Moderne, Nietzsche, Postmoderne [Reprint 2022 ed.] 9783112617304, 9783112617298


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Moderne, Nietzsche, Postmoderne [Reprint 2022 ed.]
 9783112617304, 9783112617298

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Moderne Nietzsche Postmoderne

STUDIEN ZUR SPÄTBÜRGERLICHEN IDEOLOGIE

HERAUSGEGEBEN VON MANFRED BUHR

Moderne Nietzsche Postmoderne Mit Beiträgen von Andräs Gedo, Hans-Martin Gerlach, Hans Heinz Holz Pertti Karkama, Gudrun Klatt, Jörg Schreiter Robert Steigerwald, Läszlo Sziklai und Joachim Wilke

Akademie-Verlag Berlin 1990

Inhalt

ANDRÄS G E D Ö

Warum Marx oder Nietzsche?

7

HANS HEINZ H O L Z

Aspekte einer marxistischen Nietzsche-Kritik

22

ROBERT STEIGERWALD

Dje Wahrheitskonzeption im Werk von Friedrich Nietzsche

38

LÄSZLO SZIKLAI

Georg Lukâcs - Kritiker der unreinen Vernunft

49

ANDRÄS G E D Ö

Die Philosophie der Postmoderne im Schatten von Marx

64

PERTTI KARKAMA

Lebensphilosophie, Moderne und Postmoderne

89

GUDRUN KLATT

Moderne und Postmoderne im Streit zwischen Jean-François Lyotard und Jürgen JOACHIM Die Zeit und W IHabermas Ldie K E Phrase: Ein seltsamer Aufbruch in der »Postmodeme«

118 143

HANS-MARTIN GERLACH

Chaos oder Terrorismus der Vernunft. Von den falschen Voraussetzungen einer »elenden Alternative«

203

JÖRG SCHREITER

Die Gegenwart als »Nachaufklärung«?

214

Namenverzeichnis

220

ANDRÁS GEDÖ

(Budapest)

Warum Marx oder Nietzsche ? * »Die Welt, in der wir selbst geistig existieren, ist weitgehend eine von Marx und Nietzsche geprägte Welt.« Max Weber, 1920 I

In der Geschichte der Debatten um Marx und/oder Nietzsche war das Begehren, Marx und Nietzsche miteinander auszusöhnen, auf die Fragestellung »Marx oder Nietzsche?« zu verzichten, wohl noch nie von so vielen Seiten her und so markant zu vernehmen wie heutzutage. Zugleich rückte damit die Alternative Marx oder Nietzsche deutlicher als je ins Zentrum geistiger Auseinandersetzungen. Manches Paradoxe, Zwiespältige, Doppeldeutige in der gegenwärtigen Diskussion ergibt sich aus der Gleichzeitigkeit und dem Nebeneinander dieser beiden Tendenzen. Von divergierenden Standpunkten aus, von links und rechts, mit unterschiedlichen Vorzeichen wird die Zusammengehörigkeit von Marx und Nietzsche festgestellt, ihre Komplementarität anerkannt, eine Synthese vollzogen. Auf der einen Seite wird ein in die Nähe von Marx gebrachter Nietzsche bzw. an Hand von Nietzsche interpretierter und »ergänzter« Marx bejaht, auf der anderen - vom traditionellen Offenbarungsglauben 1 oder vom Bild eines wohlfunktionierenden, störungsfreien Kapitalismus 2 * Vgl. auch A. Gedö, Marx oder Nietzsche? Die Gegenwärtigkeit einer beharrenden Alternative, in: Intelligenz, Intellektuelle und Arbeiterbewegung in Westeuropa, Frankfurt a. M. 1985. 1 Vgl. u. a. G. Rohrmoser, Nietzsches Kritik der Moral, in: Nietzsche-Studien, Bd. 10/11, 1981/1982, S. 332ff. - Daß aber auch dieser Auffassung das Gebilde Nietzsche contra Marx zugrunde liegt, daß auch ihr ein durch Nietzsche überwundener Marx vorschwebt, ist aus Rohrmosers Forderung ersichtlich: »So wie wir einen postfaschistischen Nietzsche brauchen, benötigen wir einen postmarxistischen Nietzsche.« (Ebenda, S. 356) Auch Rohrmoser plädiert für »die Überlegenheit Nietzsches über Marx« (G. Rohrmoser, Zäsur. Wandel des Bewußtseins, Stuttgart 1980, S. 336). 2

»Aus sehr unterschiedlichen Perspektiven griffen sowohl Nietzsche als auch Marx den Triumph des Handelsmannes an ... Nietzsche und Marx verachteten beide jene Gesellschaft, die überwiegend aus ihr Eigeninteresse verfolgenden

7

her - das Marx und Nietzsche angeblich gemeinsam zukommende nihilistische Wesen verneint. Insbesondere neigten - mindestens zeitweilig - Befürworter des sich als links verstehenden französischen Nietzscheanismus dazu, Marx mit Nietzsche zu verknüpfen. Klossowski war der Meinung, es gebe, trotz ihrer Unterschiede, eine Parallele zwischen Marx' Gesellschaftskritik und derjenigen Nietzsches3, Lyotard trachtete Anfang der siebziger Jahre, das »Kapital« von Nietzsche her umzudeuten 4 , Foucault vermeinte Mitte der sechziger Jahre, den gemeinsamen Nenner von Marx, Nietzsche und Freud zu bestimmen 5 . Zur gleichen Zeit stellte er Nietzsche und Marx mit aller Schärfe und Entschiedenheit einander entgegen, und sein philosophisches Werk ist eben von dieser Alternative geprägt: Er betrachtete Hegel und Marx als »die großen Verantwortlichen für den gegenwärtigen Humanismus«, den er ablehnte, und trat für eine »nicht-dialektische«, »also nicht-humanistische Kultur« ein, die »mit Nietzsche begonnen hat« und die »auch bei Heidegger erschienen ist.«6. In der späteren Entwicklung des französischen Nietzscheanismus gewann diese Frontstellung - Nietzsche gegen Marx - die Oberhand. Die (nicht einschließende) Disjunktion von Marx und Nietzsche überwand ihre vorübergehende Konjunktion. Deleuze kehrte schon in seinem frühen Nietzsche-Buch die Unvereinbarkeit von Dialektik und Nietzscheschem Philosophieren, die fundamentale Antidialektik desselben hervor7; er widersprach auch der Formel Marx - Nietzsche - Freud, als er Anfang der siebziger Jahre für das »nomade Denken« 8 plädierte, indem er NietzMenschen zusammengesetzt ist.« (S. Miller, Adam Smith and the Commercial 3

4 5 6

7

8

Republic, in: The Public Interest, No. 61, Fall 1980, p. 120.) P. Klossowski, Circulus vitiosus, in: Nietzsche aujourd'hui?, t. 1, Paris 1973, pp. 99ff. J.-F. Lyotard, Notes sur le retour et le Kapital, in: ebenda, pp. 145ff. Vgl. M. Foucault, Nietzsche, Freud, Marx, in: Nietzsche, Paris 1967. Zit. nach: L. Ferry/A. Renant, La pensée 68. Essai sur l'antihumanisme contemporain, Paris 1985, p. 138. »Die Philosophie Nietzsches bildet eine absolute Antidialektik...« (G. Deleuze, Nietzsche et la philosophie, Paris 1962, p. 223). Das »nomade Denken« wurde zum Schlagwort der Philosophie der französischen Postmoderne; vgl. D. Grisoni, Ouverture, in: F. Chätelet/J. Derrida/ M. Foucault/J.-F. Lyotard/M. Serres, Politiques de la philosophie, Paris 1977, pp. 20ff. - Die Idee des »nomaden Denkens« rührt übrigens von Nietzsche her; 8

sehe aus jener Trinität herausnahm. »Marx und Freud sind vielleicht die Morgendämmerung unserer Kultur, aber Nietzsche ist eine ganz und gar andere Sache, er ist die Morgendämmerung einer Gegen-Kultur.« 9 Der Bezugspunkt der Philosophie der französischen - und nicht nur der französischen - Postmoderne ist der antidialektische Nietzsche als Gegen-Marx. Dennoch ist es eine der Bestrebungen innerhalb der heutigen Nietzsche-Welle, die Frage nach Marx und Nietzsche statt der von Marx oder Nietzsche in den Vordergrund zu stellen. Dazu ruft man die historischen Traditionen des linken Nietzscheanismus wach, die Bilder eines Marx angenäherten Nietzsche oder eines Nietzsche angenäherten Marx - mit Lesarten der nietzscheanischen Ideologie von einer absolut-abstrakten Revolte. David Bathrick und Paul Breines stellen die - von Bloch über Henri Lefèbvre und die Frankfurter Schule bis zum gegenwärtigen französischen Nietzscheanismus reichenden - Versuche heraus, Nietzsche für eine lebensphilosophische Umdeutung des Marxismus zu reklamieren; sie rufen die »äußerst lebendige, wenn auch schmale Strömung einer nietzscheanischen Linken« ins Gedächtnis, um jene »historische Bedeutung der schmalen >Marx-und-Nietzschear und

definierbar

ist. Die Konturen der Postmodeme scheinen weniger verworren und unbestimmt als die der Moderne, insofern die gesellschaftlichen Zusammen1

2

Vgl. G. Raulet, Structuralism and Post-Structuralism. An Interview with Michel Foucault, in: Telos, 55/1983, S. 205. - Der Name »Postmoderne« ist »denkbar unglücklich. Er taugt fast nur zu Mißverständnissen, Diskreditierungen, Vorbeireden an der Sprache.« (W. Welsch, Vielheit ohne Einheit? Zum gegenwärtigen Spektrum der philosophischen Diskussion um die »Postmoderne«. Französische, italienische, amerikanische, deutsche Aspekte, in: Philosophisches Jahrbuch, 94. Jg., 1987, 1. Hb.-Bd., S. 111). »Die Termini >Modemismus< und >Postmodemismus< bleiben historisch und systematisch ungewiß und undefinierbar.« (A. Huyssen, From Counter-culture to Neoconservatism and Beyonds: Stages of the Postmodem, in: Social Science Information, 3/1984, p. 615) - Vgl. u. a. auch B. Schmidt, Postmodemism as Agressive and Conflict-avoiding Dialectics, in: ebenda, pp. 589ff.; Postmoderne - Strategie des Vergessens. Ein kritischer Bericht, Dannstadt und Neuwied 1986.

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hänge und Inhalte der ersteren als Gegenwartsphänomene eher wahrzunehmen sind; sie scheinen aber zugleich auch verworrener und unbestimmter, insofern der Begriff der Postmoderne lediglich Abstrakt-Negatives besagt; sogar die elementare Bedeutung des Terminus - daß die Postmoderne auf die Moderne folgt - wird von seinen Vorkämpfern nicht immer festgehalten. Lyotard zufolge »kann ein Werk nur dann modern werden, wenn es erst postmodern ist. So verstanden ist der Postmodernismus nicht das Ende des Modernismus, sondern sein Entstehungszustand, und dieser Zustand ist wiederkehrend.« 3 Der Begriff der Postmoderne übernimmt die Ambiguität des Begriffs der Moderne, indem selbst das Verhältnis von Postmoderne und Moderne in Ambiguität schwebt: Die eigentliche historische Stellung der Postmoderne ist also gegen ihr ahistorisches Geschichtsverständnis und gegen ihr illusionäres Selbstverständnis zu erschließen. Was ist die Moderne, zu welcher sich die Postmoderne so definitivundeutlich und entschieden-zwiespältig bestimmt? Diese Undeutlichkeit und Zwiespältigkeit rühren unter anderem daher, daß sich in den universellen Negationen und partiellen Behauptungen der Postmoderne zwei wesensverschiedene Typen des philosophischen Moderne-Begriffs bzw. zwei divergierende Typen des Verhältnisses der Postmoderne zur Moderne verschränken. Sind beide einem Konzept - dem der Postmoderne - subsumiert, so wird zwar die Disparität beider nicht ganz aufgehoben, der gesellschaftlich-historische und philosophische Inhalt ihrer Unterschiede dennoch verschleiert. Dabei werden Diskontinuitäten durch den Anschein einer bruchlosen Kontinuität verdeckt, und es kommt der Anschein von Brüchen auf, wo Kontinuität vorherrscht. Der eine Typus des Moderne-Begriffs gestaltete sich im klassischen bürgerlichen Denken, insbesondere in der Aufklärung; diese Moderne war durch ihren Gegensatz zu den »Alten« und dem Alten 4 - der feudalen Gesellschaft und ihrer Geistigkeit - , durch die Affirmation von Vernunft, 3

4

J.-F. Lyotard, Réponse à la question: qu'est-ce que le postmodernisme?, in: Critique, 419/1982, p. 365. Vgl. W. Krauss, Der Streit der Altertumsfreunde mit den Anhängern der Moderne und die Entstehung des geschichtlichen Weltbildes, in: Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jahrhunderts, hrsg. von W. Krauss und H. Kortum, Berlin 1966; H. R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt am Main 1970, S. 11 ff.

5 Buhr, Moderne

65

Geschichte und Philosophie gekennzeichnet. Der andere Typus entstand im Prozeß des Übergangs zum spätbürgerlichen Denken 5 und beharrte in diesem. Als Gegenpol erst zum klassischen Gedankengut, später zugleich und überwiegend zum Marxismus, war diese Philosophie der Moderne 6 vom Zerfall der Einheit der Vernunft, Geschichte und Philosophie, von der Auflösung und Zersplitterung dieser Kategorien geprägt; sie betrachtete die Moderne als Attribut der verklärten bürgerlichen Gesellschaft, die sie mit einer positivistisch entleerten und enthistorisierten Rationalität identifizierte, und/oder sie verstand die Moderne als lebensphilosophisch mythisierten Verfall, als Geschick der Dekadenz. Während des Übergangs vom klassischen bürgerlichen Denken zum spätbürgerlichen bildete sich jene Tradition der Kritik an der Moderne als Aufklärung heraus, die sich dann im Kontext des philosophischen Krisenbewußtseins entfaltete, mit einer Zeit-Diagnose und Zeit-Kritik verwob, welche die Moderne (im Sinne des zweiten Typus) vertrat und zugleich die Moderne schlechthin zu überwinden schien.

II Der zweite Typus des Moderne-Begriffs setzte bei Chateaubriand und dem späteren Friedrich Schlegel, bei Donoso Cortfes, Comte und Renan an. Das Bewußtsein der Zwiespältigkeit dieser Moderne formulierte Nietzsche als philosophische Attitüde, indem er eine neue Phase in der Geschichte des zweiten Typus des philosophischen Moderne-Begriffs, im Prozeß der Zersetzung und Auflösung der Vernunft-, Geschichts- und Phi5

6

Zum Bruch zwischen klassischer und spätbürgerlicher Philosophie vgl. M. Buhr/R. Steigerwald, Verzicht auf Fortschritt, Geschichte, Erkenntnis und Wahrheit. Zu den Grundtendenzen der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie, Berlin und Frankfurt a. M. 1981; M. Buhr, Zum Verhältnis von klassischer und spätbürgerlicher Philosophie, in: Philosophie in weltbürgerlicher Absicht und wissenschaftlicher Sozialismus, hrsg. von M. Buhr und H. J. Sandkühler, Köln 1985. Die künstlerisch-ästhetische Moderne stellt ein selbständiges Problem dar, das in diesem Aufsatz nicht behandelt wird; sie hängt zwar mit dem Werdegang des philosophischen Begriffs der Moderne zusammen, ist aber auf diesen weder zurückzuführen noch aus diesem abzuleiten; vgl. u. a. H. Eisler, Materialien zu einer Dialektik der Musik, Leipzig 1976, S. 151 ff. 66

losophie-Konzeption, initiierte. Nietzsche radikalisierte die Gleichsetzung von Moderne und Krise: er setzte die Krise der Moderne. Nietzsche bekannte sich zur Moderne und kritisierte sie zugleich (ähnlich behandelte er auch die Dekadenz); »wir Moderne« 7 galt ihm nicht nur als stilistische Wendung, sondern auch als Ausdruck der positiven Seite jener Ambivalenz im Bewußtsein der Moderne, deren andere - überwiegende Beziehung, die Kritik an der Moderne, dadurch ergänzt und bekräftigt wurde. Die Entblößung, Zur-Schau-Stellung und Vivisektion des modernen Menschen, der modernen Welt, des modernen Geistes, der modernen Seele war ständiges Motiv in Nietzsches Werk. In »Ecce Homo«, seiner philosophischen Autobiographie, schrieb er über sein Buch »Jenseits von Gut und Böse«, was nicht nur für dieses Werk gilt: Es ist »in allem Wesentlichen eine Kritik der Modernität, die modernen Wissenschaften, die modernen Künste, selbst die moderne Politik nicht ausgeschlossen, nebst Fingerzeigen zu einem Gegensatz-Typus, der so wenig modern als möglich ist, einem vornehmen, einem jasagenden Typus«8. Nietzsche definierte die Moderne »als den physiologischen Selbst-Widerspruch«9; neben der Verhöhnung und Verdammung der »romantischen Attitüde des modernen Menschen« 10 , zunächst aber des »Plebejismus des modernen Geistes« 11 , blieb bei ihm der Gedanke der Zweideutigkeit der modernen Welt aufrechterhalten.12 7

8

Vgl. F. Nietzsche, Werke, hrsg. von K. Schlechte, München 1969, Bd. II, S. 682; S. 714; F. Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. V/2, Berlin(West) - New York 1973, S. 537. F. Nietzsche, Werke, hrsg. von K. Schlechta, Bd. II, S. 1141. - »Denn was die Moderne ist, das hängt ja davon ab, als was wir sie verstehen wollen. Entweder wir verstehen sie streng aus sich selbst, also radikal-emanzipatorisch, dann verstehen wir sie zu Tode, dann ist Selbstaufhebung der Aufklärung unvermeidliches Resultat ihrer Dialektik. Das hat Nietzsche mit vollendeter Klarheit gesehen ... Wenn wir solche Selbstaufhebung nicht wollen, dann dürfen wir die Moderne nicht aus sich selbst verstehen ...« (R. Spaemann, Philosophie und modernes Bewußtsein, in: Neue Zürcher Zeitung, 4. 2. 1983)

9 F. Nietzsche, Werke, hrsg. von K. Schlechta, Bd. II, S. 1018. '0 Ebenda, Bd. III, S. 529. 11 Ebenda, Bd. II, S. 775. 12 »Gesamt-Einsicht: der zweideutige Charakter unsrer modernen Welt - eben dieselben Symptome könnten auf Niedergang und auf Stärke deuten.« (Ebenda, Bd. III, S. 624.)

67

Die späteren Lesearten des Krisenbewußtseins der Moderne entnahmen Nietzsche ihre Hauptformeln, ihre Metaphern, selbst ihre Extreme: die relativierende Kritik an der Vernunft und Wissenschaft, die Bilder der modernen Verdüsterung (»die Wüste wächst«) und auch die schockierenden Imperative: »Wir müssen die Lüge, den Wahn und Glauben, die Ungerechtigkeit heiligen«13, »Man lernt es, zuletzt seinen Abgrund lieben«14. Die Gebilde des Krisenbewußtseins der Moderne sind zeitweilig vielleicht auch ohne Nietzsches Einfluß entstanden - wie etwa Yorck von Wartenburgs Sentenz: »Der moderne Mensch, d. h. der Mensch seit der Renaisssance, ist fertig zum Begrabenwerden« 15 - , diese Gebilde variierten dann aber größtenteils unter Nietzsches Wirkung, wie unter anderem Simmeis Satz von der Tragik der modernen Kultur. Auch Max Webers Konzept der Moderne war von Nietzsches Impulsen geprägt, sosehr Webers geistige Statur und Habitus sich auch von denen Nietzsches unterschieden. Das Neue des Moderne-Begriffs von Max Weber bestand darin, daß er die positivistischen und lebensphilosophischen Elemente des Konzepts der Moderne in einer Auffassung verknüpfte; er leitete das lebensphilosophische Geschick der Moderne von der Verwirklichung der positivistischen Moderne her und baute eine soziologische und historische Konzeption um diesen Begriff. Selbst der enorm große Einfluß des Weberschen Begriffs der Moderne konnte aber die wiederholten Trennungen der positivistischen und lebensphilosophischen Motive bzw. Deutungen nicht vereiteln. Es reproduzierten sich die Divergenzen und Gegensätze zwischen der Spenglerschen Kritik an der Moderne, seiner Prophezeiung des Sturzes des »Faustischen Menschen«, und Talcott Parsons' Auffassung von der Stabilität der modernen bürgerlichen Gesellschaft amerikanischen Musters oder zwischen der Philosophie Heideggers, die die neuzeitliche Wissenschaft und Technik der »Seinsvergessenheit« beschuldigt, und dem Kritischen Rationalismus Poppers, der für (im positivistischen Sinne) moderne Rationalität und die moderne »offene Gesellschaft« eintritt. 13

F. Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. VII/1, Berlin(West) - New York 1977, S. 13. >4 Ebenda, Bd. VII/3, Berlin(West) - New York 1974, S. 90. 15 Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1888-1897, Halle/Saale 1923, S. 83.

68

Als Baudrillard in den späten sechziger Jahren, noch vor der Mode der Postmoderne, einen kurzen Inbegriff des Konzepts der Moderne entwarf, mußte er resigniert feststellen, daß die Moderne »weiterhin ein verworrener Begriff ist«. Seine Konzeption erhob diese Verworrenheit zum Prinzip der Moderne : »die Moderne ist kein soziologischer Begriff, kein politischer Begriff, sie ist eigentlich kein historischer Begriff«; »da die Moderne kein Begriff der Analyse ist, gibt es keine Gesetze der Moderne, es gibt lediglich Charakterzüge der Moderne. Es gibt auch keine Theorie, aber eine Logik der Moderne und eine Ideologie.« Nach Baudrillard »ist die Moderne, an eine historische und strukturelle Krise gebunden, nur das Symptom. Sie analysiert nicht diese Krise, sondern drückt sie aus, zweideutig, in rastloser Flucht nach vorne . . . Sie verwandelt die Krise in einen Wert, in eine widersprüchliche Moral,«16 In dieser Ambiguität erlischt auch der Unterschied zwischen den beiden Typen des Moderne-Begriffs : der zweite, dekadente Typus der Moderne subsumierte sich den ersten. Baudrillards Darstellung ließ die materiellen Prozesse der modernen Epoche durch den Ideologie-Begriff des spätbürgerlichen Denkens verschlingen17; das Moderne-Konzept mündete derart in der negativen These: »die Moderne ist keine Dialektik der Geschichte« 18 . In den späten sechziger Jahren wurde diese These von der Flut der Mode des philosophischen Strukturalismus getragen; sie war aber auch damals keine differentia specifica des philosophischen Strukturalismus, sondern ein den Modeme-Konzepten von Nietzsche und Max Weber, Spengler und Parsons, Heidegger und Popper gemeinsames Moment, heutzutage gilt sie als Leitidee der Philosophie der Postmoderne. Die Philosophie der Postmoderne 19 steht im Kontext des spätbürger16

17

18 19

J. Baudrillard, Art. »Modernité«, in: Encyclopaedia universalis, vol. 11, Paris 1968, p. 139. Nach Baudrillard »ist die Moderne lediglich ein ungeheurer ideologischer Prozeß«. (Ebenda, p. 141.) Ebenda. Hier geht es um die Philosophie der Postmoderne und nicht um das Verhältnis zwischen künstlerischer Moderne und Postmodeme. Zwar ist das EigentümlichKünstlerische in diesem Verhältnis auf das Philosophische kaum zu reduzieren, Problem und Begriff der Postmoderne erweisen sich aber vor allem als zeitdiagnostisch-philosophisch. Sollte der Terminus »Postmoderne« auch zunächst mehr in der amerikanischen Literaturbetrachtung angewandt worden sein und

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lichen Begriffs der Moderne 20 : In ihrer Absage an die Aufklärung beschwört sie vor allem Nietzsche und Heidegger herauf, verknüpft sie die Konsequenzen des Poststrukturalismus und der hermeneutischen Philosophie mit denen des Pragmatismus Jamesscher Prägung 21 . »Nietzsche und die libidinose Ökonomie< traten an die Stelle der geschichtlichen Dialektik und der politischen Ökonomie. Geschichte wurde wieder eine der Geschichten, und Logos wich vor dem Mythos zurück. Die installierten Kategorien - die Produktion von Begierde, die Schizophrenie, Dekotrat die Losung »Postmoderne« zuweilen als überwiegend künstlerische (etwa in der Architektur) zutage, so stellte sich jedoch im Reflektieren auf das Verhältnis zwischen künstlerischer Moderne und Postmoderne der zeitdiagnostisch-philosophische Inhalt heraus. Zum Konzept der Postmoderne in divergierenden Perspektiven vgl. u. a.: M. Köhler, »Postmodernismus«: Ein begriffsgeschichtlicher Überblick, in: Amerikastudien/American Studies, 1/1977; G. Hoffmann/A. Hornung/R. Kunow, »Modern«, »Postmodern« and »Contemporary« as Criteria for the Analysis of 20th Century Literature, in: ebenda; I. Hassan, The Dismemberment of Orpheus. Toward a Postmodern Literature, New York 1971; ders., The Right Promethean Fire. Imagination, Science, and Cultural Change, Urbana Chicago/Ill. 1980; E. Beaucamp, Die Zukunft liegt in der Vergangenheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 6. 1980; P. Bürger, Das Altern der Moderne, in: Adomo-Konferenz 1983, hrsg. von L. von Friedeburg und J. Habermas, Frankfurt a. M. 1983; J. Culler, On Deconstruction. Theory and Criticism after Structuralism, Ithaca 1982; P. Spedicato, Nel corso del testo, nel corpo del tempo, in: Postmoderno e letteratura. Percorsi e visioni della critica in America. A cura di P. Carravetta e P. Spedicato, Milano 1982; Ch. Norris, The Contest of Faculties. Philosophy and Theory after Structuralism, London and New York 1985; Umfrage: Was bedeutet »postmodem«, in: Forum, 379-380/1985; Kultur der Moderne I-ffl, in: Neue Zürcher Zeitung, 5. 12. 1986, 12. 12. 1986, 19. 12. 1986; Die unvollendete Vernunft. Moderne versus Postmoderne, hrsg. von D. Kamper und W. van Reijen, Frankfurt a. M. 1987. 20

21

Zu jener Zweideutigkeit der Postmoderne, die daher rührt, vgl. C. Pasquinelli, Alla ricerca del moderno, in: Sulla modernità. Problemi del Socialismo, 5/1986, pp. l l f f . - »Die Postmoderne ist - vorgreifend und pauschal gesagt - zwar nach-neuzeitlich, aber keineswegs post-modern, sondern radikal-modern. In ihr kommt es zur exoterischen Einlösung der einst esoterischen Gehalte der Moderne.« (W. Welsch, Vielheit ohne Einheit?, a. a. O., S. 111.) Vgl. R. Rorty, Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt a. M. 1981; ders., Le cosmopolitisme sans emancipation (en réponse à JeanFrançois Lyotard), in: Critique, t. XLI, 456/1985.

70

dierung, Deterritorialisierung - wurden zu einer Philosophie des Endes der Geschichte entwickelt.«22 Die von Raulet beschriebene französische - poststrukturalistische Variante der Philosophie der Postmoderne ist eine Resultante allgemeiner, nicht nur oder überwiegend nicht französischer Vorgänge und Prozesse im spätbürgerlichen Denken : sie nahm nicht nur Nietzsches und Heideggers Lebens- und Seinsphilosophie, bzw. den Pragmatismus, sondern auch Wittgensteins späteres Werk und Daniel Beils Theorie der postindustriellen Gesellschaft auf 23 Nach Lyotard gehören zum Kontext der Postmoderne : »Die sprachliche Wende< der westlichen Philosophie (die letzten Werke von Heidegger, das Eindringen der englisch-amerikanischen Philosophie ins europäische Denken, die Entwicklung der Sprachtechnologien); in Wechselbeziehung mit diesen der Verfall universalistischer Diskurse (der metaphysischen Doktrinen des modernen Zeitalters : der Erzählungen des Fortschritts, des Sozialismus, des Überflusses, des Wissens) ; die Müdigkeit >der Theorie< und die sie begleitende elende Erschlaffung (neues dieses und neues jenes, post-dieses und post-jenes, usw.).«24 In dieser Darstellung, in der die objektiv-reellen sozialen und geschichtlichen Wandlungen ins Negativ-Philosophische sublimiert sind, erscheinen auch die geistigen Zusammenhänge enthistorisiert und entsubstantialisiert; die Forderung der Postmoderne - die Absage an eine rationale Erkenntnis von Totalität(en) - erhält den Schein der Feststellung von einzelnen Tatsachen, die das Walten des Fatums suggerieren. In der Philosophie der Postmoderne wird das positivistische Verfahren dem lebensphilosophischen Heraufbeschwören des Unvernünftigen subsumiert. Es entspricht diesem Zusammenhang, daß Lyotard die Postmoderne als ein philosophisch-antiphilosophisches Konglomerat darstellt, das auch dem Empiriokritizismus Platz gewährt. Die Philosophie der Postmoderne ist ein internationales Phänomen der spätbürgerlichen Geistigkeit (in welchem der französische poststrukturali22

G. Raulet, The Agony of Marxism and the Victory of the Left, in: Telos, 55/1983, p. 183; vgl. auch ders., Gehemmte Zukunft. Zur gegenwärtigen Krise der Emanzipation, Darmstadt und Neuwied 1986, S. 122ff. 23 Vgl. u. a. W. Welsch, Postmodeme und Postmetaphysik. Eine Konfrontation von Lyotard und Heidegger, in: Philosophisches Jahrbuch, 1985, 1. Hb.-Bd., S. 118. 24 J.-F. Lyotard, Le différend, Paris 1983, p. 11.

71

stische Nietzscheanismus nur eine der Komponenten ist) ; in diese Philosophie münden unterschiedliche Strömungen der Gegenwartsphilosophie ein 25 , um sich dann als divergierende Möglichkeiten der Postmodeme wieder zu trennen. Diese in die Philosophie der Postmoderne mündenden bzw. deren Hintergrund bildenden Richtungen und Bestrebungen akzeptieren nicht immer alle Thesen der Postmoderne, bisweilen mißbilligen sie extreme Varianten des postmodernen Rausches der Irratio. Diese sonst abweichenden, ja sich widersprechenden Inhalte und Tendenzen begegnen sich in der Zurücknahme

und »Dekonstruktion« 26

der Ideen

von

Geschichte und Vernunft, von Totalität, Gesetzmäßigkeit und Gesamtgesellschaft 27 , im »Mißtrauen gegen Metaerzählungen« 28 , in der Verkündigung von Posthistoire, 25

26

27

28

Postrationalität

und

Postphilosophie.

