Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution: Eine Emotionsgeschichte der bundesdeutschen 68er-Bewegung 9783839433782

How are politics, emotions and gender interwoven? Stefanie Pilzweger tells the story of the West-German generation of &#

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German Pages 414 Year 2015

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Inhalt
Einleitung
1. Forschungsfrage
2. Forschungsstand: ›Männlichkeit(en)‹ und ›Emotion(en)‹ als Analysekategorien in der historischen Untersuchung der 68er-Bewegung
Herangehensweise
1. Theorie und Methode
1.1 Geschichte der Männlichkeiten
1.1.1 Raewyn Connell: Hegemoniale Männlichkeit
1.1.2 Pierre Bourdieu: Maskuliner Habitus
1.1.3 Wolfgang Schmale: Zur Geschichte männlicher Hegemonie
1.2 Geschichte der Emotionen
1.2.1 William M. Reddy: Emotionales Regime
1.2.2 Barbara Rosenwein: Emotionale Gemeinschaften
1.3 Synthese
2. ›1968‹ als wissenschaftliches und erinnerungspolitisches Konstrukt
2.1 Das Jahr 1968 als Mythos, Chiffre, Zäsur, Symbol und Ereignis
2.2 ›68er-Generation‹ und ›68er-Bewegung‹
2.3 Die ›68er Generation‹ als männliche Generation
3. Akteure der Revolte
3.1 Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS)
3.2 Kommune I und II
3.3 Die Ordnung der Geschlechter in SDS und Kommunen
4. Quellen
Emotionale Strukturen in der maskulin codierten Protestkultur der 68er-Bewegung
1. Utopie
1.1 Zukunftsoptimismus
1.2 Neue Sensibilität
1.3 Gegenwartskritik
1.4 Omnipotenz
1.5 Zwischenresümee
2. Solidarität
2.1 Internationaler Zusammenhalt
2.2 Musik als emotionales Bindemittel
2.3 Gemeinschaftssehnsucht
2.4 Solidarische Atmosphäre
2.5 Zwischenresümee
3. Sprache des Protests
3.1 Intellektueller Politikjargon
3.1.1 Ermächtigung
3.1.2 Einschüchterung
3.2 Wortwitz und Sprachlust
3.3 Zwischenresümee
4. Provokation
4.1 Kleidercodes und Frisuren
4.1.1 Lässigkeit
4.1.2 Fantasievolle Nachlässigkeit
4.1.3 Revolutionärer Stolz
4.1.4 Leidens- und Gewaltbereitschaft
4.2 Protestinszenierungen
4.2.1 Lustvolle Erlebnisintensität
4.2.2 Angst und Spaß
4.3 Zwischenresümee
5. Generationenkonflikte
5.1 Misstrauen
5.2 Schweigen
5.3 Scham
5.4 Paranoia
5.5 Väterliche Gewalt
5.6 Moralische Überlegenheit
5.7 Zwischenresümee
6. Psychoanalyse
6.1 Emotional frierende Kinder
6.2 Rationaler Funktionär vs. sensibler Mann
6.3 Pathogene Universität
6.4 Gruppentherapie
6.5 Zwischenresümee
7. Sexualität
7.1 Sexualität als Politikum
7.2 Kollektivierte Intimität
7.3 Das Ende der romantischen Liebe?
7.4 Sexuelle Revolution nur für Männer?
7.5 Verklemmtheit und Eifersucht
7.6 Politisierter Geschlechterkampf
7.7 Zwischenresümee
8. Gewalt
8.1 Abneigung gegen militärische Gewalt
8.2 Faszination an revolutionärer ›Gegengewalt‹
8.3 Freude am Straßenkampf
8.4 Angst und Opfer-Sein
8.5 Wut und Hass
8.6 Zwischenresümee
9. Scheitern
9.1 Erschöpfung
9.2 Ernüchterung und Enttäuschung
9.3 Entsolidarisierung
9.4 Depression und Melancholie
9.5 Zwischenresümee
Ergebnisse
1. Zusammenfassung
2. Ausblick
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Chronik der Protestereignisse
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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution: Eine Emotionsgeschichte der bundesdeutschen 68er-Bewegung
 9783839433782

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Stefanie Pilzweger Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution

Histoire | Band 87

Dank Für die Betreuung und Begutachtung meiner Dissertation danke ich Herrn Prof. Dr. Theo Stammen, Herrn Prof. Dr. Wolfgang E. J. Weber und Frau Prof. Dr. Susanne Kinnebrock. Herrn Prof. Dr. Günther Kronenbitter danke ich für seine Bereitschaft die Drittprüferschaft zu übernehmen. Mein besonderer Dank für die immerwährende Unterstützung und Begleitung meines privaten, akademischen und beruflichen Lebensweges gilt meiner Mutter, Anna Maria Freiberger, der ich diese Arbeit widme, und meiner Tante, Hannelore Steiner.

Stefanie Pilzweger (Dr. phil.), geb. 1985, ist in der wissenschaftlichen Abteilung der KZ-Gedenkstätte Dachau tätig. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Geschichte des Nationalsozialismus und der bundesdeutschen Nachkriegsjahrzehnte aus geschlechter-, emotions- und erinnerungshistorischer Perspektive.

