstens misslang es jedem Einzelnen, seine Expertenrolle bei der Beurteilung von Geisteskrankheit zu demonstrieren und dadurch die »Mediator-Funktion 496 Thaw Says He Feared Assassination. His Own Story of Killing of White, Evening World, 18.2.1907, S. 1-2, hier S. 2; Prozessprotokoll (1907), S. 4065-74, UC, Container 15-16. 497 Vgl. Noll: American Madness, S. 154-5. 498 Vgl. Dorothy Dix: ›Unwritten Law, Not Insanity, Will Free Thaw.‹ – Dorothy Dix, New York Evening Journal, 28.2.1907. 499 Vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 4328-9, UC, Container 15-16. 500 Vgl. Thaw Trial is Suddenly Stopped;  Jerome Asks Lunacy Commission, Evening World, 20.3.1907, S. 1-2, hier S. 1. 501 Vgl. Thaw Faces Asylum Now, New York Times, 21.3.1907, S. 1-2. 502 Vgl. Thaw Is Sane, Says Board, New York Times, 5.4.1907, S. 1-2. Zudem äußerten nicht geladene Experten ihre Meinung über Thaw in der Presse, darunter der Italiener Cesare Lombroso (1835-1909), einer der Gründervater der Kriminologie. In seiner Diagnose befand er ihn als »[born] degenerate«, »abnormal« und »true epileptic moral maniac«; ›He Is a True Epileptic Moral Maniac,‹ Says Lombroso of Thaw, New York World, 20.1.1907. 503 Vgl. Umphrey: Dementia Americana, S. 212.

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eines Wissenschaftlers«504 einzunehmen. Zweitens gelang es ihnen nicht, ihre Fachzwänge und -logiken einer medialen Öffentlichkeit zu kommunizieren. Entsprechend deutlich fielen die Reaktionen der psychiatrischen und juristischen Fachöffentlichkeiten aus. Insbesondere die Bestellpraxis und die Kreuzverhöre als Problemfelder für die gerichtsmedizinische Autorität wurden scharf kritisiert. Fachübergreifend forderten Experten eine Reform der insanity defense und des Gutachterwesens.505 Dem »fiasco of the recent Thaw trial«506 widmete die Zeitschrift The American Lawyer in ihrer Juliausgabe 1907 eine Sondersektion, worin Juristen und Psychiater, darunter der am Prozess beteiligte Allan McLane Hamilton, mögliche Lösungsvorschläge diskutierten.507 Bezeichnenderweise thematisierte keiner der Fachvertreter die fehlende Medienkompetenz der Gutachter.

Thaw und die Juristen: Mediale Erfolge und Niederlagen Thaws mediales Scheitern vor Gericht Im Gegensatz zur älteren Biographik, deren Protagonist*innen in der Regel eine Abfolge erfolgreicher Lebensphasen durchschritten, betont die neuere Forschung das Potenzial darin, individuelles Scheitern ernst zu nehmen.508 Mit dem Mord an White hatte das High Society-Mitglied Harry Thaw eine der grundlegenden sozialen Normen, das Tötungsverbot, verletzt; ein Verstoß, den es aus gesellschaftlicher Perspektive im Prozess zu korrigieren galt.509 Mit dem unwritten law gelang es Thaw und seinen Verteidigern, ein wirkmächtiges Gegennarrativ in den medialen Diskurs 504 Margit Szöllösi-Janze: Der Wissenschaftler als Experte – Kooperationsverhältnisse von Staat, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft 1914-1933, in: Doris Kaufmann (Hg.): Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung (=  Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, 1), Göttingen 2000, S. 40-58, hier S. 51. 505 Vgl. Charles H. Hughes: The Alienist on the Witness Stand, in: Alienist and Neurologist 28:3 (1907), S. 346-66. Außerhalb der Medien vgl. etwa die Diskussion der New York Psychiatric Society in Minutes, Constitution and By Laws, List of Members, March 2, 1903–March 3, 1909, S. 42-3, DWIHP, ODL, New York Psychiatric Society Records (1903-1988). Vgl. ferner Pinta: Paranoia, S. 23-4. 506 Gerald H. Chapin: The Defense of Insanity in Criminal Cases and Medical Expert Testimony, in: American Lawyer 15:7 (1907), S. 309. 507 Vgl. die sechs Beiträge unter der Rubrik »The Defense of Insanity in Criminal Cases and Expert Testimony«, in: The American Lawyer 15:7 (1907), S. 309-14. 508 Vgl. Szöllösi-Janze: Lebens, S. 22. 509 Vgl. Matthias Junge: Scheitern: Ein unausgearbeitetes Konzept soziologischer Theoriebildung und ein Vorschlag zu seiner Konzeptionalisierung, in: ders./Lechner: Scheitern, S. 15-32, hier S. 16-7.

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einzubringen, mit dem die Normüberschreitung umgedeutet und das Scheitern relativiert werden konnte: Thaws Tat sei gerade nicht die Folge eines Auseinanderklaffens von Handlungsintention und -folge gewesen, sondern intendiertes Resultat einer Kette sozialer Handlungen, an deren Anfang seine Absicht gestanden habe, Stanford Whites moralischem Fehlverhalten öffentlich ein Ende zu bereiten.510 Dennoch bewirkte Thaws Verhaftung sein vorläufiges soziales Scheitern, da er seine Handlungsfreiheit verlor. Mit Blick auf seine Sichtbarkeit war dies für seinen High Society-Status jedoch nur vordergründig problematisch. Zwar verunmöglichte es ihm seinen demonstrativen Konsum und sein Freizeitverhalten, dafür sicherte ihm der ausgelöste Skandal mediale Aufmerksamkeit, wie in Kapitel II.1 gezeigt werden konnte. Bis zu seiner endgültigen Verurteilung blieb die Dimension von Thaws Scheitern in der Schwebe. Erst das Gerichtsverfahren besaß, in Anlehnung an den Ethnologen Victor Turner, das entsprechende Transformationspotenzial, um Thaw mit dem Urteil neu zu verorten. Der Strafprozess schuf für ihn eine Schwellensituation, die sogenannte Liminalität, in der sein vergangenes Leben suspendiert worden war und seine Zukunft noch offenstand. Erst der ritualisierte Urteilsspruch überführte ihn aus diesem liminalen in einen neuen Zustand, der zwischen den extremen Polen der Reintegration in die Gemeinschaft und der absoluten Ausschließung mit der Todesstrafe lag.511 Auch die Öffentlichkeit rezipierte diese juristische Schwellensituation: Obwohl die Faktenlage Thaws Verurteilung zum Tode nahelegte, förderte die von Teilen der Öffentlichkeit getragene, melodramatische Interpretation der Tat die Meinung, dass Harry Thaw freigesprochen werden solle.512 Dieses transformative Spannungsverhältnis gab dem Prozess und der medial sichtbaren Person Thaw seine besondere öffentliche Brisanz.513 Insofern überrascht nicht, dass Harry Thaw versuchte, in dieser, von Fremdbestimmung geprägten liminalen Phase selbst aktiv zu werden. Wiederholt bot sich ihm dazu die Chance, denn obwohl Gerichtsprozesse damals wie heute von zeremoniel510 Zu dieser Argumentationsstruktur in unwritten law-Verfahren vgl. Hartog: Lawyering, S. 82-3. 511 Vgl. Fischer-Lichte: Performativität, S. 117-8; Wulf: Ritual, S. 33; Victor W. Turner: Betwixt and Between. The Liminal Period in Rites de Passage, in: June Helm (Hg.): Symposium on New Approaches to the Study of Religion: Proceedings of the 1964 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society, 2. Aufl., Seattle/Washington, D. C. 1971, S. 4-20, hier insb. S. 4-11. 512 Vgl. etwa Thaw Family Receives Many Cheering Letters, New York American, 12.4.1907, S. 2; Testimony of Harry K. Thaw before the Commission Appointed to Examine into the Mental Condition of the Said Harry K. Thaw, Typescript, S. 88-9, CPP, HLM, 10d 141. 513 Vgl. Thomas W. Laqueur: Theater und Prozess: Die Todesstrafe in den USA (= Working Paper No. 129/2002 des John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien, Abt. für Literatur), Berlin 2002, S. 22-3.

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len Riten und rituellen Ordnungen eingehegt werden, sind sie nicht planbar. Vielmehr eröffnen sie individuelle Handlungsspielräume und damit die Möglichkeit, aus zugewiesenen Rollen auszubrechen.514 Bei Harry Thaw können dabei die beiden Bereiche seiner prozessualen und seiner medial zugeschriebenen Handlungsmacht unterschieden werden. Thaws Performanz scheiterte im Verfahren nicht nur wegen der Vorwürfe sexueller Devianz und seines umstrittenen Geisteszustands, sondern da es ihm selbst nicht gelang, das Bild des Ehrenmörders überzeugend vor den anwesenden Gerichts­ berichterstatter*innen zu verkörpern: Es schien phasenweise so, als wären Thaws Auftreten und Verhalten nicht nur sichtbares Zeugnis der psychiatrischen Diagnosen, sondern auch ein Schuldeingeständnis.515 Denn Moral und Psychiatrie galten im Gilded Age noch als eng miteinander verbunden, sodass die äußere Erscheinung als Beleg der moralischen Schuld dienen konnte.516 Evelyn Nesbit bat ihren Ehemann zwar regelmäßig, seine »strange movements or actions«517 zu unterlassen und nicht so fröhlich zu wirken, um den Beobachter*innen im Gerichtssaal keine Angriffsfläche zu geben. Jedoch scheiterte sie mit ihren Ermahnungen.518 Obwohl sich Thaw durch sein (nonverbales) Verhalten im Gerichtssaal eine gewisse Handlungsfreiheit sicherte, wiesen ihm seine Anwälte die Rolle des Zuschauers zu,519 was mit Blick auf die soziologische Forschung zum Thema Scheitern die performative Implikation dieser Situation erklärt: Zugespitzt kann in seiner Passivität die »Implosion [des Sozialen]«520 gesehen werden, in der Handlungsmöglichkeiten erlöschen und Soziales kollabiert.521 Aus dieser Isolation versuchte Thaw wiederholt mittels der Kontaktaufnahme zu Gerichtsberichterstattern auszubrechen.522 Im Verfahren lieferte er in schriftlichen Statements seine Sicht auf den Prozessverlauf, zog die Qualität der Gutachten in Zweifel oder gab Zeichnungen von Evelyn Nesbit an die Pressevertreter,523 514 Vgl. Vismann: Medien, S. 128; Fischer-Lichte: Performance, S. 39, 41, 84. 515 Vgl. Thaw Was Insane When He Killed White – Dr. Evans, Evening World, 1.3.1907, S. 1-2, hier S. 2. 516 Vgl. Carmen Birkle: Narrative Praxis und diagnostische Interpretation: Literatur und Medizin in Amerika, in: Pascal Fischer/Mariacarla Gadebusch Bondio (Hg.): Literatur und Medizin. Interdisziplinäre Beiträge zu den »Medical Humanities« (= Jahrbuch Literatur und Medizin: Beihefte, 2), Heidelberg 2016, S. 79-100, hier S. 99-100. 517 Brief von Evelyn Nesbit an Harry Thaw (12.2.1907), UC, Folder 4, Index F-G. 518 Vgl. Briefe von Evelyn Nesbit an Harry Thaw (12.2., 18.2. und 24.2.1907), in: ebd. 519 Vgl. Thaw: Traitor, S. 214-5. 520 Jean Baudrillard: Im Schatten der schweigenden Mehrheiten oder Das Ende des Sozialen, in: Freibeuter. Vierteljahreszeitschrift für Kultur und Politik 1:1-2 (1979), S. 37-55, hier S. 45. 521 Vgl. ebd., S. 45, 53-5. 522 Vgl. Thaw: Traitor, S. 215-6; Testimony of Harry K. Thaw before the Commission Appointed to Examine into the Mental Condition of the Said Harry K. Thaw, Typescript, S. 199-202, CPP, HLM, 10d 141. 523 Thaw gab mindestens fünf Statements heraus, vgl. o. T., 12.4.1907, in: Scrapbook »Thaw Trial Clippings«, SI, AAA, Aline and Eero Saarinen Papers (1906-1977), 2.3.4: Original Material,

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welche allesamt der Presse ermöglichten, seine Perspektive auf den Fall und dessen Akteur*innen darzustellen. Doch scheiterte dieses Streben nach Deutungshoheit einerseits an ihrer Seltenheit, andererseits an den psychiatrischen Deutungen über ihn, die ihm trotz beziehungsweise gerade wegen ihrer Pluralität zunehmend das Stigma der geistigen Verwirrung eintrugen.524 Dass sich trotz Thaws medialem und prozessualem Scheitern seine Ehrenmorderzählung durchsetzte, lag vor allem an Nesbits Performanz im Zeugenstand und den Sympathien der Kommentatorinnen. Die mediale Sichtbarkeit der Juristen Bei der Beschreibung der juristischen Prozessakteure wählten die Medien eine agonale Erzählhaltung, was ihnen die beiden federführenden Juristen durch ihren konfliktreichen Verhandlungsstil vereinfachten: Dem renommierten Staatsanwalt Jerome stand mit einem vergleichbaren Ruf Delphin Delmas aus San Francisco gegenüber. Die Thaws engagierten ihn für die spektakuläre Summe von 50.000 Dollar (heute rund 1.7 Mio. Dollar),525 da er als Verteidiger bislang noch keinen Prozess verloren und zudem Erfahrung mit der unwritten law-Verteidigung vorweisen konnte.526 Das restliche Verteidigerteam bestand aus fünf Anwälten, unter denen Russell Peabody und Daniel »Dan« O’Reilly hervorstachen. Während Letzterer als unkonventioneller Problemlöser galt,527 entstammte Peabody selbst der New Yorker Upper Class. Er nutzte den Prozess, um sich mit seinen Beiträgen und Statements zu einem der »most talked-of young men of the New York bar«528 zu machen.529 Ein halbes Jahr vor Prozessbeginn hatte Jerome auf dem Jahrestreffen der Georgia Bar Association einen Vortrag über die Bedeutung der öffentlichen Meinung für Juristen gehalten. Dabei betonte er, dass diese sich dem Einfluss der Öffentlichkeit auf die Wahrnehmung ihrer Tätigkeit nicht mehr entziehen könnten.530 Daher sollten sie versuchen, ihr Bestmögliches zu geben, die verschiedenen Publika von dem eige-

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Bessie White Papers, Box 10, Folder 14; zur Zeichnung vgl. Harry Thaw’s Sketch of Evelyn, o. Z., 4.3.1907, in: Evelyn Nesbit, Vol. 2, S. 6, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 359. Vgl. Umphrey: Dementia Americana, S. 214. Vgl. Thaw: Traitor, S. 177. Er behauptet darin, die ursprünglich vereinbarte Summe sei halb so hoch gewesen. Vgl. Delmas, Legal Napoleon of San Francisco, New York Times. Magazine Section, 10.2.1907, S. 6; Harry Thaw Risks His Life on Wife’s Story at His Trial, Evening World, 13.11.1906, S. 1-2. Vgl. O’Connor: Courtroom, S. 209-10. Aufgrund derlei Praktiken verlor O’Reilly 1912 seine Zulassung als Anwalt und verbüßte eine Haftstrafe wegen Betrugs, vgl. Daniel J. O’Reilly. Once Noted Lawyer, o. Z. o. D., in: UT, DBCAH, New York Journal American Morgue, CDL 3B 64/4. Lawyer Peabody, Thaw’s Counsel, Dies Suddenly, Evening World, 21.9.1908, S. 4. Vgl. Lawyer Delmas Takes Charge of the Defense of Harry Thaw and Straightens Out Tangles Which Menaced Client’s Case, Evening World, 6.2.1907, S. 2. Vgl. William Travers Jerome: Public Opinion. Its Power. Some of Its Evils and Injustices, and Our Duty as Lawyers to It, in: Orville A. Park (Hg.): Report of the Twenty-Third Annual Ses-

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nen Standpunkt zu überzeugen: »[T]he lawyer especially can influence it [public opinion] and is under duty to do so«.531 Dies zeigte Jeromes Grundhaltung, die er vor Gericht und gegenüber den Medien im Thaw-Prozess verfolgte. Angesichts der herausragenden Juristen erwarteten die Reporter einen exzeptionellen Schlagabtausch im Thaw-Prozess und machten Delmas und Jerome zu den zentralen Akteuren ihrer Berichterstattung. Dabei halten eigentlich die Sachlichkeit und Ritualität von Gerichtsverhandlungen die juristischen Akteur*innen zur Emotionslosigkeit an.532 Beide Juristen unterliefen dies jedoch regelmäßig und suchten damit regelrecht die besondere Aufmerksamkeit der Medien.533 Diese Option bot ihnen die agonale Anlage des amerikanischen Strafprozesses: Indem nicht das Gericht den Tathergang rekonstruiert, sondern beide Seiten jeweils ihre Version der Ereignisse präsentieren, prägt ein kontradiktorischer Deutungskampf um die gerichtliche und öffentliche Meinung das Verfahren.534 Dieses intellektuelle Kräftemessen nutzte die Presse, um damit spannend über den Prozessablauf zu berichten. Es nahm teils theatralische Züge an, wie etwa, als William T. Jerome die Mordszene nachspielte und stellvertretend mit seinem Kugelschreiber Delmas erschoss: »A dramatic touch was given to the trial […] [and t]he audience was deeply impressed by the way the D[istrict]-A[ttorney] ­figuratevly shot dead his astute legal opponent«.535 Jeromes imitierter Mord an Delmas konnte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Letzterer in den Augen der Sensationspresse die juristische Debatten dominierte.536 Mit der agonalen Darstellung der beiden Juristen bot die yellow press ihren Leser*innen human interest stories für die weniger spannenden Verfahrensphasen und verband die abstrakten Anklage- und Verteidigungsstrategien mit konkreten Personen. Delmas und Jerome nutzten dieses Medieninteresse, um sich zu profilieren. Obwohl das Medieninteresse am Privatleben der Juristen im Gleichschritt mit der medialen Sichtbarkeit der High Society-Akteur*innen im Verfahren ging, drangen Medienvertreter*innen nicht annähernd so tief in die als privat markierten Bereiche vor. Das Sonntagsmagazin der New York Times widmete Delmas zwar bei Prozessbeginn ein halbseitiges Porträt, das ihn auch privatim thematisiert.537 Doch konnte Jerome weiterhin seine außereheliche Affäre mit einer 20 Jahre jüngeren Frau vor

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sion of the Georgia Bar Association Held at Warm Springs, GA (July 18th-20th, 1906), Atlanta 1906, S. 197-207, hier S. 199, 202-3. Ebd., S. 205. Vgl. Wulf: Ritual, S. 35. Siehe Anm. 498 auf S. 277 und Anm. 541 auf S. 283. Vgl. Kischel: Rechtsvergleichung, S. 309-10. Thaw’s Mother Next Witness for Defense, Evening World, 4.3.1907, S. 1-2. Vgl. etwa Stanford White Boasted He Would Win Back Evelyn Nesbit From Thaw, Evening World, 19.2.1907, S. 1-2, hier S. 2. Vgl. Delmas, Legal Napoleon of San Francisco, New York Times. Magazine Section, 10.2.1907, S. 6.

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Abb. 36: Fotografien von Michael Delmas in Prozessposen.

der Öffentlichkeit geheim halten, während er zugleich Nesbits Doppelmoral im Kreuzverhör anprangerte.538 Damit gelang es beiden, ihr Selbstbild medial zu platzieren. So ließ sich Delmas etwa für den New York American in Posen fotografieren, die er während Auseinandersetzungen vor Gericht einzunehmen pflegte – mutmaßlich um sich mit den Fotografien als besonders kämpferischen zu inszenieren (Abb. 36).539 Jerome achtete ebenfalls auf eine gute Presse, stand er doch turnusmäßig zur Wiederwahl.540 So profilierte er sich als scharfsinniger, aber auch humorvoller Staatsanwalt,541 der im besten Interesse der Bürger*innen handle, wenn er scheinbar über dem Gesetz stehende Vermögende mit gekauften Gutachtern verfolge.542 Während sein Verhörstil gegenüber Nesbit für scharfe Kritik gesorgt hatte, glänzte er bei der Vernehmung der Medizinern, da er dabei sein umfangreiches psychiatrisches Fachwissen an den Tag legen konnte.543 Doch begnügte er sich nicht mit seiner Performanz vor Gericht, sondern machte sich gezielt für bestimmte Teilöffentlichkeiten sichtbar: Als er den 538 539 540 541

Vgl. O’Connor: Courtroom, S. 112-3. So die These von Siemens: Metropole, S. 299-300. Vgl. O’Connor: Courtroom, S. 243. Vgl. Thaw Writes Note Gloating Over Jerome’s Failure to Trap His Wife, Evening World, 27.2.1907, S. 1-2, hier S. 2. 542 Vgl. O’Connor: Courtroom, S. 232-3. 543 Vgl. etwa Evelyn Thaw’s Affidavit Is At Last Before The Jury, Evening World, 18.3.1907, S. 1-2, hier S. 2.

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Abb. 37: Sonderausgabe von Jeromes hypothetischer Frage, mit Zeichnungen und Faksimiles der Unterschriften von Prozessteilnehmer*innen.

Gutachtern den right-wrong-test stellte, fasste er dazu die Fallgeschichte nochmals zusammen. Das Ergebnis war seine, als sensationell aufgenommenene hypothetische Frage (hypothetical question). Sie umfasste 12.000 Wörter, die er als limitierte Sonderausgabe verlegen ließ. Die 250 kolorierten Exemplare beinhalten neben dem Text Zeichnungen und Unterschriftenfaksimile der am Prozess Beteiligten, von den Akteur*innen, über die Medienvertreter*innen bis hin zu Zuschauer*innen (Abb. 37). War die Frage selbst einer breiten Öffentlichkeit durch die Prozessberichterstattung zugänglich gemacht worden, offerierte diese kostspielige Printversion ­einer interessierten Gruppe innerhalb der Oberschicht Jeromes Version des Verbrechens. Beiden Juristen gelang es somit erfolgreich, mit ihrem Verhalten in- und außerhalb des Gerichtssaals die mediale Aufmerksamkeit für ihre Zwecke zu nutzen.

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»Dementia Americana« oder »paranoia of the millionaire«? Der Urteilsspruch als medialer Erfolg und juristisches Patt Am 8. April 1907 trat der Prozess in seine letzte Phase. Die anstehenden Schlussplädoyers ermöglichten es den Prozessparteien erstmals, die »heterogenen Teile [des Falles] zu einer Entität [zu] synthetisier[en]«544 und in gesellschaftliche Deutungsmuster einzubetten, ohne ständig von alternativen Deutungen der Gegenseite herausgefordert zu werden.545 Delmas machte Nesbits Lebens- und Vergewaltigungsgeschichte zum Kern seines Plädoyers,546 von dem ausgehend er die insanity defence mit dem unwritten law verband:547 Er begann mit den medizinischen Diagnosen, deren Aussagekraft er jedoch in Zweifel zog und stattdessen ein von ihm erfundenes Krankheitsbild für Harry Thaw offerierte: die »dementia Americana«.548 Sie erfasse jeden moralischen, ehrenhaften Amerikaner, dessen Heim, Familie oder Frau bedroht werde.549 Davon ausgehend appellierte er an die Juroren, sich bei ihrer Entscheidung in Thaws Situation hineinzuversetzen und göttliches Recht mitzudenken. Damit endete er, ohne es konkret zu benennen, mit dem unwritten law.550 Diese Interpretation eines eindeutig »coldblooded cowardly murder«551 kritisierte William T. Jerome aufs Schärfste. Die Gutachter der Verteidigung hätten ein »humiliating spectacle […] of themselves«552 veranstaltet, deren Widersprüchlichkeiten er detailliert ausbreitete.553 In Reaktion auf diese scheinbar gekauften Diagnosen schlug Jerome schließlich sarkastisch vor, Thaw eine »paranoia of the millionaire«554 zu attestieren. Doch bedürfe es seiner Ansicht nach keiner deartigen Ausflüchte. Allein der unmoralische Lebensstil von Thaw und Nesbit würde ihrem postulierten Melo544 Jörg R. Bergmann: Der Fall als epistemisches Objekt, in: ders./Ulrich Dausendschön-Gay/ Frank Oberzaucher (Hg.): »Der Fall«. Studien zur epistemischen Praxis professionellen Handelns, Bielefeld 2014, S. 423-40, hier S. 423-4. 545 Vgl. Gewirtz: Narrative, S. 8; Laura Hanft Korobkin: Criminal Conversations. Sentimentality and Nineteenth-Century Legal Stories of Adultery, New York 1999, S. 10-3. 546 Vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 4470-508, 4529-44, 4580-4, UC, Container 15-16. 547 Das war typisch für Ehrenmordverteidigungen, vgl. Hartog: Lawyering, S. 90-3. 548 Vgl. Prozessprotokoll (1907), S. 4586-93, 4600, Zitat: S. 4600, UC, Container 15-16. 549 Vgl. ebd., S. 4600-1. 550 Vgl. ebd., S. 4601-2. Um das unwritten law nicht nennen zu müssen, führte er stellvertretend die biblische Goldene Regel an. 551 Ebd., S. 4669; Jeromes Schlussplädoyer ist ferner zugänglich als Partial Transcript of 1907 Trial, FAMFMRL, Harry Thaw Collection (1890-1914), Coll. No. 131, Box 1, Folder 1. 552 Ebd., S. 4691. 553 Vgl. ebd., S. 4682-5. Jerome ging dabei wesentlich intensiver auf die Widersprüchlichkeit der Psychiater ein, als die Zeitungen dies wiedergaben, die etwa Umphrey: Dementia Americana, S. 225, nutzt. 554 Partial Transcript of 1907 Trial, S. 4685, FAMFMRL, Harry Thaw Collection (1890-1914), Coll. No. 131, Box 1, Folder 1.

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dram Lüge strafen, weshalb die Juroren nicht auf ihre theatralische Inszenierung hereinfallen dürften.555 Beide Juristen hatten das medialisierte Verhalten von Evelyn Nesbit und Harry Thaw in den Fokus ihrer Plädoyers gestellt. Das Gleiche galt für die Rolle der Psychiater, deren gerichtlicher und medialer Autoritätsverlust sich in ihren Ausführungen spiegelte. Als Höhepunkt und Fazit der Verhandlung veranschaulichten die Schlussplädoyers drei Aspekte: Erstens delegitimierten sie erneut psychiatrische Gutachter, deren Entmachtung sich im juristischen und intermedialen Diskurs manifestiert hatte. Zweitens war es nicht, wie der Rechtshistoriker Lawrence M. Friedman behauptet, ein Klamauk-Prozess, »a carnival of scandal mixed with psychiatric mumbo jumbo«,556 sondern ein Verfahren, das die Fragilität der Beziehung zwischen formalem und informellen Recht sowie rechtlicher und medizinischer Zurechnungsfähigkeit zur Jahrhundertwende offenbarte.557 Maßgeblich war dafür die intensive Medialisierung der Prozessteilnehmer*innen und ihrer Privatheit gewesen, vor deren Hintergrund und durch ihr Einwirken sich die Debatten entfalteten. Drittens zeigte sich, wie umstritten die Deutungen der Privatleben von Nesbit und Thaw waren, die exemplarisch für die gesellschaftliche Umbruchphase der städtischen Moderne standen. Die Jury beriet 47 Stunden, ohne eine einstimmige Entscheidung herbeiführen zu können. Mit sieben zu fünf Stimmen für eine Verurteilung wegen Mordes endete der Prozess ergebnislos (hung jury) und wurde bis zur erneuten Verhandlung vertagt.558 Obwohl Harry Thaw das unwritten law nicht zur verhofften Freiheit verhalf, hatte ihn das immer wieder wiederholte und fortgeschriebene melodramatische Narrativ wohl doch vor dem elektrischen Stuhl bewahrt.559 Martha Umphrey sieht in diesem Kontext den Neologismus der »dementia Americana« als narratives Konstrukt, mit dem es Delmas gelang, das unwritten law in einen modernen, medizinischen Kontext zu transferieren.560 Dagegen spricht, dass sich die Juroren in ihrer Beratung explizit gegen diese Verwissenschaftlichung des unwritten law ausgesprochen hatten.561 Letztlich stand das Jury-Ergebnis eher für einen gesellschaftlichen Scheidemoment zwischen traditionellen Werten und Rollenbildern auf der einen, einem modernen städtischen Leben auf der anderen Seite.

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Vgl. ebd., S. 4636-69. Vgl. Friedman: Crime, S. 398. Vgl. auch Umphrey: Dialogics, S. 393-5. Vgl. Thaw Mistrial; Jury was 7 to 5, New York Times, 13.4.1907, S. 1-2, hier S. 1. Vgl. Umphrey: Media Melodrama, S. 736-7. Vgl. dies.: Dementia Americana, S. 221. Vgl. Harry C. Brearly: The Trial of Thaw as Seen by a Juror, New York Times. Sunday Magazine, 14.4.1907, S. 1-2, hier S. 2.

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Mit dem Prozessende waren beide Parteien unzufrieden. Vor allem die anwesenden Mitglieder der Familie Thaw hatten sich einen glatten Freispruch erhofft;562 Thaw selbst war überrascht und wütend, während Nesbit mit Ablehnung und Furcht auf den Folgeprozess blickte.563 Dagegen fanden sich beide Seiten der Tagespresse im Verfahrensausgang wieder: Die Sensationspresse konnte Thaws Rettung als Bestätigung ihrer melodramatischen Perspektive werten;564 dagegen interpretierten die Thaw-kritischen Medien den ausgebliebenen Freispruch als Sieg des Rechtsstaats über eine mediale Paralleljustiz, Falschaussagen und Vermögen.565 Damit drang das juristische Patt nicht in die mediale Rezeption des Falls, sondern ermöglichte ihnen, ihre Narrative beizubehalten.

562 Vgl. Thaw Jury in a Deadlock Wrangles for Many Hours, Evening World, 10.4.1907, S. 1-2, hier S. 1. 563 Vgl. Nesbit: Story, S. 211-2. 564 Vgl. etwa Nixola Greeley-Smith: Evelyn Thaws Devotion to Her Husband Remains Pre-Eminent even as She Learns Her Sacrifice Has Failed to Win His Freedom, Evening World, 13.4.1907, S. 3. 565 Vgl. etwa Editorial, in: Nation 84:2181 (18.4.1907), S. 350.

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3. Verstärkung und Desinteresse

Der zweite Thaw-Prozess (1908)

Fast ein Jahr nach Beginn des ersten Strafprozesses eröffnete Justice Victor J. Dowling am 6. Januar 1908 das zweite Verfahren gegen Harry Thaw wegen der Ermordung von Stanford White. Dies bietet die Möglichkeit, Parallelen und Differenzen zwischen den beiden Prozessen zu analysieren und besonders juristische wie mediale Professionalisierungsprozesse unter den Akteur*innen nachzuvollziehen. Damit stellt das Kapitel gewissermaßen eine Untersuchung des zweiten Prozesses wie auch ein Zwischenfazit des ersten Verfahrens dar. Es behandelt dabei die Frage, welche Schlüsse die Prozessparteien aus dem teils als Fiasko rezipierten ersten Verfahren zogen. Welche Handlungsweisen intensivierten sie, welche gaben sie auf? Welches mediale Verhalten hatte sich dagegen als zielführend erwiesen? Als sich vier Wochen nach Beginn des zweiten Prozesses bereits dessen Ende abzeichnete, bemängelte der Gerichtsberichterstatter der Evening World, das Verfahren »has been lagging in interest«.1 Es habe lediglich die bekannte Prozedur des Vorjahres in komprimierter Form wiederholt. Bei genauerer Betrachtung war dieses Urteil jedoch zu oberflächlich, zeigten sich doch in drei Bereichen wesentliche Veränderungen im Vergleich zum ersten Verfahren: Erstens im Ablauf des Gerichtsverfahrens; zweitens im Verhalten und der medialen Sichtbarkeit der High Society- und Prozessakteur*innen; drittens in der Medialisierung der High Society und deren Folge auf die Rezipient*innen. Während die Anklage die gleichen Argumente wie im Vorjahr für Thaws Schuld vorbrachte, konzentrierte sich die Verteidigung diesmal ausschließlich darauf, Thaws Geisteskrankheit nachzuweisen, und verzichtete auf die unwritten law-Verteidigung. Der erste Prozess hatte gezeigt, dass dessen argumentative Basis letztlich nicht mehr überzeugend zum High Society-Leben der Beteiligten passte. Um Thaws vermeintlich zerrütteten Geisteszustand zu belegen, führten seine Verteidiger eine ganze Reihe Zeug*innen an: von Beteiligten seiner Exzesse in Europa, über Ärzte, die über Kinderkrankheiten berichteten, hin zu seiner Frau und seiner Mutter, die beide seine privaten Verhaltensauffälligkeiten schilderten.2 Zudem diagnostizierten drei Gutachter der Verteidigung unisono, dass Thaw eine »›manic-depressive‹ insanity«3 (bipolare Störung) habe, was laut der heutigen Auswertung von Thaws 1 Vgl. Thaw Case Near It’s End; Goes to Jury To-Morrow, Evening World, 27.1.1908, S. 3. 2 Vgl. Thaw Called Insane by Foreign Doctors, New York Times, 25.1.1908, S. 3; Thaw Abnormal At School, His Old Teacher Declares, Evening World, 22.1.1908, S. 1-2; Thaw’s Wife and Mother Both Testify For Slayer, Evening World, 17.1.1908, S. 1-2. 3 Thaw Defense Ends, Case All in To-Day, New York Times, 28.1.1908, S. 3.

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Symptomen durch den Psychiater Emil Pinta eine wahrscheinlich zutreffende Diagnose war.4 Obwohl Jerome gegen diese biographische Konstruktion eines Geisteskranken argumentierte, war die Flut an Belegen für die Juroren nach drei Verhandlungswochen eindeutig. Einstimmig befanden sie Thaw für »[n]ot guilty upon the ground of the defendant’s insanity at the time of the commission of the act«.5 Sichtbar zu Thaws Freude endete damit sein liminaler Zustand vor Gericht mit der Rehabilitation durch die Juroren und der eigentlich anschließenden gesellschaftlichen Reintegration. Doch durchkreuzte dies Richter Dowlings Urteilsspruch. Er stellte fest, dass die Jury Thaw zwar für nicht schuldfähig befunden habe, doch dieser seiner Ansicht nach »[still] dangerous to the public safety«6 sei. Als gefährlichen Geisteskranken weise er ihn daher in das Matteawan State Hospital for the Criminally Insane ein, wo dieser bis zum Zeitpunkt seiner Genesung bleiben solle.7 Der Schock für Harry Thaw, Evelyn Nesbit und seine Familie war groß. Obwohl Thaw erst vehement gegen seine Einweisung protestierte, überzeugten ihn seine Anwälte schließlich vom eigentlichen Erfolg des Urteils und einer wahrscheinlich schnellen und unproblematischen Haftentlassung.8 Letztlich ermöglichten es das Verdikt der Schuldunfähigkeit und Thaws gleichzeitige Sicherungsverwahrung den beiden Prozessparteien ebenso wie den Medien, positiv auf den Ausgang zu blicken: Entweder bestätigte sich darin Thaws Unschuld, oder die Justiz obsiegte über einen vermögenden Kriminellen.9

Anpassungen des Prozessablaufs und seiner Akteur*innen Die deutlichste Veränderung zum ersten Prozess war die optimierte Verteidigungsstrategie von Thaws neuem Strafverteidiger Martin W. Littleton. Retrospektiv hatte das Verfahren von 1907 deutlich gemacht, dass das melodramatische Ehrenmordnarrativ angesichts der Prozessdetails und des sich wandelnden Diskurses über das unwritten law nicht hatte funktionieren können. Littletons Strategie bestand nun darin, sich ganz auf den insanity plea zu fokussieren.10 4 Emil Pinta weist zwar auf die Problematik dieser nachträglichen Diagnose hin, sieht aber eine autistische Veranlagung in Kombination mit einer bipolaren Störung und Wahnvorstellungen als wahrscheinlich an, vgl. ders.: Paranoia, S. 37-47. 5 Thaw: Exhibit B (Feb. 1, 1908), S. 1, CPP, HLM, Charles K. Mills Compiler, 10d 24. 6 Ebd., S. 2. 7 Vgl. ebd. 8 Vgl. Thaw Taken To Madhouse, Vigorously Protesting, Evening World, 1.2.1908, S. 1-2, hier S. 2. 9 Vgl. Evelyn Thaw Collapses As She Sees Husband In Asylum, Evening World, 2.2.1908, S. 1-2; Editorial. Thaw and the Law, in: Saturday Evening Post 180:34 (22.2.1908), S. 16. 10 Vgl. Thaw’s Insantiy Cured By Murder, His Counsel Claim, Evening World, 11.1.1908, S. 2. Trotz intensiver Recherche konnte bis auf Jeromes Schlussplädoyer das Prozessprotokoll nicht ausfindig gemacht werden. verstärkung und desinteresse

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Auch Trevor Jerome passte seine Strategie mit Blick auf die mediale Aufmerksamkeit an: Er verzichtete nicht nur auf den rauen Verhörstil gegenüber Evelyn Nesbit, sondern übernahm regelrecht die dominante mediale Deutung von ihr als Opfer männlicher Lust:11 And then she unfolds this terrible story [before Harry Thaw] that she told on the stand, a story which in its essential details, in my judgment, is true. I did not think so once. I think so now. But I do not believe that she was drugged and ravished. […] But that she was wronged, and grossly wronged, is true, whatever her past may have been.12 Damit lenkte Jerome seinen Fokus weg von dem ehemals scharf kritisierten Privatleben von Nesbit und rückte Thaw stärker ins Zentrum seiner Anklage. Diese Veränderung war wohl nicht nur dem Verfahren geschuldet, sondern hatte auch politische Gründe. Jeromes öffentliches Ansehen hatte durch sein zaghaftes Vorgehen gegen Transportmonopole im New Yorker Nahverkehr gelitten, doch stand seine Wiederwahl an.13 Mit der Bestätigung von Nesbits Geschichte konnte er öffentliche Sympathien einwerben und zugleich seine Linie, Thaw als voll zurechnungsfähig zur Rechenschaft zu ziehen, weiterverfolgen.14 Für die Juristen lässt sich somit die These aufstellen, dass sie ihr juristisches Vorgehen an die Presseberichterstattung von 1907 anpassten: Strategien, die im medialen Interdiskurs durchgefallen waren, griffen sie nicht mehr auf, wohingegen die dominanten Narrative der Sensationspresse über Prozessakteur*innen Eingang in ihre Argumentation fanden. Besonders deutliche Anpassungen lassen sich bei den Expertenbefragungen in Folge der diagnostischen und medialen Misere des Vorjahres feststellen. Beide Prozessparteien einigten sich, diesmal jeweils nur maximal drei Gutachter zu bestellen.15 Von den erneut berufenen Psychiatern der Verteidigung hatte im Vorjahr Britton Evans Aussage die stärkste mediale Wirkung entfaltet, während Charles Wagner und Smith Jelliffe ihre Urteile am differenziertesten vorgestellt hatten. Alle drei hatten sich parallel zur Verteidigung professionalisiert. Während der Verteidiger Littleton ihre Befragung nicht mehr zu einer eigenen Prozessphase aufbaute, sondern ihre 11 Vgl. People vs. Thaw, Schlussplädoyer der Staatsanwaltschaft (30.1.1908), S. 12-3, 81, 96-7, HU, FACLM, Roy Leak Collection of Papers Relating to Harry K. Thaw, 1904-66 (inclusive), H MS c369, Legal Paperwork and Newspaper Clippings (1908-1913). 12 Ebd., S. 96-7. 13 Vgl. O’Connor: Courtroom, S. 238. 14 Vgl. seine Kritik an der Beweisführung der Verteidigung in People vs. Thaw, Schlussplädoyer der Staatsanwaltschaft (30.1.1908), S. 66-94, HU, FACLM, Roy Leak Collection of Papers Relating to Harry K. Thaw, 1904-66 (inclusive), H MS c369, Legal Paperwork and Newspaper Clippings (1908-1913). 15 Vgl. ›Brain Storm‹ Expert On The Stand To Save Thaw, Evening World, 23.1.1908, S. 1-2.

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Expertenmeinung über Thaws Psychose um gleichlautende Beurteilungen von Laienzeugen gruppierte,16 mühten sich die Gutachter selbst, ein professionelleres Bild von sich zu kreieren, indem sie alle Thaw als manisch-depressiv diagnostizierten.17 Auch Jerome schien ähnliche Rückschlüsse aus der Rezeption seines wechselhaften Verhaltens im Vorjahr gezogen zu haben. In knappen Kreuzverhören forderte er kaum die einheitlichen Diagnosen der Experten der Verteidigung heraus, sondern betonte die Irrelevanz ihrer Expertise. Dies machte er umso deutlicher, als er selbstbewusst darauf verzichtete, seine Gutachter in den Zeugenstand zu berufen. Gegenüber der Jury begründete er diese Entscheidung wie folgt: »I do not think the opinion of any medical man could help you or help me to determine whether Thaw […] knew that it was wrong to kill him. And so I have called none of them and feel well content that I have not.«18 Damit entsprach er der Ansicht der Sensationspresse, die in den Gutachteranhörungen nichts als »the usual tedious, sleep-producing intermissions between thrills«19 sah. So schaffte es Jerome diesmal, im Gleichschritt mit den Medien das Expertenwissen der Gegenseite gleichsam auszuhebeln. Das erste Strafverfahren gegen Thaw hatte der psychiatrischen Deutungsmacht medial klare Grenzen gesetzt. Wie von der psychiatrischen Fachöffentlichkeit befürchtet und von Laien postuliert, bewahrheitete sich im zweiten Prozess deren öffentliche Delegitimierung. Trotz der fortschreitenden Verwissenschaftlichung der Psychiatrie war der von Fachvertretern wahrgenommene Reputationsschaden des ersten Mordverfahrens gegen Thaw für die Psychiatrie immens und sollte sich erst in den 1920er Jahren wieder maßgeblich bessern.20 Dabei zog sich die Kritik aus den eigenen Reihen teilweise bis ins Groteske: Der Neurologe und Freizeitkomponist Alfred Reginald Allen (1876-1918) schrieb das Theaterstück »›Evelyn and Harry‹ or ›The Angel Child‹. A Brain-Storm in One Horrible, Blood-Curdling Scream«.21 Verortet im ersten Thaw-Prozess, wurde es von der parodistischen American Neurological Association Comic Opera Company im 16 Vgl. Experts Tell of Thaw’s Vagaries, New York Times, 24.2.1908, S. 2. 17 Thaw Defense Ends, Case All In To-Day, New York Times, 28.1.1908, S. 3. 18 People vs. Thaw, Schlussplädoyer der Staatsanwaltschaft (30.1.1908), S. 115, HU, FACLM, Roy Leak Collection of Papers Relating to Harry K. Thaw, 1904-66 (inclusive), H MS c369, Legal Paperwork and Newspaper Clippings (1908-1913). 19 Thaw Ready For Second Trial To Beginn On Monday, Evening World, 4.1.1908, S. 1. 20 Vgl. etwa Emotional Insanity, in: Independent 65:3117 (27.8.1908), S. 498-9. Noch 1916 urteilte der Psychiater C. F. Buckley in einem Fachartikel, dass das Thaw-Verfahren »casts its shadow over all the members of the profession good and bad«, C. F. Buckley: Medical Experts In Our Courts, in: Pacific Medical Journal 59:3 (1.3.1916), S. 138-41. Zum Autoritätszuwachs der Psychiatrie vor Gericht und in den Medien vgl. Gerald N. Grob: The Mad Among Us: A History of the Care of America’s Mentally Ill, New York 1994, S. 162-3; Starr: Social Transformation, S. 11220. 21 Majestic Theatre Programm, May 20th, 1908: The Limited Engagement of »Evelyn and Harry« by »The American Neurological Association Comic Opera Company«, JHMI, AMCMA, Meyer Collection, Box 500690, Folder 2. verstärkung und desinteresse

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Mai 1908 im Majestic Theatre in Philadelphia aufgeführt. Der Text des Stücks ist heute nicht mehr erhalten. Jedoch geht aus dem Programmheft hervor, dass es die Käuflichkeit medizinischer Gutachter verspottete, etwa in den Musikeinlagen. Darin besang der Darsteller des realen Thaw-Gutachters Dr. Charles Dana sein Honorar mit »I Want That Fifteen Hundred« oder der des Dr. Jelliffe versprach seinen Kunden »Come to Hopkins and Be Saved«.22

High Society und mediale (Neu-)Verhandlungen Mit Blick auf Evelyn Nesbit, Harry Thaw und ihre Familienmitglieder lässt sich eine weitere Anpassung ihrer Verhaltensweisen konstatieren, die wiederum auf ihre Interpretation durch die Medien(-vertreter*innen) rückwirkte. Harry Thaw gelang es, sich diesmal im Gerichtssaal zurückhaltender zu verhalten.23 Das kontrastierte diesmal jedoch paradoxerweise die juristischen Ausführungen über seine Geisteskrankheit – ähnlich wie im Vorjahr sein teils erratisches Verhalten mit der Behauptung seiner Gesundung schwer vereinbar gewesen war. Angesichts der Diagnose als manisch-depressiv stand nun seine Krankheit im Zentrum der Aufmerksamkeit, was sich auf seine mediale Handlungsmacht negativ auswirkte, da Medienvertreter*innen ihm kaum noch Chancen zur Interaktion einräumten.24 Erschwerend kam hinzu, dass für diese Thaws und Nesbits gemeinsame Inszenierung als wertekonformes Paar nicht mehr vermittelbar war. Ihre Sympathie füreinander schien im Gerichtssaal nicht mehr nachvollziehbar zu sein,25 sondern schien vielmehr einer emotionalen Distanz gewichen zu sein, wie Nixola GreeleySmith beschied.26 Während die Kommentator*innen im Jahr zuvor noch Sympathie und Nahbarkeit mit Thaw und seinem Ehrenmordmotiv hatten aufbauen können, verunmöglichte dies 1908 das Verteidigungsnarrativ, seine Isolierung und Charakterisierung als »crazy degenerate«.27 Einen wesentlichen Beitrag zum Erfolg der Verteidigungsstrategie – und damit zur medialen Entmachtung von Harry Thaw – lieferte seine Mutter: Mary Copley Thaw bestätigte vor Gericht die Gerüchte über die Psychosen ihres Sohnes in seiner 22 Ebd. 23 Vgl. Evelyn Thaw Tells Life Story Again, New York Times, 21.1.1908, S. 1-2. 24 Vgl. etwa Nixola Greeley-Smith: Mother’s Fear of Harry Thaw’s Madness in Childhood Is Now Transformed Into a Hope That It May Save Him From the Chair, Evening World, 17.1.1908, S. 3. 25 Thaw reagierte bspw. nicht mehr emotional auf ihre Vergewaltigungsaussage, vgl. Evelyn Thaw Under Fire By Jerome After Story, Evening World, 20.1.1908, S. 1-3, hier S. 2. 26 Vgl. Nixola Greeley-Smith: Gulf That Even Love Cannot Bridge Stretches Between Thaw and His Beautiful Wife In His Emotions Belonging to an Age Long Past and Hers to Modern New York, Evening World, 8.1.1908, S. 3. 27 Vgl. Dorothy Dix: Thaw’s Trial Reveals Vanity of the Wealthy, New York Evening Journal, 17.1.1908.

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Jugend und nach seiner Europareise mit Nesbit.28 Ferner räumte sie widerwillig ein, dass die Thaws psychisch kranke Verwandte hatten.29 Sie erklärte also nicht nur ihren Sohn für geisteskrank, sondern gestand die im Vorjahr noch geleugneten Berichte über erbliche Geisteskrankheit in ihrer Familie ein.30 Indem Mary Copley Thaw im Zeugenstand erneut das Bild der »aged and ailing […] sick and suffering yet self-possessed mother«31 zeichnete, wirkte die Offenlegung des »Thaw family skeleton«32 besonders authentisch und bediente zugleich mit den privaten und problematischen Informationen High Society-Logiken. Damit untergrub Mary Copley Thaw – zum Missfallen ihrer Verwandten – die soziale Stellung der Thaws innerhalb der Upper Class. Denn sie schrieb ihre Familie in zeitgenössische eugenische und kriminologische Degenerationsdiskurse ein, die mit Geisteskrankheiten verbunden waren.33 Diesem Bild versuchte sie aber zugleich selbst mit der Anstellung von Presseagenten entgegenzuwirken.34 Zwar schuf Mary Copley Thaw mit ihren Einblicken in familiale Privatsphären ein starkes juristisches und mediales Narrativ über ihren Sohn als Geisteskranken, doch hatte dieses auch Auswirkungen auf ihre Tochter Alice. Bereits ihre Entscheidung, medienwirksam dem ersten Gerichtsverfahren beizuwohnen, hatte zum Konflikt mit der adeligen Familie ihres Ehemannes geführt. Das hatte mit dazu beigetragen, dass sie im Januar 1908 die Scheidung einreichte. Ihr finanziell abhängiger Mann, George Seymour, 7th Earl of Yarmouth, verzichtete darauf, dagegen Einspruch zu erheben. Nachdem die mutmaßlichen Erbkrankheiten der Thaws öffentlich gemacht worden waren, war seine Verbindung mit Alice Thaw für ihn und seine Familie inakzeptabel geworden.35 Somit hatten die Prozesse ihr zwar die mediale Aufmerksamkeit im Kontext der High Society ermöglicht, die ihr in der britischen Gesellschaft verwehrt worden war. Doch führte diese letztlich dazu, dass sie erst ih28 Vgl. Thaw’s Wife and Mother Both Testify For Slayer, Evening World, 17.1.1908, S. 1-2, hier S. 2. 29 Vgl. Thaw Abnormal At School, His Old Teacher Declares, Evening World, 22.1.1908, S. 1-2. 30 Vgl. Mrs. William Thaw Tearfully Adds Her Testimony to Save Son’s Life: Lunacy Commission is Barred, Evening World, 6.3.1907, S. 1-2, hier S. 2. 31 Thaw’s Wife and Mother Both Testify For Slayer, Evening World, 17.1.1908, S. 1-2, hier S. 1. 32 Nixola Greeley-Smith: Mother’s Fear of Harry Thaw’s Madness in Childhood Is Now Transformed Into a Hope That It May Save Him From the Chair, Evening World, 17.1.1908, S. 3. 33 Die Upper Class zog ihre gesellschaftliche Legitimation mit aus der sozialdarwinistischen These des survival of the fittest, vgl. Lears: Rebirth, S. 95, 100. Zu den Diskursen vgl. Steven Selden: Inheriting Shame. The Story of Eugenics and Racism in America (= Advances in Contemporary Educational Thought Series, 23), 2. Aufl., New York 2006, S. 56-7, 63-73, 96-9. Zur Kritik von Verwandten vgl. die Andeutungen im Brief von Frank Semple an Mary Thaw Thompson (14.5.1908), in: Children of Wm  Thaw: Mary Thaw Thompson, Corr. (1876-1910), SJHHC, DLAD, MSS #29, Box 7, Folder 6. 34 Vgl. Samuel G. Blythe: The Itch for Publicity, in: Saturday Evening Post 181:34 (20.2.1909), S. 8-9, 32, hier S. 8. 35 Vgl. Pittsburgh Looked For Yarmouth Suit, Evening World, 3.1.1908, S. 3; People Talked About, in: Leslie’s Weekly 56:2734 (16.1.1908), S. 51. verstärkung und desinteresse

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ren Adelstitel verlor und dann das Interesse der Medien, um deren Aufmerksamkeit sie sich in der Folge nicht weiter bemühte.36 Bei der Beurteilung der Thaws rückte 1908 zudem verstärkt das Thema ihres Vermögens in den Vordergrund. Bereits im Vorfeld des ersten Prozesses hatten sich kritische Stimmen erhoben, die wegen des finanziellen Potenzials der Familie ein gerechtes Gerichtsverfahren gefährdet sahen, gleichsam als Fortsetzung von Harry Thaws Sonderbehandlung im Gefängnis.37 Dementsprechend hatte die Staatsanwaltschaft im April 1907 seine Freilassung auf Kaution verhindert.38 Noch im Januar 1908 kritisierte Dorothy Dix die Eitelkeit und selbstgerechte Superiorität der neureichen Thaws, denen sie unterstellte »[that] the rigors of the law would be tempered to the millionaire«.39 Harry Thaw war damit genau dem Vorwurf gegen die Oberschicht ausgesetzt, den die High Society zu überwinden schien: sich durch sein Vermögen unrechtmäßige Privilegien zu sichern.40 Doch erst der Börsencrash im Oktober 1907 mit der darauffolgenden starken Rezension führte dazu, dass die Toleranz gegenüber Vermögenden schwand.41 Zwar musste auch Thaw, um liquide zu bleiben, Grundstücke verkaufen und seine Mutter das Familienanwesen Lyndhurst mit einer Million Dollar belasten (heute rund 32.5 Mio. Dollar).42 Doch kosteten ihnen die Berichte über das bis dato teuerste Verfahren in der Geschichte New Yorks mit geschätzten Kosten von um die 100.000 Dollar (heute rund 3.25 Mio. Dollar) Sympathiewerte.43 Hatte sein Vermögen Thaw in den Jahren vor dem Mord den Zutritt in die High Society erst ermöglicht, wandelte sich im Laufe der Gerichtsverfahren dessen Perzeption zum undemokratischen und ungerechtfertigten Privilegierungsinstrument. Evelyn Nesbit hatte im Laufe des ersten Verfahrens einen juristischen wie medialen Lernprozess durchlaufen, sodass sie mit einem anderen Bewusstsein in die zweite Runde trat: »I knew the rules of the game.«44 So passte sie ihren Auftritt dem neuen Verteidigungsnarrativ an und trat nicht mehr als Schulmädchen in den Zeugenstand,

36 Vgl. Mrs. Copley Thaw Engaged, New York Times, 19.12.1912, S. 1. 37 Vgl. Jersey Justice and New York’s, Evening World, 15.2.1907, S. 14. Thaws Sonderbehandlung zeigte etwa die Fotografie von »Caterer Jones«, auf der dieser ihm mit Tablett, Tischtuch und angerichtetem Service Essen in die Tombs liefert, o. T., New York American, 10.2.1907, S. 23. 38 Vgl. Thaw Jury Disagrees 7 Vote to the End for Death, Evening World, 12.4.1907, S. 1-2, hier S. 1. 39 Dorothy Dix: Thaw’s Trial Reveals Vanity of the Wealthy, New York Evening Journal, 17.1.1908. 40 Vgl. David Nasaw: »Gilded Age Gospel«, in: Fraser/Gerstle: Ruling, S. 123-48, hier S. 133-7. 41 Vgl. Robert F. Bruner/William J. Bernstein/Sean D. Carr: The Panic of 1907. Lessons Learned from the Market’s Perfect Storm, Hoboken 2009, S. 171-3. 42 Vgl. Thaw Sells His Real Estate to Rest of Family, Evening World, 22.10.1907, S. 4; H. K. Thaw Got $60,000 Income In Three Years, Evening World, 7.5.1907, S. 1. 43 Vgl. Arthur Cheney Train: The Prisoner at the Bar: Sidelights on the Administration of Criminal Justice, 2. Aufl., New York 1908, S. 352. 44 Nesbit: Story, S. 216-7.

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sondern vermittelte einen insgesamt erwachseneren Eindruck,45 um dem Vorwurf der Inszenierung gegenzusteuern.46 Indem sie ihre Broadway-Zeit wesentlich knapper schilderte, die Vergewaltigung nur erwähnte und dabei melodramatische Elemente auf ein Minimum reduzierte, emanzipierte sie sich von ihrer Opferrolle.47 Dagegen dominierten Geschichten über Thaws geistige Störung, wie etwa zwei Selbstmordversuche. Zudem bestätigte sie diesmal seine Drogenabhängigkeit,48 die sie im Jahr zuvor noch bestritten hatte, da er sonst als »too crazy«49 erschienen wäre. Welch anhaltende Wirkung Nesbits Zeugenaussage von 1907 auf den Sexualdiskurs in dieser Wandlungsphase der Sexualmoral zur Jahrhundertwende gehabt hatte, verdeutlicht der Blick auf die öffentliche Reaktion auf ihre Erzählung im Folgejahr: Erstens löste sie keinen Skandal mehr aus.50 Weder die Schilderung ihres Missbrauchs noch neue Details über die Doppelmoral der Oberschicht konnten Medienvertreter*innen oder das Publikum erneut schockieren, die in einem halb leeren Gerichtssaal »a solid indifference«51 an den Tag legten. Nesbit hatte die Grenze des Sagbaren verschoben und das medial thematisierbare Private der High Society neu definiert. Zweitens fehlten den ehemals privaten Informationen nun die Nachrichtenwerte: »Same Dress, Same Pout and Same Story Fail to Impress Spectators as They Did a Year Ago«52 lautete das Fazit von Nixola Greeley-Smith. Dies zeigt, wie stark die mediale Sichtbarkeit der High Society-Mitglieder daran gebunden war, mit immer neuen Geschichten über ihr Privatleben Aufmerksamkeit zu erzeugen.53 Ex negativo verifizieren das Nesbits Schilderungen von Thaws Selbstmordversuchen, die als neue Einblicke in Thaws psychischen Zustand und als Beziehungsdrama erneut mediales Interesse weckten.54 Der Thaw-Prozess konnte dadurch noch immer Leser*innen fesseln und emotional involvieren. Doch als das erwartete Spektakel des Kreuzverhörs ausblieb, verlor der Prozess »most of its thrill«55 und Zuschauerplätze blieben leer.56

45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56

Vgl. Evelyn Thaw Tells Life Story Again, New York Times, 21.1.1908, S. 1-2, hier S. 1. Vgl. Cobb: Exit, S. 242. Vgl. Evelyn Thaw Tells Life Story Again, New York Times, 21.1.1908, S. 1-2, hier S. 1. Vgl. Nesbit: Story, S. 218. Evelyn Thaw Tells Life Story Again, New York Times, 21.1.1908, S. 1-2, hier S. 2. Vgl. Thaw’s Wife Tells How She First Met Stanford White, Evening World, 20.1.1908, S. 2. Evelyn Thaw Tells Life Story Again, New York Times, 21.1.1908, S. 1-2, hier S. 1. Zum halbleeren Saal vgl. Evelyn Thaw’s Story Ordered Told in Public, Evening World, 20.1.1908, S. 3. Nixola Greeley-Smith: Evelyn Thaw on the Stand a Second Time Brought No Thrills, Evening World, 18.1.1908, S. 3. Als Gewöhnungseffekt beschreibt dies Hickethier: Einführung, S. 212-5. Vgl. Evelyn Thaw Under Fire By Jerome After Story, Evening World, 20.1.1908, S. 1-3, hier S. 2. Thaw, In Letters, Repeated Wife’s Tale About White, Evening World, 21.1.1908, S. 1-2, hier S. 1. Vgl. ebd.

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Beide Faktoren machten den zweiten Prozess über weite Strecken zur »WARMED OVER SENSATION«,57 was als Folge eines Normalisierungsprozesses interpretiert

werden kann: Nach Jürgen Link prägt eine starke Dynamik die tägliche Normalität moderner Gesellschaften, wodurch diese im Alltag wesentlich flexibler und toleranter an ihren Rändern ist, als Normen dies glauben machen wollen.58 Dieser Effekt scheint sich bei der im Thaw-Prozess medialisierten High Society und insbesondere dem Thema Sexualität beobachten zu lassen: Während im ersten Verfahren zunächst die starre Sexualnorm die Debatten dominierte und das Verhalten der Beteiligten als deviant einordnete, flexibilisierte sich der Diskurs im zweiten Prozess. Damit wurde Nesbits Umgang mit Sexualität zwar nicht zur neuen Normalität, jedoch verlor er seine (abweichende) Außergewöhnlichkeit. Das lässt sich an der Reaktion der Öffentlichkeiten ablesen, deren breite Kritik an der detaillierten Berichterstattung durch den Gewöhnungseffekt zurückging.59 Zugleich deckte sich das Ergebnis dieser Normalisierung mit dem Anspruch der High Society, nicht das Normale – weder im Verhalten, im Konsum noch in der Sichtbarkeit – zu repräsentieren, sondern die besonderen, aber eben noch tolerierbaren Ränder der Gesellschaft zu besetzen. Evelyn Nesbit zeigte auch in direktem Kontakt den Medien eine gesteigerte Medienaffinität. Um trotz des Rückgangs der medialen Aufmerksamkeit auf die Deutung des Prozesses einwirken zu können, intensivierte sie ihre Kommunikation mit Pressevertreter*innen, was sich im ersten Verfahren als sehr nützlich erwiesen hatte. In Gesprächen während der Verhandlungspausen und ausführlichen Interviews außerhalb des Gerichtssaals ging sie nun erstmals auch dezidiert auf Prozessfragen ein.60 Dabei verschmolzen Fallanalyse und High Society-Berichterstattung: So gewährte sie etwa bei einer Homestory dem Interviewer Charles Somerville sowohl Einblicke in das Interieur ihres Hauses als auch in ihre angespannte Beziehung zu Thaw. Sie öffnete damit in einem wechselseitigen Prozess mit Medienvertreter*innen immer stärker ihre Privatheit, weshalb Somerville seinen Leser*innen versprechen konnte: »[Y] ou will find a delineation of the celebrated Evelyn Nesbit Thaw nearer to the real Evelyn Nesbit Thaw than you have ever known«.61 57 Nixola Greeley-Smith: Evelyn Thaw on the Stand a Second Time Brought No Thrills, Evening World, 18.1.1908, S. 3. 58 Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 4. Aufl., Göttingen 2009, S. 51-5. 59 Vgl. etwa die singuläre Initiative um den New Yorker Erzbischof John Murphy Farley, vergleichbare Prozessdetails künftig zu zensieren, Movement Started for a Clean Press, New York Times, 14.12.1908, S. 9. 60 Vgl. etwa Hummel to Tell about Affidavit of Evelyn Thaw, Evening World, 25.1.1908, S. 1-2, hier S. 1. 61 Vgl. Charles Somerville: ›I’m No Angel Child,‹ But I Hate Vice. Evelyn Thaw’s Own Life Story, New York Evening Journal, [vor 20.1.1907], in: UT, DBCAH, New York Journal American Morgue, 2B15 102.

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Die Rezeption durch die High Society Das Verfahren von 1908 machte deutlich, wie der Skandalprozess des Vorjahres Funktionsweisen der High Society in der Berichterstattung und in Bezug auf die rezipierende Öffentlichkeit gefördert hatte. Ersteres lässt sich an der Verwendung von Fotografien belegen. Während die Berichterstattung über den Prozess 1908 insgesamt zurückgegangen war, steigerten Sensationsmedien wie der New York American die Zahl der abgedruckten Schnappschüsse der Prozessbeteiligten, was als beschleunigte Entwicklung eines paradigmatischen Prozesses interpretiert werden darf.62 Diese Veränderung stellt der Historiker Ryan Linkof parallel für Großbritannien im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg fest. Hier setzten sich ebenfalls vermeintlich authentischere Momentaufnahmen gegen Studioporträts durch, deren harter Kontrast zwischen Realität und Inszenierung in der Gegenüberstellung evident zu werden schien.63 Eben diesen Wandel bildeten die von Evelyn Nesbit verwendeten Fotografien ab, die zwar noch nicht gänzlich durch Schnappschüsse abgelöst worden waren, aber deutlich zugenommen hatten. Dies griff auch auf Harry Thaw über, als er bei der Überführung aus dem Gefängnis in die Psychiatrie von Fotoreportern abgelichtet wurde.64 Dies weist auf eine Veränderung von Sehgewohnheiten hin, wonach privat sichtbare Personen auch mit scheinbar realistischen Fotografien visualisiert werden sollten.65 Die Wirkung dieser medialen Darstellungsweise der High Society-Mitglieder zeigten die öffentlichen Reaktionen. Evelyn Nesbit stand durch ihre Sichtbarmachung und mitschwingende Sexualisierung nach wie vor im Fokus der Leser*innen. In einem Leserbrief an die Evening World beschwerte sich eine Etta Foster: »We have seen her photographs in from three to four different poses on an average of two or three times daily since the tragedy, and it seems as if the public have suffered enough from ›Evelyn and Harry‹ poses.«66 Bedeutsam ist hier, dass die Leserin zwar die Bilderflut beklagt, zugleich aber die dabei erzeugte Nahbarkeit bestätigt, indem sie Nesbit und Thaw – wenngleich ironisch – mit Vornamen anspricht. Obwohl noch nicht der Regelfall in der Gesellschaftsberichterstattung schien Etta Foster bereits der Wirkung dieser Visualisierungen, High Society-Mitglieder nahbarer zu machen, erlegen zu sein. Wie erfolgreich die Presse bereits im ersten Prozess die Angehörigen der High Society als nahbare Personen dargestellt hatte, zeigt die anhaltende Interaktion von Fans mit Evelyn Nesbit. Bis Januar 1908 erhielt sie über 2000 Briefe, die von Rat62 Das ergab die Auswertung des New York American, der in den ersten vier Prozesswochen durchschnittlich alle zwei Tage einen Schnappschuss abdruckte und damit doppelt so oft wie im Vorjahr. 63 Vgl. Linkof: Public Images, S. 55-8. 64 Vgl. o. T., New York American, 2.2.1908, S. 3. 65 Vgl. Linkof: Public Images, S. 55. 66 Etta Foster: Wants Thaw Trial Details Suppressed, Evening World, 25.1.1908, S. 2. verstärkung und desinteresse

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schlägen und Hilfsangeboten über Aufmunterungen zu Souveniranfragen reichten.67 »My affairs were everybody’s affairs«68 beklagte Nesbit die Folgen ihrer Sichtbarkeit. John B. Thompson beschreibt dieses Phänomen als »non-reciprocal intimacy at a distance«,69 welche Rezipient*innen zu medialisierten Personen aufbauen. Dabei spielt es keine Rolle, ob Medienberichte zutreffende Informationen enthalten – entscheidend ist vielmehr, dass sie das Detailwissen der Leser*in steigern und damit die imaginierte Beziehung verfestigen.70 Heiratsanträge, die Nesbit erhielt, verdeutlichen, zu was sich dieses »passive Aufmerksamkeitsprivileg«71 der High Society-Mitglieder steigern konnte: Adressiert an seine »Eva. Little Girley« schlägt ihr ein anonym bleibender Mann in einem sechsseitigen Brief vor, dass sie sich von »Harry« scheiden lasse. Stattdessen solle sie zu ihm und seinen drei Kindern in eine Kleinstadt im Mittleren Westen ziehen, um dort der medialen Sichtbarkeit zu entfliehen. Sprache und Duktus zeugen von einem intimen Verhältnis zu Evelyn Nesbit, das er durch die Skandalberichterstattung entwickelt hatte: »For many, many months I have watched the terrible ordeal you have been going through, and admired the grand girl you have shown yourself during those trying times«.72 Indem von Beginn an die Mechanismen der Gesellschaftsberichterstattung im Skandal griffen, welche die Privatheit der Akteur*innen ins Zentrum stellte, verschwamm die Distanz zwischen High Society-Mitgliedern und Publika, was sich bis zur extremen Form der Heiratsanträge steigern konnte. Was Juliane Hornung für die gegenseitige Wahrnehmung der High Society-Mitglieder untereinander feststellen konnte,73 lässt sich hier für die Beziehung ihrer Fans ihnen gegenüber nachweisen: Die von den Celebrity Studies als »para-social relationships«74 theoretisierte Beziehung von Fans mit Stars lässt sich auf die High Society übertragen. Während noch immer Forscher*innen die soziale und emotionale Bedeutung dieser imaginierten Verbindungen abwerten,75 darf konträr dazu angenommen werden, dass diese auf das Verhältnis von Publika und High Society-Mitgliedern wirkten; wie im vorliegenden Fall, als eine gemeinsame Zukunft imaginiert wurde. Mitglied der High Society zu sein, bedeutete somit nicht nur, seinen Gesellschaftsstatus über die 67 68 69 70 71 72 73 74

Vgl. Nesbit: Story, S. 220-1;. Ohioan Would Die for Thaw, Toledo Blade, 17.1.1908. Nesbit: Story, S. 220. Thompson: Political Scandal, S. 26. Vgl. ebd., S. 25-6. Thomas Macho: Von der Elite zur Prominenz, in: Merkur 47:9/10 (1993), S. 762-9, hier S. 762. Drei Zitate in Brief von Unbek. an Evelyn Nesbit (29.2.1908), UC, Folder 10, Index A. Vgl. Hornung: Welt, S. 95. Sean Redmond/Su Holmes: Star and Celebrity Culture: Theoretical Antecedents, in: dies. (Hg.): Stardom and Celebrity. A Reader, London 2007, S. 12-6, hier S. 15. 75 Vgl. Matt Hills: Para-social to Multisocial Interaction. Theorizing Material/Digital Fandom and Celebrity, in: Marshall/Redmond: Companion, S. 463-82, hier S. 463-72. Der Soziologe Chris Rojek tendiert etwa in seiner stärker theoretischen Arbeit zur erneuten Pathologisierung parasozialer Fanbeziehungen, vgl. ders.: Fame Attack. The Inflation of Celebrity and Its Consequences, London 2012, S. 124-5.