Lyotards Aussage nach »können unter dem Wort Postmoderne die gegensätzlichsten Perspektiven vereinigt werden« (J.-F. Lyotard, Histoire universelle et différences culturelles, in: Critique, t. XLI, 456/1985, p. 546). Der Begriff der «Dekonstruktion« geht auf Heideggers Forderung der »Destruktion der Metaphysik« zurück; bei Derrida ist die »Dekonstruktion« eine poststrukturalistische, textdeutend-sprachkritische Variante der Heideggerschen »Destruktion«. Nach Culler besteht die Dekonstruktion eines Diskurses darin, daß »man zeigt, wie der Diskurs die Philosophie, die er behauptet, oder die hierarchischen Gegensätze, auf die er sich verläßt, unterminiert, indem man im Text die rhetorischen Verfahren identifiziert, die den angenommenen Grund des Arguments, den Schlüsselbegriff oder die Schlüsselprämisse hervorbringen.« (J. Culler, On Deconstruction, a. a. O., p. 86.) Die »Dekonstruktion« in Denidas Interpretation - wie schon die »Destruktion der Metaphysik« bei Heidegger richtet sich gegen den »Logozentrismus«; Derrida trachtet, »die souveräne Rationalität des westlichen Denkens zu dekonstruieren« (Ch. Norris, The Deconstructive Turn. Essays in the Rhetoric of Philosophy, London and New York 1983, p. 147). - Bei anderen Befürwortern der Philosophie der Postmoderne nimmt die Dekonstruktion nicht unbedingt die Form der sprachlichen Textanalyse an. Vgl. M. Foucault, Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a. M. Berlin(West) - Wien 1978, S. 126; Th. Leuenburger/R. Schilling, Die Ohnmacht des Bürgers. Plädoyer für eine nachmodeme Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1977, S. 17, 234. Vgl. J.-F. Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979, pp. 63ff.; R. Rorty, Postmodernist Bourgeois Liberalism, in: The Journal of Philosophy, Vol. LXXX, 10/1983, p. 585. 72

III Die Philosophie der Postmoderne wendet sich im zweifachen Sinn gegen Geschichte und Geschichtlichkeit: Zum einen siedelt sich die Postmoderne im Nachgeschichtlichen an, zum .anderen ist sie gewillt, den Geschichtsbegriff, die geschichtliche Anschauung und Erkenntnis, zu entleeren und abzusetzen, zu zerstören und aufzulösen, sie behauptet also den Posthistoire-Gedanken als Zeitdiagnose (bzw. Prophetie) und als These einer negativen Geschichtsphilosophie und Erkenntnistheorie. In den heutigen Äußerungen der Postmoderne steht die Zeitdiagnose im Vordergrund; es kommt der Schein auf, die Feststellung der nachgeschichtlichen Situation habe das nachgeschichtliche Denken zur Folge. Lyotard definiert die Postmoderne als Zustand durch das Unmöglich-Werden der »großen Erzählung«, deren Subjekt verschmolzen sei 29 : Die Posthistoire wird hier dem leeren Raum zugeordnet, der durch eine doppelte Negativität - die des Schwundes des Geschichts- und Erkenntnis-Subjekts und die des Verlustes des historischen Wissens - umschrieben ist. »Die Postmoderne charakterisiert sich nicht nur als Neuigkeit im Vergleich zur Moderne, sondern auch als Auflösung der Kategorie des Neuen, als Erfahrung des >Endes der Geschichtealternativer< Verbindlichkeit.« (Mythen der Moderne, in: Neue Zürcher Zeitung, 16. 9. 1983.) Vgl. aus unterschiedlichen Gesichtspunkten: G. Hofmann, Was die Spatzen nicht von den Dächern pfeifen, in: Die Zeit, 21. 11. 1986; O. Marquard, Die arbeitslose Angst, in: Die Zeit, 12. 12. 1986; H.-E. Richter, Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, in: Die Zeit, 16. 1. 1987; U. Greiner, Wahrheiten mit Verfallsdatum, in: Die Zeit, 20. 2. 1987; W. Schäfer, Die Krankheit der Vernunft, in: Die Zeit, 3.4. 1987. Vgl. G. Vattimo, La fine della modernità, a. a. O., pp. lOf. - Vgl. auch II pensiero debole. A cura di G. Vattimo e P. A. Rovatti, Milano 1985. - »Für mich war immer Heidegger der wesentliche Philosoph«, sagte Michel Foucault in seinem letzten Interview. »Mein ganzer philosophischer Werdegang war durch meine Heidegger-Lektüre bestimmt. Ich gebe aber zu, daß Nietzsche ihn überwogen hat. Ich kenne Heidegger ungenügend, praktisch kenne ich weder Sein und Zeit, noch seine neulich herausgegebenen Sachen. Meine Nietzsche-Kennt84

die Konstellation, in der diese andauernde Tendenz der spätbürger-lichen Geistigkeit neue Kraft gewinnt und mit dem Reiz der Neuigkeit zutage tritt. Dieses Novum - der heutige Krisenzustand der bürgerlichen Gesellschaft, samt den sozialen Entwicklungen infolge der Umwälzung der Technik, der ökologischen Spannungen, der Bedrohung durch einen thermonuklearen Krieg, des ungleichmäßigen und widersprüchlichen, nichtlinearen Ganges der Klassenkämpfe usw. - befindet sich in der Geschichte einer Gesellschaftstotalität, deren Hauptkoordinaten und fundamentale Bewegungsgesetze Marx erschloß bzw. deren Werdegang auf Grund der Marxschen Theorie zu eruieren ist. »In der Lawine gibt es entweder nur oder keine Decadence« 59 , so Emst Jüngers Maxime. An anderer Stelle schreibt er: »Der Untergangsstimmung, wie sie sich in unseren Tagen entwickelt, fehlt jedes Gegengewicht.« 60 Diese postmodernen Maximen scheinen dem Diktum Paul Valérys verwandt, der als Repräsentant der Moderne gilt: »Und wir sehen jetzt, der Abgrund der Geschichte sei groß genug für die ganze Welt.«61 Die gegenwärtige historische Situation ist aber nicht bloß eine Lawine, obschon in ihr die Möglichkeit von Lawinen liegt; sie ist nicht bloß ein Abgrund, obschon es in ihr die Lockung und die Realität geschichtlicher Abgründe gibt; denn über den Abgründen drohen Stürme, treffen gegensätzliche Sturmböen aufeinander, und unter den Abgründen vollziehen sich tektonische Verschiebungen in der Tiefe der sozialen Wirklichkeit. Dieselbe Krise, die in der Philosophie der Postmoderne mystifiziert und in dieser mystifizierten Gestalt als Beweis gegen Marx und den Marxismus vorgeführt wird, erweckt aufs neue das Interesse für Marx und den Marxismus. 62 nis ist viel besser als die, die ich von Heidegger habe; trotzdem ist es gewiß, daß ich diese beiden grundlegenden Erfahrungen gemacht habe ... Ich habe aber nie etwas über Heidegger geschrieben und über Nietzsche lediglich einen ganz kleinen Artikel; dennoch las ich diese beiden Autoren am meisten.« Und Foucaults lapidar gezogenes Fazit: »Ich bin einfach Nietzscheaner ...« (In: Les Nouvelles littéraires des arts, des sciences et de la société, 28. 6. 1984, p. 40.) - Zum Thema Nietzsche als Vorläufer der Philosophie der Postmoderne vgl. auch I. Hassan, The Right Promethean Fire, a. a. O., pp. 93ff., 144. » E. Jünger, Werke, Bd. 6, Stuttgart o. J., S. 335. 60

Ebenda, S. 536.

62

Vgl. u. a. die Überlegungen des (Marx-kritischen) Buches von D. McLellan,

61

P. Valéry, Œuvres, vol. I, Paris 1957, p. 988.

Karl Marx: The Legacy, London 1983, p. 179.

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Auch in bezug auf die Philosophie gilt kaum Emst Jüngers Metapher der einzigen, alles mitreißenden Lawine, wo entweder alles Dekadenz sei oder es keine Dekadenz gebe. Unter anderem kontrastieren zwei neuere Entwicklungen des philosophischen Denkens mit der Postmoderne: zum einen die philosophisch bewußt werdenden dialektischen Ansätze und Fragestellungen, die dem Gange der naturwissenschaftlichen Erkenntnis entwachsen, zum anderen das Wiedererscheinen des Materialismus im nicht-marxistischen Denken, aber außerhalb der grundlegenden Struktur der spätbürgerlichen Philosophie. Verklärt die Philosophie der Postmoderne den Abgrund der Posthistoire, des Postrationalen, Postphilosophischen zur Zeitsignatur und zum Urgebilde von Geschichte, Erkenntnis und Philosophie schlechthin, so vertritt Marx' Denken das rationale Begreifen der Geschichte, die historische Betrachtung der Vernunft, die Daseinsberechtigung und Existenz der wissenschaftlich-theoretischen Philosophie: Es ist der Antipode zum neuen Aufzug des Nihilismus. Den Leitgedanken dieses Nihilismus Nietzschescher Provenienz und Prägung formulierte Gottfried Benn Anfang der vierziger Jahre: »Es wurde gebüßt durch die Trennung von Ich und Welt, die schizoide Katastrophe, die abendländische Schicksalsneurose: Wirklichkeit. Ein quälender Begriff, und er quälte alle, die Intelligenz unzähliger Geschlechter spaltete sich an ihm. Ein Begriff, der als Verhängnis über dem Abendland lastete, mit dem es rang, ohne ihn zu fassen, dem es Opfer brachte in Hekatomben von Blut und Glück, und dessen Spannungen und Brechungen kein natürlicher Blick und keine methodische Erkenntnis mehr in die wesenhafte Einheitsruhe prälogischer Seinsformen abzuklären vermochte.« 63 Dieser philosophische Wirklichkeitsverlust und Wirklichkeitsverdacht sind das gemeinsame Ergebnis von Lebensphilosophie und Positivismus, das durch Heideggers Seinsphilosophie nur dem Anschein nach überwunden, dem Wesen nach jedoch radikalisiert wird. Scheint die »Seinsvergessenheit« den Wirklichkeitsverlust zu beklagen, so verabsolutiert sie ihn in Wirklichkeit, erklärt ihn für unwiderruflich und endgültig. Das letzte Ergebnis der Philosophie der Postmoderne (das etliche Befürworter derselben nicht anstreben, sondern vermeiden wollen) ist die abstrakt-pure 63

G. Benn, Gesammelte Werke, Bd. I: Essays, Reden, Vorträge, Wiesbaden 1959, S. 337.

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Negativität, die unwiderstehliche Macht des Prinzips des Bösen. Es scheint ein Chaos zu walten, aus dem keine Welt mehr entstehen kann 64 ; das Nichts, dieser schon veraltete Weltgott, scheint als trunkener Tyrann zu herrschen. Das Ergebnis ist endgültiger Verlust ohne jede Entschädigung - der Verlust von Erkenntnis und Wahrheit, von Wandel und Ausweg. Wird etwas behauptet, so statt der zurückgenommenen Dialektik die »Dekonstruktion« und die Ekstase65, statt der zurückgenommenen Vernunft die Unvernunft, statt der zurückgenommenen Objektivität das Fatum, statt des zurückgenommenen rationellen philosophischen Wissens das Schweigen66, in dem nur die ferne Stimme der heiligen Botschaft zu hören, das Wort des Mythos, des Glaubens zu vernehmen sei67. Angesichts des postmodernen Nihilismus tritt Marx' materialistische Dialektik als die philosophische Wiedergewinnung der Realität zutage. Ihrem Selbstverständnis nach geht die Philosophie der Postmoderne infolge der Verwindung von Geschichte, Rationalität und wissenschaftlicher Philosophie - über Marx hinaus: Die Postmoderne versteht sich als eo ipso postmarxistisch. Als latenter oder genannter Gegenstand der postmodernen Kritik an der »klassischen Rationalität« gelten Marx und der Marxismus. Es gibt zwar Bestrebungen, Marx der Postmoderne einzuverleiben, ihn zum Denker der »Dekonstruktion« umzudeuten 68 , in der Philosophie der Postmodeme überwiegt aber die Tendenz, Marx und den Marxismus der »klassischen Rationalität« unterzuordnen und samt dieser für veraltet zu erklären: Was der Philosophie der Postmoderne abhanden 64

65

66

67

68

Vgl. W. Wilde, Horizons of Assent. Modemism, Postmodemism, and the Ironie Imagination, Baltimore and London 1981, pp. 136ff. »Es ist nicht mehr die Dialektik am Werk, sondern die Extase.« (J. Baudrillard, Les stratégies fatales, Paris 1983, p. 59) »Schweigen impliziert Entfremdung von Vernunft, Gesellschaft und Geschichte, eine Reduktion aller Verpflichtung in der geschaffenen Welt der Menschen, vielleicht eine Aufhebung jeder Gemeinschaftsexistenz. Sein radikaler Empirismus widersetzt sich den menschlichen Systemen, er sprengt sie sogar ... Schweigen entwirklicht die Welt.« (I. Hassan, The Dismemberment of Orpheus, a. a. O., p. 13.) Vgl. J. M. Perl, Giving the Word back to God, in: The Times Literary Supplement, 25. 10. 1985, p. 1214. Vgl. R. Schürmann, Anti-Humanism. Reflections on the Tum towards the PostModem Epoch, in: Man and World, 2/1979; M. Ryan, Marxism and Deconstruetion. A Critical Examination, Baltimore and London 1982.

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gekommen scheint, ist »die Möglichkeit, die Zukunft zu antizipieren und zu gestalten« 69 - also die Daseinsberechtigung marxistischer Erkenntnis und Handlung. Die Negativität der Philosophie der Postmoderne verneint das Denken von Marx, vor allem die materialistische Dialektik und die Idee der revolutionären Umwälzung der Gesellschaft; diese negative Beziehung zu Marx gehört zu ihrer Wesensbestimmung. Die Philosophie der Postmoderne ist im Schatten von Marx angesiedelt; sie vermag diesen Schatten weder abzuwenden noch aus ihm herauszutreten. Die Tatsache, daß die Philosophie der Postmodeme in ihrer Auseinandersetzung mit der materialistischen Dialektik die Geschichte und die Rationalität schlechthin »dekonstruiert«, die Moderne ablehnt, insofern der erste historische Typus des Begriffs der Moderne die Idee der rationellen Aneignung der Natur und der Wandlung der Gesellschaft war, bestätigt ex negativo, daß die philosophische Theorie der materialistischen Dialektik im Gang der menschlichen Erkenntnis und Emanzipation tief verwurzelt ist. 69

C. Pasquinelli, Marxism in Crisis: The Decline of the Marxist Myth, in: Rethinking Marx, ed. by S. Hänninen and L. Paldän, Berlin (West) 1984, p. 24. In der geistigen Atmosphäre der Philosophie der Postmoderne sei die »Krise der Vernunft« als »die Liquidation des Marxismus und der zentralen Stellung der Arbeiterschaft« auszulegen. (Vgl. M. Vegetti, Potenza dall'strazione e sapere dei soggetti, in: aut aut, 175-176/1980, p. 5) - Zur marxistischen Antikritik an der Marx-Kritik dieser Art vgl. u. a. Marx e i suoi critici. A cura di G. M. Cazzaniga, D. Losurdo, L. Sichirollo, Urbino 1987.

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PERITI KARKAMA

(Turku)

Lebensphilosophie, Moderne und Postmoderne

Zur Einleitung Manche Theoretiker, die in letzter Zeit bekannt geworden sind (Barthes, Bourdieu, Derrida, Lyotard), haben zu der Diskussion beigetragen, was man unter Modernismus und Postmodemismus eigentlich versteht. In dieser Diskussion hat man oft auf die Beziehung zwischen Modernismus, Avantgardismus und Postmodernismus hingewiesen.' Das ist verständlich, weil der Begriff des Postmodernismus schon an sich den Begriff des Modernismus impliziert. Es ist natürlich nicht sinnvoll, das Wesen der Postmoderne zu diskutieren, ohne zuvor geklärt zu haben, was unter Modernismus zu verstehen sei. Nicht selten verbindet sich damit auch die Frage, ob es sich bei der Postmoderne um eine progressive oder eine konservative Richtung handele. Beide Standpunkte haben ihre Anhänger.2 In der vorliegenden Arbeit wird darauf nicht eingegangen. Dies ist erst möglich, wenn die obenerwähnten Begriffe wenigstens theoretisch definiert worden sind. Sie können m.E. nur dann vernünftig bestimmt werden, wenn man die Tätigkeit beachtet, als deren Ergebnis ein modernes oder postmodernes Werk entsteht. Ohne Intentionen und/oder Motivationen ist kein menschliches Handeln möglich. Völliger Absurdismus ist nur in einer fiktiven Welt möglich. Ein Mensch, der in einer vollständigen Anomie lebt, ist nur da, existiert ohne irgendeinen Gedanken, der sein Leben leitet. Er ist wie Becketts Molloy oder wie Oblomow bei Gontscharow. Was sollen nun aber die Intentionen und Motivationen der modernen und postmodernen künstlerischen Tätigkeit sein? Man braucht, glaube ich, keine tiefen Einsichten, um wahrzunehmen, daß die allgemeine Motivation des Modernismus diejenige Weltanschauung gewesen ist, die man 1

2

Vgl. A. Huyssen, Postmoderne - eine amerikanische Internationale, in: A. Huyssen/K. Scherpe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 14, 16, 27. Ebenda, S. 31.

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lebensphilosophisch nennen kann. Ohne tiefe literaturgeschichtliche Kenntnisse läßt sich feststellen, daß die bekannten Modernisten vertraut waren mit den Lehren der führenden Lebensphilosophen (Schopenhauer, Kierkegaard, Nietzsche, Bergson, Husserl, Freud, Simmel, Heidegger). Wenn man vom Einfluß der Philosophie auf die Literatur spricht, muß man natürlich beachten, daß es sich dabei um keine unmittelbare Übertragung der philosophischen Gedanken auf die Literatur handelt. Es geht vielmehr darum, daß sich die Lebensanschauungen der Schriftsteller und Dichter auf Grund ziemlich freier Interpretationen der philosophischen Texte gestalteten, welche dann als thematische Grundlagen und formschaffende Prinzipien beim Schreiben der Werke wirkten. Der gemeinsame Nenner der lebensphilosophischen Lehren ist eine gewisse Abstraktion. Die Lebensphilosophen abstrahieren die konstitutiven Bestimmungen der Menschen und ihres Daseins, die sie durch die Arbeit mit der Natur und Gesellschaft zusammenbringen. Sie meinen, der Mensch sei nur eine Funktion des Lebens und das Leben nur eine passive Leidenschaft, nur Passion.3 Der Mensch als aktives und tätiges Mitglied der gesellschaftlichen und kulturellen Praxis, als dynamische Persönlichkeit, ist ihnen fremd. Aus der Sicht der Lebensphilosophen ist der Mensch ein seinem Dasein gegenüber fremdes Wesen, ein Opfer der blinden unbewußten Lebenskräfte. In der schönen Literatur finden wir diese Auffassung als Tautologie vor: »Das Leben ist Leben.« Wie im Werk Kafkas wird das Leben faktisch verabsolutiert. Natürlich gibt es zwischen den verschiedenen lebensphilosophischen Lehren auch große Unterschiede. Diese zeigen sich am deutlichsten in der Interpretation derjenigen Kraft, die den Lebenslauf determinieren soll (Wille, Wille zur Macht, élan vital, Libido usw.). Unterschiede kann man auch in den verschiedenen Annahmen der Philosophen darüber finden, wie der Mensch sich von der Gewalt des Lebens befreien könne. Es ist üblich, die Befreiung in einem Leben oder einer Welt zu suchen, in der das Alltagsleben keinerlei Bedeutung hat. Die Lebensphilosophen sind nicht darauf aus, daß sich der Mensch in der gesellschaftlichen Arbeit reproduziert.4 Die Lebensphilosophie und einen großen Teil des Moder3

Das Leiden als Wesen des Lebens im modernen lebensphilosophischen Sinne hebt schon Schopenhauer in seinem Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung« hervor (vgl. bes. § 56).

4

Zu diesem Problem vgl. P. Karkama, Hegel ja modernismi (Hegel und der

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nismus charakterisieren Abstraktion und Negation. Die Negation muß hier in der Bedeutung aufgefaßt werden, die Hegel ihr in seiner »Wissenschaft der Logik« gegeben hat.5 Ich gehe im folgenden von der Annahme aus, daß die moderne Wortkunst auf einer Tätigkeit basiert, die ihren Gehalt in der lebensphilosophischen Abstraktion und Negation hat. Modernismus, Avantgardismus und Postmodernismus als handlungstheoretisches Problem Nach dem oben Gesagten gründet sich die moderne Wortkunst auf die Auffassung, daß die biologischen und gesellschaftlichen Bestimmungen des Menschen etwas Unwesentliches seien und der Mensch eine Funktion seines Lebens sei. Diese Auffassung motiviert die Tätigkeit, die zur Geburt eines modernen Kunstwerkes führt. Eine solche Tätigkeit kann nicht anders als bedingt sein; sie muß gesellschaftliche, kulturelle und künstlerische Voraussetzungen haben. Das bedeutet, daß ein als Ergebnis solcher Tätigkeit entstehendes Werk nicht autonom sein kann. Die lebensphilosophische Motivation fungiert gewöhnlich als ein formatives Prinzip, als Thema, um das sich das Werk sowohl als Text wie auch als eine fiktive Welt baut.6 Allgemein kann man annehmen, daß die lebensphilosophische Motivation im Werk nur mit Hilfe der Metapher ausdrückbar ist. In einem modernen Wortkunstwerk schwächen sich die symbolischen Bedeutungen, die in der Romantik auf fertige Interpretationen der Wirklichkeit (Objektivationen) hinweisen, ebenso ab, wie die referentiellen Bedeutungen, die auf die realen Objekte deuten, wie im Realismus oder Naturalismus. Die metaphorischen Zeichen weisen auf die labilen Erleb-

5

6

Modemismus), in: Impivaara ja yhteiskunta (Jungfrauberg und Gesellschaft), Oulu 1985, S. 222-235. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1983, S. 49. Zur lebensphilosophischen Funktion der Literatur in diesem Sinne vgl. z. B. M. Bachtin, Sisällön, materiaalin ja muodon ongelma sanataiteessa (Das Problem des Inhalts, des Materials und der Form in der Wortkunst), in: Kirjallisuuden ja estet ikan ongelmia (Probleme der Literatur und Ästhetik), Moskau 1979, S. 8ff.

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nisse, auf die Erlebniswelt des Autors, die sich auf diese Weise in die fiktive Welt und in einen werkimmanenten Zeichenprozeß verwandelt. Das hat zur Folge, daß es nicht leicht ist, die Widerspiegelungsrelation des Werkes und die Voraussetzungen der künstlerischen Tätigkeit zu verifizieren. Darum erscheint das Werk autonom. Die gebrauchten Metaphern spiegeln jedoch vermittelt eine Wertrelation zur Wirklichkeit und zugleich eine gesellschaftlich und kulturell bedingte Interpretation der Wirklichkeit wider. Da die meisten Theoretiker des Modernismus und des Postmodernismus ihre Lehren auf die Grundlage sowohl der modernen Dichtung als auch der Auffassungen der Lebensphilosophen stellen, können die Theorien lückenlos scheinen, was sie in gewisser Hinsicht auch sind. Eine adäquate Theorie müßte jedoch offen bleiben, um alle Richtungen und Strömungen so vollständig wie möglich analysieren, schildern und erklären zu können. Alles in allem erweckt die modernistische und postmodernistische Theorie den Eindruck, die ganze Untersuchung sei ein Kreis, in dem alle Momente, der Gegenstand, die Theorie und die philosophischen Grundlagen, einander ergänzen. Weil es sich um eine menschliche und darum motivierte, gesellschaftlich und kulturell bedingte Tätigkeit handelt, herrscht zwischen den verschiedenen Strömungen kein absoluter Unterschied. Anderenfalls müßte man davon ausgehen, daß es in der Geschichte ein endgültiges Ende und einen Anfang geben könne, der insofern absolut ist, als er auf keine Vergangenheit Bezug nimmt. Einen solchen Bruch kann man theoretisch nur damit begründen, daß man extrem individualistischen Prinzipien folgend nur die Unterschiede reflektiert, d. h. die reale Dialektik von Identität und Unterschied ignoriert. Das Problem berührt die Frage nach dem Subjekt des literarischen Werkes.7 Betrachtet man die Auffassungen der Theoretiker des Postmodernismus näher, erkennt man leicht, welchen Einfluß die Lebensphilosophie Friedrich Nietzsches ausgeübt hat; allerdings sind dessen Einsichten oft eklektisch herangezogen worden.8 Das dient natürlich dazu, den Eindruck eines 7

8

Zur Frage des Subjekts in diesem Sinne vgl. R. Barthes, S/Z, Frankfurt a. M. 1976, S. 141, und M. Foucault, Schriften zu Literatur, Frankfurt a. M. 1979 (bes. der Artikel »Was ist ein Autor«). Vgl. A. Huyssen, Postmoderne - eine amerikanische Internationale, a. a. O., S. 39.

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Kreislaufs zu verstärken. Jedenfalls ist zu konstatieren, daß die Lebensphilosophie eine wichtige Rolle sowohl in der postmodernen Literatur als auch in ihrer Theorie spielt. Das Problem ist handlungstheoretisch äußerst interessant. Betrachtet man die verschiedenen Strömungen als Ergebnisse von Tätigkeit, sind zunächst die intentionale und die motivierte Tätigkeit zu unterscheiden.' Unter der intentionalen kann man in einer begrenzten Bedeutung eine solche Tätigkeit verstehen, deren Zweck wahrnehmbar und aufzeigbar ist. Die Intention eines Studierenden kann es z.B. sein, seine Studien zu Ende zu bringen. Demgegenüber hat motivierte Tätigkeit ein bestimmtes Ziel und einen bestimmten geistigen Gehalt. Ein Student kann seine Studien damit begründen, daß er Kultur kennenlernen will. Sowohl die intentionale als auch die motivierte Tätigkeit kann nun autotelisch oder heterotelisch sein. Autotelisch heißt die Tätigkeit, wenn der Zweck und/oder das Ziel handlungsimmanent sind und die Zwecke und Ziele sich ständig verändern. Die autotelische Tätigkeit kann man auch als kreative Tätigkeit bezeichnen. Heterotelisch ist demnach die Tätigkeit, deren Zweck und/oder Ziel fertig vorliegen und unveränderlich sind. Die Aufgabe des Handelnden ist es dann nur, die gegebenen Zwecke und Ziele technisch so effektiv wie möglich zu realisieren. Dabei kann es sich z.B. um eine technische Operation oder um die praktische Verwirklichung eines politischen Programms handeln. In manchen Literaturtheorien, die sich auf den Gedanken der Autonomie literarischer Kunstwerke gründen, hat man oft die intentionale Natur der künstlerischen Tätigkeit verneint (New Criticism, ein Teil des Strukturalismus, heutige textuale Richtungen). Andererseits kann man in den heutigen poststrukturalistischen Theorien eine Tendenz zur Negation der Bedeutung weltanschaulicher Motivationen für künstlerische Tätigkeit wahrnehmen. Nach Auffassung der Theoretiker des Modernismus und Postmodemismus ist die künstlerische Tätigkeit sowohl nichtintentional als auch unmotiviert. Es geht hier wieder um das Problem der Vorausset9

Zu den handlungstheoretischen Begriffen siehe H. Arendt, Das Handeln, in: Handlungstheorien interdisziplinär, Bd. 2, 1. Hb.-Bd., hrsg. von H. Lenk, München 1978; G. Brand, Phänomenologie des Handelns, in: ebenda; A. N. Leontjew, Toiminta, tietoisuus, persoonallisuus (Tätigkeit, Bewußtsein, Persönlichkeit), Helsinki 1977, bes. S. 156-168; P. Karkama, Sanataide, maailmankatsomus, persoonallisuus (Wortkunst, Weltanschauung, Persönlichkeit), Oulu 1987.

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zungslosigkeit des menschlichen Handelns. Tatsächlich verstehen jedoch die Theoretiker die Tätigkeitsformen zu eng. Sie beachten nicht die mögliche Autotelie der Tätigkeit. Auch in dieser Hinsicht ähneln die Theoretiker des Modernismus den Lebensphilosophen. Nach Schopenhauer zum Beispiel war das ganze Leben des Menschen gewissermaßen motiviert. Damit meinte er jedoch nur, daß die Tätigkeit innerhalb der materiellen Wirklichkeit, also auf dem Gebiet der Kategorien des Verstandes (Raum, Zeit, Kausalität), stattfindet.10 Alle geistigen Gehalte der menschlichen Tätigkeit galten ihm lediglich als Pseudomotivationen, die die Menschen erdichten, um dem völlig determinierten Leben einen Sinn geben zu können. Die Kritik der Intentionen und der Motivationen hängt gewöhnlich eng mit der Kritik der positivistischen Wissenschaft und ihres idealistischen Dualismus zusammen. Darum ist es verständlich, daß auch die heutige moderne und postmoderne Theorie negativ gegen Intentionen und Motivationen eingestellt ist. Nach dieser Theorie binden Intentionen und Motivationen den Menschen in eine notwendige und affirmative Beziehung zur herrschenden positiven Wirklichkeit. Die kreative künstlerische Tätigkeit ist ihrer Natur nach autotelisch. Die wirklich kreative Tätigkeit kann keine fertig vorliegenden und unveränderlichen Zwecke und Ziele haben, die mit Hilfe der künstlerischen Mittel nur verwirklicht werden. Die künstlerische Tätigkeit kann man intentional nennen, wenn sie dazu tendiert, eine bestimmte Formtradition, eine textuale Form, zu realisieren. Auch in dieser Hinsicht ist aber die Tätigkeit autotelisch, weil die Formtradition nicht unbedingt den Autor bindet, sondern ihm die Freiheit läßt, das von der Tradition gegebene Schema während des Aktes des Schreibens zu transformieren. Die künstlerische Tätigkeit ist motiviert in dem Sinne, daß sie als ihren Ausgangspunkt eine künstlerische Idee hat. Die künstlerische Idee ist kein unveränderlich gegebenes Interpretationsmodell der Wirklichkeit. Sie ist ein Leitgedanke, der die Tätigkeit weiterführt, sie frei motiviert und sich auch während des Schreibens verändert. Im Werk, im Ergebnis der Tätigkeit, realisiert sich die Idee als sein Thema. Die ursprüngliche Idee wird also im Werk thematisiert. Intentionen und Motivationen sind in der Praxis eng und organisch miteinander verbunden. Sie sind Momente ein und derselben Tätigkeit und 10

A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, bes. §§ 20 und 23.