Stefanie Pilzweger

Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution Eine Emotionsgeschichte der bundesdeutschen 68er-Bewegung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Rudi Dutschke hält am 17. Februar 1968 eine Rede auf dem Internationalen Vietnamkongress an der Technischen Universität Berlin, ullstein bild © Klaus Mehner Satz: Justine Haida, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3378-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3378-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung 1. Forschungsfrage  | 11 2. Forschungsstand: ›Männlichkeit(en)‹ und ›Emotion(en)‹ als Analysekategorien in der historischen Untersuchung der 68er-Bewegung  | 17

Herangehensweise 1. Theorie und Methode  | 31 1.1 Geschichte der Männlichkeiten | 31 1.1.1 Raewyn Connell: Hegemoniale Männlichkeit | 34 1.1.2 Pierre Bourdieu: Maskuliner Habitus | 37 1.1.3 Wolfgang Schmale: Zur Geschichte männlicher Hegemonie | 41 1.2 Geschichte der Emotionen | 45 1.2.1 William M. Reddy: Emotionales Regime | 48 1.2.2 Barbara Rosenwein: Emotionale Gemeinschaften | 49 1.3 Synthese | 51 2. ›1968‹ als wissenschaftliches und erinnerungspolitisches Konstrukt  | 53 2.1 Das Jahr 1968 als Mythos, Chiffre, Zäsur, Symbol und Ereignis | 53 2.2 ›68er-Generation‹ und ›68er-Bewegung‹ | 57 2.3 Die ›68er Generation‹ als männliche Generation | 64 3. Akteure der Revolte  | 69 3.1 Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS) | 69 3.2 Kommune I und II | 75 3.3 Die Ordnung der Geschlechter in SDS und Kommunen | 80 4. Quellen  | 85

Emotionale Strukturen in der maskulin codierten Protestkultur der 68er-Bewegung 1. Utopie  | 93 1.1 Zukunftsoptimismus | 94 1.2 Neue Sensibilität | 100 1.3 Gegenwartskritik | 104 1.4 Omnipotenz | 109 1.5 Zwischenresümee | 113 2. Solidarität  | 115 2.1 Internationaler Zusammenhalt | 117 2.2 Musik als emotionales Bindemittel | 121 2.3 Gemeinschaftssehnsucht | 127 2.4 Solidarische Atmosphäre | 129 2.5 Zwischenresümee | 135 3. Sprache des Protests  | 139 3.1 Intellektueller Politikjargon | 140 3.1.1 Ermächtigung | 146 3.1.2  Einschüchterung | 150 3.2 Wortwitz und Sprachlust | 154 3.3 Zwischenresümee | 161 4. Provokation  | 163 4.1 Kleidercodes und Frisuren | 164 4.1.1 Lässigkeit | 165 4.1.2 Fantasievolle Nachlässigkeit | 169 4.1.3 Revolutionärer Stolz | 173 4.1.4 Leidens- und Gewaltbereitschaft | 177 4.2 Protestinszenierungen | 182 4.2.1 Lustvolle Erlebnisintensität | 183 4.2.2 Angst und Spaß | 186 4.3 Zwischenresümee | 193 5. Generationenkonflikte  | 197 5.1 Misstrauen | 198 5.2 Schweigen | 202 5.3 Scham | 206 5.4 Paranoia | 210 5.5 Väterliche Gewalt | 216 5.6 Moralische Überlegenheit | 221 5.7 Zwischenresümee | 225

6. Psychoanalyse  | 227 6.1 Emotional frierende Kinder | 229 6.2 Rationaler Funktionär vs. sensibler Mann | 231 6.3 Pathogene Universität | 239 6.4 Gruppentherapie | 244 6.5 Zwischenresümee | 248 7. Sexualität  | 251 7.1 Sexualität als Politikum | 253 7.2 Kollektivierte Intimität | 257 7.3 Das Ende der romantischen Liebe? | 263 7.4 Sexuelle Revolution nur für Männer? | 268 7.5 Verklemmtheit und Eifersucht | 275 7.6 Politisierter Geschlechterkampf | 278 7.7 Zwischenresümee | 285 8. Gewalt  | 289 8.1 Abneigung gegen militärische Gewalt | 291 8.2 Faszination an revolutionärer ›Gegengewalt‹ | 294 8.3 Freude am Straßenkampf | 300 8.4 Angst und Opfer-Sein | 305 8.5 Wut und Hass | 310 8.6 Zwischenresümee | 317 9. Scheitern  | 321 9.1 Erschöpfung | 322 9.2 Ernüchterung und Enttäuschung | 325 9.3 Entsolidarisierung | 327 9.4 Depression und Melancholie | 333 9.5 Zwischenresümee | 339

Ergebnisse 1. Zusammenfassung  | 345 2. Ausblick  | 357 Quellenverzeichnis  | 359 Literaturverzeichnis  | 367 Bildnachweis  | 391 Chronik der Protestereignisse  | 393

Einleitung

1. Forschungsfrage

» Das historisch wirklich Bedeutsame der Jugendbewegung bestand darin, daß sie ihre Schritte nach außen machte, sich frei schaufelte: weg vom klebrigen Leimtopf der Familie, weg von Lern- und Unterwerfungszwängen in den Institutionen, weg von Schuldgefühlen, herrschenden Moralvorstellungen, Gesetzeszwängen – alles trat aus beengten Räumen hervor, strömte auf Straßen und Plätze, würfelte Musik, Entrüstung, Sexualität und den Willen zur Freiheit durcheinander. So entstand die Freude an der Herausforderung des Gegners, die Lust an Feindschaften, die Verachtung von Autoritäten und das Begehren nach Zerstörung. Alle Repression wurde als ein Außen bekannt, man selbst verspürte sich als ein Füllhorn, das verströmte, als ein Wunschpaket, das aufplatzte. Kein Über-Ich zwickte und zwackte mehr die geschundene Seele, sondern es wurde plastisch sichtbar und deswegen auch angreifbar: es brüllte dir wutentbrannt entgegen im roten Antlitz deines Vaters, es erbrach sein ganzes Moralgesabbel aus dem Mund deines Lehrers, es blickte verbissen aus der Fresse eines Bullen – und du konntest zurückbrüllen, dreinschlagen oder einfach hochmütig lächelnd davon gehen. Jeder Stein, der damals geschleudert wurde, war in der Tat eine Therapie.« 1 Zehn Jahre nach dem Höhepunkt der antiautoritären Revolte von ›1968‹ beschreibt Herbert Röttgen2, ein Akteur des studentischen Protestmilieus, rückblickend das gemeinsame Lebensgefühl einer Generation junger Protestierender auf der ganzen Welt. Bezeichnenderweise nennt Röttgen kollektive Emotionen als