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mediale Öffnung der eigenen Privatheit zu sichern, sondern zur nahbaren Imaginationsebene für Emotionen und Wünsche zu werden. Für diese Anlagerung von Leser*innen an die High Society-Mitglieder bietet sich abschließend für beide Prozesse die Theorie der »Gesellschaft der Singularitäten« des Soziologen Andreas Reckwitz an.76 Sie liefert Anknüpfungspunkte, die das Zusammenspiel zwischen Leser*innen, Skandal und High Society in einen größeren Deutungsrahmen betten. Reckwitz attestiert den spätmodernen, westlichen Gesellschaften einen Strukturwandel in den 1970er und 1980er Jahren, weg von den Normierungen der Nachkriegszeit hin zur Betonung des Besonderen.77 Diese neue »soziale Logik der Singularitäten«78 würde die Individuen dazu anhalten, sich selbst als attraktiv, nachahmungswürdig und authentisch darzustellen. Reckwitz geht davon aus, dass dies als Randphänomen bereits seit dem 19. Jahrhunderts auftrat.79 Dies zeigt sich in der Tat deutlich an den Angehörigen der High Society zur Jahrhundertwende: Indem sie ihr Verhalten sichtbar, ihre Privatheit zugänglich und ihre Person nahbar machten, traten Individuen wie Nesbit und Thaw aus der anonymen Massengesellschaft heraus und wurden mittels dieser Singularisierungslogiken zu »Antipoden zur Herrschaft des Allgemeinen«.80 Hinzu kommt, dass High Society einen großen Teil ihrer Anziehungskraft aus dem medial vermittelten Versprechen zog, der Aufstieg in diese Gruppe und damit die eigene Singularisierung sei möglich.81 Die Sensationsprozesse gegen Harry Thaw stellten dabei einen Höhepunkt dar, die Einblicke in ihre Privatheit ermöglichten und damit die Singularität der High SocietyMitglieder glaubhaft machten. Insgesamt zeigt sich, dass der erste Thaw-Prozess auf Ebene des Sexualdiskurses als Scharnier zwischen Viktorianismus und Moderne fungiert hatte. Das zweite Strafverfahren zeichnete sich durch die Intensivierung der preisgegebenen, devianten Details über Thaws Privatheit aus, die mit einer stärkeren Rückdrängung der Emotionalität der Beteiligten verbunden war. Ferner durchliefen die Prozess­ akteur*innen im Vergleich beider Verfahren mediale Anpassungs- und Professionalisierungsprozesse, wobei ihnen aber auch die Grenzen und Problemstellungen aufzeigt wurden, die sich aus der Überlagerung der Sichtbarkeit der High Society mit 76 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017. 77 Vgl. ebd., S. 7-12, 14-5, 20. 78 Ebd., S. 14. 79 Vgl. ebd., S. 17-8. 80 Ebd., S. 27. 81 Vgl. Karen Sternheimer: Celebrity Culture and the American Dream. Stardom and Social Mobility, New York 2011, S. 3. Sie knüpft diese Erwartung an das Aufstiegsversprechen des American Dream, was erklärt, weshalb High Society zuerst in den USA gesellschaftlich relevant wurde; vgl. Reckwitz: Gesellschaft, S. 22. verstärkung und desinteresse

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dem gesellschaftlichen System der Justiz ergaben. Letztlich handelten darin Presse­ (-vertreter*innen), Publika und Angehörige der High Society aus, wie diese medial funktionierte.

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4. Der Thaw-Prozess als populärkulturelles Medienereignis Why is there so much interest taken in the Thaw case? If the trial were to be held in Madison Square Garden the crowd would fill that vast hall to the doors. If Thaw’s wife were merely to sit on a stage for exhibition purposes the gate receipts would pay her husband’s counsel fees.1 Mit dieser ironischen Überlegung skizzierte der Chefredakteur der Evening World bereits kurz nach Prozessbeginn treffend das Potenzial der High Society: ihre Kommerzialisierbarkeit. Durch das öffentliche Interesse erfuhren der Thaw-Prozess und seine Protagonist*innen nicht nur mediale Aufmerksamkeit, sondern fanden Eingang in die Populärkultur. Dieser ist zwar einer der gängigsten, aber zugleich schwierigsten Begriffe der Kulturwissenschaften, da er sich trotz seines reduktionistischen Anscheins einer präzisen Definition zu entziehen scheint.2 Doch öffnet die Untersuchung der Massenkultur den Blick auf kulturelle Wahrnehmungsprozesse, die dazu beitragen, High Society als gesellschaftliches Phänomen zu erklären.3 Unter Populärkultur fällt dabei ein standardisiertes und massenhaft produziertes Angebot an profitorientierten Waren und Dienstleistungen, das »im modernen Alltag die Aufmerksamkeit vieler zu gewinnen«4 sucht, indem es die Bedürfnisse ­einer Mehrheit der Bevölkerung auf Zerstreuung und Unterhaltung befriedigt.5 Dies verweist bereits auf die Dualität von Populärgütern mit ihrer massenhaften Uniformität auf der einen und deren individueller Aneignung auf der anderen Seite. Indem am Ausgang des 19. Jahrhunderts die Populärkultur die amerikanische Gesellschaft immer umfassender zu durchdringen begann, konnte sie, wie die Soziologin Hannelore Bublitz festhält, zur »Signatur der Moderne«6 werden.7 Diese massenhafte und zugleich individuelle Aneignung bildete dabei meiner Ansicht nach die dialektische Basis, mit der auch High Society produziert und konsumiert wurde: Ihre Mitglieder waren populäre und zugleich individualisierbare Medienprodukte. Deren Individualität ließ sich auf privater Ebene aneignen und 1 Frank Irving Cobb: A Phase of the Thaw Case, Evening World, 22.1.1907, S. 14. 2 Zur begriffsgeschichtlichen Problematisierung vgl. John Storey: Was ist Populärkultur?, in: Thomas Kühn/Robert Troschitz (Hg.): Populärkultur. Perspektiven und Analysen (= Kulturwissenschaft, 144), Bielefeld 2017, S. 19-40 und Maase: Unscharfe Begriffe. 3 Vgl. Bodo Mrozek: Popgeschichte. Version: 1.0, Docupedia-Zeitgeschichte, 6.5.2010, https:// docupedia.de/zg/mrozek_popgeschichte_v1_de_2010 (acc. 22.4.2022), [S. 6-7]. 4 Maase: Vergnügen, S. 21. 5 Vgl. ebd., S. 20-2. 6 Hannelore Bublitz: In der Zerstreuung organisiert. Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur, Bielefeld 2005, S. 9. 7 Vgl. ebd., S. 12; Edwards: New Spirits, S. 128.

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durchlief dabei einen Prozess der kulturellen Sinnzuschreibung.8 Dies referiert auf Erkenntnisse der Celebrity Studies, wonach die öffentliche Figur des Stars erst durch dessen Zusammenspiel mit Medien und Publikum entsteht.9 Wie sich zeigen wird, beschränkte sich die Rezeption der High Society in der Populärkultur nicht allein auf die USA. Sie griff zudem nach Europa aus, wo es autochthone Entwicklungen im Unterhaltungsgewerbe gab, die dort wiederum auf die High Society ein- und dann in die USA zurückwirkten. Dies führte zur frühen Internationalität dieses sozialen Phänomens.10 Dabei gehe ich von der These aus, dass im Zuge des Medienskandals zwischen 1907 und 1908 Evelyn Nesbit und Harry Thaw als High Society-Mitglieder zu populärkulturellen Produkten wurden, die dezidiert auf ihre medial sichtbare Privatheit und ihren Lifestyle referierten. Genau in dem Jahrzehnt, als westliche Gesellschaften endgültig zu Massenkulturen wurden,11 öffnete ihre syntagmatische Medialisierung im Skandal der High Society neue Möglichkeiten der Sichtbarmachung, erschloss mittelfristig weitere Felder, in die sich das Aufmerksamkeitskapital der Mitglieder transferieren ließ, und verliehen der Formation damit eine neue gesellschaftliche und kulturelle Relevanz. Wenn auf diese Weise High Society in Konsumprodukten ernst genommen wird, zeigt sich, dass die Gerichtsverfahren inklusive Medienereignisse waren. Nesbit und Thaw verdeutlichen, dass sich im Kontext der Prozesse keine eindeutige Unterscheidung zwischen Skandalund High Society-Berichterstattung als Ursachen ihrer populärkulturellen Verarbeitung getroffen werden kann, sondern die Übergänge fließend waren. Während sich zur Jahrhundertwende in Europa die Massen- und Vergnügungskultur immer weiter ausbreitete, hatte sie sich in den USA bereits als Bestandteil des Alltags etabliert. Die Kombination aus Arbeitszeitverkürzungen bei steigenden Reallöhnen, zunehmender Verstädterung und informelleren Geschlechterverhältnissen ermöglichte immer mehr Amerikaner*innen, im Laufe des Gilded Age ein zunehmend differenziertes Konsum- und Freizeitangebot zu nutzen.12 Das Angebot reichte dabei von Tanzhallen und vaudevilles über erste Kinos und inszenierte Spektakel, wie Zirkussen oder Wild West Shows, hin zu Vergnügungsparks, wie Coney 8 Vgl. diese Sinnaufladung von Konsumprozessen bei Andreas Ludwig: Materielle Kultur. Version: 2.0, Docupedia-Zeitgeschichte, 1.10.2020, https://docupedia.de/zg/Ludwig_materielle_ kultur_v2_de_2020 (acc. 22.4.2022), [S. 13]. 9 Vgl. Bärbel Czennia: Introduction: Toward an Interdisciplinary History of Celebrity, in: dies. (Hg.): Celebrity. The Idiom of a Modern Era (=  AMS Studies in the Eighteenth Century, 70), Brooklyn 2014, S. 9-42, hier S. 13-4. 10 Vgl. Georg Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880-1945, Frankfurt a. M. 1999, S. 163. 11 Vgl. Maase: Vergnügen, S. 20-1. 12 Vgl. Litwicki: Influence, S. 190-205; Peiss: Cheap, S. 4-6; Roy Rosenzweig: Eight Hours for What We Will. Workers and Leisure in an Industrial City, 1870-1920, Cambridge 1985, S. 171-90; Zur Geschichte der Freizeit in den USA vgl. Nasaw: Going Out.

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Island.13 Um 1900 entstanden mit Tanzlokalen, Warenhäusern und Kinos Orte, in denen sich ein sozial und geschlechtlich gemischtes Publikum traf.14 Dabei prägte die Massenkultur nach dem Kulturwissenschaftler Kaspar Maase eine »Art kulturelle Entzauberung«,15 indem sie Klassenschranken und elitäre Zuschreibungen von Hoch- und Populärkultur überwand und damit verhinderte, dass klare Grenzen zwischen den kulturellen Angeboten gezogen werden konnten.16 Obwohl Maase dennoch die vorhandenen Gegensätzlichkeiten als Folge von Ab- und Entgrenzungsbemühungen benennt, betont er das der Massenkultur eigene Demokratisierungsmoment.17 Im Kontext der High Society ist diese Dialektik und deren Potenzial besonders wichtig: Denn einerseits bestimmten In- und Exklusionsprozesse über die Zugehörigkeit zur Formation, andererseits bot die High Society ein demokratische Aufstiegsversprechen. Die der High Society immanente Zusicherung, unabhängig von ökonomischem Erfolg oder Klassenherkunft ein Teil davon werden zu können, konnte in dem Konsum ihrer Mitglieder über die Massenmedien antizipiert werden. In diesem Kontext verorteten nun Produzenten von populärkulturellen Erzeugnissen den Skandal und seine Akteur*innen, indem sie die Inhalte der Zeitungsberichterstattung in Konsumgüter transferierten.

4.1. High Society als Konsumprodukt Mit dem Thaw-Prozess verstetigte sich die Produktwerdung der High Society im Sinne ihrer Kommodifizierung und Kapitalisierung. Wie gesehen, hatte diese bei Thaw und Nesbit kurz nach dem Verbrechen bereits erste Formen angenommen.18 So erschienen etwa neue Publikationen zu dem Fall, die sich nun explizit an bestimmte Publika richteten.19 Mit Beginn des Verfahrens gegen Thaw veränderte sich jedoch die Qualität, wie die High Society-Akteur*innen zu Massenprodukten 13 Vgl. Erenberg: New York Nightlife, S. 66-76. Am Beispiel des vaudeville vgl. Nasaw: Going Out, S. 19-46. 14 Vgl. Peiss: Cheap, S. 6-33; Alan Trachtenberg: The Incorporation of America. Culture and Society in the Gilded Age, 9. Aufl., New York 1990, S. 130-4. 15 Maase: Vergnügen, S. 25. 16 Vgl. ebd., S. 22-5. 17 Vgl. ebd., S. 16. 18 Siehe Kap. II.1.4. 19 So etwa Groschenromane, wie der verschollene »The Thaw Case« (1907), der »in detail every event of that thrilling drama of human interest from the beginning up to the climax on the Madison Square Roof Garden« wiedergab, vgl. The Thaw Case, in: National Police Gazette (6.4.1907), S. 14; oder für italienischsprachige Immigrant*innen von Arturo Caroti: Il Processo Thaw (= Grandi Delitti Americani), New York 1907. An die Unter- und Mittelschicht richtete sich Atwell: Harry Thaw Case, das als Taschenbuch und teure Leinenausgabe erschien, vgl. Weekly Record of New Publications, in: Publishers’ Weekly 71:19 (1907), S. 1474 und 1908 bereits high society als konsumprodukt

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wurden. Dabei gehe ich von zwei Thesen aus: Erstens referierten die Massenprodukte dezidiert auf Charakteristika der High Society, wie Privatheit oder Konsumverhalten. Auf Ebene der Rezeption schuf das die Möglichkeit, parasoziale Intimität zu entwickeln. Zweitens entstand ein neues Feld für die High Society, indem ihre Medialität nicht mehr nur im übertragenden Sinn ein Medienprodukt war, sondern zu ihrer Kapitalisierung als Konsumgüter führte. Die erste Rezeptionsebene bezieht sich auf High Society-Räume, die nur indirekt mit dem Skandal in Verbindung standen, welche die Presse aber mit Fotografien visuell konsumierbar machte, wie etwa Stanford Whites Appartement.20 So verlegten lokale Fotografen etwa Aufnahmen des Geburtshauses von Evelyn Nesbit als Postkarte.21 Dazu wurden sie von Ratgebern angehalten, die empfahlen, lokale Motive mit »great general interest«22 zu vermarkten. Bereits etablierte High Society-Räume erlebten im Zuge des Skandals einen regelrechten Sensationstourismus. Der Madison Square Roof Garden war wegen der dortigen Mordszenerie wochenlang ausgebucht, und das Medienereignis prägte in der Folge sogar den sogenannten »touristischen Blick«23 von New-York-Tourist*innen.24 Auf deren Suche nach touristischen Symbolen, die kollektive Wahrnehmungen, wie etwa deren mediale Ereignishaftigkeit prägen, wurde der Vergnügungskomplex zum sehenswürdigen Ort für Individualreisende und zum Ziel touristischer Stadtrundfahrten.25 Dieses Interesse folgte der doppelten Logik von Mordskandal und High Society: Der Vergnügungskomplex wurde einerseits in Folge der Sensationslust und Voyeurismus am Mordfall interessant; andererseits ermöglichte der Besuch es, einen Ort der High Society persönlich erleben zu können, was für exklusivere Adressen wie Restaurants oder Privaträume unmöglich blieb. In Kontrast zum Bankrott von Evelyn Nesbits Mädcheninternat in Pompton zeigt sich, dass Räume von der medialen Aufmerksamkeit der High Society profitieren oder mit ihr konfligieren konnten. in zweiter Auflage. Aufgrund der Erzählung, die Thaws Ehrenmordnarrativ entsprach, vermutete erstmals Langford: Murder, S. 49, dass das Werk eine Auftragsarbeit der Thaws war. 20 Vgl. Murder Victim’s Room in Madison Square Tower, Evening World, 26.6.1906, S. 2, hier S. 1. 21 Vgl. Postkarte »Birth Place of Evelyn Nesbit Thaw, Tarentum, Pa.«, [vor 28.1.1907] nicht gelaufen, UC, File 2. Das Motiv von Nesbits Geburtshaus nahm ab 1907 auch ein professioneller Postkartenproduzent in seine Auswahl, vgl. Postkarte »Evelyn Nesbit Thaw’s Birth Place, Tarentum, Pa.«, gelaufen am 27.9.1912, in: ebd. 22 E. J. Wall/H. Snowden Ward: The Photographic Picture Post-Card. For Personal Use and for Profit, 2. Aufl., London 1906, S. 76. 23 Cord Pagenstecher: Reisekataloge und Urlaubsalben. Zur Visual History des touristischen Blicks, in: Paul: Visual History (2006), S. 169-87, hier S. 169. 24 Vgl. If You Don’t Know Who’s Who on New York’s Roofs Read This and Point Them Out to Out-of-Towners, New York World, 19.8.1906, Metropolitan Section, S. 1. 25 Vgl. Pagenstecher: Reisekataloge, S. 169-71; zum touristischen gaze auf den Vergnügungskomplex vgl. die Postkarte »The Madison Square Garden – New York«, gelaufen am 12.9.1910, UC, Container 6; zu Stadtrundfahrten vgl. Reuben in New York, in: Saturday Evening Post 184:16 (14.10.1911), S. 28-31, hier S. 30.

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Nach dem Kulturwissenschaftler Kaspar Maase kennzeichnet populärkulturelle Erzeugnisse, dass ihre Materialität und die damit verbundenen Konsumpraktiken ein »fluides Produkt von Interaktionen, Kommunikationen, Deutungen und Umdeutungen«26 sind, was sie nur schwer kategorisierbar macht.27 Entsprechend überlagerten sich bei den Erzeugnissen der Populärkultur über den Nesbit-ThawWhite-Skandal Bezüge zur High Society und dem Skandal. So entsprangen etwa dekorative Fotodrucke und Musselinteppiche der Mordszenerie im Madison Square Garden der Logik des Sensationsverbrechens, wobei zusätzlich Bezüge zwischen dem High Society-Ort und den -Protagonist*innen erzeugt wurden.28 Diese Überlagerung von High Society und Skandal ist evidenter bei Vergnügungsangeboten, wie Ausstellungen von Wachsfiguren: 1908 stellte das Eden Musée, ein New Yorker Lichtspielhaus und Figurenkabinett, die Verhandlung gegen Thaw nach.29 Der Katalog bewarb die Figuren als spannende, realitätsgetreue Abbilder, die im Ausstellungsraum »No. 18: People Talked About« standen, worin sich weitere Wachsfiguren medial sichtbarer Personen befanden, wie etwa die der Schauspielerin und High Society-Angehörigen Anna Held.30 Im Erlebnis der Figuren überlagerte sich Sensationalismus mit der Nahbarkeit der High Society.31 Seit den 1880er Jahren konnte ein vielschichtiges Publikum figürliche Nachbildungen medialisierter Personen in den Wachskabinetten erleben. Das ermöglichte eine neue Art der Auseinandersetzung mit den Dargestellten: Sie wurden regelrecht erfahrbar, indem sie bestaunt und dreidimensional wahrgenommen werden konnten.32 Dabei sorgte die Gefahrlosigkeit dieser (Horror-)Kabinette, welche die voyeuristische Annäherung an die kriminelle oder deviante Alterität ermöglichten, für den nötigen Vergnügungsfaktor.33 Zugleich war das Figurenkabinett nicht nur ein Panoptikum außergewöhnlicher Personen, sondern ein Panopticon im Foucault’schen Sinne, da in ihm die Figuren den allsehenden Blicken der Besucher*innen ausgesetzt und ihren normierenden

26 Maase: Unscharfe Begriffe, S. 105. 27 Vgl. ebd., S. 105-6. 28 Vgl. Roof Garden Tragedy. Special Engraved One-Color Block, o. O. o. D. [1906/7], UC, Container 3. 29 Vgl. Vaudeville Attractions, Evening World, 11.1.1908, S. 5. Das Eden Musée war ein Pionier der New Yorker Vergnügungskultur, von ersten Filmvorführungen über Wachsfiguren bis hin zu eigenen Filmproduktionen,vgl. Andrea Stulman Dennett: Weird and Wonderful. The Dime Museum in America, New York 1997, S. 46-52. 30 Vgl. Eden Musée: Monthly Catalog. March 1908, New York 1908, S. 19, 20-3. 31 Darüber hinaus gab es in Europa mehrere Ausstellungen mit Wachsfiguren von Thaw, vgl. Held Up On Ship As An Embezzler, Evening World, 22.1.1908, S. 4. 32 Vgl. Lilti: Invention, S. 264. 33 Vgl. Billie Melman: Horror and Pleasure. Visual Histories, Sensationalism and Modernity in Britain in the Long Nineteenth Century, in: Frevert: Geschichte, S. 26-46, hier S. 35-6. high society als konsumprodukt

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Vorstellungen unterworfen waren.34 Bei dem nachgestellten Thaw-Prozess konnten somit vor dem Hintergrund der medialen (Norm-)Debatten neue, scheinbar umfassende Blicke auf die bereits vertrauten Akteur*innen geworfen werden. Ähnliche Formate gab es zeitgleich für andere Medienereignisse, wie Naturkatastrophen, die in Form von Spielzeugen oder durch Nachbauten in Freizeitparks nacherlebt werden konnten.35 Während die Modelle von Fluten oder Bränden jedoch weitgehend selbsterklärend waren, bekam Thaws Wachsfigur seine Bedeutung erst durch die Medienberichterstattung. Doch ging die massenkulturelle Verarbeitung des Nesbit-Thaw-White-Skandals und des Strafprozesses über die oben ausgeführten, bereits erprobten Rezeptionsweisen hinaus. Besonders galt dies für Massenprodukte mit oder über Evelyn Nesbit. Zwar gab es seit Mitte des 19.  Jahrhunderts Konsumgüter mit Darstellungen von Kulturschaffenden, etwa in Form von Gemälden oder Souvenirtellern, die als Dekoration und Erinnerungsstücke Verwendung fanden.36 Für medial sichtbare Personen ohne solch künstlerische oder auch funktionelle Referenzen, gab es diese Produkthaftigkeit bislang noch nicht, sodass High Society-Mitglieder neues Terrain erschlossen. Dabei lassen sich drei Bedeutungsebenen der Objekte herausarbeiten. Erstens nutzten und bestätigten Nesbits Abbildungen auf Kosmetikaccessoires die Bedeutung von körperlicher Schönheit als »in«-Faktor der High Society (Abb. 38). Zugleich verwies die Motivwahl mit ihrer Erotik – freie Schultern und Rosen – auf Paratexte des Prozesses, wie Debatten über ihre sexuelle Agenda oder die Entgrenzung weiblicher Rollenbilder. Nicht nur medial, sondern auch populärkulturell erzeugten Nesbits Aussehen und Körper somit Aufmerksamkeit und funktionierten als Verkaufsargument.37 Zweitens kann, nach dem Kulturwissenschaftler John Storey, die Materialität populärkultureller Objekte selbst als Akteurin begriffen werden, indem sie Bedeutung transportiert oder als Mediatorin selbst transformiert.38 In diesem Sinn können Gegenstände, wie der Handspiegel oder der Briefbeschwerer, als Alltagsgegenstände und Erinnerungsmedien fungieren. Einerseits waren sie Gebrauchsutensilien, andererseits konnten die Produkte mit Nesbit gleichsam als Memorabilien dienen, da 34 Vgl. Eva Meyer-Hermann: Was wir sehen blickt uns an, in: Eva Meyer-Hermann (Hg.): Blicke! Körper! Sensationen! Ein anatomisches Wachskabinett und die Kunst, Göttingen 2014, S. 11-84, hier S. 22, 27. 35 Vgl. Hannig: Gefahren, S. 248-9. 36 Vgl. Marcus: Drama, S. 153; Lilti: Invention, S. 244-5; am Beispiel früher Filmdarsteller*innen Kathryn H. Fuller: At the Picture Show. Small Town Audiences and the Creation of Movie Fan Culture, Washington, D. C. 1996, S. 122. Einen vergleichbaren Memorabilien-Kult gab es zeitgleich um europäische Herrscher*innen, vgl. Eva Giloi: Monarchy, Myth, and Material Culture in Germany. 1750-1950, Cambridge 2011, S. 9-11. 37 Vgl. Lears: Fables, S. 167-8. 38 Vgl. Storey: Cultural Theory, S. 226-7.

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Abb. 38: Ein Taschenspiegel, ein Briefbeschwerer und ein tragbarer, dreiflügeliger Klappspiegel.

sich in ihnen Prozessthemen wiederfinden: von der Erotik im Handspiegel – lasziver Blick, gelöstes Haar und freie Schultern  – bis zu Nesbits Opfergang im Briefbeschwerer, symbolisiert in ihrer Mater-Dolorosa-Geste. Je nach Motiv materialisierten sich in diesen transzendentalen Objekten Erinnerungen, sie reaktivieren sie Erlebtes oder machten den Bezug zur dargestellten Person oder zum Ereignis visuell und haptisch erfahrbar.39 Vor dem Hintergrund dieser breiten Bedeutungszuschreibungen darf eine bewusste Kaufentscheidung angenommen werden,40 um sich Nesbit als Skandalisierte oder Stellvertreterin der High Society anzueignen. Dafür sprechen auch die in großer Zahl erhaltenen Rabattmarken, sogenannte trade tokens. Diese wurden als Werbegeschenke in Form kleiner Handspiegel mit Nesbits Fotografien auf der Rückseite ausgegeben,41 dann jedoch nicht eingetauscht, sondern als Objekte behalten.42

39 Vgl. Hans Wernher von Kittlitz: Die Starreligion. Der Star als Erinnerung und als Reliquie, in: Birgit Gablowski (Hg.): Der Souvenir. Erinnerung in Dingen von der Reliquie zum Andenken, Köln 2006, S. 96-100, hier S. 98, der zudem die quasi-religiöse Komponente von Memorabilia betont. Vgl. entsprechende Praktiken in Chris Rojek: Celebrity and Religion, in: ders./Holmes: Stardom, S. 171-80. 40 Vgl. Volker Fischer: Altäre des Banalen – Surrogate des Intimen – Sollbruchstellen des Authentischen. Zur Phänomenologie zeitgenössischer Erinnerungskultur in Souvenirs, in: Gablowski: Souvenir, S. 298-347, hier S. 302, 304-5. Konkrete Belege für die Motivation der Konsument*innen fehlen zwar, doch darf bei Produkten jenseits des alltäglichen Bedarfs eine bewusste Kaufentscheidungen angenommen werden, vgl. Michael Makropoulos: Theorie der Massenkultur, München 2008, S. 10-1. 41 Vgl. Trade Tokens, UC, Ephemera. 42 Vgl. Paul A. Cunningham: Michigan Trade Tokens, Tecumseh 1987, S. 724. high society als konsumprodukt

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Schließlich konnten Society-Bezüge das dominante Charakteristikum der populärkulturellen Produkte sein. So verkauften Händler während der Prozesse kleine Modelle der roten Samtschaukel, auf der Nesbit in Stanford Whites Apartment geschaukelt war, wie sie im Prozess zu Protokoll gab.43 Diesen Modellen kam eine Doppelfunktion zu: Einerseits waren sie Souvenirs des Prozesses und referierten auf dessen moralische Skandalträchtigkeit; andererseits wiesen sie über den Skandal hinaus auf die vermeintliche Privatheit der High Society-Akteur*innen, indem sie sowohl Whites Privatraum als auch intime, sexuell konnotierte Informationen über Nesbit repräsentierten. Frei von konkreten Zuschreibungen erhielten die Schaukeln ihre Bedeutung allein über diese paratextuellen Bezüge. Die Wahl populärkultureller Erzeugnisse mit Evelyn Nesbits Abbildungen lässt daher auf eine individuelle, bewusste Aneignung sowohl der Objekte als auch von Evelyn Nesbit schließen, da sich in ihnen mediales Wissen materialisierte. In ihrer Vielschichtigkeit zeigen obigen Beispiele, wie sich Skandal und High Society in der Populärkultur überlagerten. Vor dem Hintergrund des Mordskandals erhielten die Objekte sowohl ihren Reiz als auch eine zusätzliche Bedeutungsebene durch die in ihnen thematisierten High Society-Mitglieder und das mit diesen verbundene Wissen.

Scrapbooks: Aneignung durch Verarbeitung Einen Blick darauf, wie diese intermedialen Bezüge tatsächlich rezipiert wurden, ermöglichen Konsument*innen, die sich explizit mit Evelyn Nesbit beschäftigten. Mit seiner mittlerweile kanonischen Analyse aus dem Jahr 1992 definierte der Medienwissenschaftler Henry Jenkins partizipative Fankultur als zentraler Faktor der Medialität von Stars.44 Wie jüngst von der Kulturwissenschaftlerin Sharon Marcus kritisiert, reformierte er mit dieser Neukonzeption zwar radikal die Celebrity Studies, brach aber nicht mit deren grundsätzlicher Hierarchisierung, wonach aktiv-schöpferische Rezepient*innen besser seien als passiv-konsumierende.45 Marcus plädiert dagegen, Fankultur als offenes Forum sich überlagernder Rezeptionsformen zu verstehen.46 Ihr Ansatz sensibilisiert für die Spannbreite der Rezeptionen und Sinnzuschreibungen an Evelyn Nesbit. So akzeptierten Frauen sie als Trendsetterin, wenn sie ihre Kleidung imitierten, wobei sie damit nicht nur ihren Stil (re-)produzierten, sondern zugleich ihre Vorstellung von Nesbits Weiblichkeit.47 Auch wenn in einer Chicagoer 43 Vgl. Marilyn Nuhn: ›The Girl in the Red Velvet Swing‹.  Evelyn Nesbit Postcards and Other Memorabilia, in: The Antique Trader Annual of Articles 13 (1981), S. 133-5, hier S. 135. Vgl. die Aussage in Prozessprotokoll (1907), S. 531-2, UC, Container 15-16. 44 Vgl. Henry Jenkins: Textual Poachers. Television Fans and Participatory Culture, 2. Aufl., London 2012 [1992], S. 18, 23-4. 45 Vgl. Marcus: Drama, S. 94-5. 46 Vgl. ebd., S. 95-6. 47 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 196; Samuels: Girl, S. 19.

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Bibliothek Susan R. Preston täglich die Gerichtsberichterstattung passiv konsumierte, wurde sie aktiv, sobald sie ihre Lektüre in ihrem Tagebuch verarbeitete.48 Beide Rezeptionsformen überlappten sich bei Fotoalben über Theaterdarsteller*innen, sogenannten theatrical scrapbooks. Sie erlebten ihre Hochphase zwischen den 1890er und 1910er Jahren, als sich Fotodrucke medialisierter Personen in den Printmedien durchsetzten. Mit ihren Alben vollzogen Leser*innen eine dreischrittige Aneignung, wenn sie die Abbildungen erst bewusst auswählten, dann ausschnitten und letztlich in ihre Alben übertrugen.49 Obwohl bislang von der Forschung kaum als eigene Quellengattung beachtet, haben sie einen exzeptionellen Quellenwert für die Rezeptionsforschung, da die Alben durch ihre jeweilige Bildkomposition neue Deutungszusammenhänge schufen und damit Einblicke in Interpretationsweisen liefern.50 So tauchte Evelyn Nesbit bereits vor dem Mordfall in dem sechsten Album einer nicht näher bekannten Elizabeth Murdock auf, welches diese Theater- und vaudevilleDarsteller*innen gewidmet hatte. Auf den 39 Seiten des ehemaligen Schulhefts klebte sie 152 Ausschnitte von für sie mutmaßlich wichtigen Darsteller*innen ein. Darunter befinden sich insgesamt nur vier ganzseitige Abbildungen, wovon eine Nesbit aus dem Jahr 1904 zeigt. Ihr kommt damit ein besonderer Platz im Album zu.51 Während Evelyn Nesbit in Murdocks theatrical scrapbook noch Prima inter Pares war, änderte sich das mit ihrer Sichtbarkeit im Skandal. In diesem Kontext entstand ein allein Nesbit gewidmetes Album in einem aussortierten Fahrscheinbuch der Chicago & Atlantic Railroad Co.52 Der oder die anonyme Gestalter*in präparierte die großformatige, rund 30 × 40 cm große Kladde, indem er*sie die einzelnen Seiten mit »Evelyn Nesbit« überschrieb und die Jahresangaben von »18__« auf »1907« ausbesserte. Die Zeitungsausschnitte sortierte er*sie dabei nicht chronologisch, sondern systematisch nach Nesbits Pose oder Körpersprache (Abb. 39). Da weitere Beschriftungen oder Kommentare fehlen und der Skandalkontext lediglich durch die Überschriften der Ausschnitte präsent ist, schien dessen Dokumentation nicht im Fokus gestanden zu haben. Vielmehr ermöglichte die bewusste Zusammenstellung, sich mit Variationen von Nesbits Äußerem und Emotionen vertraut zu machen, was die – in diesen Alben häufig sexuelle – Intimität mit Evelyn Nesbit steigerte.53 Diese erotisierende Funktion spricht für einen männlichen Kompositeur des Albums. Nach einer anderen Lesart erscheint eine Albumerstellerin als 48 Vgl. Sue R. Preston Diary, Eintrag vom 21.2.1907, VPISU, UL, SC, Ms2008-034. 49 Vgl. Sharon Marcus: The Theatrical Scrapbook, in: Theatre Survey 54:2 (2013), S. 283-307, hier S. 285; dies.: Drama, S. 99; Leonard: News, S. 125-6. 50 Vgl. Marcus: Theatrical Scrapbook, S. 283-5; dies gilt generell für Alben, vgl. Cord Pagenstecher: Private Fotoalben als historische Quelle, in: ZH/SCH 6:3 (2009), S. 449-63, hier S. 44950, 453. 51 Vgl. Elizabeth Murdock: Scrapbook. Vol. 6, S. 36, UC, Box 8. 52 Chicago & Atlantic Railroad Co. Coupon Ticket-Fotoalbum von Evelyn Nesbit, UC, Portfolio 1. 53 Vgl. Marcus: Drama, S. 100-1, 109. high society als konsumprodukt

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Abb. 39: Zwei Albumseiten mit Kompositionen der gleichen Posen und Körperhaltungen von Nesbit.

ebenso wahrscheinlich. Diese hätte sich, in Anbetracht von Nesbits Funktion als High Society-role model, über die Komposition der Abbildungen deren Schönheitsvorstellungen und/oder Körperwahrnehmungen angeeignet. Insgesamt vermittelte die variantenreichen Sammlung der gleichen Posen den Eindruck, die media­lisierte Person persönlich zu kennen, da die Collagen nicht mehr allein Fotografien zusammenführten, sondern regelrecht einen imaginierten Typus bildeten.54 Laut Sharon Marcus spricht daraus das Verlangen »to bask in celebrities’ presence by collecting, handling, and holding their representations.«55 Die Kompositeurin hatte sich nicht nur das medial vermittelte Fremdbild von Nesbit aktiv angeeignet, sondern für sich selbst neu arrangiert und damit ein persönliches Bild produziert. In diesen Alben überschnitten sich folglich Formen der Fankultur mit dem Produktstatus von High Society: Nahm Evelyn Nesbit im ersten scrapbook noch als eine unter vielen Schauspieler*innen eine Heftseite ein, war ihr allein das zweite Albums gewidmet, zu einem Zeitpunkt, in dem sie bereits skandalisiertes High SocietyMitglied war. Dies zeigt, dass mit gesteigertem Aufmerksamkeitskapital das Interesse an der Formation und zugleich die Nahbarkeit ihrer Mitglieder stieg, die sich scheinbar durch das Sammeln und Aneignen verschiedener, teils intim wirkender Aufnahmen steigern ließ.

54 Vgl. ebd., S. 132-9. 55 Ebd., S. 105.

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Postkarten: Aneignung durch Konsum Bei Fragen nach der Konsumkultur in Bezug auf medialisierte Personen kam zur Jahrhundertwende den Postkarten eine entscheidende Rolle zu. Wie bereits in Kapitel I.2.2 gezeigt wurde, waren Bildpostkarten für Evelyn Nesbits Einstieg in die High Society zentral gewesen und der Mordskandals lieferte den Anlass, diese neu aufzulegen. Die Bildpostkarte war sowohl Sammlerobjekt als auch Kommunikationsmittel. Als günstiges Konsumprodukt avancierten sie Ende des 19. Jahrhunderts zum wichtigsten visuellen Medium neben illustrierten Magazinen und leisteten einen Beitrag zum Durchbruch der Fotografie.56 In ihrer Hochphase zwischen 1900 und 1910 verschickten Amerikaner*innen täglich zwischen einer und drei Millionen Karten,57 doch erst in den letzten dreißig Jahren setzten sich Historiker*innen, angestoßen durch den pictoral und cultural turn, ernsthaft mit diesen Bildmedien auseinander.58 (Bild-)Postkarten stehen damit, laut dem Historiker Felix Axster, ­synonym für die Durchsetzung der westlichen Massen- und Populärkultur, wobei sie durch die Vielfalt ihrer Themen und Ausführungen Unterschiede zwischen Hoch- und Populärkultur, sozialen Klassen und nationalen Grenzen verschwimmen lassen.59 Sie eignen sich damit hervorragend für die Untersuchung, wie High Society in der Massengesellschaft rezipiert wurde, verbanden sich darin doch mit dem Betrachten und dem Sammeln zwei populäre kulturelle Praktiken.60 Waren die Postkarten jedoch nur Folgeerscheinung ihrer Medialisierung in den Medien, oder trugen sie auf spezifische Weise dazu bei, die Mitglieder der High Society nahbar zu machen? Ich gehe dabei von der These aus, dass sie nur teilweise das melodramatische Narrativ der Skandalberichterstattung rezipierten und stattdessen das Privatleben der Personen – und damit ihre Zugehörigkeit zur High Society – ins Zentrum rückten. Der Großteil der von internationalen Verlegern massenhaft produzierten Postkarten über den Nesbit-Thaw-White-Skandal erschien während des ersten Strafverfah-

56 Vgl. Karin Walter: Die Ansichtskarte als visuelles Massenmedium, in: Kaspar Maase/Wolfgang Kaschuba (Hg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900 (= Alltag & Kultur, 8), Köln/ Wien 2001, S. 46-61, hier S. 52-3, 57. 57 Vgl. Howard Woody: International Postcards. Their History, Production, and Distribution (Circa 1895 to 1915), in: Geary/Webb: Delivering, S. 13-45, hier S. 16, 42. 58 Vgl. Sandra Ferguson: »A Murmur of Small Voices«. On the Picture Postcard in Academic Research, in: Archivaria 60 (2005), S. 167-84, hier S. 173-82; vgl. verschiedene thematische Schwerpunkte in David Prochaska/Jordana Mendelson (Hg.): Postcards. Ephemeral Histories of Modernity (= Refiguring modernism, 15), University Park 2010. 59 Vgl. Axster: Spektakel, S. 71-3. 60 In Anlehnung an Veronica Kelly: Beauty and the Market: Actress Postcards and their Senders in Early Twentieth-Century Australia, in: New Theatre Quarterly 20:2 (2004), S. 99-116, hier S. 99, die diesen Prozess auch als »familiariz[ation]« beschreibt, ebd., S. 105. high society als konsumprodukt

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Abb. 40: Die drei Fotopostkarten zeigen die aufwendige Fotomontage in der Mitte: Nesbits Hut wurde entfernt, um den Eindruck der Gleichzeitigkeit eines Paarporträts zu erzeugen. Das sehr gute Montageergebnis ist dennoch an den unterschiedlichen Belichtungswinkeln auf den ­Gesichtern erkennbar. Das rechts abgebildete Studioporträt von Thaw ist das einzige, das Post­ kartenhersteller im Betrachtungszeitraum von ihm verwendeten.

rens.61 Er lässt sich in drei, unterschiedlich gewichtete Gruppen gliedern, welche die Schwerpunktsetzung der Berichterstattung spiegeln: Erstens gab es kaum Karten mit den drei Hauptpersonen, was in Anbetracht von Whites Fremdbild aus ökonomischer Sicht eingängig ist.62 Ebenso gab es, zweitens, kaum Postkarten allein mit Harry Thaw. Diese Leerstelle widerspricht seiner Sichtbarkeit im Skandal, korreliert aber mit High Society-Logiken: Die geringere Sichtbarkeit von Männern in der High Society-Berichterstattung setzte sich auch in der Massenkultur fort. Postkartenverlage leiteten daraus ein fehlendes Konsumenteninteresse ab und produzierten daher kaum Karten mit Thaw. Dagegen gibt es einige Postkarten, die ihn und Evelyn Nesbit zeigen, da Hersteller das human interest-Potenzial ihrer Paarbeziehung als Verkaufsfaktor erkannten. Da jedoch keine Fotografie des Ehepaars existierte, behalfen sie sich mit Fotomontagen (Abb. 40). Die dritte und mit Abstand größte Gruppe waren Bildpostkarten von Evelyn Nesbit. Bei diesen stellt sich die Frage, welches Bild sie von ihr im Skandal und als High Society-Mitglied transportierten und welche Sinnzuschreibungen sie erfuhren.63 Dies lässt sich auf Ebene der Bildlichkeit und der Aneignungspraxis analysieren. Die Bildgestaltung zeigt sich exemplarisch an den Karten der Rotary Photography Co. Ltd. Der Hersteller aus Großbritannien war spezialisiert auf Bildpostkarten von Schauspielerinnen und belieferte neben dem britischen vor allem den amerikani61 Zum ersten Mordprozess griff eine Änderung des amerikanischen Postgesetzes, weshalb sich durch das geänderte Aussehen der Textfelder auch ungelaufene Postkarten datieren lassen, vgl. Woody: Postcards, S. 21. Zur Massenproduktion siehe Anm. 91 auf S. 318. 62 Eine Ausnahme ist die Postkarte »Mrs. Harry Thaw« [nach 28.1.1907], nicht gelaufen, PStb. 63 Vgl. Frank Bösch/Norbert Frei: Die Ambivalenz der Medialisierung. Eine Einführung, in: dies. (Hg.): Medialisierung und Demokratie im 20.  Jahrhundert (=  Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, 5), Göttingen 2006, S. 7-23, hier S. 19.

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Abb. 41: Spektrum der Fotopostkarten von Evelyn Nesbit, von respektabel über erotisierend bis intim.

schen Markt.64 Im Frühjahr 1907 verlegte er die Serie 4411 von Evelyn Nesbit mit Fotografien aus ihrer Modell- und Schauspielzeit der Jahre 1901 bis 1903, welche die ambivalenten Deutungen der Gerichtsberichterstattung über Nesbit von respektabler Frau bis erotisch-intimer Femme fatale panoramaartig auffächerte (Abb. 41). Doch bestätigten die Postkarten zugleich das medial vermittelte Bild von High Society-Frauen mit den privat anmutenden Aufnahmen und ihrer körperlichen Anziehungskraft. Sie folgten dabei einem zeitgenössischen Muster, wonach mit der massenhaften Verbreitung von Kabinett- und Postkarten von Darsteller*innen zur Jahrhundertwende Konsument*innen immer interessierter an attraktiven Gesichtern und Körpern waren. Konnte mangelnde Attraktivität auf der Bühne noch durch schauspielerische Leistung oder Make-up kompensiert werden, bestanden diese Auswege bei Fotografien nicht mehr. Entsprechend stieg die Zahl der Schauspieler*innen mit makelloser Physiognomie.65 Dies nahm nicht nur spätere Logiken der Filmindustrie vorweg, sondern passte zu den Inklusionsfaktoren, auf deren Basis die Medien High Society vermittelten und potenzielle Mitglieder bewerteten. Nesbits Bildpostkarten bestätigten und verstärkten diese High Society-Faktoren, indem ihre Halbporträts sich allein auf ihre Person, ohne die üblichen attributiven Hintergründe, fokussierten.66 Das untermauerten Betitelungen wie »Miss

64 Vgl. Anthony Byatt: Picture Postcards and Their Publishers, Malvern 1978, S. 234-5. So stammt ein Großteil der Postkarten aus der Uruburu Collection von Rotary Photography Co. Ltd. 65 Vgl. Mary C. Henderson: Broadway Ballyhoo. The American Theater Seen in Posters, Photographs, Magazines, Caricatures, and Programs, New York 1989, S. 53, 55. 66 Vgl. Kelly: Beauty, S. 104-5. high society als konsumprodukt

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Abb. 42: In der Kombination der Postkarten ist v.l.n.r. die zunehmende Entkleidung von Nesbit möglich, bei ihrer gleichzeitigen Erotisierung und Darstellung von Nacktheit.

Evelyn Florence Nesbit/(Mrs. Thaw)«67 (Abb. 42, zweite v. re.), die auf die Zeit ihrer sexuellen Grenzüberschreitung vor ihrer Ehe mit Thaw referierten und sie zugleich von Upper Class-Frauen abgrenzte, die unter dem Namen ihrer Männer öffentlich in Erscheinung traten. Die Referenzen auf ihre Sexualität rückten Nesbits Schönheit und ihren Körper stärker ins Zentrum und passten zugleich zu den Narrativen und dem male gaze im Skandalprozess.68 Hinzu kam die implizite und suggestive Erotik der Bildpostkarten in Kombination mit den entmachtenden Blickbeziehungen und Nesbits mädchenhaftem Erscheinungsbild.69 In der Summe entstand so eine Spannung und Intimität in den Postkarten, die sich soweit steigern konnten, dass deren Kombination es den Konsument*innen regelrecht erlaubte, Evelyn Nesbit zu entkleiden (Abb. 42). Folglich negieren Nesbits Bildpostkarten die These der Kulturhistorikerin Veronica Kelly, wonach sich in Schauspielerinnenpostkarten jugendliche Reinheit mit sexueller Objekthaftigkeit überlagert hätten, die weniger auf den male gaze als auf die Darstellung weiblicher Selbstrepräsentation ausgerichtet gewesen wären. Das begründet sie explizit mit der Loslösung der Schauspielerinnen aus dem Theaterkontext und ihrer idealisierten Darstellung mittels sozialer Marker wie Schönheit und Eleganz, Luxus und Charme.70 Obwohl Nesbits Bildpostkarten genau diese sozialen Distinktionsmechanismen erfüllten, war in ihnen selbst und insbesondere durch den Kontext ihres Opfernarrativs im Prozess eine stark entmachtende Sexualisierung angelegt.

67 Postkarte »Miss Evelyn Florence Nesbit/(Mrs. Thaw)« [nach 28.1.1907], nicht gelaufen, UC, File 7. 68 Siehe Kap. II.2.2. 69 Wegen des rigiden Erotikverbots für kommerzielle Postkarten nutzen Hersteller indirekte Hinweise als verkaufsfördernde Maßnahme, vgl. Axster: Spektakel, S. 390. 70 Vgl. Kelly: Beauty, S. 100, 103, 111, 113.

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Abb. 43: Sexuelle Anspielungen auf Postkarten.

Diese in jeder Beziehung stattfindende Entmachtung war in den Massenprodukten nicht nur angelegt, sondern wurde auch wahrgenommen und gezielt thematisiert, etwa wenn erotische Motive mit dem Kartentitel in Deckung gebracht wurden: Die britische Firma Bamforth & Co., eigentlich spezialisiert auf Liedpostkarten,71 verAbb. 43 trieb im angloamerikanischen Raum auch kolorierte, hochpreisige und explizit erotische Bildpostkarten von Nesbit. Titel wie »Would you really like to?« ließen Betrachter*innen noch Interpretationsspielraum, zu überlegen, welche Frage Evelyn Nesbit dazu veranlasst hatte, sich in ihrem Pelz zu verstecken und dabei verschmilzt in die Kamera zu lächeln. Dagegen spielte die Postkarte, auf der Nesbit mit gelöstem Haar und sinnlich geöffnetem Mund eine Katze auf dem Arm hält, explizit mit sexuellen Tabus, indem die Bildunterschrift doppeldeutig feststellt: »This is my pussy« (Abb. 43). Die Postkarten griffen Nesbits Entgrenzung ihrer sexuellen Intimität im Prozess auf und postulierten – gerade bei deren Aneignung – ihre sexuelle Verfügbarkeit und lockere Sexualmoral.72 Damit tendierten beide in

71 Vgl. Byatt: Picture Postcards, S. 37-8. 72 Damit standen sie in der Tradition von Postkarten zur Mitte des 19. Jahrhunderts, die moralisch fragwürdige Frauen wie Schauspielerinnen oder Kurtisanen gezeigt hatten, vgl. Rachel Teuhigh society als konsumprodukt

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Richtung des großen, jedoch heimlichen Marktes für Nackt- und Pornographiepostkarten, der entsprechende Gelüste bediente.73 Die zweite Analyseebene von Nesbit als visuellem Produkt betrifft die Aneignungspraxis in Form des Sammelns und Kommunizierens. In kaum einem anderen Medium können sich bei der Kommunikation Bild- und Textebene so stark überlagern oder auseinanderklaffen.74 Während der Hauptteil der Mitteilungen auf den untersuchten Postkarten keinen Bezug zur Bildebene hatte,75 bezogen sich andere auf die High Society oder den Strafprozess und liefern so einen Blick auf die Rezeption. So wiederholten Sender*innen Interpretationen der Sensationsprozesse, wie etwa auf der Karte an R. Sealy Fisher am 29. April 1907: »Here is another P[ost].C[ard]. of the Angel Child«,76 was zeigt, dass die melodramatische Deutung der yellow press auch nach Prozessende virulent blieb. Verhältnismäßig explizit waren auch Bezüge auf Nesbits Erotik; Nachrichten, die trotz der potenziellen Einsehbarkeit der Karte verschickt wurden.77 So schrieb eine Lydia ihrem Freund John Goodman aus London auf die Bildseite mit einer lasziven Zeichnung von Nesbit: »How would you like to spoon with me?«78 Mit dieser Zeile verband sie ihre im Textfeld ausgedrückte Sehnsucht nach John mit der visuellen Erotik von Evelyn Nesbit und projizierte beide Ebenen auf sich. Durch den Konnex zwischen Prozessberichterstattung und Bildhaftigkeit der Postkarten bestätigten Letztere anschaulich die Erotik von Nesbit, die sich aus der Öffnung ihres Privatlebens im Prozess ergab.79 Diesen Deutungsprozess stabi­lisierte die Serialität des Massenmediums,80 da die Vielzahl der vorliegenden Bildpostkarten Nesbits erotisch-entgrenzendes Fremdbild zu verifizieren schien. Folglich hatten die Bildpostkartenmotive zwei Effekte: Einerseits steigerten sie Nesbits Sichtbarkeit durch ihre Massenproduktion und -verfügbarkeit; andererseits entmachteten sie sie kolsky: Cartomania: Sensation, Celebrity, and the Democratized Portrait, in: Victorian Studies 57:3 (2015), S. 462-75, hier S. 467-70. 73 Vgl. Lynda Klich: Little Women. The Female Nude in the Golden Age of Picture Postcards, in: Visual Resources 17:4 (2001), S. 435-48, hier S. 435-7. 74 Vgl. Werner Faulstich: Medienwandel im Industrie- und Massenzeitalter (1830-1900) (= Die Geschichte der Medien, 5), Göttingen 2004, S. 181-2. 75 Vgl. zur Tagesplanung die Postkarten »Mrs. Thaw«, beide gelaufen am 18.3.1907, in: Collection of Ephemera Relating to Evelyn Nesbit, HU, HL, HTC, *2003MT-96; Einladungen oder Geburtstagswünsche etwa auf der Postkarte »Evelyn Nesbit Thaw ›Pensiveness‹«, gelaufen am 10.2.1908 oder »Mrs. Thaw«, gelaufen am 11.6.1907; beide in UC, File 7. 76 Postkarte »Mrs. Thaw«, gelaufen am 29.4.1907, UC, File 7. 77 Zur Kulturkritik an der Einsehbarkeit des Mediums vgl. Axster: Spektakel, S. 61-7. 78 Postkarte »Mrs. Harry Thaw«, gelaufen am 29.4.1907, PStb. 79 Vgl. Axster: Spektakel, S. 68-9. 80 Vgl. Werner Faulstich: Serialität aus kulturwissenschaftlicher Sicht, in: Günter Giesenfeld (Hg.): Endlose Geschichten. Serialität in den Medien (= Germanistische Texte und Studien, 43), Hildesheim et al. 1994, S. 46-54, hier S. 51-2.

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durch die implizite wie explizite Erotik, die ihrer Selbstdarstellung im Prozess jedoch diametral gegenüberstand. Da das Gros der Ansichts- und Bildpostkarten nicht verschickt wurde, sondern unbeschrieben in den Händen von Sammler*innen verblieb,81 gilt es diese zweite Aneignungspraxis zu untersuchen. Das Sammeln konnte sich zum Fetisch entwickeln, was Postkarten einen regelrechten Reliquiencharakter verlieh. Denn einerseits erzeugten Serien das Bedürfnis, sie in ihrer Gesamtheit zu sammeln, andererseits führte die damit verbundene Inbesitznahme dazu, dass sich die Massenprodukte in private, bedeutungsvolle Objekte wandelten.82 Beides ist in Bezug auf Nesbit relevant, da erstens die Variationen – parallel zu den scrapbooks – die Intimität mit der Abgebildeten erhöhten und zweitens die individuelle Aneignung eine parasoziale Beziehung schuf. Das zeigt sich besonders bei Postkarten, die selbst Intimität suggerierten: Laut einer Zeitungsannonce seien alle 62 Aufnahmen der beworbenen Serie ursprünglich exklusiv für Stanford White angefertigt worden.83 Dies referierte auf Nesbits Prozessaussage, wonach sie am Tag vor ihrem Missbrauch durch Stanford White auf seinen Wunsch hin Fotografien von Rudolf Eickemeyer Jr. habe anfertigen lassen; ein intensiv diskutierter Aspekt ihrer Aussage.84 Die Bildsprache der Aufnahmen suggerierte sexuelle Verfügbarkeit und stand damit für ihre Entmächtigung und unfreiwillige sexuelle Aufladung durch die beiden Männer.85 Damit konnten Sammler*innen sowohl Nesbits Verletzlichkeit, Intimität als auch sexuelle Entmachtung konsumieren.

Evelyn Nesbit als Teil des Massenmarktes für Postkarten Bereits in den 1880er Jahren hatte die Vermarktung von Aufnahmen aus Fotostudios zu einer regelrechten »mania for collecti[ng] celebrity photographs«86 geführt. Neben Einzelerscheinungen, wie dass der New Yorker Fotograf Napoleon Sarony seine 81 Vgl. Walter: Ansichtskarte, S. 48-9. 82 Vgl. Krzysztof Pomian: Sammlungen – eine historische Typologie, in: Andreas Grote (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube; zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800 (= Berliner Schriften zur Museumskunde, 10), Opladen 1994, S. 107-28, hier S. 107; Axster: Spektakel, S. 195-6. 83 Vgl. Postkartenwerbung [1906-8], zit. nach George Miller: Tired Butterfly. Evelyn Nesbit, in: Postcard Collector 7:4 (1989), S. 49-53, hier S. 53, Fig. 1. 84 Vgl. Wife Is Martyr for Thaw’s Sake, Chicago Daily Tribune, 8.2.1907, S. 1-3, hier S. 2. Besonders drastisch betonte William Hoster die Verbindung der Fotografien mit Whites erstem Vergewaltigungsversuch, vgl. ders.: Mrs. Thaw Shows White a Villain, New York American, 8.2.1907, S. 1-2, 4, hier S. 2. 85 Vgl. Baatz: Girl, S. 346. 86 Henderson: Broadway, S. 56. high society als konsumprodukt

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Exklusivaufnahmen von Sarah Bernhardt während ihrer USA-Tournee (1882/3) rund 100.000-mal verkaufte, gab es auch Darstellerinnen wie Lillian Russell (1860/11922), deren Fotopostkarten zur Jahrhundertwende jahrelang ein Verkaufsschlager blieben.87 Evelyn Nesbit war mit ihren Bildpostkarten Teil dieses Prozesses, der bei den Verlegern begann: Vor dem Mordskandal hatten noch überwiegend kleine Produzenten ihre Postkarten gedruckt und vertrieben, danach übernahmen internationale Produzenten aus den USA, Kanada und Großbritannien die Produktion. Diese betteten Nesbit in Serien ein, eine Verlagsform, die sich unter Sammler*innen großer Beliebtheit erfreute. Größere Auflagen und vielfältigere Distributionswege ermöglichten niedrigere Preise und höhere Absatzzahlen, was die Verbreitung der Karten begünstigte.88 Ebenso war es Praxis der Verleger, Fotografien untereinander zu tauschen respektive zu kopieren, wodurch sie einen transnationalen Kommunikations- und Bildmedienraum schufen.89 Ein Teil davon war Evelyn Nesbit, deren Postkarten in englischsprachigen Ländern zirkulierten. So übersandte eine Mrs. Hoagland drei Stück einer Bekannten und berichtete von dem Postkartenfieber, das in Folge des Mordes ausgebrochen sei: »I guess you have read of Evelyn Nesbit and Harry Thaw almost every body has[.] [T]hese are a few of her cards[.] I believe in all they are about 30 different styles[.]«90 Um diese Nachfrage zu bedienen und anzuregen, legte etwa die Rotary Photography Co. Ltd. über mehrere Jahre hinweg die Serie 4411 mit Nesbits Abbildungen in mindestens vier Variationen neu auf.91 Der Manager des englischen Postkartenfabrikanten Philco Publishing Co. Ltd. berichtete Ende März 1907, dass er bereits eine halbe Million Postkarten von Evelyn Nesbit verkauft habe und bei früherem Produktionsbeginn eine Viertelmillion mehr hätte absetzen können.92 Die Verbreitung steigerte sich nochmals, als billige Abzüge, sogenannte blue prints, in den Automatenarkaden der Vergnügungsviertel, den penny arcades, angeboten wurden,93 was erneut ihre ökonomische Verwertbarkeit steigerte.94 87 Vgl. ebd., S. 53, 55-5; Marcus: Drama, S. 129-31. 88 Zu Kleinverlegern vgl. Woody: Postcards, S. 23-4; zu Großproduzenten und Serien vgl. Roy Nuhn: ›Little Butterfly‹, in: Barr’s News 21:656 (1995), S. 1, 63, hier S. 63; Ferguson: Murmur, S. 170-1. 89 Vgl. Gerhard Paul: Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel (= Visual History: Bilder und Bildpraxen in der Geschichte, 1), Göttingen 2016, S. 48. 90 Postkarte »Ready for Mischief«, nicht gelaufen, UC, File 7. 91 Allein in ebd. finden sich vier Variationen der Karte 4411-F, die zwischen 1907 und 1909 liefen. 92 Vgl. Mrs. Thaw’s Pictures Sell Well, New York World, 26.3.1907. Die Philco Publishing Co. Ltd. verlegte mindestens vier Serien von Nesbit und Thaw, #3319: »Mrs. Harry Thaw«, gelaufen am 13.3.1907; #3323: »Mrs. Harry K. Thaw«, nicht gelaufen; #3328: »Mrs. Harry K. Thaw At the Age of 16«, gelaufen am 14.5.1907, #3333: »Mr. & Mrs. Thaw«, gelaufen am 27.4.1907, alle in UC, File 7. 93 Vgl. etwa »Evelyn Nesbit Thaw/›The Automobile Girl‹«, nicht gelaufen, UC, File 7. Vermutlich verkauften die Automaten Nesbits Postkarten bis in die späten 1910er Jahre, wobei sie jährlich sechsstellige Verkaufszahlen erzielen konnten, vgl. Nuhn: Evelyn Nesbit, S. 63. 94 Vgl. Jäger: Globalisierte Bilder, Abs. 10.

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Doch relativierte die massenhafte Verfügbarkeit von Postkarten nicht die Einmaligkeit der Dargestellten, sondern verdichtete sie.95 Wie die Historikerin Margaret D. Stetz anmerkt, führte die Vielfalt der massenmedial verfügbaren Fotografien zu einem regelrechten »cult of individuality«.96 Anstelle beliebig zu werden – wie es in den Zeichnungen und Stichen der Printmedien häufig der Fall war –,97 wurde die Fähigkeit aufgewertet, fotografierte Gesichter zu erkennen.98 Das dürfte den Interpretationsspielraum beim Betrachten respektive Sammeln der Postkarten gesteigert haben, was wiederum zur stärkeren Auseinandersetzung und Intimität mit Evelyn Nesbit führte.99 Wie Tageszeitungen waren auch Postkarten ephemere Produkte.100 Musste die Sichtbarkeit in der Gesellschaftsberichterstattung ständig erneuert werden, so galt dies auch für Nesbits Verfügbarkeit als Konsumgut. Doch ist die Annahme falsch, ihre populärkulturelle Rezeption folge allein aus der Verwertungslogik des Skandals. Denn auch nach dessen Ende wurden ihre Postkarten produziert, konsumiert und gesammelt, was ihr und ihrem High Society-Status wiederholt populärkulturelle und ökonomische Aufmerksamkeit bescherte. Zentral ist hierbei, dass diese Verbindung von Medialität mit (Massen-)Konsumkultur Mechanismen der Filmindustrie vorwegnahm, die dort erst ab den 1920er Jahren für Darsteller*innen üblich wurden.101 Damit erschlossen Harry Thaw und insbesondere Evelyn Nesbit ein neues Feld für die High Society, das nach dem Mordskandal eine immer paradigmatischere Rolle für die Mitglieder der Formation einnehmen sollte.

95 Vgl. Marcus: Drama, S. 132. 96 Margaret Diane Stetz: Facing the Late Victorians. Portraits of Writers and Artists from the Mark Samuels Lasner Collection, Newark 2007, S. 5. 97 Vgl. Orvell: American Photography, S. 70. 98 Vgl. Stetz: Facing, S. 5. 99 Vgl. Macho: Gesichter, S. 181-2. Als besonderes Beispiel können Reliefkarten von Nesbit gelten, die neben dem visuellen zusätzlich einen haptischen Eindruck vermittelten, vgl. Reliefkarte »Mrs. Harry Thaw« [nach 1.3.1907], nicht gelaufen, UC, File 7. 100 Vgl. Axster: Spektakel, S. 34. 101 Vgl. P. David Marshall: Celebrity and Power. Fame in Contemporary Culture, Minneapolis 1997, S. 9. high society als konsumprodukt

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4.2. »The Unwritten Law« (1907): Skandalisierte Privatheit im Film Noch während das Gericht im ersten Mordprozess gegen Harry Thaw tagte, erschien im Unterhaltungsmagazin New York Clipper die Ankündigung eines neuen Films: »The Unwritten Law«.102 Einen Monat später bewarb bereits eine halbseitige, bebilderte Annonce den zwölfminütigen Stummfilm als sicheren Kassenschlager (Abb.  44), da er auf dem Thaw-White-Skandal basiere. Damit wurde erstmals das

Abb. 44: Filmannonce für »The Unwritten Law« mit Standbildern wichtiger Szenen, rund ein Monat nach der Erstaufführung.

Leben realer High Society-Mitglieder in die Scheinrealität eines Spielfilms überführt.103 Dies war die logische Folge daraus, dass die visuelle Massenkultur zur Jahrhundertwende zum wichtigen Schauplatz im Bestreben um Aufmerksamkeit gewor102 The Unwritten Law, in: New York Clipper (2.3.1907), S. 68. 103 Damit ging der Stummfilm über das in Kap. II.1.4 thematisierte actuality »The Thaw-White Tragedy« (1906) hinaus. Die Evening World erwähnt eine weitere, verschollene Verfilmung: »The History of the Thaw Case, Past, Present and Future«, die im Miner’s Bowery Theater in New York angelaufen sei, vgl. Moving-Picture Machine Lets Thaw Go Free, Evening World, 22.3.1907, S. 3.

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den war. Mit Film und Fotografie seien nach dem Kunsttheoretiker Jonathan Crary neue »Methoden des Aufmerksam­keitsmanagements«104 entstanden, die es ermöglichten, Personen mit der spektakulären Kultur dieser neuen Massenmedien in Deckung zu bringen.105 Die Presse und Postkartenhersteller nutzten Fotografien der Thaws bereits, um finanzielles Kapital daraus zu schlagen. Daher war der nächste logische Schritt, dass auch Akteur*innen aus der Filmindustrie deren mediale Aufmerksamkeit nutzten, um von ihnen zu profitieren. Damit ist der Film als Zwischenstufe auf dem Weg zu tatsächlichen Filmauftritten von High Society-Mitgliedern von zentraler Bedeutung. Deshalb gilt es zu fragen, wie er auf die Wahrnehmung der Formation wirkte, welche intermedialen Bezüge er herstellte und was seine Rezeptionsgeschichte war. Nach Knut Hickethier prägen Bewegtbilder maßgeblich die Vorstellung von zeitgeschichtlichen Ereignissen. Dabei dürfen Verfilmungen nicht auf ihre scheinbare Rekonstrution des Realen reduziert, sondern müssen als deren komplexe und vielschichtige Interpretationen begriffen werden.106 Dabei verhalte sich der »Quellenwert eines Films […] umgekehrt proportional zu seinem Trivialitätsgrad«,107 was »The Unwritten Law« zur aussagekräftigen Quelle über die Visibilität der Skandalakteur*innen macht.

»The Unwritten Law«: Die verfilmte Zeugenaussage Im Wesentlichen entsprach die Handlung dem Theaterstück »The Millionaire’s Revenge«, das ein halbes Jahr zuvor in Brooklyn angelaufen war. Auch diesmal als Melodram angelegt, übernahm der Film Thaws Interpretation und adaptierte die aus der Gerichtsberichterstattung bekannten Fakten, wobei laut dem Theatermagazin Variety der Fokus eindeutig war: »The record of the trial has been combed over with an eye to its sensational points and these have been strung along into a fairly complete exposition of Mrs. Harry Thaw’s testimony.«108 Durch diesen medialen Transfer verknüpfte der Film seinen Realitätsanspruch mit dem Anspruch der High Society-Berichterstattung, wonach galt: »Das Private ist das Authentische«.109 Das intuitiv verständliche Medium Film erzeugt dabei auf unterschiedlichen Ebenen ein Bild von Wirklichkeit.110

104 105 106 107 108 109

Crary: Aufmerksamkeit, S. 66. Vgl. ebd., S. 64-6. Vgl. Hickethier: Zeitgeschichte, S. 363, 365. Szöllösi-Janze: Film, S. 18. New Acts of the Week, in: Variety 7:3 (30.3.1907), S. 9. Joan Kristin Bleicher: »Das Private ist das Authentische. Referenzbezüge aktueller RealityFormate«, in: Segeberg: Referenzen, S. 111-9, hier S. 111. Diesen Anspruch entwickelten privatwirtschaftliche Fernsehprogramme Ende des 20. Jahrhunderts zu ihrem Markenzeichen. 110 Vgl. Szöllösi-Janze: Film, S. 14.

»the unwritten law« (1907)

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Filmhistoriker*innen analysierten wiederholt den Spielfilm »The Unwritten Law«, war er doch laut Charles Musser »the most controversial American film released prior to the establishment of the Board of Censorship in 1909«.111 Bei der Kontroverse ging es im Kern um die normative Frage, was als zeigbar galt.112 Wie ein substanzieller Teil der zeitgenössischen Filme referierte auch »The Unwritten Law« auf tagesaktuelle, sensationelle städtische Themen und deckte mit Bezügen zu Sexualität, urbanem Nachtleben und Kriminalität die meisten gängigen Genres ab.113 Nicht allein, dass der Film all diese Themenbereiche verwob, ließ ihn zu einem der ersten nationalen Filmskandale der USA avancieren,114 sondern vor allem dass er die Medienberichterstattung über diese moralischen Themenfelder en detail parallelisierte und illustrierte, erzeugte die Kontroverse. »The Unwritten Law« hatte damit die in den Printmedien mittelbar erlebbare städtische Wirklichkeit in die scheinbar realistische Ereignishaftigkeit des Kinos transzendiert.115 Parallel zur Kritik an der Gerichtsberichterstattung stand daher im Zentrum der Debatte die Frage nach der Aushandlung von (sexueller) Privatheit und Öffentlichkeit, die in dieser Deutlichkeit erstmals ein Film stellte.116 Da diese Dichotomie ein Kernaspekt der High Society war, gilt es im Folgenden zu analysieren, wie der Film als Teil eines Medienensembles die Akteur*innen als High Society konstruierte und diese dadurch erstmals zum intermedialen Phänomen wurden.

High Society im Bewegtbild Direkt nach Nesbits Gerichtsaussage begann das in Philadelphia, ansässige Produktionsstudio Lubin Manufacturing Company mit den Arbeiten am Drehbuch.117 Die Thematik passte zum Regisseur und Produzenten Sigmund Lubin (1851-1923), der häufiger als die Konkurrenz Sexualität, Gewalt und Sensationen thematisierte und mit seinen Filmen moralische Normen und gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen kritisierte, indem er sie brach.118 Das medialisierte Leben der Akteur*innen wurde somit zum intermedialen Gut, an dem sich Werte- und Normdebatten im Bewegtbild verhandeln ließen. Dabei versuchte Lubin den mimetischen Effekt sei111 Musser: Emergence, S. 479. 112 Vgl. Grieveson: Thaw-White Scandal, S. 27-8; Jennifer Fronc: Monitoring the Movies. The Fight Over Film Censorship in Early Twentieth-Century Urban America, Austin 2017, S. 9-10. 113 Vgl. Nasaw: Going Out, S. 166; Daniel Czitrom: The Politics of Performance. Theater Licensing and the Origins of Movie Censorship in New York, in: Francis G. Couvares (Hg.): Movie Censorship and American Culture, Washington, D. C. 1996, S. 16-42, hier S. 29-31. 114 Vgl. Grieveson: Thaw-White Scandal. 115 Vgl. Czitrom: Politics, S. 31. 116 Vgl. Grieveson: Policing Cinema, S. 38. 117 Bereits am 2. März 1907, vier Tage nach Nesbits Aussage, wurde der Film angekündigt, vgl. The Unwritten Law, in: New York Clipper (2.3.1907), S. 68. 118 Vgl. Musser: Emergence, S. 329-33, 393-8, insb. S. 396.