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bilden eine dialektische Einheit. Die Geschichte der Kunst und Literatur zeigt, daß die verschiedenen Zeiten und Richtungen bald das eine, bald das andere Moment hervorgehoben haben. Im Klassizismus wurde die intentionale Seite betont, was sich als eine formale Poetik (ars poética) widerspiegelte. Andererseits wissen wir auch, daß in der Intentionalität zur Zeit des Klassizismus ein einheitliches Weltbild bestand." In der Romantik wurde dagegen die Motivationskomponente der ästhetischkünstlerischen Tätigkeit betont, und die romantisch-idealistische Ästhetik begann, den Begriff der künstlerischen Idee zu verwerten.12 Die Romantik setzte gegen das einheitliche Weltbild des Klassizismus ihre eigene, besondere Weltanschauung, die auch die künstlerische Tätigkeit motivierte.13 Man könnte nun annehmen, daß auch die verschiedenen Richtungen der modernen Literatur, der eigentliche Modernismus und der Avantgardismus, handlungstheoretisch voneinander unterschieden werden können, ebenso Modernismus und Postmodemismus. Ohne Zweifel unterscheiden sich zum Beispiel Surrealismus und Expressionismus vom Dadaismus bezüglich der Intentionen und Motivationen. Im Surrealismus dürfte das Ziel darin liegen, eine neue Lebensauffassung vorzustellen und die konventionelle zu negieren. Weiter gedacht, scheint auch der Dadaismus seine eigenen Motivationen zu haben, wenigstens die der Zerstörung der bürgerlichen Kunstinstitution. Auch da geht es aber um die Zersplitterung einer institutionalisierten und zu ideologischen Zwecken gebrauchten Form. D i e Intentionalität in der modernen Dichtung läßt sich mit H i l f e e i n e s extremen Falles, d e m der Computerdichtung, veranschaulichen. Z w e c k " Die klassizistische Poetik, z. B. »L'art poétique« von Boileau-Despréaux (1674), ist in handlungstheoretischer Hinsicht nur eine Sammlung von Regeln, die die ästhetisch-technische Tätigkeit leiten. 12

Zu diesem Problem vgl. bes. die materialistisch-handlungstheoretisch orientierte Arbeit von St. Dietzsch, Zeit - Geschichte - Kunst. Zur Struktur von Schellings »System des transzendentalen Idealismus (1800)«, in: Natur - Kunst - Mythos. Beiträge zur Philosophie F. W. J. Schellings, hrsg. von St. Dietzsch, Berlin 1978, S. 91-106.

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Unter dem Begriff des Weltbildes wird hier eine einheitliche und allgemeine Weltauffassung verstanden, die von den geistigen Objektivationen der Zeit herzuleiten ist und die darum kein beweisbares individuelles oder besonderes Subjekt hat. Die Weltanschauung ist das individúen-, gruppen- oder klassenspezifische Weltbild, also eine individuelle oder besondere Interpretation des allgemeinen Weltbildes.

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der Computerdichtung ist es, einen Text zu konstruieren, aus dem alle sprachlichen Normen getilgt worden sind. Ein solcher Text wäre der Struktur nach ganz stochastisch, und die Menge der statistischen Information des Textes wäre praktisch unbegrenzt. Die Intentionen sind in diesem Falle technisch, sie scheinen keinen geistigen Gehalt zu haben. Die einzige denkbare Motivation wäre offenbar das technische Experimentieren. Man muß aber erinnern, daß die Informationsästhetik zu ihrer Zeit auch andere, künstlerische Gründe gefunden hat (Max Bense). In der Computerdichtung identifizieren sich faktisch die technischen Intentionen und Motivationen. Nur dadurch kann ein Werk eine absolute Negation der Tradition sein. Der extreme Dadaismus oder »Finnegans Wake« von Joyce kommen einer solchen absoluten Negation nahe. In der modernen Literatur findet man auch solche Werke, die sich auf eine heterotelische Tätigkeit zu gründen scheinen. Der expressionistische Künstler scheint oft nur das gegebene programmatische Ziel ausdrücken zu wollen. Die Lebensphilosophien und jene künstlerischen Richtungen, die ihre Wurzeln in lebensphilosophischen Ansichten haben, bringen oft voluntaristische Utopien und Illusionen hervor, denen die Werke dann dienen. Die lebensphilosophische Tendenz, die konventionelle Lebensform zu verneinen, erzeugt oft Phantasiegebilde einer nach abstrakten und formalen Möglichkeiten erbauten Welt. Besonders in der expressionistischen Dichtung hat die Utopie oft die Form der sozialen und sozialistischen Utopie. In der finnischen Literatur kann man diese Alternative klar feststellen, wenn man die Produktionen der verschiedenen schwedischsprachigen Dichter miteinander vergleicht. Sowohl Södergran, Olsson, Diktonius als auch Björling und Enckell sind alle in bestimmter Weise Lebensphilosophen. Ihre Werke und Auffassungen unterscheiden sich jedoch deutlich voneinander. Es sei noch einmal daran erinnert, daß es keine absolute Differenz zwischen den Dichtern gibt. Es geht um verschiedene Tendenzen innerhalb der modernen Richtung. Den motivierten Charakter der modernen Wortkunst erhellen in einer wesentlichen Weise die Begriffe der Ironie und des Paradoxons. Diese Begriffe wurden oft verwendet, um das Wesen der modernen Literatur zu kennzeichnen.14 Wenn eine Tätigkeit keinerlei Motivationen und demnach 14

Zum Begriff der Ironie in diesem Sinne vgl. B. Allemann, Ironie und Dichtung, Stuttgart 1969, S. 40-49 und 92-98; C. J. Glicksberg, The ironie vision in modern literature, The Hague 1969, S. 39-62 und 71-73.

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auch keinerlei Voraussetzungen hat, ist sie eine totale und absolute Negation der früheren Tradition. Das zeigt das Beispiel der Computerdichtung. Eine solche Wortkunst kann man kaum als ironisch oder paradox bezeichnen. Ironie und Paradoxon setzen unbedingt ein produzierendes und rezipierendes menschliches Subjekt voraus. Wenn man die Negation als ironisch oder paradox charakterisiert, gleitet man sogleich aus dem Schattenreich der reinen Logik in die reale Welt der Menschen, die kulturell und gesellschaftlich bestimmt sind.15 Ironie und Paradoxon sind inhaltlich bestimmt. Beide sind Ausdrücke negativer Tendenzen des Modernismus. In dieser Hinsicht sind sie aber immer Negationen eines Anderen. Jenes Andere bedingt die ironische und paradoxe Negation. Die reine Negation ist in der menschlichen Wirklichkeit unmöglich. Ironie und Paradoxon spiegeln die lebensphilosophische Abstraktion und darum auch eine Beziehung zur Wirklichkeit wider. Sie haben beide ihre realen Subjekte. Die moderne Wortkunst ist eine Kultur der Negation, sie ist aber nicht autonom. Betont man diejenige Intention, welche die Form zum Gegenstand hat, kommt man leicht zu der Auffassung, daß das Ergebnis der Tätigkeit eine Negation der Tradition und die Negation absolut sei. Die abstrakte Idee der absoluten Negation gebiert den Begriff der Voraussetzungslosigkeit. Wenn man anstatt des Gehalts aber die Tätigkeit hervorhebt, stellt man die Negation ins Verhältnis zu dem zu Negierenden. Oft hat eine solche relative Negation eine voluntaristische Utopie zur Folge. In einem solchen Fall ist die Negation mit einem Prinzip der Hoffnung verknüpft/Das Prinzip der Hoffnung seinerseits steht im Widerspruch zur prinzipiellen Hoffnungslosigkeit des Existentialismus.16 Wenn man die Motivationen der Tätigkeit hervorhebt und also die Negation relativ ist, geht es nicht mehr um eine einfache Negation, sondern um die Aufhebung. Unter der Aufhebung versteht man bekanntlich eine solche Negation, die ihr Verhältnis zum Negierten bewahrt und dessen lebendigen Teil in sich einschließt.17 Die Aufhebung setzt voraus, " G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, a. a. 0., S. 53-56. 16 Sehr fruchtbar in diesem Sinne ist der Vergleich der Auffassungen und Bestimmungen von E. Bloch (bes. in: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M., 1959, S. 356f.) und z. B. von J.-P. Sartre (bes. in: L'être et le néant, Paris 1943, S. 37-84). 17 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, a. a. O., S. 114: »Auflieben hat in der Sprache den doppelten Sinn, daß es soviel als aufbewahren, erhallen bedeutet 7 Buhr, Moderne

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daß aus dem Verhältnis zwischen Negiertem und zu Negierendem eine dritte Möglichkeit entsteht, die qualitativ den Ausgangspunkt überschreitet. Man kann den Modernismus im engeren Sinne als eine moderne Literatur bezeichnen, in der die intentionale Negation betont wird. Avantgardismus hingegen hieße dann eine solche moderne Dichtung, in der auch die weit- und lebensanschaulichen Motivationen eine Rolle spielen. Der Modernismus wäre nach dieser theoretisch-philosophischen Auffassung negativ, der Anvantgardismus dagegen aufhebend. Beim Gebrauch solcher Bestimmungen ist jedoch Vorsicht geboten, weil sie nicht dem üblichen und gewiß nicht dem alltäglichen Sprachgebrauch entsprechen. Auch geht es hier nur um moderne Tendenzen innerhalb der Literatur, wohingegen es in der geschichtlichen Wirklichkeit keine absolute Negation und darum auch keine absoluten Unterschiede geben kann. Es bleibt zu klären, wie sich der Postmodernismus zu den anderen modernen Richtungen verhält. Wenn man den Theoretikern des Postmodemismus glauben kann, geht es um eine ganz neue und radikale Form der Negation. Bevor man darüber urteilt, empfiehlt sich jedoch eine kleine wissenschaftliche Exkursion in das Gebiet der Lebensphilosophie und der postmodernen Theorie. Der Begriff des Über-Lebens bei Nietzsche: ein kurzer Ausflug in die Philosophie der Negation Der Einfluß Nietzsches auf die moderne Dichtung ist unbestreitbar. Die Interpretationen der Lehre Nietzsches sind aber zahlreich und widersprechen einander oft. In der finnischen Literatur sind solche Einflüsse sowohl in der Neuromantik (Eino Leino u. a.) als auch in den modernen Richtungen (Edith Södergran, Elmer Diktonius u. a.) festzustellen. Der Grund für diese Widersprüchlichkeit kann natürlich die metaphorische Zweideutigkeit des Nietzscheanismus sein. Andererseits gibt es Grund zu der Annahme, daß es nur um moderne Züge in der Neuromantik geht. Wie auch Andreas Huyssen bemerkt hat, war Nietzsche einer der Philosophen, die auch diejenigen Richtungen der Literatur wesentlich beeinflußt und zugleich soviel als aufhören lassen, ein Ende machen. Das Aufbewahren selbst schließt schon das Negative in sich, daß etwas seiner Unmittelbarkeit und damit einem den äußerlichen Einwirkungen offenen Dasein entnommen wird, um es zu erhalten.«

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haben, die man postmodern nennen kann. 18 Es geht also genaugenommen um Nietzscheanismus, nicht um die Philosophie Nietzsches; es geht um die weltanschaulichen und lebensphilosophischen Wirkungen seiner Lehre. Um sie zu erfassen, ist keine Detailanalyse von Nietzsches Philosophie erforderlich, sondern eine Untersuchung ihrer lebens- und weltanschaulich wesentlichen Züge. Dabei besteht allerdings die Gefahr, der unendlich langen Reihe von Nietzsche-Deutungen eine weitere hinzuzufügen. Eine andere Möglichkeit gibt es jedoch nicht. Wie zahlreiche Literaturforschungen gezeigt haben, sind die Schriftsteller in ihren Auffassungen hauptsächlich von folgenden Werken Nietzsches beeinflußt worden: »Also sprach Zarathustra«, »Jenseits von Gut und Böse«, »Zur Genealogie der Moral« und »Die fröhliche Wissenschaft«. 19 Wir wissen, daß der Ausgangspunkt Nietzsches sowie der anderen Lebensphilosophen in der Rebellion gegen Leere, Moralismus, Flachheit und Angst des kleinbürgerlichen Lebens lag, gegen ein Zerrbild des Lebens, in welchem die großen Ideen zu Kleinsinn verflachen und Gehorsam und Untertanentum herrschen. Jenes Leben voller Untertanen, von denen sich immer irgendeiner über die anderen stellt; jenes Leben, das man als Passion erlebt, gebiert falsches Mitleid und falsche Empathie, falsche Liebe gegen den Nächsten. Als eine solche Rebellionslehre hat der Nietzscheanismus besonders stark auf junge Leute, die aus kleinbürgerlichen Kreisen stammten, gewirkt. Junge kreative und intelligente Menschen meinen oft, ihr Leben in der Leere des kleinbürgerlichen Alltags sei verfehlt, das enge Leben behindere die freie Tätigkeit, besonders aber heldenhafte Taten, von denen die traditionelle Literatur und Kunst erzählen. Der Nietzscheanismus spricht wohl vor allem Jugendliche in der Pubertät an, die gegen das fertiggebaute Leben der Älteren und die fertige Welt protestieren. Er ist in einem gewissen Sinne selbst dauernde Pubertät, die Revolte eines nie reif werdenden Menschen gegen die Notwendigkeit. 20 18

19

20



Zur Einwirkung Nietzsches vgl. A. Huyssen, Postmoderne - eine amerikanische Internationale, a. a. O., S. 33, und z. B. R. Barthes, Le plaisir du texte, Paris 1973, S. 55 und 99. Dieses Problem behandelt z. B. J. B. Foster in: Heirs to Dionysus. A Nietzschean current in literary modernism, Princeton 1981. Der Begriff der Pubertät wird hier nicht in der psychiatrischen, sondern in einer weiten philosophischen Bedeutung angewandt. Es geht um eine seelische Lage 99

Der Nietzscheanismus wurzelt nicht in der Erkenntnis oder im traditionellen Denken, sondern im Willen. Er richtet sich gegen alles, was bindet und begrenzt; niemand aber ist imstande, die Begrenzungen aufzuheben. Seine eigene Grundlage ist die Negation, obgleich seine Wurzeln tief in der kleinbürgerlichen Lebensform verhaftet sind. Er ist, wenn man so sagen darf, ein Protest des Kleinbürgers gegen die Kleinbürgerlichkeit und will etwas, was weder erkannt noch klar gestaltet ist. Grundlage des Nietzscheanismus ist ein klarer Dualismus zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Aktion und Passion, ein Dualismus, der tatsächlich den traditionellen Widerspruch zwischen Idealismus und Materialismus widerspiegelt. Wie die Geschichte des Nietzscheanismus zeigt, konnte er sowohl dem progressiven als auch dem reaktionären Denken dienen; er konnte eine Vorstufe sowohl der reaktionären als auch der revolutionären Tätigkeit sein. Nietzsche war zweifellos wahnsinnig, denn in einer engen kleinbürgerlichen Welt werden alle für wahnsinnig erklärt, die nicht anpassungsfähig sind und die einzige Möglichkeit zur Kreativität in der Negation finden.21 In der Lehre von Nietzsche wie auch anderer Lebensphilosophen (z. B. Bergson, Freud) wird sogar die Auffassung vertreten, daß Kreativität überhaupt Wahnsinn sei. Diese Auffassung lebt zum Beispiel noch in den Theorien der Psychoanalyse. Man denkt, daß die Persönlichkeit des kreativen Menschen nie eine Identität erreicht, sondern für immer im Unterschied verhaftet bleibt. Charakteristisch für einen wahren Künstler ist demnach eine ewige pubertäre Labilität, von der Wege in alle Richtungen ausgehen. Dieselbe persönlichkeitstheoretische Tradition begegnet uns bei manchen Theoretikern, die sich lebensphilosophische Ansichten angeeignet haben.22

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22

des Menschen, wo eine jedenfalls geglaubte Symmetrie der Möglichkeiten der Zukunft und der Alternative des Handelns herrscht. Dialektisch gesehen, geht es um ein Entwicklungsstadium, wo Anfang und Ende im Gleichgewicht stehen. Hier geht es nicht um die reale Krankheit Nietzsches, sondern um seine Auffassung über den Wahnsinn als Negation des Alltagslebens: »Seht, ich lehre euch den Übermenschen: der ist dieser Blitz, der ist dieser Wahnsinn«; »Kein Hirt und eine Herde! Jeder will das gleiche, jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus«. (F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, in: Friedrich Nietzsches Werke in sieben Teilen, T. 5, hrsg. und eingel. von W. Linden, S. 8 und 11.) Die Auffassung, daß Kreativität und Wahnsinn ihre Wurzeln in derselben seelischen Anlage haben, ist natürlich älter (Antike, Romantik).

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In der modernen Belletristik wurde diese Auffassung oft recht kritiklos akzeptiert. In Kunst und Literatur spiegelt das Typische eine humanistische Persönlichkeitsauffassung wider, in welcher die menschliche Persönlichkeit eine spannungsvolle, mithin dynamische Einheit der gesellschaftlichen, kulturellen und individuellen Eigenschaften und darum auch die Voraussetzung eines aktiven Lebens ist. Aus dem Modernismus verschwindet das Typische schon wegen des Einflusses der lebensphilosophischen Vorbilder. Die lebensphilosophische Auffassung vom Wesen des Menschen ist sowohl individualistisch als auch autistisch. Der Mensch ist ein Mann ohne Eigenschaften, eine Monade, die unaufhörlich und ruhelos sich und andere sucht. Die Negation bei Nietzsche hat ihre eigene, undialektische Bedeutung. Der Gegensatz zur Hegeischen Dialektik zeigt sich hier vielleicht am deutlichsten. Aus Nietzsches Sicht umfaßt das Leben sowohl Positionen als auch Negationen und ist demnach von Natur aus antagonistisch. Das Leben ist sowohl gut als auch böse, sowohl moralisch als auch unmoralisch. Das kleinbürgerliche Leben ist sowohl idyllisch als auch gewalttätig, die Ruhe des Lebens zeugt den Krieg, gegen die Massen stellt sich ein Eremit, der Kleinbürger ist zugleich ein Unmensch, Liebe ist eng mit Haß verbunden, im Staate walten Gesetzlosigkeit und Staatenlosigkeit. Weil diese Widersprüche Momente und Eigenschaften desselben Lebens sind, ist es unmöglich, eine Lösung für die Probleme des Lebens im Leben selbst zu finden. Nietzsche sowie die anderen Lebensphilosophen mußten eine Negation zweiten Grades finden, eine Negation, in der der Mensch sich über sein bisheriges Leben in einer Art »Über-Leben« erheben sollte. Dieses steht nicht mehr in einem dialektischen Verhältnis zum herkömmlichen Leben, sondern vollkommen außerhalb von ihm, jenseits von Gut und Böse. Das sogenannte Über-Leben ist nicht mehr relative Negation, sondern absolut, eine negatio absoluta. Nur ein Halbgott, Zarathustra, ist imstande, das neue Leben zu verkünden.23 Die Negation drückt Nietzsche mit dem Bild vom Besteigen der Berge aus. Da lebt man zusammen mit den Tieren Zarathustras, mitten in einer 23

Schon der Titel des Werkes »Also sprach Zarathustra« weist auf ein sehr interessantes und wesentliches Problem hin, das sowohl genetische als auch formale, narratologische Dimensionen hat. Es geht um die Frage, wer eigentlich das narratologische Subjekt des Werkes sei.

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metaphorischen Welt. Man lebt über allem, was dem alten Leben zugehört. Die Negation Nietzsches ist, genauer ausgedrückt, negatio sublata. Die sozusagen sublime Negation hat nichts mit dem christlichen Himmel zu tun, obgleich Nietzsche gern religiöse Bilder gebraucht.24 Der Übermensch, der im Über-Leben lebt, ist nicht Zarathustra, sondern der, den er verkündet. Nietzsches negatio absoluta sublataque hebt nichts auf, weil sie unbedingt und voraussetzungslos ist. Ihre Grundlage ist der Glaube an die Voraussetzungslosigkeit. Die Lehre Zarathustras ist in der von Nietzsche geschaffenen fiktiven Welt unbedingt. Die Lehre Nietzsches dagegen ist sowohl geschichtlich, gesellschaftlich als auch kulturell bedingt. Sie ist ein Versuch der resignierten und illusionslosen kleinbürgerlichen Intelligenz, eine Utopie zu gestalten, die in der fiktiven Welt als Motivation der Bewegung und zugleich als Ziel der Tätigkeit der fiktiven Figuren wirkt. Die Utopie motiviert das Streben nach dem Über-Leben, in dem der Übermensch sich verwirklichen könnte. Doch läuft der Glaube an die Botschaft Zarathustras Gefahr, daß die fiktive Lehre verabsolutiert wird. So kommt es, daß manche Jünger Nietzsches die fiktive Lehre als eine universale Wahrheit verkünden. Man sollte jedoch beachten, daß Nietzsche selbst sich oft ironisch zur Lehre Zarathustras verhält. Die Auffassungen der Epigonen verwandeln die fiktive Lehre erst in eine reale. Eine Fiktion wird so Motivation der realen Tätigkeit und Inhalt des realen Lebens. Eine urspünglich fiktive Lehre kann in der Wirklichkeit aber nur voluntaristisch, mit Gewalt realisiert werden. In der realen Welt, in der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, verwandelt sich die Fiktion in eine Lehre der Gewalt und die Idee des Übermenschen in die des Unmenschen. Der fiktiv dargestellte Übergang vom realen Leben in das Über-Leben bedeutet die Negation der traditionellen ideologischen und weltanschaulichen Formen sowie der Logik und Wissenschaft. Zugleich führt er zur Dekonstruktion der konventionellen sprachlichen Formen.25 Der Übergang in das Über-Leben und die neue Existenz kann nur mit Hilfe einer 24

Walther Linden spricht in der Einleitung zu den Werken Nietzsches von den »Umsetzungen der Evangelienerzählung von Christ ins Zarathustrisch-Lebensbejahende«. (In: Friedrich Nietzsches Werke in sieben Teilen, T. 5, a. a. O., S. XVII-XVIII.)

25

Z. B.: »Also sprach Zarathustra. Und damals weilte er in der Stadt, welche genannt wird: die bunte Kuh.« (F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, a. a. O.,

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solchen Sprache dargestellt werden, die alle kommunikativen und konventionellen Normen, Strukturen und Referenzen zerstört. Die Lebensphilosophen nähern sich der modernen Dichtkunst und treten in ihren Kreis. Das zeigen die von ihnen verfaßten Dichtungen. Der Leser solcher Dichtungen sieht sich in der Welt des Wahnsinns oder jedenfalls an der Schwelle, über die man in die neue Welt steigen muß. Die neue Sprache ist nicht mehr symbolisch; in der neuen Welt ist nichts mehr nur Gleichnis, denn da gibt es nichts, womit man etwas vergleichen könnte. Die neue Sprachwelt hat keine Referenz, sie deutet weder auf die reale objektive Wirklichkeit noch auf die geistigen Objektivationen hin. Um den unbedingten Grundsätzen der Negation zu folgen, gerät die moderne Dichtung in Widerspruch sowohl zur realistischen als auch zur romantischen Dichtung. Die mit Hilfe der neuen Sprache geschaffene Welt spiegelt das Suchen und die Wurzellosigkeit der neuen Intelligenz und die aus dem Suchen und aus der Unruhe entstandene Utopie wider. Die neue Sprachwelt reflektiert nicht die reale Welt, sondern eine Welt, wie sie einem Wahnsinnigen in seiner Angst und Hoffnung erscheint. Der metaphorisch ausgedrückte Übergang in das Über-Leben ist nur eine Erlebniswelt, eine labile und subjektive Welt, wo es keine Identität, nur unbegrenzten Unterschied gibt. Der konsequenteste Ausdruck dieses Unterschiedes ist Nietzsches Aphorismus.26 Geschichtlich gedacht, steht die lebensphilosophische Utopie in einem tragischen Widerspruch zu der realen Wirklichkeit, doch auf Grund eines tragischen Weltgefühls kann auch die moderne Dichtung menschliche Bedeutung bekommen, wenn man nur die Bedingtheit dieses Gefühls beachtet. In »Zur Genealogie der Moral« beginnen die Metaphern gewissermaßen, sich in reale Wesen zu verwandeln. Sie werden reale EigenschafS. 25.) - Es ist typisch für den negativen Sprachgebrauch Nietzsches, daß er oft die syntaktischen und sogar die semantisch-formalen Regeln der Sprache bewahrt, die semantisch-inhaltlichen und besonders die pragmatischen aber völlig zerbricht. Das ist wahrscheinlich das Wesen von Nietzsches Metaphorik. 26

Ebenda, S. 35: »Der Mensch ist etwas, was überwunden werden muß: und darum sollst du deine Tugenden lieben - : denn du wirst an ihnen zugrunde gehn.« In diesem Aphorismus setzt Nietzsche zuerst die konventionelle moralische Identität des Menschen, negiert sie aber im zweiten Teil des Aphorismus, läßt jedoch die entstehende dritte Bedeutung unbestimmt.

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ten der realen geschichtlichen europäischen Erscheinungen.27 Es scheint, als habe auch Nietzsche selbst an die Realität seiner Lehre zu glauben begonnen. Die Fiktion tritt an die Stelle der Realität, und die Metaphern fangen an zu leben. Nietzsche bietet denen eine Möglichkeit, die Erlösung von dem angstvollen und nichtigen Leben suchen und eigenen Willen zur Macht begründen wollen. Paradoxerweise erobert der kleinbürgerliche Geist sein Gebiet zurück. Nietzsches Utopie vom Über-Leben und vom Übermenschen wurde zur Begründung eines kleinbürgerlichen Lebens und zugleich der bürgerlichen Gewalt. Die Theorie des Postmodernismus als eine Transformation der Lebensphilosophie: Jean-François Lyotard und die paralogische Erlösung Die amerikanische Dekonstruktionistin Irene E. Harvey behandelt in einem vor einiger Zeit in Finnland gehaltenen Vortrag das Verhältnis der Lehren von Kant, Nietzsche, Heidegger und Derrida.28 Mittelbar berührt sie auch das Problem des Postmodernismus. Sie räumt ein, daß zwischen Dekonstruktionismus und Lebensphilosophie eine feste Beziehung besteht. Zugleich behauptet sie aber auch, daß es zwischen beiden einen wichtigen Unterschied gebe: »Letzten Endes ist es kein Zufall, daß man in Nietzsche einen Lebensphilosophen findet, während Derrida daran interessiert ist, die privilegierte Stellung des Humanismus zu dekonstruieren.« Harvey betont, daß Nietzsche sorgfältig die geschichtlichen Wurzeln der Moral studierte, und bemerkt, daß ihn eben dies von Derrida unterscheidet. Die von Harvey implizierte Identifikation von Lebensphilosophie und Humanismus sowie die Auffassung vom geschichtlichen Charakter der Lehre Nietzsches sind natürlich fragwürdig, zumindest etwas naiv. Es ist 27

F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, § 5: »...wer steht uns dafür, ob nicht die moderne Demokratie, der noch modernere Anarchismus und namentlich jener Hang zur >communepostmodernism< bis in die fünfziger Jahre zurück.« Huyssen weist auf die Vorläufer der heutigen Theoretiker in den USA hin. In dieser Hinsicht ist z. B. Lyotard nur ein späterer Nachfolger der Amerikaner, obgleich er eine zentrale Stellung unter den heutigen Postmodemisten einnimmt. Vgl. E. Burke, A philosophical enquiry into the origin of our ideas of the sublime and beautiful, ed. by J. T. Boulton, London 1958, S. 83. Lyotard hat Burkes Theorien sehr frei interpretiert.

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Außer dem Gefallen am Schönen gebe es noch eine andere Art Gefallen, die mit der Nähe des Todes und mit dem Schmerz verbunden sei. Der Schmerz entstehe, wenn der Körper die Seele beeinflußt. Die Seele könne aber auch den Körper beeinflussen, und der Körper empfinde Leiden, das von außen zu kommen scheint. Es gehe um eine reine Passion, die Burke Furcht nennt. Die Furcht ihrerseits hängt mit dem Mangel zusammen: Der Mangel an Licht veranlaßt die Furcht vor der Finsternis, der Mangel an einem Nächsten die der Einsamkeit, der Mangel an Sprache die der Stille der Mangel an Dingen die der Leere, der Mangel an Leben die des Todes.32 Lyotard verknüpft den Begriff des Erhabenen in der Burkeschen Bedeutung eng mit der modernen Kunst (Manet, Cézanne, Picasso). Den Modemismus in diesem Sinne nennt er Avantgardismus. Zwischen den ziemlich oberflächlichen Auffassungen von Lyotard und denen Nietzsches herrscht eine klare Analogie, obgleich unmittelbarer Einfluß schwer nachzuweisen ist. Der Begriff des Erhabenen in der Bedeutung, die Lyotard ihm nach Burke gibt, hat jedenfalls eine deutliche Ähnlichkeit mit der absoluten und sublimen Negation Nietzsches.33 Zugespitzt kann man sagen, daß Lyotard bewußt oder unbewußt die Negation bei Nietzsche beschreibt: Zarathustra besteigt die Berge, das Gebiet des Sublimen, tritt in das Erhabene und löst damit Furcht und Schrecken aus. Er brennt hinter sich nicht nur die Brücken nieder, sondern auch das Land.34 Die Gedanken von Furcht und Passion sind den Lebensphilosophen gemeinsam, besonders sind sie aber den Auffassungen Schopenhauers verwandt. Es entsteht ein sehr interessanter Kreis, der seinen Ausgangspunkt in den ästhetischen Auffassungen Burkes hat, sich fortsetzt über Kant und Schopenhauer zu Nietzsche. Von Nietzsche beeinflußt, eignet sich Lyotard wieder die Theorien Burkes an und kehrt dann über Kant zurück. Innerhalb der Kunst hat der Begriff des Sublimen in obenerwähntem Sinne zur Folge, daß die Bedeutung des aktiven und bewußten Subjekts unbeachtet bleibt. Er hat aber auch zur Folge, daß das Subjekt in der Bedeutung der Substanz verschwindet. Hier stoßen wir wieder auf ein lebensphilosophisches Problem. Es geht um die Voraussetzungslosigkeit 32 Ebenda, S. 71 ff. 33 Vgl. J.-F. Lyotard, Das postmodeme Wissen (La condition postmoderne), Wien 1986, S. 115ff. 34 F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, § 124.