1 | RÖT TGEN, Herbert/RABE, Florian: Vulkantänze. Linke und Alternative Ausgänge, 2. Aufl., München 1978, S. 26f. 2 | Herbert Röttgen gründete im Jahr 1967 zusammen mit Gisela Erler den Münchner Trikont-Verlag. Da beide Verleger dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) angehörten, war das Publikationshaus eng mit der 68er-Bewegung verknüpft. Der TrikontVerlag publizierte die ›Klassiker‹ der Protestszene. Die im Jahr 1978 unter dem Titel Vulkantänze. Linke und Alternative Ausgänge erschienene Kritik am linksradikalen Milieu stammt allein aus Röttgens Feder. Der zweite angegebene Autor ›Florian Rabe‹ existiert nicht. Seit 2004 benutzt Röttgen, der als Schriftsteller und Religionsforscher tätig ist, sein Pseudonym ›Victor Trimondi‹ als bürgerlichen Namen.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution

ausschlaggebenden Antriebsgrund für das Entstehen einer internationalen sozialen Bewegung und deren massiver Rebellion gegen die bestehenden Verhältnisse. In dieser Studie wird die handlungsleitende Funktion von Gefühlen in der Geschichte des politischen Protests ins Zentrum des Forschungsinteresses gerückt und die Gefühlskultur der westdeutschen 68er-Bewegung untersucht. Dabei folge ich der These, dass es sich bei der bundesdeutschen Oppositionsbewegung rund um das Jahr 1968 um eine maskulin codierte Protestbewegung gehandelt hat. Da männliche Protagonisten die zeitgenössische Protestkultur zahlenmäßig und inhaltlich dominierten, gehe ich davon aus, dass diese auch das kollektive Gefühlssystem der außerparlamentarischen Bewegung maßgeblich formten und bestimmten. Die Gefühlsäußerungen der 68er-Bewegung werden dementsprechend als männlich codierte Regeln des Fühlens begriffen. Folglich stellt sich die Frage, welche Emotionen in den späten 1960ern der maskulinen Natur zu- oder abgesprochen wurden. Analysiert werden soll, welche Gefühle in welcher Intensität innerhalb des linken Protestmilieus für Männer zeigbar, also legitim waren und welche Gefühlsausdrücke hingegen als unangemessen, beziehungsweise unmännlich galten. Darüber hinaus ist von Interesse, wie Gefühle das kollektive Handeln im maskulin dominierten Bereich der Politik motivierten, der bisher meist als rationale, gefühlsfreie Sphäre betrachtet wurde. Inwiefern sich die Bewegung von ›1968‹ in Abgrenzung zu den Gefühlsnormen der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft als eine soziale Gruppierung mit distinkten emotionalen Stilen und Standards entwickelte, steht ebenfalls zur Untersuchung. Das Forschungsziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, zu eruieren, welche Modi des emotionalen Ausdrucks von Mitgliedern der sozialen Bewegung einerseits erwartet, gebilligt und gefördert wurden und welche Gefühlsäußerungen andererseits Geringschätzung, Tadel oder Missbilligung erfuhren. Im Mittelpunkt meiner Untersuchung der sogenannten 68er-Bewegung, die sich aus verschiedenen sozialen Strömungen und mehr oder minder kooperierenden Trägergruppen des Protests zusammensetzte, stehen der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), sowie die Kommune I und die Kommune II, deren Bewohner zunächst über ihre Mitgliedschaft im SDS zusammenfanden. Sowohl der intellektuell-politisch ausgerichtete SDS als auch die kulturrevolutionär agierenden Berliner Kommunen waren federführend in der Planung, Gestaltung, Ausübung und Repräsentation des antiautoritären Protests und gleichermaßen prägend für die Protest- wie auch die Gefühlskultur der Revolte in der Bundesrepublik Deutschland. Die symbolhafte Chiffre ›1968‹ ist ferner als Höhepunkt einer Sequenz historisch bedeutsamer Ereignisse zu betrachten, die weit über das Jahr 1968 hinausgehen. Der Untersuchungszeitraum meiner Dissertation umfasst daher eine Spanne von fünf Jahren. Der Beginn der westdeutschen Oppositionsbewegung ist auf das Jahr 1965 zu datieren, als vermehrt studentische Unruhen an den Universitäten ausbrachen. Das Ende der sozialen Bewegung fällt auf das Jahr 1970, als sich der SDS auflöste und die Protestbewegung in konkurrierende Splittergruppen zerfiel.