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nes Films zu garantieren, indem er möglichst ähnlich aussehende Schauspieler*innen engagierte,119 wodurch er die Intermedialität des Falls, also den Transfer medialer Bilder zwischen verschiedenen Medienformaten,120 steigerte. Doch nicht nur die Produktion, sondern auch die Handlung übernahm den Fokus der Sensationsberichterstattung und machte Nesbits Aussage zum roten Faden des Films.121 Die Handlung ist schnell erzählt: Zu Beginn führen zwei Szenen Evelyn Nesbit als Modell und Theaterdarstellerin ein, während derer sie White kennenlernt. Als dieser sie zum Essen ausführt und drängt, Alkohol zu trinken, greift der am Nebentisch sitzende Harry Thaw ein, und es kommt zu Handgreiflichkeiten. Die nächsten Szenen zeigen eine Abendveranstaltung in Whites Apartment, in deren Verlauf er Nesbit betäubt und sich an ihr vergeht. Unvermittelt darauf heiraten Nesbit und Thaw, führen ein harmonisches Eheleben und schließen ihren gemeinsamen Besuch des Madison Square Garden an, wo Thaw White tötet. Im Gefängnis sitzend, rechtfertigt er seine Handlung als Ehrenmord, was ihm in der darauffolgenden Gerichtsverhandlung die Juroren bestätigen. Ohne einen Hinweis auf die Debatten über seine mögliche Geisteskrankheit kommt Thaw in der Schlussszene aufgrund des unwritten law frei.122 Es stellt sich die Frage, wie der Film narrativ diese bekannte Skandalgeschichte erzählt und dabei zeitgenössisches kulturelles Wissen abrief. Dies zeigen besonders zwei Schlüsselszenen: die Schaukel- und Missbrauchsszene sowie die Gerichtsverhandlung. In den ersten beiden Szenen übte sich der Filmemacher in der möglichst detailgetreuen Wiedergabe von Nesbits Prozessaussage. Demnach setzte White sie in seinem Apartment im Madison Square Garden auf eine rote Samtschaukel und ließ sie beim Schaukeln mit ihrem Fuß einen an der Decke befestigten japanischen Papierschirm durchstoßen (Szene 2). Indem der Film diese Abläufe und Details nachstellte, erhöhte er den Realitätsanspruch und legitimierte seine Behauptung, auf wahren Fakten zu basieren.123 Zudem zeigt das Schaukeln in privaten Räumen stattfindenden Körperkontakt und damit sexuell konnotierte Verhaltensweisen. Als Nesbit den Papierschirm durchstößt, Szene 2 verweißt sie bereits symbolisch auf ihre Entjungferung in der Folgeszene: Laut ihrer gerichtlichen Aussage führte White sie in ein verborgenes, verspiegeltes Zimmer. Dort verlor Nesbit nach einem Glas Champagner das Bewusstsein und er verging sich an ihr (Szene 3). Die Filmkulisse schmückte den Raum entsprechend suggestiv aus, wobei das Aktgemälde, die Spiegel sowie die Existenz des geheimen Zimmers selbst auf zeitgenös119 120 121 122

Vgl. Trade Notes, in: Moving Picture World 1:2 (16.3.1907), S. 23-4, hier S. 24. Vgl. Belting: Bild-Anthropologie, S. 214. Vgl. Grieveson: Thaw-White Scandal, S. 36. »The Unwritten Law. A Thrilling Drama Based upon the Thaw-White Case«, USA 1907, R: Sigmund Lubin, 12:32 Min., UC. 123 Vgl. Wagenknecht: Filminterne, S. 199-205.

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sische Fantasien sexueller Entgrenzung und Prostitution referierten,124 und damit die Perversion von White ins Visier nahmen. Im Film verabreicht dieser Nesbit K.-o.-Tropfen und verbirgt ihren bewusstlosen Körper hinter einem Paravent, hinter dem auch er verschwindet, als die Szene schließt. Dieser Kunstgriff schuf eine Szene 3 »sichtbare Lücke«.125 Sie erlaubte es einerseits, die skandalöse Missbrauchsgeschichte einzubauen, ohne die Grenzen der Respektabilität vollends zu überschreiten, und setzte andererseits das Kopfkino der Zuschauer*innen in Gang. Die Szene »The Boudoir of 100 Mirrors« zeigt in der Mikro-, was für den Film in der Makroperspektive galt: Er übernahm sowohl die Schwarz-Weiß-Zeichnung der Protagonist*innen als auch das Narrativ von Thaws Verteidigung, wonach Nesbit agendaloses Opfer und Thaw legitimer Verteidiger seiner Eh(r)e war. Beides konnten die Zuschauer*innen auf emotionaler Ebene nachempfinden, wenn sich ihr Blick im Zuschauerraum mit dem auktorialen Subjekt des Kamerablicks überlagerte.126 So der Fall in der Spiegelzimmer-Szene, als Evelyn Nesbit in den Hintergrund tritt, um den Raum zu inspizieren, was White die Möglichkeit bietet, ihr Getränk zu vergiften. Durch die Totale der Kameraeinstellung werden die Zuschauer*innen erst zu Mitwisser*innen der drohenden Vergiftung, dann zu Voyeur*innen des sexuellen Übergriffs.127 Die Vergewaltigungsszene erzeugte damit eine neue, filmimmanente Wissensebene im Film, welche die weitere Handlung strukturierte. Ferner arbeitete der Stummfilm mit narrativen Verschiebungen, womit nach dem Filmhistoriker Tom Gunning Regisseure erstmals um 1905 zu experimentieren begannen.128 In »The Unwritten Law« wurden dazu zeitlich und räumlich auseinanderliegende und teils unzusammenhängende Teilgeschichten in einen kausalen und zeitlich stringenten Ereigniszusammenhang gebracht.129 So folgen auf die Szenen in Whites Apartment die Heirat der Thaws und ihr gemeinsames Eheglück. Im nächsten Moment brechen beide ins Theater auf, wo Thaw den Mord begeht. Währenddessen werden die Zuschauer*innen, wie der Filmhistoriker Lee Grieveson bemerkt, zu Kompliz*innen von Harry Thaw. Laut gerichtlicher Aussage erfuhr Thaw erst zwei Jahre nach dem Missbrauch davon, und es dauerte weitere drei, bis er Stanford White erschoss. Indem der Film die Ereignisse rafft und die Vergewaltigung in einen 124 Vgl. Emily Apter: Cabinet Secrets: Fetishism, Prostitution, and the Fin de Siècle Interior, in: Assemblage 9 (1989), S. 6-19, hier S. 8-11; Robert Upstone: Der private Akt, in: Alison Smith (Hg.): Prüderie und Leidenschaft. Der Akt in viktorianischer Zeit, Ostfildern-Ruit 2001, S. 12831, hier S. 130. 125 Szöllösi-Janze: Film, S. 22. 126 Vgl. ebd., S. 25. 127 Vgl. Grieveson: Policing Cinema, S. 52-4. 128 Vgl. Tom Gunning: Non-Continuity, Continuity, Discontinuity: A Theory of Genres in Early Film, in: Thomas Elsaesser (Hg.): Early Cinema. Space, Frame, Narrative, Neuaufl., London 2008, S. 86-94. 129 Vgl. Grieveson: Policing Cinema, S. 52, 54.

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zeitlichen und kausalen Zusammenhang mit dem Mord bringt, scheint Thaws Verhalten hingegen kohärent und verständlich.130 »The Unwritten Law« inkludierte damit auf filmgeschichtlich innovative Weise Thaws medial und juristisch konstruiertes Selbstbild in das eigene Narrativ und setzte währenddessen bewusst auf das diskursive Vorwissen der Zuschauer*innen, um Szenen mit intermedialen Referenzen verständlich zu machen. Auf einer zweiten Bedeutungsebene nahm »The Unwritten Law« sein Publikum in die scheinbar realen Räume der High Society mit, die diesen bereits aus der Presse bekannt sein durften. Auf der einen Seite wurde bei den Kulissen dieser halböffentlichen Räume, wie dem Madison Square Roof Garden, besonders Acht auf bekannte Details gegeben.131 Darin stellten die Schauspieler*innen die aus den social news vertrauten Verhaltens- und Konsumpraktiken der High Society nach und überführten sie in die filmische Realität. Dazu zählen etwa die Restaurant- und Theaterbesuche, eine gemeinsame Autofahrt oder Nesbits verschiedene Garderoben.132 An Letzterer zeigt sich zudem das Spannungsverhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit. Nesbits offenes Haar – das Symbol sexuellen Verlangens – und schulterfreie Tunika in der einleitenden Modellszene erotisieren sie als Kindfrau und referieren auf ihre bekannten Fotografien.133 Dass sie in Whites Apartment ein kurzärmeliges Kleid und halboffenes Haar trägt, markiert den Zuschauer*innen ihre Jugendlichkeit und die unbeobachtete, private Szenerie.134 Dies ändert sich mit ihrem gesellschaftlichen Aufstieg durch ihre Heirat mit Thaw, woraufhin sie Hochsteckfrisuren, Hüte und Handschuhe trägt.135 Auf der anderen Seite imaginierten die reich ornamentierten Filmkulissen die privaten Räumlichkeiten der Thaws respektive Whites (Abb. 45).136 Bei der Ausstattung von Whites Apartment griff die Szenerie auf Gerichtsaussagen und Fotografien aus der Presse zurück.137 Dagegen orientierte sich die Kulisse für das Wohnzimmer der Thaws an dem Interieur, das aus bebilderten Reportagen der Upper Class- und High Society-Wohnräume bekannt war, die in den society pages der Wochenendaus-

130 131 132 133 134 135 136

Vgl. ders.: Thaw-White Scandal, S. 37-8. Vgl. »The Unwritten Law« (1907), 6:56-8:22. Vgl. ebd., Restaurant: 1:25-1:46, Theater: 6:55-8:20, Autofahrt: 6:04-6:54, Garderoben passim. Vgl. ebd., 00:28-00:58. Zum Haar siehe Anm. 247 auf S. 91. Vgl. ebd., 1:42-4:39. Vgl. ebd., 4:53-5:15 oder 5:51-6:03. Den Aspekt der Privatheit im Film schneidet Stephanie Savage: Evelyn Nesbit and the Film(ed) Histories of the Thaw-White Scandal, in: Film History 8 (1996), S. 159-75, hier S. 160, an, führt ihn aber nicht weiter aus. 137 Whites Apartments waren durch Fotoreportagen sichtbar gemacht worden, vgl. Murder Victim’s Room in Madison Square Tower, Evening World, 26.6.1906, S. 2.

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Abb. 45: Private Abendgesellschaft bei Stanford White (li.) und Salon der Thaws (re.).

gaben der Tageszeitungen erschienen.138 So repräsentierte die Szenerie die soziale Stellung und den Geschmack der Thaws. Indem die Innenraumszenen zudem normalerweise nicht sichtbare Momente zeigten, wie das Eheleben der Thaws, transformierte der Film nicht allein die Gesellschaftsberichterstattung in das Bewegtbild, sondern fungierte gleichsam als neue, visuelle Wissensvermittlung über die High Society. Dieser mimetische Anspruch, mit dem Film vermeintlich authentische Einblicke in deren Lifestyle zu erhalten, erzeugte Nähe und Intimität mit den High Society-Mitgliedern. Dass sich dieser Eindruck durch das Kinoerlebnis selbst intensivieren konnte, kann vermutet werden, da auch Vorführräume die spannungsgeladene Dualität von dunkler Privatheit und öffentlicher Gemeinsamkeit prägte.139 Letztlich gilt zu vermuten, dass, wie bei Stummfilmen üblich, zu den Szenen passende Musik gespielt wurde und zudem ein Sprecher die Handlung erläuterte.140 Für eine weitere Filmadaption des Skandals berichtete die Evening World sogar von akustischen Effekten während der Mordszene: »To add to the realism, real shots are fired behind the scenes.«141 Zusammengenommen veranstaltete »The Unwritten Law« mit den Worten der Filmtheoretikerin Elizabeth Cowie ein »Fest für die Augen«.142 138 Vgl. etwa W. C. Whitney’s Fine House in this City, New York Tribune. Illustrated Supplement, 7.2.1904, S. 8-9. Einige Familienmitglieder der Whitneys wurden in den 1920er Jahren Teil der High Society. 139 Vgl. Brigitte Flickinger: Zwischen Intimität und Öffentlichkeit. Kino im Großstadtraum, in: Clemens Zimmermann (Hg.): Zentralität und Raumgefüge der Großstädte im 20. Jahrhundert (= Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung, 4), Stuttgart 2006, S. 13552, hier S. 141-4. 140 Vgl. Thomas Elsaesser: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels, München 2002, S. 77; Miriam Hansen: Babel and Babylon. Spectatorship in American Silent Film, Cambridge 1991, S. 45. 141 Moving-Picture Machine Lets Thaw Go Free, Evening World, 22.3.1907, S. 3. 142 Elizabeth Cowie: Identifizierung mit dem Realen  – Spektakel der Realität, in: Marie-Luise Angerer (Hg.): Der andere Schauplatz. Psychoanalyse – Kultur – Medien, Wien 2001, S. 151-80, hier S. 159.

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Der Film ging zudem weiter als bisherige Adaptionen des Stoffs, indem er Thaws Gefängnisaufenthalt und Strafprozess thematisierte. Von besonderer Bedeutung ist hierbei ein eine Traumszene von Thaw im Gefängnis, für die der Regisseur mit ­einem ins Bild geschnittenen, sogenannten Traumballon eine neue, innovative Filmtechnik einsetzte (Szene 4).143 Die Szene macht den Ehrenmord plausibel, indem Thaw erst den Mord wiederholt, um dann seine Frau und Mutter zu küssen, die sich beide an ihn schmiegen. Er erscheint als Verteidiger seiner Familienehre – repräsentiert durch die Mutter – und als Rächer seiner Frau, deren Vergewaltigung nun in Kausalzusammenhang mit dem Szene 4 Mord gestellt wird.144 Thaw steigt zur Erlöserfigur auf, wie es die christliche Motivik der Dreiergruppe suggeriert. Auch in Bezug auf die Personenkonstellationen übernimmt der Film Deutungsmuster der Berichterstattung, so Nesbits Selbstbild als agendaloses Opfer. Die Darstellerin erscheint durchweg als passiv, die erfolglos versucht, sich wertekonform zu verhalten, etwa wenn sie alkoholische Getränke ablehnt.145 Damit erteilte der Film medialen Interpretationen von Nesbit als Femme fatale eine klare Absage.146 In Verbindung mit dem – ab der Filmmitte zentralen – Protagonisten Thaw tritt sie fast gänzlich in den Hintergrund, was den Fokus im Vergleich zur Presseberichterstattung deutlich verschob. Das medial sichtbare, konfliktreiche Verhältnis der Familie Thaw glättet der Film: Ein tränenreicher Besuch von Evelyn Nesbit und Mary Copley Thaw im Gefängnis zeigt ihre gemeinsame Sorge um und Zuneigung für Harry Thaw,147 die bei Urteilsverkündung wieder aufgegriffen werden, als sie ihn siegreich in ihre Mitte nehmen.148 Da der Film in keiner Weise das Thema von Thaws potenzieller Geisteskrankheit berührt, reproduzierte er im Wesentlichen seine Selbstdarstellung sowie die Narrative der bis dato erschienenen literarischen und theatralischen Adaptionen. Eine Besonderheit ist der Schluss des Films, der zwar über einen Monat vor Urteilsverkündung in die Lichtspielhäuser kam, jedoch bereits mit Thaws Freispruch auf Basis des unwritten law endete. Wie keine Szene zuvor erforderte diese mediales Vorwissen, um die einzelnen Sequenzen zuordnen und Darsteller*innen identifizieren Szene 5 zu können (Szene 5). Zwar sind die Verhandlungsschritte letztlich selbsterklärend, doch ist die Referenz auf Nesbits skandalöse Aussage nur mit Vorwissen über den Prozessverlauf 143 Vgl. John L. Fell: Motive, Mischief, and Melodrama: The State of Film Narrative in 1907, in: John L. Fell (Hg.): Film before Griffith, Berkeley 1983, hier S. 279-80. 144 Vgl. so auch Grieveson: Policing Cinema, S. 54-5. 145 Vgl. »The Unwritten Law« (1907), 1:25-1:38; 1:50-1:59; 3:36-3:43. 146 Siehe Kap. II.2.2. 147 Vgl. »The Unwritten Law« (1907), 8:36-9:23. 148 Vgl. ebd., 12:21-12:32.

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verständlich. Zwar war seit 1903 die Vorstellung, mit Filmen eine »visual newspaper«149 zu erhalten, rückläufig, da in sich geschlossene Spielfilme den Markt immer stärker dominierten.150 Doch war dies ein fließender Prozess, sodass der Realitätsbezug eine grundsätzliche Erwartungshaltung in der frühen Stummfilmzeit blieb.151 Wie Lee Grieveson richtig anmerkt, repräsentierte »The Unwritten Law« diese Übergangsphase. Bereits im Titel erhob er den doppelten Anspruch, zugleich ein »thrilling drama« und »based upon the Thaw-White case«152 zu sein, was den Versuch des Produzenten Lubin zeigt, die mit dem Kinobesuch zu erwartenden Emotionen zu steuern.153 Mit dem Freispruch auf Basis des unwritten law erzeugte der Film »Prämedia­ tionen«154 des Prozessausgangs, die Thaws Zukunft vorstrukturierten.155 Damit erfüllte er seine Funktion als Mentalitätsmedium, das den Deutungsrahmen für Zuschauer*innen zugleich aufgriff und formte.156 Denn mit Blick auf das anstehende Urteil hatte »The Unwritten Law« Erwartungshaltungen für den realen Prozess erzeugt und zugleich die der Öffentlichkeiten eingefangen. Das zeigte sich bei der Urteilsverkündung, als die versammelte Menge in Jubel über das »not guilty« der Jury ausbrach, bis sich die unerwartete Nachricht von Thaws Psychiatrieeinweisung verbreitete157 – Letzteres ein Aspekt, den der Film konsequent ausblendete. Nach Lee Grieveson bediente »The Unwritten Law« damit zwei zentrale, für die weitere Entwicklung des Stummfilms paradigmatische Entwicklungen: Erstens die zunehmende Vermischung von Realität mit Fiktion; zweitens eine Erzählweise, die den Zuschauer emotional einband.158 Indem die fiktiven Elemente jedoch entweder subtil in das Narrativ verwoben wurden oder sich kausal aus der Erzählung ergaben, wie der Wahrheitsgehalt von Nesbits Aussage oder der Urteilsspruch, konnte der Film seine Realitätsbezogenheit überzeugend konstruieren.

149 Musser: Before, S. 10. 150 Vgl. ders.: Emergence, S. 375. 151 Vgl. Philip Rosen: Change Mummified. Cinema, Historicity, Theory, Minneapolis 2001, S. 1667. 152 Titel von »The Unwritten Law« (1907). 153 Vgl. Frank Bösch: Der eigensinnige Kinobesucher: Zuschauerreaktionen seit Entstehung des Filmes, in: SOWI 35:4 (2005), S. 14-25, hier S. 17. 154 Ders.: Ereignisse, Performanz und Medien in historischer Perspektive, in: ders./Patrick Schmidt (Hg.): Medialisierte Ereignisse. Performanz, Inszenierung und Medien seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2010, S. 7-30, hier S. 16. 155 Vgl. ebd., S. 15-6, 19; Brownlow: Mask of Innocence, S. 145. 156 Vgl. Riederer: Film, S. 99. 157 Vgl. Thaw Jury Disagrees 7 Vote to the End for Death, Evening World, 12.4.1907, S. 1-2, hier S. 1. 158 Vgl. Grieveson: Policing Cinema, S. 56-7.

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Der Skandal um »The Unwritten Law« (1907) Wie der Film im Kontext des Skandaldiskurses verortet und welches Maß an Realitätsbezug zur High Society ihm zugesprochen wurde, lässt sich an seiner Rezeptionsgeschichte darstellen. Denn obwohl Appelle nicht ausbleiben, Filmgeschichte als Rezeptionsgeschichte von Teilöffentlichkeiten zu schreiben, ist dies ein noch immer wenig beachteter Bereich der Filmforschung.159 Als der Film in der ersten Märzwoche 1907 in die Lichtspielhäuser kam, erlebten diese eine wahren Besucheransturm. Bereits nach vier Monaten hatte das Produktionsstudio über 1.000 Filmkopien verkauft.160 Ausgestrahlt wurde der Film vor allem in nickelodeons.161 Diese hatten sich erst 1905 als eigene Vergnügungsinstitutionen etabliert und verbreiteten sich in den kommenden zwei Jahren massenhaft über die ganzen USA.162 Während actualities und kurze Klips noch bis 1905 die Kundschaft faszinieren konnten, erlebte der Spielfilm zwischen 1907 und 1908 seinen Durchbruch, der anfangs als one-reeler eine rund zehnminütige Geschichte erzählte.163 Im vaudeville waren Filmvorführungen noch in das Spektakel der restlichen Vorstellung aus Akrobatik und Sketchen integriert, wogegen die Kinos den Fokus nun ganz auf den Film legten. Deren Besuch war ein klassen-, alters- und geschlechterübergreifendes Vergnügen. Es schuf erstmals ein institutionalisiertes Freizeitangebot, das billige Zerstreuung lieferte, durch die ganztägigen Aufführungen zeitlich gut in den Tagesablauf integrierbar war und sich daher extremer Beliebtheit erfreute.164 Wer die Kinobesucher*innen von »The Unwritten Law« waren, wie sie darauf reagierten und wie sich die Vorführungen gestalteten, bleibt unklar, was keine weiteren Einblicke in konkrete Rezeptionspraktiken oder Reaktionen zulässt.165 Die Presse berichtete lediglich von einem hohen  – wenngleich üblichen  – Anteil an Frauen und Jugendlichen unter den Zuschauer*innen.166

159 Vgl. Müller: MedienAneignung, S. 6. In jüngerer Zeit wird zunehmend versucht, diese Lücke zu schließen, vgl. Corinna Müller (Hg.): Kinoöffentlichkeit (1895-1920). Entstehung, Etablierung, Differenzierung = Cinema’s Public Sphere (1895-1920). Emergence, Settlement, Differentiation, Marburg 2008. 160 Vgl. America, in: Moving Picture World 1:18 (6.7.1907), S. 280. 161 Vgl. Fronc: Monitoring, S. 9-11. 162 Vgl. Fuller: Picture Show, S. 28-46, 48. 163 Vgl. Nasaw: Going Out, S. 165-6. 164 Vgl. Hansen: Spectatorship, S. 91-2; Musser: Emergence, S. 432-3, 447; Bösch: Kinobesucher, S. 17-8; Peiss: Cheap, S. 145-6. 165 Kinopublika in den 1900er Jahren waren noch kaum diszipliniert: es wurde gesprochen, gegessen und getrunken – zudem gab es keine festen Vorstellungszeiten –, sodass die Zuschauer*innen entsprechend vielfältig auf den Stummfilm reagiert haben dürften, vgl. Anne Paech/Joachim Paech: Menschen im Kino. Film und Literatur erzählen, Stuttgart 2000, S. 38-9. 166 Vgl. Trade Notes, in: Moving Picture World 1:8 (27.4.1907), S. 119; Fronc: Monitoring, S. 10.

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Doch lässt sich aus dem Besucheransturm ein reges Interesse an »The Unwritten Law« ableiten.167 Dieses beschränkte sich nicht auf Großstädte, sondern lockte auch in entlegenen Gegenden Amerikaner*innen in die Vorführungen, wie etwa in Chickasha, Indian Territory, dem heutigen Oklahoma.168 Der Film entwickelte sich so zu einem der landesweit erfolgreichsten Filme des Jahres.169 Doch von Teilen der Presse, von Reformgruppen und staatlichen Stellen erntete er scharfe Kritik, da er Dekadenz, Sexualität und Gewalt zeigte, was Debatten über die moralischen Folgen von Kinobesuchen anstieß. Die Kritik entsprach derjenigen an der Gerichtsberichterstattung der yellow press und war ebenso angeleitet von Ängsten über Sexualität und Perversion, Klasse und Moral sowie der Rolle der Frau in der Öffentlichkeit.170 Die Lubin Manufacturing Company sah sich genötigt, zu versichern, dass der Film »contain[s] absolutely nothing objectionable and may be shown in all theatres.«171 Dennoch kam es vom industriellen Rhode Island bis ins rurale Texas zu Razzien gegen nickelodeons; Vorführungen wurden von örtlichen Polizeidienststellen abgebrochen oder im Vorhinein verboten.172 Dieses Vorgehen rief wiederum scharfe Kritik von Seiten der Produktionsstudios und Filmmagazine hervor. Die Herausgeber der Moving Picture World resümierten drei Monate nach der Premiere von »The Unwritten Law« in einem wütenden Editorial: The exhibition of this one film alone has been the cause of more adverse press criticism than all the films manufactured before, put together, have done. It has made the police active in trying to put down the nickelodeon. It has been the cause for action by church, children’s, purity and other societies, and these societies have branded [the whole industry] all alike, […] which certainly does not apply in this instance.173 Der darin unterstellte Generalverdacht gegen die Filmindustrie erwies sich als prophetisch: Im Frühjahr 1907 verlor George Watson, Betreiber eines Filmtheaters in der New Yorker 3rd Avenue, seine Lizenz und erhielt ein Bußgeld, weil er Kindern unter 14 Jahren »The Unwritten Law« gezeigt hatte.174 Lee Grieveson sieht darin die Bestätigung, dass es vor allem die gezeigte sexuelle Normüberschreitung war, die zum staatlichen Durchgriff geführt hatte.175 Dagegen betont die Medienwissen167 168 169 170 171 172

Vgl. Providence Bars the Thaw Picture, Morning Telegraph, 2.4.1907. Vgl. The Unwritten Law, Chickasha Daily Express, 21.5.1907, S. 8. Vgl. Trade Notes, in: Moving Picture World 1:19 (13.7.1907), S. 295. Vgl. Grieveson: Policing Cinema, S. 58-9. Zit. nach Fronc: Monitoring, S. 9. Vgl. etwa in Houston, Texas: Houston Authorities Object to Picture of Thaw-White Tragedy, in: Moving Picture World 1:7 (20.4.1907), S. 102. 173 J. P. Chalmers/Alfred H. Saunders: Editorial, in: Moving Picture World 1:12 (25.5.1907), S. 179. 174 Vgl. Trade Notes, in: Moving Picture World 1:10 (11.5.1907), S. 151-3, hier S. 153. 175 Vgl. Grieveson: Policing Cinema, S. 58-61.

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schaftlerin Janet Staiger, dass vor 1910 Kritiker*innen und Zensurbehörden kaum Filme bemängelten, in denen Sexualität angedeutet oder visualisiert wurde, sondern vor allem kriminelles Verhalten sanktionierten.176 Denn bis 1909 erschienen Tausende one- oder two-reeler, die provokantere und skandalösere Inhalte als »The Unwritten Law« zeigten, wie Schlüssellochszenen mit Ehepartnern oder Frauen in Unterwäsche.177 In vorliegendem Fall schien es jedoch die Kombination aus Kriminalität und Sexualität gewesen zu sein, die in Verbindung mit der öffentlichen Aufmerksamkeit Zensurforderungen begründeten. So verurteilte der Richter im Verfahren gegen Watson explizit die Modell- und Mordszene als »lewd and disgusting«.178 In der Regel konnten Filme die Distanz zwischen Inhalt und Publikum wahren, indem sie zwar den Voyeurismus der Zuschauer*innen bedienten, aber die Filmfiguren keine Verbindungen zu realen Personen hatten. Das änderte sich mit »The Unwritten Law«, da dessen dokumentarischer Anspruch Einblicke in die Privatsphäre der High Society-Mitgliedern suggerierte. Die Verfilmung des Skandals bewirkte also eine Neuausrichtung der Debatte um Filmzensur, ausgehend von der sexuellen Privatheit medialisierter High SocietyAkteur*innen.179 Interessanterweise zeigten diese selbst, wie stark das zeitgenössische »Begehren nach re-präsentierter Realität«180 im Film war. In besagtem Bußgeldverfahren erschien Thaws Anwalt Dan O’Reilly im Gerichtssaal, um im Namen seines Mandanten Protest gegen dessen Filmdarstellung und die seiner Familie einzulegen: [The moving pictures] are not what they are purported to be. He wants it distinctly understood that the picture of his wife is not a good one, and that the other pictures do not show the marriage ceremony as it occurred, nor the principals in it. The same applies to the tragedy on the roof garden.181 Ex negativo bestätigte Harry Thaw damit den wahrgenommenen Realitätsbezug des Films, indem er ihn zu korrigieren suchte. Im Rückschluss verifizierte er damit sowohl das Gesamtnarrativ als auch die szenischen Einblicke in die Privatheit. Zugleich demonstrierte Thaw seine Medienkompetenz: Er war sich der Aufmerksamkeit und der Folgen des Films für sein mediales Fremdbild und das seiner Familie 176 Vgl. Staiger: Bad Women, S. 16. 177 Vgl. Eileen Bowser: The Transformation of Cinema 1907-1915 (= History of the American Cinema, 2), Berkeley 1990, S. 40-1; Staiger: Bad Women, S. 55; Coontz: Marriage, S. 197-8. 178 Trade Notes, in: Moving Picture World 1:10 (11.5.1907), S. 151-3, S. 153. 179 Ein anderer Film mit realen Vorbildern war »The James Boys in Missouri« (USA 1908), der Bank- und Zugüberfälle der Gebrüder James nachstellte und ebenfalls zensiert wurde. »The Unwritten Law« schrieb sich somit in zeitgenössische Moraldebatten ein, die zwischen 1907 und 1909 kumulierten, vgl. Edward de Grazia/Roger K. Newman: Banned Films. Movies, Censors, and the First Amendment, New York 1982, S. 177-80. 180 Cowie: Identifizierung, S. 153. 181 Beide Zitate aus Trade Notes, in: Moving Picture World 1:12 (25.5.1907), S. 180.

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bewusst, während er zugleich die Darstellung von White und den Prozessausgang unkommentiert ließ. Nach dem Zwischenfall mit George Watsons nickelodeon begann die New Yorker Stadtverwaltung den Einfluss von Filmtheatern auf die öffentliche Moral zu überprüfen. Nach über einem Jahr war das Ergebnis so drastisch wie eindeutig: An Weihnachten 1908 verfügte der Bürgermeister George B. McClellan Jr. die Schließung aller 550 Lichtspielhäuser in der Stadt und entzog den Betreibern vorerst unbefristet ihre Lizenzen.182 Hatte sich die Presse noch gegen Zensurversuche im Thaw-Prozess wehren können, ereilte Kinobetreiber ein anderes Schicksal. Da parallel in Chicago eine Zensurdebatte zwischen Reformgruppen, der Stadtverwaltung und den Filmtheatern tobte, lenkte die Filmindustrie im Frühjahr 1909 ein und gründete mit öffentlicher Beteiligung das National Board of Censorship.183 Dieses Einlenken war Teil des Professionalisierungsprozesses der Filmbranche, die sich seit 1908 als moralisch unbedenkliches Unterhaltungsmedium zu etablieren suchte, was sexuelles und gewalttätiges Grenzgängertum, wie in »The Unwritten Law«, verunmöglichte.184 Das erste Kontrollgremium für Filme war somit eine direkte Folge der filmischen Verarbeitung des Nesbit-Thaw-White-Skandals und vorläufiger Höhepunkt der Eskalationsspirale im Streit um die moralische Gefährdung durch Kinofilme. »The Unwritten Law« hatte die Privatheit und skandalösen Verhaltensweisen der High Society und ihres Lifestyles auf die Kinoleinwände gebracht und sich dabei intermedialen Transfers bedient. Er hatte zur Eskalation der Moraldebatte geführt, da die Bewegtbilder Einblicke in die vermeintlich sexuelle Privatheit der High Society lieferten und damit Fragen nach weiblicher agency, Geschlechterrollen und Sexualmoral stellten. Die dabei verfolgten Authentifizierungsstrategien ließen den Film als überzeugenden Einblick in die High Society erscheinen, was sowohl den Besucherandrang als auch die Zensur erklärte.

4.3. Das Internationale Konsumgut High Society Abschließend zeigt der Blick über den Atlantik, dass der Status der High Society als Populärkultur keine nationalen Grenzen kannte.185 Die New York Times hatte zu Verhandlungsbeginn im ersten Mordprozess gemeldet: »The Thaw trial is being repor-

182 Vgl. Frank Miller: Censored Hollywood. Sex, Sin, and Violence on Screen, Atlanta 1994, S. 245; Czitrom: Politics, S. 22, 31-7. 183 Vgl. Grieveson: Policing Cinema, S. 59-70; Brownlow: Mask of Innocence, S. 5-8. 184 Vgl. Czitrom: Politics, S. 17; Bowser: Transformation, S. 37-52. 185 Zur Internationalität der Populärkultur um 1900 vgl. Bollenbeck: Tradition, S. 163; Maase: Vergnügen, S. 76.

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ted to the ends of the civilized globe.«186 Dies war insofern richtig, als europäische Medienöffentlichkeiten reges Interesse an dem Skandal zeigten, den sie in ihren jeweiligen nationalen Kontext transferierten. So betteten etwa französischen Medien den Fall in ihr nationales Pendant des Ehrenmordes, das crime passionnel, ein und interpretierten ihn als emotionales Beziehungsdrama.187 Dagegen nutzten ihn deutsche Medien aus politisch unterschiedlichen Lagern, um ihn in die gesellschaftliche Abgrenzungsbemühung deutscher Kultur zum populärkulturellen Amerikanismus einzuschreiben, der in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts vonstattenging.188 Das Sensationsereignis galt als Ausdruck amerikanischer Nervosität und Exzess ihrer Konsum- und Vergnügungsgesellschaft.189 Auch in Großbritannien rezipierte die Medienlandschaft den Fall. Sie hatte stärker als andernorts und parallel zu den USA ein ähnliches Interesse an den Privatleben der Oberschicht entwickelt.190 Dementsprechend fokussierte sich die Presse auf die sexuelle Doppelmoral der Beteiligten, die im britischen Kontext als gravierender galt als in den USA.191 Was aber die britische Rezeption des Nesbit-Thaw-WhiteSkandals von ähnlichen, international rezipierten Ereignissen unterschied, war deren populärkulturelle Verarbeitung.192 Ebenso wie in den USA konnten Postkarten gekauft werden oder Groschenhefte, die mit – fiktiven – Details aus dem Privatleben der Protagonist*innen berichteten.193 In London entstanden mehrere Theaterstücke über den Skandal und Lubins Film »The Unwritten Law« wurde auch beim britischen Kinopublikum – unter gleichlautender Kritik – ein Kassenschlager.194 Obwohl 186 Thaw Trial Begins. Defense Still Hidden, New York Times, 24.1.1907, S. 1. 187 Vgl. etwa Le millionnaire meurtrier, Le Figaro, 29.6.1906, S. 2; zum crime passionnel vgl. Ruth Harris: Murders and Madness. Medicine, Law and Society in the Fin de Siecle, Oxford 1991, S. 286-97, 302. 188 Vgl. Maase: Vergnügen, S. 146-7. 189 Vgl. Ernst Heilemann: New York, in: Simplicissimus 11:52 (25.3.1907), S. 847; Die Sitte unter dem Sternenbanner, in: Die Jugend 12:26 (1907), S. 570. Dies stand im Deutschen Reich vor dem Hintergrund eines schärferen (medialen) Sexualdiskurses, vgl. Templin: Schmutz, S. 269310. 190 Vgl. Linkof: Public Images, S. 51-5. 191 Vgl. Paris Sympathizes With Thaw, Sun, 1.7.1906, S. 4. Die britische Presse behandelte Alice Thaw wesentlich respektvoller, vgl. etwa Some Gossip of the Week, in: Sphere 28:366 (26.1.1907), S. 74. Zu Sexskandalen in Großbritannien vgl. Jeffrey Weeks: Sex, Politics and Society. The Regulations of Sexuality since 1800, 3. Aufl., London 2012, S. 100. 192 Vgl. zu anderen Medienereignissen Bösch: Geheimnisse, S. 97-8, 156-7. 193 Zu den Postkarten siehe Anm. 64 auf S. 313; zur Belletristik vgl. John Stapleton Cowley-Brown: The Secret History of the Nesbit-Thaw-White Tragedy: A Complete Expose of the Most Sensational Social Crime of the Country. Containing Facts and Disclosures never before Published. Profusely Illustrated, o. O. [UK] 1906, oder in zweiter Auflage o. A.: Full Account of a Millionaire’s Crime: The Great Thaw Trial. Astounding Facts, 2. aktual. Aufl., Manchester, UK 1907; ebenso konnte in Wettbüros auf den Ausgang des Prozesses gesetzt werden vgl. ebd., S. 28. 194 Als Theaterstücke erschienen »The Mad Millionaire«, vgl. World of Players, in: New York Clipper (20.4.1907), S. 241 und »The Unwritten Law«, vgl. Some New Playlets, in: Billboard (1907), das internationale konsumgut high society

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sich die Gesellschaftsberichterstattung über die High Society erst in den 1930er Jahren zum transnationalen Phänomen entwickelte,195 hatte der Nesbit-Thaw-WhiteSkandal nicht nur internationales Interesse hervorgerufen, sondern die High Society-Akteur*innen und ihr sichtbares Privatleben zu transnationalen (Konsum-) Produkten gemacht. Der Thaw-Prozess hatte eine Entwicklung angestoßen, an deren vorläufigem Ende die High Society-Mitglieder durch ein Ensemble aus Massenmedien und (Massen-) Produkten sichtbar und konsumierbar gemacht worden waren. Sie waren Teil des Alltags geworden: In der Presse und den Postkarten der Kioske, im Kino und in Vergnügungsparks, als Rabattmarken und Konsumgüter begegneten Amerikaner*innen dem Skandal und den bekannten Gesichtern von Evelyn Nesbit und Harry Thaw. Indem Dritte in ihnen das Potenzial erkannten, wirtschaftlich profitieren zu können, differenzierte sich das Angebot aus Produkten und Dienstleistungen schnell aus. Nicht nur die ubiquitäre Berichterstattung, sondern auch Vergnügungsangebote, Postkarten oder der verbreitete Film »The Unwritten Law« machten Nesbit und Thaw zu sichtbaren Privatpersonen, die individuell erfahrbar waren und sich aneignen ließen. Das verstärkte die Sichtbarkeit der Skandalisierten, was sich in der Rezeption wiederfand: Kritiker problematisierten die scheinbare Öffnung ihrer Privatsphäre, während Konsument*innen genau darüber den Akteur*innen Sinnhaftigkeit zuschrieben. Die populärkulturelle Rezeption des Skandals und des Prozesses legte somit den Grundstein der Produkthaftigkeit der High Society. Das erlaubte, ihr Aufmerksamkeitskapital in das Feld der Populärkultur zu transferieren – eine Möglichkeit, die sich sowohl Evelyn Nesbit als auch Harry Thaw zunutze machen sollten, wie der folgende dritte Teil der Arbeit zeigen wird.

S. 10. Zur Ausstrahlung von Lubins »The Unwritten Law« vgl. Will S. Heck: Lubin’s Great Success, in: Billboard 19:39 (21.9.1907), S. 28. 195 Vgl. Hornung: Welt, S. 113-4, 116.

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III. Möglichkeiten und Grenzen der

High Society-Mitgliedschaft (1908-15/22)

»It’s over and there’ll be something else for us all to talk about, read about, hear about, speculate about, blither about, argue about, and bore our neighbors about.«1 Diese Hoffnung hegte ein Leserbrief, als im Februar 1908 das Urteil über Harry Thaw gesprochen war. Denn würden den Akteur*innen nun nicht die Nachrichtenwerte des Skandals fehlen, um weiterhin sichtbar zu bleiben? Doch statt unsichtbar zu werden, begann mit dem Prozessende die dritte Phase von Evelyn Nesbit und Harry Thaw als High Society-Mitgliedern. Mit dem Ende des Skandals und des Sensationsprozesses waren sie auf das darin angesammelte Aufmerksamkeitskapital zurückgeworfen, was einige Determinanten im High Society-Leben von Nesbit und Thaw grundlegend änderte. Darunter fiel, erstens, das Ende der intensiven medialen Aufmerksamkeit. Zweitens trennten sich Thaws und Nesbits Leben, die durch den Skandal und die Prozesse eng miteinander verbunden waren, erst räumlich, dann auch auf persönlicher Ebene. Drittens führte Thaws Einweisung in die Psychiatrie zu neuen medialen, institutionellen und persönlichen Einschränkungen. Wie er versuchte, diese Ohnmacht zu überwinden, und dabei seine Medienkompetenz nutzte, zeichnete sich im Laufe der Folgejahre ab. Viertens musste Nesbit mit den Folgen ihrer im Skandal offengelegten Intimität umgehen, die sie zwar vor neue, genderbedingte Probleme stellte, aber auch Potenzial beinhaltete. Die Folgen dieser Neubestimmungen stehen im Zentrum des folgenden, letzten Teils der Studie. Da sich Nesbit und Thaw sukzessive auseinanderentwickelten, spiegelt sich diese Separierung im Kapitelaufbau, indem beide gesondert betrachtet werden. Diese strukturieren zwei verbindende Fragestellungen: Erstens, wie setzten die High Society-Mitglieder ihr angesammeltes Aufmerksamkeitskapital ein? Zweitens, welche weiteren Professionalisierungsprozesse sind dabei bei ihnen zu beobachten? Die syntagmatischen Verläufe ihrer Medienbiographien als High Society-Mitglieder in den Jahren vor dem Mord waren durch den Skandal in eine paradigmatische Phase getreten. Nun wichen sie wieder zusehends typischen Formen der High Society-Mitgliedschaft, in der Nesbit und Thaw um mediale Aufmerksamkeit ringen mussten. Entsprechend interessant ist die Frage, ob und wie es beiden gelang, aufmerksamkeitsökonomisch ihren Status zu nutzen, und ob sie dieses Kapital in die Felder der Unterhaltung respektive der Psychiatrie transferieren konnten. Während ihre mediale Professionalisierung bereits in den vorherigen Kapiteln gezeigt werden konnte, wird nun deutlich, dass beide durch die Strafprozesse Professionalisierungsschübe erlebt hatten, die sie jeweils eigensinnig für ihre Medialisierung verwendeten. 1 A Paean of Thanks, Evening World, 2.2.1908, S. 17.

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1. Harry Thaws medialisierter Psychiatrieaufenthalt (1908-15) Aufgrund seiner medialen Sichtbarkeit war Harry Thaw kein normaler Insasse des Matteawan State Hospital for the Criminally Insane. Daher gilt zu fragen, welche Einflüsse sein High Society-Status auf seinen Psychiatrieaufenthalt hatte, welche Wechselwirkungen sich zwischen ihm und der Psychiatrie entfalteten und wie er nach seiner Flucht mit den erlernten Medialisierungsstrategien weiter agierte.

1.1. Psychiatrieaufenthalt als Kampf um Deutungshoheit(-en) (1908-13) Straffrei zu bleiben war Thaw geglückt, jedoch nicht in der von ihm erwarteten Form. Die Einweisung in die Psychiatrie als gefährlicher Geisteskranker empfand Thaw als Katastrophe,2 ereilte ihn doch der »soziale Tod«3 durch diesen maximalen gesellschaftlichen Ausschluss.4 Denn im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geriet in den Vereinigten Staaten der therapeutische Ansatz für psychiatrische Erkrankungen durch gestiegene Einweisungszahlen und ausbleibende Heilungserfolge immer stärker unter Druck: Psychiatrien entwickelten sich von Heil- zu Haft- und Verwahranstalten.5 Parallel intensivierte sich die Stigmatisierung Geisteskranker, da ihre Krankheitsbilder sozialdarwinistisch als unterentwickelt gebrandmarkt, eugenisch als schädlich interpretiert und kriminologisch als deviant gedeutet wurden.6 In Bezug auf die inneren Funktionsweisen von Psychiatrien sind nach wie vor die Überlegungen des Soziologen Erving Goffman maßgeblich. Er definiert sie als »totale Institutionen«,7 die ihre Insass*innen beim Eintritt von der Außenwelt isolie-

2 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 213. 3 Klaus Feldmann: Tod und Gesellschaft. Sozialwissenschaftliche Thanatologie im Überblick, 2., überarb. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 126. 4 Vgl. ebd., S. 126-7, 136-7. 5 Vgl. Grob: Mad, S. 117-27. 6 Vgl. Andrew Scull: The Asylum, Hospital, and Clinic, in: Greg Eghigian (Hg.): The Routledge History of Madness and Mental Health, London/New York 2017, S. 101-14, hier S. 105; Nicole Hahn Rafter: Creating Born Criminals, Urbana 1997, S. 169-70; zum Sozialdarwinismus und Kriminologie siehe Kap. II.3 Anm. 33. 7 Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, 21. Aufl., Frankfurt a. M. 2018 [1973], S. 16.

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ren und entindividualisieren, was zum Bruch mit der bisherigen Existenz führt.8 Diesen Übergang von Thaw in die Anstalt begleitete die Presse noch, um ihn mit dem Schließen der Pforten einstweilen in die Deutungshoheit der Anstalt zu übergeben.9 Indem die Insass*innen den autoritären Anstaltsregeln unterworfen werden, wird allumfassender Zugriff und Strukturierung ihres Alltag eingefordert, Privatheit entprivatisiert, Ort- und Zeiteinteilung der freien Verfügung entzogen und damit nachhaltig die Handlungsökonomie der Patient*innen zerstört.10 Obwohl zu Recht kritisiert wurde, dass die totalen Institutionen nicht so totalitär und abgeschlossen sind, wie von Goffman postuliert,11 sondern vielmehr temporär und situativ diese Ansprüche durchsetzen,12 dienen sie doch als materielle Grenze zwischen Gesunden und Kranken, die den »Irre[n] als soziale Kategorie«13 erst herstellen. Dieses System spitzt Michel Foucault auf das Bild des Panopticons zu: Durch die Anstaltsorganisation erfolgt die totale Überwachung, die einen »bewussten und permanenten Sichtbarkeitszustand[] beim Gefangenen«14 erzeugt und die Insass*innen entmachtet und entindividualisiert.15 In Bezug auf die High Society ist hierbei interessant, ob die Zugehörigkeit etwas an diesem Überwachungszustand ändern konnte? Wurden ihre Mitglieder ebenfalls entindividualisiert und litten unter Kontrollverlust? Machte der Einschluss in die Anstalt sie unsichtbar für die Außenwelt, bot der High Society-Status einen Ausweg oder verschloss er gar Handlungsmöglichkeiten? Da die skizzierte Kombination aus Überwachung, Entmachtung und Stigmatisierung der Insass*innen auch Harry Thaw betraf, soll im Folgenden untersucht werden, wie er sich gegenüber diesem Zugriff der Psychiatrie auf die Deutungshoheit über seine Person verhielt. Welche Möglichkeiten eröffnete ihm seine Zugehörigkeit zur High Society, in welchen Situationen konnte er diese nutzen und schaffte er es, der Institution mediale Logiken aufzudrängen? Dazu steht zuerst im Fokus der Analyse, wie die Sensationsmedien seine Einweisung in die Psychiatrie rahmten und dabei in deren Raum eindrangen, um dann zu untersuchen, wie Thaw versuchte, 8 9 10 11

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Vgl. ebd., S. 25-7, 31. Vgl. He’s No. 719 at the Asylum, New York Times, 2.2.1908, S. 4. Vgl. Goffman: Asyle, S. 32-3, 47. Vgl. Martin Scheutz: ›Totale Institutionen‹ – missgeleiteter Bruder oder notwendiger Begleiter der Moderne? Eine Einführung, in: ders. (Hg.): Totale Institutionen (= Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit, 8.1), Innsbruck 2008, S. 3-19, hier S. 10. Dies zeigt jüngst der Medizinhistoriker Jens Gründler, wonach die Totalität psychiatrischer Anstalten in Großbritannien  – bereits für nicht medialisierte Insass*innen  – kaum absolut, sondern temporär und situativ bedingt war, vgl. ders.: Exklusion/Inklusion oder ›totale Institution‹? Psychiatrie um 1900, in: Uerlings: Inklusion, S. 256-75, passim, insb. S. 259, 268, 274. Cornelia Brink: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860-1980, Göttingen 2010, S. 12. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 10. Aufl., Frankfurt a. M. 2007 [1975], S. 258. Vgl. ebd., S. 256-260, in Bezug auf Asyle S. 264.

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sich juristisch und medial gegen die institutionell verfestigte Interpretationsmacht zu wehren.

Harry Thaws medial begleitete Einweisung nach Matteawan Mit Thaws Einweisung in das Matteawan State Hospital for the Criminally Insane in Upstate New York flaute das Interesse an seiner Person nicht abrupt hab. Vielmehr machte die Presse seinen Transfer mit im Skandal erprobten Medialisierungsstrategien sichtbar. Zu seiner Einweisung folgte ihm »a small army of photographers and reporters«,16 die erstmals seit Beginn des Skandals aktuelle Aufnahmen von ihm anfertigen und Interviews führen konnte; eine Praxis, die in den Folgejahren bei seinen Gerichtsterminen üblich wurde.17 Dies waren grundsätzlich neue Handlungsmöglichkeiten im Vergleich zu den Beschränkungen, die ihm seine Familie und Anwälte auferlegt hatten. Zudem führte der Szenenwechsel von New York nach Matteawan dazu, dass die Medienöffentlichkeiten zeitweise mit Thaw in die abgeschlossene Sphäre der Anstalt eindrangen. So etwa wenn der New York American in seiner Sonntagsbeilage minutiös seine neue Lebenswirklichkeit rekonstruierte, wobei seine strikter Alltagsablauf mit der Tristesse der Anstalt einherging (Abb. 46). Gerade der Kontrast zu Thaws vorherigem, ausschweifenden Lifestyle – karge Zellen statt üppiger Privaträume  – zeigt, wie wichtig weiterhin der Einblick in das vermeintlich alltägliche Leben des High Society-Mitglieds Thaw blieb. Die Fallhöhe diente dabei als neuer Nachrichtenwert. Wiederholt waren die Skandalakteur*innen ausführlich in Sonntagsbeilagen behandelt worden, welche die Verleger der Tageszeitungen zur Jahrhundertwende als Konkurrenzprodukte zu den beliebten Magazinen in Stellung gebracht hatten. Auch sie bestachen durch lange Feature-Berichte, reiche Bebilderung und Farbigkeit.18 Damit entwickelten sie sich zu einem wichtigen Format der frühen High SocietyBerichterstattung.19 Es sind jedoch kaum Ausgaben in Farbe überliefert, da in Folge der verfehlten Sammlungspraxis von Bibliotheken und Archiven seit den 1960er Jahren, die Zeitungsbände durch Mikrofiche zu ersetzen, die Quellen ihre Farbigkeit einbüßten.20 Die wenigen erhaltenen Beispiele vermitteln eine lebendige Bericht­ 16 17 18 19

He’s No. 719 at the Asylum, New York Times, 2.2.1908, S. 4. Vgl. etwa Harry K. Thaw’s Farewell to the World, New York American, 3.2.1908, S. 4. Vgl. Tebbel/Zuckerman: Magazine, S. 66-7. Diese ergibt sich aus diversen Quellenbeständen. Eine systematische Auswertung von Sonntagsbeilagen bleibt leider ein Desiderat, da die Reisebeschränkungen im Zuge der Covid19-Pandemie deren Recherche insb. in der American Newspaper Repository Collection in der Rubenstein Library der Duke University in Durham, North Carolina, verhinderten. 20 Vgl. die scharfe Kritik in Nicholson Baker: Double Fold. Libraries and the Assault on Paper, New York 2001, passim, insb. S. 21-36. Die Farbigkeit machte die Beiträge zu Besonderheiten, da bis in die 1930er Jahre Schwarzweißfotografien und -filme die Sehgewohnheiten prägten,

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Abb. 46: Einblicke in Thaws Anstaltsleben im Matteawan State Hospital for the Criminally Insane.

Abb. 46 psychiatrieaufenthalt als kampf um deutungshoheit(-en)

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erstattung, die mutmaßlich ein als außergewöhnlich empfundenes Lesevergnügen über den Lifestyle der High Society bereiteten.21 Mit Reportagen, Fotografien und Fotomontagen gab die Sensationspresse Ein­ blicke in den abgeschotteten psychiatrischen Raum,22 was eine doppelte Grenzüberschreitung darstellte: Einerseits vermittelten sie ein Bild von Thaws eigentlich verborgenem Psychiatriealltag, was als mediales Wissen um Privates deklariert wurde und zugleich mit pathologisierendem Blick seine Privatheit als Patient zeigte. Andererseits überwanden sie damit die Grenzziehung der Anstalt sowie Thaws Selbstbild, wonach er nicht geisteskrank sei. Diese Einblicke prägten jedoch strukturelle Probleme, da sich Journalist*innen mit den Exklusionsmechanismen der Psychiatrie konfrontiert sahen. Das öffentliche Interesse an Thaw wie auch der Druck der Verleger war aber so groß, dass Korrespondent*innen, wie der Reporter Max Sherover, selbst Geschichten über Thaw erfanden. Damit hebelten sie die institutionelle Abschottung des Patienten aus und erzeugten so fiktives Wissen über ihn.23 Dennoch sollen Thaws Medialisierungen nicht die wohl teils erdrückende Lebenswirklichkeit seines Psychiatrieaufenthalts verdecken. In dem für 550 Insass*­ innen ausgelegten psychiatrischen Gefängnis war Thaw Patient Nummer 719. Anfangs in einem Schlafsaal mit 50 Mithäftlingen untergebracht, durfte er zwar nach einigen Tagen ein schlichtes Einzelzimmer beziehen. Doch auch hier herrschte der institutionelle Zugriff auf seine Privatheit, was strikt vorgegebene Tagesabläufe mit festen Essens- und Schlafenszeiten bedeutete.24 Die übrige Zeit war kaum strukturiert und Thaw verbrachte sie in Gesellschaft anderer, teils an schweren Psychosen leidender Patienten beim Lesen, Hofspaziergängen oder Brettspielen. Da er während der Haftprüfungsverfahren häufig in anderen Unterkünften oder Gefängnissen untergebracht war, belastete ihn seine fünfeinhalbjährige Anstaltshaft unterschiedlich stark, wie die Auswertung seiner fragmentarischen Patientenakte ergibt.25 Diese Quellengattung konstruiert zwar in erster Linie aus therapeutischer

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vgl. Edward Buscombe: Sound and Color, in: Bill Nichols (Hg.): Movies and Methods. Vol. II: An Anthology, 2 Bde., Berkeley et al. 1985, S. 83-91, hier S. 87-8. Vgl. Evelyn Nesbit Thaw, Boston American. Sunday Magazine, 21.10.1906, S. 9. Vgl. Harry Thaw Plays Hymns, Toledo Blade, [Feb] 1908. Vgl. Max Sherover: Fakes in American Journalism, 3., aktual. und erw. Aufl., Brooklyn 1916, S. 15-6. Vgl. He’s No. 719 at the Asylum, New York Times, 2.2.1908, S. 4; Evelyn Thaw Collapses As She Sees Husband In Asylum, Evening World, 2.2.1908, S. 1-2, hier S. 2. Zur Psychiatrie in Matteawan vgl. Hedrich: Medizinische Gewalt, S. 70-6. Vgl. Patientenakte von Harry Thaw (Feb. 2, 1908–Sept. 19., 1911), UC, Folder 7, Index A-B. Leider ist diese Quelle in der Uruburu Collection nur fragmentarisch. Der gesamte, rund 200 Seiten fassende Akt in Matteawan State Hospital. Inmate Case Files from Matteawan and Dannemora State Hospitals, ca. 1880-1960 – File on Harry K. Thaw, NYSA, A1500 und Matteawan State Hospital. Records, 1858-1975 – File on Harry K. Thaw, NYSA, A0505 ist für personenbezogene Forschung gesperrt, siehe Einleitung, Anm. 144.

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Sicht Bilder von Geisteskranken,26 doch lassen sich darin Wechsel zwischen Anpassung und Widerständigkeit beobachten.27 So versuchte Harry Thaw im Umgang mit dem Institutsleiter Dr. Robert Lamb, in den ersten Monaten seiner Haft Sonderbehandlungen für sich einzufordern und institutionelle Beschränkungen auszuhebeln, indem er etwa Gesangbücher für alle Insassen bestellte. Durch die folgenden Restriktionen passte er sich seit dem Sommer 1908 zunehmend den Reglements an, zeigte sich bei seinen therapeutischen Sitzungen kooperativ und erhielt abhängig von seinem Verhalten wieder Privilegien, wie die Stelle des Bibliothekars.28 Umgekehrt nutzten die psychiatrischen und institutionellen Leiter diese Sonderrechte als Disziplinierungsinstrumente.29 In seinen fünf Anstaltsjahren oszillierte sein Verhalten zwischen diesen Polen. Einzig in dem Zeitraum zwischen den Haftprüfungsverfahren 1909 und 1912 passte sich Thaw vergleichsweise gut an, sodass der Anstaltsleiter John W. Russell im September 1911 feststellte, dass er »full appreciation of certain privileges«30 zeige, die aus seinem Verhalten resultierten. Damit folgte Thaw trotz seiner medialen, finanziellen und statusbedingten Möglichkeiten typischen Anpassungspraktiken von Psychiatrieinsass*innen.31 Ohne daraus direkt auf Thaws Patientenperspektive schließen zu wollen, wie dies der Historiker Joachim Radkau vorschlägt,32 zeigen sich darin seine unterschiedlichen Belastungen durch den Psychiatrieaufenthalt und seine jeweiligen Bewältigungsstrategien.33 Hinzu kamen seine im Folgenden untersuchten Versuche, aus der Haft freizukommen, die ihm durch ihr wiederholtes Scheitern stark zusetzten – stand in jedem Verfahren doch

26 Vgl. Guenter B. Risse/John Harley Warner: Reconstructing Clinical Activities: Patient Records in Medical History, in: Soc Hist Med 5:2 (1992), S. 183-205, hier S. 185-6. 27 Vgl. Geoffrey Reaume: »From the Perspectives of Mad People«, in: Eghigian: History of Madness, S. 277-96, hier S. 282-5. 28 Vgl. Patientenakte von Harry Thaw (Feb. 2, 1908–Sept. 19., 1911), Widerständigkeit S. 1256, 1262, 1265 (Einträge vom 18.2., 7., 14.4., 1.5.1908), Anpassung S. 1296, 1298 (Einträge vom 24.8., 4.9.1909), UC, Folder 7, Index A-B; Occupation for H. K. Thaw, New York Times, 31.8.1909, S. 3. 29 Diese Privilegien genoss er bis zu seinem ersten Haftprüfungsverfahren Mitte 1908, vgl. Henry Kendall Thaw vs. Evelyn Nesbit Thaw, No. 1319 Oct. Term, 1915: Transcript of Official Notes of Testimony, S. 7, Fifth Judicial District of Pennsylvania, Department of Court Records. 30 Patientenakte von Harry Thaw (Feb. 2, 1908–Sept. 19., 1911), S. 1315 (Eintrag vom 31.8.1911), UC, Folder 7, Index A-B. 31 Vgl. Goffman: Asyle, S. 66-7. 32 Vgl. Joachim Radkau: Zum historischen Quellenwert von Patientenakten. Erfahrungen aus Recherchen zur Geschichte der Nervosität, in: Dietrich Meyer (Hg.): Akten betreuter Personen als archivische Aufgabe. Beratungs- und Patientenakten im Spannungsfeld von Persönlichkeitsschutz und historischer Forschung (=  Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft der Archive und Bibliotheken in der Evangelischen Kirche, 25), Neustadt a. d. Aisch 1997, S. 73-101, hier S. 75, 82-9, 92, 98. 33 Für eine bessere Phase vgl. etwa Patientenakte von Harry Thaw (Feb. 2, 1908–Sept. 19., 1911), S. 1298 (Eintrag vom 4.9.1909), UC, Folder 7, Index A-B; für eine schlechtere ebd., S. 1303-4 (Eintrag vom 12.12.1909). psychiatrieaufenthalt als kampf um deutungshoheit(-en)

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seine Zukunft offen.34 Als welch massiven biographischen Bruch er diese Haftzeit daher betrachtete, belegt indirekt die Leerstelle, die der Zeitraum in seiner Autobiographie von 1926 hinterlässt. Er erwähnt sie nur mit einem Halbsatz: »[in 1912] I was in Hell.«35

Deutungshoheit durch Sichtbarkeit? Harry Thaws Medialisierungsstrategien in Matteawan Harry Thaws Überzeugung, nicht geisteskrank zu sein,36 sollte über die kommenden Jahre hinweg zu einem juristischen, medizinischen und medialen Tauziehen zwischen ihm und der Anstalt führen. In insgesamt drei Haftprüfungsverfahren versuchten seine juristischen Vertreter, den Richtern glaubhaft zu machen, dass ihr Klient gesund sei und keine Gefahr mehr für die Öffentlichkeit darstelle. Obwohl William T. Jerome 1909 als Staatsanwalt ausgeschieden war, vertrat er den Staat in Thaws Anhörungen und argumentierte, weiterhin überzeugt von Thaws Gefährlichkeit, erfolgreich gegen dessen Freilassung – keiner der Richter entließ Thaw aus der Haft.37 Parallel dazu versuchte dieser, unterstützt von seiner Mutter und Anwälten, sein öffentliches Bild als geistig gesunder Mann zu etablieren und die Deutungshoheit der Psychiatrie über sich infrage zu stellen. Im Folgenden werden diese Deutungskämpfe um Thaw aus drei Perspektiven analysiert. In der ersten wird das juristisch-medizinische Unterfangen der Haftprüfungsverfahren näher untersucht. Wie agierte Thaw auf Basis seines bisherigen Prozesswissens darin und wie beeinflussten sie seinen Psychiatrieaufenthalt? Die zweite Perspektive fokussiert auf die Frage, wie Thaw sein Aufmerksamkeitskapital zu nutzen suchte, um sich der Deutungshoheit und gesellschaftlichen Exklusion der Psychiatrie zu entziehen. Im Zentrum der dritten stehen mediale Logiken: Wie versuchte Thaw mit seinem Vermögen und der Hilfe Dritter, diese der Anstalt aufzuzwingen, um deren medizinische Autorität herauszufordern und letztlich zu entmachten? Diese Entwicklungen während seiner Haftzeit fanden vor dem Hintergrund einer im Wesentlichen zweigeteilten Presselandschaft statt. Die konservative Presse stellte Thaw als Geisteskranken dar, dem es nur sein Vermögen erlaube, mit seinen Haftprüfungsverfahren regelmäßig die mediale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.38 Dagegen spielte die Sensationspresse mit Thaws Zustand: Während sie im zweiten 34 Vgl. Bödeker: Biographie, S. 58. 35 Thaw: Traitor, S. 36. 36 Vgl. Patientenakte von Harry Thaw (Feb. 2, 1908–Sept. 19., 1911), S. 1244-5 (Eintrag vom 1.2.1908), UC, Folder 7, Index A-B. 37 Vgl. O’Connor: Courtroom, S. 287. Zu den Urteilen vgl. People ex rel. Peabody v. Baker, 110 N. Y. Supp. 848 (1908) (59 Misc. Rep. 359), S. 851; People ex rel. Peabody v. Chanler, Sheriff et al., 117 N. Y. Supp. 322 (1909) (133 App. Div. 159); das des dritten Verfahrens war nicht auffindbar. 38 Vgl. Thaw a Homocidal Lunatic, in: Outlook. A Family Paper 92 (21.81909), S. 918-9, hier S. 918.

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Mordprozess seine Charakterisierung als Geisteskranken in den Vordergrund gerückt hatte, schwankte sie in den Folgejahren zwischen dieser Darstellung und einer empathischen Berichterstattung, die sie vor allem über seine Mutter – die zugleich eine eigene Medienpolitik betrieb  – einsteuerte.39 Dieser Schwebezustand zwischen verrücktem Exzentriker und Ehrenmörder gab Thaw den Spielraum, sich selbst über die Sensationspresse wieder verstärkt medial zu artikulieren. Das dominante Fremdbild des Patienten Die erste Perspektive fokussiert auf Thaws erfolglose Versuche, auf juristischem Wege der Anstalt zu entkommen. Seine Einweisung verortete ihn im Deutungsrahmen der Psychiatrie und geistiger Krankheiten, der mitbestimmte, wie sich die gerichtlichen Verhandlungen und die Berichterstattung über ihn entwickeln konnten. Die drei Haftprüfungen kennzeichnet ihre Serialität, glichen sie sich doch in ihrem Aufbau mit kontradiktorischen Expertenmeinungen und abschließender Abweisung von Thaws Antrag. In ihrer Gesamtschau zeigen sie, welche Bedeutung der High Society-Status von Thaw für die Verfahren hatte, welche juristischen und medialen Lernprozesse einzelne Prozessakteur*innen vollzogen und welche Wechselwirkungen zwischen Psychiatrieaufenthalt und Verfahren für Thaw bestanden. Im Zentrum der Haftprüfungen stand die »Kriminalitätsprophylaxe«40 und damit die Frage, ob sich an der medizinischen Beurteilung seines Zustands als gefährlicher Geisteskranker etwas geändert hatte. Dieses Thema war a priori stark von Harry Thaws Visibilität während des Medienskandals 1907 geprägt, die noch deutlich in die Wahrnehmung der Prozessteilnehmer*innen hineinspielte.41 Zudem hatte es sich William T. Jerome zur Aufgabe gemacht, Thaw in der Psychiatrie zu halten. Zuerst vertrat er noch als District Attorney, dann als Sonderermittler die Staatsanwaltschaft in den Haftprüfungsverfahren  – überzeugt von Thaws Schuld und im Widerstand gegen dessen finanzielle Möglichkeiten, sich frei zu klagen.42 Als Thaws Anwälte im Mai 1908, keine drei Monate nach seiner Einweisung, ihren Antrag auf Haftprüfung einreichten, widersetzten sie sich der Deutungshoheit der Institutspsychiater über Thaws Gesundheitszustand, anstatt deren erste Einschät39 Vgl. etwa Frugal Since He Was Sent to Mattewan, New York American, 8.8.1908, S. 2. 40 Urs Germann: Plausible Geschichten. Zur narrativen Qualität gerichtspsychiatrischer Gutachten um 1900, in: Alexa Geisthövel/Volker Hess (Hg.): Medizinisches Gutachten. Geschichte einer neuzeitlichen Praxis, Göttingen 2017, S. 318-39, hier S. 332; zur gleichen Entwicklung in den USA, vgl. Gould: Mismeasure, S. 170-1. 41 Vgl. Thaw Can Keep Up an Endless Fight, New York Times, 1.8.1909, S. 3; George I. Wooleey/ Raymond D. Thurber: Annual Meeting of the New York State Bar Association, in: Bench and Bar 20:2 (1910), S. 45-8, hier S. 46-7. 42 Vgl. O’Connor: Courtroom, S. 242. Zu dieser verbreiteten Kritik unter Juristen vgl. etwa Austin Flint: Methods of Dealing with the Criminal Insane – Defects in Present Methods and Suggested Remedies, in: Journal of the American Institute of Criminal Law and Criminology 17 (1910), S. 173-89, hier S. 180-2. psychiatrieaufenthalt als kampf um deutungshoheit(-en)

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zung abzuwarten. Die Erfolgsaussichten waren dabei alles andere als eindeutig: Zumindest einer der Gerichtsgutachter hatte Thaw mit der dementia praecox eine unheilbare Krankheit diagnostiziert und auch die anderen Diagnosen reichten von leichten bis schweren Psychosen. In Anbetracht der zeitgenössischen Kontroversen, welche (schweren) Geisteskrankheiten überhaupt therapierbar waren,43 schien ein Genesungsbescheid grundsätzlich infrage zu stehen. Dennoch gab es etliche zeitgenössische Vergleichsfälle, in denen für nicht schuldfähig befundene und als geisteskrank eingewiesene Ehren- oder Rachemörder nach einigen Wochen oder Monaten in der Psychiatrie mit Haftprüfungsverfahren freigekommen waren. Der Vorstoß schien also nicht völlig abwegig.44 Thaws Verteidigerteam, im Vergleich zu Jerome schlecht vorbereitet, beging die gleichen Fehler, die im Jahr zuvor die Experten massiv delegitimiert hatten: Um Thaws Gesundung zu bestätigten, präsentierten sie verschiedenste Zeugen, wie Laien, Allgemein- oder Zahnärzte sowie  – erneut  – Britton Evans. Entsprechend einfach konnte Jerome sie als unglaubwürdig oder unqualifiziert darstellen. So etwa bei Evans, der zum vierten Mal seine Einschätzung über Thaw änderte und ihn diesmal für gesund erklärte.45 Dagegen berief Jerome in jedem der Haftprüfungsverfahren hochkarätige Gutachter, wie den ehemaligen Oberaufseher der staatlichen Psychiatrien in New York State, den Psychiater Carlos F. MacDonald (1845-1926), die zum Urteilsspruch kongruente Bewertungen abgaben.46 Zentral war aber, dass er die Anstaltspsychiater ins Zentrum rückte – ein Trumpf, dem selbst Thaws angepasste Expertenstrategie in den Verhandlungen der Jahre 1909 und 1912 nicht begegnen konnte. In diesen Verfahren hatte er selbst sich für kohärente Gutachteraussagen eingesetzt und renommierte Psychiater für sich gewinnen können, wie Adolf Meyer (1866-1950), Professor und erster Direktor der Psychiatrie des Johns Hopkins Hospital,47 der sogar auf ein Honorar verzichtete, um seine Unabhängigkeit zu demonstrieren.48 Auf Grundlage ausführlicher Patientengespräche stellten die Ärzte 43 Vgl. etwa die Debatte um dementia praecox in Noll: American Madness, S. 66-7, 150, 258-9. 44 So der Fall bei dem Wallstreet-Broker Richard Preusser, der bei einem Glücksspiel sein Gegenüber erschossen und erfolgreich auf geisteskrank plädiert hatte, woraufhin er nach wenigen Wochen im Juni 1906 wieder freigekommen war, vgl. den expliziten Bezug in Harry Thaw Must Not Stay In Asylum, His Mother Orders, Evening World, 5.2.1908, S. 1-2, hier S. 2; vgl. ausführlich in Baatz: Girl, S. 219-20. 45 Vgl. Thaw’s Opening in  Fight for Freedom Takes Only One Day, Evening World, 14.5.1908, S. 1-2, hier S. 2; Jerome Expects to Gain Thaw Into a Maniac Frenzy, Evening World, 16.5.1908, S. 2. 46 Vgl. Can’t Cure Thaw, Dr. MacDonald’s Opinion on Stand, Evening World, 3.7.1912, S. 1. 47 Vgl. Noll: American Madness, S. 10; zu seiner Bedeutung ebd., S. 36-48. 48 Vgl. Brief von Adolf Meyer an Mary Copley Thaw (4.3.1920), JHMI, AMCMA, Meyer Collection, Box 500690, Folder 14; Eugene O’Dunne: The Doctor as a Witness, in: Medical Clinics of North America. Baltimore Number 25:2 (Mär. 1941), S. 303-11, hier S. 311. Noch 1908 scheiterte Thaw mit seiner Forderung nach einheitlichen Expertenaussagen an seinen Anwälten, vgl.