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der Kunst. Lyotard berührt die Richtungen der abstrakten Kunst, deren Zweck es sei, die sinnliche, sogar vorsinnliche Natur der Künste (arte povera) wiederherzustellen. Diese Spekulationen sind, was die visualen Künste betrifft, zweifelsohne relevant und interessant. Aus den darstellenden Künsten kann man leichter die Ausdrucksformen entfernen, die ihre Referenz in den realen Gegenständen und in Verhältnissen zwischen ihnen haben. Ein Bildkunstwerk kann man zweifellos ohne Beachtung der syntagmatischen Beziehungen erschaffen. In der Wortkunst hingegen verhält es sich anders. Ist es überhaupt möglich, innerhalb der natürlichen Sprache die Grenze in die Welt des Sublimen zu überschreiten und das Unaussprechliche auszusprechen? Diese Probleme behandelt Lyotard, wenn er den Postmodernismus zu bestimmen versucht. In seiner Schrift »Réponse à la question: qu'est-ce que le post moderne?« macht Lyotard dies anschaulich, wobei er die Werke von Proust und Joyce als Beispiele heranzieht. Proust zählt er zum Modernismus (Avantgardismus), Joyce zum Postmodernismus. Offenbar bezieht er sich auf die Werke »A la recherche du temps perdu« und »Ulysses«. Nach Auffassung Lyotards deuten beide Werke auf etwas hin, das mit den Strukturen der normalen Sprache nicht aussprechbar ist. In der Erzählweise Prousts erkennt Lyotard noch bestimmte traditionelle narratologische Formen. Die Identität des Schreibens weise noch auf eine unmittelbare Einheit, die man, Lyotard zufolge, mit der Phänomenologie des Geistes vergleichen könne.35 Bei Joyce dagegen sei das Unaussprechliche in dem Werk selbst, in seiner Form anwesend, dieser akzeptiere aber den Wortschatz und die Grammatik nicht als solche. Sie kommen nach Lyotard als Akademismen, als Rituale zum Vorschein, die »(wie Nietzsche sagen würde) aus dem Glauben entstanden sind, der das Hindeuten auf das Unaussprechliche hindert«.36 Den unterscheidenden Faktor sieht Lyotard darin, daß die moderne Ästhetik eine Ästhetik des Sublimen, aber nostalgisch ist. Die Ästhetik des Erhabenen erlaube - als einen abwesenden Gehalt - , auszudrücken, was gewöhnlich nicht ausgedrückt werden kann. Es gehe um das Gefühl des Gefallens, darum, daß die Vernunft das Darstellen überschreitet, um den Schmerz, daß Einbildungskraft und Empfindlichkeit nicht die 35

J.-F. Lyotard, Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, in: Tumult, 4 (1982), S. 131-142 (französisch in: Critique, 417/1982).

36

Ebenda.

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begriffliche Ebene erreichen. Die Definition der Postmoderne lautet: »Postmodern ist, was in der Moderne in der Darstellung selber darauf hindeutet, was man nicht ausdrücken kann, was den Trost der richtigen Formen, den Konsens des Geschmacks verneint, der die Nostalgie auch dem Unmöglichen, die allgemeine Zustimmung erlauben würde, was nach den neuen Darstellungsformen sucht, nicht um sie zu genießen, sondern klarer sinnlich wahrnehmbar zu machen, was es nicht gibt und was nicht ausgedrückt werden kann. Der Künstler, der postmoderne Schriftsteller, ist in der Lage eines Philosophen: der von ihm geschriebene Text oder das von ihm geschaffene Werk ist prinzipiell nicht den eingebürgerten Regeln unterlegen. Man kann es nicht mit Hilfe eines determinierenden Urteils einschätzen, wozu man bekannte Kategorien an Text und Werk verwertete.«37 Wer die lebensphilosophischen Wurzeln des Lyotardschen Textes nicht kennt, könnte dieses Zitat wahrscheinlich als eine Parodie der philosophischen Darstellung begreifen. Das »Aussprechen des Unaussprechlichen« mit Hilfe der natürlichen Sprache ist schon an sich paradox und metaphorisch und kann keine reale Referenz haben. Offenbar geht es um die Fiktion, die die Anhänger Freuds und Lacans unter den Postmodemisten die semantische Chora nennen.38 Nach der offenbar lebensphilosophischen Auffassung Lyotards ist der postmoderne Schriftsteller eine voraussetzungslose Abstraktion, schreibt ohne jede Regel und vermag daher etwas auszudrücken, das nicht ausdrückbar ist. Zugleich ist er aber auch ein Philosoph, der keine Tradition und keine Logik hat. Die Lehre Lyotards wurzelt aber in einer - eben der lebensphilosophischen - Tradition, und allein das widerlegt schon die Theorie. Andererseits aber: Wenn die Postmodernisten sowie die Theoretiker des Postmodemismus behaupten, man könne etwas Unaussprechliches mit Hilfe irgendeiner neuen Sprache aussprechen und sie beherrschten jene Sprache, können sie jederzeit die Kritik abweisen, allein dadurch, daß sie die Kompetenz der dabei gebrauchten Sprache bestreiten. Die Welt der Fiktion ist hier real geworden. Auf Grund der Auffassungen Lyotards kann man also sagen, das postmoderne Werk drücke nicht das zu Negierende aus, sondern nur das, was negiert; nicht das zu Überschreitende, sondern das, was über allem liegt. 37 38

Ebenda. Zum Begriff der semantischen Chora: J. Kristeva, Revolution du langage poétique, Paris 1974, S. 23.

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So wird alles das, was man nicht aussprechen kann, zu absoluter und universaler Wahrheit. Diese Auffassung gleicht weitgehend dem Begriff der intellektuellen Anschauung Schellings.39 Was Literatur und Kunst betrifft, zeigt sie enge Verwandtschaft mit den Theorien Schopenhauers, Nietzsches, Bergsons und sogar Freuds. Die von Lyotard gewählten Beispiele sind in dieser Hinsicht nicht besonders erhellend. Vielleicht wäre »Finnegans Wake« von Joyce ein besseres Exempel für den Postmodernismus gewesen, denn hier zerstört ja Joyce wirklich die gesamte herkömmliche Sprache, all ihre konventionellen Normen und Strukturen und mit ihnen alle traditionellen Gestaltungsweisen der Wirklichkeit. Das Ergebnis ist natürlich unverständlich und unvernünftig und kann nur als ein geniales Experimentieren begriffen werden. Noch besser hätte Lyotard seine Auffassungen mit Hilfe der Werke, besonders der Romane, Kafkas verdeutlichen können. Es mag jedoch sein, daß das Werk Kafkas den Wünschen der postmodernen Theoretiker nicht entspricht, weil es so eng dem Leben und der Subjektivität Kafkas verhaftet ist. Die offenbar subjektive, nicht aber subjektivistische Natur des Werks von Kafka bringt für die Postmodemisten die Schwierigkeit mit sich, von der Persönlichkeit Kafkas absehen zu müssen. Die Produktion Kafkas ist ein ausgezeichnetes Beispiel gerade auch deshalb, weil dieser die Lehren der meisten Lebensphilosophen gut kannte. Das Prinzip der reinen Intertextualität ist nicht hinreichend, die Parallelen zwischen Kafka und den Lebensphilosophen zu erklären. In seinen Romanen schildert Kafka den Prozeß, der vom Modernismus zum Postmodemismus im Sinne Lyotards führt. Kafka ist aber ein Schriftsteller. Er schafft Fiktionen, ohne unbedingt zu glauben, seine Ideen seien realisierbar und universell wahr. In seinem ersten Roman »Amerika« (ursprünglich »Der Verschollene«) stellt Kafka die Hauptfigur Karl Roßmann noch in den Zusammenhang realer Verhältnisse und Ereignisse, entführt ihn aber aus Europa - aus dem Bereich der alten konventionellen geistigen Traditionen und Lebensgewohnheiten - nach Amerika, in eine neue Welt, wo diese ihre Bedeutung verloren haben und die lebensphilosophisch aufgefaßte Lebensform sichtbar zu werden beginnt. Karl Roßmann verschwindet spurlos. 39

Zum Begriff der intellektuellen Anschauung: F. W. J. Schelling, Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur, in: Schellings Werke, hrsg. von M. Schröter, Dritter Erg.-Bd., München 1968, S. 4 0 1 ^ 0 3 . 109

In dem Roman »Der Prozeß« wird das Leben als Passion, als VerurteiltSein, Suchen, Ruhelosigkeit und Pseudomotivation geschildert. Die zu negierende Wirklichkeit ist aber noch im Hintergrund wirksam. Im »Schloß« ist das kleinbürgerliche Alltagsleben völlig verschwunden, und Herr K., der Protagonist des Werkes, lebt in einer neuen, metaphorisch ausgedrückten Welt, in einer Welt, wo das Vergangene völlig fehlt und die Negation absolut geworden ist.40 Die dialektische Beziehung zum realen Dasein ist verschwunden. Lyotardisch gedacht, ist »Das Schloß« ein postmodernes Werk. Darum ist es kein Wunder, daß die Postmodernisten sich auf Kafka bezogen haben, um ihre Ideen zu erhellen. Mit dialektischen Begriffen ausgedrückt, kann man sagen, daß im Postmodemismus das Ansichsein zugunsten des Fürsichseins negiert wird, das seinerseits verabsolutiert und zur universellen Wahrheit und zur einzig wahren Wirklichkeit erklärt wird. Von der Romantik unterscheidet diese Abstraktion nur der Gedanke, das Fürsichsein sei kein Symbol der Ideenwelt. Vom Realismus unterscheidet den Postmodemismus dagegen die Auffassung, aus der Negation gebe es keinen Weg zurück zum realen Dasein, zum Ansichsein. Das reale Verhältnis, das, geschichtlich gedacht, zwischen dem Ansichsein und dem Fürsichsein herrscht, wird nie Gegenstand einer bewußten Reflexion. In seinem Werk »Condition postmoderne« behandelt Lyotard dieselben Probleme, diesmal aber so, daß er seine Aufmerksamkeit auf das Wissen und die Wissenschaft im heutigen Kapitalismus lenkt. Lyotards Kritik richtet sich tatsächlich gegen das strukturale Wissenschaftsideal des Positivismus.41 Er will zeigen, daß die wissenschaftliche Forschung und ihre Ergebnisse aus der Kontrolle des Forschers geraten sind und daß man daher nicht vom Subjekt der Wissenschaft in der traditionellen Bedeutung sprechen kann. Lyotard schließt sich hier offenbar der These an, daß die Wissenschaft zur Produktivkraft geworden ist, gebraucht aber nicht diese 40

41

Über Kafka in dieser Hinsicht vgl. P. Karkama, Hegel ja modernismi, a. a. O., S. 231-235. Über das strukturale und funktionale Wissenschaftsideal vgl. K. Bayertz, Wissenschaft als historischer Prozeß. Die antipositivistische Wende in der Wissenschaftstheorie, München 1980, S. 140f. - Lyotard behandelt dieselben Probleme, benutzt aber die Begriffe sozusagen in postmoderner Weise (vgl. J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, a. a. 0., S. 24f.).

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Terminologie. Der Gegenstand seiner Kritik und seine Begriffe sind denen der Lebensphilosophen ähnlich.42 Im Verhältnis zur postmodernen Kultur und Kunst sind jedoch die Stellungnahmen symptomatischer, die die Auffassungen Lyotards von den Wissenschaftsidealen des 19. Jahrhunderts implizieren. Er spricht von einer Legitimationskrise der Wissenschaft 43 und stellt die Frage, wer eigentlich die Bedingungen der wissenschaftlichen Forschung diktiert, wer also bestimmt, was Wissenschaft eigentlich ist. Er nennt solche Begriffe wie »das Volk«, »das Gute im Menschen« usw., die man seiner Meinung nach als Legitimationen der wissenschaftlichen Tätigkeit benutzt hat. Das Berufen auf solche Begriffe ist nach Lyotard nur scheinbar, sie sind sozusagen Pseudomotivationen der wissenschaftlichen Tätigkeit. Die eigentlichen Subjekte sind diejenigen, die auch die politische Macht und die kulturelle Hegemonie haben. Es geht also um die Macht. Derselbe Gedanke kommt bekanntlich auch bei Nietzsche vor.44 Lyotard richtet seine Kritik besonders gegen die Idee der Humboldtschen Bildungsuniversität. Nach der Auffassung Lyotards sind die Legitimationen nur Geschichten, Märchen, womit die Machthaber die ihnen vorteilhaften Wissenschaftsideale verteidigen. Der Begriff der Legitimation verbindet also die Motivationen der pragmatischen Narratologie mit denen der wissenschaftlichen Tätigkeit, und zwar so, daß es keine wesentlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Darstellungsformen (»Diskursen«) geben kann. Nach Lyotard begannen die Legitimationen im 19. Jahrhundert zu schwinden. An ihre Stelle traten jetzt die Sprachspiele der verschiedenen Darstellungsformen, als deren Metasprache die formale Logik dient. 42

43

44

Vgl. K. Bayertz, Wissenschaft als historischer Prozeß, a. a. O., S. 139-144; J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, a. a. O., S. 19-35. J.-F. Lyotard, Das postmodeme Wissen, a. a. O., S. 112: »In der gegenwärtigen Gesellschaft und Kultur, also der postindustriellen Gesellschaft, der postmodernen Kultur, stellt sich die Frage der Legitimierung des Wissens in anderer Weise. Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren, welche Weise der Vereinheitlichung ihr auch immer zugeordnet wird: spekulative Erzählung oder Erzählung der Emanzipation.« Lyotard weist auf Nietzsche als eine seiner Autoritäten hin (vgl. S. 115). Ebenda, S. 114-118 (vgl. auch F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, a. a. Q.,§ 110).

111

Parallel zu diesem wissenschaftlichen Modernismus (Mach, Wittgenstein u. a.) entwickelte sich der künstlerische Modernismus (Musil, Schönberg u. a.). Von hier aus beginnt Lyotard, seine Theorie der Postmoderne weiterzuentwickeln. Wenn das formale und axiomatische denotative System (das Sprachspiel) nicht lückenlos (widerspruchslos, syntaktisch konsequent usw.), also nicht vollkommen ist, muß man, nach Lyotard, zugeben, daß es »Alltagssprache« und also pragmatische Information impliziert. Dann muß man auch zugeben, daß das System willkürlich ist.45 Eine systemimmanente Ausnahme oder ein Widerspruch innerhalb der Logik des Systems läßt Lyotard vermuten, daß man das ganze System verwerfen muß, weil es sich auf eine Legitimation gründet. Im Sprachspiel geht es nach Lyotard um verabredete Regeln, und jeder Forscher bewegt sich innerhalb eines gegebenen spieltheoretischen Raumes. Weil das System Lücken hat, kann jeder Spieler, das heißt jeder Wissenschaftler, Veränderungen an den Spielregeln und sogar eine neue Verabredung vorschlagen. Dies öffnet den Weg für Innovationen im Rahmen des Spieles, stellt das ganze Spiel aber nicht in Frage. In diesem Stadium legitimiert die Wissenschaft sich selbst. Weil Lyotard geneigt ist, die verschiedenen Darstellungsformen einander gleichzustellen, dürfte der Gedanke legitim sein, dasselbe Stadium herrsche auch in der modernen Kunst. Die moderne Kunst produziert dann in ihrem eigenen Spielraum Innovationen, die nicht die gesetzten Spielregeln brechen. Dies ist, meiner Meinung nach, der Ausgangspunkt der poststrukturalistischen und postmodemistischen Annahme, daß das kreative gesellschaftliche, kulturelle und persönliche Subjekt verschwunden sei. Dies ist also die Grundlage der Theorie der Intertextualität. Darum muß man aber auch annehmen, daß die traditionellen Kulturformen verschwunden sind oder jedenfalls ihre Bedeutung verloren haben, sind doch die außerwissenschaftlichen Legitimationen nichts anderes als die alten Kulturtraditionen. Es versteht sich auch von selbst, daß die neue Theorie des Sublimen, eine nietzscheanische sublime Negation erforderlich ist, um dieses Stadium überschreiten zu können. Lyotardisch gedacht, hat sich der Mensch in der modernen Kultur von den traditionellen Märchen gelöst, die von außen die kulturelle Tätigkeit legitimieren. Wenn der Mensch den Pseudomotivationscharakter der « Vgl. ebenda, S. 157-161.

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Legitimationen erkannt hat, wird seine Einstellung zur Welt unvermeidlich ironisch und paradox. Im Postmodernismus lebt man sozusagen jenseits von Ironie und Paradoxie. Jetzt genügt nicht mehr die Innovation, zum Beispiel die zweckhafte und intentionale Beleidigung der poetischen Regeln, die sprachliche Anomalie, sondern man muß das ganze Sprachspiel zerbrechen. Den Auffassungen Lyotards entspricht es zu denken, daß die postmoderne Kultur die Negation sowohl der traditionellen und konventionellen Legitimationen als auch der Intentionen bedeutet. Wie wäre eine solche Negation möglich? In »Condition postmodeme« spricht Lyotard von der Unstetigkeit und Indeterminiertheit der wissenschaftlichen Systeme. Wenn sich das System nur quantitativ entwickelt und sich also nur reproduziert, sind die Veränderungen ihrer Natur nach nur Innovationen.46 Veränderungen erfolgen lediglich auf technischem Gebiet, in der Technologie. Wenn die Spielregeln aber qualitativ überschritten werden, geht es um eine Erscheinung, die Lyotard Paralogie nennt. Die Paralogie stellt das ganze System mit seinen Regeln in Frage. Der Begriff der wissenschaftlichen Paralogie entspricht also dem Begriff der Paradoxie in der Kunst. Wenn aber die Wissenschaft sich selbst legitimiert und das Subjekt der wissenschaftlichen Tätigkeit seine Bedeutung verloren hat, wie könnte man dann für die Paralogie ein reales Subjekt finden? Was wäre der Faktor, der die vollständige qualitative Veränderung der Spielregeln real ermöglichen würde? Wenn das System unstetig und indeterminiert und also prinzipiell zufällig ist, bleibt nur ein Zufall oder ein Einfall. Das behauptet Lyotard eigentlich auch. Hier führt der Begriff der Voraussetzungslosigkeit zu dem einer irrationalen Logik. Handlungstheoretisch gesehen, implizieren die Ideen Lyotards einen offenbaren Fehler. Er identifiziert nämlich Legitimation und Motivation und versteht sie nur heterotelisch. Lyotard scheint anzunehmen, daß die kulturelle Tätigkeit - die wissenschaftliche und künstlerische Tätigkeit, besonders im realistischen Sinne, mitgerechnet - immer heterotelisch und von außen her diktiert gewesen sei, ein Gedanke, der nur auf Grund von Nietzsches Idee des allgemeinen Willens zur Macht verständlich ist. Die Theorie Lyotards scheint den Begriff der autotelischen Tätigkeit gar nicht zu kennen. Seiner Meinung nach ist die motivierte Tätigkeit im Verhältnis 46 Vgl. ebenda, S. 44, 55 und 59. - Es ist symptomatisch, daß Lyotard das Problem im Zusammenhang mit der Informationstheorie behandelt. S Buhr, Moderne

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zur Tradition und zur Macht immer reproduktiv. In einer solchen legitimierten Tätigkeit reproduziere der Mensch sich nur, um den gegebenen Regeln, die keinen wahren Gehalt haben, zu folgen. Das Bewahren der traditionellen Narratologie habe zur Folge, daß sich die Identität der Persönlichkeit verstärkt, daß man sich den herrschenden Zuständen und den konventionellen Interpretationsmodellen der Wirklichkeit unterwirft. Lyotard scheint nicht zu glauben, daß eine solche Tätigkeit auch produktiv, autotelisch sein kann und daß die konventionellen Auffassungen aufgehoben werden können, weil in der autotelischen Tätigkeit Identität und Unterschied dialektisch aneinander anknüpfen, so daß die Persönlichkeit des Subjekts sich entwickelt. Der Fehler Lyotards liegt in der Ungeschichtlichkeit seiner Theorie. Die Narratologie, die er in »Condition postmoderne« darstellt, zeigt, daß er die narratologischen Differenzen der Volkspoesie, besonders der Märchen, und des heutigen Epos nicht erkennt. Faktisch bedeutet das, daß er die moderne Trivialliteratur und die realistische Wortkunst als ein und dasselbe betrachtet. Die Unterhaltungsliteratur, die der populären Lebensphilosophie gemäß Geschichten von erfolgreichen Menschen darbietet, wird der realistischen Literatur gleichgestellt, welche fiktive, aber auch real mögliche Geschichten erzählt. Die verschiedenen Darstellungsformen verlieren ihre Unterschiede in bezug auf das Verhältnis zur Wirklichkeit. Im Hintergrund kann man wieder den gnoseologischen Idealismus der Lebensphilosophie erkennen. Die Negation des gesellschaftlichen und kulturellen Subjekts müßte auch die logische Folge haben, daß man die eigenen Theorien in Frage stellt oder sich jedenfalls ironisch ihnen gegenüber verhält. Das ist aber nicht der Fall; Lyotard und seine Kollegen bleiben erhaben und ernsthaft. Die Anhänger der sublimen Negation scheinen ihre eigene Tätigkeit für voraussetzungslos und ihre eigenen Theorien für universell wahr zu halten. Der traditionellen lebensphilosophischen Position folgend, kann Lyotard Innovationen nur im Rahmen der gegebenen Intellektuellenideologie erdichten.47 Die moderne Intelligenz findet immer aufs neue die Legitimation ihres Lebens und ihrer Tätigkeit in der alten Lebensphilosophie. Jene Lehren sind ihr sowohl fremd als auch bekannt. So scheint sich der 47

Wie oben gesagt, dient Lyotard oft Nietzsche als Autorität. Seine ganze Denkweise ist in mancher Hinsicht nietzscheanisch; z. B. stammt die Idee der Ähnlichkeit der verschiedenen Ausdrucksformen (»Diskurse«) von Nietzsche.

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hermeneutische Zirkel in einer konkreten Weise im Dialog mit dem Vergangenen zu verwirklichen. Der Postmodernismus und die Theorie des Postmodernismus stellen sich als Transformation der Ideologie der sogenannten freischwebenden Intelligenz dar. Mit Hilfe dieser Transformation strebt sie danach, in der absoluten Negation eine neue Grundlage für ihre verlorene Stellung zu finden. In der postmodemen Welt Die Theoretiker des Postmodernismus haben in gewisser Weise recht. Es ist für die kapitalistische Wirklichkeit charakteristisch, daß die geschichtliche und gesellschaftliche Prozesse lenkenden Subjekte völlig verschwunden zu sein scheinen. Das erlebbare und wahrnehmbare Dasein wird für selbsttätig und das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit dem Verhältnis des Tieres zur Natur für prinzipiell ähnlich gehalten. In dieser Hinsicht ist der Mensch wirklich ein zoon politikon.48 Es ist in der Tat eine zweite Natur entstanden, die das Verhalten und die Tätigkeit des Menschen regelt. Die Menschen leben in einer entfremdeten Welt. Sie können aber ihre Beziehung zur Wirklichkeit nicht bewußt reflektieren, sondern fühlen nur Angst und Leere. Der Gedanke Nietzsches, daß alles nur das ist, was es zu sein scheint, hat sich in solchem Leben realisiert.49 Im Postmodernismus zeigt sich eine gewisse neue Oberflächlichkeit, die sich bis auf das Leben und die Theorie erstreckt.50 Die Wirklichkeit scheint den Gedanken vom dialektischen Verhältnis zwischen Erscheinung und Wesen zu falsifizieren. Real ist nur das, was wir wahrnehmen und erleben. Es gibt keine Gesetzmäßigkeiten, die die Erscheinungen determinieren, und wenn es solche gibt, sind sie außerhalb der Reichweite des menschlichen Wissens. Die erlebbaren und wahrnehmbaren Erscheinungen sind lose Einheiten, deren Bewegung nur statistisch geschildert werden kann. Sie stehen in keinerlei diachronischem (historischem) oder synchronischem (gesellschaftlichem) Verhältnis zueinander. Das betrifft auch die Menschen, die zu Monaden, losen Einheiten, geworden sind. 48

49 50



Vgl. P. Karkama, Kulttuuri ja teknologia (Kultur und Technologie), in: Impivaara ja yhteiskunta, a. a. O., S. 152-164. Siehe z. B. F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, a. a. O., § 54 und 64. Vgl. F. Jameson, Postmodeme. Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: A. Huyssen/K. Scherpe (Hg.), Postmodeme, a. a. O., S. 43-50. 115

Diese Situation hat einen neuen Individualismus entstehen lassen: die Auffassung, daß eben diese Losgelöstheit, Einsamkeit und Fremdheit individualistisch sei. Jedoch ist alles vielleicht strenger als je geregelt und determiniert. Extension und Intension des Kapitals sind in einem unerwarteten Maße gewachsen, es existiert als eine unsichtbare Macht in allen Lebenserscheinungen. Die neue Informationstechnologie gestattet es ihm, seine Hegemonie auf alle Lebensgebiete auszudehnen und Motivationen und Intentionen der Menschen zu konformieren. Statistische Prognosen und Marktforschungen schaffen die Ideale, denen alle folgen müssen und die also von außen die Tätigkeit und das Verhalten aller Menschen motivieren. Alle Verantwortung für das Leben fällt jetzt dem Individuum zu, das sich frei fühlt, sich faktisch aber konformistisch beträgt. Wenn es kein Subjekt gibt, das die Wirklichkeit regeln könnte, muß man annehmen, daß der Kampf aller gegen alle abhängig vom lebensimmanenten Bösen ist. Die Erbsünde lebt ihr neues Leben. Der Mensch, der in einem zufälligen Dasein lebt und dessen Persönlichkeit sich auf Grund der zufälligen Erlebnisse aufbaut, ist ein willenloses Opfer seines Lebens. Manche finden die Lösung im Glauben. In der Wortkunst kann man zwei unterschiedliche Tendenzen wahrnehmen. Einerseits schafft man eine Kunst, die als ein unmittelbar widerspiegelndes Bild die zufällige, subjektlose, gewalttätige und böse Wirklichkeit darstellt. Wie die Theorien von Roland Barthes zeigen,51 erlaubt das ästhetische Wahrnehmen einer solchen Welt dem Leser, auch die reale Welt sublim und uninteressiert zu erleben. Die Idee der Begriffs- und Interesselosigkeit ist auf diese Weise naiv in die neue Kunst übertragen worden. Man soll glauben, die fiktive Situation ermögliche auch eine völlig neue Lebenseinstellung. Faktisch ist es jedoch so, daß eine solche Einstellung den Leser nur über die reale Wirklichkeit erhebt und die Wirklichkeit selbst unberührt läßt, daß die sublime Einstellung notwendig eine affirmative Haltung zur Folge hat. Man kann aber auch eine andere Tendenz wahrnehmen: Irgendwelche Schriftsteller tendieren dahin, die traditionellen Strukturen der Sprache und den subjektiven Fokus zu destruieren, der konventionell die Geschichte erzählt. Das schaffende Subjekt verzichtet auf seine Subjekti51

Vgl. R. Barthes, Le plaisir du texte, a. a. O., S. 45 und 96.

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vität und schildert die Welt als Chaos. Am leichtesten geschieht das mit Hilfe des intertextuellen Pastiche und der Collage. Andererseits übernimmt das Subjekt beim Schaffen des Chaos die Befugnis Gottes, denn die Dekonstruktion der Struktur der Welt ist eine äußerst subjektive und gewalttätige Tätigkeit. Der postmodeme Künstler lebt in dem Glauben, daß die vollständige Negation sowohl der Intentionen als auch der Motivationen möglich sei, er wird aber immer wahrnehmen, daß die Negation ihren Gegensatz, die Affirmation, zur Folge hat. Trotz seiner Bestrebungen bleibt die Welt unverändert, obgleich er den Untergang des Abendlandes in seinem Bewußtsein durchspielt. Die reale und objektive Wirklichkeit bedingt auch das Leben und die Tätigkeit des Postmodernisten, auch er muß in dieser Welt leben. Würde die alltägliche Arbeit der Menschen nicht auch die materiellen Voraussetzungen für die Aktivität der Postmodernisten produzieren, müßte er konstatieren, daß die realen und konstitutiven Bestimmungen des Menschen in seiner Geschichte, in der gesellschaftlichen Arbeit und in der kulturellen Tradition liegen. Dann würde er auch zugeben müssen, daß in allen Lebenserscheinungen eine allgemeine Macht steckt und daß das dialektische Verhältnis zwischen Erscheinung und Wesen noch immer besteht.

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GUDRUN KLATT

(Berlin)

Moderne und Postmoderne im Streit zwischen Jean-François Lyotard und Jürgen Habermas

Im März 1987 erklärte der französische Philosoph Jean-François Lyotard in einem Gespräch mit der Zeitschrift »magazine littéraire«: »Ich habe den Begriff der Postmoderne aufgenommen gegen das deutsche philosophische Establishment, wie es in der Position von Habermas zum Ausdruck kommt. Mir scheint es tatsächlich unmöglich, so weiterzudenken wie er, so zu tun, als könne eine Art Aufklärungskonzept - das keineswegs von Kant herrührt - , ohne es zu problematisieren, einfach fortgesetzt werden. Ich meine, daß jede Philosophie, die den Emanzipationsgedanken ohne Vorbehalt aufnimmt, die Augen vor dem Wesentlichen verschließt: vor der Niederlage dieses Programms. Das Emanzipationsideal will Wunden von zwei Jahrhunderten vernarben lassen, die unmöglich heilen können. Es handelt sich keineswegs bloß darum, daß Fortschritt nicht stattgefunden hat, sondern im Gegenteil, daß die wissenschaftlich-technische, künstlerische, ökonomische und politische Entwicklung die totalen Kriege, den Totalitarismus, das wachsende NordSüd-Gefälle, die Arbeitslosigkeit und die neue Armut, den kulturellen Abbau mit der Krise des Bildungswesens möglich gemacht hat. Brutal gesprochen, möchte ich sagen, daß ein Wort das Ende des modernen Vernunftideals ausdrückt, das ist: Auschwitz.« 1 Im Vorwort zu seinem 1985 veröffentlichten Buch »Der philosophische Diskurs der Moderne« schrieb Jürgen Habermas: »>Die Moderne - ein unvollendetes Projekte hieß der Titel einer Rede, die ich im September 1980 ... gehalten habe. Dieses Thema, umstritten und facettenreich, hat mich nicht mehr losgelassen. Seine philosophischen Aspekte sind im Zuge der Rezeption des französischen Neostrukturalismus noch stärker ins öffentliche Bewußtsein gerückt - so auch das Schlagwort der >Post1

Du bon usage du postmoderne. Entretien avec Jean-François Lyotard, in: magazine littéraire, 239-240/1987, S. 96f.