Einleitung

Im Folgenden wird zuerst Aufschluss über den aktuellen Forschungsstand zur Protestbewegung von ›1968‹ gegeben. Geklärt werden soll, inwieweit empirische Untersuchungen zum Sujet der 68er-Bewegung bisher aus geschlechter-, beziehungsweise emotionshistorischer Perspektive erfolgt sind und inwieweit sich durch diesen innovativen Blickwinkel zusätzliche Tiefenschärfe für den Forschungsgegenstand gewinnen lässt. Da bis dato in den Geschichtswissenschaften kein theoretisch-methodischer Rahmen existiert, der eine geschlechtersensible Analyse von Emotionen in historischen Zusammenhängen ermöglicht, ist es für diese Studie vonnöten, Verbindungslinien und Anknüpfungspunkte zwischen interdisziplinären Ansätzen aus Männlichkeits- und Emotionsforschung aufzuspüren. Ich stütze mich dabei zum einen auf die Theorie hegemonialer Männlichkeit von Raewyn Connell, in Kombination mit Pierre Bourdieus Überlegungen zur männlichen Herrschaft und zum maskulinen Habitus. Zur Ergänzung dieser soziologischen Modelle ziehe ich den Beitrag des Historikers Wolfgang Schmale hinzu, der die Prämisse der gesellschaftlichen Suprematie des Männlichen einer Historisierung unterzieht. Zum anderen sind für die vorliegende Arbeit die Theoriekonzepte des emotionalen Regimes von William M. Reddy und der emotionalen Gemeinschaften von Barbara Rosenwein von Bedeutung. Beide Beiträge aus der historischen Emotionsforschung bemühen sich, das Phänomen emotionaler Vergemeinschaftung zu greifen. Eine Synthese der soeben genannten theoretisch-methodischen Modelle aus Männlichkeits- und Emotionsforschung ermöglicht eine analytische Betrachtung historischer Gefühlsordnungen im Zusammenwirken mit vergeschlechtlichten Machtkonstellationen. Darüber hinaus gilt es, das symbolische Datum ›1968‹, das der Protestbewegung der 1960er Jahre ihren Namen verlieh, als wissenschaftliches und erinnerungspolitisches Konstrukt kenntlich zu machen. Das schwer fassbare, zeichenhafte Kürzel wird durch eine präzise Aufschlüsselung und Definition, welche Ereignisse, welche Akteure und welcher Zeitraum in dieser Studie zur Untersuchung stehen, wissenschaftlich handhabbar gemacht. Geklärt werden soll außerdem, was die ›68er‹ als soziale Bewegung und Generation charakterisiert und inwiefern von einer hegemonial männlichen Repräsentation des Phänomens ›1968‹ auf zwei zeitlichen Ebenen gesprochen werden kann. Eine Dominanz männlicher Akteure lässt sich nämlich nicht nur innerhalb des zeitgenössischen Protestmilieus beobachten, sondern auch bei der retrospektiven Aufarbeitung und Bewertung der Ereignisse. Eine Darlegung der zentralen Entwicklungslinien, internen Strukturen und Leitideen der in dieser Arbeit untersuchten Trägergruppen der Revolte darf zudem nicht fehlen. Die Geschichte des SDS und der Kommunen I und II wird deshalb ab Mitte der 1960er Jahre skizziert. Des Weiteren soll ein erster Einblick in die hierarchischen Geschlechterbeziehungen und -ordnungen innerhalb des Studentenvereins und der Wohngemeinschaften gegeben werden. Obgleich der SDS und die Berliner Kommunen im Fokus des Erkenntnisinteresses stehen, werden Zeugnisse weiterer Personen und Gruppierungen, die zum engeren Netzwerk der antiautoritären Studentenbewegung gehörten, ebenfalls mitberücksichtigt.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution

Als Quellenmaterial zur Analyse der maskulin codierten Protest- und Gefühlskultur der 68er-Bewegung dient mir primär eine Zusammenstellung historischer Quellen, die von den Akteuren der Protestbewegung selbst produziert wurden. Aufschluss über die politischen und kulturrevolutionären Forderungen, Ziele und Wünsche, aber vor allem auch den kollektiven Gefühlshaushalt der Revolteure geben Autobiografien und Interviews, unmittelbare zeitgenössische Zeugnisse des Protests wie Reden, Diskussionsbeiträge, Positionspapiere, Aufsätze, Flugblätter, Plakate sowie alle weiteren publizierten Zeugnisse aus der Feder der Protestierenden. Außerdem werden wissenschaftliche Theorien, Ideologien und Denkmodelle in den Quellenkorpus miteinbezogen, die bedeutenden Einfluss auf das Denken, Fühlen und Handeln der Aktivisten von ›1968‹ hatten. Zur Untersuchung des körperkommunikativen emotionalen Habitus der Revolutionäre wird darüber hinaus ergänzend auch fotografisches Bildmaterial herangezogen. Der analytische Hauptteil dieser Studie gliedert sich nach relevanten emotionalen Dispositionen innerhalb der männlich geprägten bundesdeutschen 68erBewegung. Zunächst soll eine Annäherung an die dynamische und euphorische Revolutionsstimmung der Protestierenden versucht werden. Die Mitglieder der linken Protestszene waren sich sicher, dass durch kritisches Nachdenken und Eingreifen ein radikaler Umsturz der bestehenden Verhältnisse in der Bundesrepublik möglich sei und unmittelbar vor der Tür stehe. Der mit Omnipotenz und Zukunftsoptimismus angefüllte Impetus der studentischen Bewegung wird dabei näher beleuchtet. Wie sich das utopische Konzept einer neuen Sensibilität mit dem Gefühlsrepertoire der überwiegend männlich geprägten Protestgemeinde vereinbaren ließ, gilt es ebenfalls zu untersuchen. Ferner frage ich nach emotionalen Mechanismen der In- und Exklusion innerhalb der 68er-Bewegung, wobei das von den Aktivisten kontinuierlich postulierte Gefühl der Solidarität im Mittelpunkt der Analyse steht. Dabei darf die Geschichte des politischen Leitbegriffs der Solidarität, der sich aus einem maskulinen Bedeutungsuniversum speist, nicht außer Acht gelassen werden. Untersucht werden sollen jene Praktiken und Rituale, mit denen innerhalb der sozialen Bewegung ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Einigkeit geschaffen wurde. Welche Rolle die Solidarisierung mit den ›unterdrückten‹ und ›ausgebeuteten‹ Kolonialvölkern und die Identifikation mit asiatischen und südamerikanischen Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen bei der Entwicklung eines wohligen Gemeinschaftsgefühls innerhalb der westdeutschen 68er-Bewegung spielte, steht ebenfalls zur Analyse. Ziel der vorliegenden Forschungsarbeit ist es überdies, zu ermitteln, welche Aussagekraft der sprachliche Ausdruck der Protagonisten von ›1968‹ über deren kollektiven Gefühlshaushalt besitzt. Deshalb soll zunächst untersucht werden, wie sich der Sprachstil der überwiegend männlichen Oppositionellen gestaltete, den diese in Abgrenzung zu den gesellschaftlich vorherrschenden sprachlichen Konventionen entwickelten. Der Status von Sprache als Kampfmittel und Machtinstrument innerhalb der maskulin codierten Sphäre der politischen Auseinan-