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wissenschaftlich ausführlich begründete Diagnosen.49 Doch lag die entscheidende Interpretationsmacht bei den Anstaltspsychiatern. Wie Michel Foucault feststellte, schuf ihre wissenschaftlich begründete und aktenmäßig plausibilisierte »biographische Einheit«50 der Patient*innen eine parallel zur jeweiligen Person existierende Konstruktion des »abnormal[en Individuums]«.51 Da darauf sowohl staatliche Behörden als auch die Justiz immer wieder referierten, verstetigten sich diese Zuschreibungen.52 So auch in Thaws Fall: Auf Basis der wissenschaftlichen Autorität seiner Patientenakte und mit institutioneller Legitimation erklärte Amos Baker, leitender Psychiater aus Matteawan, Thaw in den Jahren 1908 und 1909 zum weiterhin gefährlichen Geisteskranken.53 Seine Zugehörigkeit zum Anstaltssystem wurde nun im Gegensatz zu seinen vorangegangenen Strafverfahren »als prima facie-Beweis dafür gewertet, dass er geisteskrank«54 sei.55 Entsprechend lehnten die vorsitzenden Richter beide Male seinen Antrag auf Freilassung ab. Daran hatten zudem Details über Thaws sexuelle Privatsphäre ihren Anteil. Im zweiten Haftprüfungsverfahren 1909 schilderte die Zeugin Susan A. Merrill der Staatsanwaltschaft, dass Thaw 1903 in ihrem New Yorker Haus Räume angemietet hatte, in denen er bis 1906 knapp 200 junge Frauen zu Besuch gehabt und eine Vielzahl von ihnen ausgepeitscht habe. Um deren Aussagen während seiner Mordverfahren zu verhindern, habe sie in Thaws Auftrag den Frauen rund 30.000-40.000 Dollar Schweigegeld bezahlt (heute rund 1.02-1.36 Mio. Dollar).56 Sie verifizierte Sexualpraktiken, die bis dahin nur als Gerüchte über Thaw kursierten.57 Zwar räumte Merrill vier Jahre später ein, die Zahlen deutlich übertrieben zu haben,58

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Brief von Harry Thaw an Russell Peabody [Jun.-Jul. 1908], FAMFMRL, Harry Thaw Collection (1890-1914), Coll. No. 131, Box 1, Folder 6, Sig. NM-27.67 (2). Vgl. Thaw Threat Let In; Said He’d Kill Wife, New York Times, 16.7.1909, S. 3; Sane, Says Alienist Engaged by Thaw, New York Times, 9.7.1912, S. 3; zu den Untersuchungen vgl. etwa Plans and Possibilities, in: Notes on H. K. Thaw’s Poughkeepsie Trial, not dated [1912], JHMI, AMCMA, Meyer Collection, Box 500690, Folder 9. Foucault: Überwachen, S. 327. Ders.: Abnormal, S. 163. Vgl. ebd., S. 32-4, 38-40. Vgl. Jerome Closes His Case. Thaw to Tell His Story On Stand, Evening World, 15.5.1908, S. 1-2, hier S. 2; Jerome Asks Thaw to Explain a Letter, New York Times, 4.8.1909, S. 14. Goffman: Asyle, S. 361. Vgl. Christine Wolters/Christof Beyer/Brigitte Lohff: Abweichung und Normalität als Problem der Psychiatrie im 20. Jahrhundert, in: dies. (Hg.): Abweichung und Normalität. Psychiatrie in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Deutschen Einheit, Bielefeld 2012, S. 9-23, hier S. 13. Vgl. Thaw Flogged Girls, a Woman Testifies, New York Times, 28.7.1909, S. 1-2. Vgl. Horsewhipped by Thaw, She Declared, Demanded $20.000, and Called Him Maniac, New York American, 14.7.1906. 1912 gestand Susan Merrill eidesstattlich ein, nur rund 1.000 Dollar (heute rund 34.000 Dollar) an »woman said to have been connected with Thaw« verteilt zu haben, vgl. Assistant District Attorney James Ely Affidavit, 1.8.1912, UC, Folder 1, Index T. Es gibt genug Anhaltspunkte, dass Thaw solche Sexualpraktiken ausübte, siehe etwa Resümee Anm. 14. Auch weißt seine Privat-

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doch schrieb ihre Aussage im Verfahren von 1909 Thaws »biographische Einheit« des sexuell »Abnormalen« fort.59 Dass zudem Evelyn Nesbit im Zeugenstand eingestehen musste, bei einem ihrer Besuche in Matteawan von ihrem Ehemann mit dem Tode bedroht worden zu sein,60 ließ sich ebenfalls schlüssig integrieren. Dieses Bild mussten die Psychiater der Staatsanwaltschaft in ihren Aussagen nur mehr abrufen, um Thaw weiter in der Psychiatrie zu halten.61 War die öffentliche Thematisierung sexueller Intimität 1907 noch skandalös gewesen und hatte für die Thaws zum Kontrollverlust geführt, bedeutete die verschobene Grenze ihrer Privatheit, dass diese Themen ihr tabuisiertes Skandalpotenzial als Nachrichtenwerte einbüßten. Der Sensationseffekt wich einer langsamen Norma­ lisierung und wurde Teil ihrer öffentlichen Wahrnehmung. Entsprechend waren die neuen Einblicke in Thaws Sexualleben laut Collier’s Weekly nur mehr weitere »noisome details of that degrading episode«.62 Im letzten Haftprüfungsverfahren im Sommer 1912 hatte sich das Bild von Thaw als gefährlichem Geisteskranken bereits verselbstständigt, wie sich ex negativo an den Gutachten zeigt: Diesmal erklärten Thaw nicht nur seine eigenen Psychiater für gesund, sondern auch das neue Leitungsteam aus Matteawan, Dr. John W. Russell und Dr. Roy D. Leak, attestierte ihm nur mehr eine leichte und im Wesentlichen harmlose »constitutional inferiority«.63 Diese Diagnosen passten jedoch nicht zur Vorstellung des vorsitzenden Richters Martin Keoghs, sodass dieser selbst in die Befragung der Anstaltspsychiater eingriff und Dr. Russell dazu brachte, seine Aussage letztlich in Teilen zu relativieren.64 Hinzu kam, dass Evelyn Nesbit erstmals für die Staatsanwaltschaft gegen ihren Mann aussagte. Kurz zuvor hatte sie mit ihm und seiner Familie im Streit über Unterhaltszahlungen und Vorwürfen der Untreue öffentlich gebrochen,65 sodass sie

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korrespondenz während seiner Europareisen daraufhin, dass er – parallel zu Stanford White – Sexualkontakte mit Minderjährigen hatte, vgl. Briefe von Minnie Newbold/Kentworth an Harry Thaw (20.11., 10.12., 11.[12.], 31.12.1901, 3.1., 3.7.1902), UC, Container 3. Thaws sexuelle Ambivalenz aus erotischer Lust in Verbindung mit Macht und Gewalt sowie sein Überschreiten von Geschlechtergrenzen, etwa beim Misshandeln eines Pagen in London, kontrastierten mit seiner Selbstinszenierung als Verteidiger von Mittelklassewerten. Entsprechend überzeugend ist Martha Umphreys Zuschreibung von Thaw als queer, da sich seine sexuelle Orientierung klaren Zuordnungen entzog, instabil schien und zugleich im gesellschaftlichen Kontext als deviant angesehen wurde, vgl. dies.: The Trouble with Harry Thaw, in: Radical History Review 62 (1995), S. 9-23, hier S. 14-6, 18. Vgl. Thaw: Testimony of Evelyn Nesbit Thaw (Jul. 15, 1909), S. 4-5, CPP, HLM, Charles K. Mills Compiler, 10d 24. Vgl. Justice Mills Sends Thaw Back to Matteawan Hospital, New York Times, 13.8.1909, S. 12. What the World is Doing, in: Collier’s Weekly 43:21 (14.8.1909), S. 22. Sane But ›Inferior‹, Doctor Says of Thaw, New York Times, 18.6.1912, S. 22; Sane, Says Alienist Engaged by Thaw, New York Times, 9.7.1912, S. 3. Vgl. Thaw Is Dangerous, His Alienists Admit, New York Times, 10.7.1912, S. 18. Vgl. dazu detaillierter in Kap. III.2.1. harry thaws medialisierter psychiatrieaufenthalt

kein Interesse mehr daran hatte, Harry Thaw mit ihrer Aussage weiterhin zu decken. Stattdessen gab sie neue Einblicke in ihr gemeinsames Intimleben als Liebes- und Ehepaar, wobei sie ihn als gewalttätigen, drogenabhängigen und perversen Partner beschrieb.66 Durch diese Enthüllungen verlor Nesbit zwar eigentlich ihre Glaubwürdigkeit als Zeugin, womit sie sich im Dispositiv des amerikanischen Rechtssystems, das stets auf die Erschütterung der Glaubwürdigkeit der gegnerischen Zeug*innen aus ist, massiv angreifbar machte.67 Trotz dieses prozessualen Nachteils für die Staatsanwaltschaft und positiver Gutachterbescheide beider Prozessfraktionen über Thaws Zustand zeigte sich, dass Nesbits (Laien-)Aussage das über fünf Jahre hinweg erzeugte Bild von Thaw als gefährlichen Geisteskranken erneut aktivierte und ihn zurück nach Matteawan führte.68 Thaws Psychiatrieeinweisung führte für ihn zur Beweislastumkehr, während die Länge seiner Haft immer stärker seine Bemühung behinderte, als gesund befunden zu werden. Dabei bekamen seine Gutachterteams zwar im Laufe der drei Verfahren die Problematik der verschiedenen Diagnosen und letztlich auch die Gegenmeinung in den Griff, doch delegitimierten ihn stattdessen wiederholt die Einblicke in seine intime Privatheit. Am Ende bestätigten diese eins ums andere Mal den klinischen Blick auf ihn als Psychiatriepatient. Deutungshoheit durch Sichtbarkeit? Jenseits der Verfahren stellt sich aus einer zweiten Perspektive die Frage, wie Thaw sein Aufmerksamkeitskapital einzusetzen versuchte, um inner- und außerhalb der Psychiatrie die Deutungshoheit über seine Person zu erlangen. Das bedeutete im Umkehrschluss, die (Deutungs-)Macht der Psychiatrie als Institution und ihrer Mitarbeiter als Experten infrage zu stellen. Thaw stand jedoch zuerst vor dem Problem der Flüchtigkeit medialer Aufmerksamkeit, die er aufgrund seiner räumlichen Absenz aus New York nur mehr schlaglichtartig generieren konnte. Daher wechselten sich Phasen stärkerer Sichtbarkeit, etwa in den Haftprüfungsverfahren, mit längeren Perioden medialer Unsichtbarkeit ab. Innerhalb der Anstalt versuchte Harry Thaw zu Beginn, neben einem eigenen Zimmer weitere Sonderbehandlungen wie Whiskey oder Zigarren einzufordern, verbunden mit der Drohung, dies im Falle der Verweigerung publik zu machen.69 Überdies forderte er Handlungsmacht ein, wenn er Schokoladen-Eclairs für das Anstaltspersonal liefern, einen Klavierstimmer anreisen oder Briefe aus Matteawan an

66 Vgl. Thaw Snubs Wife, a Hostile Witness, New York Times, 20.6.1912, S. 24. 67 Vgl. Daniel Markovits: A Modern Legal Ethics. Adversary Advocacy in a Democratic Age, Princeton 2010, S. 45-8. 68 Vgl. Thaw Sent Back to Matteawan, New York Times, 27.7.1912, S. 16. 69 Vgl. Patientenakte von Harry Thaw (Feb. 2, 1908–Sept. 19., 1911), S. 1247 (Eintrag vom 2.2.1908), UC, Folder 7, Index A-B. psychiatrieaufenthalt als kampf um deutungshoheit(-en)

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die Presse schmuggeln ließ.70 Während der Institutsleiter Robert Lamb derartige, die Anstaltsgrenzen überwindende Ermächtigungsversuche unterband, erleichterte er anfangs Thaws Haftbedingungen. Ob dies als Erfolg der angedrohten Medialisierung gewertet werden kann oder die Privilegien eine Folge der »soziale[n] Ungleichheit von Krankheit«71 war, die Thaw wegen seiner Abstammung aus der Upper Class erhielt, muss offenbleiben. Doch da sowohl die therapeutische als auch die strafende Kompetenz in Händen der Anstaltspsychiater lag,72 nutzte Lamb diese Privilegien umgekehrt als Disziplinierungsmaßnahmen gegen Thaw: Nach seinem eigenmächtigen Antrag auf Haftprüfung, womit er die medizinische Kompetenz der Institutsmediziner anzweifelte, entzog Lamb ihm seine Privilegien und versuchte, ihn insgesamt stärker dem institutionellen Regime zu unterwerfen.73 Zugleich legte er ihm diese Forderung vor Gericht als deviantes, medizinisch auffälliges Verhalten aus, mit den bekannten Folgen seiner fortdauernden Einweisung in die Anstalt.74 Hier zeigte sich ein Nachteil des Aufmerksamkeitskapitals: Thaw hatte es dazu verleitet, seine (mediale) Handlungsmacht zu überschätzen. Während der Gerichtstermine außerhalb der Anstalt konnte Harry Thaw die Aufmerksamkeit von Medienvertreter*innen auf sich ziehen und zur Selbstinszenierung nutzen.75 Dann öffnete ihm sein High Society-Status Möglichkeitsräume, die anderen Häftlingen versperrt blieben.76 Bei seinem ersten Haftprüfungsprozess wählte er Reporter ihm wohlgesinnter Tageszeitungen wie der New York World aus, um ihnen Einblicke in seine luxuriöse Unterbringung in den Privaträumen des Sheriffs von Dutchess County in Poughkeepsie, New York, zu geben. Dort war er untergebracht worden, da ihn der Sheriff, mutmaßlich aufgrund der Berichterstattung, nicht als gefährlich erachtete und standesgemäß versorgen wollte.77 Die Evening 70 Vgl. ebd., S. 1257 (Eintrag vom 25.2.1908); zum Klavierstimmer vlg. Jerome Closes His Case. Thaw to Tell His Story On Stand, Evening World, 15.5.1908, S. 1-2, hier S. 2; zu den Briefen vgl. Richard J. Butler/Joseph Driscoll: »Dock Walloper«. The Story of »Big Dick« Butler, New York 1933, S. 156. 71 Gunnar Stollberg: Gesundheit und Krankheit als soziales Problem, in: Günter Albrecht/Axel Groenemeyer (Hg.): Handbuch soziale Probleme. Bd. 1, 2 Bde., 2., überarb. Aufl., Wiesbaden 2012, S. 624-67, hier S. 648. 72 Vgl. Erickson/Erickson: Crime, S. 7-9. 73 Siehe Anm. 29 auf S. 341 und Henry Kendall Thaw vs. Evelyn Nesbit Thaw, No. 1319 Oct. Term, 1915: Transcript of Official Notes of Testimony, S. 7, Fifth Judicial District of Pennsylvania, Department of Court Records. 74 Vgl. Jerome Closes His Case. Thaw to Tell His Story On Stand, Evening World, 15.5.1908, S. 1-2. 75 Neben seinen Haftprüfungsverfahren nahm Thaw zwischen 1908 und 1913 an mindestens fünf weiteren Prozessen – von oder gegen seine Mutter – teil, die ihn für teils mehrere Wochen aus der Anstalt führten. 76 Vgl. Automobile and Library All Thaw Wants Now, Evening World, 7.5.1908, S. 10. 77 Vgl. Thaw Living Like a Prince in Sky Parlor, Evening World, 6.5.1908, S. 2.

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Abb. 47: Harry Thaw im Bezirksgefängnis des Dutchess County in Poughkeepsie (Sept. 1908).

World berichtete vom »roof garden, gymnasium, art gallery, library and sleeping room«78 sowie einem Butler, die Thaw zur Verfügung standen. Das konfligierte mit seiner Haft in Matteawan und zeichnete stattdessen das Bild eines gesunden Mannes. Dies suchte Thaw auch selbst zu untermauern, indem er sich als fälschlich Inhaftierten unter Geisteskranken beschrieb und sich in engem Kontakt mit Reportern als voll zurechnungsfähig und siegessicher inszenierte.79 Während seine Psychiatrieeinweisung gerade seine Handlungmacht beschnitt, konnte Thaw diese über die mediale Aufmerksamkeit erneut einfordern, da er selbst entscheiden konnte, wie und ob er sich sichtbar machte. So weigerte er sich, in unerwünschten Momenten fotografiert zu werden,80 öffnete aber seine Privatheit, wenn er meinte, damit auf die Berichterstattung einwirken zu können. Besonders deutlich wird das an der Aufnahme aus dem Bezirksgefängnis in Poughkeepsie, wo er im September 1908 einige Wochen verbrachte (Abb. 47). Die Fotografie zeigt Thaw bei einem opulenten, auf weißer Tischdecke angerichteten Frühstück. In Ver78 Ebd. 79 Vgl. ebd; Thaw’s Mother Sees Him, New York Times, 6.5.1908, S. 5; Thaw Must Go Back to Asylum at Matteawan, Evening World, 12.6.1908, S. 4. 80 Vgl. Thaw’s Case Goes Over; He Escapes Asylum By Delay, Evening World, 4.5.1908, S. 2. psychiatrieaufenthalt als kampf um deutungshoheit(-en)

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Abb. 48: Alice Thaw mit abgeschirmtem Gesicht neben Harry Thaw (li.) sowie Josiah Thaw und die stark verschleierte Mary Copley Thaw (re.) in White Plains, New York (ca. Jul. 1909). Auf der linken Fotografie ist irechts im Hintergrund ein Fotograf, auf dem linken Zuschauer sichtbar, wodurch die Grenzen zwischen High Society, Reporter*innen und Publika zu verschwimmen begannen.

bindung mit der im Hintergrund sorgsam aufgereihten Wäsche und dem ordentlich gemachten Bett vermittelt seine Haltung am Esstisch einen Eindruck von Normalität. Einzig die Gitterzelle kontrastiert damit, verstärkt jedoch eher den Eindruck von Thaws Deplatzierung, als dass sie Zweifel daran aufkommen lässt.81 Das 1908 im Mordprozess noch mit Illustrationen vermittelte Bild von Thaw als Geisteskrankem war durch den Einsatz von Fotografien schwieriger aufrechtzuerhalten. Zwar ließen auch diese mehrdeutige Interpretationen zu, doch vermittelten sie nicht mehr so eindeutige Botschaften wie Zeichnungen. Letztere waren bis 1910 in der Presseberichterstattung weitgehend durch Fotografien abgelöst worden,82 sodass über sie eine immer stärkere Auseinandersetzung mit dem scheinbar authentisch aufgenommenen Thaw möglich wurde. Das bezeugt der immer stärkere Medialisierungsdruck, den Presse, Bildagenturen und Fotografen aufbauten. So schickte etwa die New Yorker Agentur George G. Bain, die 1905 bereits ein Archiv mit einer Million Negativen besaß,83 ihre Mitarbeiter 1909 zum Haftprüfungsverfahren nach White Plains, um die Prozessprotagonist*innen abzulichten.84 Dabei zeigten sich erneut Visualisierungsstrategien von Thaw und seiner Familie. Die Atlanta Constitution stellte fest, dass »Thaw and all his relatives are particularly averse to being photographed.«85 Im Kontext der Prozessaussage über seine sadomasochistischen Praktiken passte ihre Verweigerungshaltung zu den Prozessinhalten (Abb. 48): Thaw selbst bestritt die Geschichten rundheraus und lies sich fotografieren, während sie für seine Familie äußerst despek81 Assoziationen mit einer Henkersmahlzeit erscheinen im Kontext des Haftprüfungsverfahren als eher unwahrscheinlich. 82 Vgl. Harris: Iconography, S. 317. 83 Vgl. Carlebach: Photojournalism, S. 34-5. 84 Vgl. Abb. 48. 85 Snapshots at Thaw Insanity Hearing Harry Thaw, His Wife, Mother and Others, Atlanta Constitution, 24.7.1909.

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tierlich waren und sich seine Schwester und Mutter entsprechend abschirmten.86 Dagegen zeigen Aufnahmen von 1912, dass die Thaws, nun vor dem Hintergrund des positiv verlaufenden Prozesses, ihre Sichtbarmachung gestatteten.87 Vor allem Harry Thaw ermöglichten Fotografien, sein Fremdbild als Geisteskranker infrage zu stellen. Dies zeigte sich bereits 1909, als es gestattet wurde, im Gerichtssaal zu fotografieren, was passende Fotografien zu Thaws avisiertem Selbstbild produzierte (Abb. 49): Sie zeigen einen auf den Prozess fokussierten und im Zeugenstand entspannt wirkenden Thaw, womit sie ein gänzlich anderes Bild als die Zeichnungen während der Skandalprozesse vermitteln. Dies kann als Professionalisierung Thaws betrachtet werden, der aus der Selbstbeobachtung während der beiden Strafprozesse 1907/8, in denen sein Auftreten zu Irritationen über seinen Geisteszustand geführt hatte, eine be- Abb. 49: Fotobericht über das Haftprüfungsverwusste Steuerung seines medialen fahren 1909, v.o.n.u.: Harry Thaw im Zeugenstand, Evelyn Nesbit im Gerichtsgebäude und Harry Selbstbildes durch seine Verhaltenswei- Thaw (mit Handfächer) umgeben von Juristen, sen folgerte. Die Zuschreibung als Geis- Medizinern und seiner Mutter. teskranker divergierte vom Eindruck aus den Fotografien; ein Umstand, der zeitgenössisch auch Kriminologie und Phrenologie vor neue Herausforderungen stellte.88 So wiesen Thaws Aufnahmen etwa keine Gemeinsamkeit mit denen Geisteskranker im Stile von Jean Martin Charcots Patientenbilder aus dem Hôpital de la Salpêtrière (1888) auf.89 Ebenso wenig glichen Abb. 49

86 So verließ etwa auch Thaws Schwägerin das Verfahren, vgl. Thaw Flogged Girls, a Woman Testifies, New York Times, 28.7.1909, S. 1-2, hier S. 1. 87 Vgl. Thaw Shakes Hands with  Jerome, Later Still Calls Him Crazy, New York American, 17.6.1912. 88 Vgl. Trotti: Murder, S. 404-5. 89 Vgl. Susanne Regener: Vom sprechenden zum stummen Bild. Zur Geschichte der psychiatrischen Fotografie, in: Marianne Schuller (Hg.): BildKörper. Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin, Hamburg 1998, S. 185-209, hier S. 194-5. psychiatrieaufenthalt als kampf um deutungshoheit(-en)

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sie jüngeren, stärker typisierenden Fotografien geistig Erkrankter in Fachmagazinen, Museen oder kriminologischen Diskursen, die zur Jahrhundertwende zur Pathologisierung und der Verbreitung bildlichen Wissens über (Geistes-)Krankheiten genutzt wurden.90 Doch beschränkte sich Thaw nicht darauf, lediglich seine Sichtbarmachung zu beeinflussen. Vielmehr nutzte er seine außerinstitutionellen Kontakte, wie seine Mutter oder Anwälte, um die Aufmerksamkeit der Medien zu erregen und dabei die Deutungshoheit der Anstalt über ihn zu unterminieren. So ermöglichte es ihm sein Aufmerksamkeitskapital, im Herbst 1908 in Leslie’s Weekly einen Aufsatz über seine Besteigung des Mont Blanc im Jahr 1900 zu veröffentlichen, der auf solches Interesse unter den Leser*innen stieß, dass ihn weitere Magazine publizierten.91 Den Aufsatz prägen Schilderungen von den Gefahren des Aufstiegs, Thaws Willensanstrengung und seines Gipfelerfolgs.92 Damit stand er in der Tradition zeitgenössischer Expeditionsberichte, die ein auf physischer und mentaler Kraft basierendes Männerbild propagierten.93 Indem Thaw seinen gesunden Körper und Geist beschrieb, erzeugte er ein kontrastierendes Bild zu seiner institutionellen Stigmatisierung als devianter und kranker Patient. Zudem fungierte Thaws Entourage aus Anwälten und Gutachtern sowie die familialen Akteur*innen als »Agenten der Inklusion«.94 Vor allem Mary Copley Thaw versuchte durch Öffentlichkeitsarbeit Druck auf die Anstalt und die Justiz aufzubauen,95 wozu sie 1908 extra nach Fishkill Landing umzog und damit ihr Fremdbild der idealen Mutter verfestigte.96 Im Jahr darauf veröffentlichte sie das zwanzigseitige Pamphlet »The Secret Unveiled« (1909), worin sie ihren Sohn als Justizopfer darstellt, die Willkür seiner Haft kritisiert und beides auf persönliche Motive Jeromes und Aversionen gegen Thaws Status und Vermögen zurückführt.97 Kurz vor Beginn seines zweiten Haftprüfungsverfahrens veröffentlicht, stellte dies laut New York Times einen neuen Höhepunkt in der bisherigen Öffentlichkeitsarbeit

90 Vgl. Jäger: Fotografie, S. 166-7; Regener: Bild, S. 192-3, 196-9, 208-9. 91 Ursprünglich publiziert in Leslie’s Weekly, 25.9.1908, dann reproduziert in Harry Kendall Thaw: A Beginner in the High Alps, in: Index 19:23 (5.12.1908), S. 18. Die angedachte Reihe weiterer Beiträge von Thaw schien sich nicht realisiert zu haben. Jedoch publizierte Thaw über seine Mutter eine weitere Alpingeschichte im Eigenverlag, die durch die thematische und narrative Ähnlichkeit wohl ebenfalls in diesem Zeitraum entstanden sein dürfte, vgl. ders.: The Gross Glockner, o. O. o. D., UC, Folder 4, Index T. 92 Vgl. Thaw: Beginner. 93 Vgl. Peter L. Bayers: Imperial Ascent. Mountaineering, Masculinity, and Empire, Boulder 2010, S. 17-9, 23-5. 94 Gründler: Exklusion/Inklusion, S. 273. 95 Vgl. Thaw to Stay at Poughkeepsie Two Weeks More, Evening World, 29.6.1908, S. 2. 96 Vgl. Mrs. Thaw at Matteawan, New York Times, 13.11.1908, S. 2. 97 Vgl. Mary Copley Thaw: The Secret Unveiled: A Pamphlet, Pittsburgh 1909.

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der Thaws dar.98 Letztlich führte sie mit der Publikation aber konsequent Media­ lisierungsstrategien fort, die ihre Familie im Laufe der Vorverurteilungsphase und des ersten Mordprozesses mit großem Rezeptionserfolg entwickelt hatte, wie etwa die Finanzierung von Benjamin Atwells »The Great Harry Thaw Case« (1907). Zwar konnte das Pamphlet vorerst kein mediales Momentum für das Verfahren aufbauen, da es von den Prozessbeteiligten nicht thematisiert wurde, doch schien sich in gewissen Teilöffentlichkeiten zunehmend die Gewissheit zu verbreiten, Thaw werde unrechtmäßig in Matteawan festgehalten.99 Ähnlich wirkmächtig war Mary Copley Thaws mediales Handeln zwei Jahre später, als sie sich erstmals zu einem Interview bereiterklärte. Dazu wählte sie Nixola Greeley-Smith aus, die gegenüber Harry Thaw positiv eingestellte Reporterin der New York World. Diese interviewte sie über die Beziehung zu ihrem Sohn, wobei die Schilderungen der emotionalen Kosten und Belastungen Nahbarkeit und Mitleid erzeugten. Das Urteil Greeley-Smiths lautete, dass Mary Copley Thaws Leidensweg sie zu einer »true Madonna«100 mache. Mit dem Interview hatte Mary Copley Thaw ihr bisheriges Upper Class-Verhalten negiert und Medialisierungsstrategien der High Society adaptiert, um nicht nur ein christliches Opfernarrativ von sich zu erzeugen, sondern zugleich ein empathisches Bild ihres Sohnes zu lancieren. Dieses Verhalten lässt vermuten, dass ihr Wirken für ihren Sohn über das medial Sichtbare hinausging, was sich jedoch aufgrund der Quellenlage nicht mehr rekonstruieren lässt.101 An ihrem Beispiel zeigt sich, dass Dritte sowohl auf sozialer Ebene als auch in der medialen Öffentlichkeit den Kontakt zu Thaw aufrechterhalten konnten, womit sie ihn weiterhin gesellschaftlich inkludierten und ihm regelmäßig die Aufmerksamkeit der Medien zu sichern wussten.102 Diese Medialisierungsversuche galten allerdings nach der Anstaltslogik als deviante Versuche der Selbstbehauptung und hatten die oben beschriebenen, anstaltsinternen Konsequenzen. Dennoch verliehen sie Harry Thaw teilweise Deutungsmacht über seine Person, wie der Blick auf Teilöffentlichkeiten vermuten lässt: So erhielt er während seines letzten Haftprüfungsverfahrens 1912 eine Vielzahl an Zuschriften aus verschiedenen Landesteilen. Die darin geäußerten Sympathiebekundungen basierten auf den von Thaw und seiner Mutter lancierten sowie von Teilen der Medien übernommenen Narrativen: Während einige Bürger*innen seine Gesundheit beteuerten, erschien er anderen als Opfer eines rachsüchtigen Justizapparats und eine 98 Vgl. The Thaw Pamphlet, New York Times, 23.7.1909, S. 6. 99 Vgl. Flood of Letters for Thaw, New York Times, 17.8.1909. 100 Nixola Greeley-Smith: Story of Five Years’ Steadfast Devotion to Harry Thaw Now is Told by His Wonderfully Optimistic Mother, Evening World, 22.7.1911, S. 3. 101 So enthält ihr Nachlass kaum Unterlagen bezüglich Harry Thaw, vgl. Wives of Wm Thaw: Mary Copley Thaw (1876-1924), SJHHC, DLAD, MSS #29, Box 7, Folder 4. 102 Vgl. etwa Thaw’s Mother Aids Fight for Freedom, New York Times, 4.5.1908, S. 1. psychiatrieaufenthalt als kampf um deutungshoheit(-en)

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dritte Gruppe pochte auf die Deutung als Ehrenmord und das unwritten law.103 So schrieb eine Jeannette C. Maas im Juli 1912: »I think you were a foolish boy – but there are hundreds worse than you – and you have learned your lesson – in fact I think you have had more than you deserved.«104 Thaws mediale und juristische Inszenierungsstrategien stießen bei bestimmten Leser*innen auf Akzeptanz, die trotz der exkludierenden Wirkung der Psychiatrie und der damit einhergehenden Stigmatisierung weiter Interesse an seiner Person hegten. Dennoch schien nach der zweiten gescheiterten Haftprüfung im Jahr 1909 die gesellschaftliche Exklusionswirkung der Haft an Bedeutung zu gewinnen: So berichtete Nixola Greeley-Smith im Sommer 1911 in einem emotionalen Kommentar über den anhaltenden, jedoch erfolglosen Kampf von Mutter und Sohn um seine Freilassung. Deren eigentliches Problem sei das mediale Desinteresse: »The Thaw trial is a dead and almost forgotten issue.«105 Doch lag sie damit falsch – die Thaws hatten lediglich ihre Taktik geändert. Medialisierung der Psychiatrie Die dritte Perspektive gilt dem Beziehungsgeflecht, das zwischen Harry Thaws Psychiatrieaufenthalt, der Handlungsmacht, die mit seinem Vermögen einherging, und der medialen Sichtbarkeit bestand. Wie bereits festgestellt, war finanzielles Kapital nach wie vor zentral, um Teil der High Society zu werden und zu bleiben. Ebenso half es, die Stigmatisierung von Psychiatrieaufenthalten zu vermeiden. Wohlhabende ließen sich gesellschaftlich akzeptierte Krankheitsbilder wie Neurasthenie diagnostizieren und sich in privaten Sanatorien behandeln.106 Die (finanzielle) Handlungsmacht außerhalb der Psychiatrie reichte somit in die Anstalten hinein. In Thaws Fall verhinderte seine Visibilität diesen finanziellen Ausweg nicht nur, indem sie ein derartiges Arrangement verhinderte,107 sondern schadete ihm in seinem Psychiatriealltag und den Haftprüfungsverfahren mehr, als dass sie ihm nützte. Wie beschrieben, forderte er damit die Deutungshoheit der Anstalt sichtbar heraus.108 Daher versuchte Thaw nach dem gescheiterten zweiten juristischen Anlauf, die bis-

103 Vgl. Briefe an Harry Thaw in White Plains (1912), UC, Folder 1, Index W. 104 Brief von Jeannette C. Maas an Harry Thaw (17.7.1912), UC, Folder 1, Index W. 105 Nixola Greeley-Smith: Harry Thaw’s Mother and C. W. Morse’s Wife Refute Stabs on Foreign Fault-Finders by Striking Devotion and Self-Sacrifice, Evening World, 26.6.1911. 106 Vgl. David G. Schuster: Neurasthenic Nation. America’s Search for Health, Happiness, and Comfort, 1869-1920, New Brunswick et al. 2011, S. 2-5, 7-8, 34-5. 107 Vgl. Thaw’s Wife At Asylum;  Agrees That He Remain, Evening World, 7.2.1908; Harry Thaw Doomed As Life Prisoner in Insane Asylum, Evening World, 24.2.1908, S. 2. 108 So erklärte es Thaw der leitende Psychiater Amos Baker bereits im zweiten Jahr seiner Haft, vgl. Erinnerungsprotokoll Harry Thaw über ein Gespräch mit Dr. Baker (28.10.1909), in: Notizen, S. 10, UC, Container 1.

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lang außerhalb der Anstalt gesuchte mediale Aufmerksamkeit für seine Person umzukehren und stattdessen die Psychiatrie medialen Logiken zu unterwerfen. Anfang 1911 finanzierten Harry und Mary Copley Thaw über einen Mittelsmann für mehrere Anstaltsinsass*innen Haftprüfungsverfahren. Sie beschieden ihnen allesamt ihre geistige Gesundheit und förderten skandalöse Patientengeschichten zu Tage. Das sich daraus entwickelnde mediale Momentum gegen die Haft- und Therapiebedingungen in Matteawan schürten Mutter und Sohn durch gezielte Presse­ arbeit, wobei Harry Thaw die nötigen Informationen aus der Psychiatrie lieferte.109 Für diese Taktik hatte er mit der Journalistin Nellie Bly (1864-1922) ein prominentes Vorbild, die sich 1887 für die New York World unter fingierten Gründen für zehn Tage in das New Yorker Women’s Lunatic Asylum hatte einweisen lassen. Ihr Bericht über die dortigen Zustände lösten einen Skandal aus, führten zu Reformen und machten sie gleichzeitig berühmt.110 Harry Thaws Versuch, sich medial als Obmann der unrechtmäßig Inhaftierten zu inszenieren und ähnliches Kapital daraus zu schlagen wie Bly, misslang jedoch. Ebenso blieben seine Versuche erfolglos, mit schriftlichen Einlassungen beim Gouverneur von New York State, John Alden Dix, Anerkennung für seine Beihilfe zur Aufdeckung der Zustände in Matteawan zu erhalten.111 Die Psychiatrie machte unterdessen weiter Schlagzeilen: Nachdem die Vertuschung des gewaltsamen Todesfalls eines Anstaltsinsassen bekannt wurde, stieg der mediale und bald auch politische Druck, die Situation in Matteawan aufzuklären. Gouverneur John A. Dix richtete im März 1911 einen Untersuchungsausschuss ein und beauftragte die staatliche Aufsichtsbehörde mit internen Ermittlungen. Paradoxerweise wurde dabei Anstaltsleiter Lamb seine institutionelle Deutungshoheit über Harry Thaw zum Verhängnis: Zwar berichteten sowohl er als auch Tageszeitungen darüber, dass Thaw hinter der Kampagne stecke,112 doch klang eine solche Agenda eines – laut Anstaltslogik – Geisteskranken absurd und verlief sich. Thaw war es gelungen, die »dunkle[n] Stellen«113 der Institution zu nutzen, die ihrer Aufmerksamkeit entgingen und damit eigensinnige Handlungs- und Sinnzuschreibungen durch die Insass*innen ermöglichen.114 In seinem Fall gestatteten sie ihm, dass er über die Anstaltsleitung schädliche Informationen sammelte und weitergab. 109 Vgl. Baatz: Girl, S. 244-9, 251; über Thaws Funktion als Informant vgl. etwa Asserts Thaw Upset Hospital Management, Evening World, 11.9.1911. 110 Vgl. Roggenkamp: Sympathy, S. 73-6, 84-101. 111 Vgl. Missing Witness Halts Probing of Matteawan Case, Evening World, 10.3.1911; Briefe von Harry Thaw an Gouverneur John A. Dix (24.2., 2.3.1911), in: New York (State) Attorney General’s Office.: People, S. 106-23 (= Exhibit 53). 112 Vgl. Asserts Thaw Upset Hospital Management, Evening World, 11.9.1911. 113 Jakob Tanner: Der »fremde Blick«:  Möglichkeiten und Grenzen der historischen  Beschreibung einer psychiatrischen Anstalt, in: Wulf Rössler/Paul Hoff (Hg.): Psychiatrie zwischen Autonomie und Zwang, Heidelberg 2005, S. 45-66, hier S. 62. 114 Vgl. ebd., S. 62-3. psychiatrieaufenthalt als kampf um deutungshoheit(-en)

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Die Ergebnisse der staatlichen Untersuchungen führten dazu, dass im Juli erst der Institutsleiter Robert Lamb zurücktrat, im August dann der medizinische Direktor, Amos Baker.115 Dies war das eigentliche Ziel der Thaws gewesen, da beide von Thaws Geisteskrankheit überzeugt gewesen waren und es vor allem mit Baker Konflikte und Schikanen in der Anstalt gegeben hatte.116 Das änderte sich unter der neuen Leitung, wodurch Thaw nicht nur mehr Freiräume wie Besuchstermine und verbesserte Haftbedingungen erhielt, sondern auch die Chancen auf eine Neubewertung seines Gesundheitszustands stiegen.117 Thaw war es letztlich gelungen, mit der gezielten Mobilisierung medialer Aufmerksamkeit die institutionellen Beschränkungen seiner Handlungsmacht zu umgehen: Er nutzte sein Vermögen und mediales Wissen, um die Presse als vierte Gewalt einzuschalten, indem er ihnen mit den Haftbedingungen eine Möglichkeit zur Skandalisierung bot.118 Auf diesem Wege hatte Thaw es geschafft, ein mediales und bürokratisches Momentum zu erzeugen, das die gewöhnlich nicht medialisierten inneren Abläufe der Anstalt sichtbar machte. Damit hatte er der Anstaltsleitung mediale Logiken aufgezwungen, an denen sie letztlich scheiterte. Unter dem neuen Institutsleiter, dem Psychiater John W. Russell, behielten die Thaws und ihr Verteidigerteam ihre geänderte Taktik minimaler Sichtbarkeit bei: Als die amerikanische Presse den Untergang der RMS Titanic im April 1912 zum Medienereignis aufbaute und für Wochen ihre Aufmerksamkeit darauf richtete,119 beantragten sie in dessen Schatten eine dritte Haftprüfung,120 vermutlich in der Hoffnung, so die Autorität der Psychiatrie nicht öffentlichkeitswirksam herauszufordern. Als auch dieses scheiterte, versuchten Harry Thaw und seine Mutter im November 1912 über einen Mittelsmann, den Institutsdirektor John W. Russell mit 25.000 Dollar zu bestechen (heute rund 788.000 Dollar).121 Das Vorhaben missglückte, und der Bestechungsprozess im Frühjahr 1913 diskreditierte Thaw wieder als klassischen Vertreter einer Oberschicht, die gesetzliche und moralische Restriktionen über-

115 Vgl. Baatz: Girl, S. 249. 116 Vgl. Erinnerungsprotokolle über Gespräche mit Dr. Baker (Einträge vom 3.1., 16.2., 20.2.1910), UC, Container 1. 117 Vgl. Patientenakte von Harry Thaw (Feb. 2, 1908–Sept. 19., 1911), S. 1318 (Eintrag vom 18.10.1911), UC, Folder 7, Index A-B. 118 Vgl. Alexander Schmidt-Gernig: Die Presse als ›vierte Gewalt‹? – Politischer Skandal und die Macht der Öffentlichkeit um 1900, in: Martin Kirsch/Anne G. Kosfeld/Pierangelo Schiera (Hg.): Der Verfassungsstaat vor der Heurausforderung der Massengesellschaft. Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich (= Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, 41), Berlin 2002, S. 169-93, hier S. 170-3, 180. 119 Vgl. Paul Heyer: Titanic Legacy. Disaster as Media Event and Myth, Westport 1995, S. 91. 120 Vgl. The Thaws Still Hopeful, Sun, 29.4.1912, S. 12. 121 Vgl. People v. Anhut, 148 N. Y. Supp. 7 (1914), (162 App. Div. 517).

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schritt122 – genau in einer Phase, als die Frage nach sozialer Ungerechtigkeit durch die klassenbedingten Überlebenschancen auf der RMS Titanic noch virulent war.123 Gemeinsam versuchten die Thaws, im Bestechungsprozess die Wogen zu glätten: Harry Thaw verweigerte vor Gericht die Aussage und versuchte im März 1913, mit einem Brief an den Herausgeber des New York Journal direkt auf die Berichterstattung einzuwirken und sich als Justizopfer darzustellen.124 Mary Copley Thaw schaltete parallel dazu einen Presseagenten ein und nahm vorsichtig mit dem neuen Gouverneur von New York State, William Sulzer, Kontakt auf, um die Möglichkeit einer Begnadigung auszuloten.125 Sie verband dabei mediales Handeln mit ihren Verhaltensweisen als Vertreterin einer Upper Class, die Stellung und Vermögen nutze, um politisch Einfluss geltend zu machen. Verglichen mit dem Beginn von Thaws Haftzeit handelten beide konzertiert und zielgerichtet an seiner Freilassung, indem sie sowohl an medialen wie administrativen Schaltstellen intervenierten. Zwar prägten Fehlschläge diese zweite Phase. Sie zeigten aber, dass Vermögen – mit seinen verschiedenen Kapitalsorten – verbunden mit der Medienkompetenz es Thaw erlaubten, die mit der Haft verbundene Handlungsohnmacht auszuhebeln. Thaw oszillierte während seiner Haft zwischen medialen Logiken der Sichtbarmachung und der ihn immer wieder dominierenden Deutungshoheit der Anstalt. Seine Freilassung scheiterte letztlich an drei Faktoren: Erstens konnten er und seine Gutachter die von der Psychiatrieeinweisung geprägte Patientenbiografie nicht entkräften, die durch wiederholte, entmächtigende Einblicke in seine Privatheit verstärkt wurde. Zugleich forderte er damit die Deutungshoheit der Anstaltsärzte heraus, was diese dazu veranlasste, umso deutlicher ihre Deutungsmacht über ihn einzufordern. Zweitens gab ihm zwar die mediale Aufmerksamkeit die Möglichkeit, sich als gesund zu inszenieren, was Sympathien in Teilöffentlichkeiten weckte, sich als Form der Selbstermächtigung jedoch negativ auf seine Situation als Psychiatrieinsasse auswirkte. Drittens ermöglichten ihm außerinstitutionelle Verbindungen in Kombination mit seiner finanziellen Handlungsmacht, Vorgänge in der Psychiatrie medial sichtbar zu machen. Die so gebrochene Macht der Anstaltsführung konnte er unter der neuen Leitung jedoch nicht in seine Freilassung ummünzen.

122 Vgl. New Sensations in Thaw Bribery, New York Times, 27.2.1913, S. 1-2. 123 Vgl. Steven Biel: Down with the Old Canoe. A Cultural History of the Titanic Disaster, New York 1996, S. 120-31. 124 Vgl. New Sensations in Thaw Bribery, New York Times, 27.2.1913, S. 1-2, hier S. 1 und Brief von Harry Thaw an Dr. Charles Kennedy (28.3.1913), HU, FACLM, Roy Leak Collection of Papers Relating to Harry K. Thaw, 1904-66 (inclusive), H MS c369, Correspondence (1911-13). 125 Vgl. Brief von Mary Copley Thaw an Gouverneur William Sulzer (1.3.1913), in: Harry K. Thaw 1910 (Part 2 of 2), NYSA, A0597-78, Box 72, Folder 32. psychiatrieaufenthalt als kampf um deutungshoheit(-en)

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1.2. »Why Don’t They Set Him Free?« Flucht als inszenierter Freiheitskampf (1913-5) In ihrer Abendausgabe des 17.  August 1913 titelte die Washington Times: »Harry Thaw Escapes from Matteawan Asylum in 80-Horsepower Automobile«.126 Des Morgens war Thaw durch das Portal der Haftanstalt geschlüpft, in einen bereitstehenden Wagen gestiegen und davongefahren. Alfred Henry Lewis, Reporter für das Zeitungsimperium von William Hearst, hatte für Harry Thaw den Kontakt zwischen Kriminellen aus dem New Yorker Meatpacking District und seiner Mutter als Geldgeberin hergestellt und geholfen, die Flucht zu organisieren.127 Nachdem Thaws bisherige Versuche, der Haft zu entkommen, gescheitert waren, entzog er sich nun räumlich der Anstalt.128 Nach einer schlecht geplanten zweitägigen Flucht durch New York State, Massachusetts und New Hampshire gelangte er über die Grenze nach Kanada, wo er durch sein unvorsichtiges öffentliches Auftreten erkannt und wegen illegaler Grenzüberschreitung festgenommen wurde.129 Mit der Flucht gelang es Thaw, erneut ein Medienspektakel zu erzeugen. Obwohl Kanada ihn nach rund einem Monat im Herbst 1913 zurück in die USA abschob, konnte Thaw – nun inhaftiert in New Hampshire – seine Freiheit von der Psychiatrie, die mediale Aufmerksamkeit und seine juristischen Optionen nutzten, um sich bis 1915 gegen das Auslieferungsgesuch des New York State zu erwehren. Für diesen Zeitraum gilt es zu fragen, wie er seine in den Jahren zuvor gewonnene Medienkompetenz und sein angesammeltes Aufmerksamkeitskapital einsetzte. Wie gingen Dritte mit seiner erneuten Sichtbarkeit um und wie etablierte er sich abermals als High Society-Mitglied respektive wie wurde er inszeniert? Dabei gehe ich von der These aus, dass Harry Thaw sich gezielt nahbar machte, um öffentliche Sympathien einzuwerben, wozu er nicht allein die Printmedien, sondern ein ganzes Medienensemble nutzte. Dabei demonstriert diese Phase, dass die populärkulturelle Rezeption von Harry Thaw während der Mordprozesse keine exzeptionelle Ausnahme war, sondern sich als Teil seiner Medialität einschrieb.

126 Harry Thaw Escapes from  Matteawan Asylum in 80-Horsepower Automobile, Washington Times, 17.8.1913, S. 1-2. 127 Vgl. Butler/Driscoll: Story, S. 154-61. 128 Vgl. Dagmar Hänel/Alois Unterkircher: Die Verräumlichung des Medikalen. Zur Einführung in den Band, in: Nicholas Eschenbruch/Dagmar Hänel/Alois Unterkircher (Hg.): Medikale Räume. Zur Interdependenz von Raum, Körper, Krankheit und Gesundheit, Bielefeld 2015, S. 7-20, hier S. 11-3. 129 Vgl. Thaw’s Dramatic Flight Across Border into Canada, Evening World, 19.8.1913, S. 2.

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Thaws mediale Handlungsmöglichkeiten in Kanada Im kanadischen Grenzstädtchen Sherbrooke saß Harry Thaw zwar seit seiner Flucht aus der Psychiatrie erneut in Haft. Er belegte jedoch, dass er seine Sichtbarkeit kontrollieren und professionell bespielen konnte. Was während der Mordverfahren 1907 und 1908 noch neu war, wurde nun alltägliche Praxis: die Intensität der medialen Aufmerksamkeit oder der Detailgrad der Berichterstattung, Inside-Stories und Interviews, Fotoreportagen oder Bild- und Nachrichtenagenturen, die ihre Fotografien und Berichte in den ganzen USA verbreiteten.130 In Verbindung mit Thaws moderaten Haftbedingungen erlaubte ihm dies, eine bislang ungekannte mediale Handlungsmacht zu erhalten. So ermöglichte ihm vor allem Hearsts New York American die Inszenierung als normaler Bür- Abb. 50: Harry Thaw im Gefängnis in Sherbrooke, Kanada. ger, der um seine Freiheit kämpfe. Fotografien aus dem Gefängnis, das als solches kaum zu erkennen war und ihn bei Tätigkeiten wie seiner täglichen Korrespondenz zeigten, normalisierten Thaw und schienen seinen Standpunkt zu belegen, als gesunder, nicht schuldig gesprochener Mitbürger unrechtmäßig verfolgt zu werden (Abb. 50). Dagegen erschienen die Gefechtsbereitschaft der New Yorker Behörden und ihre Behauptung, Thaw sei ein gefährlicher Geisteskranker, überzogen und übergriffig.131 Obwohl die Kritik an Thaws erneuter medialen Sichtbarkeit groß war,132 gestand ihm selbst die konservative Presse eine gewisse gesundheitliche Besserung nach sechs Jahren in der Psychiatrie zu. So stellte etwa das New York Times Magazine in einem ganzseitigen Sonntagsbeitrag über die Flucht fest: »Thaw may or may not be 130 Vgl. Charles Willis Thompson: Why Does Canada Make Such an Idol of a Man Like Thaw?, New York Times. Magazine Section, 7.9.1913, S. V.1. 131 Vgl. Thaw in Fright at Bold Plot of Jerome to Kidnap Him, New York American, 3.9.1913, S. 1. 132 Dies zeigt sich besonders an der Vielzahl der Karrikaturen, vgl. die Anthologie in The Flight of Harry Thaw from Matteawan, in: Cartoons Magazine 4:4 (1913), S. 405-11.

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crazy, but he is surely an egoist to the point of mania.«133 Diesen Egoismus bezog der Autor auf Thaws öffentliche Auftritte, an denen er sich abarbeitete. Sie seien von »cheering crowds«134 begleitet, deren Aufmerksamkeit Thaw ausgiebig zu genießen schien und die stellvertretend für eine über Kanada hinausgehende Sympathie für ihn standen.135 Diese Szenen verdeutlichen das Spektakel von Thaws Flucht auf der einen, die Folgen seiner doppelten Selbstermächtigung auf der anderen Seite: Erstens hatte er räumlich die Anstaltsgrenzen überwunden, zweitens ermöglichten ihm seine neuen, lockeren Haftbedingungen aktiven Austausch mit Medienvertreter­ *innen, wie er sie seit 1908 nicht mehr hatte betreiben können. Bereits während seiner Flucht hatte Harry Thaw gezeigt, welche Bedeutung er den Medien für deren Erfolg beimaß. So hielt er auf der Fluchtfahrt die Associated Press in Philadelphia über Anrufe auf dem Laufenden und gab in den knapp vier Wochen seiner Haft im kanadischen Sherbrooke fortlaufend Interviews, was ihm die Titelseiten sicherte und zugleich seiner Interpretation der Ereignisse großen Raum einräumte.136 War ihm diese mediale Interaktion zuvor institutionell versagt worden, erlaubte ihm der örtliche Sheriff, nun selbstständig darüber zu entscheiden. Folglich inszenierte sich Thaw als Justizopfer und gab emotionale Einblicke in seine Fluchtursachen, wie den Wunsch, seine Mutter erneut zu sehen oder ein zurückgezogenes Leben führen zu können.137 Mit dieser Agenda distanzierte er sich gezielt von den Vorwürfen gegen seinen früheren High Society-Lifestyle und bediente mit diesen human interest-Geschichten zugleich das Interesse der Gesellschaftsberichterstattung. Thaw wurde so vom internierten Geisteskranken zum nahbaren Gefühlsmenschen, vom extravaganten Lebemann zum gemäßigten Sohn. Unterdessen zeigte sich, dass mit Thaws erneuter Handlungsmacht die mediale Präsenz seiner Mutter, Mary Copley Thaw, völlig in den Hintergrund rückte. Zwar spielte sie als emotionaler Referenzpunkt für Thaw noch eine Rolle, doch konnte sie sich neben seiner medialen Agenda nicht behaupten.138 Evelyn Nesbit dagegen warnte vor der Gefahr, die von ihrem Ehemann ausgehen würde,139 und nutzte die damit einhergehende mediale Aufmerksamkeit zugleich für ihre eigenen Zwecke, wie das nächste Kapitel zeigen wird.

133 Charles Willis Thompson: Why Does Canada Make Such an Idol of a Man Like Thaw?, New York Times. Magazine Section, 7.9.1913, S. V.1. 134 Ebd. 135 Vgl. ebd; Popular Vote Would Free Thaw, New York American, 23.8.1913, S. 2. 136 Vgl. Butler/Driscoll: Story, S. 163; Thaw: Physical Examination (Nov. 16, 1913) and Memorandum Relating to Previous Examinations (Nov. 16, 1913), S. 1-3, CPP, HLM, Charles K. Mills Compiler, 10d 24. 137 Vgl. Evelyn Cause of His Dash, Thaw Says, Pittsburgh Gazette Times, 21.8.1913, S. 1. 138 Vgl. etwa Thaw’s Mother Weeps. Says, ›I Don’t Believe It‹, New York Tribune, 20.8.1913, S. 2. 139 Vgl. Evelyn Thaw Fears Death. ›I’ll Have to Kill You Next,‹ Husband Told Her, New York American, 18.8.1913, S. 3.

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Mit dem Film »The Unwritten Law« (1907) war die High Society erstmals filmisch inszeniert worden, wie in Kapitel II.4 gezeigt. Obwohl Thaw selbst mit der Darstellung unzufrieden gewesen war, hatte er vermutlich den Publikumseffekt des Stummfilms in Erinnerung behalten. Mit seiner neuen Entscheidungsfreiheit in Kanada gestattete er Hal Reid, Filmaufnahmen von ihm anzufertigen. Dieser hatte bereits das Thaw-freundliche Theaterstück »The Millionaire’s Revenge« (1906) geschrieben, und drehte nun den one-reeler »Harry K. Thaw’s Fight for Freedom in Canada«.140 Der verschollene, zwölfminütige Film zeigte Thaw in seiner Gefängniszelle, beim Essen und im Gespräch mit dem Regisseur.141 Derlei Aufnahmen waren nicht mehr ungewöhnlich. Zeitgleich entstand mit den ersten Dokumentarfilmen ein neues Genre, das erzieherische mit unterhaltenden Elementen verknüpfte und in den USA vor allem die Mittelschicht ansprach.142 Zugleich kann »Harry K. Thaw’s Fight for Freedom in Canada« in zeitgenössische Kurzfilme über renommierte Theater- und Filmdarsteller*innen eingereiht werden. Das Produktionsstudio Kinemacolor vertrieb etwa kolorierte Kurzfilme bekannter Broadwaydarsteller*innen und Autor*innen, wie Anna Held oder Richard Harding Davis. Sie zeigten deren Alltag, wie Anna Helds Besuch des Central Park Zoo, bei der sie Bonbons an Bisons und Affen verfütterte.143 Bei diesen dokumentarischen Aufnahmen stand ebenso wie bei dem Film über Thaw die Suggestion einer authentischen Lebenswirklichkeit der Akteur*innen im Zentrum, indem etwa bewusst auf Spannungsbögen verzichtet oder längere, handlungsarme Sequenzen gezeigt wurden.144 Dieses Musters bediente sich Harry Thaw, um performativ sein Selbstbild als Justizopfer und gesunder Mann zu vermitteln. Den entsprechenden Effekt des Films beschrieb der Filmkritiker Thomas Gray wie folgt: »After looking at the Thaw pictures it’s hard to tell whether Thaw is insane or not.«145 Hier zeigt sich die Ambivalenz der Filmaufnahmen. Da der Bildraum mit entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung der Filmszenerie hat, wie Werner Faulstich und Ricarda Strobel betonen,146 konnte Thaws intendierte Normalität vor dem Hintergrund der Gefängniszelle den Kritiker nicht ganz überzeugen. Gleichwohl versuchte der Film über die 140 »Harry K. Thaw’s Fight for Freedom in Canada, Kanada«, USA 1913, R: James Halleck »Hal« Reid, ca. 12 Min (verschollen). 141 Vgl. $1,500 for Thaw Film, in: Variety 32:2 (12.9.1913), S. 7. 142 Vgl. Charles Musser/Carol Nelson: High-Class Moving Pictures. Lyman H. Howe and the Forgotten Era of Traveling Exhibition, 1880-1920, Princeton 1991, S. 229-33. 143 Vgl. Anna Held in Movie Colors Is Kinemacolor’s Latest, in: Variety 32:2 (12.9.1913), S. 7. 144 Vgl. Heinz-Bernd Heller: Dokumentarfilm und Fernsehen. Probleme aus medienwissenschaftlicher Sicht und blinde Flecken, in: ders./Peter Zimmermann (Hg.): Bilderwelten, Weltbilder. Dokumentarfilm und Fernsehen (= Aufblende: Schriften zum Film, 2), Marburg 1990, S. 15-22, hier S. 19-21. 145 Thomas J. Gray: Tommy’s Tattles, in: Variety 32:3 (19.9.1913), S. 9. 146 Vgl. Werner Faulstich/Ricarda Strobel: Grundkurs Filmanalyse, 3., aktual. Aufl., Paderborn 2013, S. 148.

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gezeigte Alltäglichkeit, Thaws Standpunkt an die Zuschauer zu vermitteln: »Throughout, Thaw, with the assistance of cut-in captions, is placing himself favorably before the public, showing emotion at the mention of his mother, […] concluding with ›All I ask is fair play.‹«147 Der Film rückte Thaws Privatheit, Beziehungs- und Gefühlswelt in den Mittelpunkt, um darüber seine Agenda, ein Haftprüfungsverfahren mit einer Jury zu bekommen, zu legitimieren. Über die Emotionalisierung versuchte Thaw, in Zusammenarbeit mit dem Regisseur öffentliche Sympathie für sich einzuwerben. Entsprechend stellte das VarietyMagazin fest, dass der Film ein weiterer PR-Stunt des »publicity-crazed former Matteawan inmate«148 sei. Dabei verschränkten sich die Inszenierungen von Thaw zu einem intermediaAbb. 51: Postkarte (1913) von Harry Thaw mit len Ensemble: Es befanden sich Postkarseiner in Kanada geäußerten Forderung geten in Umlauf, auf denen die Zeichnung genüber amerikanischen Pressevertretern, die eines demütig blickenden Harry Thaws Hal Reids Filmproduktion aufgriff. seine Forderung begleitet, einen fairen Prozess zu bekommen (Abb. 51). Beides, Bild und Text, benutzte die Vertriebsfirma Canadian-American Feature Company wiederum, um sowohl den Film in Plakaten zu bewerben (Abb. 52), als auch im Film selbst, um ihn als Appell im letzten Zwischentitel Thaw in den Mund zu legen. Um für eine möglichst große Verbreitung des Films zu sorgen, bewarb die Canadian-American Feature Company ihn massiv in amerikanischen Fachzeitschriften, wobei sie besonders die Authentizität der Aufnahmen betonte. Dazu druckte sie in ihren Annoncen ein Telegramm von Harry Thaw ab, das belegen sollte, dass es sich um »[t]he only motion pictures authorized by Mr. Thaw himself« handle, da nur ihr Film das »private interview«149 zeigen würden. Thaw griff somit direkt in die filmische Verbreitung seiner Person ein, indem er das öffentliche Bild von sich zu kontrollieren suchte, was seine Medienkompetenz zeigte, die in Kombination mit Professionalisierung von außen neue Inszenierungsformen erlaubte. 147 Union Square, in: Variety 32:3 (19.9.1913), S. 24. 148 Thaw Pictures on View, in: Variety 32:3 (19.9.1913), S. 13. 149 Beide Zitate aus A Telegram from Harry K. Thaw, in: Variety 32:3 (19.9.1913), S. 2.

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Abb. 52: Fotografie (li.) und Detail (re.) einer travelling show, eines reisenden Filmkinos, mit Filmplakaten, darunter ein Werbeplakat von »Harry K. Thaw’s Fight for Freedom in Canada«.

Der Film wurde in der Anfangswoche zu 1.500 Dollar pro Woche verliehen (heute rund 46.300 Dollar), und zog über Wochen in den ganzen USA Zuschauer*innen in die Kinos.150 Wie bei »The Unwritten Law« (1907) bestellten auch diesmal europäische Kinobetreiber Filmkopien, was das anhaltende internationale Interesse an den Ereignissen um Thaw bezeugt.151 Aber mutmaßlich genau aufgrund der Einblicke in die Privatheit eines vor dem Gesetz Flüchtigen unterlag der Film etwa im Deutschen Reich schnell einem Vorführverbot.152 Die Abgrenzung der Reid-Produktion als authentisches Zeugnis schien berechtigt, da die mediale Aufmerksamkeit Dritte verlockte, ebenfalls finanziell von Thaw zu profitieren und eigene Filme über Thaws Flucht zu produzieren.153 Ende September 1913 zensierte etwa die Detroiter Polizei die ersten 3.000 Fuß (rund 30 Minuten) eines rund 40-minütigen Spielfilms, der neben Thaws Flucht auch die gesamte Vorgeschichte mit Evelyn Nesbit und dem Mord behandelte.154 Die Begründung des 150 »$1,500 for Thaw Film«, in: Variety 32:2 (12.9.1913), S. 7. Ende September konnten noch immer 250-300 Dollar (heute rund 7.700-9.250 Dollar) gefordert werden. 151 Besonders groß war die Nachfrage aus Großbritannien, vgl. Thaw Film Abroad, in: Variety 32:4 (26.9.1913), S. 4, zum Deutschen Reich vgl. Thaw Pictures Banned, in: Variety 32:8 (24.10.1913), S. 4. 152 Vgl. ebd. Der Artikel nennt keine Gründe für die Zensur im Deutschen Reich, doch dürfte es der darin gezeigte Angriff auf die Rechtsordnung gewesen sein, vgl. Kaspar Maase: Die Kinder der Massenkultur. Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich, Frankfurt/ New York 2012, S. 136-9. 153 Am 12. September veröffentlichte Mutual »Harry Thaw’s Escape from Matteawan«, vgl. »$1,500 for Thaw Film«, in: Variety 32:2 (12.9.1913), S. 7. Bereits über eine Woche zuvor, am 5. September, kündigte die Produktionfirma IMP den Film »Escape from the Asylum« an, ein dramatischer two-reeler über Thaws Flucht, vgl. Data From Manufacturer’s List of Releases, in: Moving Picture News 8:10 (6.9.1913), S. 30. 154 Vgl. Thaw Pictures Fumigated, in: Variety 32:4 (26.9.1913), S. 14.

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zuständigen Polizeikommissars Gillespie, allein die Fluchtszenen vorführen zu lassen, lautete: »I think the masses are now in sympathy with him and I can see no objection to pictures of his escape, but nothing previous to that.«155 Hierbei bleibt offen, weshalb er die öffentliche Sympathie als Argument anführte, den rechtswidrigen Ausbruch nicht ebenfalls zu zensieren.156 Doch gibt die Aussage einen Eindruck der öffentlichen Haltung gegenüber Thaws Flucht und deren Rezeption in Filmen. So verfestigte sich auch durch Reids Film die positive Haltung gegenüber Thaws Opfernarrativ.157 Diese zeigte sich im Zuschauer*innenandrang auf »Harry K. Thaw’s Fight for Freedom in Canada« oder an den Schaulustigen in den Straßen bei seinen öffentlichen Auftritten.158 Letztlich wirkte seine mediale Offensive auf einige Rezipient*innen so stark, dass sie an den kanadischen Innenminister und die Einwanderungsbehörde schrieben und in Thaws Namen um Schutz vor der New Yorker Justiz ersuchten.159 Doch greift es zu kurz, allein »Harry K. Thaw’s Fight for Freedom in Canada« für die öffentliche Sympathie verantwortlich zu machen. Vielmehr half, dass Harry Thaw für die Populärkultur im Allgemeinen wieder attraktiv geworden war und deren Produzenten mit Blick auf die Konsument*innen eine ihm gegenüber freundliche Haltung einnahmen. Dies zeigte sich, wie gesehen, bei Postkarten, aber auch bei Musikstücken. Im ersten Jahrzehnt des 20.  Jahrhunderts hatte das amerikanische Musikgewerbe einen Konzentrationsprozess durchlaufen. In der New Yorker 28th Street, der sogenannten Tin Pan Alley, waren einige wenige Produktionsfirmen ansässig, die den Markt beherrschten und mit standardisierten Liedern aus verschiedenen Genres bedienten.160 Für verschiedene Publika entstand ein reger Massenmarkt für Notenblätter, die sheet music, die häufig an den Orten verkauft wurden, wo die Musik gespielt wurde, wie Theatern oder vaudevilles.161 155 Ebd. 156 Das widerspricht dem üblichen Vorgehen der zeitgenössischen Filmzensur, die insb. ungestrafte Kriminalität reglementierte, vgl. Bowser: Transformation, S. 50. 157 Der Filmhistoriker Lewis Jacobs geht von der maßgeblichen Rolle des Films für die öffentliche Sympathie für Thaw aus, vgl. ders.: The Rise of the American Film: A Critical History. With an Essay Experimental Cinema in America 1921-1947, 5. Aufl., New York 1975, S. 155. 158 Vgl. George D. Proctor: Changing Trade Conditions, in: Motion Picture News 8:19 (15.11.1913), S. 18; zu Schaulustigen siehe Anm. 134 auf S. 360. 159 Vgl. Briefe von Amerikaner*innen an den kanadischen Innenminister M. Burnett und den Assistant Superintendent of Immigration Blake Robertson (25.8.–12.9.1913), in: Harry Thaw Escaped from Asylum and Is Heading for Canada, LAC, Immigration Program: Headquarters Central Registry Files: C-10666: Immigration Branch, RG 76, Vol. 597, File 864813, Pt. 1, S. 16212, 1638, 1682-5, 1718-28. 160 Vgl. Craig H. Roell: The Development of Tin Pan Alley, in: Kenneth J. Bindas (Hg.): America’s Musical Pulse. Popular Music in Twentieth-Century Society (= Contributions to the Study of Popular Culture, 33), Westport 1992, S. 113-22, hier S. 114-5; Wallace: Gotham, S. 410-1. 161 Vgl. David Blanke: The 1910s (=  American Popular Culture Through History, 2), Westport 2002, S. 186-9.