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moderne< im Anschluß an eine Veröffentlichung von F. Lyotard. Die Herausforderung durch die neostrukturalistische Vemunftkritik bildet deshalb die Perspektive, aus der ich den philosophischen Diskurs der Moderne schrittweise zu rekonstruieren suche.« 2 Innerhalb der US-amerikanischen und westeuropäischen Debatte um Moderne und Postmoderne wird mit dieser französisch-westdeutschen Polemik ein Widerspruchsfeld greifbar, das es verdient, genauer angesehen zu werden. Postmoderne als modisches Warenzeichen der alten Gegenaufklärung (Habermas) oder Moderne als gescheitertes Unterfangen der Aufklärungsideologie (Lyotard) - in solcher Frontstellung artikuliert sich gegenwärtiges bürgerliches Zeitbewußtsein. Bei der Debatte um Moderne und Postmoderne haben wir es mit einem neuen Reflex spätbürgerlicher Krisenerfahrung zu tun. Die Erfahrung des Scheiterns der Neuen Linken nach 1968, des Verlustes von Handlungsfähigkeit, verband sich für einen großen Teil der westeuropäischen Intellektuellen (auf die Entwicklungen in den USA gehe ich hier nicht ein) mit einer Abkehr vom Marxismus. Nicht zu Unrecht wertet der französische Marxist Lucien Sève die sogenannte »postmoderne« Wende auch als »postmarxistische« Wende.3 Der Philosoph Gérard Raulet schrieb, speziell auf Frankreich bezogen: »Will man nun die geistige Lage und Entwicklung der siebziger und achtziger Jahre überblicken, so muß man, glaube ich, auf zwei ideologische Tendenzen hinweisen. Auf der einen Seite ist diese Zeit - bei allem gleichzeitigen Heranreifen einer regierungsfähigen politischen Linken - die der Abkehr vom Historischen Materialismus gewesen.« 4 Seine besondere Signatur erhält das Krisenbewußtsein der siebziger/ achtziger Jahre dadurch, daß es einerseits auf neue Tendenzen des modernen Imperialismus reagiert, diese teilweise auch kritisch reflektiert Tendenzen wie Produktivkraftentwicklung und neue Medien, wie politische Rechtsentwicklung und Verschärfung der sozialen Unterschiede (Massenarbeitslosigkeit, neue Armut); andererseits ist dieses Reagieren auf Entwicklungen im Imperialismus eng verflochten mit globalen 2

3

4

J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1985, S. 7. L. Sève, »Postmodemité«: L'idée de progrès est-elle morte?, in: Révolution, No. 274,31.5.-6.6. 1985, S. 58. G. Raulet, Schweigen mit Hintergründen, in: Spuren, 11-12/1985, S. 62.

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Menschheitsfragen, vor allem mit der Gefahr eines atomaren Infernos, aber auch mit Problemen der Umweltzerstörung und sozialen Problemen in den Entwicklungsländern. Die Verflechtung von imperialistischer Krisenerfahrung mit globalen Menschheitsfragen macht die Debatte um Moderne und Postmoderne so brisant und in sich widersprüchlich. War »Postmodeme« ursprünglich das Signalwort einer gegen den Funktionalismus gerichteten Architektur 5 , so artikuliert sich inzwischen längst in allen Künsten und den Geisteswissenschaften, schließlich auch in der Medienöffentlichkeit des Feuilletons ein psychosoziales, mit Stimmungen aufgeladenes »postmodernes« Zeitbewußtsein, das zunächst von den USA ausging, inzwischen längst in Westeuropa Fuß gefaßt hat. Es reicht vom Sinnfälligmachen einer Endzeitstimmung, des Apokalypse now 6 , über das Sich-Einrichten im »Unglückszusammenhang« 7 bis zu ernsthaften Reflexionen gegenwärtiger bürgerlicher Kulturkrise. Der westdeutsche, in den USA lehrende Literaturwissenschaftler Andreas Huyssen beispielsweise schrieb 1983: »Auf einer sehr allgemeinen Ebene bin ich davon überzeugt, daß wir in der Konstellation Modernismus/Postmodernismus für die Kunst und in der Unterscheidung Modernität/Postmodemität für die Kultur auf lange Sicht die am meisten einschneidende und am meisten verhüllende Debatte über Kultur und Ideologie in den westlichen Gesellschaften heute vorfinden, vergleichbar an Wichtigkeit, ich vermute, der Realismus-Expressionismus-Debatte der 30er Jahre. Wie zu jener Zeit steht mehr auf dem Spiel als ein Stil. Auf dem Spiel stehen fundamentale Fragen der Zeichenthematik, linguistisch, ikonographisch und politisch, der Sprache und des Bewußtseins, der politischen Identifikation und Identitäten, die Dialektik von Rationalität und Irrationalität, der Status des Selbst und des anderen, und schließlich das Überleben des Planeten, wie wir ihn kennen.« 8 Folgt man dieser These, dann ist die Auseinander5 6

Vgl. L. Kühne, Haus und Landschaft. Aufsätze, Dresden 1985, S. 187-199. K. R. Scherpe, Dramatisierung und Entdramatisierung des Untergangs - Zum ästhetischen

Bewußtsein

von

Moderne

und

Postmoderne,

in:

A. Huyssen/K. R. Scherpe, Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 270-276. 7

Kritik an diesem Sich-Einrichten im Unglückszusammenhang bringen u. a. O. Negt/A. Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a. M. 1981, S. 510.

8

Zit. nach: B. Schmidt, Postmoderne Strategien des Vergessens. Ein kritischer Bericht, Darmstadt-Neuwied 1986, S. 37f. (Hervorhebung von mir - G. K.).

120

Setzung Moderne/Postmodeme eigentlich ein Vehikel, das durch seine polemische Frontstellung eher zudeckt, »verhüllt«, als daß ästhetische, kulturelle und philosophische Grundfragen des Jahrhunderts bewegt werden - in der besonderen Brechung jener Lebenserfahrungen, die bürgerliche Intellektuelle seit den späten sechziger Jahren gemacht haben. Das, was sich als »postmodemer« Zeitgeist ausgibt, der »raunt und trompetet«, wie es 1987 im Feuilleton der »Zeit« 9 hieß, wäre dann die Mode, hinter der das Eigentliche verborgen ist: nämlich, daß der Bestand bürgerlicher Kultur, bürgerlichen Wissens, der Geschichte überhaupt in Aufruhr geraten und fragwürdig geworden ist. Lyotards Einstieg in die postmoderne Debatte Die von Habermas erwähnte Veröffentlichung Lyotards ist die Schrift »La condition postmoderne« (1979; dt.: »Das postmoderne Wissen«). Mit ihrem Erscheinen in Paris, so wird heute zumeist argumentiert, hatte die US-amerikanische Postmoderne-Debatte Westeuropa erreicht. Als Auftragsarbeit für den Rat der Universitäten bei der Regierung von Quebec entstanden, versammelte sie wesentliche Ideologeme postmodemen Denkens, wobei sich bei Lyotard die spätbürgerliche Krisenreflexion seit Nietzsche und das Reagieren auf neue technologische Entwicklungen in der modernen kapitalistischen Gesellschaft, vor allem die Medien und Computertechnologien, verbinden. Lyotard argumentiert, daß das europäische Vernunft- und Emanzipationsdenken von Beginn an eines Legitimationsdiskurses in Gestalt der »großen Erzählungen« (metarecits) bedurft hätte. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts seien diese metarecits in die Krise geraten. Nietzsches Schrift »Der europäische Nihilismus« und die Kunst der Wiener Moderne hätten pessimistisch oder melancholisch den Zerfall des Vemunftdenkens artikuliert. Die Vorgeschichte der Postmodeme 9

Im Herbst 1987 brachte »Die Zeit« in ihrem Feuilleton unter dem Titel »Zeitgeist und Postmodeme« eine Serie von Aufsätzen zu Literatur, Architektur, Philosophie und Geistesgeschichte. Als Vorspruch zum Artikel von R. Baumgart »Postmoderne - Fröhliche Wissenschaft« hieß es: »Was sich hinter dem schwammigen Begriff >Postmodeme< verbirgt und was der >Zeitgeist< raunt oder trompetet, läßt sich wohl in noch so vielen Essays nicht endgültig klären. Aber das Interesse an dem Thema ist groß - in der Redaktion und, wie wir aus Briefen lernen, auch bei den Lesern.« (In: Die Zeit, 16. 10. 1987, S. 67.)

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beginne mit dieser nostalgischen Erfahrung eines Verlustes. »La condition postmoderne« sei nun einerseits das »Mißtrauen gegenüber den métarécits« und zugleich auch der Verlust der Nostalgie, der das Denken des späten 19. Jahrhunderts noch gekennzeichnet habe. Ursache dafür seien die Entwicklungen in den Wissenschaften selbst, vor allem die seit den fünfziger Jahren zunehmende Integration in die Technologieproduktion, womit an die Stelle eines Wahrheitsanspruchs ihre Effizienz im ökonomischen Produktionsmechanismus getreten sei. Am Beispiel der Medienindustrie zeigt Lyotard die Kommerzialisierung von Wissenschaft, wirft aber zugleich das Problem der Verfügbarkeit über wissenschaftliche Erkenntnisse auf. Durch die Bindung von Wissenschaft an die großen Konzerne stelle sich die Frage, wer etwa einem Konzern wie IBM das Recht gibt, dieses Wissen zu verwerten und beispielsweise Kommunikationssatelliten oder Datenbanken auf Orbitalstationen zu errichten. Selbst wenn Lyotard hier mit einem äußerst diffusen Begriff von Wissen und Wissenschaft arbeitet,10 ist doch der kritische Akzent gegenüber den Auswirkungen imperialistischer Kommunikationstechnologien nicht zu übersehen. Zugleich folgen aus solchen Beobachtungen in sich äußerst widersprüchliche Rückschlüsse. So identifiziert Lyotard Wissen/Erkenntnis/Wahrheit seit dem métarécit der Aufklärung mit dem Wissen der Herrschenden, aus dem andere »Erzählungen», zum Beispiel die der Volkskulturen, herausgefallen seien. Er setzt in seiner Polemik gegen den métarécit des Vernunftdenkens einen quasi-demokratischen Impuls. Um daraus ein gewissermaßen postmodernes Verhaltenskonzept zu formieren, baut er in seine Theorie Wittgensteins Überlegungen über die Gleichberechtigung aller Sprachspiele11 ein. Analog dazu erscheint als Alternative zum métarécit, der »großen Erzählung«, die Gleichberechtigung aller »Erzählungen«. Daher heißt es programmatisch in »La condition postmodeme«: »Postmodemes Wissen ist kein Instrument der Mächte. Es verfeinert unsere Sensibilität für die Unterschiede und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen. Es hat seine Vernunft nicht in der Eindimensionalität der Experten, sondern in der Vielfalt der Erfinder.« 12 10

11

Vgl. A. Honneth, Der Affekt gegen das Allgemeine. Zu Lyotards Konzept der Postmoderne, in: Merkur, 1984, S. 893-902. Vgl. S. Benhabib, Kritik des »postmodernen Wissens« - Eine Auseinandersetzung mit Jean-François Lyotard, in: A. Huyssen/K. R. Scherpe, Postmoderne, a. a. O., S. 103-127.

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Kreativität und Phantasie aller sozialen Lebensräume sollen entfaltet und gleichberechtigt nebeneinander existieren. Damit hat Lyotard seiner Kritik an der Allmacht der Konzerne die Spitze abgebrochen: Die Demokratisierung der »Erzählungen«, das Bestehen auf ebenbürtiger Relevanz aller récits, tastet zum einen die Monopolisierung des Wissens nicht an, zum anderen vermittelt sie die Illusion, daß das Stattfinden des récits bereits Sinnfindung sei. Und an diesem Punkt schlägt dann das postmoderne Konzept von Lyotard in Systemstabilisierung um. Es läuft auf ein Akzeptieren der vorgefundenen Zustände hinaus: Jedem Spiel, jeder Erzählung wird seine Berechtigung zugestanden, aber die »Delokalisierung« (délocalisation) schließt die Rückkopplung aus und damit den Verzicht auf eine - wie auch immer zu definierende - Verantwortung für die Sozietät als Ganzes ein. Wenn Habermas in der Folgezeit (übrigens erst nach Erscheinen der deutschen Fassung 1982) direkt gegen Lyotard polemisiert, dann wendet er (bzw. sein Schüler Axel Honneth) sich gerade gegen diesen Verzicht auf Universalismus (die Kehrseite von délocalisation).13 Um die Eigenwilligkeit von Lyotards Konzept, die Eklektizismus freilich nicht ausschließt, genau zu bestimmen, bedarf es vorerst aber weiterer Präzisierungen. Bereits der kurze Blick auf Lyotards Schrift, mit der er gewissermaßen in den postmodernen Diskurs eintrat, läßt deutlich werden, daß er sich bei der theoretischen Formulierung seines Konzepts ästhetischer Chiffren, wie métarécit und récit, bedient. Lucien Sève spricht in diesem Zusammenhang von einer »Ästhetisierung der Philosophie« 14 , die aus der unmittelbaren Bindung von Ideologieproduktion an die Massenmedien entstehe. Vehement wendet er sich gegen eine derartige Disqualifizierung der Philosophie als Disziplin. Das Problem, daß »postmodemes« Denken sich häufig als ästhetisches Denken formuliert, ja daß »Postmodeme« selbst als Kunstwerk deklariert wird, greift meines Erachtens jedoch über Fragen der Philosophie als Disziplin hinaus. Thesenhaft zugespitzt, möchte ich behaupten, daß es sich um eine Tendenz zur Ästhetisierung des Krisenbewußtseins handelt, wobei ästhetische Theorie und Praxis jenen Sinnzusammenhang stiften sollen, der in der 12

J.-F. Lyotard, La condition postmodeme, Paris 1979, S. 8f.

'3 Vgl. J. Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985, S. 161. 14

L. Sève, Plans et arrière-plan d'une exposition, in: Révolution, Nr. 275, 7.6. 1985, S. 41.

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Lebenspraxis des modernen Imperialismus und im philosophischen Denken verlorengegangen ist. D i e Verflechtung von mittels ästhetischer Theorie betriebener Ideologiebildung und Praxis bei Jean-François Lyotard vollzieht sich gleichzeitig in z w e i Varianten: der gewissermaßen volkstümlichen, die er mit der Ausstellung » L e s immatériaux« praktizierte, und der elitären, die er mit seiner »Ästhetik des Erhabenen« vorträgt.

» D i e Immateriellen« Im Frühjahr 1985 fand am Pariser Centre Pompidou die von Lyotard konzipierte Ausstellung » L e s immatériaux« statt. Walter Benjamin hatte in den dreißiger Jahren geschrieben, Ausstellungen, wobei er speziell die Weltausstellung von 1855 in Paris meinte, seien »Wallfahrtsstätten zum Fetisch W a r e « : Sie »verklären den Tauschwert der Waren. Sie schaffen einen Rahmen, in dem ihr Gebrauchswert zurücktritt. Sie eröffnen eine Phantasmagorie, in die der Mensch eintritt, um sich zerstreuen zu lassen. Die Vergnügungsindustrie erleichtert ihm das, indem sie ihn auf die Höhe der Ware hebt. Er überläßt sich ihren Manipulationen, indem er seine Entfremdung von sich und den andern genießt.« 1 5 Vieles an dieser Diagnose Benjamins trifft auch auf die »Immateriellen« zu. Zweifelsohne war diese Supermedienschau für die Konzerne Werbung und Geschäft zugleich; insofern bleibt die Bezugnahme auf den Fetisch Ware schon gültig. Freilich stellt sich mit den Medien die Frage nach dem Gebrauchswert differenzierter, als Benjamin sie seinerzeit faßte. Dennoch war das Ganze tatsächlich die quasi-perfekte Inszenierung einer Phantasmagorie. Der Besucher der »Immateriellen« bekam am Eingang einen Walkman, der Musik einspielte und Texte einsprach. Zugleich erhielt er - ähnlich dem Ariadnefaden -

ein kleines Buch zur Orientierung im Labyrinth. A u f

diese Weise von den Sinnenreizen der Außenwelt abgeschirmt, hatte der Besucher einen Parcours von 67 Haltepunkten, die ihrerseits in 31 Sinneszonen aufgeteilt waren, zu durchlaufen. Filme, Photographien, graphische Darstellungen forderten ihn zum Sehen auf, ließen ihn Apparate anfassen, Lichtmaschinen hüllten ihn in Infrarot. A n Computern konnte er selbst Bilder, Texte herstellen, sich als »Produzent« betätigen. Der große Entwurf der avantgardistischen Ästhetik, den Walter Benjamin im Anschluß 15

W. Benjamin, Gesammelte Werke, Bd. V/1, Frankfurt a. M. 1982, S. 50f. 124

an die Erfahrungen von Sergej Tretjakow und Bertolt Brecht in seinem Aufsatz »Der Autor als Produzent« (1934) systematisiert hatte, ist hier im postmodernen Kontext gleichsam zynisch umgekehrt. Der »Zugang zur Autorschaft« 16 hat sich zum Mythos verklärt. Die Ausstellung hüllte den Besucher in die Phantasmagorie der totalen Medienwelt ein. Für die Dauer des Parcours lebte er in und mit den Medien, die ihm Grauen, Schock, Lust und Begierde verschafften. Zumindest lag dies in der Absicht der Konstrukteure dieser Ausstellung. Lyotard gab in zahlreichen Interviews bereitwillig Auskunft über die Zielstellung dieses Unternehmens. Auf die Frage, welchen Sachverhalt er mit den »Immateriellen« zum Ausdruck bringe, antwortete Lyotard: »Es handelt sich wirklich nicht um ein Vorhaben, das Informationszwecke bedient. Nicht um Information geht es, sondern eher um ein künstlerisches Anliegen. Wir wollen den Besucher in die Dramaturgie der Postmoderne einführen. Keine Geschichte, keine Helden, statt dessen ein Labyrinth von >StandortenWas heißt Denken?< oder >Was ist Sein?Geistigen Situation der ZeitLebensgeschiehtsetzenDas französische ,Aie', das 18 19 20

J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München 1987, S. 286. J.-F. Lyotard mit anderen, Immaterialität und Postmoderne, a. a. O., S. 49f. J.-F.Lyotard, Der Widerstreit, a. a. O., S. 11.

148

italienische ,Eh' und das amerikanische ,Whoops' sind Sätze; ein Augenzwinkern, ein Stampfen mit dem Fuß, ein flüchtiges Erröten oder ein plötzliches Herzklopfen können Sätze sein. Und das Schwanzwedeln eines Hundes, die aufgestellten Ohren einer Katze? Und ein Körnchen, das vom Wind dem Meer zugetragen wird?< Stimmt man erst einmal einer so weiten Bedeutung des Wortes >Satz< (phrase) zu, die von jeder Definition in bezug auf die Rede abstrahiert, dann fragt sich, wie Sie das ins Verhältnis setzen zum üblichen Sprachgebrauch, an den es doch zwangsläufig gebunden bleibt?« Und hier nun die Antwort Lyotards: »Ich kann mich auf die Etymologie berufen, denn im Griechischen bezeichnet phrasein Weisen des Bedeutens, die nicht sprachlich sind. An sich ... kann alles einen Satz bilden, insofern es, und sei es nur für einen Augenblick, so etwas wie ein Universum eröffnet und damit Sinn erhält, der noch zu bestimmen ist.. ,« 21 Ein Universum nun besteht nach Lyotard (dem Lyotard des »Widerstreits«, genauer gesagt) aus vier verbundenen Positionen: einem Sender, einem Empfanger, einem Referenten, einer Bedeutung. Bezieht man sich auf das Satzbeispiel »Körnchen«, so wird es schwierig zu verstehen, wie die vier Stellen des Universums besetzt sein können. Was bedeutet »bedeuten« in dieser Bedeutung? In einer Hinsicht wird der menschlich-sprachliche Bezug ausdrücklich ausgeschlossen, siehe die Antwort Lyotards an Derrida, siehe die Auswahl der »Satz«-Beispiele. In dieser Hinsicht verweist »bedeuten« auf eine bestimmte Vorstellung, die nach Ansicht Lyotards im heutigen Bewußtsein immer stärker wird, die kommunikationstheoretische Vorstellung von der allgemeinen Interaktion.22 Diese wird aber so weit gedehnt wie die Extension seines »Satz«-Begriffs - sie hat nicht mehr unbedingt mit Verständigung zu tun, sondern fällt, wenigstens der Sache nach, extensional zusammen mit dem Gültigkeitsfeld der Vorstellung von der allgemeinen Wechselwirkung. Siehe das »alles« in der Antwort an Derrida, siehe das Insistieren auf Beziehungen zwischen den Galaxien, auf »Sterne als Material der Programmierung und Verwandlung der Elemente« 23 in Lyotards Publikationen zu der »Immaterialien«-Ausstellung. 21 22 23

J.-F. Lyotard mit anderen, Immaterialität und Postmodeme, a. a. O., S. 22f. Siehe ebenda, S. 65, 80. Ebenda, S. 15. 149

In einer zweiten Hinsicht, die soeben mit dem Stichwort »Programmierung« aufschien, wird der menschlich-sprachliche Bezug implizit wieder in den Gültigkeitsbereich der allgemeinen Wechselwirkung hineingetragen, gelangt der Autor zu recht »anthropomorphen« Äußerungen über »Geburt, Leben und Tod der Sterne im Himmel, dem kosmologischen Laboratorium« 24 . »Bedeuten« bedeutet in Lyotards »Satz«-Philosophie somit ein Hinaus- und Hinein-Gleiten, ein Gleiten aus einer üblichen Semantik, auf die angespielt wird, in eine andere, vom Autor nahegelegte, einen heimlichen Transport von geistigen Inhalten in einen anderen Zusammenhang. Lyotard bezeichnet dieses Gleiten zwischen den Semantiken als etwas Gesolltes. So erklärt er in seiner Konzeption für die »Immaterialien«-Ausstellung, diese Veranstaltung solle »anläßlich der gezeigten Objekte Übergänge, Übergriffe, das Gleiten einer semantischen Zone in die andere anregen«.25 Wir werden bald Gelegenheit haben, das postmodernistische Glissando an einer Schlüsselkategorie der Philosophie vorgeführt zu erleben, effektvoller als das Klarinettensolo aus der »Rhapsody in Blue«. Werfen wir jedoch zunächst eine Frage auf, die dem gesamten folgenden Studium unterliegen soll: Wie adäquat kann die Weltsicht dieses Postmodernismus sein, wenn in ihr Täuschung und Selbsttäuschung zum methodischen Prinzip erhoben sind? Wenn dieses Prinzip, wie sich Lyotard ausdrückte, »Sinn erhält, der noch zu bestimmen ist« - worin könnte er bestehen? Das »Denken von Zeit«, als welches sich die »Postmodeme« versteht, die Eroberung, Beherrschung von Zeit unterliegen jedenfalls strikt dem semantischen Glissando. Die Kategorie Zeit erscheint gleich in den Eingangssätzen des »Widerstreit-Buches, und zwar in einer zwingenden Rolle, denn die Rede ist von »der Notwendigkeit, das heißt der Zeit« 26 . Dieser Identität zufolge sei die »Postmoderne« das führwahr gewaltige Projekt, die Notwendigkeit selbst zu erobern und zu beherrschen. Indessen reduziert sich die Notwendigkeit = Zeit gleich anschließend darauf, daß an einen geschehenden »Satz« ein anderer anschließen muß, 24 25 26

Ebenda. Ebenda, S. 78. J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, a. a. O., S. 11.

150

wobei gilt: »...es gibt keinen Nicht-Satz, Schweigen ist ein Satz, es gibt keinen letzten Satz«27, so daß es denn auch »kein Ende der Zeiten oder der Zeit gibt« 28 . Mit dem Geschehen und Verkettetwerden der »Sätze«, das in »Runden« abläuft 29 , wird auch die Zeit portioniert: »...es geht um punktuelle Zeiten, um Augenblicke«.30 Leicht ersichtlich, daß das Glissando der Täuschung/Selbsttäuschung hier einen ersten Triumph feiert: Lyotard hat den ganzen Ärger mit dem Kontinuierlichen der Zeit, ihrem Fließen, obendrein mit den charakteristisch-rhythmischen Frequenzen der verschiedenen zeitlichen Verhältnisse und deren Interferieren unter den Tisch gleiten lassen; übrig bleibt nur noch das Diskontinuum, säuberlich zerteilt durch die Satzschlüsse. Er kann sozusagen die Zeit = Notwendigkeit nach Teilen schlagen, um sie zu erobern und zu beherrschen. Diese Möglichkeit plausibel erscheinen zu lassen verlangt indessen nicht geringe Mühe. Kein längerdienender Philosoph darf die Bibliotheksregale voller niedergelegter Zeit-Auffassungen unbeachtet lassen, wenn er schon die Zeit so in Körnchen zerspalten will, daß die evozierte Katze sie auf dem Schwanz davontragen kann. Lyotard greift denn auch in die Bücherstapel. Sein »Widerstreit«Buch enthält eine Reihe von professionell aufgemachten Exkursen, die sich großenteils mit Zeit- und Geschichtskonzeptionen befassen. Diese Exkurse betiteln sich nacheinander wie folgt: Protagoras, Gorgias, Platon, Antisthenes, Kant I, Gertrude Stein, Aristoteles, Hegel, Lévinas, Kant II, Kant III, Die Menschenrechtserklärung von 1789, Cashinahua (das ist ein von dem Ethnologen d'Ans erforschter Indianerstamm), Kant IV. Die Autorenfolge wirkt schon ein wenig zerhackend, mischend und gleitend. Der Text zwischen den Exkursen teilt sich in numerierte Aphorismen. Dafür gibt es ein berühmtes Vorbild in der spätbürgerlich-philosophischen Literatur, das zwar nur kurz und am Rande genannt wird, aber 27 28

29 30

Ebenda. J.-F. Lyotard mit anderen, Immaterialität und Postmoderne, Berlin(West) 1985, S. 39f. Vgl. J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, a. a. O., S. 286. J.-F. Lyotard mit anderen, Immaterialität und Postmoderne, Berlin(West) 1985, S. 40.

151

der Betonung des Augenblicks, des Jetzt, durchscheint. Die Übergänge zwischen den Aphorismen, zwischen den Exkursen und den folgenden Aphorismen können in solcher Darstellungstradition recht willkürlich werden; ob auch fortschrittlich, sei dahingestellt. Interessant ist der Übergang vom Aristoteles-Exkurs zur Lyotardschen Interpretation. Die Zeitauffassung des Stagiriten wird dargelegt; an einer Stelle wird referiert, daß der Jetztpunkt unterschiedlich zu deuten sei, je nachdem, ob das Jetzt als das, was es ist, betrachtet wird oder »to lögo«, »im Satz«31. Der Postmodernist fühlt sich sofort zu der Deutung ermächtigt, daß es sich im ersteren Fall um ein »Satz-Vorkommnis« handele, das sich vergesse, wenn es nicht als Situation (vorher/nachher) in einem Universum auftrete, das von einem anderen Satz dargestellt werde; er sagt: »Die Zeit geschieht mit dem in den Satz-Universen implizierten Vorher/Nachher, als eine serielle Anordnung der Instanzen.«32 Und nach dieser Deutung im Exkurs selbst folgt der generalisierende Aphorismus 120: »Raum und Zeit gäbe es nicht unabhängig von einem Satz.« 33 Denn man ist schon weiter geglitten. Der All-Operator aus der Antwort an Derrida wird durchaus nicht nur potentiell verstanden (»Alles ... kann einen Satz bilden«), sondern mehr und mehr aktuell: »Die Diskursart, die ihn« - einen paradoxen Satz - »gelten lassen muß, ist nicht die Logik, sondern die >Physikauf einmalInhaltsverzeichniskleine Erzählunglebenswichtig< genannter Organe; er muß daher heilbar sein wie ein klinisches Akzidenz. Durch das Hinausschieben des Todes lernen die Menschen die Unsterblichkeit als einen Zustand, der weder Leben noch Tod ist. Was wird in einem solchen Zustand aus der Identität des Subjekts, seiner Verantwortlichkeit, seiner Geschichte, seiner Hegemonie über die Zeit?« 68 Die zitierte Nachrichtengebung soll Beunruhigung erzeugen, nicht nur bezüglich des weder toten noch lebendigen Subjekts und seiner fraglichen Hegemonie über die Zeit im Unsterblichkeitszustand; angestrebt wird »ein Gefühl der Unsicherheit ... über 1) Sinn und Zweck von Entwicklung und 2) Unsicherheit über die Identität des menschlichen Wesens als ein bloßer Zustand kosmischer Materie«.69 Wir werden zu prüfen haben, worauf die gewollte Verunsicherung der Menschen hinausläuft; dem diene der nächste Unterabschnitt. Hier bleibt festzuhalten, daß die Operationen an der Materie in ebendiese Verunsicherung münden, münden sollen. Die Zeit wiederum, entscheidende Dimension der »Postmoderne«, wird demselben Zweck dienstbar gemacht: Gerade um die bewußte Unsicherheit zu erzeugen, veranstaltete Lyotard in seiner Ausstellung eine, wie er sagt, »Inszenierung von Zeit« 70 . Die Zeit ä la Lyotard, Art des Situierens von Sätzen = Nachrichten untereinander sowie ihrer Instanzen bzw. Pole, war hier ohnedies ständig präsent - stärker präsent als die Materie, wenigstens für den Postmodernisten, denn wenn Nachricht = Satz, muß auch gelten, daß es keine Nicht68

J.-F. Lyotard mit anderen, Immaterialität und Postmoderne, a. a. O., S. 85f. Ebenda, S. 70; vgl. S. 84. w Ebenda, S. 13. 69

11 Buhr, Moderne

161

nachrichten gebe und daß Schweigen eine Nachricht sei: Nachricht ohne Referent, das heißt ohne Materie, aber immerhin Glied einer »geordneten zeitlichen Reihe« 71 . In der »Immaterialien«-Ausstellung war die Materie, dem Denken ihres Generalkommissars zufolge, mindestens zeitweilig verschwunden, und dies schon dank der imaginativen Erfindung des »Terminus >ImmaterialPostmodernePostmoderneVerstadtung< (Zersiedlung). Das ist weder Stadt, noch Land, noch Wüste. Der Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie verschwindet, ja, es gibt auch kein Innen (Stadt der Menschen) und kein Außen (Natur) mehr. Man muß dabei mehrere Male das Autoradio wieder einstellen, da man mehrere Male den Sendebereich wechselt. Es wäre eher angemessen, von einem Nebelgebilde zu sprechen, in dem die Materialien (Gebäude, Straßen) metastabile Zustände einer Energie sind. Die >städtischen< Straßen sind ohne Fassaden. Die Informationen zirkulieren über Strahlungen und unsichtbare Interfaces. - Ein solcher Zeit-Raum, wie er hier flüchtig skizziert wurde, wird gewählt, um >Die Immaterialien< aufzunehmen.« 75 Ort: Die »Suburbia« Südkaliforniens, das ausgedehnte Vorortgebiet, wo die etwas angehobenen Stände hausen. Zeit: Das Gouvemorat Ronald Reagans, zwischen dem Mißlingen seines Frame-up gegen die Philosophin Angela Davis und der Kampagne für den Einzug ins Weiße Haus. »Zeit-Raum der >PostmoderneBerlin 1953, Budapest 1956, Tschechoslowakei 1968, Polen 1980< (ich lasse einiges aus) widerlegen die historisch-materialistische Doktrin: Die Arbeiter erheben sich gegen die Partei.« 76 75 76

il

Ebenda, S. 87f. J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, a. a. O., S. 296.