Einleitung

dersetzung soll hierbei besondere Berücksichtigung erfahren. Die Fragen, welche Emotionen die Akteure der antiautoritären Bewegung mit der neuartigen Protestsprache verbanden und welche Gefühle sie damit bei ihren politischen Gegnern hervorrufen wollten, sind ebenfalls Gegenstand der Untersuchung. Im linken Protestmilieu rund um das Jahr 1968 lassen sich habituelle Ausdrucksformen maskuliner Emotionalität darüber hinaus anhand der kulturrevolutionären Codierung von Kleidung und Frisuren sowie der öffentlichen Selbstinszenierung der Revolteure im Rahmen von Protestaktionen ausmachen. Mittels expressiver und performativer Körpercodes kommunizierten die Protestierenden ihre Haltungen, Befindlichkeiten und Interpretationen gesellschaftlicher Probleme. Bei der symbolischen Politik der 68er-Bewegung, so meine These, stand die Provokation der Mehrheitsgesellschaft im Zentrum. Von daher gehört es zum Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit, welchen emotionalen Strategien die Protestierenden mit ihren provokanten Körperpraktiken folgten. Die Beteiligung der Vätergeneration an den Verbrechen des Nationalsozialismus und deren beharrliches Schweigen darüber riefen Empörung und Misstrauen bei der 68er-Generation hervor und stellten einen weiteren Antriebsgrund zur Rebellion dar. Im Zuge dieses Generationenkonflikts muss die Protestbewegung als Jugendrevolte mit einem generationsspezifischen Gefühlsrepertoire betrachtet werden. In diesem Zusammenhang möchte ich insbesondere die generationsbedingten Schwierigkeiten im Vater-Sohn-Verhältnis analysieren und nachspüren, inwieweit die emotional aufgeladenen Auseinandersetzungen von einer Kollision zweier unterschiedlich sozialisierter Modelle von Männlichkeit sprechen. Psychoanalytische Theorien gewannen innerhalb der 68er-Bewegung enorm an Bedeutung, da sich die Protagonisten der antiautoritären Revolte für die irrationalen, unbewussten Elemente des seelischen Geschehens interessierten. Selbstverwirklichung und Selbsterfahrung waren in der Protestbewegung zentrale Termini. Was es mit dem Imperativ der ›68er‹, emotionale Bedürfnisse offenzulegen und auszuleben, auf sich hatte, wird in dieser Studie untersucht. Inwieweit eine Zuwendung zum Emotions- und Seelenleben und die Bereitschaft, sein Innerstes nach außen zu kehren, möglicherweise auf ein neuartiges, emotional aufgeschlosseneres Männerbild hinweist, gilt es ebenfalls zu klären. Bei einer Analyse des männlich codierten Gefühlssystems der außerparlamentarischen Bewegung von ›1968‹ muss zudem die Rolle der prominenten Forderung nach befreiter Liebe und Sexualität berücksichtigt werden. Geprüft werden soll, was die bewusste Dekonstruktion und Ablehnung der monogamen Paarbeziehung und romantischen Liebe für den emotionalen Haushalt beider Geschlechter bedeutete. Ob Männer und Frauen der Protestszene unterschiedliche Lesarten der sogenannten ›Sexuellen Revolution‹ besaßen, ist zudem von Interesse. Des Weiteren frage ich nach dem Verhältnis der revolutionären Protagonisten zu Gewalt und Militanz. Zweifellos kamen im Zuge der Protestbewegung

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archaische Gefühle wie Hass und Zorn zum Tragen. Auch wenn innerhalb der Oppositionsbewegung nur ein kleiner, meist männlicher Teil aktiv Gewalt ausgeübt hatte, stießen gewaltsame Aktionen im Namen der Revolution auf breite Akzeptanz innerhalb der maskulin dominierten Protestkultur. Analysiert werden soll, inwiefern gewalttätige Protestformen, militante Selbstinszenierungen und die damit verbundenen Gefühle der Ermächtigung den Protestierenden als Ressource zur Inszenierung und Demonstration von Maskulinität dienten. Überdies stellt sich die Frage, wie vor dem Hintergrund dieser Gewaltaffinität gleichzeitig pazifistische Tendenzen wie massenhafte Proteste gegen den Vietnamkrieg oder Kriegsdienstverweigerung zu erklären sind. Zuletzt soll untersucht werden, mit welchen Gefühlen die Akteure der Revolte auf den Zerfall und das politische Scheitern der Protestbewegung reagierten. Um sich der destruktiven und unbehaglichen Atmosphäre innerhalb der Neuen Linken in der Schlussphase und nach dem Ende der 68er-Bewegung annähern zu können, muss der Untersuchungszeitraum für diese Fragestellung auf die 1970er Jahre ausgeweitet werden. Mit einer Analyse, wie die einstige Leidenschaft der männlichen Revolteure angesichts einer bitter enttäuschten Erwartungshaltung in Ernüchterung, Frustration und Melancholie umschlagen konnte, schließe ich meine Untersuchung. Nach einer Zusammenfassung der Forschungsergebnisse soll abschließend über den Nutzen der Geschlechter- und Emotionsstudien für die Protestforschung und weitere politikwissenschaftliche und zeithistorische Fragestellungen diskutiert werden. Für eine stärkere Berücksichtigung der verhaltenssteuernden Rolle von Emotionen und deren enger Verbindung mit der Wahrnehmung und Inszenierung von Geschlechtszugehörigkeit wird plädiert.