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Shapiro, Bernstein & Co. Music Publishers aus New York war eine der wichtigen Produktionsfirmen von popular music und erkannte in Thaws Fall das finanzielle Potenzial, wenn sie dessen öffentliche Sympathien bedienten.162 Ihr Stück »The Great Harry K. Thaw Song«163 (1913) lässt sich dabei wohl am schlüssigsten in das Genre der novelty songs einordnen, die eine kurze, provokante Geschichte über meist melodramatische Charaktere erzählten und dabei häufig auf aktuelle Ereignisse oder die Populärkultur verwiesen.164 Das Lied rekapituliert die Geschichte des Mordskandals und legt besonderen Fokus auf die emotionalen Kosten der Beteiligten. Stilistisch passt dazu der moderate Walzer, der als spätviktorianisches Genre individuelle Ohnmacht und emotionale Überwältigung thematisierte.165 Entsprechend lautete der Refrain: Why don’t they set him free? Give him his liberty? Just because he’s a millionaire Every one wants to treat him unfair, Money does not stop true love, His act proved sincerity, He did not shoot to seek mere fame, Just to defend his dear wife’s name. Why don’t they set him free? Give him his liberty?166 Der Liedtext übernimmt nicht nur Thaws Deutung als Justizopfer einer neidvollen Gesellschaft, sondern auch seine Beteuerungen, selbst keine mediale Aufmerksamkeit zu wünschen und stattdessen ein friedvolles Leben führen zu wollen. In Bezug auf die zeitgenössischen Sympathien für Thaw gipfelt der Refrain in der zweima­ ligen, gedoppelten Forderung, ihn freizulassen. Parallel zu weiteren, der gleichen Interpretation folgenden Musikstücken transferierten Shapiro, Bernstein & Co. damit Thaws Fall aus der Berichterstattung in die auditive Populärkultur und erweiterten damit das bisherige Medienensemble, das sich mit dem Fall und der High Society beschäftigte.167 Gemeinsam mit den doku162 Vgl. Nicholas Tawa: Supremely American. Popular Song in the 20th Century. Styles and Singers and What They Said about America, Lanham 2005, S. 5. 163 Harry C. Loll (Musik)/Thos. J. Blue (Text): The Great Harry K. Thaw Song. Why Don’t They Set Him Free, Shapiro, Bernstein & Co. Music Pub., New York 1913, in: Collection of Ephemera Relating to Evelyn Nesbit, HU, HL, HTC, *2003MT-96. 164 Vgl. Charles Hamm: Irving Berlin. Early Songs. Bd. 1: 1907-1911, 3 Bde. (= Recent Researches in American Music, 20), Madison 1994, S. xxxiv. 165 Vgl. Tawa: Popular Song, S. 5-6. 166 Loll/Blue: Thaw Song, Refrain. 167 Vgl. Leopold Fred (Musik)/Edwards Ross (Text): For the Sake of Wife and Home. The Song Sensation of the World!! Theme Suggested by the Thaw-White Tragedy, Harold Rossiter

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mentarischen und den fiktiven Filmen schufen sie ein audiovisuelles Konsum- und Vergnügungsangebot, das Thaws Selbstinszenierung an interessierte Publika vermittelte und die Details seiner privaten Nahbeziehungen und Emotionen authentifizierte. Thaws Grenzübertritt führte zu diplomatischen Spannungen zwischen Kanada und den USA. New York State verlangte seine Auslieferung und der seit Oktober 1913 amtierende Gouverneur Martin Henry Glynn versuchte, Bundesministerien einzuschalten, um Druck auf Kanada auszuüben, was zwar misslang, den Fall aber politisierte.168 Zudem kam Glynn öffentlich doppelt unter Druck, da ihn Bürger*innen wie Medien entweder in der Verfolgung Thaws bestärkten oder, etwa mit Blick auf die Kosten, die Einstellung forderten.169 Er entschied sich für Thaws Rückführung, weshalb William T. Jerome zum Sondergesandten ernannt und nach Sherbrooke geschickt wurde, um den Erfolg sicherzustellen.170 Als »Thaw’s Nemesis«171 schlugen ihm dort öffentliche Anfeindungen entgegen;172 eine Stimmung, die Thaw nutzte, um sich als harmloser Flüchtling einer verbissenen amerikanischen Staatsmacht zu inszenieren.173 Eine Selbstdarstellung, die auf kanadischer Seite bereitwillig aufgenommen wurde, bediente sie doch zeitgenössische Ressentiments gegen ihren als dominant wahrgenommenen Nachbarn im Süden.174 Die Medialisierung des Falls hatte in Kanada zwar vor Ort zu Thaws Unterstützung geführt, doch institutionelle und politische Probleme verursacht.175 Gegen Thaw lief nicht nur der amerikanische Auslieferungsantrag, sondern er hatte auch gegen kanadisches Einwanderungsrecht verstoßen, das Geisteskranken die Einreise verweigerte. Seine Ausweisung hoffte Thaw mit einer Klage vor dem Obersten Ge-

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Music Co., Chicago 1913, JHU, SLUM, The Lester S. Levy Sheet Music Collection: Box 152, Item 015. Vgl. Telegramme mit dem Dept. of Labor und Dept. of State (alle 22.8.1913), in: 1913: Complaints – Harry Thaw Case – Matteawan State Hospital, S. 22, 29, 54-5, NYSA, A0531-78, Box 52, Folder 4; vgl. die diplomatische Beschwichtigung Kanadas über ihren Botschafter in Washington, D. C., in: Case of Harry K. Thaw Will Receive Due Consideration – Ext. Aff. 1913/08/27, LAC, Archives, Orders in Council, Vol. 1071, Access Code 90, Item No. 308859. Vgl. Briefe an Gouverneur Martin Henry Glynn (Aug. bis Okt. 1913), in: 1913: Complaints – Harry Thaw Case – Matteawan State Hospital, S. 32-41, 48-53, 64-7, NYSA, A0531-78, Box 52, Folder 4. Vgl. Take Thaw Case Up to Premier, New York Times, 28.8.1913, S. 1-3, hier S. 1. Jerome, Thaw’s Nemesis, in Canada, New York World, 25.8.1913, S. 1. Vgl. Jerome, in Peril From Thaw Mob, Watched by Bodyguard, New York American, 2.9.1913, S. 1. Vgl. Thaw in Fright at Bold Plot of Jerome to Kidnap Him, New York American, 3.9.1913, S. 1. Vgl. John H. Thompson/Stephen J. Randall: Canada and the United States. Ambivalent Allies, 3. Aufl., Athens/London 2002, S. 3. Vgl. Rüge gegen den Immigration Inspector James Scott (8.10.1913), in: Harry Thaw Escaped from Asylum and Is Heading for Canada (Summary of Inquiry), LAC, Immigration Branch, RG 76, Vol. 597, File 864813, Pt. 2, S. 1786. harry thaws medialisierter psychiatrieaufenthalt

richtshof in Montreal zu verhindern,176 doch kam ihm die Immigrationsbehörde zuvor. Das kanadische Regierungskabinett hatte nach drei Wochen dem amerikanischen Druck nachgegeben und Innenminister William James Roche veranlasste persönlich Thaws Abschiebung.177 Trotz anhängiger Klage gegen seine Abschiebung deportierten ihn Beamte der Einwanderungsbehörde rechtswidrig am 10. September 1913 über die Grenze nach Vermont, wo sie ihn auf einer Landstraße aus ­einem Auto warfen. Mit Hilfe eines ihm gefolgten Korrespondenten der Associated Press entwischte Thaw erneut bis nach New Hampshire, wo ihn lokale Behördenvertreter in Gewahrsam nehmen konnten.178 An dieser Episode zeigt sich die Problematik, die mit Thaws medialer Sichtbarkeit einherging. Obwohl sie ihm erlaubte, seinen Standpunkt trotz seines Status als flüchtiger Geisteskranker zu artikulieren, verschloss sie ihm zugleich Handlungsräume. Ohne die mediale Aufmerksamkeit hätte er eventuell, wie ursprünglich geplant, seine Flucht aus Matteawan unbehelligt durch Kanada über Detroit nach Pennsylvania fortsetzen können.179

»I now appeal to the citizens of New York«: Harry Thaws Plädoyer an die Öffentlichkeit In Concord, New Hampshire, wehrte sich Thaw eineinhalb Jahre lang gegen das New Yorker Auslieferungsgesuch und klagte sich dafür durch alle Instanzen. Sein Fall hatte einen erbitterten juristischen Streit in den Gerichten und der juristischen Fachöffentlichkeit ausgelöst:180 New York forderte Thaws Auslieferung, da er dort wegen der Verschwörung zur Flucht angeklagt war. Doch hatte Thaw nicht gerade durch die Planung seiner Flucht bewiesen, dass er geistig gesund war? Damit war aus Sicht seiner Anwälte die Anklage zur Verschwörung hinfällig, da der Haftgrund entfalle und er als geistig gesunder Mann nicht mehr eingesperrt werden dürfe.181 176 Vgl. Notice of Appeal (5.9.1913), in: ebd., S. 1890. 177 Vgl. die Entscheidung des ministerialen Boards of Inquiry über Thaws Gesundheitszustand und die des Innenministers William James Roche (beide 09.9.1913), in: Harry Thaw Escaped from Asylum and Is Heading for Canada, LAC, Immigration Program: Headquarters Central Registry Files: C-10666: Immigration Branch, RG 76, Vol. 597, File 864813, Pt. 1, S. 1746-51. 178 Vgl. Thaw Again Seized; Mad Dash After Canadians Oust Him, New York American, 11.9.1913, S. 1-2; Thaw Deported in Spite of Writ, New York Times, 11.9.1913, S. 1-2. 179 Vgl. Thaw’s Escape Planned by Him, New York Times, 12.3.1915, S. 1, 7, hier S. 7. 180 Gegen Thaws Auslieferung vgl. etwa Oscar Smith: Kinks in Courts, in: Lawyer and Banker and Southern Bench and Bar Review 7:5 (1914), S. 385-91; für die Auslieferung vgl. o. A.: Rights of Extradited Person, in: Law Notes 17:8 (1913), S. 142. 181 Vgl. In Re: Petition of Harry Kendall Thaw for a Writ of Habeas Corpus. Supplementary Brief for the Petitioner. Filed Mar. 24, 1914, Concord 1914, S. 10-9, Pkt. VIII-XV, in: NAB, RG 21 Records of the U. S. District Court, New Hampshire, Law Cases, 1910-1938, No. 86, Box 7: 83-027, Folder 4.

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Abb. 53: Harry Thaw (im Kreis, ES) umringt von Schaulustigen und Pressevertretern vor einer Anwaltskanzlei in Concord.

Diese Frage musste letztlich der Oberste Gerichtshof in Washington, D. C., klären, der im Dezember 1914 dem New Yorker Auslieferungsantrag stattgab.182 Während juristische Fachkreise überwiegend kritisch auf das Urteil reagierten,183 sah die New York Times darin den Sieg der Justiz über das Geld der Thaws.184 Während der Zeit in New Hampshire nutzte Thaw sein Aufmerksamkeitskapital, das er durch seine räumlichen wie medialen Handlungsmöglichkeiten gesteigert hatte, auf zwei Wegen: einerseits um seinen High Society-Status im Zusammenspiel mit Medien und Öffentlichkeiten wieder zu erneuern; andererseits um darüber Druck in der juristischen Auseinandersetzung aufzubauen. Den ersten Aspekt ermöglichten mehrere Faktoren. Erstens gestattete ihm sein medialer wie finanzieller Status Privilegien: Die Zeit seiner anhängigen Verfahren verbrachte er in der Suite des Concorder Eagle Hotel, hielt öffentliche Auftritte, gab Autogramme und verkehrte mit städtischen Honoratioren, wie dem Bürgermeister, 182 Vgl. Holman Drew v. Harry Kendall Thaw, 235 U. S. 432 (1914). 183 Vgl. National Corporation Reporter: The Last Thaw Trial, in: Virginia Law Register (n. Z.) 1:1 (1915), S. 77-8. 184 Vgl. Editorial. A Victory of Law over Money, New York Times, 22.12.1914.

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Pastoren und Kaufleuten.185 Obwohl die konservative Presse erneut Kritik an öffentlichen Sympathiebekundungen übte, zeigt sich darin der Transfer der medialen Aufmerksamkeit in das soziale Feld von Encounter-Öffentlichkeiten. Mit ihrer akklamierenden Anerkennung akzeptierten städtische Öffentlichkeiten seinen Status und bestätigen ihn gleichsam.186 Dass damit ­zugleich Wertevorstellungen verknüpft waren, zeigt der Vergleich mit ähnlichen Gefühlsbekundungen von Bürger*innen gegenüber Straftätern oder juristisch Verfolgten. Etwa das Beispiel von Sheriff Joseph Shipp aus Chattanooga, Tennessee, der 1910 wegen seiner Mitschuld an einem Fall von Lynchjustiz an dem Afroamerikaner Ed Johnson zu drei Monaten Haft verurteilt worden war. Bei seiner Rückkehr bereiteten ihm mehrere Tausend Mitglieder seiner Gemeinde einen euphorischen Empfang.187 In Thaws Fall schienen ebenfalls Teile der Öffentlichkeit seine herausgehobene soziale und mediale Stellung zu legitimieren. Abb. 54: Harry Thaw beim Angeln. Seine eigene mediale Inszenierung oszillierte dabei zwischen Normalität und Besonderheit. Sie reflektierte somit genau zwei Dimensionen von High Society, die ihre Mitglieder für ihr Publikum interessant machten: das Außergewöhnliche bei gleichzeitiger Nahbarkeit über das Private. Ersteres zeigte sich etwa, als Zeitungen Fotografien von Thaw im Kontext seiner juristischen Auseinandersetzungen druckten, die größere Menschenmengen zeigten, die ihn sensationshungrig begleiteten (Abb. 53). Letzteres, seine Nahbarkeit, erzeugte Thaw, wenn er Medienvertretern Einblicke in seinen Alltag gab. So begleitete ihn etwa ein Fotograf der Press Illustrating Company auf einem Angelausflug, um aus einer erhöhten Position eine, in Anbetracht der Umgebung, sorgfältig gestellte Fotografie dieses Freizeitvergnügens zu schießen. Da aus erhöhter Perspektive aufgenommene Fotografien das Objekt der Aufnahme verkleinern, erschien Thaw nicht überhöht, sondern als normaler oder gar bescheidener Mann (Abb. 54). Indem er so mediale Aufmerksamkeit einwarb, schaffte er es, zwischen Gerichtsverfahren und öffentli-

185 Vgl. etwa Mayor of Concord Felicitates Thaw, Sun, 19.9.1913, S. 5. 186 Vgl. Schaffer: Ambivalenzen, S. 20. 187 Vgl. Douglas O. Linder: The Trial of Sheriff Joseph Shipp et al. An Account, o. D., https://www. famous-trials.com/sheriffshipp (acc. 22.4.2022).

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cher wie privater Inszenierung seine Sichtbarkeit zu erhalten und sein Narrativ des geistig gesunden Bürgers zu verbreiten. Wie erfolgreich Thaws mediale Inszenierung war, zeigte sich an den anhaltenden öffentlichen Sympathiebekundungen ihm gegenüber. Als deutlicher Beleg können die Zuschriften dienen, die er aus allen Schichten und verschiedenen Bundesstaaten empfing. So schrieb ihm eine Miss Rose aus Little Rock, Arkansas, kurz vor Silvester 1914: Dear Friend, Pardon the liberty I am taking in writing this to you. But [I] just could not resist the temtation [sic] in doing so, as I am very much enterested [sic] in your case[. I] have been keeping up with it every since that fatal day. Although I was rather young when it happened. I have never had any thing entrest [sic] me more than your case has and have been hoping and praying for your release every day[.]188 Auf welchen medialen Kanälen Miss Rose die Aktivitäten von Harry Thaw verfolgte, lässt sich nicht mehr herausfinden; ebenso bleibt unklar, ob und wie Thaw darauf antwortete. Doch steht Miss Rose exemplarisch für eine Vielzahl weiterer, an Thaw adressierter Briefe, die zeigen, dass seine Medienpräsenz bei interessierten Teilöffentlichkeiten das Gefühl von Nähe auslöste, sie emotional involvierte und ihre Aufmerksamkeit zu bannen vermochte.189 Dies war die Folge der wechselseitigen Professionalisierung zwischen den Medien und Harry Thaw, die ihn und seine Agenda multimedial präsentierten. Mit Andreas Reckwitz kann darin auch Thaws individuelles Verlangen gesehen werden, »selbst als attraktiv und authentisch zu gelten«.190 Sowohl seine Inszenierung als singuläres Individuum als auch seinen damit verknüpften Kampf mit der Justiz nutzte er, um sich als Antipode gegen das Allgemeine zu stilisieren,191 was die Aufmerksamkeit und Involvierung von Teilöffentlichkeiten erregte. Der zweite Weg, wie Thaw sein Aufmerksamkeitskapital nutzte, bestand darin, Druck für seinen juristischen Prozess aufzubauen. Im März 1914 reichte der Abgeordnete der New Yorker Lower East Side, John B. Golden, eine Resolution im Parlament in Albany, New York, ein. Sie sollte verhindern, dass weitere finanzielle Mittel für Thaws Strafverfolgung bereitgestellt würden, was der Einstellung des Verfahrens gleichgekommen wäre. Mit Thaws finanzieller Handlungsmacht hatten seine Anwälte Golden zu dem Antrag motivieren können,192 der sich bei Bekanntwerden

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Brief von Miss Rose an Harry Thaw (28.12.1914), UC, Folder 1, Index K-L. Vgl. ebd; Fanpost an Harry Thaw 1914/15, UC, Folder 1, Index I-J. Reckwitz: Gesellschaft, S. 17. Vgl. ebd., S. 27. Vgl. Bill to Block Thaw Case, New York Times, 24.2.1914, S. 3. harry thaws medialisierter psychiatrieaufenthalt

der Bestechung damit rechtfertigte, allein aufgrund der Beschwerden von Bürger*innen gegen diese Steuerverschwendung vorzugehen.193 Um die Resolution zu unterstützten, instrumentalisierte Thaw sein Aufmerksamkeitskapital gleichsam für den »court of public opinion«:194 Indem er versuchte, die Medien für seine juristische Agenda einzuspannen, versuchte er, die öffentliche Meinung in seinem Sinne zu beeinflussen und Außenstehende zu motivieren, sich für seinen Fall zu engagieren.195 So nutzte Thaw erstmals seinen medialen Status, um mit einer Pressemitteilung in direkten Kontakt zur Öffentlichkeit zu treten: »I now appeal to the citizens of New York, in the power of their sovereignity to stop the prosecution; [… I] ask that all people who believe that I have suffered years of punishment, commensurate with my deed, write the representatives of their own district«.196 Mit diesem Aufruf verwendete Thaw sein im medialen Feld angehäuftes Aufmerksamkeitskapital, um es über den Umweg der Leser*innen im juristischen Feld nutzen zu können. Dazu aktivierte er in der Presse sein Fremdbild als Justizopfer, nutzte dieses für die Mobilisierung seiner Sympathisant*innen und konnte damit Druck auf die Legislative ausüben, wovon er sich eine Beeinflussung seines Auslieferungsverfahrens versprach.197 Damit überwand er die parasoziale Beziehung, die normalerweise das Verhältnis zwischen High Society-Mitgliedern und ihren Publika prägte, und begab sich in ein regelrechtes Abhängigkeitsverhältnis zu seinen Leser*innen. Die Celebrity-Forschung bietet hierfür einen Erklärungsansatz: Es ist genau die Dualität aus privatem, individuellen Fan-Sein und dem öffentlichen Gemeinschaftserlebnis, welche die Schlüsselelemente einer partizipativen Fankultur bildet.198 In diesem Fall war es der mediale und/oder populärkulturelle Konsum von Thaw, der Individuen motivierte, seinem Aufruf, Teil einer gemeinsamen Kampagne zu werden, zu folgen und so den eigenen, parasozialen Kontakt zu bestätigen. Die im New Yorker Staatsarchiv erhaltenen Zuschriften und Unterschriftenlisten geben einen außergewöhnlichen Einblick in die unterschiedlichen Teilöffentlichkeiten, welche die Berichterstattung über die High Society rezipierten und auf Thaws Aufruf reagierten. Von Buffalo bis Long Island schrieben New Yorker Bürger*innen an Gouverneur Martin H. Glynn und forderten die Einstellung des Verfahrens. Die Briefe kamen von bildungsfernen Arbeiter*innen, Angestellten und Mittelständlern 193 Vgl. Fight on Thaw Bills, New York Times, 7.3.1914, S. 5. 194 Jonathan M. Moses: Legal Spin Control: Ethics and Advocacy in the Court of Public Opinion, in: Columbia Law Review 95:7 (1995), S. 1811-56, hier S. 1811. 195 Vgl. ebd., S. 1816-9, 1821, der darin passim die Kontroverse dieses Ansatzes im amerikanischen Recht als unlautere Beeinflussung des juristischen Verfahrens darlegt. Von der positiven, da Institutionen kontrollierenden Funktion spricht Mark H. Moore: Accountability, Legitimacy, and the Court of Public Opinion, in: Mark Bovens (Hg.): The Oxford Handbook of Public Accountability, Oxford 2014, S. 632-47, hier S. 633. 196 Thaw Appeals to New Yorkers, Washington Herald, 15.3.1914, S. 5. 197 Vgl. Driessens: Celebrity Capital, S. 557. 198 Vgl. Redmond: Celebrity, S. 228-9.

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ebenso wie von wohlsituierten Frauen und Herren der Mittelschicht oder Minderjährigen, deren Mütter ihnen jahrelang über den Fall vorgelesen hatten.199 So argumentierte ein*e anonyme*r Schreiber*in aus Rochester: »[Returning Thaw] to Matteawan would be unjust and inhuman«;200 Fred J. Frye aus Schenectady sah in der staatlichen Verfolgungspraktik »a disgrace to are [sic] State«201 und ein Franck Hankins sprach stellvertretend für 23 weitere Unterzeichner*innen aus Buffalo, wenn er meinte, dass »[Thaw] has been punished sufficiently« und solle mit seiner Mutter »[a life] of happiness and contentment«202 verbringen dürfen. Die Briefe echoten, je nach Verfasser*in, Thaws juristische, fiskalische oder emotionale Argumente. In Anlehnung an den Celebrity-Forscher Sean Redmond kann darin die Funktion der High Society-Mitglieder gesehen werden, ihren Publika nicht nur Orientierungshilfe zu liefern, sondern ihr Verhalten und ihre Selbstbilder mit zu formen.203 Diese Projektionsfläche bot Thaw verschiedenen Öffentlichkeiten, die darin bürgerliche Werte einer emotionalen Mutter-Kind-Beziehung ebenso sehen konnten wie eine Verletzung rechtsstaatlicher Rechte durch einen übergriffigen Staatsapparat. Obwohl die Petition des Parlamentariers Golden scheiterte,204 hatte sie einen neuen Professionalisierungsgrad von Harry Thaw offenbart, indem er sein Aufmerksamkeitskapital zur Interaktion mit der interessierten Öffentlichkeit einsetzte. Dies zeigt, dass der High Society-Status auch über das mediale Feld hinaus als Kapitalsorte Verwendung finden konnte. Thaw und sein Anwaltsteam hatten dieses Potenzial erkannt, wie sich ein Jahr später erneut zeigen sollte. Im Januar 1915 überstellte New Hampshire Thaw an die New Yorker Justiz, die am 8. März das Verfahren wegen der Verschwörung zur Flucht eröffnete. Aus Sicht der Verteidigung war es jedoch vielmehr eine Entscheidung über Thaws Geisteszustand: Eine Verurteilung würde seine Zurechnungsfähigkeit bestätigen, womit seiner psychiatrischen Haftstrafe die Grund­lage entzogen werden würde.205 Es zeugte von einer mittlerweile zielgerichteten Medienkompetenz, dass Thaw parallel zu seinen Prozessanstrengungen auf die Unterstützung der ihm zugeneigten Öffentlichkeiten baute: Über Mittelsmänner ließ Thaw seit Januar 1915 maschinell vorgefertigte Unterschriftenlisten in den ganzen USA verteilen.206 Auf deren Rück199 Vgl. Duzende Zuschriften in: Harry K. Thaw 1910 (Part 1 of 2), NYSA, A0597-78, Box 72, Folder 31. Darin finden sich auch Zuschriften von Bürger*innen anderer Staaten, wie Illinois, New Jersey oder Ohio. 200 Brief von Unbek. an Gouverneur Martin Henry Glynn (19.3.1914), in: ebd. 201 Brief von Fred J. Frye an Gouverneur Martin Henry Glynn (16.3.1914), in: ebd. 202 Brief von Franck Hankins et al. an Gouverneur Martin Henry Glynn (17.3.1914), in: ebd. 203 Vgl. Redmond: Celebrity, S. 7. 204 Vgl. ›Thaw Day‹ a Fisaco, New York Times, 20.3.1914, S. 3. 205 Vgl. Thaw, Put on Trial, Plans Sanity Fight, New York Times, 9.3.1915, S. 18. 206 Vgl. Free Thaw Petitions, Los Angeles Times, 6.3.1915, S. 11; Brief von Joseph W. Copley an Harry Thaw (26.4.1915), UC, Folder 8, Index F-G.

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Abb. 55: Einer der von Mitgliedern des New Yorker Frauenvereins Gotham Club unterzeichneten Petitionsbögen von Harry Thaw für den Kongress in Washington, D.C.

seite waren juristische Kommentare abgedruckt, die Thaws Verfolgung als unrechtmäßig bewerteten (Abb. 55).207 Auf der Vorderseite forderten die Unterzeichner*innen ihren jeweiligen Kongressabgeordneten zu einer Gesetzesnovelle auf Bundesebene auf: Unter direkter Bezugnahme auf Harry Thaw sollte es künftig in StrafverfahAbb. 55 ren freigesprochenen Amerikaner*innen erlaubt werden, in ihre Heimatstaaten zurückzukehren. Damit versuchte Thaw, durch öffentlichen Druck eine bundesstaatliche Regelung durchzusetzen, um nach einem möglichen Freispruch im Verschwörungsverfahren nicht wieder nach Matteawan zurückgeschickt werden zu können. Der Clerk of the House berichtete der Los Angeles Times, dass der Kongress bis März 1915 rund 200.000 unterschriebene Petitionen 207 Den im Zentrum stehenden Kommentar des Richters J. Aldrich am Bezirksgericht von New Hampshire hatte Thaw bereits im Jahr 1914 selbst verlegt, vgl. Harry Kendall Thaw: Digest of Judge Aldrich’s Opinion, Concord 1914, in: NAB, RG 21 Records of the U. S. District Court, New Hampshire, Law Cases, 1910-1938, No. 86, Box 7: 83-027, Folder 4. Die anderen Kommentare referierten darauf und wiesen auf die juristische Präzedenz von Thaws Fall hin.

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erhalten habe.208 Zwar wurde der Antrag mehrmals den Rechtsausschüssen des Repräsentantenhauses und des Senats vorgelegt, doch blieb er erfolglos.209 Die Kongressmitglieder amüsierten sich lediglich über die Zusender*innen, die nicht wüssten, »[that] they are aiding the publicity game [of Thaw]«.210 Unabhängig von ihrer faktischen Wirkung ermöglichten die Listen es engagierten Bürger*innen, sich Thaw anzunähern und sich seine Sichtbarkeit teilweise anzueignen. So verbreitete etwa George W. Gates, ein Anwalt aus Blackville, South Carolina, Petitionen für Thaw in den Südstaaten. Im März 1915 berichtete er der Zeitung The Record, erst kürzlich eine Petition mit 210 Unterschriften nach Washington, D. C., geschickt zu haben.211 Sein Engagement brachte ihn damit sowohl in Kontakt mit Thaw212 als auch selbst in die Medien. Thaws High Society-Status hatte es ihm erlaubt, seinen Fall medial so zu beeinflussen, dass sich Sympathisant*innen, die sich durch seine mediale Präsenz, Medialität und die Fan-Kultur um ihn entwickelt hatten, gezielt für seine eigene juristische Agenda aktivieren ließen. Sein Beispiel verdeutlichte damit, wie das Aufmerksamkeitskapital der High Society feldübergreifend genutzt werden konnte.

Freispruch als multimediales Ereignis Nach nur vier Prozesstagen sprach die Jury Thaw vom Vorwurf der Verschwörung frei, woraufhin er umgehend ein Haftprüfungsverfahren beantragte, um der Rückführung nach Matteawan zu entkommen.213 Im April 1915 gelang es seinen Anwälten, eine Jury-Anhörung durchzusetzen, die Thaws Zurechnungsfähigkeit überprüfen sollte.214 Im Verfahren kamen zwar erneut die bekannten Details der ersten Mordprozesse zur Sprache, aber auch neue Zeugen aus Thaws einjähriger Zeit in New Hampshire. Für ihn schädliche Zeuginnen, wie Susan Merrill oder Evelyn Nesbit, entzogen sich der Vorladung – sei es aufgrund mutmaßlicher Bestechung oder aus Widerständigkeit gegen die juristische Instrumentalisierung – und stärkten damit Thaws Verteidigung.215 Er selbst musste sich einem detaillierten Kreuzverhör stellen, worin er nach Ansicht von Prozessbeobachter*innen überzeugend das Bild 208 Vgl. Free Thaw Petitions, Los Angeles Times, 6.3.1915, S. 11. 209 Vgl. etwa Petitions, etc., in: Congressional Record – House (12.2.1915), S. 3693; Petitions, etc., in: Congressional Record  – House (22.2.1915), S. 4342; Petitions, etc., in: Congressional Record – Senate (2.3.1915), S. 5227. alle drei in NARA, CLA, Congressional Record. 210 O. T., in: Congressional Record – House (30.1.1915), S. 2757, NARA, CLA, Congressional Record. 211 Vgl. Thaw Petitions Are Circulated, Record, 5.3.1915, UC, Folder 4, Index B. 212 Vgl. Brief von George W. Gates an Harry Thaw (7.3.1915), UC, Folder 4, Index B. 213 Vgl. Thaw Acquitted; Sane, Jury Thinks, New York Times, 14.3.1915, S. 1, 8. 214 Vgl. People ex rel. Thaw v. Grifenhagen, Sheriff, et al., 154 N. Y. Supp. 965 (1915). 215 Vgl. Thaw Ends Ordeal. His Wife Is Excused, New York American, 10.7.1915, S. 1.

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des Genesenen vermittelte.216 Am 15. Juli 1915 befanden ihn die Juroren für gesund, und der Richter ordnete, fast genau neun Jahre nach dem Mord, Thaws Freilassung an.217 Während er von Hunderten Schaulustigen gefeiert wurde und eine Vielzahl von Glückwunschschreiben aus den ganzen USA erhielt,218 führte der Freispruch zu einem geteilten Presseecho: Während Thaw kritisch gegenüberstehende Medien darin die Kapitulation des Rechtsstaates sahen und Stimmen aus dem progressiven Lager den Sieg des Geldes über die Gerechtigkeit kritisierten, übernahm die yellow press die öffentlichen Sympathiebekundungen und honorierte den Urteilsspruch als (überfälliges) Ergebnis seines Kampfes um Freiheit.219 Die Episode von Thaws Flucht und späteren Freilassung fiel in eine neue Phase der Mediengesellschaft, als Nachrichtensendungen in die Kinoprogramme einzogen. Im August 1911 hatte Pathé, der damals größte internationale Produzent von Nachrichtenfilmen, ein wöchentliches newsreel in den USA aufgelegt, das bald als rund neunminütiger Einspieler in den Vorprogrammen üblich wurde. Diese neue technische Repräsentanz avancierte so, mit den Worten der Technikhistorikerin Martina Heßler, zu einem »unabdingbaren Teil der Lebenswelt«.220 In diesem Zuge wurde diese Technik auch für die Berichterstattung über die High Society interessant und konnte sukzessive integriert werden. Denn die newsreels überführten die alten, sensationsfixierten actualities in eine neue Form regelmäßiger Nachrichtenvermittlung für die Kinobesucher*innen.221 Die Filmpresse reagierte so euphorisch darauf, dass die Motion Picture World rhetorisch fragte: »Who would not take part in the news of the world ›just as it really happened‹ as part of the regular picture entertainment?«222 Durch diese scheinbare Authentizität etablierte sich das Format als Darstellungsform der High Society in den 1920er Jahren, sodass deren Mitglieder regelmäßig, etwa bei Bällen oder Modeschauen, in der social news-Rubrik der Wochenschauen auftauchten.223 Bis dahin beschränkten sich Produzenten vor allem auf außergewöhnliche Gesellschaftsereignisse, wie etwa royale Besuche.224 Diese Verbindung von Vergnügungskultur mit Medienberichterstattung im Nachrichtenfilm war der Fall für Thaws Auseinandersetzung mit der New Yorker Justiz, sodass interessant ist, 216 217 218 219

Vgl. Thaw Angry on Stand, Washington Post, 9.7.1915, S. 2. Vgl. Thaw Found Sane by a Jury. Final Edict Tomorrow, New York Times, 15.7.1915, S. 1. Vgl. Glückwunschschreiben und Bittgesuche an Harry Thaw (1915), UC, Folder 1, Index H. Vgl. die kritische Presseschau in Millions and Murder, in: Literary Digest (31.7.1915), S. 202; ausführlich in Baatz: Girl, S. 326-7. 220 Martina Heßler: Kulturgeschichte der Technik (=  Historische Einführungen, 13), Frankfurt a. M. 2012, S. 11. 221 Vgl. Fielding: American Newsreel, S. 45-9. 222 The Pathé Journal (Pathé), in: Moving Picture World 5:9 (12.8.1911), S. 359-60, hier S. 360. 223 Vgl. Juliane Hornung: »Society is not made by society, but by its reporters«, in: Historische Anthropologie 29 (2021), S. 229-52, hier S. 242-3. 224 Vgl. Fielding: American Newsreel, S. 49, 53-61.

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wie und welche Ereignisse um Thaw Eingang in die wöchentlichen Nachrichtensendungen fanden. Der Hauptteil der Aufnahmen ist verschollen, doch geben Beschreibungen der newsreels in den Fachzeitschriften Aufschluss darüber, was als nachrichtenwürdig erachtet wurde: Bereits bei seiner Flucht 1913 hatte Pathé über das Ereignis berichtet, indem sie Aufnahmen von Sherbrooke zeigten.225 Da sie Thaw in Kanada scheinbar nicht filmen konnten, zeigte Mutual, ein weiteres newsreel-Studio, Mary Copley Thaw auf dem Weg zum Anwalt ihres Sohnes in New York.226 Zwei Jahre später waren bereits Kameramänner aller großen Nachrichtenagenturen zur Stelle, um Thaw bei seiner Überführung von New Hampshire nach New York in persona zu filmen.227 Die Kombination aus öffentlichem Interesse an der High Society und der Marktlogik der Filmproduzenten, dieses zu bedienen, wirkte auf die Sichtbarmachung von Harry Thaw zurück. In der Verhandlung gegen seine Auslieferung vor dem Obersten Gerichtshof in New Hampshire im Frühjahr 1914 gestattete der Vorsitzende Richter Edgar Aldrich erstmals, Filmaufnahmen aus einem amerikanischen Gerichtssaal anzufertigen;228 fünfzehn Jahre, bevor der Gerichtsfilm Einzug in die amerikanischen Kinos hielt.229 Die Rechts- und Filmgeschichte überging bislang dieses Eindringen der Filmkamera in den Gerichtssaal bereits zu Stummfilmzeiten, obwohl die entsprechende Medialisierung der Gerichte Anfang der 1960er Jahre als neue Dimension der Sichtbarmachung von Justiz(-verfahren) gewertet wird.230 In Thaws Verfahren war es erneut Hal Reid, dem es gelungen war, dieses Exklusivrecht von Richter Aldrich zu erhalten. Zu diesem Schritt hatte Aldrich das mediale Interesse an Thaw bewogen – unter der Bedingung, auch selbst in seinem Büro gefilmt zu werden.231 Hatten in vorherigen Verfahren die Anwälte die Aufmerksamkeit der Printmedien zur Selbstinszenierung genutzt, galt diese Logik nun auch für das ­Bewegtbild. Dies schien gleichsam als Präzedenzfall gewirkt zu haben, da auch während des New Yorker Haftprüfungsverfahrens im Folgejahr Kameramänner im ­Gerichtsgebäude filmen durften.232 Zugleich verdeutlicht das die Relevanz der medientechnischen Neuerungen, die adaptiert wurden, um High Society sichtbar zu machen. Ebenso wie Schnappschüsse sich aufgrund ihres Authentizitätsanspruchs als das Visualisierungsmedium der Gesellschaftsberichterstattung durchsetzten, lie225 Vgl. Pathé’s Weekly, No. 47, 1913 (Sept. 4), in: Moving Picture World 17:11 (13.9.1913), S. 1210. 226 Vgl. Mutual Weekly, in: Moving Picture World 17:10 (6.9.1913), S. 1106. 227 Vgl. Hearst-Selig News Pictorial, No. 9 (1.2.1915), in: Moving Picture World (13.2.1915), S. 1038; Universal Animated Weekly No. 152 (3.2.1915), in: Moving Picture World (13.2.1915), S. 1044; Mutual Weekly No. 5 (4.2.1913), in: Moving Picture World (13.2.1915), S. 1048. 228 Vgl. Exhibitor’s News, in: Moving Picture World 19:10 (7.3.1914), S. 1254-6, 1276. 229 Vgl. Nicole Hahn Rafter: »Criminal Law Film«, in: Rafter: Shots, S. 135-61, hier S. 135-7, 142-5. 230 Vgl. Friedman: Big Trial, S. 140-6. 231 Vgl. Exhibitor’s News, in: Moving Picture World 19:10 (7.3.1914), S. 1254-6, 1276, S. 1276. 232 Vgl. Chips from the Steel City, in: Moving Picture World 25 (31.7.1915), S. 847-8, hier S. 848.

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ferten nun Nachrichtensendungen scheinbar authentische Bewegtbilder über die High Society. Wie im Folgenden an Thaw zu zeigen sein wird, ermöglichten sie bislang ungekannte Blicke auf Verhalten, Gestik und Mimik und vermittelten den Eindruck von Nahbarkeit. Eine der Nachrichtensendungen ist erhalten geblieben, die in knapp 40 Sekunden über Thaws Freispruch im Juli 1915 berichtet. Sie zeigt die wartende Menschenmenge auf den Stufen vor dem New Yorker Strafgerichtshof am Tag der Urteilsverkündung, Thaw selbst und wie er das Gericht verlässt.233 Hier zeigt sich, dass der Quellenwert von Filmaufnahmen nicht nur in der Handlung des Films, sondern auch im unabsichtlich Gezeigten liegt:234 Die zu Beginn gefilmten, ausschließlich männlichen Schaulustigen blicken während des horizontalen Schwenks in die Kamera (Szene 6). Hier bricht die Aufnahme mit dem AnSzene 6 spruch der Nachrichtensendung, einen unverstellten Blick auf aktuelle Ereignisse zu liefern. Sämtliche Anwesenden schauen vom Gerichtsgebäude weg in Richtung Kamera und offenbaren damit die Inszenierung, an der sie bereitwillig teilnahmen und so zum Spektakel des Prozesses beitrugen.235 Die folgende Szene zeigt Thaw, vermutlich im Gerichtsgebäude (Szene 7). Der Sprecher kommentiert: »It cost this playboy a tremendous fortune to hire the brilliant array of legal talents that finally won his acquittal for the murder of Stanford White.« Indem der Nachrichtensprecher Thaws Reichtum und High Society-Status erwähnt, ruft er »diegestische[s] Wissen beim Zuschauer«236 ab und verortet ihn mit dem Freispruch in dem seit Jahren laufenden Skandal. Mit der Referenz auf den »playboy« betont er zudem Verhaltensweisen der High Society, während er gänzlich Thaws Patientenbiographie ausblendet, die bis 1913 den medialen Diskurs über Szene 7 Thaw bestimmt hatte. Dabei bietet es sich an, die Szene genauer in Bezug auf das von Thaw vermittelte Bild zu untersuchen. Dazu dient wieder der Kamerablick als analytische Kategorie, um sowohl historische Sichtweisen als auch Handlungsräume und -praktiken näher untersuchen zu können. Dies beginnt bei der Materialität der Aufnahmen und ihrer technischen Apparatur: Hierfür können Michel Foucaults Überlegungen zum Panopticon als kontrollierendem und vor allem disziplinierendem Überwachungsmechanismus herangezogen werden, die die Situation des Filmens und Gefilmt-Wer233 Vgl. »Sidewalks of New York«, USA 1915, P/R: o. A., 00:37 Min., Historic Films Archive, F-3225, 31:26-32:00. 234 Vgl. Szöllösi-Janze: Film, S. 21. 235 Vgl. zur ästhetisch-narrativen Inszenierung dokumentarischer Aufnahmen Heller: Dokumentarfilm, S. 19-20. 236 Knut Hickethier: Fernsehnachrichten als Erzählung der Welt, in: Rundfunk und Fernsehen: Forum der Medienwissenschaft und Medienpraxis 45 (1997), S. 5-18, hier S. 10., Hervorhebung im Original, ES.

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dens erklären können. So kann davon gesprochen werden, dass Filmkameras mit ihrem Aufnahmebereich einen überwachten Raum schaffen.237 Zwar kann die*der Gefilmte, im Gegensatz zum Panopticon, dieses Sichtfeld der Kamera verlassen, doch hatte Harry Thaw im Gerichtsaal seinen festen Platz, aus dem er sich nicht selbstbestimmt entfernen konnte. Gleichwohl bestimmte die Filmkamera mit ihrer statischen Einstellung der Großaufnahme auf Thaws Kopf in gewissen Maße seinen Handlungsraum mit.238 Bei solchen Nahaufnahmen ist es möglich, dass die Filmkamera den »personal space«239 der Gefilmten verletzt, indem sie diesen technisch (etwa durch Teleobjektive), räumlich (die Positionierung der Kamera) oder informationell (die gefilmten Inhalte) zu nahe kommt.240 Durch die Festbrennweite früher Filmkameras kam der Filmende Thaw tatsächlich räumlich sehr nahe. Dieser schien sich des ihm zugewiesenen Kameraraums bewusst zu sein und davon gestört zu fühlen, wich er doch der Kamera mit seinen Blicken aus.241 Es bleibt jedoch nicht bei der einseitigen Machtposition der Kamera, obwohl sie, mit Foucault, für die Gefilmten im Wesentlichen die »Scheidung des Paares Sehen/ Gesehenwerden«242 bedeutet. Wie bereits bei den Blickbeziehungen in Fotografien festgestellt, besteht die Möglichkeit eines Wechselspiels zwischen Ermächtigung und Entmachtung der Blicke, die der*dem Gefilmten Subjekthaftigkeit verleihen kann.243 In der Filmaufnahme beachtet Thaw die Kamera zuerst scheinbar nicht, sondern hört jemand Dritten außerhalb des Kamerablickes zu, worauf er zu Lächeln beginnt. Indem er die Kamera ignoriert, reklamiert er Handlungsmacht und verleiht der Aufnahme zugleich dokumentierenden Charakter, da die Zuschauer*innen Thaw teilnehmend beobachten können, ohne mit ihm in Blickbeziehung zu treten. Wie jedoch Juliane Hornung am Beispiel der High Society-Leben von Harry Thaws Neffen Lawrence »Larry« Thaw und dessen Frau Margareth »Peggy« zeigen kann, war der »Zwang, vor der laufenden Kamera etwas vorzuführen, […] offenbar recht groß«.244 Diesem disziplinierenden Effekt der Kamera folgend, rauchte Thaw eine Zigarre und suchte Blickkontakt zu einem hinter ihm stehenden Mann. Zugleich zeigt diese Szene, dass das fehlende Skript dokumentarischer Filme stets die Gelegenheit bietet, dass »Arrangement und Inszenierung […] durchbrochen und 237 Vgl. Foucault: Überwachen, S. 251-92, insb. 256-63. Ausführlich zu diesen Überlegungen vgl. Hornung: Welt, S. 102-3, insb. Anm. 33-4. 238 Vgl. Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse, 5., aktual. und erw. Aufl., Stuttgart/Weimar 2012, S. 58. 239 Erving Goffman: Relations in Public. Microstudies of the Public Order, New Brunswick/London 2009 [1971], S. 29. 240 Vgl. ebd., S. 29-30. Dass Bewegtbilder in den räumlichen wie informationellen Privatraum eindrangen, wurde für die High Society als Authentizitätsfaktor ab den 1930er Jahren immer wichtiger, vgl. Hornung: Welt, S. 102-3. 241 Vgl. Dechert: Stars, S. 79. 242 Foucault: Überwachen, S. 259. 243 Siehe Kap. II.1.3. 244 Hornung: Welt, S. 135

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irritiert werden«.245 Obwohl unklar bleibt, wie ausführlich die Aufnahme zuvor mit Thaw abgesprochen wurde, illustrieren seine Handlungen, welche Möglichkeiten Gefilmte haben, autonom zu handeln. Als er seinen Zigarrenrauch in Richtung Kamera bläst, durchbricht er damit performativ die Anordnung.246 Thaw verhüllt damit für ein Sechstel der Szene sein Gesicht, was als eigensinniges Verhalten und zugleich Ausdruck seines aus den Medien bekannten und damit scheinbar authentischen (Konsum-)Verhaltens gedeutet werden kann.247 Als dieses fand es Eingang in das newsreel, bediente es damit doch Mechanismen der High Society.248 Bei Harry Thaws anschließenden Auszug aus dem Gerichtsgebäude umringte ihn eine »large delegation of male admirers, demonstrating their approval of the verdict«, wie der Nachrichtensprecher feststellt (Szene  8). Dieser »Wort-Bild-Zusam­ menhang«249 demonstrierte audio-visuell das Prozessspektakel und die plebizitäre Zustimmung zum Urteil. Zugleich bettete sich die Szenerie in ein Medienensemble ein, das ähnliche Blickwinkel auf das Ereignis lieferte. Tageszeitungen spiegelten mit Fotografien der Schaulustigen oder der Jury die Nachrichtensendung und flankierSzene 8 ten es noch mit Detailaufnahmen der zentralen Protagonist*innen. Konsument*innen konnten so den Verfahrensausgang regelrecht miterleben (Abb. 56). Das Bild zustimmender – meist männlicher – Menschenmassen prägte als Motiv dabei die Berichterstattung über Thaw seit 1906. Dass Thaw so zum populärkulturellen High Society-Mitglied geworden war, zeigt das zu diesem Zeitpunkt bereits übliche Medienensemble, das ihn verwertete. Neben Printmedien und Film fertigte etwa die Keystone View Company Glasplatten mit Fotografien des Prozesses an, die in Laterna Magica-Projektoren gezeigt werden konnten (Abb. 57). Vor allem durch populärwissenschaftliche Vorträge waren diese Projektionsapparate noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreitet und dienten als »Universalmedium der Vermittlung, […] der Popularisierung schlechthin«.250 Die Fotografien von Thaw, seinem Freispruch und seinen Familienmitgliedern wurden so über verschiedene mediale Formate in die teilnehmende Wirklichkeit konsumierender Öffentlichkeiten überführt und verstetigten seine Sichtbarkeit. Dies zeigt einen Normalisierungsprozess, da Harry Thaw als High Society-Mitglied weiterverhandelt wurde, etwa indem Filmaufnahmen neue Informationen über seine Person vermittelten. Zugleich blieben seine öffentlichen Auftritte etwas Spektakuläres, deren Berichte weiterhin Leser*innen fesselten. Die Folge war, dass er 245 246 247 248

Hickethier: Film, S. 186-7. Vgl. »Sidewalks of New York« (1915), 31:30-31:41. Vgl. Thaw Living Like a Prince in Sky Parlor, Evening World, 6.5.1908, S. 2. Zur Verbindung widerspenstiger Autonomie mit dem Eindruck von authentischen Filmaufnahmen vgl. Hornung: Welt, S. 134-6. 249 Hickethier: Fernsehnachrichten, S. 7. 250 Jens Ruchatz: »Vorträge sind Silber, Dias sind Gold. Medienkonkurrenz im Projektionsvortrag«, in: Boden/Müller: Wissen, S. 101-18, hier S. 104-5, Zitat: S. 105.

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Abb. 56: Fotoberichterstattung über den Prozessausgang (li.) und ähnliche Standbilder der Nachrichtensendung (re.).

allgemein bekannt und sichtbar blieb, wie etwa in den Straßen New Yorks: »Boys trotted alongside peering into the young man’s face and telling each other ›That’s Harry Thaw.‹ He is used to that.[!]«251 Kurz nach Thaws Freispruch erschien mit »I’m Going Back To My Home«252 ein letztes Musikstück, das seinen Fall zum Thema Abb. 56 machte: Die kurz rekapitulierte Skandalgeschichte steigerte sich in Thaws Zusicherung, der High Society künftig abzuschwören. Das Cover der Notenblätter war dabei eine Reminiszenz an das Medienensemble, das sich mit Thaws Fall beschäftigt hatte. In der Collage sind die umstrittenen Facetten seines High SocietyStatus abgebildet: Neben den kontroversen Interpretationen des Mordes und seiner Haft findet sich ein Bericht über sein erstes Ziel nach der Haftentlassung, die Vergnügungspromenade in Atlantic City, New Jersey, sowie seine Scheidungspläne von Evelyn Nesbit (Abb. 58). Das Stück zitiert somit die Dimensionen von Thaws Sichtbarkeit als High Society-Mitglied  – Skandal, Freizeitverhalten und Beziehungsle251 Thaw in Rush Hour Crowd in Subway, Telegram, 8./09./10.[?]1.1913, in: HU, FACLM, Roy Leak Collection of Papers Relating to Harry K. Thaw, 1904-66 (inclusive), H MS c369, Legal Paperwork and Newspaper Clippings (1908-1913), Clippings 4. 252 Walter Leigh (Musik)/Walter Irving (Text): I'm Going Back to My Home. One-Step, Fieldington Music Publishing Co., New York 1915, UC, Box 10.

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Abb. 57: Laterna-Magica-Platte mit Fotografien von Thaws Freilassung.

ben  – auf inhaltlicher und materieller Ebene. Es stellt damit den summierenden Abschluss der Skandalepisode um Thaw in audiovisueller Form dar, die ihn abschließend nochmals zum sensorischen Konsumgut machte. Der Blick auf die Jahre 1908 bis 1915 zeigt, dass Harry Thaw einen sukzessiven Professionalisierungsprozess durchlief. Den gesellschaftlichen Ausschluss durch seine Psychiatriehaft konnte er durch die mediale Aufmerksamkeit für sich umgehen, indem er in den Haftprüfungsverfahren Deutungshoheit über sich einforderte. Das scheiterte jedoch regelmäßig an der »biographischen Einheit« seiner Patientenbiographie. Dennoch stellte er damit die Interpretationsmacht der Psychiatrie infrage – ein Unterfangen, das innerhalb der Anstaltsmauern auf ihn zurückfiel. Erst als er die Taktik der maximalen Sichtbarkeit änderte, gelang es ihm, der Psychiatrie mediale Logiken aufzuzwingen. Unterstützt durch außerinstitutionelle Kontakte und sein Vermögen konnte er so letztlich seine Entmachtung aushebeln. Dies unterstrich, dass es sich bei der Zugehörigkeit zur High Society nicht allein um ein ephemeres Phänomen in den Rubriken der Gesellschaftsberichterstattung handelte. Vielmehr konnten ihre Mitglieder mit der einhergehenden Medialität gesellschaftliche Teilbereiche zu ihrem eigenen Nutzen überformen. Mit seiner Flucht zog Harry Thaw erneut die Aufmerksamkeit eines Medienensembles auf sich, das er für seine juristische Agenda einzusetzen wusste. Diese Aufmerksamkeit überspannte verschiedene Teilöffentlichkeiten: von den kritischen »why don’t they set him free?«

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Medien über die yellow press oder private Rezipient*innen, die sich, angeregt durch seine Sichtbarkeit, zur Kontaktaufnahme verleitet sahen, hin zur Populärkultur, die aus seiner Aufmerksamkeit finanzielles Kapital schlug. Obwohl Psychiatrieaufenthalt und Flucht syntagmatische Episoden in Thaws Medienbiographie waren, zeigen sie, dass die High Society eine neue Form der Aufmerksamkeitskultur geschaffen hatte: Thaw erlangte keine der symbolischen Kapitalsorten wie Ruhm, Prestige oder Reputation durch Gleichgestellte oder aufgrund besonderer Leistung. Vielmehr ermöglichte ihm seine Medialität, Abb. 58: Cover von »I’m Going Back To My Home«. das Aufmerksamkeitskapital in andere Felder, wie das der Psychiatrie oder Justiz, zu transferieren. Indem seine Handlungen ihn noch stärker sichtbar machten, verzinste sich, um mit Georg Franck zu sprechen, sein Aufmerksamkeitskapital.253 Abb. 58

253 Vgl. Franck: Ökonomie (2004), S. 120.

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2. Die Aufmerksamkeitsökonomie der Evelyn Nesbit (1908-21) Evelyn Nesbits High Society-Status war ebenfalls stark durch den Skandal geprägt. Die Untersuchung ihres weiteren Lebenswegs eröffnet – in Abgrenzung zu Thaws besonderer Situation – die Möglichkeit, zu analysieren, wie sich die eigene Sichtbarkeit professionell nutzen ließ. Daher wird im Folgenden zuerst näher betrachtet, wie Nesbit in den Jahren nach dem zweiten Mordprozess mit der anhaltenden medialen Aufmerksamkeit umging, was einen Eindruck von den damit einhergehenden (emotionalen) Kosten vermittelt. Nesbits Transfer in die Unterhaltungsindustrie im Jahr 1913 kann mit den damit verbundenen Professionalisierungsprozessen nachvollzogen werden, die das Nutzungspotenzial des High Society-Status transparent machen. Die dabei herausgearbeiteten Besonderheiten der Schnittmenge von High Society und dem Entertainment-Sektor der amerikanischen Kulturindustrie differenziert der dritte Teil des Kapitels. Es verfolgt Evelyn Nesbits Karriere als Filmschauspielerin in der zweiten Hälfte der 1910er Jahre, die verdeutlicht, dass die Transferleistung des High Society-Status darin bestand, den Anschein wahren zu können, auch auf der Leinwand Privatperson geblieben zu sein.

2.1. Selbstfindungsphase: Zwischen Rückzug und High Society Der Skandal hatte Evelyn Nesbit zur »most talked of woman in the world«1 gemacht. Daher waren die folgenden vier Jahre eine Selbstfindungsphase, in der sie die grundlegenden Koordinaten ihres Lebens neu zu justieren suchte.2 Nesbit begann damit, dass sie noch im Monat von Thaws Psychiatrieeinweisung die Scheidung beantragte, da sie sich während des zweiten Prozesses voneinander emotional entfremdet hatten. Zudem forderte sie eine finanzielle Kompensation für ihre Gerichtsaussage.3 Als sich abzeichnete, dass sie aufgrund von Thaws Geisteskrankheit keinen Zugriff auf sein Vermögen würde bekommen können, zog sie die Scheidungsklage zurück.4 1 Etta Foster: Wants Thaw Trial Details Suppressed, Evening World, 25.1.1908, S. 2. 2 Nesbit bezeugt dies etwa in ihrer Autobiographie von 1934, in der sie retrospektiv versucht, diese Phase kohärent darzustellen. Zu diesem Muster vgl. Etzemüller: Biographien, S. 60-1. 3 Vgl. Matteawan State Hospital: Examination of Harrry K. Thaw by Dr. James V. May and Dr. John W. Russell, Nov. 21, 22, 24, 25 and Nov 26, 1911, S. 99, HU, FACLM, Roy Leak Collection of Papers Relating to Harry K. Thaw, 1904-66 (inclusive), H MS c369; Nesbit: Story, S. 213, 218-20, 227, 231. 4 Vgl. Evelyn Nesbit Drops Her Annulment Suit, New York Times, 27.5.1908, S. 2; Mooney: Evelyn Nesbit, S. 284-5.

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Stattdessen einigte sie sich außergerichtlich mit Mary Copley Thaw, dem mittlerweile eingesetzten Vormund ihres Mannes, auf eine Einmalzahlung über 15.000 Dollar und eine monatliche Rente von 1.000 Dollar (heute rund 498.000 respektive 33.200 Dollar), die jedoch bereits im Folgejahr ausblieb.5 Mit diesem Vorgehen beschädigte Nesbit ihre Glaubwürdigkeit in den Prozessen, in denen sie die Rolle der unbedarften, liebenden Ehefrau eingenommen hatte. Hinzu kam, dass ihr High Society-Lifestyle erneut Anlass zum Skandal bot, als sie – noch immer verheiratet – alleine den Broadway besuchte. In der Folge entschied sie sich, ihren bisherigen Lebensstil aufzugeben. Sie zog sich größtenteils aus der Medien­öffentlichkeit zurück, wenngleich Thaws Haftprüfungsverfahren sie noch regelmäßig sichtbar machten. Für ihr Alltagsleben hatte sie ernüchtert feststellen müssen: »­ Notoriety has closed every avenue.«6 Ein neues Problem entstand, als Evelyn Nesbit im Frühjahr 1910 bemerkte, dass sie schwanger war. Einer ihrer High Society-Bekannten, Bobbie Collier, finanzierte ihr eine Europareise, sodass sie unabhängig von Thaws Geld inkognito nach Deutschland reisen konnte. In Berlin brachte sie am 25. Oktober 1910 ihren Sohn Russell William Thaw zur Welt, und zog mit ihm im Winter des gleichen Jahres – unbemerkt von den »bloodhounds of the press«7 – zurück nach New York.8 Dort lebte sie unter falschem Namen mit dem mutmaßlichen Vater des Kindes, dem Journalisten Jack Francis, zusammen,9 bis dieser Anfang 1912 ihre Geschichte an die New York World verkaufte und sie wieder in den Fokus der Medien geriet.10 Dieser Lebensabschnitt von Evelyn Nesbit verdeutlicht eine besondere Phase in der frühen High Society: Nie zuvor war das Privatleben eines High Society-Mitglieds so intensiv medial sichtbar gemacht worden. Daher war Nesbit gezwungen, neu auszuhandeln, wie sie mit diesem Aufmerksamkeitskapital umgehen und ihre Sichtbarkeit in Relation zu den Medien(-vertreter*innen) weiter handhaben wollte. Ferner hatte sie mit Thaw gebrochen, war jedoch noch immer mit ihm verheiratet, sodass sie ihr öffentliches Auftreten und ihre Identität als separierte Frau neu justieren musste. Vor diesem Hintergrund können ihre Aushandlungsversuche an vier 5 6 7 8 9

Vgl. Mrs Harry Thaw Tells of $15,000 She Didn’t Get, Evening World, 26.8.1913. Nesbit: Prodigal Days, S. 218. Ebd., S. 244. Vgl. ebd., S. 238, 242-4. Vgl. ebd., S. 246; Henry Kendall Thaw vs. Evelyn Nesbit Thaw, No. 1319 Oct. Term, 1915: Transcript of Official Notes of Testimony, S. 11-2, 32-9, 51-5, 64, Fifth Judicial District of Pennsylvania, ­Department of Court Records. Evelyn Nesbit behauptete stets, dass Harry Thaw der Vater sei. In Anbetracht seiner Sonderbehandlung in der Psychiatrie und Russell Thaws Ähnlichkeit mit ihmscheint dies möglich zu sein. Zwar widerrief Nesbit diesen Standpunkt, vgl. Notarielle Aussage von Evelyn Nesbit zur Vaterschaft von Russell Thaw (25.11.1947), UC, Container 1, doch war das die Voraussetzung, um ihren Erbanteil von Thaw über 10.000 Dollar (heute rund 132.600 Dollar) antreten zu dürfen, weshalb die Aussage kritisch zu bewerten ist. 10 Vgl. Henry Kendall Thaw vs. Evelyn Nesbit Thaw, No. 1319 Oct. Term, 1915: Transcript of Official Notes of Testimony, S. 65-6, Fifth Judicial District of Pennsylvania, Department of Court Records.

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Beispielen nachvollzogen werden: Erstens bei ihrer erneuten Skandalisierung, sei es über die Familienbeziehung mit den Thaws oder über ihren High Society-Lifestyle am Broadway. Beides verdeutlicht, wie sie mit der Verschiebung ihres Fremdbildes umzugehen versuchte. Zweitens gelang es ihr mit dem Rückzug aus den Medien, wieder stärkere Kontrolle über ihre Sichtbarkeit zu erhalten, was, drittens, auch an ihrem Verhalten in den Haftprüfungsverfahren deutlich wird. Viertens zeigt das Beispiel von Doppelgängerinnen, wozu ihre mediale Aufmerksamkeit führen konnte, was zugleich eine neue Rezeptionsdimension der High Society eröffnet.

Erneute Skandalisierung Erstens zeigte sich bei Evelyn Nesbit die neue, von ihrer Skandalisierung in den Prozessen geprägte Dimension ihres High Society-Status. Ihr zeitgenössisch problematischer Scheidungswunsch passte zu ihrem ambivalenten Bild,11 wenngleich ein finanzielles Arrangement mit Blick auf vergleichbare Trennungen von BroadwayDarstellerinnen und Millionären nicht ungewöhnlich gewesen wäre.12 Doch lehnte insbesondere Mary Copley Thaw kategorisch das Ansinnen ihrer Schwiegertochter ab, sich juristisch Zugriff auf Teile des Thaw’schen Vermögens zu sichern, weshalb sie ihr das außergerichtliche Angebot machte. Dies zeigt, wie stark Vermögensstrukturen mentalitätsgeschichtlich mit der Autonomie der Familie verbunden waren. Evelyn Nesbit erschien ihrer Schwiegermutter als regelrechter Eindringling in die Assoziationsgemeinschaft des familialen Wohlstands.13 Doch blieb Nesbit währenddessen weiterhin anschlussfähig für moderne Frauenbilder, als deren sichtbares Beispiel sie bei ihrem Kampf um finanzielle Gleichstellung angeführt wurde.14 Ihre Ambivalenz aus dem Skandal setzte sich hier also fort, indem sie wieder mit be­ stehenden Moralvorstellungen brach und sich zugleich als selbstbestimmte New Woman präsentierte – ein Bild, das ihren High Society-Status prägte. Noch bevor es zur Verhandlung kam, äußerten die Scheidungsparteien wechselseitige Vorwürfe der Geldgier und Berichte über ein Dossier mit Nesbits außerehelichen Beziehungen tauchte in der Sensationspresse auf.15 Die Presse behandelte 11 Vgl. Celello: Making Marriage, S. 21. 12 Vgl. etwa Florodora Girl Gets a Divorce, New York World, 20.12.1902, S. 2. Insb. in Pittsburgh hatte es in den 1900er Jahren diverse vergleichbare Scheidungen gegeben, vgl. Collins: Sinners, S. 19-20. 13 Vgl. Thaw Refuses Plea of Mother to Seek Divorce From Wife, Evening World, 18.2.1908, S. 1. Zur familialen Assoziationsgemeinschaft vgl. Gajek/Kurr: Reichtum, S. 15-6. 14 Vgl. When a Bachelor Sits In Judgement on Woman, Indianapolis Star, 19.4.1908. Zur Verbindung von finanzieller mit weiblicher Gleichberechtigung in der Frauenbewegung vgl. Christine Stansell: American Moderns. Bohemian New York and the Creation of a New Century, Princeton 2010, S. 241-6. 15 Vgl. etwa Thaw Attacks Wife After Learning of Detectives’ Report, Evening World, 9.3.1908, S. 1. selbstfindungsphase: zwischen rückzug und high society

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entsprechend ausführlich das sich entfaltende Beziehungsdrama, fiel es doch genau in die Kategorie von High Society-Berichten, die Privatheit erzeugten, da sie einen Blick hinter die äußerlich gezeigte Zweisamkeit lieferten und damit den Anschein von Authentizität auf Zeitgenoss*innen hatten.16 Diese Authentizität schuf Evelyn Nesbit gezielt selbst, etwa indem sie Journalist*innen einerseits aufforderte, sich aus ihren »domestic affairs« mit Thaw herauszuhalten;17 andererseits regelmäßig ihren Anwalt O’Reilly ermächtigte, »[to unbosom] himself of a little inside history [!] concerning the feeling existent between the family of Harry Thaw and his wife«.18 Es war ein regelrechtes Spiel mit der Medienöffentlichkeit: Nesbit pendelte zwischen Schließung und scheinbarer Öffnung ihrer Privatheit und hielt mit dieser bewussten Verknappung ihrer Person das Interesse an sich wach. Zugleich rückt dies den Aspekt der Kontrolle ihres medialen Bildes stärker ins Zentrum: Nesbit hatte zu Beginn des Scheidungsskandals erklärt, sie sei »sick and tired of being put in the wrong light«.19 Indem sie daraufhin die Informationen über sich in nur mehr geringen Dosen an die Öffentlichkeit dringen ließ, wirkten diese stärker darauf, wie sie wahrgenommen wurde, womit sie ihr Fremdbild wirksamer beeinflussen konnte. Nachdem diese öffentliche Scheidungsepisode zwischen Evelyn Nesbit und der Familie Thaw außergerichtlich beigelegt werden konnte, zeichneten sich bei ihr die mittelfristigen Folgen ihrer zweimaligen Missbrauchsaussage ab: Wie zeitgenössisch üblich, erhielt auch Nesbit große mediale Sympathie für ihren couragierten Auftritt vor Gericht, doch stand dies in starkem Missverhältnis zur danach folgenden, sozialen Diskreditierung der weiblichen Opfer.20 Ihre Erfahrungen legte Evelyn Nesbit ihrem autobiographischen Ich als böse Vorahnung in den Mund: [Taking the stand] would mean torture to me – it would mean perhaps everlasting effacement; it would certainly make me notorious. I was no better and no worse than any other normal being confronted with the prospect of having her most intimate secrets dragged into publicity.21 Die Kosten ihrer Sichtbarkeit zeigten sich für Nesbit vergleichsweise schnell, als die Presse sie Anfang April 1908 medial entmachtete. Am Abend des 30. März 1908 war Nesbit mit Edward R. Thomas, Wallstreet-Händler, Verleger und prominenter Figur 16 17 18 19 20

Vgl. Hornung: Blick, S. 10. Thaw’s Wife Takes Luncheon with Him, Evening World, 12.6.1908, S. 4. Mrs. Thaw Drops Annulment Suit and Delcares Why, Evening World, 26.5.1908, S. 2. Knows That Thaw’s Don’t Want Her Now, New York Times, 29.2.1908, S. 2. Vgl. Friedman: Name Robbers, S. 1114-5. Zudem fanden weder vor Gericht noch danach die Traumata der Vergewaltigungsopfer nennenswerte Berücksichtigung, vgl. Lisa Cardyn: The Construction of Female Sexual Trauma in Turn-of-the-Century American Mental Medicine, in: Mark S. Micale/Paul Lerner (Hg.): Traumatic Pasts. History, Psychiatry, and Trauma in the Modern Age, 1870-1930, Cambridge 2001, S. 172-202, hier S. 199-200. 21 Nesbit: Story, S. 134.

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der New Yorker High Society,22 am Broadway ausgegangen. Bei ihrer Einkehr in den Grillroom des Knickerbocker Hotel, einen der sogenannten lobster palaces, verweigerte ihnen das Management die Bewirtung und verwies sie des Lokals. Die Gesellschaftsberichterstattung griff den Eklat auf und skandalisierte ihn. Nesbit versuchte anfangs noch zu dementieren, musste den Vorfall aber schließlich einräumen.23 Die Affäre eröffnet dabei den Blick auf vier Ebenen von High Society, die Nesbits Sichtbarkeit nach den Sensationsprozessen prägen sollte: Erstens limitierte Nesbits Ehe mit Thaw ihre Handlungsmöglichkeiten, da sie nicht mehr dem High SocietyLeben einer unverheirateten Frau nachgehen konnte. Deren Face-to-Face-Gesellschaften an Orten wie dem lobster palace des Knickerbocker Hotel war besonders den Blicken der (Medien-)Öffentlichkeit ausgesetzt. Somit konnte Nesbit dort nicht unbeobachtet in Begleitung eines fremden Mannes erscheinen, ohne gleichzeitig an moralischen Vorstellungen von Respektabilität gemessen zu werden. Entsprechend kommentierte die Gesellschaftsberichterstattung dieses Verhalten mit dem Vorwurf einer außerehelichen Affäre. Diese skandalisierenden Sichtbarmachungen des Jahres 1908 beklagte Nesbit als »the beginning of my life-long torment at the hands of a scandal-minded portion of the public«.24 Zweitens nutzten Dritte die mediale Aufmerksamkeit der High Society. Nesbit verklagte den Hotelier wegen Rufschädigung, da er im Wissen um ihr mediales Potenzial dem »bid for publicity«25 für sein Hotel nicht habe widerstehen können und den Eklat bewusst provoziert habe.26 Währenddessen verwies der Leiter des Prince George Hotel, in dem Nesbit wohnte, sie des Hauses, denn seine Stammgäste »objected to the notoriety the house was receiving«.27 Die unterschiedlichen Reaktionen beider Manager divergierten noch deutlich von dem Verhalten zwei Jahrzehnte später: So konnte Elsa Maxwell, bekanntes High Society-Mitglied und -Kolumnistin, ab 1931 kostenlos im Waldorf Astoria wohnen, wodurch sich die Betreiber mediale Aufmerksamkeit versprachen.28 Drittens zeigte sich eine Verschiebung der Kommunikationswege in der Berichterstattung über die High Society. Während Nesbits und Thaws Cumberland HotelSkandal im Herbst 1904 noch von Reportern vor Ort und bei einer Verfolgungsjagd durch die Stadt dokumentiert wurde, kam nun das Telefon zum Einsatz: Darüber befragt, gaben Nesbit und das beteiligte Personal teils bereitwillig Auskunft.29 Dies 22 23 24 25 26

Vgl. Nicholls: Peerage, S. 95. Vgl. Evelyn Thaw’s Double Not Out With Thomas, Evening World, 2.4.1908, S. 2. Nesbit: Prodigal Days, S. 209. Ebd., S. 217. Vgl. Evelyn Thaw Sues Hotel Manager For $50,000, Evening World, 3.4.1908, S. 2; Nesbit: Prodigal Days, S. 216-7. 27 Evelyn Thaw Sues; She Charges Libel, New York World, 4.4.1908. 28 Vgl. Charles Schwartz: Cole Porter. A Biography, 2. Aufl., New York 1992, S. 63. 29 Vgl. Evelyn Thaw’s Double Not Out With Thomas, Evening World, 2.4.1908, S. 2. selbstfindungsphase: zwischen rückzug und high society

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steigerte sowohl die Authentizität der Berichterstattung, indem (in-)direkt Beteiligte selbst zu Wort kamen,30 als auch die soziale Teilhabe der Leser*innen an der High Society, da sie durch die verschiedenen Perspektiven auf die Geschehnisse einen scheinbar umfassenden Eindruck von deren Alltag bekamen.31 Viertens verfestigte Nesbits Normverstoß ihr sexuell ambivalentes Fremdbild und limitierte ihre Interaktionen mit Dritten. Für die 1930er Jahre kann Juliane Hornung zeigen, dass die Zusammentreffen der High Society das formelle Korsett des Gilded Age abgelegt hatten. Bei Mittagessen, Tanzpartys oder Abendveranstaltungen kam man sich näher, da »man sich, wenn nicht persönlich, so doch bereits aus den Medien kannte«.32 Dieses mediale Wissen voneinander und das Zugehörigkeitsgefühl zu einer gemeinsamen Gruppe prägten den Umgang miteinander.33 Entsprechende Entwicklungen hatten sich zu Nesbits Broadwayzeit bereits angekündigt, doch boten sich vergleichbare Vergesellschaftungsmöglichkeiten nach den Mordprozessen und Thaws Psychiatrieeinweisung kaum mehr.34 Ihre Sichtbarkeit blieb zwar paradigmatisch für die High Society, aber ihre Verortung im Sexskandal schränkte ihr gesellschaftliches Handlungsfeld stark ein. Diese Episode markierte damit einen neuerlichen Wandel im Status von Evelyn Nesbit: Hatte während der Mordprozesse ein Schwerpunkt der Berichterstattung auf ihrem früheren Privatleben gelegen, fokussierten sich die society pages nun auf aktuelle Einblicke in ihren Alltag. Gleichwohl war es eine Phase, die den medialen Druck auf sie erhöhte und sie zwang, sich erneut mit ihrem Fremdbild auseinanderzusetzen, da ihre Männerkontakte und die Scheidungsklage ihre problematische Frauenrolle als berechnende und Männer ruinierende Schönheit zu bestätigen schienen.35

Kontrolle durch Rückzug Zweitens machte Evelyn Nesbits Selbstfindungsphase deutlich, wie stark weiterhin finanzielle Mittel die Wahrnehmung als High Society-Mitglied prägten. Während der Mordprozesse hatte Nesbit noch versucht, stellvertretend für sich und Harry Thaw wieder an ihr Leben vor dem Mord anzuknüpfen. Sie spendete für wohltätige Zwecke, etwa während einer Gala der Metropolitan Opera,36 womit sie klassische Legitimierungsstrategien der Upper Class des ausgehenden 19.  Jahrhunderts 30 Vgl. Ruchatz: Individualität, S. 116-8. 31 Knut Hickethier spricht dabei von der »Suggestion einer unmittelbaren Teilhabe«, ders.: Zeitgeschichte, S. 358. 32 Hornung: Welt, S. 93. 33 Vgl. ebd., S. 93-5. 34 Vgl. Hotel Doors Closed to Evelyn Thaw, New York Times, 3.4.1908, S. 1; Nesbit: Story, S. 217. 35 Vgl. Frances A. Davis: More Unhappiness for ›The Unhappy Husband‹, in: Independent 64:3106 (11.6.1908), S. 1346. 36 Vgl. Actors’ Fair Set Going By Twain And Roosevelt, Evening World, 6.5.1907, S. 3.