163

Dieses schöne Glissando in der »Postmoderne« : von der einen Haltung, die der unmittelbar-persönlichen Umgebung in der alten Arbeiterhochburg, dem roten Saint-Denis, vorgeführt wird, zu der recht anders gearteten Einstellung in der fernwirkenden philosophischen Schrift, auch in der massenwirksamen quasi-philosophischen Ausstellung, kann passend einstimmen in das Studium postmodernistischer Handlungsorientierungen. Die wichtigste Orientierung, die J.-F. Lyotard im praktischen Bereich seiner Philosophie zu weisen hat, ist das Ziehen einer Widerstandslinie.11 Mit dem kategoriellen Instrumentarium ist diese Orientierung insofern »verkettet«, als der Widerstreit die Basis des Widerstands sein soll.™ Das Wort Widerstand genießt in Frankreich hohes Ansehen. Grundlegend dafür war der Heroismus der Résistance, des massiven Widerstands gegen die hitlerfaschistische Okkupation (1940-1944), dem die französischen Kommunisten klare und wirksame Führung geboten haben - unter solchen Opfern, daß die FKP den Beinamen »Partei der Erschossenen« führt. Vom Ansehen der Résistance schmarotzt ein André Glucksmann, der den Ausdruck Widerstand in Beschlag nimmt. Das fragwürdige Verdienst, die Résistance-Idee gegen das Gros ihrer Vorkämpfer gekehrt zu haben, gebührt A. Glucksmanns Lehrer, dem bürgerlichen Soziologen Raymond Aron, mit seiner Parole: Widerstand jetzt, Widerstand mit allen Mitteln, Widerstand gegen den Kommunismus. Was für Widerstand will J.-F. Lyotard? Karl Marx hat im Schlußteil des »Achtzehnten Brumaire« die zahlreichen Erhebungen - also Widerstandsaktionen - der französischen Parzellenbauem gegen eben den Napoleon III., der dank ihrer auf den Kaiserthron gelangt war, als historisch zwiespältig gewertet. Im Grunde repräsentierte jenes Kaisertum den später unzufrieden gewordenen konservativen Bauern - »nicht die Aufklärung, sondern den Aberglauben des Bauern, nicht sein Urteil, sondern sein Vorurteil, nicht seine Zukunft, sondern seine Vergangenheit, nicht seine modernen Cevennen, sondern seine 77

78

Vgl. J.-F. Lyotard, Grabmal des Intellektuellen, a. a. O., S. 39, 53-67; vgl. auch ders.. Der Widerstreit, a. a. O., S. 282-284, 298f; vgl. auch J.-F. Lyotard mit anderen, Immaterialität und Postmoderne, a. a. O., S. 49, 54, 69. Vgl. J.-F. Lyotard mit anderen, Immaterialität und Postmoderne, a. a. O., S. 49.

164

moderne Vendée«.79 In den Aufständen protestierte ein Teil dieser Bauern gegen sein eigenes früheres Votum.80 Die Cevennen waren Schauplatz des antifeudalen Aufstands der Camisards zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die Vendée die Region einer Bauemerhebung

gegen

die

Französische

Revolution,

der Bewegung

der

Chouans, der Käuzchen. Bei Glucksmann ist der Fall absolut klar: Er schwärmte schon vor Jahren für neue »Chouanneries«.81 Bei Lyotard bliebe noch aufzuklären, wohin seine Widerstands-Empfehlungen summa summarum gleiten: Postmoderne Cevennen? Postmoderne Vendée? Verfolgen wir dazu die drei von ihm gezogenen Widerstandslinien a) gegen die Vorherrschaft des Kapitals, b) gegen negative gesellschaftliche Entwicklungen schlechthin, c) gegen die »postmoderne« Architektur und Kunst, denn - so seltsam dies auch scheinen mag - der Philosoph der »Postmoderne« ist ein unnachgiebiger Gegner der Kunst à la »Postmoderne«, und gerade auf dieser Linie offenbart sein »Denken von Zeit« die Weisungen eines sehr wichtigen, weil namentlich nennbaren »Geistes der Zeit«. a) Die Vorherrschaft des Kapitals scheint sich in Lyotards »Postmoderne« zu festigen. Zwar sagt er: »>Kapitalismus< ist einer der Namen der Moderne« 82 , und er sagt auch, daß die »Moderne ... heute vorbei ist« 83 . Dennoch konstatiert er, »daß es zum Kapitalismus keine globale Alternative gibt«, und er prognostiziert, »daß es in der kommenden Krise nicht um den Sozialismus ... gehen wird, sondern um die Ausdehnung kapita79

K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: K. Marx/F. Engels,

80

Ebenda, S. 200.

81

Vgl. A . Glucksmann, Die Meisterdenker, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 167,

Werke, Berlin 1956ff„ Bd. 8, S. 199.

191. -

Nach

einem

Korrespondentenbericht

von

V. Vladimirov

wurde

A . Glucksmann inzwischen gemeinsam mit den antisowjetischen Emigranten V. Maximov und L. PljuSfc Mitglied des Redaktionskollegiums des Presseorgans »L'autre >PravdaPostmodernearbeitenPostmoderne68 P. Virilio, Fahren, fahren, fahren ..., Berlin(West) 1978, S. 89.

190

sich auf Lyotard bezüglich des Verschwindens der großen Erzählungen.169 Auch Virilio nennt die Gegenwart »Postmoderne«, er bestimmt sogar einen Helden derselben, den amerikanischen Multimillionär Howard Hughes.170 Auch er setzt die »postindustrielle Gesellschaft« voraus.171 Und wenn bei Lyotard Geschmeidigkeit, Wendigkeit, Raschheit eine erhebliche Rolle spielten, so rückt bei Virilio die Geschwindigkeit ganz und gar in den Mittelpunkt der Betrachtung. Ihm wird nachgesagt, er sei der Theoretiker der Geschwindigkeit und der Begründer einer neuen, ihr gewidmeten Wissenschaft, »die er Dromologie nennt und in der sich Technikgeschichte, Kriegsstrategie, Urbanistik, Physik und Metaphysik überlagern«172. Anders aber als bei Lyotard, der - wie angeführt - die Erwähnung großer Gefahren als »Funktor« der narrativen Funktion dem Verlorengehen überantwortet, läßt bei Virilio die besondere Beachtung der Geschwindigkeit nichts anderes mehr im Blickfeld als seltsam geäußerte Untergangsperspektiven. So will er etwa die Welt im Licht der Geschwindigkeit sehen, was für ihn »eine Frage des Bezugs zur Welt, der Weltanschauung« ist; dabei wird ihm die von seiner meistgenannten Bezugsperson, dem passiv bewegten Insassen eines Land-, Wasser- oder Luftfahrzeugs, kurz: dem Passagier, durchstreifte Welt zu einer »Welt, die von der Geschwindigkeit produziert wird«; sie gilt ihm damit als »eine Repräsentation, eine Vorstellung«, und dies führt ihn selbst zu der Bemerkung: »Man findet hier den Pessimismus Schopenhauers wieder, die Welt als Vorstellung, doch nunmehr als Vorstellung der Geschwindigkeit.« 173 Und der Pessimismus der Dromoskopie, wie Virilio den geschilderten Effekt nennt, übergipfelt sein Vorbild! Schopenhauer hatte wenigstens Geld, was aber hat ein gescheiterter Yuppie? Also beschwört die Dromoskopie des Dromologen Virilio nicht nur die Schlechtigkeit der Welt, sondern ihr Ende: »Umweltverschmutzung, Bevölkerungsentwicklung, Rohstoffknappheit - beunruhigender als all das ist zweifellos die konstante Zunahme hoher Geschwindigkeiten; die Beschleunigung ist buchstäblich 169 vgl. P. Virilio/S. Lotringer, Der reine Krieg, Berlin(West) 1984, S. 39. ™ Vgl. ebenda, S. 75. 171 172

173

Vgl. P. Virilio, Fahren, fahren, fahren ..., a. a. O., S. 53. P. Virilio, Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie, Berlin(West) 1980, 2. Umschlagseite; P. Virilio/S. Lotringer, Der reine Krieg, a. a. O., 2. Umschlagseite. P. Virilio/S. Lotringer, Der reine Krieg, a. a. O., S. 85.

191

DAS ENDE DER WELT!« 174 Ein nahes Ende obendrein: »Von jetzt an ist alles extrem, ist das ENDE der Welt fühlbar in der Situation, die sowohl aus der Super-Durchdringbarkeit der Gelände wie aus der HyperKommunikabilität der Mittel herrührt.« 175 Mit der Welt oder auch, je nachdem, schon vor ihr findet für Virilio einiges andere sein Ende. So etwa der Raum: Ihn habe schon im Vorjahrhundert die Eisenbahn in eine »metaphysische Entität, der jegliche Realität abhanden gekommen ist«176, verwandelt. So weiter die Geschichte, die sich bereits jetzt, nach bekanntem Diktum, in lauter Geschichten auflöse177 (wobei Virilio den Begriff der Fraktale strapaziert, um zu unterstellen, daß sich die Geschichte fragmentiere ...). Und schließlich redet Virilio auch - hier in vollem Gegensatz zu Lyotard - vom Ende der Zeiten und der Zeit.™ Zum großen Glück für die Welt, mithin wohl auch für den Raum, die Geschichte, die Zeiten und die Zeit sind sie von allem diesem Verenden wesentlich insofern betroffen, als sie Repräsentation, Vorstellung in Virilios Dromologie und gründlicher Dematerialisierungi79 unterzogen worden sind. Überhaupt führe seine Dromologie, die er als »Logik des Laufs« 180 , das heißt der schnellen Bewegung, definiert und nach dem griechischen Wort für »Straße« und »Rennbahn« 181 benennt, »in eine völlig neue Welt ein, die noch nie zuvor entdeckt worden ist« 182 . Schöne neue Welt, ließe sich mit Aldous Huxley sagen. Die Vorstellungs-Welt des pessimistischen Postmodernisten Virilio ist reich an pikanten Details. So hält sich ihr geistiger Urheber wohl selbst für einen Linken, der zwar nicht an die Revolution, aber an revolutionären Widerstand glaubt. 183 Dort, wo er seine Repräsentationen präzisiert, gibt er dann recht eigentümliche Schilderungen von revolutionären Handlungen. Positive 174

P. Virilio, Fahren, fahren, fahren ..., a. a. O., S. 30. 5 Ebenda, S. 43f. 17 Ebenda, S. 27. 177 Vgl. P. Virilio/S. Lotringer, Der reine Krieg, a. a. O., S. 40f. 50. 178 Vgl. ebenda, S. 41,70,75f. 179 Vgl. P. Virilio, Fahren, fahren, fahren ..., a. a. O., S. 17. 180 p Vorilio/S. Lotringer, Der reine Krieg, a. a. O., S. 46. 181 Vgl. ebenda, S. 63. 182 Ebenda, S. 43f. Vgl. ebenda, S. 81. 17

192

Bewertungen erhalten die Hörsaal-, Haus- und Platzbesetzungen im Paris des Mai/Juni 1968, als Ausdruck einer Machtergreifung der Phantasie, die nicht darauf ausgeht, die Gesellschaft von Grund auf zu ändern 184 , sowie die Operationen der »Solidarnosö« in Polen, von der Virilio ausdrücklich sagt, sie sei keine Gewerkschaftsbewegung, sondern habe sich »als Gegenmacht formiert« 185 . Wogegen? Wohl gegen die Konsequenzen der »Dromokratie«, dessen nämlich, was in Virilios Vorstellungs-Welt an die Stelle der dort nicht existenten Demokratie tritt: das Regiment von Leuten, die durch Anwendung von Geschwindigkeit Macht ausüben oder anstreben, von Dromokraten, wie er sie nennt. Ihr Geschäft bestehe darin, »»Banden ehemaliger Soldaten< der Arbeiterarmee, ihre Dromomanen«, in Aufwallungen zu versetzen und mittels dessen ihre Ziele durchzusetzen, wie es sich Virilio parallel von J. Goebbels und L. de Saint-Just beglaubigen läßt.186 Als Dromomanen - das sind eigentlich Gemütskranke, die ruhelos umherlaufen - qualifiziert der postmodernistische Neuweltentdecker in einem Zuge die hitlerfaschistischen SA-Leute und die Sansculotten der Französischen Revolution 187 , »verschiedene revolutionäre Gruppen, wie die Apachen und andere verrufene Bevölkerungsschichten der Vorstädte«188 und, natürlich, die »Commune von Paris« 189 . Als Dromokraten erscheinen Engels, Goebbels, Marx, Saint-Just, Pol Pot, Robespierre, Jaruzelski. Man kann fast ahnen, wie sich Virilios Vorstellungs-Welt ordnet, wenn er zwar von Proletariern redet, aber hinzufügt, was ihn interessiere, sei »nicht die Klassenproblematik«, so daß in seiner Repräsentation »der Begriff der Klasse hinter Kategorien der Besetzung des Raumes ... zurücktritt.« 190 Man wird dennoch von der Macht dieser Phantasie überwältigt. Sie definiert nämlich den Arbeiter im Anschluß an Ernst Jünger, der auch den Unternehmer und den Soldaten unter diesen Begriff ziehe 191 , sie beschwört dann die Staatsmaschine des Nuklearstaats, dessen grundlegendes Konzept sich in vollautomati184

Vgl. ebenda, S. 82. Ebenda, S. 152. 186 vgl. P. Virilio, Geschwindigkeit und Politik, a. a. O., S. 11. 187 Vgl. ebenda, S. 29f. 188 Ebenda, S. 10. 189 Ebenda, S. 12. 190 P. Virilio, Fahren, fahren, fahren ..., a. a. O., S. 70f. 191 Vgl. ebenda, S. 10. 185

13 Buhr, Moderne

193

sierten Raketen-Kernwaffensystemen ohne jede Bedienungsmannschaft manifestiere, und konfrontiert schließlich diese phantastische Maschinerie mit der Person eines wahrhaft illustren Proletariers, nämlich des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika: »Angesichts dieser letzten Kriegsmaschine und überprüft durch sie, hält sich der letzte Militärproletarier, der nunmehr willenlose Körper des Präsidenten der Republik und Chef einer verschwundenen Armee. Der Körper des Präsidenten ähnelt den Körpern der früher mit Gewalt zum Dienst gepreßten Soldaten, die zwischen zwei Feuer geraten: seine letzte Handlung wird der Angriff sein.«192 Wohlverstanden, der nukleare Angriff, und mit ihm natürlich 'das dromologisch längst in Aussicht gestellte ENDE DER WELT. Aber der so bezaubernde und so pikant vorbereitete Kapitelschluß aus der Schrift »Geschwindigkeit und Politik« erweist sich als bloße Variante des Weltenendes, die plötzliche, schlagartige Variante. In seiner weiteren Entwicklung stellt der pessimistisch gemauserte Postmodernismus eine in langes Schmachten ausmündende Variante bereit, und das ist »Der reine Krieg«. Virilios so betitelte Arbeit entfaltet die Hoffnungslosigkeit, die schon Lyotard, obwohl »im Prinzip optimistisch«, auf sich zu nehmen empfiehlt, nunmehr unter allen Aspekten. Da entgeht niemand einem kläglichen Ende. So auch nicht die Reichsten und Geschäftstüchtigsten, wie der Multimillionär Howard Hughes, »Held der Postmodeme« 193 , auf den sich Virilio öfters bezieht. Nach Ansicht des Autors war Hughes, der als erster im Privatflugzeug die Welt umrundete, ein Pionier des leeren Rundflugs, der Seßhaftigkeit in der Bewegung, Transport-Seßhaftigkeit oder Bewegungsstarre, wie sie nach Ansicht des Autors zur Massen-, ja Allerweltssituation der dem »Jet Set« nacheifernden Begütertenschichten in der »Postmoderne« werden 194 : Man nehme da in Roissy-en-France eine Flugkarte nach Roissy-en-France, nur eben rund um die Welt, installiere sich dergestalt passiv in »toter Zeit« und erlebe obendrein, wie der Zeitverbrauch für diesen Leerlauf um die Welt mit zunehmender Fluggeschwindigkeit schrumpfe, analog zu dem mit der Geschwindigkeit der Trägermittel schrumpfenden Zeitraum zwischen Angriff und Gegen192 193

P. Virilio, Geschwindigkeit und Politik, a. a. O., S. 157. P. Virilio/S. Lotringer, Der reine Krieg, a. a. O., S. 75. Vgl. ebenda, S. 75f.

194

schlag. Dies alles versteht sich mit unter der »Erschöpfung der Zeit«, dem »Ende der Zeit« 195 . Jedem, auch dem Nichtbegüterten, der nur vor der Bildröhre sitze und die andere Seite der Welt im Nu »live« vor sich sehen könne, soll nun nach Virilio das Schicksal des Pioniers und Helden Hughes drohen, der nach umfangreicher Betätigung in allem, »was mit Geschwindigkeit zu tun hatte«, Filmwesen, Flugwesen, Weltreisen etc., die letzten 15 Lebensjahre in einem Hotelzimmer in Las Vegas verbrachte, sein Bett nicht mehr verließ und sich 164mal denselben Film über das Leben der eingeschlossenen Bewohner einer Polarstation ansah. 196 Und selbst in diesem hoffnungslosen Selbstabschließen wäre man nach Virilio noch vom »reinen Krieg« verfolgt: Man sieht Filme? Aber der Film, so Virilio, ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln... 197 In der Tat, ein Kennzeichen, das Kennzeichen der Hoffnungslosigkeit in diesem pessimistischen Postmodernismus ist die Allgegenwart des militärischen Gesichtspunktes, ist ein »Kriegshorizont« auf jedem Gebiet 198 , und der ist dort bei Virilio von vornherein eingebaut, existentiell wie kategoriell, total unentrinnbar. Existentiell - das versteht sich zunächst persönlich. Der in der Kindheit erlebte Schrecken des zweiten Weltkrieges und die aufgenötigte Teilnahme am Algerienkrieg (als Wehrpflichtiger) haben das Denken des Autors zutiefst geprägt. Nach Virilios Äußerungen »war der Krieg mein Vater und meine Mutter«; er sagt auch: »Der Krieg war meine Universität.« 199 Dies wider Willen: »...man sucht sich seine Eltern nicht aus« 200 . Verständlich so weit; aber Virilios Kindheits- und Jugenderlebnisse sind die von Dutzenden Millionen Europäern; woher bei ihm die bleibende Obsession des Kriegsgedankens? Wir meinen, hier widerspiegeln sich noch andere existentielle Bedingungen. Wer wie Virilio in den USA und in Frankreich publiziert, wird auf seiner Erlebnisbasis weiter sensibilisiert durch die Alltagspräsenz des Kriegsthemas in den Medien der Weltwaffenhändler Nr. 1 und 2, ebendieser Länder: Es ist dort sozusagen das Grundrauschen der »Postmoderne«. Und Virilio registriert das: »...die 195 196 197 198 199 200

13*

Vgl. ebenda, S. Vgl. ebenda, S. Vgl. ebenda, S. Vgl. ebenda, S. Ebenda, S. 29. Ebenda.

32, 67, 73—75. 75. 85. 86.

195

postindustrielle Gesellschaft ist die militärische Gesellschaft.« 201 Wenn außerdem der Postmodernismus, ob optimistisch oder pessimistisch getönt, etwas mit der Haltung der kleinen Risikokapitalisten zu tun hat: In welche Richtungen geht eigentlich ihr Innovieren um jeden Preis, wenn es das strategische Ziel des hasardierenden Aufbruchs ihrer Geldgeber ist, den Kommunismus zurückzudrängen und dazu wieder militärische Überlegenheit zu erlangen? Man weiß, daß 50% der USA-Physiker für die Rüstung arbeiten 202 - wie präsent ist der Krieg in der Yuppy-Existenz? Wie dem auch sei, Virilio hat seine Obsession kategoriell fixiert. Krieg erweist sich bei der Durchsicht seiner Schriften als die Triebkraft-Kategorie in Virilios Vorstellung von den menschlich-gesellschaftlichen Entwicklungen; sie hat in seinem Denken etwa die Stellung wie Widerstreit bei Lyotard. In seiner Repräsentation der Sozialentwicklung geht jenem universellen Wirken des Krieges zwar eine Phase niedriger Organisation voraus, in der es nur Tumult, noch nicht Krieg gibt; aber diese wäre nach Virilio schon zu jenem Zeitpunkt beendet, an dem der Mann die Frau gezähmt hat, um sie als Vehikel zum Waffentransport sowie als Zubereiter von Nahrung in seine Kriegsdienste zu nehmen - wandelnde Waffenkammer und Feldküche, sozusagen. Virilios geraffte Repräsentation von Jahrzehntausenden Menschheitsgeschichte sieht dann so aus: »Die Entwicklung läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Eine Gesellschaft ohne technologische Vehikel, in der die Frau die Rolle einer logistischen Gattin spielt, als Mutter des Krieges und des Lastwagens. 2. Ein vages Vernünftigmachen von seelenlosen Körpern zu metabolischen Vehikeln.203 3. Das Reich der Geschwindigkeit und der technologischen Vehikel. 4. Konkurrenz und später Niederlage des metabolischen Vehikels gegenüber den technologischen Boden-Vehikeln. Und in einem letzten Absatz kann man logisch folgern: 5. Ende der Diktatur des Proletariats und Ende der Geschichte in einem Krieg um Zeit.« 204 201 202

203 204

P. Virilio, Fahren, fahren, fahren ..., a. a. O., S. 53. Angabe von K. Lanius in seinem Vortrag im Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR, 25. 5. 1988. Gemeint ist die Zähmung und Dressur von Trag- und Reittieren. P. Virilio, Geschwindigkeit und Politik, a. a. O., S. 118.

196

Vorne Krieg, hinten Krieg, alles andere irgendwie dazwischen: Diese Darstellung ist kein Zufall. Virilios Denken müht sich weniger um die großen philosophischen Kategorien als dasjenige Lyotards, es übernimmt die Vorbegriffe der alltäglichen Empirie. Zeit bleibt die Zeit des Kalenders und der Uhr; daher sind denn auch die großen Bahnhofsuhren Symbole der »Horolatrie«, eines Kultes der Zeit.205 Raum wird generell euklidischdreidimensional verstanden; die modischen Berufungen auf Einstein haben keine gedanklichen Konsequenzen. Geschwindigkeit, der vielverwendete Ausdruck, meint nichts weiter als das Tempo der Ortsveränderung von Objekten im euklidischen Raum, Wegstrecke pro Zeiteinheit. Selbst die Materie ist für Virilio nichts allzu Gewichtiges, sie bedeutet für ihn das, was die unmittelbare Anschauung als daseiend annimmt, und kann daher mitsamt dem Materialismus leicht abgetan werden; es ist lehrreich zu lesen, wie Virilio beide letztere »demystifiziert«: »Man kann nicht mit Berufung auf den Materialismus sagen, daß es den Tod nicht gibt und daß darin nicht unser Problem liegt. Ebenso absurd ist es, zu sagen, daß es Gott nicht gibt. Das ist heidnisch, das ist Paganismus. Es läuft darauf hinaus, daß man sich nur an das klammert, was wirklich materiell, wirklich solide, haltbar und sichtbar ist. Was für eine Illusion! Alle Wissenschaften beweisen uns, daß das nicht stimmt, daß das, was ist, nicht ist und daß ich meinen Augen nicht trauen kann. Wir leben in einer Gesellschaft, in der man seinen Augen nicht mehr trauen kann, in der man nicht mehr glauben kann, daß Materie und physische Anwesenheit wirklich sind. Die Hologramme zeigen es uns, lassen es uns gewissermaßen mit Händen greifen. In dieser Hinsicht erhellt die Wissenschaft vieles. Sie demystifiziert die Materie, und indem sie dies tut, demystifiziert sie auch den Materialismus.« 206 Der postmodemistische Immaterialismus tritt uns hier im religiösen Bekennergewand und in besonderer methodologischer Nonchalance entgegen. Das »Credo quia absurdum«, das hier hinter der postmodernistischen Verballhornung der Denkmittel durchschimmert, wird mit einer Methodik an den Leser gebracht, die nichts von Explikationen hält, auf die Suggestion vertraut und von einem Gedanken »mittendrin« zu einem anderen springt, wie der pessimistische Postmodemist selbst betont.207 205 206

Vgl. P. Virilio, Fahren, fahren, fahren ..., a. a. O., S. 48. P. Virilio/S. Lotringer, Der reine Krieg, a. a. O., S. 130f. Vgl. ebenda, S. 42f.

197

Von seinem Freund Lotringer läßt er seine Darstellungsweise mit der Aphoristik Nietzsches vergleichen und über sie aussagen, sie sei »entschieden teleskopisch«, sie lasse »verschiedene Perspektiven und Blickwinkel zusammenstoßen«, es handele sich »um einen Diskurs im Kriegszustand«.208 Schon wieder Krieg... Mitunter, eher häufig, scheint Virilio mit den Fakten auf Kriegsfuß zu stehen: »Nach Nietzsche hat man erst Gott abgeschafft und dann auch die Frage nach Gott, was zum Materialismus, zum historischen Materialismus etc. geführt hat.« 209 Solches Teleskopieren, solches Demystifizieren erleben wir bei ihm ein um das andere Mal. Und was herauskommt, ist Krieg, immerfort Krieg, selbst wenn kein Krieg geführt wird. Die postmodernistischen Operationen haben einen kategoriellen Kahlschlag bereitet, und auf dem wuchert unkontrolliert das Konzept vom alles erstickenden reinen Krieg. Diese Zentralvorstellung in Virilios gleichbetitelter Schrift ist seiner Beschreibung nach ein permanenter Krieg 210 , der in dauernder Kriegsvorbereitung besteht2n; es wäre Friede als Krieg 212 , auch bestimmbar als logistischer Krieg 213 . Eine anhaltende Bedeutungszunahme der Logistik bzw. der Militärökonomie - was für den Autor dasselbe ist - führe zur Abhängigkeit des materiellen Wachstums vom militärischen Wachstum und damit zum Stillstand der gesellschaftlichen Entwicklung.214 Der Autor malt eine allgemeine Perspektive der Nichtentwicklung - für ihn wird es bald nur noch sich nichtentwickelnde oder sich unterentwickelnde Gesellschaften geben; ein Moment dessen sei der kulturelle Selbstmord, die Ausbreitung eines allgemeinen Obskurantismus215, ein anderes der Übergang der Armeen, die durch Vollautomatisierung der Kriegsmaschinerien eigentlich überflüssig würden, zur Ausübung innerer Repressions208 Ebenda. 2(

» Ebenda, S. 132.