2. Forschungsstand: ›Männlichkeit(en)‹ und ›Emotion(en)‹ als Analysekategorien in der historischen Untersuchung der 68er-Bewegung

Betrachtet man die politik- und geschichtswissenschaftliche Forschung zum Themenkomplex ›1968‹, so existieren mittlerweile zahlreiche, differenzierte Forschungsergebnisse. Im deutschsprachigen Raum war im Jahr 2008, dem vierzigjährigen Jubiläum der Revolte, eine immense Flut an Veröffentlichungen zu verzeichnen. Die 68er-Bewegung hat im kollektiven Gedächtnis der bundesdeutschen Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen und wird als historische Zäsur begriffen. Von daher nehmen die Medien jeweils im Abstand von zehn Jahren den Höhepunkt der Protestbewegung im Jahr 1968 zum Anlass, um an die Ereignisse von damals öffentlichkeitswirksam zu erinnern. Indem die Verlage zu diesem Zeitpunkt einschlägige Forschungsarbeiten in großer Zahl publizieren und Wissenschaftler sich aufgrund von erhöhter öffentlicher Resonanz und Verkaufszahlen gerne an der Publikationswelle beteiligen, läuft insbesondere die Zeitgeschichte Gefahr, als Jubiläumswissenschaft wahrgenommen zu werden.1 Die Tatsache, dass die Oppositionsbewegung auch nach vierzig Jahren noch Gegenstand nicht enden wollender Debatten ist, zeigt jedoch auch, dass ›1968‹ »nicht ausgedeutet [ist], sondern weiter in Bewegung, noch immer eher Gegenwart als Geschichte«2. Ein weiteres, nicht unproblematisches Spezifikum historischer Darstellungen zur Protestbewegung von ›1968‹ besteht außerdem darin, dass die Autoren sich oftmals als Zeitzeugen, beziehungsweise Aktivisten der sozialen Bewegung ausweisen und zugleich als Historiker ihrer eigenen Zeit agieren. Die Problematik der Zeitzeugenhistorie lässt sich daran ausmachen, dass deren Verfasser ihre Perspektive auf die Ereignisse von ›1968‹ in einer thematisch verengenden Art 1 | Vgl. WENGST, Udo: Rezension ›1968‹. In: Sehepunkte 9 (2009), Heft 1, unter: www. sehepunkte.de/2009/01/14414.html (abgerufen am 28. Juli 2012). 2 | FREI, Norbert: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, Bonn 2008, S. 210.

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und Weise von ihren eigenen biographischen Erlebnissen herleiten und damit die Grenze zwischen subjektiver Erinnerungsliteratur und geschichtswissenschaftlicher Darstellung verschwimmt. Im Umgang mit dieser Art der Geschichtsschreibung ist für den forschenden Wissenschaftler eine besonders aufmerksame und sensible Quellenkritik vonnöten. Eine umfassende Darstellung der Protestereignisse in Westdeutschland liefert der Hamburger Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar. Mit seiner sowohl kritischen als auch fundierten Analyse von Entstehung, Entwicklung und Wirkung der 68er-Bewegung versucht sich Kraushaar im Jahr 2008 nach jahrzehntelangen Publikationen zum Thema sozialer Bewegungen erfolgreich an einer Bilanz der Revolte.3 Rund um das Jubiläumsjahr 2008 besitzen auch zahlreiche Sammelbände und Themenhefte einen bilanzierend-resümierenden Charakter und widmen sich häufig dem langfristigen Erfolg, beziehungsweise Misserfolg der Proteste von ›1968‹.4 Die Zeithistorikerin Ingrid Gilcher-Holtey veranschaulicht in ihrer Monografie 1968. Eine Zeitreise die Rebellion von ›1968‹ in ihren weltweiten Zusammenhängen.5 Durch seine globalgeschichtliche Annäherung an die internationale Protestwelle Ende der 1960er Jahre macht sich auch der Historiker Norbert Frei mit seinem ebenfalls im Jubiläumsjahr 2008 erschienenen

3  |  Siehe: KRAUSHAAR, Wolfgang: Achtundsechzig. Eine Bilanz, Berlin 2008. Der renommierte Politikwissenschaftler, welcher am Institut für Sozialforschung in Hamburg tätig ist und dort ein Archiv zum Thema ›Protest, Widerstand und Utopie in der Bundesrepublik‹ aufgebaut hat, gilt als der Chronist der 68er-Bewegung. Siehe auch: Ders. (Hg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946-1995, 1. Bd. Chronik, 2. Bd. Dokumente, 3. Bd. Aufsätze und Kommentare, Hamburg 1998; Ders: 1968. Das Jahr, das alles verändert hat, München 1998; Ders. (Hg.): 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000. 4 | Aufsatzsammlungen siehe: SCHAFFRIK, Tobias/WIENGES, Sebastian (Hg.): 68er Spätlese – Was bleibt von 1968? (Villigst Profile, Bd. 10), Berlin 2008; ALTVATER, Elmar/ HIRSCH, Nele/NOTZ, Gisela u.a. (Hg.): ›Die letzte Schlacht gewinnen wir!‹ 40 Jahre 1968 – Bilanz und Perspektiven, Hamburg 2008; VON HODENBERG, Christina/SIEGFRIED, Detlef (Hg.): Wo ›1968‹ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006. KLIMKE, Martin/SCHARLOTH, Joachim (Hg.): 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart/Weimar 2007; RATHKOLB, Oliver/STADLER, Friedrich (Hg.): Das Jahr 1968 – Ereignis, Symbol, Chiffre, Göttingen 2010; WENGST, Udo (Hg.): Reform und Revolte. Politischer und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland vor und nach 1968, München 2011; Themenhefte von Zeitschriften: Ästhetik & Kommunikation 39 (2008), Heft 140-141: Die Revolte – Themen und Motive der Studentenbewegung; Aus Politik und Zeitgeschichte 58 (2008), Heft 14-15: 1968; Vorgänge 47 (2008), Heft 1: Achtundsechzig. 5 | Siehe: GILCHER-HOLTEY, Ingrid: 1968. Eine Zeitreise, Frankfurt a.M. 2008. Siehe auch: Dies. (Hg.): 1968. Vom Ereignis zum Mythos, Frankfurt a.M. 2008.