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nutzte,37 und bezog mit 446 Park Avenue eine Villa in bester Gegend auf Höhe des Central Park, mit eigenem Fuhrpark und Dienstpersonal.38 Zugleich erschien Nesbit wieder regelmäßig in den women’s pages mit ihren Alltags- und Freizeitaktivitäten, wie Vergnügungstrips nach Coney Island oder Ausflügen nach Long Island.39 Der Zahlungsstopp der Thaws im Juni 1908 zwang sie jedoch, ein einfaches Apartment im Tenderloin, Höhe 33rd Street zu beziehen.40 Mit den fehlenden finanziellen Mitteln für ihren Lifestyle, ihrem einhergehenden Rückzug aus deren (halb-)öffentlichen Räumen und Face-to-Face-Gesellschaften veränderte sich in der zweiten Jahreshälfte 1908 ihre mediale Sichtbarkeit grundlegend: »[She hid] herself away from the notority which persisted in following her.«41 Die Folge war, dass das mediale Interesse an ihrem Privatleben abflaute. Das ­ermöglichte ihr einerseits, ihre mediale Sichtbarkeit wieder stärker zu steuern: So öffnete sie vereinzelt Pressevertreter*innen ihre Privatwohnung und inszenierte sich dabei als Künstlerin, womit sie neue Akzente in ihrem öffentlichen Bild setzte und zugleich von den üblichen Skandalthemen ablenkte.42 Andererseits veränderte sie grundlegend ihr Umfeld, zog sich weitestgehend aus der Öffentlichkeit zurück und verkehrte nicht mehr mit High Society-Mitgliedern sondern mit Broadway­ darsteller*innen, Anwälten, Schriftsteller*innen und Journalist*innen. In deren Gesellschaft jenseits der society-Berichterstattung führte sie ein Bohème-Leben mit Drogen, Kunst und außerehelichen Affären.43 Dass Letztere nicht an die Presse drangen, zeugt von deren zunehmendem Desinteresse an Nesbits privatem Verhalten. Denn im Kontext der Grillroom-Affäre hatten Printmedien gezeigt, dass sie durchaus bereit waren, das Tabuthema außerehelicher Grenzüberschreitungen  – ­besonders wenn Frauen diese vollzogen – auch an High Society-Mitgliedern zu thematisieren.44 Somit blieb Evelyn Nesbit aufgrund ihres veränderten Lebensstils weitgehend unsichtbar. Der Kontrast zu Harry Thaw zeigt, dass sich die Situation aus der Zeit vor den Prozessen regelrecht in ihr Gegenteil verkehrte: Während Thaw die mediale Sichtbar37 Vgl. White: Republic, S. 670-4. 38 Vgl. Hotel Doors Closed to Evelyn Thaw, New York Times, 3.4.1908, S. 1; Nesbit: Story, S. 208, 211. 39 Vgl. Evelyn Thaw Tours Coney, New York Journal, 17.5.1907; Evelyn Thaw Spends Day at Long Beach, New York Telegraph, 4.7.1907. Auf women’s pages etwa in Mrs. Evelyn Thaw Ill at Home, New York Daily Tribune, 26.9.1907, S. 4. 40 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 222. 41 Evelyn Thaw Is Making Models, New York Telegraph, 28.2.1909. 42 Vgl. Evelyn Nesbit Thaw Starts for Paris to Study Sculpture, Columbus Dispatch, 18.4.1910. 43 Vgl. Nesbit: Story, S. 219; dies.: Prodigal Days, S. 222-30. Außereheliche Affären bezeugten mehrere Zeug*innen im Scheidungsverfahren 1916, darunter Nesbits ehemaliges Hausmädchen, vgl. Henry Kendall Thaw vs. Evelyn Nesbit Thaw, No. 1319 Oct. Term, 1915: Transcript of Official Notes of Testimony, S. 14, 16, 19, 81, Fifth Judicial District of Pennsylvania, Department of Court Records. 44 Vgl. Banner: American Beauty, S. 191-2; Stansell: American, S. 277-9. selbstfindungsphase: zwischen rückzug und high society

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keit suchte und das finanzielle Potenzial hatte, um sich selbst – auch in der Haft – zu medialisieren, fehlte Nesbit das Finanzkapital, was ihr letztlich die Teilnahme an den Konsum- und Verhaltenspraktiken der High Society verunmöglichte. Finanzielle Mittel waren also nach wie vor zentral, um Teil der High Society zu bleiben.

Kontrolle durch gezielte Sichtbarkeit Nesbits Vorladungen zu Thaws Haftprüfungsverfahren (1908, 1909, 1912) rückten sie, drittens, unfreiwillig in unregelmäßigen Abständen in die Aufmerksamkeit der Medien. Diese neuerlichen Medialisierungen können nach dem Soziologen Andreas Brighenti als die langfristigen Folgen ihres im Skandal angesammelten Aufmerksamkeitskapitals betrachtet werden.45 Entsprechend versuchte Nesbit diese erzwungenen Sichtbarmachungen bestmöglich zu kontrollieren. Da sich Ende der 1900er Jahre Schnappschüsse in der Gesellschaftsberichterstattung durchgesetzt und Leser*innen daran gewöhnt hatten, ersetzten im Kontext der Haftprüfungsverfahren aktuelle Fotografien die vormals herangezogenen, meist anachronistischen Aufnahmen der Beteiligten.46 Dies ermöglichte Nesbit, stärkeren Einfluss auf ihr Selbstbild auszuüben, etwa indem sie sich durch ihre modische, aber zurückgenommene Kleiderwahl als normkonforme junge Frau inszenierte (Abb. 49). Ebenso zeigen die Fotografien ein neues mediales (Selbst-)Bild, da sie auf ihnen in der Regel direkt in die Kamera blickt.47 Dies bedeutet eine bewusste Einwilligung, medial sichtbar zu werden.48 Ex negativo zeigt dies eine Aufnahme aus dem Haftprüfungsverfahren von 1909. Nachdem Nesbit gegen ihren Ehemann ausgesagt und dabei erneut intime Details preisgegeben hatte, verweigerte sie im Anschluss ihre fotografische Entmachtung, indem sie ihr Gesicht mit einer Zeitung abschirmte (Abb. 59). Trotz des in der Fotografie sichtbar werdenden öffentlichen Interesses in Form der männlichen Blicke, die ihr in der Straße von White Plains folgten, gelang es ihr damit, sich der medialen Verwertbarkeit zu entziehen – wie die Bildbeischrift »Evelyn Thaw Dodging a Camera« anerkennt – und Handlungsmacht zu gewinnen. Dieses Schwanken zwischen Fragilität und Stärke entschied sie im Haftprüfungsverfahren 1912 für sich. Im Zeugenstand erklärte sie Thaws Anwalt Clearance J. Shearn, als er sie erneut zur Beziehung mit Stanford White befragen wollte: »I don’t propose to answer your questions any further. I have testified twice before [1907/8] and Thaw hid behind my skirts and I am not going to do it any more.«49 Mit dieser

45 46 47 48 49

Vgl. Brighenti: Visibility (2007), S. 332. Zu diesem Status siehe Anm. 1 auf S. 383. Vgl. Carlebach: Photojournalism, S. 28-30; Gervais/Morel: Making, S. 26-37. ›The Angel Child‹ Wants a Divorce, in: Bystander (25.8.1909), S. 385, ebenso in Abb. 49. Vgl. Paul Coates: Screening the Face, Basingstoke/New York 2012, S. 29. Evelyn Thaw Balks at Retelling Story, Sun, 22.6.1912, S. 6.

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Abb. 59: Agenturaufnahme »Evelyn Thaw Dodging a Camera« in White Plains (14.7.1909).

Aussage emanzipierte sie sich von ihrer Opferrolle und schloss damit für sich dieses Kapitel ab.50

Eine neue Rezeptionsebene: Nesbits Doppelgängerinnen Viertens führte die Kombination aus medialer Aufmerksamkeit, Interesse der Fans und anhaltender medialer Sichtbarkeit zur besonderen Nahbarkeit von Evelyn Nesbit als Person. Das konnte sich zur regelrechten persönlichen Spiegelung in Form von Doppelgängerinnen steigern. Daran lässt sich beobachten, wie stark die Identifikationswirkung der High Society sein konnte und welches Potenzial in dem sozialen Aufstieg in diese Gruppe gesehen wurde. In Salt Lake City, Utah, registrierte sich 1908 eine Frau in einem Hotel als Evelyn Nesbit, ließ sich ausführen und genoss das lokale Interesse, bis ihr Betrug nach einer Woche aufgedeckt wurde.51 Das funktionierte noch zwei Jahre später in Europa, als sich eine Betrügerin mit der gleichen Masche Zutritt zu einem österreichischen Prinzen und seinem Vermögen erschlich.52 Die High Society sorgte selbst durch 50 Vgl. Baatz: Girl, S. 257. 51 Vgl. Nesbit: Story, S. 224. 52 Vgl. Posed as Evelyn Thaw, New York Times, 6.11.1910, S. 1. selbstfindungsphase: zwischen rückzug und high society

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i­hren Anspruch, ihr authentisches Privatleben in der Berichterstattung zu zeigen, dafür, dass diese Imitationen funktionierten: Für das Double fand in Anlehnung an die Celebrity Studies »a transformation […] of personal identity«53 mit Evelyn Nesbit statt. Ihre Interpretation und Duplikation durch die Rezipientinnen basierte auf dem medialen Wissen um ihr Aussehen und ihre privaten Informationen, die die Doppelgängerinnen zu besitzen meinten.54 Der gleiche Mechanismus griff bei den Getäuschten, welche deren Behauptung akzeptierten, um ihr eigenes Wissen über Nesbit kundzutun und zugleich zu bestätigen. Nachdem 1912 die Medien von Nesbits Kind erfahren und sie erneut sichtbar gemacht hatten, ließ sie die liminale Phase zwischen Sichtbarkeit und Rückzug hinter sich: Sie nahm nach fast vier Jahren ihr High Society-Leben wieder auf, indem sie ihre ehemaligen Kontakte erneuerte. Dieser Weg führte diesmal über das cabaret, das mit Beginn der 1910er Jahre zu dem neuen Ort der Vergesellschaftung der High Society geworden war.55 Adressen wie das Maxim’s, Bustanoby’s oder Reisenweber’s zogen deren Mitglieder, aber auch Schauspieler*innen sowie normales Publikum an. Evelyn Nesbit kam in Kontakt zu Angehörigen der High Society, wie dem Theatermanager Florenz Ziegfeld (1867-1932), der Tänzerin Lillian Lorraine oder der späteren Club-Betreiberin Bonnie Glass.56 Obwohl sie über mehrere Jahre hinweg medial kaum sichtbar gewesen war, ermöglichte ihr akkumuliertes Aufmerksamkeitskapital ihr diesen erneuten Einstieg.

2.2. »Go back as a freak«: Evelyn Nesbits Transfer in das vaudeville Eine neue Phase in Evelyn Nesbits High Society-Mitgliedschaft begann im Frühjahr 1913 mit ihrem Eintritt ins vaudeville. Dabei gehe ich für ihre dortige Karriere von der These aus, dass dies einen paradigmatischen Versuch markierte, ihren High SocietyStatus finanziell nutzbar zu machen und zugleich selbst stärker sichtbar zu werden. Das lässt sich als Folge eines Prozesses der multidimensionalen Professionalisierung interpretieren, in dem sie ihre Medienkompetenz im Zusammenspiel mit Dritten geschickt nutzte und steigerte, um ihr High Society-Kapital in das Feld der Unterhaltungsindustrie zu transferieren. Da sie damit die Grundlage für ihren anschließenden Transfer in den Film schuf, weisen diese Abläufe bereits auf das anschließende Kapitel 2.3 voraus. Ihr Vorstoß in das vaudeville ebnete der High Society als Formation neue 53 Kerry O. Ferris: Building Characters: The Work of Celebrity Impersonators, in: The Journal of Popular Culture 44:6 (2011), S. 1191-208, hier S. 1191. 54 Vgl. Kittlitz: Starreligion, S. 98; Lilti: Invention, S. 10. 55 Vgl. Erenberg: New York Nightlife, S. 113-4. 56 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 247.

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Handlungs- und Inszenierungsfelder, die spätere Generationen als typische Entwicklungsmöglichkeiten ihres medialen Handelns würden nutzen können.57 Um diesen Wechsel nachvollziehen zu können, wird im Folgenden erst der dahinterstehende Professionalisierungsprozess betrachtet, dann dessen verschiedene Dimensionen anhand der für die High Society und Nesbits Transferprozess zentralen Kategorien von Körper, Alter und Geschlecht untersucht.

Professionalisierungsprozesse Der Erfolg von Evelyn Nesbits Eintritt in die Unterhaltungsindustrie lässt sich in Teilen als Folge eines Professionalisierungsprozesses verstehen. Zwar war High Society keine Profession, sondern setzte sich gerade aus Privatpersonen zusammen, die nicht durch klar markierte Zugangsschranken oder Institutionen gekennzeichnet waren.58 Doch kann trotzdem zur Erklärung des Versuchs, die eigene mediale Figur bestmöglich darzustellen und zu verwerten, auf die Anregungen der Professionalisierungsforschung zurückgegriffen werden. Sie liefert Argumente, wie Aushandlungsprozesse oder Formierungsfaktoren, die den Prozess der professionellen Nutzung der Zugehörigkeit zur High Society erklären helfen.59 Das idealtypische Schema von Hannes Siegrist unterteilt Professionalisierung in das Zusammenspiel dreier Akteursgruppen: »Professionalisierung von oben, die durch den Staat bestimmt wird […,] von unten, die von […] [einer] Berufsgruppe aktiv betrieben wird«, und »von außen [mittels der] Übernahme eines fremden Musters«.60 Adaptiert auf den Transfer des High Society-Status in die Unterhaltungsindustrie ergeben sich folgende Impulsgeber der Professionalisierung: rstens wirkten institutionelle Akteure aus dem Entertainment-Bereich von oben, indem sie das nötige Umfeld schufen; zweitens reagierten die High Society-Mitglieder von unten darauf, wenn sie sich daran anpassten; drittens dienten ihnen etablierte Muster und Vorbilder von außen als Leitlinien, die adaptiert oder imitiert werden konnten. Beim letztem Punkt halte ich es aus mediengeschichtlicher Perspektive für sinnvoll, diese Faktoren um die Erwartungshaltung des Publikums zu erweitern: Diese wirkte ebenfalls von außen auf die High Society-Mitglieder und strukturierte als Adressat der Unterhaltungsshows indirekt die Professionalisierung, indem sie mitbestimmte, welche

57 Vgl. Hornung: Welt, S. 56-9. 58 Vgl. ebd., S. 13. 59 Vgl. Isabella Löhr/Matthias Middell: Kultur als Beruf in Europa. Perspektiven aus Kunst, Kultur und Wissenschaft, in: dies./Hannes Siegrist (Hg.): Kultur als Beruf in Europa (= Europäische Geschichte in Quellen und Essays, 2), Stuttgart 2012, S. 11-25, hier S. 12-5. 60 Hannes Siegrist: Professionelle Autonomie in der modernen Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur. Einführung, in: Dietmar Müller (Hg.): Professionen, Eigentum und Staat: Europäische Entwicklungen im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 15-38, hier S. 30-1.

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Themen und Aspekte von den Performer*innen aufgegriffen wurden.61 Siegrist nimmt zudem eine klare und letztlich zielgerichtete Entwicklung hin zur Professionalität an.62 Dies lässt zufällige Prozesse der Kompetenzaneignung und Abgrenzung weitgehend außen vor und widerspricht insbesondere der Dynamik der frühen High Society in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts. Gerade in dieser Phase waren ihre Mitglieder mit der Fluidität der Gesellschaftsform, neuen Medien(-logiken) und Handlungsmöglichkeiten konfrontiert, für die es häufig kaum Vorbilder gab, sodass im historischen Moment die korrekten Entscheidungen zur professionellen Nutzung der eigenen Medienpräsenz offen blieben.63 Dies zeigen die intensiven Debatten, die Nesbits Eintritt in das vaudeville begleiteten. Tageszeitungen und Fachmagazine diskutierten, ob der Transfer ihres Aufmerksamkeits­kapitals aus der High Society in die Theaterwelt mit dem damit verbundenen finanziellen Profit legitim sei: Galt das Interesse des Publikums dem Inhalt ihrer Aufführungen und war es folglich eine akzeptierbare vaudeville-Unterhaltung, oder war es allein der mit ihr verbundene Sensationalismus, und damit ihr High Society-Status, der Besucher*innen anlockte?64 Eine Frage, die sich bereits in den 1920er Jahren nicht mehr stellte, als Frauen der High Society regelmäßig ihre mediale Sichtbarkeit für Theater- oder Filmauftritte nutzten: Dabei verwendeten sie ihren High Society-Status nicht mehr, um dauerhaft Eingang in das Theatergewerbe zu finden, sondern nutzten sporadische Auftritte, um ihre Sichtbarkeit zu erhöhen – die Arbeit an ihrem Status war ihr eigentlicher Beruf geworden.65 Die bis Ende 1914 anhaltende Debatte um Evelyn Nesbit zeigt jedoch, dass sie mit diesem Transferversuch eine Pionierin der High Society war. Daher wird im Folgenden der dynamische Prozess von Nesbits Professionalisierung exemplarisch für die frühe High Society untersucht, wobei unterschiedliche Akteur*innen sowie ihre Handlungsweisen und -motive in den Blick genommen werden, die auf den Eintritt in die Unterhaltungsindustrie einwirkten. Professionalisierung von oben Im Frühjahr 1913 überzeugten der Theatermanager Albert de Courville (1887-1960) und der Theateragent H. B. Marinelli (1864-1924) Evelyn Nesbit auf einer gemeinsa-

61 Diese Überlegung lehnt sich an den Einfluss der Leser*innen auf die Gestaltung der Printmedien an, vgl. Führer et al.: Öffentlichkeit, S. 16-8. 62 Vgl. Siegrist: Autonomie, S. 22-9. Eine stärkere Differenzierung und Berücksichtigung der Akteursperspektiven fordern Löhr/Middell: Kultur. 63 Pointiert betont dies Thomas Nipperdey: Kann Geschichte objektiv sein? Historische Essays, München 2013, S. 232. 64 Vgl. Mrs. Evelyn Thaw, in: Bystander (28.5.1913); In Re Evelyn Nesbit Thaw, Louisville Herald, 1.1.1914. 65 Vgl. Hornung: Welt, S. 56-8.

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men Überfahrt nach Europa davon, auf die Bühne zurückzukehren.66 Ihre finanziellen Probleme waren dafür ebenso ausschlaggebend wie ihre berufliche Alternativlosigkeit.67 Bereits 1909 hatte sie zu erkennen geglaubt, dass ihre Rückkehr untrennbar mit ihrem High Society-Status verknüpft werden würde: »I could only go back [on stage] as a freak, to be stared at.«68 Damit hatte sie sich 1913 abgefunden und ließ sich im Frühjahr von dem Manager des Londoner Hippodrome, Albert de Courville, engagieren, einem Varieté, das für seine weiblichen, körperbetonten Tanzshows berühmt war.69 Ihren ersten Auftritt außerhalb der USA stattfinden zu lassen, rührte wahrscheinlich daher, dass sie diesen, als biographischen Bruch wahrgenommenen Schritt vom Privatier zur Tänzerin über die Zwischenstation in Großbritannien abfedern wollte.70 Ihre Aufführung umfasste neben einem klassischen Walzer und Stepptanz auch moderne Tänze, wie den flotteren Tango oder Turkey Trott,71 und war damit zwar körperbetont, doch nicht skandalös: »[S]he had attempted nothing sensational, she had appeared and behaved modestly.«72 Der überwältigende Erfolg ihrer Tanzeinlage veranlasste Nesbit, H. B. Marinelli als Manager zu engagieren, einen der wichtigsten internationalen Theateragenten zu Beginn des 20. Jahrhunderts.73 Er sollte ihr Potenzial weiter ausschöpfen und ihr Engagements in den USA ermöglichen. Dort trat Nesbit erstmals im August 1913 im New Yorker Hammerstein’s Victoria Theatre auf.74 Zu diesem Zeitpunkt hatte das vaudeville seinen Zenit als führendes Unterhaltungsmedium überschritten. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war dessen Dominanz und kulturelle Prägekraft auf dem Entertainment-Markt während der 1890er und 1900er Jahre bereits Vergangenheit, und die Amerikaner*innen hatten sich dem Kino als neues Leitmedium verschrieben. Evelyn Nesbit trat somit gleichsam zu spät in dieses Unterhaltungsgewerbe ein. Doch setzten die großen vaudeville-Magnaten, wie Benjamin F. Keith (1846-1914) oder Edward F. Albee (1857-1930), in den 1910er Jahren als Reaktion auf den Bedeutungsverlusts nochmals auf besonders spektakuläre und pompöse Shows.75 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Vgl. Albert de Courville: I Tell You, London 1928, S. 140-1; Nesbit: Prodigal Days, S. 254. Vgl. ebd., S. 257-8. Thaw’s Wife in Bitter Mood, New York Times, 11.8.1909, S. 2. Vgl. Courville: Tell, S. 141-3; Harry Stone: The Century of Musical Comedy and Revue, Milton Keynes 2009, S. 15-6. Vgl. Simone Lässig: Die historische Biographie auf neuen Wegen?, in: GWU 60 (2009), S. 54053, hier S. 546. Vgl. Burns Mantle: Miss Evelyn Nesbit (Thaw) Dances and Is Triumphant, Chicago Sunday Tribune, 10.8.1913, S. 1, 8. Ebd., S. 1. Vgl. Nic Leonhardt: Theater über Ozeane. Vermittler transatlantischen Austauschs (1890-1925), Zugl.: München, Univ., Habil., 2017, Göttingen 2018, S. 248-78. Vgl. Evelyn Thaw Appears, New York Times, 5.8.1913, S. 7. Vgl. Andrew L. Erdman: Blue Vaudeville. Sex, Morals and the Mass Marketing of Amusement, 1895-1915, Jefferson 2004, S. 163-5.

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Entsprechend gut passte Evelyn Nesbits mediale und skandalisierte Person in dieses Konzept. Diese Erkenntnis war dabei nicht genuin neu, sondern setzte bereits Anfang der 1900er Jahre ein, wie David Nasaw feststellt: »The newspapers identified and marked individuals for celebrity; the vaudeville theaters capitalized on the marking by parading the notorious across their stages.«76 Für diese sogenannten freak acts war Willie Hammerstein (1875-1914), einer der Schrittmacher der Branche, maßgeblich verantwortlich, der sie in seinem Victoria Theatre, einer der führenden Bühnen Amerikas, popularisierte.77 Im Gegensatz zu körperlich Deformierten, die während des 19.  Jahrhunderts in Zirkussen und auf Jahrmärkten gezeigt worden waren, engagierte man nun skandalträchtige Personen, wie Kriminelle oder skandalöse Schauspieler*innen.78 Darin lag das Potenzial von Evelyn Nesbit, da das vaudeville mit ihr erstmals eine Person aus der High Society auf der Bühne präsentieren konnte, womit sie das Spektrum der freak acts erweiterte: In der Dekade vor dem Ersten Weltkrieg reichte die Bandbreite der vaudeville-Programme von harmlosen bis zu anzüglichen Sketchen und richtete sich teils explizit an ein männliches Publikum. Währenddessen hatten es die großen Ketten der Industrie, allen voran der B. F. Keith Circuit, durch geschicktes Marketing geschafft, sich den Ruf als moralisch unproblematischer, geschlechterübergreifender Vergnügungsort für die respektable Mittelschicht zu erarbeiten.79 Entsprechend weist Timothy Gilfoyle darauf hin, dass freaks immer schwieriger in die Programme der gehobeneren vaudevilles zu integrieren waren.80 Das verlangt angesichts Nesbits Beispiel jedoch der Differenzierung. Allein auf Basis ihrer Skandalträchtigkeit wäre sie eine Persona non grata für das vaudeville gewesen. Doch erlaubte ihr gerade ihr High Society-Status den Zutritt, da sie damit in dem Spannungsfeld aus Skandal und Respektabilität im vaudeville eine Brückenfunktion erfüllen konnte: Nicht allein ihr skandalöses oder erotisches Fremdbild stand im Zentrum, wie etwa bei der ehemaligen Burlesque-Tänzerin Mae West (1893-1980),81 sondern die Theatermanager setzten explizit auf ihren High Society-Status, indem sie die Wahrnehmung verstärkten, die private Evelyn Nesbit auf der Bühne zu zeigen. Ihre Auftritte blieben dadurch vordergründig unproblematisch, konnten über ihre Körperlichkeit, ihren Konsumismus und ihre Privatheit 76 Nasaw: Going Out, S. 28. 77 Vgl. Arthur Frank Wertheim: Vaudeville Wars. How the Keith-Albee and Orpheum Circuits Controlled the Big-Time and Its Performers, New York 2006, S. 130-1, 199-210, 255. 78 Vgl. Snyder: Big Time, S. 123-5. 79 Vgl. Peter C. Baldwin: In the Watches of the Night. Life in the Nocturnal City, 1820-1930, Chicago 2012, S. 165-6; M. Alison Kibler: Rank Ladies: Gender and Cultural Hierarchy in American Vaudeville, Chapel Hill 1999, S. 7-13; Snyder: Big Time, S. 119-20. 80 Dies verdeutlicht Timothy J. Gilfoyle am Beispiel von bekannten Kriminellen, die nur mehr in Tenderloin-Theatern auftreten konnten, vgl. ders.: Staging the Criminal, in: Prosp. 30 (2005), S. 285-307, hier S. 296-7. 81 Vgl. Kirsten Pullen: Actresses and Whores. On Stage and In Society, Cambridge 2005, S. 10-1; Kibler: Rank Ladies, S. 208.

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jedoch ambivalent gedeutet werden und schufen somit für Besucher*innen eine attraktive interpretative Grauzone. Das erkannte ein Kritiker der Variety, der festhielt: »Those who came to see Evelyn Nesbit Thaw must have received their money’s worth, for Evie [!] was much in evidence.«82 Ihren Status machte sie somit erst einmal unabhängig von ihrem tatsächlichen Können zur Ware. Völlig neu war Nesbits Transfer in das Entertainment-Business nicht. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Tänzerin Lola Montez (1821-1861) ihr im Skandal verortetes Aufmerksamkeitskapital dazu verwendet, erst in Europa eine Autobiographie mit intimen Details über ihre Affäre mit König Ludwig I. von Bayern zu publizieren,83 dann in den USA erneut an das Theater zu wechseln, um dort auf Tourneen suggestive Bühnenprogramme vorzuführen.84 Dabei transferierte sie nicht nur ihre mediale Aufmerksamkeit auf die Bühne, sondern beeinflusste mit ihren Leserbriefen und Statements aktiv die Medienberichterstattung über sich.85 Wie ihre Biographin Marita Krauss prononciert feststellt, war sie »eine Vorreiterin des heutigen Umgangs von Stars mit der Presse«.86 Doch muss diese Entwicklungslinie gar nicht so weit gezogen werden, denn bereits Evelyn Nesbit machte exemplarisch vor, wie sich vergleichbare mediale Aufmerksamkeit auf Basis skandalöser, privater und intimer Informationen in einem anderen gesellschaftlichen Kontext nutzen ließ. Nesbits Möglichkeit, als Angehörige der High Society in der Unterhaltungsindustrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts Fuß zu fassen, hing nach Hans-Joachim Rieke mit dem Strukturwandel der spätviktorianischen Öffentlichkeit zusammen. Produzenten verstanden diese nicht mehr als homogene Masse, sondern als Vielzahl konsumorientierter Teilöffentlichkeiten, deren Partikularinteressen es zu stillen galt.87 Das ermöglichte erst, das Vermarktungspotenzial der High Society zu erkennen, wie etwa in Nesbits Fall für das interessierte Lesepublikum der society pages.88 Damit hatte Willie Hammerstein bereits nach Ende des zweiten Mordprozesses geliebäugelt, als er Nesbit öffentlichkeitswirksam als Zuschauerin engagieren wollte, »leaving the public to be apprised of her presence [in the theatre] through the newspapers which would be attracted«.89 82 Evelyn Thaw Show, in: Variety (3.10.1913). 83 Marita Krauss: »Ich habe dem starken Geschlecht überall den Fehdehandschuh hingeworfen«. Das Leben der Lola Montez, München 2020, S. 235-6. 84 Vgl. ebd., S. 241-5, 251-2, 254-7. 85 Vgl. ebd., S. 249-50. 86 Ebd., S. 240. 87 Vgl. Hans-Joachim Rieke: Strukturwandel der Lebenswelt. Der Viktorianismus als Formationsperiode der Moderne (= Epistemata/Reihe Literaturwissenschaft, 72), Würzburg 1991, S. 133-45. Zur entsprechenden Entwicklung im Filmgewerbe siehe Anm. 214 auf S. 417. 88 Aber auch durch Konsumgüter, wie Groschenhefte oder Postkarten, siehe Kap. II.1.4 und II.4. 89 Evelyn Thaw Finally Declines, in: Variety (Okt. 1908).

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Dementsprechend ermöglichte das erwartete Publikumsinteresse es Evelyn Nesbit auch, für ihre Premiere in New York eine der bis dato höchsten Gagen im Unterhaltungsgewerbe mit 3.500 Dollar pro Woche fordern zu können (heute rund 108.000 Dollar), mehr als das Dreifache eines durchschnittlichen Jahresgehalts.90 Als Harry Thaw im August 1913, in der dritten Woche ihres Victoria Theatre-Engagements aus Matteawan ausbrach, bestätigte sich die Relation von Nesbits Privatleben und ihren Auftritten: Die Flucht katapultierte auch sie in die Schlagzeilen und schuf einen Werbeeffekt, den Hammerstein schürte, indem er ihr medienwirksam eine bewaffnete Leibwache zuteilte.91 Aufgrund des folgenden Besucheransturms verlängerte er ihr Engagement um vier Wochen und konnte einen Umsatzrekord verbuchen.92 In den kommenden vier Jahren tourte Nesbit für einige der größten vaudeville-Ketten, wie den B. F. Keith Circuit, bis zu zweimal jährlich quer durch die USA und spielte vor ausverkauften Rängen.93 Wie stark ihre Auftritte als Ausdruck ihrer Privatheit als High Society-Mitglied wahrgenommen wurden, zeigen die wiederholten Versuche, sie zu verhindern: Anfang 1914 wurde sie in Richmond, Virginia, kurzzeitig wegen des Vorwurfs unmoralischer Tänze festgenommen  – eine Assoziation, die sie, wie gezeigt, explizit vermied –, und bereits im Dezember 1913 hatte die Familie Thaw erfolglos gegen ihren Auftritt im Pittsburgher Alvin Theatre zu intervenieren versucht.94 Beides referierte direkt auf Nesbits skandalöses Fremdbild von 1907/8, das seitdem die Grundlage ihrer Medialität bildete und mit konservativen öffentlichen Moralvorstellungen sowie dem Selbstverständnis der Upper Class konfligierte. Die Zensurversuche hatten jedoch den gegenteiligen Effekt und verstärkten das Interesse lokaler Öffentlichkeiten an ihrer Darbietung.95 Das zeigte sich noch im Dezember 1917, als der New York Dramatic Mirror ihre neue Tournee als »big headliner« und eine der »attractions of stellar magnitude«96 der kommenden Saison ankündigte. Er nannte sie dabei in einem Zug mit populären Sängern oder Schauspieler*innen wie Eva Tanguay, Eddie

90 Vgl. Mrs. Evelyn Thaw to Do a Dance Here, New York Times, 6.7.1913, S. 11; Kibler: Rank Ladies, S. 79. 91 Vgl. Bodyguard for Evelyn Thaw, Evening Star, 18.8.1913, S. 3. 92 Vgl. Hammerstein Receipt Record Taken by Marinelli Star, in: Variety 31:11 (15.8.1913), S. 4; Evelyn Nesbitt Continues at Hammerstein, o. Z., 23.8.1913, in: Evelyn Nesbit, Vol. 2, S. 87, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 359. 93 Sie trat dabei in den meisten amerikanischen Großstädten entlang der beiden Küsten, im Mittleren Westen und den Südstaaten auf, vgl. Baatz: Girl, S. 337. 94 Vgl. Crutchfiled Rules on Evelyn, Alexandria Gazette, 12.2.1914, S. 1; Evelyn Nesbit Opens Heavily, in: Dramatic News (6.12.1913). 95 Vgl. Evelyn Nesbit Wins Triumph in Pittsburgh, o. Z., 5.12.1913, in: Evelyn Nesbit, Vol. 2, S. 106, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 359. 96 News of Stock Plays and Players, in: New York Dramatic Mirror (29.12.1917).

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Leonard oder Cecil Cunningham,97 denn auch Nesbit gelinge es weiterhin, ihre »popularity with local theatergoers«98 einzulösen. Ebenso begriffen die Akteure der Unterhaltungsindustrie das Potenzial der schon erprobten populärkulturellen Vermarktung der High Society, die sie mit ihren eigenen Strategien kombinierten. Als Evelyn Nesbit Ende 1913 über die Theaterproduzenten F. Ray Comstock und Morris Gest auf Tournee ging, verlegten diese ein »Souvenir Album of Evelyn Nesbit«, das jedoch mit seinen erotischen Studioaufnahmen von Nesbit stärker als auf der Bühne ihre Erotik betonte.99 Dort referierte sie eher indirekt auf ihre medial bekannte sexuelle Intimität, etwa wenn sie in »Tumble in Love« (1915) ein frivoles Tête-à-Tête besang, dessen Notenblätter mit Nesbits Konterfei die Besucher*innen nach der Vorstellungen im Foyer kaufen konnten.100 In dieses Spektrum passten weitere Lieder, Postkarten oder Zigarettenbildchen, mit denen sich – parallel zur populärkulturellen Rezeption während der Sensationsprozesse  – die Spannbreite ihrer sexuellen Ambivalenz und ihrer Person von einem möglichst breiten Publikum aneignen ließ.101 Der Transfer von Nesbits Aufmerksamkeitskapital in das vaudeville funktionierte auch auf internationaler Ebene. Nach ihrem Londoner Debüt buchte sie ihr Agent H. B. Marinelli ein Jahr später, gemeinsam mit dem Komiker Willie Solar, in das Pariser Théâtre Marigny an der Champs-Élysées. Das Pariser Kulturmagazin Comœdia bewertete den Auftritt im Juli 1914 überaus positiv: »La célèbre danseuse américaine et le grand comique d’outre-mer ont trouvé devant le public parisien, la consécration de leur talent si remarquable.«102 Hatte die Populärkultur die High Society bereits während der Sensationsprozesse zum internationalen Konsumprodukt gemacht, zeigte sich nun der gleiche Mechanismus auf Ebene der persönlichen Konsumier97 Vgl. ebd. 98 Reports From Mirror Correspondents, in: New York Dramatic Mirror (16.2.1918), S. 30. 99 Vgl. Souvenir Album of Evelyn Nesbit Thaw, New York 1913, in: UCBL, SCD, Camille Cummings Papers (MS 255), Box 15, Folder 10. 100 Vgl. Franklin Malvin (Musik)/Wilkie White (Text): Tumble in Love (Gee! But I’d Like to Tumble in Love with a Girl Like You!). Successfully Introduced by Evelyn Nesbit and Jack Clifford, Jos. W. Stern & Co., New York et. al. 1915, UC, Box 10. 101 Vgl. Postkarten, UC, File 7; Zigarettenbild »Sweet Tree Leaf« (1917), UC, Ephemera; Lieder wie Percy Wenrich: Whipped Cream Rag. Feature Number Used by Evelyn Nesbit and Jack Clifford, Wenrich Howard Co., New York 1915, UC, File 10. Nesbit wurde so Teil der massenhaften Verbreitung von Musik, schaffte jedoch nicht den Transfer auf die immer wichtigeren Tonträger, die zusammen mit dem Radio in den 1920er Jahren einen nationalen Klang- und Rezeptionsraum schufen, vgl. Katrin Horn: USA 1900-1960. Populäre Musik im/als Spiegel ihrer Zeit, in: Martin Pfleiderer et al. (Hg.): Stimme, Kultur, Identität. Vokaler Ausdruck in der populären Musik der USA, 1900-1960 (= Texte zur populären Musik, 8), Bielefeld 2015, S. 23-52, hier S. 26-32. 102 Music-Halls et Cafés-Concerts, Comœdia, 21.7.1914.

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barkeit: In Anlehnung an die Celebrity Studies wurde sie dabei nicht mehr nur medial vermittelt, sondern konnte unmittelbar konsumiert werden.103 Normalerweise suchten in Europa amerikanische Talentscouts nach Darsteller*innen, wie etwa Florenz Ziegfeld, der 1907 in Paris Anna Held (1872-1918) für seine New Yorker Follies fand.104 Marinelli konnte mit Nesbit einer umgekehrten Logik folgen, da ihre internationale Sichtbarkeit als High Society-Mitglied sie auch in Europa vermarktbar machte.105 Ihr Sensationswert war dabei vergleichbar mit dem anderer internationaler Spektakel, wie William »Buffallo Bill« Codys (1846-1917) Europatourneen mit seiner Wild West Show (1890-7, 1902-6).106 Auch Nesbit sollte eine Tournee durch die Länder führen, die sie bereits während des Mordskandals medial rezipiert hatten, wie das Deutsche Reich und Großbritannien; doch zerschlug der Beginn des Ersten Weltkrieg diese Pläne.107 Professionalisierung von außen Als zweite Ebene der Professionalisierung gilt es, äußere Faktoren zu betrachten. In Nesbits Fall gliederten sie sich in die Erwartungshaltung der Publika und bereits vorhandene Modelle des Transfers von Aufmerksamkeitskapital. Ersteres basierte, wie Theaterkritiker*innen bemängelten, »entirely on the notoriety gained through a revolting murder trial«.108 Dies veranlasste Nesbit, in ihren Programmen entsprechend auf ihre Lebensgeschichte zu referieren.109 Auch die Fotografien für ihre Tourneewerbung spielten wieder verstärkt mit erotischen Assoziationen.110 Die Öffentlichkeit kann somit als Akteurin der Professionalisierung von außen betrachtet werden, die es High Society-Mitgliedern ermöglichte, ihren Status auch außerhalb der society pages für sich nutzbar zu machen. Zugleich verlieh Nesbit dieses Publikumsinteresse Handlungsmacht gegenüber der Unterhaltungsindustrie, sodass sie über ihr Fremdbild mitbestimmen konnte.111 Wie bereits in Kapitel I gezeigt, waren die Erwartungen der Öffentlichkeit ausschlaggebend dafür, wie die Presse High

103 Vgl. etwa Redmond: Celebrity, S. 4-5. 104 Vgl. Andrew L. Erdman: Queen of Vaudeville. The Story of Eva Tanguay, Ithaca 2012, S. 138-9. 105 Zur Transnationalität der Theateragent*innen und -akteur*innen vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Leonhardt: Theater, S. 135-278. 106 Vgl. Louis S. Warren: Buffalo Bill’s America. William Cody and the Wild West Show, New York 2006, S. 344-58, 524-5. 107 Vgl. Nesbit: Prodigal Days, S. 272. 108 Burns Mantle: Miss Evelyn Nesbit (Thaw) Dances and Is Triumphant, Chicago Sunday Tribune, 10.8.1913, S. 1, 8, hier S. 1. 109 Siehe Anm. 100 auf S. 399. 110 Vgl. Annonce: Evelyn Nesbit Thaw, o. Z., [1913/14], in: Evelyn Nesbit, Vol. 3, S. 6, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 360. 111 Vgl. Bozeman Bulgar: Opening and  Closing in ›One‹, in: Saturday Evening Post 186:27 (3.1.1914), S. 16-7, 49-50, hier S. 17.

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S­ ociety thematisierte. Nun wird erneut ihre Bedeutung sichtbar bei der Frage, ob es gelang, das eigene mediale Fremdbild in andere Felder zu transferieren. Die Grundlage dieses Publikumsinteresses darf im Erlebnis der Aufführung gesehen werden, denn, laut dem Theaterwissenschaftler George Rodosthenous, bildet der Theaterraum einen »institutionalized space for voyeurism«.112 Einen wesentlichen Teil des Zuschauervergnügens macht der sonst kaum mögliche, ungestörte gaze auf die Darsteller*innen aus, verbunden mit der Hoffnung, einen lebensechten Eindruck von ihnen zu bekommen.113 Entsprechende Reaktionen unter den Zuschauer*innen auf Nesbits Auftritt hielt der Theaterkritiker Burns Mantle fest: »[T]he body of the audience was too busy noting the exact appearance of the celebrity to think much of the customary greeting [in the beginning].«114 Als ihre nur gut achtminütige Tanzeinlage beendet war, schien der Voyeurismus des Publikums dennoch erfüllt worden zu sein: »[T]he audience insisted on being very sympathetic.«115 Somit können Nesbits Theaterauftritte als neue Dimension ihres High Society-Status interpretiert werden: Ihre Performance war für sich genommen nebensächlich, solange sie es den Zuschauer*innen ermöglichte, die sonst nur mittelbar aus den Printmedien erfahrbare Person unmittelbar in der eigenen Lebenswirklichkeit zu erleben. Professionalisierung von außen bedeutet insbesondere die Orientierung an bereits etablierten Mustern. Entsprechend nahm Evelyn Nesbit Anklang an Handlungsweisen anderer High Society-Akteur*innen, um sich in der Unterhaltungsindustrie zu etablieren. Dazu zählten insbesondere das Tänzerpaar Irene (1893-1969) und Vernon Castle (1887-1918), die in den 1910er Jahren mit ihren körperbetonten und expressiven Tänze stilbildend für die amerikanische Tanzkultur waren und dadurch Zutritt in die New Yorker High Society erlangten. Moralischen Bedenken gegenüber ihren Tänzen waren sie mit reformerischen Argumenten begegnet, indem sie die physischen Vorteile des Tanzens plausibel vermarkteten und in moderne Körperdiskurse einschrieben: Tanzen sei gesund, erhalte die Jugend und fördere Eleganz ebenso wie Schönheit. Auf diesem Weg halfen die Castles, das social dancing als legitimes Gesellschaftsvergnügen vor dem Ersten Weltkrieg zu etablieren.116 Nesbit imitierte ihr Vorbild sowohl in den Medien, als sie 1913 eine mehrteilige Tanzko-

112 Patrice Pavis (Hg.): Dictionary of the Theatre. Terms, Concepts, and Analysis, Toronto 1998, S. 388. 113 Vgl. George Rodosthenous: Introduction: Staring at the Forbidden: Legitimizing Voyeurism, in: ders. (Hg.): Theatre as Voyeurism. The Pleasures of Watching, London 2015, S. 1-25, hier S. 8-9. 114 Burns Mantle: Miss Evelyn Nesbit (Thaw) Dances and Is Triumphant, Chicago Sunday Tribune, 10.8.1913, S. 1, 8, hier S. 1. 115 Ebd., S. 8. 116 Vgl. Erenberg: New York Nightlife, S. 165-8, 170-1.

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lumne veröffentlichte, welche derer der Castles zum Verwechseln ähnelte,117 als auch auf der Bühne. Dort kombinierte sie Erotik mit Sittsamkeit, wie bei dem von ihr entwickelten Modetanz: dem North American Tango. Dieser fördere Sportlichkeit und Gesundheit und sei, im Gegensatz zu seiner südamerikanischen Ursprungsvariante, zugleich »modest and graceful«.118 Damit brachte Nesbit Argumente wie Körperlichkeit, Respektabilität und race gegen Kritiker*innen des dance craze der 1910er Jahre an, deren Vorbehalte sich gegen die körperbetonten Tänze als unzivilisiert und animalisch richteten.119 Entsprechend gelang es ihr auch, für die New Yorker Upper Class-Sprösslinge und High Society-Mitglieder Tanzkurse im Ballsaal des Ritz-Carlton Hotel anzubieten. Die Folge war, dass »[t]he North American tango is now being danced at all of New York’s fashionable cafes, private homes, hotels, and the Casino in Newport«.120 Diese Argumentation, die Nesbit parallel in Interviews über ihre Bühnenauftritte verbreitete,121 erwies sich insofern als zielführend, als Publika und vaudeville ihr diese Selbstdarstellung abnahmen. Folglich konnte sie 1914, 1915 und 1918 in dem für sein tadelloses Image bekannten B. F. Keith Circuit auftreten.122 Welchen Erfolg es versprach, etablierte Muster zu übernehmen, zeigt der Vergleich mit anderen Darstellerinnen, deren Fremdbild ebenfalls sexuell konnotiert war: Während die populäre Mae West sich nicht von ihrem problematischen Burlesque-Hintergrund löste und bis in die frühen 1930er Jahre ein sexualisierter freak act blieb, gelang der skandalträchtigen Tänzerin Eva Tanguay (1878-1947) dieser Wandel. Indem sie ihr sexuelles Image ausdifferenzierte, blieb sie anschlussfähig, womit ihr erst der Transfer in den B. F. Keith Circuit und später in den Film gelang.123

117 Vgl. Evelyn Nesbit: The Dances of Today by Evelyn Nesbit Thaw, Richmond Palladium and Sun-Telegram, 21.8.1913, S. 8. Es gilt zu vermuten, dass dieses Lokalblatt den Artikel über ein Nachrichtensyndikat bezog, womit Nesbits Tanzkolumne im Umkehrschluss ein breites Publikum erreicht haben dürfte. 118 Evelyn Nesbit: The Dances of Today by Evelyn Nesbit Thaw, Richmond Palladium and SunTelegram, 27.8.1913, S. 8. 119 Vgl. Wallace: Gotham, S. 472-3. 120 Vgl. Evelyn Nesbit Thaw In the ›North American Tango‹ captivated ›400‹, Detroit Journal, 25.11.1913. Auch damit imitierte sie die Castles, die mit ihrer Tanzschule in Kontakt zu High Society-Mitglieder wie den Vanderbilts und Astors gekommen waren, vgl. Wallace: Gotham, S. 474-5. 121 Vgl. Stevens Otheman: Evelyn Thaw Here: Tells Her Stage Aims. Dancer Denies Trading Upon Notoriety, Los Angeles Examiner, 2.3.1914. 122 Vgl. »News of Stock Plays and Players«, in: New York Dramatic Mirror (29.12.1917). 123 Vgl. Marybeth Hamilton: When I’m bad, I’m better. Mae West, Sex, and American Entertainment, New York 1995, S. 42-4; Glenn: Female Spectacle, S. 218-9.

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Professionalisierung von unten Drittens war die Karriere im vaudeville eine von Evelyn Nesbit letztlich selbst betriebene Professionalisierung. Sie musste sich dazu sowohl selbst inszenieren als auch einwilligen, ihren High Society-Status finanziell zu verwerten.124 Mit ihrem Eintritt in das vaudeville versuchte Nesbit, sich von dem ephemeren Status als freak act zu lösen und ihre Karriere zu professionalisieren. Sie formulierte immer vehementer ihren künstlerischen Anspruch, indem sie ihr Bühnenprogramm selbst gestaltete: Bereits Ende 1913 erweiterte sie mit dem melodramatischen Stück »Mariette« ihre Tanzeinlagen um Gesang und Theaterspiel, wozu sie schließlich eine eigene Choreografie entwickelte.125 Diese künstlerischen Ambitionen konnte sie nach Ansicht eines Theaterkritikers bereits auf ihrer zweiten US-Tournee (1914/15) einlösen: »[T]he claim is now advanced that Miss Nesbit has reached a height in artistry where she must be reckoned with on her own merits and not merely gazed upon because of her exceedingly sensational history.«126 Interessanterweise unterschied sich Nesbits Vorgehen dabei von der generellen Entwicklung in der Unterhaltungsindustrie. Bereits seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatten Theaterdarsteller*innen wie Sarah Bernhardt statt ihres artistischen Könnens immer stärker ihre personality betont.127 Daran unterschied die Theaterkritikerin Caroline Caffin in ihrer zeitgenössischen Beschreibung des vaudeville die bedeutsamen von den unbedeutenden Darsteller*innen: »[I]t is ever the strong personality and the ability to get it across the footlights and impress it upon the audience that distinguish the popular performer.«128 Mit am erfolgreichsten gelang dies Eva Tanguay, die sich ab 1901 mit exzentrischen Auftritten und sensationellen Affären eine mediale Persönlichkeit schuf. Jedoch begleitete diese Inszenierungen der Persönlichkeit, die sich aus Informationen über das Private und Persönliche speiste, stets der potenzielle Vorwurf »of falseness, of acting, of dissimulation«,129 der aus dem performativen Theaterkontext der Darsteller*innen resultierte. Davon befreit war Nesbit als Repräsentantin der High Society. An und mit dieser hatte die Gesellschaftsberichterstattung zur Entwicklung des personality-Konzepts beigetragen. Da Nesbits Privatheit von Beginn an medialisiert worden war, traf sie gerade nicht der Vorwurf der medialen Inszenierung ihrer Persönlichkeit.130 Weil dies gleichsam die Basis ihres Aufmerksamkeitskapital bildete und als Grundtenor

124 Vgl. Hornung: Welt, S. 339-40. 125 Vgl. Merriman Scrapbooks, T1:57-108, S. T1:97-8, UP, ASC, Curtis Theatre Collection, CTC.1964.01, Series 1, Box 17, Folder 6. 126 Evelyn Nesbit Returns to Palace an ›Artist‹, New York Tribune, 17.10.1915, S. 4. 127 Vgl. Roberts: Rethinking, S. 103-8. 128 Caroline Caffin: Vaudeville. The Book, New York 1914, S. 26. 129 Erdman: Blue Vaudeville, S. 142. 130 Vgl. Hornung: Welt, S. 93.

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ihre gesamte Entertainment-Karriere durchzog,131 konnte Nesbit bereits als media­ lisierte Persönlichkeit auf die Bühne treten und gegenläufig zur allgemeinen Entwicklung ihren Fokus auf die artistische Professionalisierung ihres Bühnenauftritts legen. Zudem emanzipierte sie sich damit von zeitgleichen Entwicklungen am Broadway: Das Aufkommen der Ziegfeld Follies, den in langen Chorreihen tanzenden, sich in ihrer Schönheit gleichenden 18- bis 23-Jährigen, veränderte seit Mitte der 1910er Jahre das Schönheitsideal. Mädchenhafte Jugend und Schlankheit, Größe und lange Beine wurden zur neuen Norm, jedoch spielte  – und hier bestand die doppelte Lücke für Nesbit – individuelles Können und personality bei diesen Darstellerinnen in industriell durchexerzierten Bühnenstücken keine Rolle mehr.132 Um ihre Auftritte (finanziell) zu koordinieren und medial zu beeinflussen, gründete Evelyn Nesbit die »Evelyn Nesbit Thaw Co.«133 und engagierte verschiedene Theater- und einen Presseagenten.134 Indem sie sich als Unternehmerin versuchte, professionalisierte sie ihre Bemühungen, ihren High Society-Status zu verwerten; ein Vorgehen, das auch spätere Mitglieder praktizierten.135 Auch am Umgang mit ihrem Nachnamen lässt sich diese zunehmende Professionalisierung erkennen: Nachdem Nesbit es am Beginn ihrer vaudeville-Karriere abgelehnt hatte, den Namen »Thaw« zu verwenden, änderte Harry Thaws Flucht im August 1913 ihre Perspektive als Unternehmerin: [Evelyn Nesbit’s] press agent was quick to seize the opportunity and the public stood for it. Thinking people could see no possible legitimate connection between Thaw’s doings and those of his estranged wife, Mrs. Thaw’ press agent gave out pages of ›interviews‹ and the [Hammerstein’s Theatre] roof garden ›turned ’em away‹ nightly. Such is fame.136 Das mit ihrem Ehenamen verbundene Aufmerksamkeitskapital nutzte Evelyn Nesbit bis zu ihrer Scheidung 1916, womit auch sie die Verbindung zu Thaw, zumindest medial, aufrecht hielt. Wie beschrieben, setzte mit ihrer Etablierung im vaudeville wieder verstärkt ihre populärkulturelle Verwertung in Konsumgütern ein. In dieses Feld stieß Nesbit nun selbst vor und veröffentlichte 1914 ihre Autobiographie in einem Londoner 131 Vgl. etwa Nellie Revell: The New Year in Vaudeville, in: Theatre Magazine 27:203 (Jan. 1918), S. 18. 132 Vgl. Glenn: Female Spectacle, S. 159-62, 169-87. 133 Rechnungen an Evelyn Nesbit Thaw Co. (12.-27.9.1913), ShA, Contracts I, Box 11, Folder 219, Group I, no. 219: Nesbit/Thaw Company – The Dollar Princess Photos. 134 Vgl. New Yorkers Hope for Gay Season, Richmond Palladium and Sun-Telegram, 27.9.1913, S. 5. 135 Vgl. Hornung: Welt, S. 219. 136 New Yorkers Hope for Gay Season, Richmond Palladium and Sun-Telegram, 27.9.1913, S. 5.

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Verlagshaus,137 worin sie ein scheinbar authentisches Bild des Skandals und ihres High Society-Lebens bot, wie sie im Vorwort betont: »Here, then, is the life of Evelyn Thaw.«138 Diese chronologische Lebenserzählung kulminierte in ihrem sexuellen Missbrauch durch Stanford White und den darauf folgenden Prozessen, gefolgt von der emotionalen Entfremdung von Thaw und der vergifteten Beziehung zu ihrer Schwiegermutter. Nesbit verfolgte das aus den Sensationsprozessen bekannte Melodram und präsentierte ihr Leben als Cinderella-Geschichte ohne Happy End.139 Indem sie Einblicke in ihre privaten Beziehungen und Sozialkontakte lieferte und ihren High Society-Lifestyle präsentierte, machte sie sich zu einem Teil davon und erläuterte implizit Zugangsmechanismen wie Schönheit oder Sichtbarkeit. Dabei fällt die Entstehungszeit der Publikation mit ihrer biographischen Zäsur zusammen, als sie sich am Übergang von der Gattin zur Entertainerin befand.140 Hierfür hatte sie Vorbilder in der High Society, wie ihre ehemalige Florodora-Kollegin Edna Goodrich, die bereits 1911 ihren Scheidungsskandal von Nat Goodrich in einem kurzen Roman verarbeitet hatte.141 Die Publikation von Nesbits Autobiographie verdeutlicht eine weitere Stufe ihres Professionalisierungsprozesses. Sie vermittelte darin Einblicke in ihr scheinbar authentisches Privatleben, während sie parallel eine neue Einkommensquelle erschloss. In der Woche von Thaws Flucht im August 1913, als auch Nesbits Sichtbarkeit wieder einen Höhepunkt erreichte, gab der Verlag öffentlichkeitswirksam das baldige Erscheinen ihrer Autobiographie bekannt.142 Um maximale Aufmerksamkeit zu erzeugen, erschien noch vor Verkaufsstart eine gekürzte Fassung als sechszehnteilige Fortsetzungsgeschichte über das Hearst Syndikat.143 Als »Most Extraordinary Human Document Ever Written«144 beworben, waren darin neben Privataufnahmen auch Fotografien von Nesbits damaliger Privatkorrespondenz abgedruckt, die etwa Thaws emotionale Beziehung zu ihr erhellten.145 Der Erwartungshaltung der 137 Vgl. Nesbit: Story. 138 Ebd., S. 11. 139 Dieses Aufstiegsnarrativ referierte dabei auf literarische Traditionen amerikanischer Autobiographien, vgl. Heidi E. Bollinger: Art. ›Autobiography‹, in: Joan Shelley Rubin/Scott E. Casper (Hg.): The Oxford Encyclopedia of American Cultural and Intellectual History, Bd. 1, 2 Bde., Oxford 2013, S. 102-4, hier S. 103. 140 Zäsuren wie diese lösen häufig autobiographisches Schreiben aus, vgl. Achim Saupe/Felix Wiedemann: Narration und Narratologie. Erzähltheorien in der Geschichtswissenschaft. Version 1.0, Docupedia-Zeitgeschichte, 28.1.2015, https://docupedia.de/zg/saupe_wiedemann_ narration_v1_de_2015 (acc. 22.4.2022), [S. 11]. 141 Vgl. die vierteilige Fortsetzungsgeschichte, beginnend mit Edna Goodrich: The Deynard Divorce, in: Green Book Album 6:3 (1911), S. 518-30. 142 Vgl. Evelyn Thaw Writes ›Story of Her Life‹, New York American, 22.8.1913, S. 1. 143 Vgl. Evelyn Nesbit: The Story of My Life, by Evelyn Thaw, New York American, 28.9.191311.1.1914. 144 Ebd., 28.9.1913. 145 Vgl. ebd., 26.10 und 07.12.1913.

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Leser*innen an die High Society, intime Details und noch nicht bekannte Beziehungskonflikte zu erfahren, trug damit sowohl die Vorabveröffentlichung als auch die Publikation Rechnung und führte zugleich ein neues Format ein, mit dem sich High Society-Mitglieder inszenieren konnten. Wie kritisch diese neuerliche Verschiebung der Grenze der Privatheit von High Society gesehen wurde, zeigte eine Karikatur im Atlanta Constitution: Mit einer Zeichnung von Nesbit als Salomé betitelte sie deren Autobiographie als »the exploits of a life of shame«.146 Zusammenfassend kann für Evelyn Nesbits Übertritt in die Entertainment-Branche konstatiert werden, dass ausgehend von einem von außen bestehendem Interesse an ihrer Person sowohl die Branchenvertreter als auch Evelyn Nesbit selbst begannen, ihren High Society-Status darauf auszurichten. Während insbesondere die Theatermanager schnell erkannten, welches finanzielle Potenzial darin steckte, Nesbit auf der Bühne zu erleben und die Nachfrage danach gezielt bedienten, durchlief sie einen etwas längeren Anpassungsprozess und orientierte sich an Vorbildern, um ihren Status zu nutzen. Dabei pendelte sie sich zwischen dem Interesse an ihrer Privatheit und ihrem künstlerischen Anspruch ein.

High Society: Besonderheiten der Professionalisierung Aus dem Blickwinkel der Professionalisierung nutzte Nesbit für ihre Unterhaltungskarriere immer zielgerichteter ihr Aufmerksamkeitskapital, das auf dem Wissen um ihre Privatheit und der daraus resultierenden Erwartungshaltung basierte. Darüber hinaus wirkte die Aufmerksamkeit für ihre vaudeville-Auftritte auf ihren Lifestyle und ihre Sichtbarkeit als High Society-Mitglied zurück und bedingten sich wechselseitig. Dies zeigte sich daran, dass nach dem längeren Rückzug aus den Medienöffentlichkeiten zwischen 1908 und 1912 ihr Körper, ihr Alter und ihr Geschlecht erneut ins Zentrum der Berichterstattung rückten. Erster Aspekt betrifft Evelyn Nesbits Körper, einem der zentralen Zugangskriterien für Frauen in die High Society. Dessen Bedeutung für ihre Doppelrolle als High Society-Mitglied und Entertainment-Darstellerin lässt sich im Folgenden auf Ebene der Mode, der Körper- und Schönheitspraktiken sowie deren fotografischer Inszenierung untersuchen. Wie erwähnt produzierten – auch respektable – vaudeville-Ketten in den 1910er Jahren Programme, die sich explizit an ein männliches Publikum richteten, wie etwa die der Turnerin Lalla Selbini. Sie avancierte zwischen 1906 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs zum Publikumsliebling, indem sie sich auf der Bühne bis auf ihren Badeanzug entkleidete und sich mit dieser privaten Handlung zum Objekt der

146 May Help Circulation – But!, Atlanta Constitution, 28.9.1913.

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Begierde machte.147 Den so inszenierten »sexually provocative female body«148 besaß Evelyn Nesbit im konkreten wie übertragenden Sinne, doch nutzte sie keine vergleichbaren Showeinlagen, die ihn weiter betont hätten.149 Denn alternativ konnten Darstellerinnen ihren Körper durch aufwendige und ausgefallene Kleidung zelebrieren, was körperbetonte Shows auch für Zuschauerinnen attraktiv machte.150 Als gleichsam visuelles Spektakel bot es ihnen die Möglichkeit, zu modischen Trendsetterinnen zu werden. Nesbit inszenierte sich dabei ähnlich wie andere für ihre Mode bekannte Darstellerinnen, wie Valeska Suratt oder Lillian Herlein, und stellte damit Konsum und Körper ins Zentrum ihrer Aufführungen.151 Laut Andrew Erdman wurde sie dadurch zu »walking arguments for consumerism, fleshand-blood mannequins, […] [and] objects of consumption rather than sexual fetishization«.152 Zugleich griff diese Betonung der Kleidung und der Vorbildfunktion in Sachen Kleidungs- und Schmuckkonsum Inszenierungspraktiken der High Society auf, die Nesbit bereits zu Beginn des Jahrhunderts eingeübt hatte. Diese Bedeutungszunahme von Kleidung geschah vor dem Hintergrund eines sich verändernden Modekonsums. In den sogenannten retail wars hatten sich Kaufhäuser in den 1890er Jahre gegenüber kleinen Einzelhändlern als zentrale Konsumstätten durchgesetzt.153 Mit Beginn der 1910er Jahre begannen führende Kaufhäuser wie Macy’s oder Wanamaker’s, in ihren Schaufenstern Modekollektionen an lebensechten Puppen zu präsentieren. Damit suggerierten sie, dass der weibliche Körper gezeigt, bestaunt und letztlich konsumiert werden durfte – eine Einstellung, die immer mehr Frauen teilten und mit ihren Kaufentscheidungen selbst bestimmten.154 Während jüngst Vicki Howard bei ihrer Arbeit zum Aufstieg des Warenhauses den 147 Vgl. Erdman: Blue Vaudeville, S. 9-10, 87-90, 98-101; Kibler: Rank Ladies, S. 147-8, 157-8. Zum Skandalpotenzial dieser Aufführungen um 1900 vgl. Montgomery: Displaying Women, S. 2-3. 148 Erdman: Blue Vaudeville, S. 10. 149 Sie beschränkte sich auf expressive Tänze und Lieder, die auf ihr sexualisiertes Fremdbild referierten und die Phantasie anregten, vgl. Alvin Theatre Playbook, Season 1913-14, Vol. 12, No. 14 (1.–07.12.1913), S. 2, in: Merriman Scrapbooks, T1:57-108, S. T1:99, UP, ASC, Curtis Theatre Collection, CTC.1964.01, Series 1, Box 17, Folder 6, und Anm. 100. 150 Diese Erweiterung des male gaze (Laura Mulvey) auf den female gaze erweist sich hierbei als sinnvoll, da Letzterer explizit in diesen, auf weibliche Publika zugeschnittenen Shows antizipiert wurde, vgl. Jackie Stacey: Star Gazing. Hollywood Cinema and Female Spectatorship, Hoboken 2013, S. 22-4, 45. 151 Vgl. Ashby Deering: Evelyn Nesbit Who Plans to Go Into Grand Opera, New York Telegraph, 31.10.1915; zu Valeska Suratt etwa Walter Anthony: Vivid Valeska Suratt of Terre Haute, San Francisco Call, 1.12.1912, S. 45; vgl. ferner Erdman: Blue Vaudeville, S. 86, 88, 90-1, 119. 152 Ebd., S. 90. 153 Vgl. David Monod: Store Wars. Shopkeepers and the Culture of Mass Marketing 1890-1939, Toronto 1996, passim, insb. S. 99-148. 154 Vgl. Leach: Land, S. 64-7. Wie vehement sich Amerikanerinnen noch zur Jahrhundertwende gegen Prêt-à-porter-Kleidung sträubten, zeigt Rob Schorman: Selling Style. Clothing and Social Change at the Turn of the Century, Philadelphia 2003, Kap. 2, insb. S. 51-7.

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Einfluss des Theaters ausblendete,155 betonen Theaterhistoriker*innen wie Marlis Schweitzer oder Tobias Becker die Rolle von Theater- und vaudeville-Darstellerinnen beim Durchbruch der Stangenware in Kaufhäusern, da ihr Modekonsum noch wesentlich stärker als der von Schaufensterpuppen vorbildlich war und erreichbarer erschien – insbesondere im Gegensatz zur Haute Couture der Upper Class.156 Diese Konsumführerschaft, vor allem bei Kleidung, war zugleich eine der legitimierenden Praktiken der High Society. Deren Mitglieder, allen voran Irene Castle, tauchten immer öfter als Modelle in Magazinen, wie der Vanity Fair oder Harper’s Bazar, auf. Darin erregten sie, stärker als anonyme Mannequins, die Aufmerksamkeit der Leser*innen und konnten die von ihnen außerhalb ihrer Bühnenvorstellung getragenen Produkte authentischer bewerben.157 Evelyn Nesbit repräsentierte als vaudeville- und High Society-Akteurin beide Sphären und zeigte ihren modischen Kleidungsstil nicht nur auf der Bühne, sondern auch in Magazinen und der Tagespresse, sodass er als Ausdruck ihrer authentischen Persönlichkeit erschien.158 Sie trug die neueste, von französischen Designern, wie Paul Poiret, inspirierte und von Irene Castle popularisierte Mode: luftige, weite Schnitte mit hoher Taille und geometrischen Formen, geraffte oder plissierte Röcke zu kurzem, enganliegenden Haar und filigranen Hüten oder Diademen (Abb. 60, li. und Abb. 61, re.).159 Indem Evelyn Nesbits Mode extravagant, aber nicht mehr unerschwinglich schien – im Gegensatz zu ihrem Hermelinmantel im Jahr 1905 –, schrieb sie sich performativ in das ein, was die modebewusste, gehobene weiße Frau aus der Mittelschicht tragen konnte.160 Dies avancierte zum gesamtgesellschaftlichen Leitbild, das letztlich auch auf die Upper Class überiff, die spätestens nach dem Ersten Weltkrieg ebenfalls auf diese komfortablere Mode einschwenkte.161 Diese Annäherung konnte sich zum medialen Topos steigern, die Kleidung selbst entworfen zu haben und damit in die Rolle der sogenannten Prosumentin zu schlüpfen, die produziert, was sie selbst konsumiert.162 Eine Zuschreibung, die auch Nesbit übernahm, als sie 1913 be155 Vgl. Vicki Howard: From Main Street to Mall. The Rise and Fall of the American Department Store, Philadelphia 2015, insb. Kap. 1-3. 156 Vgl. Schweitzer: Broadway, S. 8; Becker: Inszenierte, S. 382-6. 157 So erschien etwa Irene Castle in Publikationen zu neuesten Modentrends, vgl. Emily Burbank: Woman as Decoration, New York 1917, S. 218-59. 158 Vgl. Evelyn Nesbit New Palace Star, in: New York Dramatic Mirror (10.11.1917), S. 27. 159 Vgl. Gerda Buxbaum/Andrea Affaticati (Hg.): Mode! Das 20. Jahrhundert, München 1999, S. 201; ferner Eve Golden: Vernon and Irene Castle’s Ragtime Revolution, Lexington 2007, S. 64-5. 160 Auch die Bühne stand unter dem scharfen Blick von Modekolumnist*innen. Für die Variety schrieb etwa seit 1906 Anna Marble die Kolumne »The Woman in Variety«, in der sie die Kleider von vaudeville- und Theaterdarstellerinnen bewertete und normative Standards in puncto Kostbarkeit, Variation und Stil setzte, vgl. Schweitzer: Broadway, S. 113-5. 161 Vgl. Rebecca J. Kelly: Fashion in the Gilded Age: A Profile of Newport’s King Family, in: Linda Welters/Patricia A. Cunningham (Hg.): Twentieth-Century American Fashion, Oxford/New York 2005, S. 9-32, hier S. 25-9. 162 Vgl. Schweitzer: Broadway, S. 118-9.