210

Vgl. ebenda, S. 25. 1 Vgl. ebenda, S. 52. 212 Vgl. ebenda, S. 138. 213 Vgl. ebenda, S. 121 f., 158. 214 Vgl. ebenda, S. 48, 56, 93-118, 121f„ 138, 155, 166, 168. - Man sieht, wie hartnäckig die Idee wiederkehrt. 2 '5 Vgl. ebenda, S. 58. 21

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funktionell, das heißt zur »Binnen-Kolonisation« 216 . Diesen Prozeß sieht der Autor in einigen schwachentwickelten Ländern Afrikas und Lateinamerikas, die unter Militärregimen stehen, als weit fortgeschritten an; darum würden diese Länder - insbesondere auch ihre Elendssiedlungen am Rande hochmoderner Flugplätze - dem heutigen Europa und Nordamerika die Zukunft weisen, übrigens auch dem sozialistischen Weltteil, der für Virilio keine Rolle in den internationalen Angelegenheiten spielt 217 und sich, wie es ihm scheint, mit verspäteter Nachahmung amerikanischer Entwicklungen beschäftigt. Eher nebenbei kann es auch zum Atomtod, zum Tod der Zivilisation kommen 218 ; deshalb beinhaltet die Vorstellung vom reinen Krieg auch eine Ausrichtung des Wissens auf das Ende 219 . Die so oder so vernichtenden Konsequenzen dieser Vorstellung hat ihr Urheber originär damit eingebaut, daß der Krieg - im strikten Sinn der bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Staaten oder ihnen ähnlichen Gebilden - zum Vater aller Dinge erhoben wird. Für Virilio ist, das wird ausdrücklich gegen Marx gesagt, der Krieg der Ursprung der Ökonomie 220 wie auch der Stadt 221 und der Technik 222 . Da die Technikentwicklung einseitig auf die Entwicklung immer höherer Fortbewegungsgeschwindigkeiten reduziert gedacht und der technologische Fortschritt als rein »dromologisch« verstanden wird, kommt die ganze »Dromologie« Virilios vom Krieg zum Krieg: Die Geschwindigkeit soll das Wesen des Krieges sein 223 , und der »reine Krieg« bestimmt sich unter anderem als »entfesselte Geschwindigkeit« 224 . Behauptet wird überdies, das geschichtlich durchgängige Phänomen sei nicht die Ökonomie, sondern der Krieg 225 . Die Überraschung bei alledem: Virilio versteht sich als Kriegsgegner. Er wünscht die angegebenen Konsequenzen nicht, er äußert Sympathien 21

* Ebenda, S. 97, 122, 155, 168. 2'7 Vgl. ebenda, S. 162. 218 Vgl. ebenda, S. 52. 21 « Vgl. ebenda, S. 25. 220 Vgl. ebenda, S. 107. 221 Vgl. ebenda, S. 9. 222 Vgl. ebenda, S. 28. 223 Vgl. ebenda, S. 156f. 224 Ebenda, S. 25. 225 Vgl. ebenda, S. 10. 199

für Pazifismus und Friedensbewegungen 226 , er meint, daß die Idee der Gerechtigkeit von Kriegen heute zurückgewiesen werden müsse 227 . Aber wie sich die Gefahren abwenden ließen, darüber läßt sich in seiner Vorstellungswelt wenig sagen. Jeder dauerhaften Organisiertheit abhold, für »sich selbst auflösende Gruppen« 228 und die Autonomie eines jeden 229 eintretend, kann er sich nur vage auf Gewaltlosigkeit als einzige Zuflucht berufen 230 und im übrigen Hölderlin zitieren: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«231 Das ist wenig, sehr wenig, zumal angesichts dessen, daß Paul Virilio den ernsthaften Kriegsgegnern fürchterliche Minen in den Weg gelegt hat. Kann ein Postmodernist nicht mehr den Gefährlichkeitsgrad seiner Behauptung einschätzen, daß der zweite Weltkrieg heute noch nicht beendet sei?232 Und weiß er nicht mehr, wem er das Wort redet, wenn er - wie angeführt - Kriegsvorbereitungen und Krieg selbst identifiziert? Des weiteren: Sofern im Postmodernismus, außer sehr viel Paralogie, Teleskopie und Suggestion, noch ein Rest von Explikations- und Logikbedürfnis bestehen sollte, möchte man erklärt bekommen, was in Virilios Vorstellungswelt an die Stelle der Urtriebkraft treten könnte, die der Autor so ungemein fest eingeführt hat - des Krieges. Wäre es gerade die Antwort auf diese Frage, daß er versucht, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben, den Krieg mit dem Tod? In der hier viel erwähnten Schrift über den »reinen Krieg« wendet sich Virilio aus religiös-ethischen Gründen gegen den Selbstmord, einschließlich des kollektiven, den die Auslösung eines Kernwaffenkrieges bedeuten würde. Zum anderen fordert er verschiedentlich eine neue Beschäftigung mit der Frage des Todes. Seine Gläubigkeit veranlaßt ihn zu der Äußerung: »Zu sagen, daß es nach dem Tod nichts mehr gibt, ist irreführend.«233 Diese Verheißung folgt auf eine Partie des in der genannten Schrift geführten Dialogs zwischen S. Lotringer und P. Virilio, die wir ab226

Vgl. ebenda, S. 122ff„ 135ff.

227

Vgl. ebenda, S. 53. 22 « Ebenda, S. 53. 229 Vgl. ebenda, S. 110. 230 Vgl. ebenda, S. 54f. 23 ' Ebenda, S. 109. 232 Vgl. ebenda, S. 29. 233 Ebenda, S. 42.

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schließend unterbreiten wollen, denn in ihr gipfelt das postmodernistische »Denken von Zeit«: Lotringer: »Parallel zur Fragmentierung der Geschichte in eine Vielzahl von Mikro-Erzählungen sieht man am Horizont eine Art mythologisches Epos auftauchen, das Epos des Atomtods, eine globale Vision des Planeten, die sich auf den Zusammenbruch unserer Zivilisation gründet.« Virilio: »Das ist die große Unterbrechung. Auf den individuellen Tod gründet sich das gesamte religiöse, mystische und magische Denken. Nachdem man sich erst einmal den Tod von Stämmen und Gruppen eingestanden hatte, stellte man sich vor, daß auch Zivilisationen sterben können. Im Nuklearen muß nun auch die Gattung ihren Tod erkennen. Der Atomtod führt auf die Frage nach Gott zurück. Und zwar nicht nur auf individueller Ebene oder auf der Ebene einer auserwählten Rasse, sondern auf der Ebene der Gattung. Er interpretiert die Rolle des Menschen neu.« Lotringer: »Und doch trägt er dazu bei, die Menschheit wieder zu vereinen.« Virilio: »Ihre einzige Einheit ist der negative Horizont.« Lotringer: »Das Ende der Zeiten oder das Ende der Zeit, wenn die Menschheit ihren letzten Auftritt hat.« 234 Man möge sich etwas beruhigen. Dies alles spielt vorerst nur in jener völlig neuen Welt, die noch nie zuvor entdeckt worden ist, der Welt als krause Vorstellung des Dromologen Virilio. Die düsteren Wolken aus sprachlicher Materie, die diese Welt ausmachen, vermengen die Widerspiegelung real vorhandener Gefahrenmomente mit verblasenen NegErfindungen postmodernistischen Stils. Was sich in ihnen artikuliert, paßt am besten zur Lebenshaltung des gescheiterten Hasardeurs, des sich autonom wähnenden Minibürgers, der riskiert und verloren hat. Immerhin sind es viele, viele, die in der »postmodern«-kapitalistischen Teilung der Gesellschaft in Winners und Loosers, Gewinner und Verlierer, das Los der letzteren ziehen; und selbst ein Wahnwitz von Theorie kann zur materiellen Gewalt werden, wenn er genügend zahlreiche Massen ergreift. Dann stünde die Welt vor argen Folgen solcher Verbreitung von Hoffnungslosigkeit, die sich obendrein mit Mystizismen über ein NichtNichts nach dem Tode oder ein Unsterblichwerden ä la Lyotard schwachen Trost spendet. 234 Ebenda, S. 41. 201

Die Aufgabe bleibt, energisch vorzuführen, daß ein Ende der Zeiten nicht zugelassen wird. Das Argumentieren stößt gegenüber dem Postmodernismus auf Grenzen; genauer gesagt, stößt es in einen Brei aus Phrasen, in dem jedes Argument versacken müßte. Notwendig bleibt das Schaffen von Tatsachen, handgreiflichen Ergebnissen im Sinne Lenins, an denen sich die lebenswillige, hoffnungsvolle Mehrheit der Menschen orientieren kann. Dem Philosophen obliegt es, Grundpositionen und Denkinstrumentarien dementsprechend ausbauen zu helfen und dabei Momente zu beachten, die hinter den postmodernistischen Hoffnungslosigkeiten durchschimmern.

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HANS-MARTIN GERLACH

(Halle)

Chaos oder Terrorismus der Vernunft Von den falschen Voraussetzungen einer »elenden Alternative« »Rückwärts in schönere Tage laß uns blicken« Karoline von Günderode Wie sich der bürgerliche Geist des ausgehenden 18. Jahrhunderts mit dem Phänomen auseinandersetzen mußte, daß nach der Kantschen Arbeit zum und am Sturz der Metaphysik ein metaphysisches System nach dem anderen hervortrat, so sieht sich der spätbürgerliche Geist am Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Phänomen konfrontiert, daß nach einer angeblich totalen »Entzauberung der Welt« (M. Weber) durch die mit der kapitalistischen Warenproduktion verbundene Zweck-Mittel-Rationalität das Hervortreten neuer »Zaubergötter« in Form unterschiedlichster Mythenangebote als Rettung vor der entmenschlichten Gewalt der Wissenschaft geradezu Konjunktur feiert. Der wachsende Strom von Publikationen, von Sendungen in den Medien, von Tagungen und Kongressen, die sich alle in dieser oder jener Form mit dem »Aufbruch zum neuen Mythos« beschäftigen, ist meines Erachtens nur ein äußerliches, aber recht bemerkenswertes Indiz für Strukturveränderungsprozesse in der spätbürgerlichen Gesellschaft, die damit in ihrem ideologischen und theoretischen Bewußtsein ihre wachsende Krisenhaftigkeit konstatiert, kritisiert oder aber rechtfertigt. Der »anarchisch« philosophierende Paul Feyerabend entwirft aus seiner Sicht die Grunddichotomie der »modernen Zeit«. In seinem Artikel »Irrationalität oder: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?« lesen wir: »Laßt die Vernunft fallen, so sagen unsere Philosophen, unsere Wissenschaftler, unsere Intellektuellen, und ihr endet im Chaos (werdet gottlos, und ihr endet in der Hölle, war die sehr ähnliche Drohung ihrer religiösen Vorgänger) - und es scheint in der Tat, daß die Beseitigung der Vernunft uns mit leeren Händen zurücklassen muß, unfähig, die Probleme zu lösen, die uns umgeben. Chaos oder Terrorismus der Vernunft - das scheint die elende Alternative zu sein, vor der wir stehen.« 1 Feyerabend hat diese 1

P. Feyerabend, Irrationalität oder: Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?, in:

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Alternative schon aufgelöst, denn »die Welt ist nicht ein geordnetes System, in dem man es sich häuslich einrichten kann«, »kein Kosmos, sie ist ein vorübergehender Aspekt eines vielfach täuschenden Prozesses, dessen Wendung wir nicht vorhersehen, dessen Zwecke wir nicht erfassen...« 2 Unter der dünnen Kruste einer planenden und vorausschauenden Rationalität, die nach Gesetz und Ordnung figuriert ist, lauert das Chaos, das, wie die weiland von Zeus in den Tartaros gesperrten Titanen, eines Tages über uns hereinbrechen kann. Was dann? Die probaten Mittel sind schon erkannt und avisiert. Nicht die Kraft von Vernunft und Verstand, hier als der »flache Optimismus wissenschaftlicher Rationalisten« deklariert, und der Rationalismus, als ein »Märchen« denunziert, das wir uns erzählen, »um vorübergehend die Sinnlosigkeit ertragen zu können, die uns umgibt« 3 , reichen in dieser Katastrophe dann aus. Der Mensch bedarf in diesem prognostizierten katastrophalen Chaos vielmehr des Mythos, wie er sich bei den frühen Griechen und bei den sogenannten »primitiven« Stämmen vorfindet. Feyerabend formuliert also nicht nur eine »elende Alternative«, er propagiert zugleich den Weg eines »neuen Denkens«, welches diese Alternative auflösen soll, den »Aufbruch zum Mythos«. Und so treffen sich denn an diesem Kreuzungspunkt genau die Wege zweier Repräsentanten spätbürgerlicher Geistigkeit, die von recht gegensätzlichen Ausgangspositionen einmal aufgebrochen sind. Der eine - Paul Feyerabend - von der kritisch-rationalistischen Wissenschaftstheorie und deren Leitfigur, Karl Raimund Popper, der andere - Martin Heidegger - von der alle Strukturen umstürzen wollenden Fundamentalontologie. Die Gegenwart ist für beide ein zu überwindender Zustand, da der eine unter dem angeblichen »Kosmos« das »wirkliche Chaos« entdeckt zu haben glaubt und der andere im Gefolge der Herrschaft des »Willens zum Willen« (und damit der »Raserei« der Technik und wissenschaftlichen Rationalität) die »Seins- (und damit Segens-)verlassenheit« der Welt glaubt feststellen zu müssen. »Die Erde erscheint als die Umwelt der Irrnis. Sie ist seynsgeschichtlich der Irrstern.«4 Allerdings - frei nach

2 4

Der Wissenschaftler und das Irrationale, Bd. 2, hrsg. von H. P. Duerr, Frankfurt a. M. 1981, S. 39. 3 Ebenda, S. 55. Ebenda, S. 56. M. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, in: M. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 97.

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Hölderlins Satz »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch« - , Rettung ist möglich, denn »die Hirten wohnen unsichtbar und außerhalb des Ödlandes der verwüsteten Erde...« 5 Bloßer Aktionismus wird den Weltzustand nicht ändern, weil dieser sich dem geheimnisvollen Ereignis verschließt, welches sich dem Menschenwesen »er-äugnet«, das heißt »erblickt und im Erblicken Sterbliche auf den Weg des denkenden, dichtenden Bauens bringt«.6 Das »Ereignis« verbindet sich hier wie dort mit einem Aufruf zum Ablaß von wissenschaftlichem Denken und zweckrationalem Handeln. Angeboten wird Mystisches, aufgerufen wird zum »neuen Denken«, welches seinen Vorgänger im Mythos des frühen Griechentums oder sogenannter »primitiver« Kulturen hat, gelegentlich auch in Poesie und Mythos der Romantik. Feyerabend und Heidegger - gewiß bedeutende Repräsentanten spätbürgerlichen Denkens - propagieren den Aufbruch zu einem neuen Mythos. Täten sie es allein, gehörte dies vielleicht nur in die Galerie der Kuriositas spätbürgerlicher Geistesgeschichte. Aber sie sind nur die Prominenten einer ganzen vielgestaltigen Bewegung, die aller Wahrscheinlichkeit nach noch nicht am Ende ihres Wachstums ist. Was verbirgt sich an Vielfalt hinter dem Ruf nach einem »neuen Mythos«? Was sind die Ursachen? Wohin zielt die vielgestaltige Bewegung? Welche Positionen haben wir dazu einzunehmen? Viele Fragen - ein bescheidener Versuch einer Antwortfindung. Mit dem Problem des Mythos hat sich die Menschheit offenbar schon so lange beschäftigt, wie dieser existiert oder, vorsichtig ausgedrückt, solange man über ihn zu reflektieren in der Lage ist. Reflexion über den Mythos aber bedeutet immer, schon nicht mehr nur in ihn eingebunden zu sein, sich einzig von ihm in seinen Handlungs- und Verhaltensweisen stimulieren zu lassen. Es heißt zumindest, Abstand gewonnen zu haben was nicht bedeuten muß, daß der Mythos allgemein überwunden ist. Wir wissen heute, daß selbst auf den Gipfelpunkten antik-griechischer Rationalität, bei Sokrates und Piaton, der Mythos keineswegs überwunden und abgelegt war, obgleich schon Generationen vor ihnen sich gegen die Mythenbildner (Homer, Hesiod) und gegen den Mythos gewandt hatten. Der »Sturmvogel der Aufklärung« Xenophanes sprach von den Homerisch-Hesiodschen Göttern und ihren Taten mit Gering5 6

Ebenda. Ebenda, S. 99.

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Schätzung und entdeckte ihren anthropomorphen Charakter. »Kämpfe der Titanen oder Giganten und Kentauern« bezeichnete er als »Fabeln vergangener Zeit« 7 . Euripides sagte abfällig: »Nicht von mir ist der Mythos.« 8 Auch Piaton wandte sich bekanntlich in seiner »Politeia« gegen die geläufigen »Ammenmärchen« des Homer und Hesiod, denen »man zum größten Teil den Abschied geben muß, will man die Jugend richtig erziehen«9. Gleichzeitig bediente sich derselbe Piaton im selben Werk aber durchaus fleißig mythischer Bewußtseinselemente. Diese haben nicht nur Beispielfunktion, sondern sind fest in das idealistische System integriert, das ohne sie nicht funktionieren würde: so etwa der Mythos von den Metallen in der Seele und der aus ihnen folgenden Zugehörigkeit zu den sozialen Kasten, von der gefiederten Seele und dem »Aufstieg« in das Ideenreich, der Seelenwanderungsmythos und schließlich das für die idealistische Gnoseologie so wichtige »Höhlengleichnis«. Sokrates' Konzeption wiederum funktioniert nicht ohne das Daimonion. Würde man nun der (schon in der Antike selbst beförderten) Dichotomie von Mythos und Logos folgen und allein aus dem Entwicklungsprozeß des Denkens selbst den »Abschied vom Mythos« herleiten, so hätte dies einerseits schon wieder eine »Fetischisierung des Denkens zur Voraussetzung«10; andererseits aber ließe sich die Fortexistenz des Mythos bzw. mythischer Aneignungsweisen und Interpretationsmuster des Wirklichen im vor- bzw. außertheoretischen Bewußtsein - sowohl in der Antike als auch in späteren sozialen Verhältnissen - nicht erklären. Mythisches Denken als Form einer Totalanschauung der Welt und des Menschen im gesellschaftlichen Bewußtsein ist »sinnlich-vorstellendes Denken«, ist eine naive Form einer Daseinsbewältigung durch den »waldursprünglichen« Menschen (um mit Engels zu sprechen), in welcher Theorie und Praxis noch nicht auseinandergetreten sind, wo die Mythologie »die Naturkräfte in der Einbildung und durch die Einbildung« überwindet, beherrscht und gestaltet11, wie Marx in den »Grundrissen« bemerkt. 7

Xenophanes, Fragment 1, in: W. Capelle, Die Vorsokratiker, Berlin 1958, S. 120. 8 Euripides, Fragment 484, zit. nach: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter und K. Gründer, Bd. 6, Basel - Stuttgart 1984, S. 281. « Vgl. Piaton, Politeia, 376E-378E. 10 H. Seidel, Von Thaies bis Piaton, Berlin 1980, S. 50. 11 K. Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin 1974, S. 30.

206

Es sind aber nicht nur die äußerlichen Naturkräfte, mit denen der Mensch sich im mythischen Bewußtsein befaßt, sondern es ist auch die Auseinandersetzung, das Ringen mit seiner eigenen Psyche, seinem Denken, Fühlen und Wollen, das er in ein phantastisches Tun fremder, ihn dann wieder geheimnisvoll beherrschender Mächte projiziert. Es ist die sinnlich-konkrete Projektion, die den Mythos mit der Kunst verbindet und ihn abhebt von einer theoretischen, begrifflichen Aneignung der Wirklichkeit. Hier besteht Einheit von Kunst und Mythos bzw. künstlerischer und mythischer Aneignung der Wirklichkeit. »Die griechische Kunst setzt die griechische Mythologie voraus, d. h. die Natur und die gesellschaftlichen Formen selbst schon in einer unbewußt künstlerischen Weise verarbeitet durch die Volksphantasie.«12 »Während aber das Kunstwerk als sinnlichkonkreter Ausdruck von Realität gilt«, und hier besteht der Dissenz zwischen Mythos und Kunst, »gilt im Mythos der sinnlich-konkrete Ausdruck als Realität selbst«.13 Dies führt uns dann zu dem Bezugsverhältnis zwischen Religion und Mythos - was aber hier nur angedeutet werden kann - , da insbesondere in den monotheistischen Religionen der Sprung von den sinnlich-konkreten Göttern zum übersinnlichen Gott erfolgt. Die Entmythologisierungsdebatte in der neueren Theologie und Philosophie (Bultmann/Jaspers) thematisierte besonders diesen Aspekt in kontroverser Schärfe. 14 Seit dem 19. Jahrhundert tritt im Mythosbegriff ein Wandel ein: Er ist nicht mehr das Wort, welches als Programm einer Bewegung (der Romantik) gilt, die sich von der Fortschrittsüberzeugtheit der Aufklärung und deren Schwören auf die Kraft der Vernunft absetzen will; sondern Gegenstand nüchterner sozialwissenschaftlicher und völkerkundlicher Forschung. Der Mythos ist also ein gesamtgesellschaftliches Bewußtsein auf einer frühen Entwicklungsform sozialer Praxis, in welchem die natürliche und gesellschaftliche Wirklichkeit und die menschliche Individualität auf sinnlich-konkrete, phantastische Weise angeeignet wird und die einzelnen Aneignungsformen (abstrakt-theoretische, ästhetisch-moralische, religiöse) noch nicht auf spezifische Art auseinandergetreten sind. Das Heraustreten 12 13 14

Ebenda, S. 31. H. Seidel, Von Thaies bis Piaton, a. a. O., S. 52. Vgl. K. Jaspers/R. Bultmann, Die Frage der Entmythologisierung, München 1954; vgl. auch: Entmythologisierung. Eine Auseinandersetzung zwischen Julius Schniewind, Rudolf Bultmann und Karl Barth, Stuttgart 1949.

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und sich Verselbständigen der begrifflich-theoretischen Aneignung der Wirklichkeit ist im Prozeß der Auflösung des mythischen Bewußtseins nur ein Moment, es ist daran auch das Selbständigwerden der Kunst, Moral und Religion beteiligt. All das ist aber undenkbar ohne weitgehende soziale Veränderungen (Arbeitsteilung, Auflösung des Gemeineigentums, Warenproduktion, Staatenbildung). Mit neuen, höheren sozialen, gesellschaftlichen Entwicklungsstadien, die auch ein differenzierteres gesellschaftliches Bewußt-Sein erfordern, wird das einheitliche mythische Bewußtsein »niederer« Formen gesellschaftlicher, sozialer Wirklichkeit sukzessive überwunden, was nicht bedeutet, daß der »Logos« in einem sich linear abzeichnenden Siegeslauf den »Mythos« überwindet und ihn durch eine einfache Kumulation von Wissen über die Welt und den Menschen automatisch verdrängt. Der Mythos existiert in geistigen Nischen weiter, ja, mythische Elemente als Teile eines fetischisierten, verkehrten Bewußtseins werden unter den Bedingungen der Ideologieproduktion in Klassengesellschaften erneut hervorgebracht. Es handelt sich dabei vornehmlich um religiöse und politische Mythen, die nicht aus einem »waldursprünglichen« Bewußtsein spontan hervorgehen und Verhaltensweisen des Menschen in der Auseinandersetzung mit seiner natürlichen und sozialen Umwelt auf phantastische Weise, aber doch im allgemeinen Konsens befindlich, regeln, sondern um geplante, zu manipulativen Zwecken benutzte irrationale Mythologeme, die den Volksmassen und jedem einzelnen mit Suggestivkraft, ohne rationale Hinterfragungsmöglichkeiten (sie sind ad hoc ausgeschlossen) eingehämmert werden mit Hilfe eines umfänglichen Propagandaapparates. Ich denke hier etwa an den Mythos vom »Dritten Reich«, den »Führer-Mythos«, den Mythos vom »Abendland« etc. Diese Vorgehensweise gesellschaftlicher, politischer Kräfte in Ausbeuterordnungen ist nicht neu. Hatte doch weiland Piaton schon nach der Zerstörung der »alten Mythen« für sein konservatives ideales Staatsmodell »neue Mythen« als Lüge zum Nutzen des Staates gefordert. Dieser »künstlichen« Mythenbildung fehlt dann selbstverständlich dasjenige, was den »natürlichen« Mythos früher Menschheitsepochen gerade auszeichnete, was ihn bis in unsere Tage, und wohl auch zukünftig, dem modernen Menschen, der doch keine (oder eben nur theoretische) Zugänge zu diesen Epochen hat, als aneignungswertes Erbe erscheinen läßt: die entwickelte künstlerischphantastische Form und der weise Inhalt (Welt- und Lebensweisheit). 208

Die neuen Mythenbildungen zu analysieren wird sicher eine Aufgabe der systematischen Ideologieforschung aus marxistischer Sicht in den kommenden Jahren sein, da sie erneut und zunehmend in den geistigen Auseinandersetzungen am Ende unseres Jahrhunderts eingesetzt werden.15 Man wird in diesem Zusammenhang beispielsweise an den späten Arbeiten Emst Cassirers - an der »Philosophie der symbolischen Formen«, insbesondere am zweiten Band: »Das mythische Denken«, und an seinem »The Myth of the State« bei aller kritischen Distanz aus grundlegend anderen philosophischen Ausgangspositionen heraus, nicht mehr vorübergehen können, was leider bisher geschah.16 Analoges wäre, auf ganz anderen Fundamenten stehend, sowohl zu Freuds Mythenforschung als auch zu den ethnologischen Arbeiten W. Wundts oder dem altphilologischen Konzept W. Nestles zu sagen.17 Sie und andere emst zu nehmende Mythenforscher sind in gewissem Maß wohl auch Bündnispartner im Kampf gegen jene, die den Mythos aus seinem sozialhistorischen Umfeld herauslösen, ihn als menschliche, anthropologische Grundkonstante verewigen wollen, um ihn gegen den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt generell zu wenden. So lesen wir schon bei Oswald Spengler in seinem »Untergang des Abendlandes«, es sei ein »wissenschaftliches Vorurteil«, »daß Mythen und Göttervorstellungen eine 15

Im nichtmarxistischen Denken hat sich in den letzten Jahren eine umfängliche, einst zu nehmende Diskussion über das Problem des Mythos entwickelt. Eine nicht unwichtige Position nimmt dabei das Buch von H. Blumenberg »Arbeit am Mythos«, Frankfurt a. M. 1979, ein. Zur Forschung am »Problem der Mythenrezeption« forderte schon 1971 ein umfangreicher Sammelband der im Eugen-Fink-Verlag München erscheinenden Reihe »Poetik und Hermeneutik« unter dem Titel »Terror und Spiel« auf. Femer sei hier verwiesen auf die Vorlesungen von M. Frank, veröffentlicht unter dem Titel »Der kommende Gott. Vorlesungen über Neue Mythologie«, Frankfurt a. M. 1982, und auf die Sammelbände: Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium, hrsg. von H. Poser, Berlin(West) - New York 1979, und: Mythos und Moderne, hrsg. von K.-H. Bohrer, Frankfurt a. M. 1983.

16

Vgl. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 2: Das mythische Denken, Berlin 1925; ders., The Myth of the State, 1946 (dt.: Vom Mythos des Staates, Zürich 1949). S. Freud, Die Traumdeutung, Leipzig - Wien 1900; ders., Über den Traum, Wiesbaden 1901; ders., Totem und Tabu, Wien 1913; W. Wundt, Völkerpsychologie, Leipzig 1919-1921; W. Nestle, Vom Mythos zum Logos, Stuttgart 1940.

17

14 Buhr, Moderne

209

Schöpfung des primitiven Menschen seien und daß mit fortschreitender Kultur der Seele die mythenbildende Kraft verloren gehe. Das Gegenteil ist der Fall.« 18 Damit zeichnet sich auch eine Tendenz ab, die in den spätbürgerlichen kulturkritischen Schriften dieser Provenienz nach dem ersten Weltkrieg immer deutlicher hervortreten sollte und die unter den Bedingungen der Wirkung der wissenschaftlich-technischen Revolution heute von ganz eminenter Wichtigkeit geworden ist, nämlich die Verdammung der Wissenschaft und des wissenschaftlich-rationalen Denkens als »eigentliche« Ursache der Krisenhaftigkeit dieses Jahrhunderts und seiner Menschen. Spengler spricht von einer letzten geistigen Krisis, die noch bevorstehe, die das »ganze Abendland ergreifen wird« und die im »Kultus der exakten Wissenschaft, der Dialektik, des Beweises, der Erfahrung, der Kausalität« ihren Ausdruck finde.19 Aber es beginne mit Macht »endlich ein Kampf gegen die Wissenschaftlichkeit, an deren Rechten man zweifelt, deren Herrschaft einen leisen Ekel einzuflößen beginnt«.20 Und unter dem durchscheinend gewordenen Gewebe der Wissenschaft »erscheint wieder das Früheste und Tiefste, der Mythos, das unmittelbare Werden, das Leben«.21 Mit Spengler, aber auch mit dem aus der klassischen Philologie kommenden W. F. Otto 22 , setzt ein entschiedener Angriff auf eine aufklärerische, der wissenschaftlichen Rationalität verpflichtete Forschung zum Mythos ein, die jedoch mehr als das ist, nämlich Weltanschauungsbildung ersten Ranges in den geistigen Auseinandersetzungen unserer Zeit. Man greift auf Ansätze in der von der Romantik aus Enttäuschung über die wahre gesellschaftliche und individuelle Leistungskraft der autonomen Vernunft entworfenen Gegenkonzeption zur Herrschaft des Logos, nämlich die Herrschaft einer auf Poesie gegründeten neuen Mythologie, zurück; und angesichts des Vordringens der Wissenschaft in alle Bereiche, aber auch angesichts der Tatsache, daß natürlich durch diese nicht (gleich einem Zaubermittel) alle Probleme der Menschheit gelöst werden können, 18

O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 1: Gestalt und Wirklichkeit, München 1920, S. 560f. '9 Ebenda, S. 607f. 20 Ebenda, S. 608. 21 Ebenda, S. 614. 22 Vgl. °W. F. Otto, Die Götter Griechenlands, Bonn 1929; ders., Die Gestalt und das Sein, Köln 1955; ders., Mythos und Welt, Stuttgart 1962.