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Werk 1968. Jugendrevolte und globaler Protest verdient.6 Ein bedeutender Beitrag zur Jugendkulturforschung der 1960er Jahre kommt von dem Neuzeithistoriker Detlef Siegfried, der mit seiner Analyse des reziproken Verhältnisses von Politik, Konsum und Popkultur in verschiedenen Monografien eine profunde Sichtweise auf die 68er-Bewegung als Jugendrevolte ermöglicht.7 Der Sprachwissenschaftler Joachim Scharloth veröffentlichte darüber hinaus eine wertvolle Studie über den spezifischen Kommunikationsstil der 68er-Generation, der gemäß Scharloth die Kommunikationsformen unserer Gesellschaft bis heute prägt.8 Überblicksartige Darstellungen über die verschiedenen politischen Programmatiken und personellen Zusammensetzungen des politischen Studentenverbandes SDS, von dessen Gründung im Jahr 1949 bis zu dessen Auflösung im Jahr 1970, stammen zum einen von zwei ehemaligen SDS-Mitgliedern, Tilman P. Fichter und Siegward Lönnendonker, und zum anderen von dem Historiker Willy Albrecht.9 Eine vergleichende Perspektive nimmt darüber hinaus der Politologe Michael Schmidtke ein, wenn er in seiner Monografie mit dem Titel Der Auf bruch der jungen Intelligenz den bundesdeutschen SDS und dessen amerikanisches Pendant Students for a Democratic Society gegenüberstellt.10 Geschichtswissenschaftliche Beiträge über die Kommunen I und II finden sich unter anderem in Aufsätzen von Alexander Holmig und Florentine Fritzen wieder, die sich mit den aktionistischen Protestformen der Kommunen und deren selbstexperimentellem Versuch einer Lebensstil-Revolte befassen.11 Mit einer sprachwissenschaftlichen Analyse der Flugblätter der Kommune 6 | Siehe: FREI, 1968. 7 | Siehe: SIEGFRIED, Detlef: Sound der Revolte. Studien zur Kulturrevolution um 1968, Weinheim/München 2008; Ders.: Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006; Ders.: Trau keinem über 30. Konsens und Konflikt der Generationen in der Bundesrepublik der langen sechziger Jahre, Bonn 2003. 8 | Siehe: SCHARLOTH, Joachim: 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, München 2011. 9 | Siehe: FICHTER, Tilman P./LÖNNENDONKER, Siegward: Kleine Geschichte des SDS. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von Helmut Schmidt bis Rudi Dutschke, Bonn 2008; ALBRECHT, Willy: Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS). Vom parteikonformen Studentenverband zum Repräsentanten der Neuen Linken, Bonn 1994; Siehe auch: LÖNNENDONKER, Siegward/RABEHL, Bernd/STAADT, Jochen: Die antiautoritäre Revolte. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund nach der Trennung von der SPD, Bd. 1: 1960-1967, Opladen 2002. 10  |  Siehe: SCHMIDTKE, Michael: Der Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland und den USA, Frankfurt a.M. 2003. 11 | Siehe: HOLMIG, Alexander: Die aktionistischen Wurzeln der Studentenbewegung. Subversive Aktion, Kommune I und die Neudefinition des Politischen. In: Martin Klimke/ Joachim Scharloth (Hg.): 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart/Weimar 2007, S. 107-118; Ders.: Zäune anrempeln, die den Alltag begrenzen! Von Kommunen und Wohngemeinschaften. In: Andreas Schwab/Beate Schappach/