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Abb. 60: Evelyn Nesbit präsentiert ihre jüngste Garderobe (Okt. 1915). Dies war typisch für Darstellerinnen, doch unterschied sich ihre Kleiderwahl deutlich von anderen Praktiken, etwa der Präsentation der deutlich exklusiveren »Valeska Suratt in Her $8000 Coat« (Dez. 1912).

hauptete, alle ihre Bühnenkleider selbst zu nähen.163 Damit machte sie sich einerseits nahbar, war dies doch noch übliche Praxis vieler Amerikanerinnen; andererseits suggerierte sie, dass ihr Kleidungsstil und letztlich ihr öffentliches Erscheinen imitierbar und damit erreichbar waren. Beides referierte auf das Versprechen der High Abb. 60 Society, dass Frauen mit der passenden Kleidung, die den richtigen Körper bedeckte, in die Formation aufsteigen konnten, wofür Nesbit ein sichtbares und auf der Bühne erlebbares Beispiel lieferte. Mit diesen Facetten ihres modischen und zugleich reproduzierbaren Modekonsums leistete Evelyn Nesbit zudem einen paradigmatischen Beitrag zur Entstehung des consumerism am Beginn des 20. Jahrhunderts.164 163 Vgl. Burns Mantle: Miss Evelyn Nesbit (Thaw) Dances and Is Triumphant, Chicago Sunday Tribune, 10.8.1913, S. 1, 8, hier S. 1. 164 Dass Nesbit 1913 wegen unbezahlter Rechnungen für Einrichtung und Kleidung auf 8.000 Dollar verklagt wurde (heute rund 247.000 Dollar), war vordergründig eine Klatschgeschichte, vermittelte aber die Botschaft, dass nicht mehr viktorianische Genügsamkeit, sondern (exzes-

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Trotz der vergleichsweise geringen Bedeutung bei Nesbits Bühnenstücken wurde der Körper für sie im Speziellen und die High Society-Berichterstattung im Allgemeinen immer relevanter. Die 1910er Jahre leiteten den Durchbruch von Schlankheit als Schönheitsideal ein. Hatte bis zum Ende des 19.  Jahrhundert körperliche Fülle noch als Zeichen von Gesundheit gegolten, wandelte sich diese Vorstellung immer schneller, bedingt durch unterschiedliche Diskurse: Mediziner warnten seit der Jahrhundertwende vor den gesundheitlichen Folgen der Fettleibigkeit und, angeregt durch technisch-tayloristisches Optimierungsdenken, war nur mehr ein schlanker auch ein effizienter Körper.165 Dabei galt Schönheit nun, anders als noch zu Zeiten des Gilded Age, nicht mehr als angeboren, sondern konnte mit Sport, Diäten oder Körperpflege selbst erzeugt und optimiert werden.166 Entsprechend rückten auch bei Nesbit, im Vergleich zu ihrer Zeit am Broadway in den Jahren 1901 bis 1903, stärker die mit den Schönheits- und Körpervorstellungen verbundenen Praktiken in den Vordergrund. Bereits 1912 berichtete die New York World kritisch über ihre Figur. Mit ihrer Antwort unterwarf sich Nesbit dem neuen normativen Schlankheitsideal: »›You are getting fat,‹ [!] the reporter ventured. ›Goodness, yes! I’m afraid I am. Isn’t it awful?‹«167 Die vaudeville-Auftritte erlaubten es ihr, ihren Körper als Produkt der Selbstkontrolle und Leibesübungen zu präsentieren, der schlank und schön zugleich war.168 Doch damit nicht genug. Die Selbstoptimierung umfasste mittlerweile auch das Schminken: In den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts setzte sich in den USA Make-up als Schönheitsprodukt durch, während es zuvor als Kennzeichen von Prostituierten und der Demimonde galt.169 Es waren gerade die Schönheitsvorstellungen von Schauspielerinnen und High Society-Frauen, die, wie Kathy Lee Peiss betont, Kosmetika normalisierten. Die Fotografien der society pages hatten Gesichter in zunehmend schonungsloser Detailtreue gezeigt und Schönheit damit zur problematischen Kategorie gemacht.170 Make-up bot hierfür einen Ausweg, und Werbung, ebenso wie medial sichtbare Frauen, machten es vor.171 Entsprechend gab auch Nesbit ihre Empfehlungen ab: »It doesn’t pay to buy cheap powder and cosmetics. They ruin the skin. So siver) Konsum zum Selbstverständnis der modernen Frau gehörte, vgl. Mrs. Evelyn Thaw Now a Bankrupt, New York Times, 2.8.1913, S. 3. 165 Vgl. Lears: Fables, S. 167-9; Wolfgang König: Kontrollierte Arbeit = optimal Arbeit?, in: ZH/ SCH 6 (2009), S. 315-9; Zur Weiterentwicklung dieser Körperdiskurse in den frühen 1920er Jahren vgl. Brumberg: Body, S. 95-107. 166 Vgl. Banner: American Beauty, S. 129-30; Kathy Lee Peiss: Hope in a Jar. The Making of America’s Beauty Culture, 2. Aufl., Philadelphia 2011, S. 50. Am Beispiel des Schwimmens vgl. Olaf Stieglitz: The American Crawl – Praktiken von Geschlecht und Moderne in US-amerikanischen Schwimmbecken, 1900-1940, in: GENDER 10:1 (2018), S. 63-80, hier S. 64, 69. 167 It Shocks Evelyn to Be Getting Fat, New York World, 24.6.1912. 168 Vgl. Evelyn Nesbit Is Strong as well as Beautiful, New York Star, 6.5.1916. 169 Vgl. Lears: Rebirth, S. 251. 170 Vgl. Peiss: Hope, S. 46-7. 171 Vgl. ebd., S. 48-50, 140-6.

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I indulge in the best I can.«172 Bald war Schminken nicht mehr nur akzeptable Praxis, sondern galt als individueller Ausdruck von Persönlichkeit.173 Das damit verbundene Optimierungsversprechen passte zu zeitgenössischen Körperdiskursen ebenso wie zur High Society, die versprach, durch Schönheit und die richtige Selbstdarstellung aufsteigen zu können.174 Doch wollten diese Aspekte für den eigenen High Society-Status medienwirksam umgesetzt werden, wozu sich die Mitglieder in den Schönheits-, Körper- und Modediskurs einschreiben mussten. Nesbit legte, wie andere High Society-Mitglieder auch, einen zunehmend offenen Umgang mit Journalist*innen und Fotografen der society pages an den Tag. So führte sie etwa auf einem Linienschiff kurz vor ihrer Abreise nach Europa angeregte Gespräch mit Pressevertretern, die sie über ihre Reisepläne informierte. Oder sie posierte in ihrer neuesten Mode den Fotografen im Alltag, wenn sie diese direkt in ihr privates Apartment zum Fotoshooting einlud (Abb. 61). Öffentlichkeiten wandelten sich damit für Nesbit von einem zu meidenden Terrain um 1910 zu einem Raum, in dem sie in Kontakt mit Medienvertreter*innen kommen konnte, um sich selbst sichtbar zu machen. Entsprechend prägten kaum mehr anachronistische Modellaufnahmen ihr mediales Erscheinungsbild, sondern ihre zeitgenössischen selbst- und modebewussten Inszenierungen. Die verstärkte Sichtbarkeit ihres Alltags und Privatlebens machte Nesbit wieder nahbarer, was sich daran zeigt, dass es sich auch bei ihr allmählich durchsetzte, sie mit Vornamen anzusprechen.175 Diese neue, intime Ebene reflektierte etwa der Journalist Charles W. Collins in einem der mittlerweile üblichen Interviews mit Nesbit: »Nevertheless Evelyn (this intimate employment of the given name is the most appropriate means of identifying her briefly) justifies herself as an entertainer.«176 Als letzter zentraler Aspekt von Nesbits medialer Sichtbarkeit während ihrer vaudeville-Zeit rückte das Thema ihrer Geschlechtlichkeit in die Berichterstattung und verband sich mit dem Aspekt des Alters. Dies wurde am deutlichsten bei ihrer Mutterschaft ersichtlich. Juliane Hornung weist in ihrer Studie zu Peggy und Larry Thaw 172 Elinor Howard: Evelyn Nesbit Tells How She Learned to Sing; Says Make-Up Box Is Important to Actresses, Toledo Times, 19.5.1915. 173 Vgl. Peiss: Hope, S. 59. 174 Vgl. ebd., S. 4; zum körperlichen Optimierungsdiskurs um 1900 vgl. Jürgen Martschukat: ›The Necessity for Better Bodies to Perpetuate Our Institutions, Insure a Higher Development of the Individual, and Advance the Conditions of the Race‹, in: Journal of Historical Sociology 24:4 (2011), S. 472-93, hier S. 479. Dies intensivierte sich in den 1930er Jahren für die High Society unter dem Eindruck der zunehmenden Bedeutug von race und Eugenik, vgl. Hornung: Welt, S. 91, 226-45. 175 Dieser Prozess begann zwar vereinzelt bereits in den 1890er Jahren, siehe Kap. I.1., doch hatte er sich bei Evelyn Nesbit und Harry Thaw bislang noch nicht durchgesetzt. 176 Charles W. Collins: Is This the Face That Launched Tousand Ships?, Chicago Inter Ocean, 19.11.1913.

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Abb. 61: Schnappschuss von Evelyn Nesbit bei der Abreise auf der Olympic mit Gesellschaftsreportern oder beim Fototermin im privaten Rahmen ihres Apartments. Beide Male zeigte sie die neueste Mode und führte Interviews.

nach, dass die Kinder der High Society-Mitglieder für die Gesellschaftsberichterstattung weitgehend uninteressant blieben. Dies erlaubt den Rückschluss auf die Bedeutung des Alters in der High Society, da Kinder – ebenso wie Alte – keine Aufmerksamkeit generieren konnten.177 Diese Beobachtung, die Hornung für die 1920er und 1930er Jahre macht, trifft bereits für die ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts zu. Zwar blieb Mutterschaft bis in die späte Zwischenkriegszeit zentral für das weibliche Rollenverständnis – vor allem in protestantischen Kreisen –, doch spielten solche Bezüge bei der New Woman keine Rolle mehr.178 Folglich hätten diese auch für Nesbit irrelevant sein sollen. Denn Nachkommen der Upper Class, ebenso wie die der High Society, tauchten erst nach den ersten lebenszyklischen Ritualen auf den society pages auf: Männer während oder nach ihrer (Universitäts-)Ausbildung, Frauen mit ihrer Einführung in den Heiratsmarkt.179 Umso ungewöhnlicher scheint die mediale Sichtbarkeit von Nesbits Sohn, Russell William Thaw. Doch bot er sowohl Nesbit als auch der Gesellschaftsberichterstattung Nachrichtenwerte, die Nesbits Weiblichkeit ins Zentrum rückten. Die Presse konnte über ihren Sohn Einblicke in den Beziehungskonflikt zwischen Nesbit und Thaw geben, die besonders authentisch schienen, stritt doch Thaw die Vaterschaft vehement ab, während Nesbit pikante Andeutungen über das Wie und Wo machte.180 Die darin mitschwingende Frage nach Nesbits Treue wurde im April 1916 während ihres Scheidungsprozesses öffentliches Thema: Mehrere Zeug*innen bezichtigten sie etlicher Af177 178 179 180

Vgl. Hornung: Welt, S. 71-2. Vgl. Banta: Imaging, S. 51-7, 62. Zum weiblichen coming out vgl. Rockwell: Elite Women, S. 158-62. Vgl. Say Thaw Denies Child, New York Times, 17.5.1912, S. 6; ebenso die Andeutungen in Nesbit: Story, S. 225, 246.

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fären, unter anderem mit ihrem Anwalt Dan O’Reilly und dem Broker E. R. Thomas.181 Zwar waren diese Vorwürfe ihrer sexuellen Promiskuität eine Zeitungsmeldung wert, doch reichte es nicht mehr zum Tabubruch oder gar Skandal. Denn mittlerweile war etwa auch bekannt, dass Nesbits mit ihrem Tanzpartner Jack Clifford seit Ende 1913 »as man and wife«182 zusammen lebte. Entsprechend löste ihre Heirat, keine vier Wochen nach der Scheidung, keine Proteste mehr aus.183 Indem Evelyn Nesbit Russell Thaw in Fotografien sichtbar und in ihren Interviews zum Thema machte, nutzte die Gesellschaftsberichterstattung ihn als intimen Nachrichtenwert über Nesbit. Unter dem Spitznamen »Pom-Pom«184 avancierte er zur medialen Figur an ihrer Seite.185 Indem er in zwei ihrer Stummfilme auftrat, plausibilisierte er ihre Mutterrolle und machte die scheinbar gezeigte Privatheit der Filme noch authentischer.186 Mit der emotionalen Nähe zu ihrem Sohn stand sie nicht mehr in der viktorianischen Tradition von Mary Copley Thaws Matriarchat über Harry Thaw, sondern vermittelte ein natürliches, modernes Bild alleinerziehender Mutterschaft.187 Das bestätigte zugleich Vorstellungen von Geschlechterrollen und Körperlichkeit der High Society, wonach auch Mütter mit dem passenden Verhalten und körperlicher Schönheit weiterhin dazugehören konnten. Wie der Times Dispatch entsprechend feststellte, sei Nesbit »still strikingly beautiful, though in a more mature and matronly style, […] apparently perfectly happy in her son’s company to-day«.188 Private Einblicke wie dieser bestätigten gleichsam die ihr zugeschriebene, skandalöse Sexualität ihrer vaudeville-Auftritte. Während die Kinder von Peggy und Larry Thaw keine Funktion für ihren medialen Status hatten, sondern vielmehr mit ihren Nachrichtenwerten konfligierten, nutzte Nesbit ihren Sohn für ihre Sichtbarkeit: Als Zeugnis ihrer Mutterschaft gab er emotionale Einblicke in ihre Privatheit und ermöglichte ihr, ihren Körper zu inszenieren, womit er half, ihren High Society-Status auszudifferenzieren. Ebenso zeigt sich in Bezug auf das weibliche Geschlecht ein Unterschied bei der medialen Themensetzung zwischen den Angehörigen der frühen High Society und der nachfolgenden Generation in den 1920er und 1930er Jahren. Vor dem Ersten Weltkrieg konnten sich Frauen der High Society nicht dem zeitgenössisch kontro181 Vgl. Evelyn’s Child Not Harry Thaw’s, Pittsburgh Leader, 23.4.1916. 182 Henry Kendall Thaw vs. Evelyn Nesbit Thaw, No. 1319 Oct. Term, 1915: Transcript of Official Notes of Testimony, S. 76, Fifth Judicial District of Pennsylvania, Department of Court Records. 183 Vgl. Evelyn Nesbit Thaw Weds, New York Times, 25.5.1916, S. 9. 184 Mrs. Harry Thaw Sails Away with Her Young Son, Evening World, 3.5.1913, S. 3. 185 Vgl etwa ›Ish Ka Bibble,‹ Cries Happy ›Pom Pom‹ Eveyln Thaw’s Birthday Gift to Son $5,000, Boston American, 26.10.1913. 186 Vgl. ›Redemption‹, in: Motion Picture News (2.6.1917), S. 3463. 187 Vgl. Elizabeth Bortolaia Silva: The Transformation of Mothering, in: Rima Dombrow Apple (Hg.): Perfect Motherhood. Science and Childrearing in America, New Brunswick 2006, S. 1036, hier S. 17-8, 21-3. 188 Evelyn Nesbit Thaw Acknowledges Son, Times Dispatch, 4.5.1913, S. 1-2.

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versen Thema der Frauenrechte entziehen. Entsprechend äußerte sich auch Evelyn Nesbit ausführlicher in einem Interview: Sie prangerte die Ungleichheit weiblicher Bildungschancen an, problematisierte die Situation Alleinerziehender und bezeichnete sich selbst als Suffragette.189 Diese starke politische Positionierung scheint paradoxerweise Juliane Hornungs Beobachtung für die Zwischenkriegszeit zu bestätigen, dass Politik eigentlich keine Rolle in der High Society-Berichterstattung spielte.190 Denn es war die besondere zeitgenössische Virulenz der Frauenrechtsfragen während der Etablierungsphase der High Society um die Jahrhundertwende, die ihre weiblichen Mitglieder  – ebenso wie Upper Class-Damen  – dazu veranlasste, sich zu gesellschaftspolitischen Themen, wie dem Frauenwahlrecht oder Gleichberechtigung auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt, zu äußern.191 Während diese Fragen bis zur Wahlrechtsreform 1920 relevant blieben, waren diese Kämpfe in den 1930er Jahren bereits weitgehend gefochten, sodass Politik als Thema wieder aus der High Society-Berichterstattung verschwand. Bis dahin dienten vor allem Schauspielerinnen aufgrund ihrer finanziellen und selbstbewussten Selbstständigkeit für Suffragetten und Feministinnen als Ikonen und Vorbilder; einige Darstellerinnen, wie Sarah Bernhardt, engagierten sich auch aktiv für Frauenrechte.192 Nesbit avancierte in diesem Kontext ebenfalls zur Leitfigur, wie die Journalistin Colgate Baker zu Beginn des Jahres 1915 feststellte: »The story of the success of Evelyn Nesbit is one of the most inspiring I know. […] Best of all, she does not have to thank any one for helping her along the road to fame and fortune.« Daher könne Evelyn Nesbit von sich sagen: »I have earned my way by honest work. My diamonds, my a[u]tomobile, my servants, are paid for with money I have made myself.«193 Mit dem Interview stilisierte Baker sie zum Vorbild und konstruierte ihre Entertainment-Karriere zum erstrebenswerten und erreichbaren Ziel. Mit ihren vaudeville-Auftritten hatte Nesbit eine paradigmatische Professionalisierung ihres High Society-Status durchlaufen: Die Unterhaltungsindustrie hatte das finanzielle Potenzial ihrer medialen Sichtbarkeit erkannt, das sie als Darstellerin nutzte, um auf der Bühne das Interesse der Theaterpublika an ihrer Person subtil zu bedienen. Dabei griff sie zwar allgemeine Entwicklungen der Theaterbranche auf, doch bestätigte sie in ihren Auftritten und in der Berichterstattung zentrale Charakteristika der High Society, wie Privatheit oder Körperlichkeit, und vermittelte den Eindruck, auch im vaudeville weiterhin die aus den Medien bekannte Person zu sein. Nesbit zeigte somit stellvertretend für die High Society, wie deren Logiken, Authentizität und Nahbarkeit zu erzeugen, mit einer Entertainment-Karriere kombinierbar waren. 189 Vgl. ›Maternity Is a Business, Let Us Protect It by Law,‹  Says  Evelyn  Thaw, in: Day Book (16.4.1914), S. 22-3. 190 Vgl. Hornung: Welt, S. 46, insb. Anm. 51, 281. 191 Vgl. Homberger: New York, S. 22-3. 192 Vgl. Glenn: Female Spectacle, S. 130-2, 134-7. 193 Colgate Baker: The Success of Evelyn Nesbit, New York Review, 16.1.1915.

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2.3. »A money-getter«: Nesbits Filmkarriere »In [1914 in] Los Angeles I received serveral tempting picture offers – but they could wait; I still had an aversion to selling my Thaw association rather than my ability.«194 Obwohl gezeigt wurde, dass genau darauf ihre Bühnenkarriere basiert hatte, soll ausgehend von Nesbit retrospektiver Wahrnehmung ihre Filmkarriere genauer untersucht werden. Die Erfolge auf ihrer vaudeville-Tournee 1913/14 hatten ihr den Zugang zu Partys der Filmschaffenden in Los Angeles eröffnet. Auf diesen kam sie in Kontakt mit Schauspieler*innen wie Mack Sennett oder dem Biograph-Star Mae Marsh und Produzenten wie D. W. Griffith oder Fred Mace; Letzterer konnte sie zu ihrer ersten Filmrolle im Sommer 1914 überreden.195 Bis 1918 drehte sie parallel zu ihren vaudeville-Tourneen vier Filme für drei Studios. Dann ermöglichte ihr der Erfolg von »Redemption« (1917), einen Vertrag bei Fox Studios zu unterzeichnen, für die sie in den folgenden zwei Jahren sechs weitere Spielfilme aufnahm.196 Nesbit folgte mit dieser Verlagerung genau der Scherbewegung, die Film und vaudeville in den 1910er und frühen 1920er Jahren durchliefen: Während der Stummfilm 1915 bereits ein »entrenched part of America’s cultural and socioeconomic life«197 war und an Bedeutung zunahm, verlor im gleichen Maße das vaudeville an Relevanz.198 Da alle zehn Filme verschollen sind, besteht nach Günter Riederer die Gefahr, eine »Filmgeschichte ohne Film«199 zu schreiben.200 Anette Vowinckels medienhistorischer Ansatz des »Bildhandeln[s]«201 liefert ein analytisches Instrumentarium, um dieser (Quellen-)Problematik zu begegnen. Statt Szenen aus Nesbits Filmen auf Ebene ihrer visuellen Wirkmächtigkeit zu untersuchen, wird danach gefragt, was die Intention der an der Produktion und Verbreitung beteiligten Akteur*innen war, die in den Filmen eingeschriebenen Narrative und Aussagen über Evelyn Nesbit zu erzeugen.202 194 Nesbit: Prodigal Days, S. 269. 195 Vgl. ebd., S. 269-72; Eveyln Thaw in Pictures, in: Motography 12:10 (5.9.1914), S. 338. 196 Dabei handelte es sich um »The Threads of Destiny« (Lubin, 1914), »The Hidden Woman« (Nanuet Amusement, 1916, Veröffentlichung 1922), »Redemption« (Triumph, 1917), »Her Mistake« (Triumph, 1918), »The Woman Who Gave« (Fox, 1918), »I Want To Forget« (Fox, 1918), »Thou Shalt Not« (Fox, 1919), »A Fallen Idol« (Fox, 1919), »My Little Sister« (Fox, 1919) und »Woman, Woman!« (Fox, 1919). 197 Musser/Nelson: High, S. 226. 198 Vgl. Baldwin: Watches, S. 168-9. 199 Riederer: Film, S. 103. 200 Dieses Problem besteht jedoch für die Stummfilmzeit ganz generell, da aus dem Zeitraum zwischen 1895 und 1929 nur mehr ca. 10 % der Kinofilme überliefert sind, vgl. Hickethier: Zeitgeschichte, S. 362; Elsaesser: Filmgeschichte, S. 125-7. 201 Vowinckel: Agenten, S. 15. 202 Vgl. ebd., S. 8, 14-5.

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Dies macht es darüber hinaus möglich, zu untersuchen, welche Rolle Nesbits Sichtbarkeit bei ihrem Transfer in die Filmindustrie und für ihre konkreten Filmrollen spielte. Lässt sich dies, zweitens, als weitere Professionalisierung sowohl ihrer Medienkompetenz als auch der Unterhaltungsindustrie deuten? Abschließend gilt zu klären, welche Faktoren Nesbits Filmkarriere beendeten. Nesbits Transfer in die Filmindustrie zur Mitte der 1910er Jahre fand in einer doppelten Umbruchsphase statt: Einerseits waren Theater- und Filmgewerbe für Darsteller*innen noch durchlässig, sodass diese vergleichsweise einfach zwischen den Formaten wechseln konnten; andererseits etablierte sich in Letzterem gerade das Star-System, in dem Studios ihre Filmschauspieler*innen zu medialen Figuren aufbauten sowie mit hohen Gagen und großer Reichweite lockten.203 Die permeable Verbindung beider Bereiche erklärt Knut Hickethier mit der Fokussierung beider Unterhaltungsmedien auf die individuellen Darsteller*innen, die als grundlegendes Dispositiv beide Medien verbunden habe.204 Während er dies auf das Interesse der Publika nach Identifikationsfiguren zurückführt, kritisiert Jens Ruchatz dieses »altbackene soziologische Deutungsmuster«. Vielmehr sei es in beiden Fällen die »Einheit der Unterscheidung privat/öffentlich«205 im medialen Bild der Darsteller*innen, die das Zuschauerinteresse weckte und sich durch Filme nochmals gesteigert habe.206 Mit dieser Betonung der Dichotomie von Privatheit und Öffentlichkeit benennt Ruchatz bereits die Schnittmenge zwischen High Society-Mitgliedern und (Film-)Stars, die es im Folgenden näher zu untersuchen gilt. Ausschlaggebend dafür war das Jahr 1910, welches als »watershed moment«207 des Star-Systems gilt, da die Biograph Studios mit Florence Lawrence (1886-1938) erstmals eine Schauspielerin mit Namen bewarben.208 Aus der Binnenlogik des Filmdiskurses untergliedert der Filmhistoriker Richard deCordova in seiner maßgeblichen Arbeit zu frühen Filmstars zwei Phasen: Erstens die Jahre 1909 bis 1914, während derer die Namen und immer mehr Informationen über die sogenannten picture personalities in der medialen Öffentlichkeit zirkulierten,209 jedoch mit einer wesentlichen Einschränkung: »Knowledge about the picture personality was restric203 Vgl. Richard deCordova: Picture Personalities. The Emergence of the Star System in America, Urbana/Chicago 1990, S. 10-2; Mark Lynn Anderson: The Star System, in: Cynthia Lucia (Hg.): The Wiley-Blackwell History of American Film. Vol. 1: Origins to 1928, 4 Bde., Malden 2012, S. 349-70, hier S. 351-6. 204 Vgl. Hickethier: Theaterstar, S. 30-1. 205 Beide Zitate aus Ruchatz: Individualität, S. 413. 206 Vgl. ebd., S. 413-4. 207 Andrew Shail: The Origins of the Film Star System. Persona, Publicity and Economics in Early Cinema, London 2019, S. 1. 208 Zur Debatte vgl. Jennifer M. Bean: Introduction. Stardom in the 1910s, in: dies. (Hg.): Flickers of Desire. Movie Stars of the 1910s, New Brunswick 2011, S. 1-21, hier S. 1-2. 209 Vgl. deCordova: Picture Personalities, S. 50-2, 92.

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ted to the player’s professional existence – either to his/her representation in films or to his/her previous work in film and theatre.«210 Die zweite Phase setzte 1914 ein, als das Interesse der Zuschauer*innen sich dem vorgeblichen Privatleben der Schauspieler*innen zuwandte. Erst dieser Paradigmenwechsel konstituierte den modernen Filmstar, der nun professionelle und private Person vereinigte.211 Diese neue Aufmerksamkeit für die Privatpersonen wirkte auf die Filmrollen zurück, sodass Zuschauer*innen in jedem Film eine neue »experience of the actor’s identity«212 erlebten. Wenngleich die Filmgeschichte die Star-Genese als filmimmanentes Phänomen deklariert, verweisen jüngere Studien verstärkt darauf, dass viele Charakteristika des Star-Systems bereits mediale Praxis von Theaterdarsteller*innen waren213 – oder eben von High Society-Mitgliedern. Wie gezeigt, hatte Nesbit im vaudeville bewiesen, dass sie mittels ihres High SocietyStatus Zuschauer*innen anziehen konnte, was sie auch für Filmproduzenten interessant machte: Bedingt durch höhere Produktions-, Werbe- und Vertriebskosten der neuen Spielfilme begannen Produzenten, ihre Produkte verstärkt auf ihre Zielgruppen zuzuschneiden.214 Bekannte Schauspieler*innen veränderten dabei das Filmgewerbe, indem sie als neue Erfolgsgaranten zum Realwert des Films wurden.215 Entsprechend rückten vor allem erfolgreiche Darsteller*innen aus der Unterhaltungsindustrie in den Fokus, wie etwa Edna Goodrich oder Annette Kellermann. Letztere schwamm in ihrem populären vaudeville-Akt in einem durchsichtigen Wassertank, was ihr erster Film, der über 80-minütige »Neptune’s Daughter« (1914), aufgriff: Er erzählt die melodramatische Liebesgeschichte einer Meerjungfrau, zeigte Kellermanns aufreizend-jugendlichen Körper und referierte damit auf ihre vaudeville-Auftritte.216 Während sie noch als picture personality wahrgenommen wurde, markierte Nesbits Filmengagement diese bereits als Exponentin des Übergangs zur Phase der Filmstars: »Evelyn Nesbit Thaw, one of the best known actresses in the 210 Richard deCordova: The Emerge of the Star System in America, in: Christine Gledhill (Hg.): Stardom. Industry of Desire, Transferred to digital Printing, London 2003, S. 17-29, hier S. 26. Dies bestätigte jüngst Andrew Shails minutiöse Analyse der Ursprünge des Star-Systems am Beispiel des um 1910 populären französischen Darstellers Max Lindner (1883-1925). Bei ihm trennten Publika und Filmkritiker*innen nicht zwischen seinem fiktionalen Filmcharakter, des Dandy Max, und seiner außerfilmischen Person, da sie sich dieser Unterscheidung nicht bewusst waren, vgl. ders.: Origins, S. 333-6. 211 Vgl. deCordova: Emerge, S. 26-7. 212 Ders.: Picture Personalities, S. 112-3. 213 Vgl. Ruchatz: Individualität, S. 421; Janet Staiger: »Seeing Stars«, in: Gledhill: Stardom, S. 3-15, hier S. 8-9, 14-5. 214 Vgl. Klaus Nathaus: Auf der Suche nach dem Publikum, in: Alexa Geisthövel/Bodo Mrozek (Hg.): Popgeschichte. Bd. 1: Konzepte und Methoden (= Histoire, 48), Berlin/Bielefeld 2014, S. 127-54, hier S. 148-9. Siehe ferner Anm. 339 215 Vgl. deCordova: Picture Personalities, S. 112. 216 Vgl. Erdman: Blue Vaudeville, S. 93-8.

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world, renowned for her beauty, and of course, because of her connection with her husband’s murder trial, appears […] in a great five-act photodrama called ›Threads of Destiny‹.«217 Mit ihrem aus der High Society-Berichterstattung bekannten Privatleben verkörperte sie bei ihrem Eintritt in den Film 1914 bereits die beiden Dimensionen des Stars: die Leinwand- und die Privatperson.218 War sie in den Nullerjahren noch Pionierin der High Society gewesen, konnte sie bei dem Wechsel in das Filmgewerbe bereits auf diese Vorbilder zurückgreifen.

Privatheit der High Society im Spielfilm: Skandal, Sexualität und Nahbarkeit Vor diesem Hintergrund ist interessant, welche konkreten Filmrollen Nesbit besetzte beziehungsweise die Produzenten ihr zuschrieben. In welcher Beziehung standen diese zu ihrem High Society-Status und ihrer vaudeville-Rolle? Bereits bei den Dreharbeiten zu Nesbits erstem Film, »Threads of Destiny« (1914), spekulierte nicht nur der Chicago Examiner, ob ihre Lebensgeschichte verfilmt würde.219 Diese Vermutung erwies sich insofern als prophetisch, als ihre gesamte Filmografie mehr oder weniger subtil auf Themen aus ihrem medial bekannten Leben referierte.220 Entsprechend können die Filmthemen entlang dreier Themenbereiche systematisiert werden: In den meisten dominierte sexueller Missbrauch oder sexuelles Fehlverhalten, gefolgt von Dreiecksbeziehungen oder Affären und letztlich der Aufopferung für Dritte (Abb. 62). In allen drei Themenfeldern nutzten die Filme intermediale Bezüge zu ihrem High Society-Status, um mittels skandalöser, privater oder intimer Details Wissen über Nesbit abzurufen. Diese Referenzen auf ihr Leben zeigten sich nicht nur auf der Mesoebene der Filmthemen, sondern reichten hinab auf die Handlungsebene ihrer Rollen. In den meisten Filmen spielte sie die Fallen Woman im Kontext typischer Verführungsnarrative, etwa wenn sie in »Thou Shalt Not« (1919) erst mit ihrem Liebhaber durchbrennt, dann jedoch verstoßen und gesellschaftlich ruiniert wird.221 Diese Rollen waren zeitgemäße Interpretationen ihrer Verwicklung in die Sensationsprozesse, betonten sie doch kaum noch ihre damalige, kontroverse sexuelle Agenda. Das gilt ebenso für ihre laszive Erotik, auf die – soweit rekonstruierbar – 217 Evelyn Nesbit Thaw and Son Appear in ›Threads of Destiny,‹ a Wonderful Lubin Production, o. Z., [1914], UC, Container 17. 218 Das Fanmagazin Motography bezeichnete sie bereits in ihrer ersten Filmrolle als »screen star«, Neil G. Caward: ›Threats of Destiny‹, in: Motography (31.10.1914), S. 585. 219 Vgl. Richard Henry Little: Evelyn Nesbit Thaw to Pose Life Story in Film, Chicago Examiner, S. 18.5.1914. 220 Dies simplifiziert Lee Grieveson zu stark, indem er behauptet, die Filme referierten lediglich auf ihre »notority«, vgl. ders.: Thaw-White Scandal, S. 43. 221 Vgl. Hanford C. Judson: Though Shalt Not, in: Moving Picture World (5.4.1919), S. 125-6, hier S. 125.

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Sexuelles Fehlverhalten, sexueller Missbrauch

Affäre, Dreiecks­ beziehung

Aufopferung für Dritte

Threats of Destiny (1914) The Woman Who Gave (1918) A Fallen Idol (1919) I Want to Forget (1918) My Little Sister (1919) Thou Shalt Not (1919) Redemption (1917) Her Mistake (1918) Woman, Woman! (1919) The Hidden Woman (1922) [Dreharbeiten 1916] Abb. 62: Themenfelder von Nesbits Filmrollen.

kaum mehr abgezielt wurde, da sie im zeitgenössischen Kontext von Kinosensationen wie »Purity« (1916), der trotz Zensur Nacktaufnahmen zeigte, nicht mehr sensationell genug war.222 Gleiches gilt für ihre ehemalige Parallelisierung mit der Figur der Salomé, die ebenfalls überholt war, nachdem Theda Bara (1885-1955) sie für Fox Studios in ihrer Musterrolle des vamp schon zu stark in Richtung orientalischer Exotik und bedrohlicher Sexualität weiterentwickelt hatte.223 Nesbits sexuelles Potenzial aus dem Skandal von 1907/8 wirkte im Vergleich dazu eher naiv als extrovertiert oder gefährlich, sodass entsprechende Referenzen darauf nicht mehr überzeugten. Daher verlagerten sich ihre Filme in erster Linie auf Variationen des beliebten seduction plot:224 Teilweise spielte Nesbit Rollen, in denen sie männlichem Verlangen nach- oder sich hingab, wohingegen sie sich in anderen gegen ihre Verführer sträubte.225 Während erstere es Zuschauer*innen noch immer erlaubten, eine »ero-

222 Vgl. Brownlow: Mask of Innocence, S. 7, 29; Cynthia Chris: Censoring Purity, in: Camera Obscura. Feminism, Culture, and Media Studies 27:1 (2012), S. 97-125, hier S. 105-13. 223 Vgl. Jess Sully: Challenging the Stereotype. The Femme Fatale in Fin-de-Siècle Art and Early Cinema, in: Helen Hanson/Catherine O’Rawe (Hg.): The Femme Fatale: Images, Histories, Contexts, Basingstoke et al. 2010, S. 46-59, hier S. 53-4. 224 Vgl. Lea Jacobs: The Decline of Sentiment. American Film in the 1920s, Berkeley 2008, S. 180-1. 225 Ersteres in »The Woman Who Gave«(1918) und »Though Shalt Not« (1919), Letzteres in »Redemption« (1917) und »Woman, Woman!« (1919).

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tisch fundierte Beziehung«226 zu ihr als Darstellerin aufzubauen, erzeugten Letztere laut New York Times einen »sense of courageous womanhood«.227 Dieser griff einerseits Nesbits eigene Inszenierungsstrategien auf, wenn sie sich parallel zu ihren Filmrollen in der Presse etwa als alleinerziehende New Woman präsentierte, und reaktivierte andererseits ihr Fremdbild als Grenzgängerin, das mit ihrer Gerichtsaussage Fragen nach sexuellen Normvorstellungen und deren Flexibilisierung gestellt hatte. Dass die Filme aus Nesbits Lebensgeschichte schöpften, setzte das Publikum voraus. Das schärfte der New York Dramatic Mirror den Kinobetreibern in seinem Kommentar zu »Her Mistake« (1918) ein: »Press stories should feature the personal life of the star, and also touch in the angle that in the picture she makes a mistake in marriage as she did in her own life.«228 Diese melodramatischen Rollen ordneten sich in Deutungsmuster über Nesbit ein, welche die (Sensations-)Berichterstattung seit dem Mordskandal geprägt hatten, und betonten einmal mehr die emotionale Dimension ihrer medialen Sichtbarkeit.229 Entsprechend wichtig war es für ihr Fremdbild, dass Filmrezensent*innen regelmäßig die über den Mordskandal hinausgehende Überlagerungen der Filmrollen mit ihrem Leben betonten. Als Nesbit etwa in »Woman, Woman!« (1919) an einer Tonbüste modellierte, sah sich das Photo-Play Journal veranlasst, dies als ihr privates Hobby zu kennzeichnen,230 worüber bereits 1910 die Gesellschaftsberichterstattung berichtet hatte.231 Dieses Beispiel lässt vermuten, dass es in Nesbits Filmen mutmaßlich häufiger intermediale Bezüge dieser Art gab.

Hollywood oder High Society? Die Verortung von Evelyn Nesbits Filmkarriere Wie erwähnt, rückte mit der Entstehung des Star-Systems das Privatleben der Filmstars zunehmend ins Zentrum des medialen Interesses. Da dies eine parallele Fokussierung zur High Society war, stellt sich die Frage, in welchem Spannungsverhältnis beide Gruppen zueinander standen. Juliane Hornung hat für die Zeit der Hollywood-Stars ab den 1920er Jahren herausgearbeitet, dass »die Massenmedien die High Society und Hollywood […] als zwei unterschiedliche Phänomene 226 227 228 229

Hickethier: Theaterstar, S. 39. Evelyn Nesbit in Film, New York Times, 22.5.1917, S. 11. The Pictures and Ideas for Playing It, in: New York Dramatic Mirror (27.4.1918), S. 595. Zur Relevanz von Emotionen bei Kinobesuchen vgl. Bösch: Kinobesucher, S. 15-9. Siehe ferner Kap. II.2.4 Anm. 165. 230 Vgl. Interesting Facts About the Clan That Acts, in: Photo-Play Journal 3:9 (März 1919), S. 22. 231 Vgl. etwa den Fotobericht Evelyn Nesbit Thaw Starts for Paris to Study Sculpture, Columbus Dispatch, 18.4.1910.

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[konstruierten]«.232 Auf der einen Seite materialisiert sich das in ihrer Zusammensetzung und der Form der Berichterstattung: Während für die Mitglieder der High Society New York das Zentrum bildete und sie seit Beginn der 1900er Jahre auf den society pages der Tageszeitungen ihren festen Platz hatten, widmeten sich seit Mitte der 1910er Jahre Spezialmagazine den immer stärker mit Hollywood verbundenen Filmstars. Ihnen gewährten Tageszeitungen erst in den 1920er Jahren eigene Rubriken, die von der Gesellschaftsberichterstattung getrennt waren. Auf der anderen Seite nahmen Öffentlichkeiten die Privatheit beider Gruppen unterschiedlich wahr: Während die Angehörigen der High Society scheinbar ihr authentisches Leben führten, das die Medien einfach dokumentierten, waren Filmstars zuerst Darsteller*innen auf der Leinwand, wovon ausgehend erst das Interesse an ihrem privaten Leben entstand. Daraus folgte ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der angeblichen Privatheit der Stars, da unklar schien, ob diese nicht ebenso wie ihre Filmrollen gespielt war.233 In Abwandlung von Neil Gabler kann damit konstatiert werden: Der Film hatte Stars, das Leben die High Society.234 Während Peggy und Larry Thaw genau diese Wahrnehmungsdifferenz zum Kern ihrer Filme machten und damit ihr Leben als Privatpersonen in der High Society scheinbar authentisch darstellten,235 konnte Evelyn Nesbit in den 1910er Jahren noch einen anderen Weg gehen. Sie machte sich zunutze, dass in dieser Entstehungsphase des Star-Systems das von Hornung konstatierte Misstrauen gegen die Authentizität der Privatheit des Stars noch nicht breitenwirksam ins Bewusstsein der Publika getreten war. Vielmehr gingen diese noch teilweise bis in die 1930er Jahre hinein davon aus, dass Deckungsgleichheit zwischen der inner- und außerfilmischen Persönlichkeit des Filmstars bestand.236 Indem Nesbits Privatleben bereits seit den Nullerjahren über die High Society-Berichterstattung hatte mitverfolgt werden können, gelang es ihr, den Authentizitätsanspruch der High Society in ihr StarImage zu übertragen und damit eine Doppelrolle einzunehmen: Sie wurde wie andere zeitgenössische Filmstars in Film- und Fanmagazinen verhandelt, wobei sich ihr Anspruch als authentische Privatperson nicht aus den Filmrollen ableitete, sondern aus ihrer Thematisierung in den Gesellschaftsrubriken und Sonntagsbeilagen der Tageszeitungen.

232 Hornung: Welt, S. 92. 233 Vgl. ebd., S. 92-3; deCordova: Picture Personalities, S. 107-12; Joseph Garncarz: Die Schauspielerin wird Star. Ingrid Bergmann – eine öffentliche Kunstfigur, in: Renate Möhrmann (Hg.): Die Schauspielerin. Zur Kulturgeschichte der weiblichen Bühnenkunst, Frankfurt a. M. et al. 2000, S. 368-93, hier S. 373-4. 234 Bei Neal Gabler lautet das Zitat: »Movie had stars. Life had celebrities.« Ders.: Life the Movie. How Entertainment Conquered Reality, 3. Aufl., New York 1999, S. 146. 235 Vgl. Hornung: Welt, passim, insb. S. 107-97. 236 Vgl. Ricarda Strobel: Der Star, in: Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Der Mensch des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M./New York 1999, S. 66-86, hier S. 72; Gamson: Claims, S. 35-9.

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Damit war Nesbit auf zweifache Weise der Transfer in das Filmgewerbe gelungen: Die Grundlage bildete ihr Aufmerksamkeitskapital aus ihrer Sichtbarkeit in der High Society. Das verwendete sie zuerst für ihren Eintritt in das vaudeville, um über ihren dortigen Erfolg in den Film zu wechseln, wo sie über ihre Authentizität als High Society-Mitglied ihr Star-Image bedienen konnte.

»Redemption« (1917): Nesbits Privatleben auf der Leinwand Um den Transfer ihres High Society-Status in ihre Filmrollen genauer zu untersuchen, dient Nesbits erfolgreichster Spielfilm, »Redemption« (1917), als analytische Sonde.237 Darin fiel ihr auf den society pages sichtbar gewordenes Leben mit ihrer Filmrolle zusammen. Zudem sprach der Film alle drei Themenbereiche ihres StarImages – Aufopferung, Affäre und sexuelles Fehlverhalten – an. In dem Drama führt Nesbit als Alice Loring ein glückliches Eheleben, bis der wohlhabende Architekt Stephen Brooks, mit dem sie als junge Theaterdarstellerin eine Affäre hatte, erneut in ihr Leben tritt. Als sie sich weigert, diese wieder aufzunehmen, ruiniert Brooks ihren Ehemann, der daraufhin verstirbt und Loring verarmt zurücklässt. Fünfzehn Jahre später ist es ihr gelungen, ihre eigene, erfolgreiche Schneiderei aufzubauen und ihren Sohn Harry auf die Universität zu schicken. Dort verliebt sich dieser in Brooks Tochter; eine inakzeptable Verbindung für beide Eltern. Als Harry jedoch Brooks das Leben rettet, gibt dieser sein Einverständnis zur Ehe und bittet Alice Loring um Verzeihung für seine Taten. Wie der Filmtitel verspricht, triumphiert sie damit letztlich über ihre Vergangenheit.238 Die Handlung referierte so stark wie kaum ein anderer ihrer Filme auf Nesbits Leben, wie es bereits in der Ankündigung hieß: »Photo-Drama of Life Depicted with Relentless Truth […] A wonderful moral lesson fearlessly drawn from the heart of a great tragedy.«239 Das war ein qualitativer Wandel, weg von ihren Auftritten im vaudeville. Zwar offerierten diese den Zuschauer*innen, sie in Persona erleben zu können, doch erst der Film ermöglichte ihre scheinbare Aneignung.240 Die daraus resultierende Schnittmenge aus sexuellen und skandalösen Themen mit Nesbits scheinbar authentischer Person identifizierte der New York Dramatic Mirror als das Potenzial ihrer Filmkarriere: »Undoubtedly the interest which is still felt in a late cause celebre will prove a potent means of advertising this screen version of its heroine’s life history.«241

237 »Redemption«, USA 1917, R: Julius Steger/Joseph A. Golden, ca. 72 Min (verschollen). 238 Vgl. Edward Weitzel: ›Redemption‹, in: Moving Picture World (2.7.1917), S. 1461; A. G. S.: ›Redemption‹, in: New York Dramatic Mirror (2.6.1917), S. 28. 239 Vgl. Werbeplakat »Redemption« (1917), UC, Container 17. 240 Vgl. ›Redemption‹ Selling, in: New York Dramatic Mirror (1.9.1917), S. 17. 241 A. G. S.: ›Redemption‹, in: New York Dramatic Mirror (2.6.1917), S. 28.

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Dass sich das Privatleben der Schauspieler*innen im Kino aneignen ließ, resultierte aus der Situation, in der sich die Zuschauer*innen befanden: Im Kinosaal überlagern sich Film- und Zuschauer*innenraum, wodurch sich das Kinopublikum mit dem Subjekt des Kamerablickes identifiziert und eine in ihrer Wirkung über Einzelbilder hinausgehende Nähe zu den Gefilmten aufbaut.242 Darin sahen auch die Kritiker*innen die Stärke von »Redemption«, da Nesbit nicht schauspielern müsse, sondern vielmehr sie selbst sein könne: »What she has suffered, and the fact that she is asked to live again actual scenes in her life [!], aid her in her work and enable her to show a depth of feeling and a strength of emotion which no artificial means could arouse.«243 Diesen Eindruck intensivieren Faktoren wie die Fokussierung des Kamerablicks auf die Gefilmten – vor allem über Nah- und Großaufnahme des Gesichts  –, die Dauer der Spielfilme und die emotionale Involvierung der Zuschauer*innen in die Handlung.244 Nesbit konnte diese Nahbarkeit schauspielerisch sehr überzeugend vermitteln und somit ihre Überlagerung von Filmrolle und Filmstar plausibel darstellen. Diese Beobachtung verdichtete die Filmkritikerin der Chicago Daily Tribune, Mae Tinée, in der Feststellung: »I insist that Evelyn Nesbit is  [!] the picture.«245 Den medial verbreiteten Anspruch des Films, Nesbit selbst zu zeigen, goutierten nicht nur Filmkritiker*innen, sondern vor allem das Publikum. Dieses nicht allein als »manipulierbare[n] Konsument ohne Stimme«246 abzuhandeln, sondern dessen verschiedene Rezeptionsformen darzustellen, ist eine Herausforderung der Rezeptionsgeschichte, doch bei Nesbits Filmen aufgrund der Quellenlage nur bedingt möglich. Allerdings lassen indirekte Belege Rückschlüsse auf ihre Wahrnehmung durch (Teil-)Öffentlichkeiten zu. Etwa als sich »Redemption« zu Nesbits größtem Publikumserfolg entwickelte und in den ganzen USA für Monate die Kinosäle füllte.247 Folglich bot Fox Studios ihr Ende 1918 einen Vertrag über sechs Filme an, »to capitalize the opportunity to the utmost, linking star and story in a combination which will be irresistible from a box office standpoint«,248 wie die Moving Picture World konstatierte. Entsprechend kritisierten einige Filmkritiker*innen diese Verwertungslogik. Filme wie »Redemption« würden so reine »money-getter«.249 Doch be242 Vgl. Szöllösi-Janze: Film, S. 25-6. 243 ›Redemption‹ for States, in: Motography 17:23 (9.6.1917), S. 1223. 244 Vgl. Paech/Paech: Menschen, S. 204-6; Gabler: Life, S. 145. Darüber hinaus wird es individuelle, nicht mehr rekonstruierbare Filmerlebnisse gegeben haben, vgl. Maase: Vergnügen, S. 111. 245 Mae Tinée: In Which Evelyn Nesbit Redeems ›Redemption‹, Chicago Daily Tribune, 25.6.1917, S. 12. 246 Bösch: Kinobesucher, S. 16. 247 Vgl. in Filmmagazinen Redemption Fills Theaters, in: New York Dramatic Mirror 77:2023 (29.9.1917), S. 17; in Zeitungen Evelyn Nesbit Picture a Big Success, New Jersey Star, 9.7.1917. 248 Evelyn Nesbit to Make Series of Fox Pictures, in: Moving Picture World (7.9.1918), S. 1423. 249 George W. Graves: ›Redemption‹, in: Motography 17:23 (9.6.1917), S. 1231.

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legt dies, dass Nesbits Filmproduktionen parallel zu ihren vaudeville-Auftritten ihr Aufmerksamkeitskapital funktionalisierten: Zuschauer*innen besuchten die Filme, um durch ihr Schauspiel neue Facetten ihrer Privatheit zu sehen.250 Dass sich Nesbit mittelfristig als Filmstar etablieren konnte, zeigen Umfragen in Filmmagazinen, die den offiziellen Filmpreisen, wie dem Academy Award, vorausgingen.251 Im Januar 1913 hatte das an Filmenthusiast*innen gerichtete Motion Picture Story Magazine erstmals 100 Schauspieler*innen nominiert, über deren Beliebtheitsgrad 1.3 Millionen Leser*innen abstimmten.252 Bei der Umfrage Ende des Jahres 1918 kam Evelyn Nesbit unter 415 gelisteten Darsteller*innen auf Platz 244 mit 16.195 Stimmen. Damit erhielt sie zwar nur ein Zehntel der Stimmen der erstplatzierten Mary Pickford, aber noch immer dreimal mehr als der letztplatzierte Elmo Lincoln,253 obwohl dieser im selben Jahr in »Tarzan of the Apes« aufgetreten war, einem der wenigen Stummfilme, die über eine Millionen Dollar (heute rund 30.8 Mio. Dollar) eingespielt hatten.254 Über die Gründe für Nesbits Platzierung kann nur spekuliert werden. Doch zeigen die oben erläuterten Faktoren, dass ihr High Society-Status es ihr ermöglichte, sich als medial bekannte Person schnell und überzeugend in das Star-System einzubinden, wodurch sie trotz der vergleichsweise wenigen Filme als Filmstar wahrgenommen wurde. Diese Überlagerung von High Society-Mitglied und Filmstar zeigte sich exzeptionell an der von ihr empfangenen Fanpost.255 So bat im Sommer 1920 ein John Holliday aus dem kanadischen Port Alice in British Columbia postalisch um eine Autogrammkarte, was er mit ihrem Status als Filmstar rechtfertigte: »I can quite understand you will have little or no time for this kind of things althou [sic] the M[oving] P[icture] magazines have stated that all the M P actresses have consented to mail their pictures to admirers.« Er schrieb sich damit nicht nur in den Diskurs über die Beziehung zwischen Filmstars und deren Fans ein, sondern begründet dies mit ihrer Zugehörigkeit zur High Society, mit der sie seit den Mordprozessen seine Aufmerksamkeit fesseln würde: »I have been collecting your pictures and newspaper cuts for twelve years or more.«256 Damit zeigt sich, dass, obwohl Nesbit am Ende der 1910er Jahre vor allem als Filmstar medial thematisiert wurde, ihr Status als Mit250 Vgl. deCordova: Picture Personalities, S. 112. 251 Diese waren zwar grundsätzlich manipulierbar, doch lassen sich an ihnen aufgrund der hohen Teilnehmerzahl allgemeine Trends ableiten, vgl. Richard Koszarski: An Evening’s Entertainment. The Age of the Silent Feature Picture 1915-1928 (= History of the American Cinema, 3), Berkeley 1994, S. 261. 252 Vgl. Quentin David Bowers: Nickelodeon Theatres and Their Music, Vestal 1986, S. 84. 253 ›The Motion Picture Hall of Fame‹, in: Motion Picture Magazine 19:11 (Dez. 1918), S. 12-4. 254 Vgl. Geoff Mayer: Encyclopedia of American Film Serials, Jefferson 2017, S. 187. 255 Fanpost als Quellengattung ist dabei für Stummfilmdarsteller*innen vergleichsweise selten überliefert, vgl. Fuller: Picture Show, S. 122. 256 Brief von John Holliday an Evelyn Nesbit (22.5.1920), UC, File 4. Als Autogrammkarte vgl. Evelyn Nesbit, Seattle (30.12.1915), UWL, SC, J. Willis Sayre Photograph Collection: Ph Coll 200, JWS25949.

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glied der High Society noch immer nachwirkte, sei es in der öffentlichen Wahrnehmung, sei es als Basis ihrer Filmauftritte.

Produkt, Konsum und Vorbild Nesbits Wechsel in den Film markierte auch eine Veränderung ihres Erscheinens in populärkulturellen Produkten. Der Produzent Julius Steger verkaufte »Redemption« nach Großbritannien, um die internationale Nachfrage nach scheinbaren Einblicken in ihr Privatleben zu bedienen.257 Andere Studios vermarkteten Nesbit mit Werbeplakaten, veröffentlichten die Filmmusik und verkauften Standbilder ihrer Filme als Souvenir.258 Das machte sie nun nicht nur als High Society-Mitglied, sondern auch als Filmstar konsumierbar.259 Dabei übernahm sie auf Postkarten, welche vermutlich Filmstudios für sie beauftragten, das Motiv des dekontextualisierten Stars, wie es etwa Greta Garbo popularisiert hatte: Die Porträts verunmöglichen durch den abgewandten Kopf den Blickkontakt und transzendieren so die Abgebildeten, verstärkt durch starke Weichzeichnung oder harte Belichtung. Auf diese Weise entrückt, machte sich Nesbit zum »desirable enigma« (Abb. 63),260 was mit den privaten Details und ihrer Nahbarkeit im Film kontrastierte und so eine neue Facette von ihr sichtbar machte. Ferner legen die Abbildungen Zeugnis für ihr gewandeltes Selbstbild ab, bei dem nicht mehr ihr Körper als sexuelles Objekt des männlichen gaze im Vordergrund steht, sondern ihre selbstbewusste und selbstbestimmte Erotik. Indem sie sich aktiv an neue Bedingungen und Mechanismen des Star-Systems anpasste, bewies sie im Zusammenspiel mit den Filmstudios erneut ihre Medienkompetenz. Die Überlagerung von High Society und Star-System zeigt sich zudem im Konsum. Filmstars verantworteten mit ihren im Bewegtbild und der Berichterstattung vorgelebten Konsumobjekten und -praktiken maßgeblich den Durchbruch der amerika-

257 Der Film erschien in Großbritannien unter dem suggestiven Titel »Shadow of my Life« und löste durch seinen Publikumserfolg eine Zensurdebatte aus, inwieweit mediales Aufmerksamkeitskapital in Filme übertragen werden dürfe, vgl. The Cinematographic Exhibitors’ Association and Evelyn Thaw Picture, in: The Bioscope (28.2.1918), S. 38-9, 41; The Evelyn  Thaw Film Controversy, in: The Bioscope (7.3.1918), S. 88-9. 258 Vgl. Dedicate Song to Evelyn Nesbit, in: Moving Picture World (24.5.1919), S. 1176; der Walzer: Alfred Bryan/John William Kellette (Text)/Richard A. Whiting (Musik): Fallen Idols. Suggested by »A Fallen Idol«, a Screen Production of the Fox Film Corporation Starring Evelyn Nesbit, Jerome H. Remick & Co., New York/Detroit 1919, KSUL, SCA, Crime-Related Sheet Music: Box 3, Series 33: Thaw, Evelyn Nesbit; die Standbilder:  Fallen  Idol (1918), I  Want to Forget (1919) und Thou Shalt Not (1919), UC, File 11; zu dieser Praxis vgl. Fuller: Picture Show, S. 122. 259 Vgl. Standbild »Her Plea« aus »A Fallen Idol« (1918), UC, File 11. 260 Vgl. Kelly: Beauty, S. 111-3, Zitat: S. 111.

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Abb. 63: Vergleich einer Postkarte von »Evelyn Thaw [!]« (1913) als vaudeville-Darstellerin (li.) und als Filmschauspielerin »Evelyn Nesbitt [sic]. Popular Cinema Star« (ca. 1918/19) in abgewandter, entrückter Pose (re.).

nischen Konsumkultur in den 1920er Jahren.261 Die Angehörigen der High Society hatten in den Medien dieser Entwicklung bereits mit der Jahrhundertwende den Weg geebnet. Sie passten sich aber zugleich dem neuen, von Vertreter*innen der Filmbranche vorgelebten Geltungskonsum an, wie Evelyn Nesbits Beispiel zeigt. Kulturgeschichtlich lassen sich über Konsum weitere lebensweltliche Bereiche erschließen, wie Körpervorstellungen oder Vergnügungsverhalten.262 Dabei wählten Darsteller*innen noch bis in die späten 1910er Jahre häufig ihre eigene Kleidung aus, sodass sich auch hier ihre Filmrollen ihrem privaten Konsumverhalten überlappten.263 In den mutmaßlich zentralen Szenen von »Threads of Destiny« (1914) trug Nesbit eine lange, weite Tunika zu einem gerade geschnittenen Rock mit geometrischen Mustern und Fransen. Beides rezipierte die neue, orientalisch inspirierte 261 Vgl. Finamore: Hollywood, S. 3-4, 6-7, 29-36; Flanagan: America, S. 194-5; Paech/Paech: Menschen, S. 42-3. 262 Vgl. Manuel Schramm: Konsumgeschichte. Version 3.0, Docupedia-Zeitgeschichte, 2.9.2020, https://docupedia.de/zg/Schramm_konsumgeschichte_v3_de_2020 (acc. 22.4.2022), [S. 2-3]. 263 Vgl. Finamore: Hollywood, S. 130-9. Den Topos selbstentworfener Kleider hatte Nesbit im vaudeville bereits aufgegriffen, siehe Anm. 163 auf S. 409.

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Abb. 64: Standbild aus »Threads of Destiny” (1914) (li.) und Fotobericht über einen Aufenthalt in New York im Juli 1915 (re.).

Mode aus Paris, wie sie der Designer Paul Poiret prägte,264 einen Kleidungsstil, den Nesbit auch im Alltag trug, wie aus der Tagespresse ersichtlich wurde (Abb. 64). Zwar ist es richtig, dass sich mit dem Star-System die medial vermittelte Konsumkultur intensivierte. Während die frühen Stars der 1910er Jahre noch ihre enorm gestiegenen Gagen zelebrierten, indem sie die damit verbundenen Konsum- und Freizeitmöglichkeiten vor allem im häuslich-familiären Umfeld, etwa mit Villen oder Ferienhäuser, medial in Szene setzten, avancierten sie in den 1920er Jahren zu Repräsentant*innen eines neuen Luxuskonsums, dessen materielle Dimensionen sie mit Juwelen, Pelzen und Autos demonstrierten.265 Diese conspicuous consumption entsprach im Wesentlichen den Inszenierungspraktiken, die High Society-Mitglieder bereits seit der Jahrhundertwende sukzessive ausgebildet hatten. Entsprechend setzte Evelyn Nesbit auch als Filmstar – und vaudeville-Darstellerin, was sich in dieser Phase überlagerte – ihr demonstratives Konsumverhalten aus der Zeit vor 1914 fort:266 Dabei dienten ihr Freizeitverhalten und Luxuskonsum einerseits als materielles Zeugnis ihres Erfolgs, etwa wenn sie in einem eigenen Bahnwagon – »The Magnet« – und mit Dienstmädchen reiste, ein Auto kaufte oder sich mit einem Ferien-

264 Vgl. Ingrid Loschek: Mode im 20. Jahrhundert. Eine Kulturgeschichte unserer Zeit, 4. Aufl., München 1990, S. 22, 27. 265 Vgl. Sternheimer: Celebrity, S. 53-4; Heather Addison: Hollywood, Consumer Culture, and the Rise of ›Body Shaping‹, in: David Desser/Garth S. Jowett (Hg.): Hollywood Goes Shopping, Minneapolis 2000, S. 3-33, hier S. 3-10. 266 Auch Ryan Linkof betont, dass der Erste Weltkrieg keinen Bruch der medialen Inszenierung bedeutete, sondern sich vorherige Entwicklungen fortschrieben, vgl. ders.: Public Images, S. 14.

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haus in den Adirondack Mountains einen Rückzugsort schuf.267 Andererseits demonstrierte sie damit nicht nur neueste Konsum- und Verhaltensweisen, sondern prägte diese aktiv mit, wie etwa wenn sie selbst am Steuer ihres Sportwagens saß (Abb. 65).268 Ihre mediale Inszenierung vermittelte damit das Narrativ, das sowohl High Society als auch Star-System bedienten: der eigene Status könne selbst erarbeitet werden und bilde damit ein erstrebenswertes, da erreichbares Ziel.269 Mit der zunehmenden Relevanz, die der Konsum in der medialen Selbstinszenierung einnahm, erkannte auch die Werbeindustrie schnell das Potenzial von Schauspielerinnen als authentische Garantinnen für Produktwerbung. Seit Ende der 1910er Jahren bewarben sie mit ihnen eine immer breitere Produktpalette für Konsumentinnen der amerikanischen Mittel- und Oberschicht.270 Bereits in den frühen 1920er Jahren stießen in dieses Feld auch Frauen der High Society vor. So warben etwa Alva Belmont und Gloria Morgan Vanderbilt seit 1924 für Pond’s Gesichtscremes und garantierten mit ihrem Status und gutem Aussehen für die Qualität der Produkte.271 Die Werbeindustrie erkannte jedoch schnell, dass es vor allem die Trias aus medialer Sichtbarkeit, Schönheit und Jugendlichkeit war, die den größten Effekt auf ihre Kundinnen hatte.272 Somit gab es mehrere Ursachen, warum Evelyn Nesbit keine Werbeangebote erhielt: Es gab andere, sichtbarere High SocietyFrauen und Filmdarstellerinnen, die sie als mittlerweile Mitdreißigerin ausbooteten. Ferner passte sie weder mit ihren Filmrollen noch ihrem Privatleben zu dem Frauenbild, dessen es bedurfte, um für Produkte Patin stehen zu können.273 Ihre durch den Skandal geprägte High Society-Mitgliedschaft verhinderte daher letztlich, dass sie voll von ihrer Sichtbarkeit als Schauspielerin profitieren konnte. Währenddessen begann sich Evelyn Nesbits Filmstar-Image zum Problem für die Filmstudios zu entwickeln. Zwar hatte sie Anfang 1919 noch den Vertrag bei Fox 267 Vgl. Stevens Otheman: Evelyn Thaw Here. Tells Her Stage Aims. Dancer Denies Trading Upon Notoriety, Los Angeles Examiner, 2.3.1914; Nesbit: Prodigal Days, S. 269; Henry Kendall Thaw vs. Evelyn Nesbit Thaw, No. 1319 Oct. Term, 1915: Transcript of Official Notes of Testimony, S. 23, 75, Fifth Judicial District of Pennsylvania, Department of Court Records. 268 Vgl. Gesa Kessemeier: Sportlich, sachlich, männlich. Das Bild der ›Neuen Frau‹ in den Zwanziger Jahren. Zur Konstruktion geschlechtsspezifischer Körperbilder in der Mode der Jahre 1920 bis 1929, Zugl.: Münster, Univ., Diss., 2000, Dortmund 2000, S. 71-5. 269 Vgl. Lena R. Rich: Evelyn Nesbit Loves Stage, But Sighs at Leaving Her Boy, Newark Star Eagle, [Okt. 1917], in: Evelyn Nesbit, Vol. 3, S. 75, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 360; zur Vorbildfunktion vgl. Sternheimer: Celebrity, S. 53-4. 270 Vgl. Marlis Schweitzer: ›The Mad Search for Beauty‹: Actresses’ Testimonials, the Cosmetics Industry, and the ›Democratization of Beauty‹, in: J. Gilded Age Prog. Era 4:3 (2005), S. 255-92, passim, insb. S. 269-73. 271 Vgl. Hornung: Welt, S. 46. 272 Vgl. Peiss: Hope, S. 137-40; Addison: Hollywood, S. 17-21. 273 Vgl. Schweitzer: Broadway, S. 270; Sarah Berry: Hollywood Exoticism: Cosmetics and Color in the 1930s, in: Desser/Jowett: Hollywood, S. 108-38, hier S. 112-5.

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Abb. 65: Freizeit- und Konsumverhalten von Evelyn Nesbit: Links im Pelzmantel im Fonds ihres ersten Autos, einer handgekurbelten Fiat-Limousine mit Chauffeur (ca. 1914); rechts posierte sie bereits selbst auf dem Fahrersitz ihres sportlichen Phaeton (ca. 1920).

Studios unterzeichnet und ihr Karriereende im vaudeville bekannt gegeben, doch bekam sie nach diesem Wechsel keine weiteren Filmrollen.274 Sie konfligierte einerseits immer stärker mit der Selbstdarstellung der Industrie, die sich Ende der 1910er Jahre zunehmend als harmloses Entertainment generierte, was das Privatleben ihrer Filmstars ein- und Nesbit damit ausschloss.275 Andererseits verlor das Publikum das Interesse an seduction plots, die wegen ihrer Sentimentalität zunehmend als unzeitgemäß galten.276 Zugleich lässt sich Nesbits Filmkarriere und deren Ende über die Binnenlogik der filmgeschichtlichen Narrativverschiebung erklären, die mit ihrem High Society-Status eng verwoben war. Nach Thomas Elsaesser prägte die Stummfilmzeit bis 1917/19 das »Kino des ›Zeigens‹ (showing)«, woraufhin das »Kino des ›Erzählens‹ (telling)«277 einsetzte. Beide Phasen lassen sich an Nesbits Filmen nach274 Vgl. Evelyn Nesbit, in: Motion Picture Classic (Jan. 1919), UC, Container 6. 275 Vgl. Grieveson: Thaw-White Scandal, S. 43; Miller: Censored, S. 27-9, 32-4. Besonders deutlich zeigte dies der Fall von Roscoe »Fatty« Arbuckle, dessen Sex- und Drogenskandal (1921/22) ganz Hollywood in moralische Rückzugsgefechte brachte, vgl. Sternheimer: Celebrity, S. 56. 276 Vgl. Jacobs: Decline, S. 190, 214-5; Sully: Challenging, S. 53-4. 277 Elsaesser: Filmgeschichte, S. 74. Dies geht interessanterweise mit der Entwicklung einher, dass der Hauptteil der zwischen 1914 und 1918 im Spielfilm erfolgreichen Theaterschauspieler*innen durch von der Filmindustrie selbst aufgebaute Filmstars ersetzt wurde, vgl. Koszarski: Entertainment, S. 259-62.

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vollziehen, die bis zur Produktion von »Redemption« (1918) ihr medial bekanntes Leben verarbeiteten, indem sie dieses gleichsam im Bewegtbild zeigten. Davon unabhängiger waren die Produktionen für Fox Studios nach 1918, wie das kriminalistische Südseedrama »A Fallen Idol« (1919), das trotz thematischer Referenzen auf ihr Privatleben in erster Linie eine neue Geschichte erzählte. Jedoch lag das Interesse des Kinopublikums an Nesbits Privatheit, sodass mit dieser Narrativverschiebung letztlich ihre Karriere scheiterte.278 Parallel dazu gelang es ihr immer seltener, mit ihrem Privatleben auf den society pages zu erscheinen, um damit ihre Mitgliedschaft in der High Society zu erneuern. Obwohl Nesbit mit der Mode ging, konnte sie mit fast vierzig Jahren das neue Schönheitsideal der 1920er Jahre, den Flapper mit seinem knabenhaften, jugend­ lichen Körper und herausforderndem Auftreten, nicht mehr überzeugend erfüllen.279 Das wirkte sich auch auf ihre Rückkehr in das vaudeville nach ihrem Karriereende im Film aus, wo sie nicht mehr an frühere Erfolge anknüpfen konnte.280 Ebenso hatte ihr Aufmerksamkeitskapital, das auf dem mittlerweile über eine Dekade zurückliegenden Skandal fundierte, angesichts der gewandelten Sexualmoral an Wert verloren.281 Neue Aufmerksamkeit zu erzeugen, fiel ihr auch finanziell immer schwerer. Das Motion Picture Magazine brachte im Sommer 1921 ihre Situation auf den Punkt. Es antwortete auf die Anfrage eines Fans nach Nesbits aktueller Situation kurz angebunden: »[She is] not in the limelight right now«.282 Mit ihrem Einstieg in das Filmgewerbe schrieb Nesbit konsequent die Professionalisierung fort, die sie bei ihrem Transfer in das vaudeville begonnen hatte. Während sie dort größere Freiheiten bei der Gestaltung ihrer Shows hatte, da ihre bloße Anwesenheit auf der Bühne den Voyeurismus der Zuschauer*innen bediente, zehrten ihre Filme von intensiven Bezügen auf ihr skandaliertes Privatleben. Das erleichterte ihr den Einstieg in das Star-System und bewahrte sie vor dem Vorwurf des Unauthentischen. Als vaudeville- wie Filmstar setzte sie die Inszenierungs- und Konsumpraktiken fort, die ihre Zugehörigkeit zur High Society prägten. Ihr Beispiel etablierte ein Muster, wie High Society-Mitglieder ihre Zugehörigkeit professionell nutzen konnten: Ob auf der Bühne oder im Film ging mit der Professionalisierung einher, weiter den Anschein aufrechtzuerhalten, authentische Privatperson zu sein.283 Ein Anspruch, dem Nesbit bis zuletzt folgte.