210

wird in absoluter Verkennung und Verdeckung der wahren Ursachen das Heil der Menschheit in diesem Jahrhundert aus dem Mythos erwartet. Der Sprung zu Heideggers Überzeugtheit: »Nur noch ein Gott kann uns retten«, ist nicht allzu groß. Und Heidegger hat (ähnlich Otto u. a.) auch »die einzige Möglichkeit« sogleich parat. »Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und im Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang, daß wir im Angesicht des abwesenden Gottes untergehen.«23 Für diese Konzeptionen des »Aufbruchs zum Mythos«, die antiaufklärerische Haltung und grundlegende Wissenschaftskritik zur wesentlichen Voraussetzung haben, ist der Mythos nicht eine historisch bedingte Aneignungsweise der Wirklichkeit, die durch höhere Formen, insbesondere die theoretisch-begriffliche, im Laufe der menschlichen Geschichte aufgehoben wurde oder, durch das fetischisierte Bewußtsein in Ausbeuterverhältnissen neu gebildet, eine bestimmte politische Nutzbarkeit besaß, aber durch theoretisch-kritisches Erkennen und praktisch-soziales Handeln im Sinne des historischen Fortschritts zu überwinden ist, sondern er ist eine »ewige« Aneignungsweise der Wirklichkeit durch den Menschen, und zwar in jedem Falle immer auch die bessere. Hier wird die Kraft der Vernunft und des Verstandes als Allmacht deklariert, um sie sogleich als bewußte Haltung zur Durchdringung der fetischisierten Welt des kapitalistischen Warenproduktionsmechanismus in seiner heutigen hochkomplexen und also hochkomplizierten Art und Weise als »fatale Illusion« zu denunzieren. Es wird schließlich, wie bei Leszek Kofakowski (und Ausgangspunkte finden sich eben auch in der »Dialektik der Aufklärung«), der Spieß umgedreht und die Vernunft selbst zum Mythos deklariert.24 Von hier ist es dann tatsächlich nicht mehr weit, die »elende Alternative« zu konstruieren - Chaos oder Terrorismus der Vernunft. Odo Marquard spricht sich da in seinem philosophischen Skeptizismus nicht nur schlechthin für die universelle Fortexistenz des Mythos aus (»Es geht nicht ohne Mythen: narrare necesse est.«25), denn er ist der Überzeugung: »Die Mythen abzuschaffen: das ist aussichtslos.«26 Marquard glaubt in 23

24 25 26

14*

Vgl.: »Nur noch ein Gott kann uns retten«. Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger, in: Der Spiegel, 23/1976. L. Kofakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München 1973, S. 50. O. Marquard, Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1982, S. 95. Ebenda, S. 97. 211

gut postmodernistischem Sinne auch an die »Bekömmlichkeit« der Polymythie gegenüber der Monomythie. Die Chancen der Freiheit seien - so will er glauben machen - in der Polymythie, die ein gewisses Moment von Chaos als Voraussetzung der Individualitätsfindung gewähre, eher gegeben als in der Monomythie. »Wer polymythisch - durch Leben und Erzählen - an vielen Geschichten teilnimmt, hat durch die jeweils eine Geschichte Freiheit von der jeweils anderen et vice versa und durch weitere Interferenzen vielfach durchkreuzt; wer monomytisch - durch Leben und Erzählen - nur an einer einzigen Geschichte teilnehmen darf und muß, hat diese Freiheit nicht.. ,«27 Polymythische Geschichtenvielfalt gewährt Freiheitsspielraum, der »Mythos der Geschichte«, der »Mythos der Vernunft« hingegen zwingt terroristisch das Individuum zur Unterwerfung unter den »absoluten Alleinmythos im Singular«28, der nichts anderes neben sich duldet. Der Schlag wird damit gegen die Idee des Fortschritts in der emanzipatorischen Weltgeschichte geführt. Der Mythos, hier nicht mehr nur einfaches Gegenstück zur Vernunft, wird, postmodernistisch aufgesplittert, zum Vehikel der »Freiheit« des einzelnen - nicht in und durch die Geschichte, sondern durch Geschichten. Weder Monomythie noch Polymythie, weder Wissenschaftskritik, verbunden mit dem Schwenken der Fahne des Mythos, noch Mythisierung der Wissenschaft kann uns aber einer humanen Lösung der heute anstehenden globalen Probleme näherbringen. Andräs Gedö schreibt in seinem Aufsatz: »Die angeklagte Wissenschaft«, daß Marx zwar »die kollisionsschwierigen Folgen einer dem kapitalistischen Produktionsprozeß subsumierten Wissenschaft, worin auch die objektiven Gründe des negativen Fetischisierens dieser Wissenschaft verborgen sind«, entdeckte, daß aber der gegenwärtigen Dramatik des Zustandes von Wissenschaft und Technik Züge eigen sind, die zu Marx' Zeiten nicht vorhersehbar waren und von den heutigen Marxisten neu zu erfassen sind.29 Es ist - so Gedö - »nur die Wissenschaft imstande, diese Bedrohungen adäquat zu erkennen und nach ihrer Abwehr zu suchen«. 30 27

Ebenda, S. 98. 28 Ebenda, S. 99. 29 A. Gedö, Die angeklagte Wissenschaft, in: Marxistische Blätter, 9/1987, S. 29. so Ebenda.

212

Wenngleich ich Gedö unbedingt zustimme, daß der Marxismus in den geistigen Auseinandersetzungen auf der Seite der »angeklagten Wissenschaft« steht und nicht auf der Seite irgendwelcher Mythenbeschwörer, gleich welcher Art auch immer, so muß man bei der Globalität und Totalität dieser Weltprobleme und ihrer vielfältigen Verarbeitungsweise auch die Rolle der Kunst, der Literatur, der Poesie, auch der Moral bei der Aneignung derselben sehen. Gerade hier, in der Transponierung der uralten Weisheiten der Mythologien in den aktuellen künstlerisch-ästhetischen Gestaltungsprozeß dieser Menschheitsprobleme, sehe ich eine Chance für den rational durchschauten Mythos bei der Gestaltung einer menschenwürdigen Welt.

213

JÖRG SCHREITER

(Berlin)

Die Gegenwart als »Nachaufklärung«?

Den Titel »... nach der Aufklärung« haben Konservative in den letzten Jahren in verschiedenen Kombinationen verwendet, vor allem im Zusammenhang mit Wissenschaft und Philosophie, Mythos und Religion.1 Hermann Lübbe verweist selbst darauf, daß Kritiker hinter dieser Positionsbeschreibung die Intention vermuten könnten — wie es auch geschehen ist2 - , daß das Erbe der Aufklärung für erledigt oder zumindest für überwindungsbedürftig erklärt werden soll. Lübbe ist alles andere als ein Obskurant, der glaubt, die Aufklärung einfach verabschieden zu können. Es wäre wohl von ihm auch kaum ein Kampf gegen eine Epoche zu erwarten, deren Ansprüche nicht mehr gelten und deren Einfluß auf unser Tun und Denken ohnehin schwindet oder leicht zurückgedrängt werden könnte. Größe und Bedeutung der Aufklärung - nicht nur als historisches Phänomen - werden von Konservativen durchaus anerkannt. Um die Gegenwart geht es, um Bestände, »in deren kultureller und politischer Geltung Aufklärung sich durchgesetzt hat. Die erfolgreiche, nicht die gescheiterte Aufklärung ist hier gemeint«. Die Gegenwart als Nachaufklärung. 1

2

Als Beispiele: H. Lübbe, Wissenschaft nach der Aufklärung, in: A. Diemer (Hg.), 16. Weltkongreß für Philosophie 1978, Frankfurt a. M. - Bern - New York 1983, S. 37-44; ders., Philosophie nach der Aufklärung. Von der Notwendigkeit pragmatischer Vernunft, Düsseldorf - Wien 1980; ders., Religion nach der Aufklärung, Graz - Wien - Köln 1986. »Unsere Neukonservativen erklären die Gegenwart zur >Nachaufklärung«< - so Jürgen Habermas (J. Habermas, Arzt und Intellektueller. Alexander Mitscherlich zum 70. Geburtstag, in: Die Zeit, Nr. 39, 22. 9. 1978, S. 48f.). Vgl. ders., Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V, Frankfurt a. M. 1985, S. 30-56.

214

Thematisiert werden die fortdauernden Wirkungen, von denen die politische und allgemeine kulturelle Stellung von Wissenschaft, Philosophie, Kunst und Religion in heutigen Gesellschaften abhängt. Namentlich Mythos und Religion sollen damit gestärkt werden. Auch Lübbe verteufelt nicht die Aufklärung und ihre Folgen, sondern akzeptiert sie als wirkungsreiches Faktum, von dessen Kenntnis auszugehen ist, wenn man effektiv systemstabilisierend handeln will. Dabei treten natürlich Probleme auf. Man kann nicht, ohne in Schwierigkeiten zu geraten, am Konzept der kapitalistischen Gesellschaft festhalten, das Erbe der Aufklärung für den Konservatismus fruchtbar oder verwendbar machen wollen und zugleich dem neuen Dunkelmännertum in die Hände arbeiten. Die Aufklärung war unzweifelhaft religionskritisch, in der »freiheitlich demokratischen Grundordnung« sind Mythos und Religion hingegen tief verwurzelt. Kann man für Aufklärung, Mythos und Religion gleichzeitig sein? Lübbe kann es. Er sieht zwei Traditions- und Wirkungslinien der Aufklärung. Einerseits die Entwicklung hin zu freiheitsvernichtenden totalitären Mächten mit religionsfeindlichen Hochideologien, in denen Religion nur als Illusion begriffen wird, von der sich der Mensch zu befreien habe, um sich moralisch, erkenntnismäBig, politisch und sozial uneingeschränkt selbst zu gewinnen. Hier ist der Konservatismus einfallslos, denunziert den Kommunismus als dem Faschismus wesensgleich und billigt unverständlicherweise dem auf den Mythos bauenden Faschismus zu, ein Erbe der Aufklärung zu sein. Lübbe scheint sich selbst als in der Tradition der Aufklärung stehend zu begreifen, wenn er auf einen zweiten Entwicklungsweg aufmerksam macht. Er knüpft an die Tatsache an, daß auch in der »modernen« Gesellschaft »aufklärungsiesistente Lebensumstände und Daseinslagen« existieren, »die schließlich eher die Fortdauer der Religion als die Kritik an ihr plausibel machen«3. Soweit es sich letztlich um Lebenssituationen handelt, die durch Warenfetischismus und Entfremdung verursacht sind, kann man Lübbe in diesem Punkte wohl kaum folgen. Dem Marxisten erscheinen diese Phänomene nicht als ewige, anthropologische Merkmale, sondern als historische. Solange soziale Nötigkeitsbedingungen für Mythos und Religion existieren, können sich diese»auch entwickeln, wo auch immer. Wissenschaft kann hier aufklärend wirken, 3

H. Lübbe, Religion nach der Aufklärung, a. a. O., S. 138.

215

mit der Erklärung sind aber die sozialen Ursachen noch nicht beseitigt. Wissenschaft und Religion stehen auch nicht in jedem Fall in einem Konkurrenzverhältnis. Es gibt anthropologisch Gültiges, das oft Zuflucht in Religion suchen läßt, obwohl alle theoretischen Fragen beantwortbar sind: »Der Satz, daß wir sterben müssen, hat nicht den Status einer bislang unwiderlegten wissenschaftlichen Hypothese, und daß der Schmerz über den Tod eines Nächsten uns im Extremfall lebensunfähig machen kann, ist eine Sache gemeiner Lebenserfahrung .. .«4 Wissenschaft kann allerdings notfalls Therapie liefern, dennoch zeigt sich, daß religiöse Lebenspraxis in solchen Fällen häufig ihre Funktion hatte und noch immer hat. Dieser Punkt ist zugleich der rationelle Kern des vorliegenden Versuches, die Wirksamkeitsgrenzen einer wissenschaftlichen Weltanschauung abzustecken: Es gibt Unverfügbares, und aus dem damit oft verbundenen Gefühl der Ohnmacht und aus Schmerz und Leid erklärt sich vielfach die Hinwendung zur Religion, schöpfen Religionen und ihre Institutionen immer wieder Kraft. Auch in der Entwicklung des Kommunismus gab es unzweifelhaft chiliastische oder eschatologische Momente, über deren Zufälligkeit sich streiten läßt. Ist es deshalb angemessen, unseren historischen Standort als »nach der Aufklärung« zu bestimmen? Wohl kaum. Der Konservatismus muß selbst die bürgerliche Gegenwart erheblich zurechtstutzen, um sie als Nachaufklärung ausgeben zu können. Der vermeintlich aufgeklärten Nachaufklärung geht es darum, Mythos und Religion als etwas darzustellen, dessen Dauer und Fortgang auf einer Welt- und Lebensverfassung beruhen, an der keine Kultur, auch die fortgeschrittenste nicht, je etwas ändern kann. Kurz: Mythos und Religion als Erhaltungs- und Zukunftsbedingungen jeglicher Lebenskultur. Selbstverständlich muß eine bornierte Aufklärung zuallererst einmal über sich selber aufgeklärt werden. Auch wir kennen die konträren, symbolträchtigen Handlungen des Wegräumens alter und der Schaffung neuer Kultstätten. Solche Dinge sind historisch erklärbar, ohne daß Mythos und Religion zu Erhaltungs- und Zukunftsbedingungen unserer Kultur stilisiert werden müßten. Auch folgt aus der Tatsache, daß es Unverfügbares gibt, keineswegs die Notwendigkeit der Denunzierung von verfügendem Denken. Der Kreuz* Ebenda, S. 141. 216

zug gegen die Wissenschaft als Kampf gegen die instrumenteile Vernunft nimmt selber totalitäre Züge an. Hier hat die Frankfurter Schule in einem Maße Vorarbeiten für die neuen Konservativen geleistet, daß Habermas heute am liebsten zu dieser Tradition auf Distanz gehen möchte. Mit der Vemunftkritik verbinden sich auch in Frankreich die großen Verabschiedungen, nicht nur von Descartes' Philosophie im allgemeinen, sondern auch von dessen Tugenden im besonderen: von methodischem Denken, von theoretischer Verantwortlichkeit und jenem Egalitarismus des wissenschaftlichen Denkens, das mit der Idee des besonderen Zugangs zur Wahrheit gebrochen hat.5 Geschichte wird ohne historisches, Erkennen ohne gnoseologisches Subjekt gedacht. Von alters her symbolisiert sich die Undurchschaubarkeit menschlichen, sozialen Lebens im Bilde der Labyrinths, bei Umberto Eco ist es umgekehrt. In seinem Roman »Der Name der Rose« symbolisiert ein Labyrinth das Resultat menschlicher gedanklicher Mächtigkeit, die Konklusion eines Syllogismus: Alle objektive Ordnung in der Welt ist von Gott, es gibt keinen Gott, also gibt es keine objektive Ordnung. Damit wird alle Wissenschaft letztlich problematisch. Wo es keine objektive Ordnung gibt, kann sich auch kein historisches Subjekt entwickeln, und die theoretische Reflexion dieser Entwicklung ist dann heute nur noch entweder eitler erkenntnismäßiger Irrtum oder machtstrategisches Blendwerk oder beides zugleich. Ganz so weit gehen die Nachfolger der »Dialektik der Aufklärung« nicht. Dennoch bleibt eine seltsame Affinität: Habermas streitet mit akzeptablen Argumenten mit konservativen Historikern über den Charakter des Faschismus, konvergiert aber zugleich theoretisch, im philosophischen Ansatz, mit konservativen »Postmodernen«, insofern es um die Überwindung der Subjekt-Objekt-Dialektik und der Idee des Subjekts geht. Beides scheint ein Widerspruch zu sein, ist aber logisch völlig konsistent. Für einige Intellektuelle gehören Faschismus und Marxismus gleichermaßen zur Moderne, zu einer Moderne, die passé sein soll. In dem, was jetzt anbricht, soll es endlich kein Subjekt mehr geben. Die Philosophie dieser Interessenlage und Weltsicht muß dann selbstredend auch ohne Subjekt auskommen. Ein Subjekt ohne Entwicklungsperspektive 5

Vgl. J. Habermas, Untiefen der Rationalitätskritik, in: Die Zeit, 10. 8. 1984, Beilage.

217

erscheint in der Tat absurd. Die Aufbruchsstimmung der sechziger Jahre ist vorbei, die Aufklärung ist neu zu interpretieren. Die neue, die »Post«-Moderne, wie auch zum Teil die neue »kritische Philosophie«, die statt Subjekt-Objekt-Dialektik jetzt »Interaktion« sehen will, hat natürlich »ihre Vorläufer in den pragmatischen, linguistischen und anthropologischen Versuchen, gegen den Cartesianischen Dualismus von Geist und Körper >dritte< Kategorien wie Handlung, Sprache und Leib zu philosophischem Rang zu erheben. Nietzsche und Heidegger verdanken, philosophiei'nfe/7z betrachtet, ihre erneute Aktualität dieser Frontstellung.»6 Habermas sieht in der Ablösung des Subjekt- und Bewußtseinsparadigmas die eigentliche philosophische Leistung unserer Epoche, vergleichbar dem Einschnitt seiner transzendental-philosophischen Inaugurierung durch Kant.7 Selbstredend reicht die philosophieinterne Betrachtungsweise nicht aus. Die zugrunde liegenden, im Sozialökonomischen verwurzelten Stimmungslagen führen die Postmoderne bei Links und Rechts im bürgerlichen Lager zum Postmarxismus. Jenseits von Subjekt und Objekt entsteht ein Vakuum, in das die vermeintlichen Wahrheiten des Mythos, der Religion und der Metaphysik einfließen. Die »Linke im Büßerhemd«, die sich vom Marxismus getrennt hat und ihre »Sünden« beichtet, und die Rechte im Küraß arbeiten, ob gewollt oder ungewollt, wieder einmal arbeitsteilig, insofern sie eben gleichermaßen spätbürgerliche Philosophie sind. Natürlich kann es uns nicht gleichgültig sein, ob jemand in diesem Lager rechts oder links steht. Eine kluge Dialogpolitik setzt aber das Wissen darum voraus, was es bedeutet, wenn ein bürgerlicher Philosoph sich einen marxistischen Denker nennt. Denn: Niemand weiß so recht, was an die Stelle des Subjekts im Weltanschauungsdenken treten soll. Kategorienpaare wie Subjekt - Objekt, Sein - Bewußtsein, Klassen und Klassenkampf (Bourgeoisie und Arbeiterklasse) sollen nicht mehr greifen. Habermas bietet »kommunikatives Handeln« an. Das neue Paradigma wäre dann »Verständigung«, Handeln und Verstehen. Hermeneutik, Wissenschaftstheorie, »kritische Theorie« und etwas Poststrukturalismus werden dabei synthetisiert. Es paßt in die geistige Landschaft. Es gibt keine richti6 7

Ebenda. Ebenda. 218

gen Schulen mehr. Ob die Gegenwart nun eine Nachaufklärung sein soll oder nicht, in der bürgerlichen philosophischen Gegenwart breitet sich ein eigentümlicher Synkretismus aus.8 8

Das wird von Habermas auch reflektiert: »Alle Orthodoxien, die von Wittgenstein, Popper und Parsons nicht weniger als die von Heidegger, Sartre und LéviStrauss, sind... aufgeweicht worden.« (Ebenda.)

219

Namenverzeichnis

Abusch, A. 24 Adelmann, F. J. 10 Adorno, Th. W. 10, 11, 44, 47, 54, 58, 63, 70, 79, 83, 134-137, 139, 140 Allemann, B. 96 Althusser, L. 10-14 Anaximander 45 Ans, A.-M. d' 151 Antisthenes 151 Arendt, H. 93 Aristoteles 151,152,171 Aron, R. 164 Augustinus, A. 143, 144 Axelos, K. 178 Bachtin, M. 91 Bacon, F. 75 Bakunin, M. A. 83 Barth, H. 31 Barth, K. 207 Barthes, R. 89,92,99,116 Bataille, G. 14 Bathrick, D. 9 Baudelaire, Ch. 64,135-137 Baudrillard, J. 69,87,162 Baumgart, R. 121 Baumgarten, A. G. 128 Baumgarten, E. 18 Baeumler, A. 28,52

Bayertz, K. 110,111 Beaucamp, E. 70 Becher, J. R. 15 Becker, H.-J. 15 Beckett, S. 89 Bell, D. 71,79,184,185,187 Benhabib, S. 122 Benjamin, W. 27, 124-126, 139 Benn, G. 86 Bense, M. 96 Berger, P. L. 79 Bergson, H. 90, 100,109 Bertram, E. 14 Bianquis, G. 14 Bismarck, O. von 61,62 Björling, G. 96 Blistène, B. 182 Bloch, E. 9-12,38,44,61,62,97 Blumenberg, H. 209 Boeder, H. 81 Bohrer, K.-H. 209 Boileau-Despréaux, N. 95,128 Boll, H. 54,63 Boulton, J. T. 105 Bourdieu, P. F. 89 Brand, G. 93 Brecht, B. 19,63,125,131,142 Breines, P. 9 Bridgwater, P. 14 Büchner, G. 59 220

Einstein, A. 197 Eisler, H. 66 Elisabeth von Österreich 32 Enckell, R. 96 Engelmann, P. 178,184 Engels, F. 22, 80, 82, 131, 165, 193, 206 Euripides 206

Buhr, M. 15, 36,66 Bultmann, R. 207 Burckhardt, J. 79 Bürger, P. 70,137 Burke, E. 105,106,128,181,185 Cacciari, M. 25,75 Capelle, W. 206 Carravetta, P. 70 Cassirer, E. 209 Cazzaniga, G. M. 88 Cézanne, P. 106,179 Chateaubriand, F. R. de 66 Châtelet, F. 8 Christomanos, K. 32 Colli, G. 67,68 Comte, A. 66,76 Condorcet, M. J. A. de 82 Copleston, F. 14 Cortès, D. 66 Cournot, A. A. 77,78 Culler, J. 70,72

Ferry, L. 8 Feuerbach, L. 25 Feyerabend, P. 203-205 Fichte, J. G. 52 Förster-Nietzsche, E. 24,50 Foster, J. B. 15,99 Foucault, M. 8, 17, 64, 72-74, 79, 83-85,92,178 Frank, M. 209 Freud, S. 9, 12, 16, 17, 54, 74, 90, 100,108,109, 147,209 Friedeburg, L. von 70

Daghini, G. 162,166 Danto, A. C. 18 Darwin, Ch. 43 Davis, A. 163 Deleuze, G. 8,9,79 Derrida, J. 8, 72, 89, 104, 105, 148, 149,152,178 Descartes, R. 75,160,217 Descombes, V. 178 Diemer, A. 214 Dietzsch, St. 95 Diktonius, E. 96,98 Dilthey, W. 68 Duchamp, M. 179 Duerr, H. P. 204 Eco.U. 217 Ehrenberg, I. 49

Gafede, E. 15 Gargani, A. 80 Gaulle, Ch. de 144 Gedö.A. 7,25,34,64,212,213 Gehlen, A. 28,77,79 George, St. 51 Georg-Lauer, J. 126 Gfricault, Th. 138 Gerlach, H.-M. 29,30, 203 Gide, A. 28 Glicksberg, C. J. 96 Glucksmann, A. 145, 146, 164, 165, 178 Goebbels, J. 193 Goethe, J. W. von 16,50-52,59 Gontscharow, I. A. 89 Gorgias 151 Granier, J. 14 Grimm, R. 9

221

Grisoni, D. 8 Gründer, K. 206 Gtinderode, K. von 203 Günther, H. 10,12, 15,38 Guzzoni, A. 19 Habermas, J. 70, 118, 119, 121, 123, 129-142,175,214,217-219 Hänninen, S. 88 Harich, W. 23 Hartmann, E. von 34 Harvey, I. E. 104, 105 Hassan, I. 70,85, 87, 184 Hegel, G. W. F. 8, 16, 36, 50-55, 80-82, 90, 91, 97, 101, 105, 110, 133,151,160,189 Heidegger, M. 8, 13, 18, 28, 68-72, 79, 83-86, 90, 104, 183, 204, 205, 211,218,219 Heim, R. 79 Hennis, W. 18 Heraklit 45 Hermand, J. 9 Hesiod 168,205,206 Hillebrand, B. 15 Hitter, A. 15, 29, 50,52, 56-62 Hochmuth, R. 63 Hofmann, G. 70,84 Hölderlin, F. 59, 205 Holz, H. H. 10,15,22,23,26,28, 36 Honneth, A. 122,123,131 Horkheimer, M. 44,134,140 Homung, A. 70 Hughes, H . R . 191,194,195 Humboldt, W. von 25, 111, 160 Husserl, E. 90 Huxley, A. 192 Huyssen, A. 64, 89, 92, 98, 99, 105, 115, 120,122 Jakobson, R.

158

James, W. 70 Jameson, F. 115 Jaruzelski, W. 193 Jaspers, K. 16,17, 12 Jauß, H. R. 65 Jencks, Ch. 179 Joas, H. 131 Joyce, J. 96,107 Jözsef, A. 21 Jünger, E. 28,79, 83, Kafka, F. 90,109,111 Kamper, D. 70 Kant, I. 52, 104-106 180,181,218 Karkama, P. 89,90,9 Kaufmann, W. A. 14 Kemper, P. 126 Kennedy, J. F. 144, l: Kierkegaard, S. 16,8 Klages, L. 79 Klee, P. 179 Klemperer, V. 56 Kline, G. L. 9 Klossowski, P. 8,79 Kluge, A. 120 Knödler-Bunte, E. 13 Kofman, S. 14 Köhler, M. 70 Kojakowski, L. 211 Konstantinow, F. W. Kortum, H. 65 Krauss, W. 65 Kremer-Marietti, A. Kristewa, J. 108 Kröber, G. 131 Krüger, H.-P. 131,14 Krümmel, R. F. 14 Kühne, L. 120 Kunow, R. 70 Künzli, R. E. 14

222

Lacan, J. 12,13,108 Lambrecht, L. 22,25 Lanius, K. 196 Lefèbvre, H. 9,81 Leibniz, G. W. 82 Leino, E. 98 Lenin, W.I. 21,52,157,202 Lenk, H. 93 Leontjew, A. N. 93 Lesnik, R. 165 Leuenburger, Th. 72 Lévinas, E. 151,178 Lévi-Strauss, C. 219 Linden, W. 100,102 Longinus 105 Losurdo, D. 88 Lotringer, S. 190-192, 194, 197, 198, 200,201 Lotter, K. 14 Löwith, K. 16 Lübbe, H. 214,215 Lukács, G. 10, 15, 24, 28, 29, 37, 38, 49-63 Lyotard, J.-F. 8, 65, 70-73, 79, 89, 104-114, 118, 121-129, 132, 135, 141-158, 160-185, 187-192, 194, 196,197,201 Mach, E. 112 Man, H. de 77 Manet, E. 106 Mann, H. 63 Mann, Th. 15,37,57, 63 Mannheim, K. 44 Marcuse, H. 15,44,51 Marquard, O. 84,211 Marx, K. 7-14, 16-22, 25, 27, 35, 36, 51, 52, 55, 63, 64, 74, 80-83, 85-88, 131, 134, 146, 147,160, 164, 165, 168, 169, 171, 193, 199, 206, 212

Masini, P. 10 Matzner, J. 54 Maurer, R. 9,11 Maximov, V. 165 Me Lellan, D. 85 Mehring, W. 10,49 Mereschkowski, D. S. 28 Miller, S. 8 Mitscherlich, A. 214 Mo Di 168 Moltmann, J. 76 Montinari, M. 23,67,68 Morgenstern, Ch. 15 Müller-Lauter, W. 18 Musil, R. 112 Mussolini, B. 29 Napoleon m . 164 Negt, O. 120 Nestle, W. 209 Nietzsche, F. 7-51, 53-62, 66-71,74, 75, 78, 79, 83-86, 90, 92, 98-107, 111, 113-115, 121, 134, 136, 177, 183,198,218 Nords, Ch. 70,72 Oiserman, T. I. 82 Oliva, B. 179 Olsson, H. 96 Orwell, G. 173 Otto, W. F. 210,211 Paci, E. 14 Paldän, L. 88 Parsons, T. 68,69, 219 Pasquinelli, C. 70, 88 Péguy, Ch. 176 Perl, J. M. 87 Picasso, P. 106 Piaton 45,151,205-208 Plju&.L. 165

223

Podach, E. 31 Poe, E. A. 136 Popper, K. R. 68,69, 204,219 Popper, L. 62 Poser, H. 209 Protagora 151 Proust, M. 107 Pütz, P. 10 Pynchon, Th. 185-187 Rancière, J. 178 Raschel, H. 14 Raulet, G. 645, 71, 119, 127, 129, 182 Reagan, R. W. 163 Reijen, W. van 70 Renan, E. 66 Renant, A. 8 Ricardo, D. 80 Richter, H.-E. 84 Ricoeur, P. 178 Ries, W. 14 Ritter, J. 206 Robespierre, M. 193 Rochlitz, R. 183 Rohrmoser, G. 7 Römer, R. 12 Rorty, R. 70,72 Rosenberg, A. 28,44,52,58 Rötzer, F. 182,183 Rovatti, P. A. 84 Rukser, U. 14 Ryan, M. 87

Schäfer, W. 84 Schelling, F. J. W. 15 Scherpe, K. R. 89,11 Schiller, F. 25,59 Schilling, R. 72 Schlechta, K. 9, 32-3 Schlegel, F. 66 Schlesier, R. 84 Schmidt, B. 12,64,1 Schmidt, R. 23 Schmitt, C. 28, 52 Schniewind, J. 207 Schönberg, A. 112 Schopenhauer, A. 34 59,90,94,106,109, Schreiter, J. 214 Schröter, M. 109 Schulz, M. 131 Schürmann, R. 87 Seidel, H. 206,207 Sena, M. 14 Serres, M. 8,178 Sève, L. 119,123,15 Sichirollo, L. 88 Simmel, G. 68,90 Smith, A. 8 Sobejano, G. 15 Södergran, E. 96,98 Sokrates 41,45,46,2 Sorel, G. 44 Spaemann, R. 67 Spedicato, P. 70 Spengler, O. 17, 28,

Saint-Just, L. A. de 193 Saint-Simon, C. H. de 76, 82 Salaquarda, J. 17 Sandkühler, H. J. 66 Sartre, J.-P. 15,97,219 Scarpetta, G. 178 Schacht, R. 19

209,210 Spinoza, B. 35 Steigerwald, R. 15, 3 Stein, G. 151 Steiner, H. 131 Stem, J. P. 14 Stirner, M. 15,35,83 Strauß, F.-J. 40 224

Sziklai, L.

29,49,50

Thales 206,207 Thomas, R. H. 14 Tocqueville, A. de 74,75 Tomberg, F. 26,28,31 Toulmin, S. E. 131 Tretjakow, S. 125 Valéry, P. 85 Vattimo, G. 73,84 Veca, S. 83 Vegetti, M. 88 Vico, G. 82 Virilio, P. 145,162,188,190-201 Vladimirov, V. 165 Voltaire, F. M. (Arouet) 75, 82,176 Wagner, R. 26,28,31,61

Weber, M. 7, 17, 18, 51, 68, 69, 133, 135,203 Weiss, P. 63,138, 139 Welsch, W. 64,70,71 Wiener, N. 158 Wilde, W. 87 Wilke, J. 143-145, 182 Wittgenstein, L. 71, 75, 112, 122, 156,219 Wundt, W. 209 Xenophanes

205

Yorck von Wartenburg, P. 68 Zola, E. 176 Zweig, A. 15,57,58,63

225

ISBN 3-05-000754-0 ISSN 0863-1123 Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, DDR - 1086 Berlin, Leipziger Str. 3-4 © Akademie-Verlag Berlin 1990 Lizenznummer: 202 • 100/177/89 Printed in the German Democratic Republic Einbandgestaltung: Christiane Preuße Gesamtherstellung: VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 4450 Gräfenhainichen LSV 0165 Bestell-Nr.: 754 965 8 (2190/3) 01200