278 Vgl. Daniel Herwitz: The Star as Icon. Celebrity in the Age of Mass Consumption, New York 2008, S. ix. 279 Vgl. Angela J. Latham: Posing a Threat. Flappers, Chorus Girls, and Other Brazen Performers of the American 1920s, Hanover 2000, S. 22-7, 47-50. 280 Vgl. Ruth Peitel: Evelyn Nesbit Is Costume Failure, Toledo Times, 9.5.1920. 281 Vgl. Herwitz: Star, S. 134-6. 282 The Answer Man, in: Motion Picture Magazine 21:6 (Jul. 1921), S. 76, 78, 95-6, 111-3, hier S. 96. 283 Dieses Muster prägte die High Society bis in die späten 1930er Jahre, vgl. Hornung: Welt, S. 301-2.

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Resümee und Ausblick Genese, Skandal und Konsum der High Society Am Abend des 25. Mai 1925 zog ein Mann im Texas Guinan’s Club, einem der angesagtesten Nachtclubs der New Yorker High Society, das Interesse der Anwesenden auf sich: »Old-timers there recognized him. The youngsters, asking in amazement for the name of the gray-haired man who was spending money so lavishly, soon learned who he was.«1 Harry Thaw war erstmals seit 19 Jahren wieder am Broadway erschienen, was ihm diese Aufmerksamkeit bescherte – ein Angehöriger der High Society war er zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht mehr. Die Zeiten hatten sich geändert. Die sozialen Umbrüche, die sich in den Vereinigten Staaten bereits vor dem Ersten Weltkrieg angekündigt hatten, brachen sich in den Roaring Twenties Bahn. Alte gesellschaftliche Normen wurden ausgehebelt, Geschlechterverhältnisse liberalisierten sich und die Vergnügungsgesellschaft erlebte eine Hochzeit. Kino und Radio wurden zu alltäglichen Unterhaltungsmedien, die Werbeindustrie, Hollywood und günstige Massengüter verhalfen der Konsumkultur zum Durchbruch.2 Doch nicht nur die gesellschaftlichen Zustände schienen sich signifikant gegenüber der Zeit davor geändert zu haben, sondern erstmals in der amerikanischen Geschichte empfanden junge Amerikaner*innen einen wirklichen »generation gap«3 zur Zeit davor: Die Flapper waren mit ihren Bobs, kurzen Röcken und explizit nicht damenhaftem Verhalten das junge, unkonventionelle und aufbegehrende Symbol dieses Gesellschaftswandels.4 Vor diesem Hintergrund veränderte sich auch die High Society: Neue Medienformate, wie Illustrierte oder kleinformatige Tageszeitungen, die Tabloids, prägten die Presselandschaft, indem sie Fotografien in bislang ungekanntem Maße ins Zentrum rückten oder eine neue Skandalberichterstattung prägten, die den Sensationalismus der yellow press zur Jahrhundertwende in den Schatten stellte.5 Daneben hatte sich 1 John Stuart: Hectic Night of Club Life Starts with Tip of $500, New York American, 26.5.1925, in: UT, DBCAH, New York Journal American Morgue, 2B15 102. 2 Vgl. Lynn Dumenil: The Modern Temper. American Culture and Society in the 1920s, New York 1995, S. 76-97; Kathleen Morgan Drowne/Patrick Huber: The 1920s (= American Popular Culture Through History, 3), Westport 2004, S. 29-31, 38-46; Susan Currell: American Culture in the 1920s, Edinburgh 2009, S. 103-5. 3 Drowne/Huber: 1920s, S. 29. 4 Vgl. Liz Conor: The Spectacular Modern Woman. Feminine Visibility in the 1920s, Bloomington 2004, S. 13; Billie Melman: Women and the Popular Imagination in the Twenties. Flappers and Nymphs, Basingstoke 1988, S. 15-7, 21-3. 5 Vgl. Ponce de Leon: Self-Exposure, S. 47-8; Linkof: Public Images, S. 8-10; Christopher B. Daly: Covering America. A Narrative History of a Nation’s Journalism, 2., aktual. und erw. Aufl., Amherst/Boston 2018, S. 188.

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die Struktur der society pages in den Zeitungen vereinheitlicht und regelmäßige Rubriken berichteten über die verschiedenen Aspekte ihres Treibens, vom Clubleben bis zum Reiseverhalten.6 Aber auch das Radio eröffnete eine neue Perspektive auf die High Society: Journalist*innen, wie Elsa Maxwell, berichteten neben ihren Kolumnen nun auch in eigenen Sendungen über das Treiben der neuen High SocietyMitglieder, beurteilten deren Geschichten und plauderten somit regelrecht aus dem Nähkästchen des Radiogeräts über deren Privatleben.7 Die Rolle der Journalist*innen und Kolumnist*innen hatte sich in den 1920er Jahren generell geändert: Sie waren nun viel aktivere Gatekeeper*innen der Formation, da sie selbst deren Teil geworden waren und damit nicht mehr nur über, sondern aus der High Society berichteten – eine konsequente Fortführung der in dieser Studie angelegten Entwicklung.8 Mode blieb zentrales Thema der Berichterstattung über Frauen; zum gemeinsamen Luxuskonsum mit den Männern kamen Sportwagen und Safaris.9 Selbst die Prohibition veränderte nur geringfügig die Konsumpraktiken der High Society-Mitglieder, die weiterhin in angesagten Clubs feierten, wie dem New Yorker El Morocco oder Stork Club, oder Reisen nach Europa für ungezwungeneren Alkoholkonsum nutzten, etwa an die Côte d’Azur, einem ihrer neuen Hotspots.10 Angesichts dieser stark gewandelten neuen High Society verwundert es nicht, dass die älter werdenden Jahrgänge von Evelyn Nesbit und Harry Thaw nicht mehr die passenden Nachrichtenwerte erzeugen konnten, um medial sichtbar zu bleiben. Am Übergang zu den 1920er Jahren endeten somit nicht nur ihre beiden Medienbiographien, sondern auch die frühe High Society. Sie hatte allerdings die grundlegenden Mechanismen der Interaktion zwischen Medien(-vertreter*innen) und ihren Mitgliedern geschaffen, auf denen aufbauend sich eine neue Generation sichtbar machen konnte.11 Sichtbarkeit blieb also das zentrale Anliegen der Akteur*innen. Die Zugehörigkeit zur High Society endete, wenn die Mitglieder ihre harten »in«oder »out«-Faktoren nicht mehr erfüllen und daher keine Aufmerksamkeit mehr erzeugen konnten. War der Beginn von Evelyn Nesbits und Harry Thaws Medienbiographien von ansteigenden »Wellen des Medieninteresses«12 geprägt, verebbten diese zu Beginn der 1920er Jahre. Bei Thaw hatte es nach seiner Freilassung im Juli 1915 noch den Anschein gehabt, als könne er nahtlos an seinen High Society-Lifestyle vor seiner Haftzeit anzuknüpfen. Bereits am Tag, nachdem er das Gefängnis verlassen hatte, erschienen Fotogra6 Vgl. Hornung: Welt, S. 38. 7 Vgl. Sam Staggs: Inventing Elsa Maxwell. How an Irrepressible Nobody Conquered High Society, Hollywood, the Press, and the World, New York 2013, S. 192-3; Hornung: Welt, S. 42. 8 Vgl. ebd., S. 92-3. 9 Vgl. ebd., S. 145-72; Dumenil: Modern, S. 146; Amy Staples: Safari Adventure: Forgotten Cinematic Journeys in Africa, in: Film History 18:4 (2006), S. 392-411, hier S. 393-4, 396-7. 10 Vgl. Hornung: Welt, S. 86, 111, 164-7. 11 Vgl. Hornung: Welt. 12 Taillez: Bürgerleben, S. 25.

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fien, die ihn im Badeanzug und umringt von Frauen am Strand von Atlantic City, New Jersey, zeigten.13 Doch bereits 1917 verlor Thaw erneut die Kontrolle über seine mediale Sichtbarkeit, als er einen jungen Mann unter dem fingierten Angebot, ihm ein Studium zu finanzieren, in sein New Yorker Hotelzimmer lockte und sexuell missbrauchte.14 Auf der Flucht vor der Polizei und der Presse beging er einen Selbstmordversuch. Zum zweiten Mal in eine Psychiatrie eingewiesen, schien die Frage seiner Geisteskrankheit, die seit dem Mord beständig zur Debatte gestanden hatte, sowohl für ehemalige Kritiker*innen wie Sympathisant*innen zu seinen Ungunsten entschieden worden zu sein.15 Zwar berichteten über seine Freilassung 1924 noch die newsreels,16 doch waren er und seine Verwicklung in den fast 20 Jahre zurückliegenden Nesbit-Thaw-White-Skandal schon medial uninteressant geworden. Seine vereinzelten Versuche, nochmals Aufmerksamkeit zu erregen, sei es mit seiner gefloppten Autobiographie 1926 oder dem Plan, als Hollywood-Produzent Fuß zu fassen,17 wurden wegen ihrer Kuriosität zwar in der Presse thematisiert, aber nicht als ernsthafte Reintegrationsversuche. Noch weniger galt das für seine unfreiwillige Sichtbarkeit, die ihn bis in die 1930er Jahre begleitete, wenn er wegen Körperverletzung, Randalen oder sexuellen Übergriffen erneut vor Gericht stand.18 Das gleiche Schicksal des Verfalls in mediale Unsichtbarkeit ereilte Evelyn Nesbit: Während der Prohibitionszeit trat sie als Entertainerin und Hostess in Nachtclubs, wie dem Chicagoer Moulin Rouge, auf. Eigene Clubs, wie das New Yorker Chez Evelyn, fielen Razzien zum Opfer, ohne zu Anlaufpunkten der High Society zu werden.19 Die Auftritte und Selbstständigkeiten in den 1920er Jahren waren ihre immer erfolgloseren Versuche, ihr schwindendes Aufmerksamkeitskapital zu nutzen, während sie selbst durch ihr Alter und den zunehmend irrelevanten Skandal immer unattraktiver für die Berichterstattung wurde. Nesbit selbst empfand diese Phase daher als eine Folge schwer zu ertragender, biographischer Brüche, wovon eine starke Drogenabhängigkeit und zwei Selbstmordversuche in den Jahren 1921 und 1926 zeugen.20 Sporadisch konnte sie sich nochmals zu Beginn der 1930er Jahre mit

13 Vgl. Thaw Taking His First Dip in Surf at Atlantic City, New York American, 18.7.1915. 14 Vgl. Thaw a Fugitive, Amply Warned, He Eludes Pursuers, New York Times, 11.1.1917, S. 1. 15 Vgl. Thaw Is Insane. Court Orders Him to Lunatic Asylum, Evening World, 13.3.1917, S. 3. 16 Vgl. Pathé’s Weekly, [ca. Jun. 1924], SGFL, PTH SIL 7976. 17 Vgl. Thaw’s Book, ›The Traitor‹ Contrary to Expactations, Proves to Be ›Flop‹ Here, Pittsburgh Gazette Times, 10.9.1926; Harry K. Thaw Sued by Two Scenarists, New York Times, 26.2.1928, S. 9. 18 Vgl. Thaw Starts a Row in Ex-Wife’s Cabaret, New York Times, 22.11.1927, S. 17; Find Thaw must Pay Damages of $75,000, Daily Boston Globe, 26.10.1929, S. 1; Accused of Assaulting Waiter, Daily Boston Globe, 12.3.1937, S. 14. 19 Vgl. Evelyn Nesbit Bailed on Dry Charges, Evening Star, 28.7.1923, S. 7; Evelyn Nesbit’s Club Gets Permit, New York Times, 26.11.1927, S. 31. 20 Vgl. Evelyn Nesbit Attempts Suicide, New York Times, 29.10.1921, S. 8; Evelyn Nesbit Tells of Fight Against ›Dope‹, Chicago Daily Tribune, 18.12.1922, S. 7; Evelyn Nesbit Fails in Suicide Effort, Evening Star, 5.1.1926, S. 1, 5. resümee und ausblick

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dem Wiederaufleben des Mordskandals sichtbar machen,21 doch auf ein gescheitertes Comeback in New York im Jahr 1937 folgte die Einsicht, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen.22 Im Gegensatz zu Thaw konnte Nesbit 1954 noch einmal mitgestalten, wie sie medienwirksam in das kulturelle Gedächtnis überging: Sie fungierte als Beraterin bei der ersten Verfilmung ihres High Society-Lebens rund um den Mordskandal von 1906 in dem Hollywood-Film »The Girl in the Red Velvet Swing« (USA 1955).23 Der Ansatz der Komplementärbiographie erlaubte es, an Evelyn Nesbit und Harry Thaw das Spannungsfeld und die Spannbreite der frühen High Society zu untersuchen. Die Studie konnte zeigen, wie beide mit ihren medialisierten Leben und ihrem Agieren im Sensationsprozess gegen Thaw zur Entstehung der High Society beitrugen. So entwickelte sich die amerikanische High Society zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem wechselseitigen Prozess zwischen Medien(-vertreter*innen) und (potenziellen) Mitgliedern. Gemeinsam eruierten und definierten sie dabei die Funktionsweisen, Darstellungskonventionen und Verhaltensmuster, welche für die spätere High Society prägend sein sollten. Die Beispiele von Evelyn Nesbit und Harry Thaw verdeutlichen, dass sie als Angehörige der frühen High Society aktiv daran mitwirkten, überhaupt erst festzulegen, wer aus welchen Gründen und wie als Angehörige*r der High Society wahrgenommen wurde. Erst Ausgangs-, dann Zielpunkt dieser Etablierungsphase bildete die Erkenntnis, dass mit der scheinbaren Öffnung des Privaten für die (Medien-)Öffentlichkeiten nicht nur gesellschaftliche Legitimität, sondern persönliche Handlungsmacht einherging: Das mit der medialen Sichtbarkeit verbundene Aufmerksamkeitskapital konnte in andere gesellschaftliche Felder transferiert und dort eingesetzt werden, was die Mitgliedschaft zu einem erstrebenswerten Status machte. Der erweiterte Medienbegriff ermöglichte es, High Society als intermediales Phänomen zu begreifen. Die Inszenierung, Darstellung und Rezeption der Mitglieder waren eng miteinander verwoben. Noch vor Film- und auf einer anderen Ebene als Theaterstars ermöglichten sie es, dass Konsument*innen und Rezipient*innen eine parasoziale Beziehung mit ihnen aufbauen konnten. Maßgeblich für diese Entwicklung war der Nesbit-Thaw-White-Skandal, der High Society öffentlichkeitswirksam neu definierte, nachhaltig das mediale Bild der Beteiligten prägte und für sie die Basis ihrer weiteren High Society-Mitgliedschaft schuf, indem sie dessen thematische Zuschreibungen immer weiter fortschrieben. Insgesamt ermöglichten die Medienbiographien von Harry Thaw und Evelyn Nesbit, die Genese der High Society in den 1900er und 1910er Jahren nachzuvollzie21 Vgl. Evelyn Nesbit: Evelyn Nesbits Untold Story, New York Daily News, 4.4.–18.7.1934, 39 Episoden. 22 Vgl. Now in 1937, Press, 2.5.1937. 23 Vgl. Joan Collins: Past Imperfect. An Autobiography, London 1984, S. 81-3.

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hen. Die Erkenntnisse über ihre Pionierrollen in der High Society und der Bedeutung des Sensationsprozesses sowohl für die Etablierung der Formation als auch den High Society-Status der beiden Hauptakteur*innen sollen im Folgenden unter vier Gesichtspunkten thesenhaft gebündelt werden.

High Society als Aushandlungsprozess Die Entstehungsphase der High Society war durch beständige, nicht zielgerichtete Aushandlungsprozesse zwischen den (potenziellen) Mitgliedern und den Medien(-ver­ treter*innen) geprägt. In deren Verlauf bildeten sie Formen und Logiken heraus, die definierten, wie sich die High Society medialisierte. Die zukünftigen Mitglieder der High Society trafen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in neuen, heterosozialen und geschlechtlich gemischten Räumen in New York, wie den lobster palaces, zusammen. Indem sie dort (halb-)öffentlich ihren Geltungskonsum und so scheinbar einen authentischen Lifestyle präsentierten, erregten sie das Interesse der Medien(-vertreter*innen). Diese begannen über ihr Verhalten und zunehmend private Informationen zu berichten, wodurch die Berichterstattung sie erst zu Angehörigen der sozialen Formation machte, als die sie sich inszenierten. Entsprechend bildeten sich erst sukzessive die Darstellungsformen der High Society heraus, wobei schnell klar wurde, dass Fotografien und insbesondere Schnappschüsse genau den Anspruch der Authentizität bedienten, der der High Society zugrunde lag. Die Mitglieder entwickelten Medienkompetenzen, indem gewisse Verhaltensweisen sanktioniert und andere belohnt wurden, um medial sichtbar zu werden. Dazu zählten etwa der Kontakt mit Reporter*innen, die Öffnung von Privaträumen, die Preisgabe privater Informationen sowie die Sichtbarmachung von Verhaltensweisen, wie der Freizeitgestaltung oder des Konsums, die so ein Panorama des Lebens der High Society-Mitglieder lieferten. Diese Herausbildung medialer Logiken war auf drei Ebenen von anhaltenden Aushandlungsprozessen geprägt: Erstens galt es beständig neu zu bestimmen, was als Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit verstanden wurde. Gaben etwa Nesbits Studioaufnahmen um 1900 noch scheinbare Einblicke in intime Handlungen und private Räume, verschob sich deren Wahrnehmung nach ihrer Gerichtsaussage in den Bereich intimer Informationen über das Sexualverhalten der High Society. Zweitens oszillierten High Society-Mitglieder beständig zwischen ihrer medialen Ermächtigung und der Entmachtung durch die Presse: Gelang es, die mediale Darstellung zu beeinflussen, oder scheiterten diese Versuche und erzeugten die Medien ein – gegebenenfalls unkontrolliertes – Fremdbild? Dem versuchten die Mitglieder, drittens, vorzubeugen, indem sie mediale Logiken ausbildeten, um auf das von ­ihnen vermittelte Bild einwirken zu können.

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Skandale als Katalysatoren und Einblicke Skandale wirkten in der High Society als Katalysatoren ihrer Medialisierung, da in ihnen mediale Aushandlungsprozesse in verdichteter Zeit abliefen, die einen Rückschluss auf ihre gesellschaftliche Bedeutung zulassen. Ferner ermöglichten die Skandalmechanismen, Einblicke in die sonst nicht öffentlichen Schattenseiten der High Society zu erlangen, was ihre Privatheit noch authentischer wirken ließ. Der Nesbit-Thaw-White-Skandal hinterfragte bestehende Normen, indem er die Doppelmoral der Oberschicht offenlegte. In Kombination mit Nesbits Aussage fungierte er gleichsam als Scharnier zwischen Viktorianismus und Moderne: An ihrer Person wurden neue (weibliche) Rollenmodelle durchgespielt, Fragen nach sexueller Handlungs(-ohn-)macht und Vergnügungskultur gestellt sowie der Beweis geführt, dass viktorianische Ehrenmordvorstellungen noch immer anschlussfähig waren. Zudem hatte die Aussage den nachhaltigen Effekt, die Grenze des Sagbaren zu erweitern. Diese Veränderung belegt der zweite Prozess, in dem die gleichen Themen keine vergleichbare Sensation mehr erregten, da sie zum erwartbaren Teil der Berichterstattung geworden waren. Parallel verstärkte und verstetigte sich die mediale Aufmerksamkeit, mit der Folge, dass es zur Eigenschaft der High Society wurde, das zu inszenieren und konstruieren, was sich als intime Privatheit ausgab. Zugleich wandelten sich im Zuge des Skandals die Medienformate: In der Analyse wurde evident, dass zeitgenössisch die Bedeutung von Schnappschüssen zunahm und auch Journalist*innen neue Handlungsmacht durch ihre Interpretationshoheit über Evelyn Nesbit erhielten, etwa indem sie das journalistische Format des Interviews etablierten. Diese Stellung konnten sie in der Berichterstattung über die High Society in den Folgejahren ausbauen. Die High Society basierte darauf, die scheinbar unverstellte Privatheit ihrer Mitglieder sichtbar zu machen; und doch beherrschten, neben Beziehungskonflikten, in erster Linie positive Aspekte die Berichterstattung, wie das Konsum- und Freizeitverhalten. Der Nesbit-Thaw-White-Skandal machte überdeutlich, worin das Potenzial von Skandalen für die High Society lag: Sie lieferten scheinbar unfreiwillige Einblicke in die Schattenseiten der High Society, die strittigen, konfliktreichen oder devianten Aspekte der Privatleben oder Verhaltensweisen ihrer Mitglieder. Anhand des bislang unbearbeiteten Prozessprotokolls konnte nachvollzogen werden, wie Evelyn Nesbit es schaffte, solche Informationen aufzufangen und medial mithilfe der Gerichtsreporterinnen in ihr Fremdbild zu integrieren. Dagegen scheiterte Thaw daran, sein mediales Bild zu steuern, da seine als deviant wahrgenommenen Sexualpraktiken bekannt wurden. Beide zeigten sowohl das Potenzial als auch die Gefahr von Skandalen: Sie steigerten die mediale Sichtbarkeit, doch trugen sie das Potenzial in sich, aus der High Society ausgeschlossen zu werden.

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Der Mehrwert der Mitgliedschaft: Transferierbarkeit des Aufmerksamkeitskapitals Die Zugehörigkeit zur High Society entfaltete auf mehreren Ebenen ihren Mehrwert: Sie schuf gesellschaftliche Legitimation, ermöglichte es, gesellschaftliche Systeme zu medialisieren und den High Society-Status in Form des Aufmerksamkeitskapital in andere Felder zu transferieren. Mediale Sichtbarkeit avancierte zum Legitimationsmittel für exponierte gesellschaftliche Stellungen, die verschiedene Gruppen zur Distinktion außerhalb bestehender Klassenstrukturen diente. So erkannten etwa zur Jahrhundertwende Vermögende, die nicht Teil der New Yorker Upper Class waren, dass ihre Medienpräsenz als Substitut für deren fehlende Akzeptanz dienen konnte. Bei Harry Thaw war dies der Fall, als es ihm gelang, durch seine in New York und Paris medial rezipierten exzentrischen Verhaltensweisen zur national sichtbaren Person in der Gesellschaftsberichterstattung über die High Society aufzusteigen. Der damit verbundene Status erlaubte es ferner, gesellschaftlichen Teilbereichen die eigenen, medialen Logiken aufzuzwingen und sie damit zu medialisieren. Dies zeigte sich bei dem Mordskandal um Harry Thaw, als noch vor dem eigentlichen Prozess ein »court of public opinion«24 in der und durch die Presse abgehalten wurde. Deren Interpretation des Falls als melodramatischer Ehrenmord beeinflusste nachhaltig die öffentliche Meinung und reichte in Form der Juryauswahl bis in das Strafverfahren hinein. In diesem waren die beteiligten Juristen nicht nur gezwungen, sich mit dem medialen Bild der High Society-Akteur*innen auseinanderzusetzen, sondern mussten sich auch selbst medial inszenieren, um ihre Standpunkte im Interdiskurs der Medien zu verteidigen. Das Beispiel der psychiatrischen Gutachter zeigte ex negativo, dass der gescheiterte Transfer ihrer Fachlogiken in die Medienöffentlichkeit sie sowohl medial als auch im Gericht delegitimierte, ein Zustand, der über beide Mordprozesse hinaus anhielt. Selbst als Evelyn Nesbits Unschuldsnarrativ unter der Befragung von Staatsanwalt Jerome erodierte, stabilisierten es in erster Linie Reporterinnen, indem sie ihre Interpretation verteidigten. Die Folge zeigte der zweite Prozess, als Jerome mit Blick auf die öffentliche Meinung auf Nesbits Selbstbild einschwenkte. Der High Society-Status konnte als Form von Aufmerksamkeitskapital verstanden werden, und seine Akkumulation ermöglichte es, sowohl die Legitimations- als auch die Medialisierungsfunktion nutzen zu können. Beides zeigte sich an Thaws Psychiatrieaufenthalt, während dem es ihm gelang, sich weiterhin sichtbar zu machen sowie das Narrativ des geisteskranken Patienten – und darüber die totale Institution  – infrage zu stellen. In Kombination mit seiner finanziellen Handlungsmacht konnte er schließlich sein Aufmerksamkeitskapital nutzen, um mediale 24 John Louis Lucaites: Constitutional Argument in a National Theater. The Impeachment Trial of Dr. Henry Sacheverell, in: Hariman: Popular Trials, S. 31-54, hier S. 42. resümee und ausblick

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Logiken in die Psychiatrie zu transferieren: Er veröffentlichte psychiatrieinterne Missstände, wodurch er die Abläufe der Anstalt sichtbar machte, in deren Folge – zu Thaws Vorteil – deren Leitung stürzte. Dass Leser*innen ihn nicht nur in den Medien rezipierten, sondern auch auf die Berichterstattung reagierten, zeigte sich nach Thaws Flucht. Während des Auslieferungsverfahrens nutzte er seine Sichtbarkeit erfolgreich, um Sympathisant*innen für seine Interessen zu mobilisieren und öffentlichen Druck auf seine Strafverfolger aufzubauen. Das Aufmerksamkeitskapital konnte über Feldgrenzen hinweg transferiert werden. Dies verdeutlichte Nesbits Karriere in der Unterhaltungsindustrie. Bereits 1902 ermöglichte ihr die mediale Sichtbarkeit auf Basis ihrer körperlichen Schönheit den Transfer an den Broadway. Über zehn Jahre später war es ihr skandalöses Fremdbild, das ihr erst eine Unterhaltungskarriere im vaudeville ermöglichte, später den Wechsel zum Film. Alle drei Transfers basierten darauf, Referenzen auf ihre mediale Person zu nutzen, sei es auf ihr skandalträchtiges Fremdbild und ihre erotische Körperlichkeit oder ihre scheinbar authentischen Auftritte auf der Bühne respektive im Bewegtbild.

High Society in der Populärkultur, oder: das Potenzial einer erweiterten Mediengeschichte High Society war bereits während ihrer Frühphase ein mediales Phänomen. Ihre Mitglieder wurden damit auf verschiedenen Ebenen konsumierbar, wodurch sie sich individuell aneignen ließen. Damit liefert eine erweiterte Mediengeschichte eine Erklärung für die Stabilität der High Society-Zugehörigkeit und dafür, warum es möglich war, das daraus resultierende Aufmerksamkeitskapital über Feldgrenzen hinweg einzusetzen. Mittels des Ansatzes einer erweiterten Mediengeschichte rückten nicht nur klassische Printmedien in den Blick, welche die High Society behandelten, sondern populärkulturelle Erzeugnisse von Filmen über Memorabilien zu Wachsfiguren. Das darin liegende Potenzial, High Society-Mitglieder als intermediale Personen zu begreifen und damit ihre Wirkungsgeschichte zu erschließen, wurde auf drei Ebenen ersichtlich: Evelyn Nesbit und Harry Thaw wurden durch ein Medienensemble sichtbar. Die Belletristik lieferte fiktive, andere Publikationen scheinbar realistische Einblicke in bislang unbekannte Aspekte ihrer Privatleben und High Society-Bekanntschaften. Filme oder Theaterstücke boten zu den gleichen Themen audiovisuelle Interpretationen, und indem sie Thaws Interpretation übernahmen, plausibilisierten sie sein Tatmotiv. Das Medienensemble referierte wechselseitig auf Bilder und melodramatische Narrative, die in den Printmedien über Nesbit und Thaw erschienen waren, und schuf so einen vielschichtigen medialen Raum, der einen holistischen Eindruck der High Society zu vermitteln schien.

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High Society-Mitglieder fanden Eingang in populärkulturelle Produkte, wie beispielsweise Postkarten. Einerseits vermittelten diese Schönheits- und Körperideale ebenso wie Mode. Andererseits wurden sie auf verschiedenen Ebenen zu »Vergegenwärtigungsmedien«:25 Die Karten wurden als Sammelobjekte zu Substituten der High Society-Mitglieder, indem sie es ermöglichten, die Abgebildeten in Besitz zu nehmen, was, verbunden mit dem Wissen um deren Person, zum persönlichen Aneignungsprozess wurde. Dies konnte sich dahingehend steigern, in Postkartenserien verschiedene Facetten der Persönlichkeit ansichtig zu machen oder Alltags- und Luxusprodukte explizit mit Evelyn Nesbits Abbildung auszuwählen oder zu sammeln. Populärkulturelle Objekte ermöglichten somit den Rückschluss, dass die Aneignung der High Society-Mitglieder über ihr ephemeres Erscheinen in den Printmedien hinausging. Stattdessen konnten Konsument*innen sie sich langfristig als Objekte zu eigen machen, was den Aufbau intensiver persönlicher Beziehungen zuließ. Wenn die individuellen Rezeptionsformen der High Society-Mitglieder zusammen betrachtet werden, liefern sie eine Erklärung für den Mehrwert des High Society-Status. Denn die Bandbreite der Aneignungsformen reichte von der Sexualisierung über die Stilisierung hin zur Psychologisierung der Mitglieder, wodurch die Rezipient*innen parasoziale Beziehungen zu den medialisierten Personen aufbauten. Auf Basis ihrer Privatheit schien ein besonderes Verständnis und Interesse an den High Society-Mitgliedern zu bestehen, wodurch sowohl deren Interaktionen mit Öffentlichkeiten erwidert als auch Kontakt zu den High Society-Mitgliedern gesucht und aufgebaut wurde. Dies bestätigt indirekt das demokratische Aufstiegsversprechen,26 ist die Annäherung an die Mitglieder doch ein Zeugnis dafür, dass High Society nahbar – und in nächster Konsequenz durchlässig – schien. Das Beispiel von Nesbit und Thaw konnte zeigen, wie stark medialisierte Personen nicht nur als Modeikonen oder Akteur*innen in Klatsch und Beziehungsgeschichten rezipiert wurden, sondern zu persönlich bekannten, parasozialen Beziehungs­ figuren wurden. Während sich die Celebrity Studies stark auf sozialwissenschaftlich basierte Untersuchungen in der jüngeren Zeitgeschichte beschränken,27 rückten in letzter Zeit auch historische Rezeptionsformen in das Interesse der historischen Forschung.28 Die Studie versteht sich als Plädoyer dafür, diese Formen der Fankultur ernst zu nehmen und diese Anregungen weiter zu tragen. Ferner zeigt auch der Abschluss dieser Arbeit, dass der Austritt aus gesellschaft­ lichen Formationen ein häufig kaum beachteter Aspekt ist, da damit das Interesse an den Akteur*innen erlischt.29 Zugleich verdeutlicht aber gerade Thaws wiederhol25 Hickethier: Theaterstar, S. 39. 26 Vgl. Hornung: Welt, S. 338-9. 27 Vgl. Jenkins: Textual Poachers. 28 Vgl. etwa Giloi: Monarchy. 29 Vgl. Köhler/Rossfeld: Bausteine, S. 9. resümee und ausblick

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tes Scheitern an der Deutungshoheit der Medien, den Wünschen seiner Familie, dem Tötungsverbot des Rechts oder den Restriktionen der Psychiatrie, dass im Scheitern das Potenzial liegt, den Normalfall zu erkennen und Handlungsspielräume auszumessen.30 Von diesen Erkenntnissen ausgehend, wäre es interessant, das Scheitern von High Society-Karrieren – als eine mögliche Ausprägung medialer Gesellschaftsformationen  – näher zu betrachten, insbesondere angesichts der fail culture im amerikanischen Kontext: Einerseits bedeutet Scheitern nach protestantisch-calvinistischen Vorstellungen persönliche Schuld und göttliche Bestrafung, andererseits trägt es im nationalen Fortschrittsnarrativ die Möglichkeit des erneuten Aufstiegs in sich und bleibt damit überwindbar.31 Gab es also Muster oder Bewältigungsstrategien, wie mit dem Ausscheiden aus der High Society umgegangen wurde, oder Rückkehroptionen? Welche Möglichkeiten ergaben sich aus diesen biographischen Brüchen und wie lange konnte das angesammelte Aufmerksamkeits­ kapital noch in anderen Feldern verwendet werden? Der Nesbit-Thaw-White-Skandal verankerte sich im kollektiven Gedächtnis als das erste »crime of the century«32 der Moderne durch Romane und Gedichtbände, Comics, Musicals und Spielfilme.33 Zentral dafür waren die medialisierten Leben der Prozessbeteiligten und damit letztlich ihr High Society-Status. Dies sticht besonders bei der Rezeption von Evelyn Nesbit hervor, die als enigmatische Frau am Umbruch zur Moderne noch immer neue Deutungsmöglichkeiten zwischen Erotik und Unschuld, Ermächtigung und Entmachtung produziert: »Her name now resides in that realm where fact has fused with fiction.«34 Auf Harry Thaws Jahrhundertverfahren folgten weitere Sensationsprozesse wie der Leopold-Loeb-Prozess wegen Kindsmordes durch Jugendliche (Chicago, 1924) 30 Vgl. Szöllösi-Janze: Lebens, S. 22-4. 31 Vgl. Sander L. Gilman/Stefan Zahlmann: »God never fails them that trust Him.« Scheitern in Literatur und Gesellschaft der USA, in: ders./Sylka Scholz (Hg.): Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner Lebensgeschichten, Giessen 2005, S. 207-18, hier S. 207-8, 212-3. 32 Cobb: Exit, S. 161. 33 Vgl. etwa als Comic: Rick Geary: Madison Square Tragedy. The Murder of Stanford White, 25 June 1906, New York 2013; Roman: E. L. Doctorow: Ragtime, New York 1975; Gedichte: Keith Maillard: Dementia Americana. Poems, Vancouver 1994; Theaterstück: Laural Meade/Curtis Heard: Harry Thaw Hates Everybody, New York 2012; Musicals: »Gilded Cage« (New York 1983), »Ragtime« (New York 1998-2000); Filme: The Girl in the Red Velvet Swing, USA 1955, R: Richard Fleischer, 109 Min; Ragtime, USA 1981, R: Milos Forman, 155 Min. Seit 2019 ziert ein 30 Meter hohes Wandgemälde von Evelyn Nesbit die Südseite des Hauses 236 5th Avenue, West 27th Street in der Nähe des heutigen Madison Square Gardens. Die Immobilienverwaltung beauftragte es, um den Wert durch Nesbits heutigen Bekanntheitsgrad zu steigern, vgl. Ginia Bellafante: The 100-Foot Gibson Girl: A Symbol of Abuse, Then and Now, New York Times, 10.5.2019, https://www.nytimes.com/2019/05/10/nyregion/evelyn-nesbit-stanford-white.html (acc. 22.4.2022). 34 Uruburu: American Eve, S. 372.

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oder das Massie-Verfahren wegen Vergewaltigung (Honolulu, 1931/2), die landesweit die Gemüter erhitzten.35 Auch mit ihnen hielten neue Medienformate wie das Radio und noch später das Fernsehen Einzug in die Gerichtsberichterstattung. Aber erst mit dem Mordprozess gegen O. J. Simpson (Los Angeles, 1995) am Ende des 20. Jahrhunderts schien wieder ein vergleichbares Medienereignis die Faszination der Amerikaner*innen erregt zu haben. Auch hier waren Täter und Opfer medial bekannte Personen, die eine brutale Beziehungstat verband. Hatte 1907 die Frage nach der Sexualität das Verfahren zum gesellschaftlichen Skandalprozess gemacht, war es bei dem Afroamerikaner Simpson insbesondere die Rolle von Rassismus im amerikanischen Polizei- und Justizsystem und dessen Bedeutung für die Urteilsfindung. Beiden Verfahren war gemein, dass ihnen eine bis dahin ungekannte mediale Aufmerksamkeit zukam: bei Thaw vonseiten der Massenpresse im Gerichtssaal, bei Simpson durch die Live-Berichterstattung aus dem Helikopter.36 Auch wenn die Medien im Verfahren von O. J. Simpson neue Medienformate einsetzten, hatten sie die zugrunde liegenden Mechanismen, wie ein Sensationsprozess im massenmedialen Zeitalter abzulaufen habe, jedoch bereits an The People vs. Harry K. Thaw entwickelt. Gleichwohl fand der New York Observer die Vorstellung, welche Dynamik das »Crime of the Century« im Jahr 1995 entwickelt hätte, fantastisch: »Oh, Mama, If Only Harry K. Thaw Had Been on Court TV!«37

35 Vgl. Siemens: Metropole, S. 292-3; John P. Rosa: Local Story. The Massie-Kahahawai Case and the Culture of History, Honolulu 2014, S. 28-9, 66-9; Gene Policinski: Setting the Docket: News Media Coverage of Our Courts – Past, Present and an Uncertain Future, in: Missouri Law Review 79:4 (2014), S. 1007-19, hier S. 1011. 36 Vgl. Paul Thaler: The Case of O. J. Simpson (1995). ›No closer to Greek tragedy than Oedipus Hertz ‹, in: Chiasson: Press, S. 189-202, hier S. 190, 192-4, 196-7. 37 Robert Sullivan: Oh, Mama, If Only Harry K. Thaw Had Been on Court TV!, New York Observer, 20.1.1995, S. 15. resümee und ausblick

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Dank Das Forschungsprojekt »Die Thaws: High Society, Medien und Familie in den USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts« lebte von Dachboden- und Kellerfunden. Legten Filmrollen auf einem Speicher am Ammersee das Fundament für Juliane Hornungs Teilprojekt, ermöglichte mir ein Archivalienfund in einem Keller auf Long Island, die vorliegende Arbeit zu verfassen. Sie ist die gekürzte Fassung meiner Dissertation, die im März 2021 von der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde und die ich am 1. Juli gleichen Jahres verteidigte. Der schriftliche Nachlass von Harry Thaw, der in den 1950er Jahren von Virginia nach Florida gerettet wurde und in den 1990er Jahren seinen Weg nach New York State fand, lieferte ungekannte Einblicke in die frühe High Society und neue Erkenntnisse zum ersten »Crime of the Century«. Daher möchte ich an erster Stelle Paula Uruburu danken. Sie schenkte mir nicht nur ihr Vertrauen, als sie mir Zugang zum Nachlass und ihrem schier unerschöpflichen Wissen gewährte, sondern bereitete mir gemeinsam mit Russell Svatba und Allan David Dart Jr. eine zweite Heimat auf Long Island. Dafür danke ich den Dreien von Herzen. Doch so wie das fertige Buch nur die Spitze der Auseinandersetzung mit dem Thema ist, steht mein Autorenname nur stellvertretend für all diejenigen, ohne die ich die Arbeit nicht hätte schreiben können. Ihnen allen sei herzlich gedankt! Im Speziellen gilt mein besonderer Dank Margit Szöllösi-Janze. In einem Seminar zur Amerikanisierung zeigte sie mir neue Perspektiven, wie Geschichte geschrieben werden kann, und gab mir später die Möglichkeit, als Doktorand und Mitarbeiter ihres Lehrstuhls zu forschen. Als Erstbetreuerin begleitete sie sehr engagiert, konzeptionell versiert und mit konstruktivem Scharfblick hervorragend die Entstehung der Arbeit. Ebenso dankbar bin ich Michael Hochgeschwender, der als Zweitbetreuer das Projekt durch seine Expertise und Anregungen um immer neue Facetten bereicherte. Xosé Manuel Núñez Seixas danke ich für die Übernahme der Rolle des Drittprüfers, aber insbesondere dafür, dass er mich seit dem ersten Semester als Historiker prägte. Mit fruchtbaren Gesprächen halfen mir Kolleg*innen, Thesen und Zielsetzungen meines Projekts herauszuarbeiten, wofür ich besonders Simon Baatz, Andreas Daum, Martin Geyer, Nicolai Hannig und Richard Wetzell danke. Am Historischen Seminar der LMU gab mir Lisa Dittrich (†) wertvolle Ratschläge vor und während der Doktorarbeit. Anette Schlimms stets anregende und kluge Denkanstöße waren immer ein Gewinn für mich. Ganz besonders danke ich Kim Wünschmann für die bereichernde und viel zu kurze gemeinsame Zeit am Lehrstuhl sowie ihre intensive und hilfreiche Korrektur der Einleitung. Mit einem Promotionsstipendium förderte mich die Gerda Henkel Stiftung, die zudem die Drucklegung sowie die digitale Publikation auf EDIT unterstützte. 443 Generiert durch Universität Leipzig, am 28.12.2022, 15:32:32.

Ebenso gewährten mir die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und das Historische Seminar der LMU Druckkostenbeihilfen. Das DHI Washington, D.C., und die Bayerische Amerika Akademie ermöglichten mir Archivaufenthalte mit Reise- und Forschungsstipendien. Ideell konnte ich sehr vom Mentoring-Programm der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der LMU profitieren, insbesondere von den Gesprächen mit meiner Mentorin, Irene Holzer. Das Kolping House auf der New Yorker Upper East Side machte den dortigen Forschungsaufenthalt grandios. Quer durch die USA brachten Archivar*innen und Bibliothekar*innen mit großem Interesse und Hilfsbereitschaft meine Quellenrecherchen voran, unter ihnen vor allem Marc Brodsky, Jim Folts und Michael R. Murphy. Hajo Gevers vom Wallstein Verlag gilt mein Dank für seine professionelle Betreuung der Publikation ebenso wie Birte Ruhardt von der Gerda Henkel Stiftung und Thomas Brauner von der Plex-Group für ihre sachkundige Begleitung der Onlineausgabe. In allen Phasen der Doktorarbeit erhielt ich tatkräftige Unterstützung durch meine Kolleg*innen, Kommiliton*innen und Freund*innen am Münchner Historicum und in ProMoHist. Für die grandiose Zeit in der Schellingstraße mit anregenden Gesprächen, produktiven Kolloquien, großer Kollegialität sowie mondänen Treffen im Di Natale möchte ich vor allem Magnus Altschäfl, Sabina De Luca, Isabella Dill, Sinja Gerdes, Anna Greithanner, Sebastian Lang, Jan Neubauer, Sebastian Peters, Bernhard Seidler, Karl Siebengartner, Claus Spenninger, Britta von Voithenberg, Dorothea Wohlfarth und Franziska Kleybolte herzlich danken. Insbesondere letztere hat die Arbeit mit Verve unterstützt und mir dabei en passant den unbekannten Zusammenhang von New Yorker Nachtleben und Papst Urban V. aufgezeigt. Juliane Hornung kommt eine Sonderrolle zu, da sie mit ihren intelligenten Anregungen und intensiven Diskussionen eine Projektpartnerin war, wie ich mir keine bessere hätte vorstellen können. Meine Schwester, Ines Steinbacher, sprang in verschiedenen Projektstadien hilfreich ein, Annalena Labrenz beschaffte mir unermüdlich neue Bücher und Anne Böck las mit frischem Blick das Manuskript. Andreas Jakowetz und Manfred Nowara danke ich für ihre humorvollen Ermunterungen sowie ihr historisches Interesse jenseits der Fachdiskurse. Historische Akteur*innen und die Offenheit ihrer vergangenen Gegenwart ernst zu nehmen, lehrte mich Hermann Stadler  – seiner Ruhe nachzustreben wird ein hohes Ziel bleiben. Meinen Eltern, Barbara und Harald Steinbacher, die mein Geschichtsinteresse weckten und mich immer bestärkten, sei dieses Buch gewidmet. Schließlich war es Hannah, die mit mir die Höhen und Tiefen des Projekts durchlebte, mich dabei stets unterstützte und mich vom Schreibtisch in die Natur brachte. Für unser gemeinsame Leben mit und jenseits der Thaws gilt ihr mein größter Dank.

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Abbildungsverzeichnis Abb.  1 Mrs. Vanderbilt’s Theatre Party Hit of the Season in Newport, Evening World, 26.8.1902, S. 3; People at Society’s Summer Colonies, Sun, 24.8.1913, S. III.1. Abb.  2 Thaw-Yarmouth Wedding Caught by the Camera, Pittsburgh Dispatch, 28.4.1903. Abb.  3 Charles Dana Gibson: Eternal Question, Collier’s Weekly (Mai 1903), UC, Portfolio 2. Abb. 4 Rubifoam, in: Ladies’ Home Journal 21:2 (1904), UC, Box 11. Abb.  5 Zigarettenbild von Evelyn Nesbit der Between The Acts Little Cigars der American Tabacco Co. [Mai-Juni 1902], UC, File 7; Zigarettenbildchen von Evelyn Nesbit, UC, Ephemera. Abb.  6 Broadway Beautys, Broadway Magazine (Feb. 1903), UC, Container 9; Evelyn Nesbit Theatrical Cabinet Cards, #38208-#38213, hier #38213, in: HU, HL, HTC, Theatrical Cabinet Photographs of Women ca. 1866-1929 (TCS 2), Box 365, Nesbit, Evelyn. Abb.  7 Her Winsome Face to Be Seen Only From 8 to 11 p. m., New York Herald, 4.5.1902. Abb. 8 Postkarten mit Evelyn Nesbit, gelaufen und nicht gelaufen [1901-7], UC, Misc. und ebd., File 7. Abb.  9 From Boudoir to Boulevard, New York Herald, 10.8.1902. Abb.  10 Signed Autograph to Sam Shubert (1903), ShA, Evelyn Nesbit (1903) Autograph to Sam Shubert. Abb.  11 Picturesque Career of Little Evelyn Nesbit, New York American. Weekend Supplement, 20.11.1904, in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 28-30, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358. Abb.  12 ›I’ll Horsewhip Thaw!‹ Cries Miss Nesbit’s Mother, New York American, 3.11.1904, S. 1, 3. Abb.  13 The Portrait of Evelyn Thaw that Upset the Thaw Household, Cincinnati Inquirer, 23.11.1913; Rudolf Eickemeyer Jr.: In My Studio, in: Photo Era 15:3 (Sept 1905), S. 91. Abb.  14 Thaw Photographed for the Rogues’ Gallery. Shackled to Detective Like Ordinary Felon, Evening World, 26.6.1906, S. 1; Routine of the Young Millionaire Prisoner Shown in Pictures, New York Evening Journal, 5.7.1906, S. 3. Abb.  15 Look on This Picture and Then on This!, New York Evening Journal, 27.6.1906, S. 2-3; Mrs. Evelyn Thaw’s Day, as It Was and as It Is, Evening World, 5.7.1906, S. 3. Abb.  16 Mrs. H. K. Thaw Sketched to the Tombs and as She Looked Before the Tragedy, New York World, 3.7.1906. Abb.  17 Evelyn Nesbit Thaw, in: National Police Gazette (14.7.1906), Cover. Abb.  18 Oben v. l.n.r.: o. T., o. Z., in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 59, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358; Evelyn Thaw as a Rising Young Matron of Society and at the Tombs; A Character Study of Contrasts Brought About by the White Murder, Evening World, 4.7.1906, S. 2. Unten v. l.n.r.: Rudolf Eickemeyer, Jr.: Miss Cynthia Roche (1902), NMAH, The Rudolf Eickemeyer Jr. Collection, PG.004135.B023.74; o. A.: Duchess of Marlborough [ca. 1910er Jahre], LoC, George Grantham Bain Collection, LC-B2-3733-7. Abb.  19 Mrs. Harry Thaw, Pittsburgh Press, 26.6.1906; Cabinet Card of Evelyn Nesbit, #40835, in: HU, HL, HTC, Theatrical Cabinet Photographs of Women ca. 1866-1929 (TCS 2), Box 365, Nesbit, Evelyn; Mrs. Harry Kendall Thaw, Buffalo Times, 2.7.1906; Cabinet Card of Evelyn Nesbit, #40833, in: HU, HL, HTC, Theatrical Cabinet Photographs of Women ca. 1866-1929 (TCS 2), Box 365, Nesbit, Evelyn.

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Abb.  20 Kabinettkarte von Evelyn Nesbit, o. Nr., in: HU, HL, HTC: Theatrical Cabinet Photographs of Women (TCS 2), Box 365, Nesbit, Evelyn; Privataufnahme der Thaws, Elmhurst, Cresson, PA (Sommer 1905), UC, File 11. Abb.  21 Mrs. Evelyn Nesbit Thaw, o. Z., [26.6.1906], in: Evelyn Nesbit, Vol. 1, S. 46, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 358; Vile Insult Cost White’s Life. Abused Mrs. Thaw in Cafe. ›No Jury Will Convict Husband‹, New York American, 30.6.1906, S. 1. Abb.  22 Viola A. Rodgers: Mrs. Harry Thaw Gives to The American Her First Interview Since Husband’s Arrest for Killing White, New York American, 25.7.1906, S. 1. Abb.  23 Le Meurtre de Madison Square Theatre, in: o. Z. [Herbst 1906], PStb. Abb.  24 The Problem of Evelyn Thaw – Husband or Mother?, Evening Journal, 25.7.1906; The Harry Thaw Tragedy on the Stage, American Journal-Examiner, [Sept. 1906], S. 16, UC, Portfolio 1. Abb.  25 E. F. Flinn: Thaw Trial Sets All Jaws a’-Wagging, New York World, 21.1.1907. Abb.  26 A Homicide in Which the Whole World Is Interested, in: Leslie’s Weekly (07.2.1907), S. 127. Abb.  27 Originalaufnahmen: Thaw Trial Pictures of Edmunds E. Bond, BPL; abgedruckte Fotografien: Brother and Sister of Harry Thaw and May MacKenzie, His Wife’s Constant Companion, in Court, Boston Daily Globe, 6.2.1907, S. 1; Only Photograph of Harry Thaw Made Since the Trial Began, Boston Daily Globe, 6.2.1907, S. 6. Abb.  28 Mrs. Evelyn Nesbit Thaw Describes How Stanford White Wronged Her, Evening World, 7.2.1907, S. 1-5, hier S. 1; Evelyn Thaw Tells Her Story, New York Times, 8.2.1907, S. 1-4, hier S. 1. Abb.  29 Two More Striking Hat Styles, New York Daily News, [Feb 1908], in: Evelyn Nesbit, Vol. 2, S. 50, NYPL, BRTD, RLC, Scrapbooks, Series 1, Vol. 359; Maurice Patten: The Thaw Case, Evening World, 14.1.1908, S. 12. Abb.  30 Two Poses of Evelyn Nesbit as Witness, Evening World, 9.2.1907, S. 3. Abb.  31 Harry K. Thaw Listening to His Girl-Wife’s Supreme Effort the Free Him – Sketched by Morgan, New York American, 8.2.1907, S. 3. Abb.  32 The Rule of the Artist’s Model in Gotham After Dark, Washington Times. Magazine, 24.3.1907, S. 1, 8, hier S. 1. Abb.  33 Hattie Forsythe, Missing Witness in the Thaw Murder Case, Evening World, 27.1.1907, S. 1. Abb.  34 The Three Women Most Deeply Interested in the Fate of Stanford White’s Murderer, New York World, 22.7.1906, S. 2. Abb.  35 Visitenkarte Exchange Bar (Rushville, Indiana), [Frühjahr 1907], UC, File 7. Abb.  36 Portraits of Delphin M. Delmas, Thaw’s Chief Counsel – Taken Especially for The American!, New York American, 12.2.1907, S. 2. Abb.  37 William Travers Jerome/Francis P. Garvan: The Famous Hypothetical Question in the Trial of Harry K. Thaw for the Murder of Stanford White, New York 1907, S. V, 31. Abb.  38 Handspiegel, Briefbeschwerer, tragbarer Klappspiegel, alle in UC, Ephemera. Abb.  39 Chicago & Atlantic Railroad Co. Coupon Ticket-Fotoalbum, UC, Portfolio 1. Abb.  40 Postkarte »Mrs. Thaw«, gelaufen 10.3.1908; Postkarte »Mr. & Mrs. Thaw«, gelaufen 03.5.1907; Postkarte »Mr. Harry K. Thaw«, gelaufen 02.4.1907, alle UC, File 7. Abb.  41 Postkarte »Mrs. Thaw«, gelaufen 10.3.1908; Postkarte »Mrs. Thaw«, gelaufen 30.5.1907; Postkarte »Mrs. Thaw« [nach 28.1.1907], gelaufen o. D., alle ebd.

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abbildungsverzeichnis

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Abb.  42 Postkarten »Mrs. Thaw«, gelaufen 10.4.[?]; »Mrs. Thaw«, gelaufen 14.3.1907; »Miss Florence Evelyn Nesbitt (Mrs. Harry Thaw)«, nicht gelaufen; »Mrs. Thaw«, gelaufen 10.3.1907, alle ebd. Abb.  43 Postkarten »Would you really like to?«, gelaufen 25.8.1909; »This is my pussy«, gelaufen 21.2.1908, beide ebd. Abb.  44 Werbung The Unwritten Law, in: New York Clipper (6.4.1907), S. 208. Abb.  45 »The Unwritten Law« (1907), 1:52, 5:31. Abb.  46 Where Thaw Must Go, New York American. Weekend Supplement, 2.2.1908. Abb.  47 Harry Thaw im County Jail, Poughkeepsie, New York, Daily Mail-Press Pictures of Harry Thaw, UC, Container 5. Abb.  48 Harry Thaw and Sister, Behind Fan, [Jul. 1909], LoC, George Grantham Bain Collection LC-DIG-ggbain-04052; Mrs. Wm. Thaw, Veiled, On Street, White Plains, N. Y., in: ebd., LC-DIG-ggbain-04051. Abb.  49 ›The Angel Child‹ Wants a Divorce. Now that the Courts Have Again Declared Her Husband Insane, in: Bystander (25.8.1909), S. 385. Abb.  50 Harry Thaw in the Coaticook County Jail at Sherbrooke, Quebec, New York American, 22.8.1913, S. 1. Abb.  51 Postkarte [1913], nicht gelaufen, UC, File 2. Abb.  52 Fotografie aus Bowers: Nickelodeon, S. 50. Abb.  53 Harry Thaw, Concord, New Hampshire, 1914, UC, Misc. Abb.  54 Harry Thaw, in: National Police Gazette (1914), PStb. Abb.  55 Petition, gesammelt von Ada Brooks, Präsidentin des Gotham Clubs, Hotel Astor, [nach Dez. 1914], in: Harry K. Thaw 1910 (Part 1 of 2), NYSA, A0597-78, Box 72, Folder 31. Abb.  56 Climax of Thaw’s Nine-Year Fight for Freedom. Striking Contrast, New York American, 15.7.1915, S. 5; »Sidewalks of New York« (1915), 31:46 (o. re.), 31:53 (u. re.). Abb.  57 The Keystone View Company: Magic Lantern Slides of Harry Thaw [1915], PStb. Abb.  58 Walter Leigh (Musik)/Walter Irving (Text): I’m Going Back to My Home. One-Step, Fieldington Music Publishing Co., New York 1915, UC, Box 10. Abb.  59 Evelyn Thaw Dodging a Camera, White Plains, 14.7.1909, LoC, George Grantham Bain Collection, LC-DIG-ggbain-04049. Abb.  60 Ashby Deering: Evelyn Nesbit Who Plans to Go Into Grand Opera, New York Telegraph, 31.10.1915; Walter Anthony: Vivid Valeska Suratt of Terre Haute, San Francisco Call, 1.12.1912, S. 45. Abb.  61 Evelyn Nesbit mit Reportern an Bord der Olympic, [08.8.1914], LoC, George Grantham Bain Collection, LC-DIG-ggbain-17190; Mrs. Evelyn Thaw, in: Bystander (28.5.1913). Abb.  62 Eigene Darstellung. Abb.  63 Postkarte Evelyn Thaw [1913], nicht gelaufen; Postkarte Evelyn Nesbit. Popular Cinema Star [1918/19], nicht gelaufen; beide UC, File 7. Abb.  64 Filmprogramm »Threads of Destiny« des Paris Theatre (28.1.1915), UC, Box 1; Evelyn Nesbit, After Buying Hat, Departs Without Testifying, New York Tribune, 7.7.1915, S. 16. Abb.  65 Evelyn Nesbit [ca. 1914], UC, Container 1; Evelyn Nesbit [ca. 1920], UC, File 11.

abbildungsverzeichnis

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Szenenverzeichnis Szene 1 Szene 2 Szene 3 Szene 4 Szene 5 Szene 6 Szene 7 Szene 8

»Thaw-White-Tragedy« (1906), gesamter Film. »The Unwritten Law« (1907), 2:06-3:20. Ebd., 3:21-4:48. Ebd., 9:38-9:58. Ebd., 10:19-12:37. »Sidewalks of New York« (1915), 31:26-31:32. Ebd., 31:32-31:44. Ebd., 31:44-31:59.

Abkürzungsverzeichnis BPL CLP, PD CPP, HLM DWIHP, ODL

Boston Public Library Carnegie Library of Pittsburgh, Pennsylvania Dept. The College of Physicians of Philadelphia, Historical Medical Library DeWitt Wallace Institue for the History of Psychiatry, Oskar Diethelm ­Library FAMFMRL The Fenimore Art Museum & The Farmers’ Museum Research Library HU, FACLM Harvard University, Francis A. Countway Library of Medicine HU, HL, HTC Harvard University, Houghton Library, Harvard Theatre Collection HU, HUA Harvard University, Harvard University Archives JJC, LSL John Jay College of Criminal Justice, Lloyd Sealy Library JHMI, AMCMA Johns Hopkins Medical Institutions, Alan Mason Chesney Medical Archives JHU, SLUM Johns Hopkins University, Sheridan Libraries & University Museum KSUL, SCA Kent State University Library, Special Collections and Archives LAC Library and Archives Canada LoC Library of Congress NAB National Archives at Boston NARA, CLA National Archives and Records Administration, Center for Legislative ­Archives NMAH National Museum of American History NYPL, BRTD New York Public Library, Billy Rose Theatre Division NYPL, PARC New York Public Library, Performing Arts Research Collections NYSA New York State Archives PStb Privatsammlung Steinbacher ShA The Shubert Archive SI, AAA Smithsonian Institution, Archives of American Art SJHHC, DLAD Senator John Heinz History Center, Detre Library and Archives Division UC Uruburu Collection UCBL, SCD University of Colorado at Boulder Libraries, Special Collections Dept. UP, ASC University of Pittsburgh, Archives & Special Collections UT, DBCAH University of Texas, Dolph Briscoe Center for American History UWL, SC University of Washington Libraries, Special Collections VPISU, UL, SC Virginia Polytechnic Institute and State University, University Libraries, Special Collections

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szenen verzeichnis

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Quellen- und Literaturverzeichnis 1. Filmquellen Filme »Harry K. Thaw’s Fight for Freedom in Canada, Kanada«, USA 1913, R: James Halleck »Hal« Reid, ca. 12 Min (verschollen). »In the Tombs«, USA 1906, P/R: American Mutoscope & Biograph Co., 00:45 Min., LoC, Paper Film Collection, FLA 3609. »Sidewalks of New York«, USA 1915, P/R: o. A., 00:37 Min, Historic Films Archive, F-3225. »The Thaw-White Tragedy«, USA 1906, P/R: American Mutoscope & Biograph Co., 00:35 Min., LoC, Paper Film Collection, FLA 4041 = Historic Films Archive, VM-152.. »The Unwritten Law. A Thrilling Drama Based upon the Thaw-White Case«, USA 1907, R: Sigmund Lubin, 12:32 Min, UC.

Erinnerungskultur »Ragtime«, USA 1981, R: Milos Forman, 155 Min. »The Girl in the Red Velvet Swing«, USA 1955, R: Richard Fleischer, 109 Min.

2. Zeitungen Alexandria Gazette American Journal-Examiner American Standard and Vanity Fair Anaconda Standard Atlanta Constitution Atlanta Georgian News Boston American Boston American. Sunday Magazine Boston Daily Globe Boston Globe Boston Herald Buffalo Courier Buffalo Times Chicago Chronicle Chicago Daily Tribune Chicago Examiner Chicago Inter Ocean quellen - und literaturverzeichnis

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Chicago Record Herald Chicago Sunday Tribune Chicago Tribune Chickasha Daily Express Cincinnati Inquirer Columbus Dispatch Comœdia, Paris Daily Alaskan, Skagway Daily Standard Union, Brooklyn, NY Day Book, Chicago Denison Review Detroit Journal Enquirer, Cincinnati Evening Herald, New York Evening Journal, Wilmington, DE Evening Journal, New York Evening Star, Washington, D. C. Evening World, New York Hawaiian Star, Honolulu Indianapolis Star Le Figaro, Paris Los Angeles Examiner Los Angeles Times Louisville Herald Morning Telegraph, New York National Tribune, Washington, D. C. New Jersey Star New York American and Journal New York American New York American. Weekend Supplement New York Daily News New York Daily Tribune New York Evening Journal New York Evening Telegram New York Herald New York Herald. European Edition (= Paris Herald) New York Journal New York Observer New York Review New York Standard New York Star New York Telegraph New York Times New York Times. Sunday Magazine New York Tribune New York Tribune. Illustrated Supplement New York World

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quellen- und literaturverzeichnis

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Newark Star Eagle Omaha Sunday Bee Patriot Ledger, Boston Philadelphia Inquirer Pittsburgh Dispatch Pittsburgh Gazette Times Pittsburgh Leader Pittsburgh Press Record, Greensboro, NC Richmond Palladium and Sun-Telegram San Francisco Call St. Louis Republic St. Louis Star-Chronicle St. Paul Dispatch St. Paul Globe Sun and New York Herald Sun, New York Sunday Press, Philadelphia Sunday Telegraph, New York Sunday World, New York Telegram, New York The Bioscope, London Times Dispatch, Virginia Toledo Blade Toledo Times Topeka State Journal Washington Herald Washington Post Washington Times

3. Periodika Alienist and Neurologist American Lawyer Annual Report of the American Bar Association Arena Bench and Bar Billboard Bioscope Broadway Magazine Burr McIntosh-Monthly Bystander California State Journal of Medicine Camera Work: A Photographic Quarterly Cartoons Magazine

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periodika

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Collier’s Weekly Congressional Record – House Congressional Record – Senate Cosmopolitan Die Jugend, München Everybody’s Magazine Green Book Album Green Bag Harper’s Weekly Harvard Law Review Independent Index Journal of the American Institute of Criminal Law and Criminology Ladies’ Home Journal Law Notes Lawyer and Banker and Southern Bench and Bar Review LIFE Magazine Literary Digest Medical Clinics of North America. Baltimore Number Medico-Legal Journal Metropolitan Magazine Motion Picture Classic Motion Picture Magazine Motion Picture News Motography Moving Picture News Moving Picture World Munsey’s Magazine Nation National Police Gazette New York Clipper New York Dramatic Mirror New York Medical Journal New York Observer and Chronicle New York Supplement Outlook. A Family Paper Pacific Medical Journal Pearson’s Magazine Photographic Times-Bulletin Photo-Play Journal Pittsburgh Bulletin Publishers’ Weekly Republican News Item Saturday Evening Post Simplicissimus, München Sphere, London Stage

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quellen- und literaturverzeichnis

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Standard and Vanity Fair Theatre Magazine Town Topics United States Reports Variety Virginia Law Register Watchman Wilson’s Photographic Magazine Woman’s Home Companion

4. Archivalische Quellen Boston Public Library (BPL), Boston, MA Thaw Trial Pictures of Edmunds E. Bond Carnegie Library of Pittsburgh, Pennsylvania Dept. (CLP, PD), Pittsburgh, PA Pgh. Biography: Thaw, Evelyn Nesbit DeWitt Wallace Institue for the History of Psychiatry, Oskar Diethelm Library (DWIHP, ODL), New York, NY New York Psychiatric Society Records (1903-1988) Fifth Judicial District of Pennsylvania, Dept. of Court Records, Pittsburgh, PA Henry Kendall Thaw vs Evelyn Nesbit Thaw, No. 1319 Oct. Term, 1915: Transcript of Official Notes of Testimony Harvard University (HU), Boston, MA Harvard University Archives (HUA) Special Students Houghton Library, Harvard Theatre Collection (HL, HTC) *2003MT-96 Theatrical Cabinet Photographs of Women ca. 1866-1929 (TCS 2) https://iiif.lib.harvard.edu/manifests/view/drs:47171988$1i (acc. 22.4.2022) Francis A. Countway Library of Medicine (FACLM) Roy Leak Collection of Papers Relating to Harry K. Thaw, 1904-66 (inclusive), H MS c369 Historic Films Archive, Greenport, NY F-3225 https://www.historicfilms.com/tapes/8062_30.97_64.97 (acc. 22.4.2022) VM-151 https://www.historicfilms.com/tapes/250_819.00_850.00_Thaw-White-Tragedy+%28 Movie%29 (acc. 22.4.2022)

archivalische quellen

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John Jay College of Criminal Justice, Lloyd Sealy Library (JJC, LSL), New York Special Collections Criminal Trial Transcripts of New York County Collection (1883-1927) https://www.lib.jjay.cuny.edu/content/criminal-trial-transcripts-digitized-2006-2015 (acc. 22.4.2022) Johns Hopkins Medical Institutions, Alan Mason Chesney Medical Archives (JHMI, AMCMA), Baltimore, MD Meyer Collection Johns Hopkins University, Sheridan Libraries & University Museum (JHU, SLUM), Baltimore, MD The Lester S. Levy Sheet Music Collection https://levysheetmusic.mse.jhu.edu/collection/152/015 (acc. 22.4.2022) Kent State University Library, Special Collections and Archives (KSUL, SCA), Kent, OH Crime-Related Sheet Music Library and Archives Canada (LAC), Ottawa, ON Archives, Orders in Council, Vol. 1071, Access Code 90, Item No. 308859 https://central.baclac.gc.ca/.redirect?app=ordincou&id=308859&lang=eng (acc. 22.4.2022) Immigration Program: Headquarters Central Registry Files: C-10666: Immigration Branch, RG 76, Vol. 597, File 864813, Pt. 1 und 2 https://heritage.canadiana.ca/view/oocihm.lac_reel_c10666/1559?r=0&s=5 (acc. 22.4.2022) Library of Congress (LoC), Washington, D. C. George Grantham Bain Collection https://www.loc.gov/pictures/collection/ggbain/ (acc. 22.4.2022) Paper Film Collection National Archives and Records Administration, Center for Legislative Archives (NARA, CLA), Washington, D. C. Congressional Record National Archives at Boston (NAB), Boston, MA RG 21 Records of the U. S. District Court, New Hampshire, Law Cases, 1910-1938 National Museum of American History (NMAH), Washington, D. C. The Rudolf Eickemeyer Jr. Collection New York Public Library (NYPL), New York, NY Performing Arts Research Collections (PARC) M Music Billy Rose Theatre Division, Robinson Locke Collection (BRTD, RLC) Scrapbooks, Series 1, Vol. 358-360

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quellen- und literaturverzeichnis

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New York State Archives (NYSA), Albany, NY A0505, A0531-78, A0597-78, A1500 Privatsammlung Steinbacher (PStb) Postkarten Zeitungsartikel Memorabilien Senator John Heinz History Center, Detre Library and Archives Division (SJHHC, DLAD), Pittsburgh, PA Thaw Family (1841-1933), MSS #29 93.72.1 Smithsonian Institution, Archives of American Art (SI, AAA), Washington, D. C. James Carroll Beckwith Papers https://edan.si.edu/slideshow/slideshowViewer. htm?eadrefid=AAA.beckjcar_ref36 (acc. 22.4.2022) Aline and Eero Saarinen Papers (1906-1977) https://www.aaa.si.edu/collections/aline-andeero-saarinen-papers-5589 (acc. 22.4.2022) The College of Physicians of Philadelphia, Historical Medical Library (CPP, HLM), Philadelphia Charles K. Mills Compiler, 10d 24, 10d 141 Rf 25 The Fenimore Art Museum & The Farmers’ Museum Research Library (FAMFMRL), Cooperstown, NY Harry Thaw Collection (1890-1914), Coll. No. 131 The Sherman Grinberg Film Library, Los Angeles, CA PTH SIL 7976 The Shubert Archive (ShA), New York, NY Evelyn Nesbit Contracts I University of Colorado at Boulder Libraries, Special Collections Dept. (UCBL, SCD), Boulder, CO Camille Cummings Papers (MS 255) University of Pittsburgh, Archives & Special Collections (UP, ASC), Pittsburgh, PA Curtis Theatre Collection University of Texas, Dolph Briscoe Center for American History (UT, DBCAH), Austin, TX New York Journal American Morgue

archivalische quellen

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University of Washington Libraries, Special Collections (UWL, SC), Seattle, WA J. Willis Sayre Photograph Collection https://content.lib.washington.edu/sayreweb/index. html (acc. 22.4.2022) Uruburu Collection (UC), Babylon, NY Privatnachlass Harry Thaw, darin Fotos und Fotoalben, Memorabilien, Notenblätter, Korrespondenz und Reiseunterlagen, Postkarten, Press Clippings, Privatgegenstände, Prozess­ protokolle, -urteile und -kommentare Virginia Polytechnic Institute and State University, University Libraries, Special Collections (VPISU, UL, SC), Blacksburg, VA Ms2008-034.

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