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I haben sich sowohl Sara Hakemi, als auch Thomas Niehr auseinandergesetzt.12 Die Darstellung des ehemaligen Kommunarden Ulrich Enzensberger über Die Jahre der Kommune I ist zum einen ein geschichtswissenschaftlich sorgsam recherchiertes Werk, das nachvollziehbar historische Zusammenhänge herstellt, besitzt zum andern aber auch stark subjektive und tendenziöse Züge eines autobiografischen Lebensberichtes.13 Als bedeutende Träger der studentischen Oppositionsbewegung finden der SDS sowie die Berliner Kommunen ansonsten in so gut wie allen Monografien und Aufsatzsammlungen zum Thema ›1968‹ Beachtung. Innerhalb dieses breit gefächerten Forschungsspektrums zur 68er-Revolte offenbart sich jedoch eine auffallende Leerstelle: Geschlechterverhältnisse und -dimensionen bleiben in dem umfangreichem Repertoire an Forschungsarbeiten zur antiautoritären Bewegung unterbelichtet oder werden sogar komplett ausgeblendet. Eine systematische Anwendung der Kategorie ›Geschlecht‹ als theoretisch-methodisches Analyseinstrumentarium fand bisher keine Beachtung innerhalb der Forschungslandschaft zum studentischen Protest der späten 1960er Jahre. Die Geschlechterhistorikerinnen Ingrid Bauer und Hana Havelková postulieren in ihrem Schwerpunkt-Heft Gender & 1968, welches im Jahr 2008 im Rahmen der Zeitschrift L’Homme erschienen ist, das Forschungsdesiderat einer geschlechtergeschichtlichen Annäherung an das Thema ›1968‹ auf internationaler Ebene.14 In Ermangelung einer Monografie, die sich mit Geschlechterordnungen in der bundesdeutschen 68er-Bewegung befasst, lässt sich nur auf vereinzelte Aufsätze in Sammelbänden zur Protestbewegung und zur Gesellschaft der 1960er Jahre zurückgreifen, die einen geschlechtersensiblen Ansatz verfolgen.15 In Bezug auf das Manuel Gogos (Hg.): Die 68er. Kurzer Sommer – Lange Wirkung (Schriften des Historischen Museums Frankfurt a.M., Bd. 27), Essen 2008, S. 52-59; FRITZEN, Florentine: Die Berliner ›Kommunen‹ – Träger einer ›Kulturrevolution‹ von 1968? In: Dies./Riccardo Bavaj (Hg.): Deutschland – ein Land ohne revolutionäre Traditionen? Revolutionen im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts im Lichte neuerer geistes- und kulturgeschichtlicher Erkenntnisse, Frankfurt a.M. 2005, S. 137-157. 12  |  Siehe: HAKEMI, Sara: Anschlag und Spektakel. Flugblätter der Kommune I, Erklärungen von Ensslin/Baader und der frühen RAF, Bochum 2008; NIEHR, Thomas: ›Still schäm’ ich mich in meiner Zelle, Fritz Teufel, Ausgeburt der Hölle.‹ Sprachreflexive Elemente in den Flugblättern der Kommune I. In: Heidrun Kämper/Joachim Scharloth/Martin Wengeler (Hg.): 1968. Eine sprachwissenschaftliche Zwischenbilanz (Sprache und Wissen, Bd. 6), Berlin/Boston 2012, S. 115-134. 13 | Siehe: ENZENSBERGER, Ulrich: Die Jahre der Kommune I. Berlin 1967-1969, München 2006. 14 | Siehe: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 20 (2009), Heft 2: Gender & 1968. 15  |  Über die westdeutsche 68er-Bewegung siehe: FREVERT, Ute: Umbruch der Geschlechterverhältnisse? Die 60er Jahre als geschlechterpolitischer Experimentierraum. In: Axel Schmidt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre

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Thema ›Geschlecht‹ findet sich in der geschichtswissenschaftlichen Literatur zu ›1968‹ meist lediglich ein kurzer Hinweis auf die Formation der Neuen Frauenbewegung als emanzipatorische Rebellion der Frauen innerhalb der ›allgemeinen‹ Revolte. Der legendäre Tomatenwurf von Sigrid Rüdiger auf einen männlichen SDSGenossen als Protest gegen die als machistisch und chauvinistisch empfundenen maskulinen Praktiken innerhalb der linken Protestkultur wird in der Geschichtsschreibung zur 68er-Bewegung als Ursprungsmythos der Frauenbewegung verklärt und verkürzt.16 Die Geschichte der zweiten Welle der Frauenbewegung in Deutschland wird in der Historiografie überwiegend separat von der Geschichte der 68er-Bewegung erzählt.17 Von daher vermutet die Erziehungswissenschaftlerin und Gender-Forscherin Susanne Maurer die Herausbildung eines gespaltenen Bewegungsgedächtnisses: Während die Geschichtsschreibung über die primär von Männern gelenkte Protestbewegung von ›1968‹ auch von männlichen Akteuren dominiert wird, befindet sich die Historiografie zur Neuen Frauenbewegung fest in weiblicher Hand.18 in den beiden deutschen Gesellschaften (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 37), Hamburg 2000, S. 642-660; FLÜGGE, Sibylla: 1968 und die Frauen – Ein Blick in die Beziehungskiste. In: Margit Göttert/Karin Walser (Hg.): Gender und soziale Praxis, Königstein/Taunus 2002, S. 264-289; KRIESTEN, Anja: Die Revolution der Geschlechterbeziehungen? Männer und Frauen in der 68er-Bewegung. In: Alexandra Lutz (Hg.): Geschlechterbeziehungen in der Neuzeit. Studien aus dem norddeutschen Raum (Studien zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins, Bd. 40), Neumünster 2005, S. 247-256; BAUER, Ingrid: 1968 und die sex(ual) & gender revolution. Transformations- und Konfliktzone: Geschlechterverhältnisse. In: Oliver Rathkolb/Friedrich Stadler (Hg.): Das Jahr 1968 – Ereignis, Symbol, Chiffre, Göttingen 2010, S. 163-186. Über die 68er-Bewegung aus internationaler Perspektive siehe: EVANS, Sara M.: Sons, Daughters, and Patriarchy: Gender and the 1968 Generation. In: American Historical Review 114 (2009), Heft 2, S. 331-347. 16 | Zu den Folgen des Tomatenwurfes und der Entstehungsgeschichte der zweiten deutschen Frauenbewegung siehe: HEINRICH-BÖLL-STIFTUNG/FEMINISTISCHES INSTITUT (Hg.): Wie weit flog die Tomate? Eine 68erinnen-Gala der Reflexion, Berlin 1999. 17  |  Eine Ausnahme stellt dabei Kristina Schulz dar, die in ihrem vergleichenden Werk über die Frauenbewegungen in Westdeutschland und Frankreich in einem ausführlichen Kapitel den Zusammenhang der 68er-Bewegung und der entstehenden Frauenbewegung untersucht. Siehe: SCHULZ, Kristina: Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich 1968-1976, Frankfurt a.M. 2002, S. 76-97. Positiv herauszuheben ist auch der Forschungsbeitrag zur Frauenbewegung in München von Elisabeth Zellmer, in dem die Historikerin postuliert, dass das feministische Engagement der frühen Frauenbewegung zugleich Ergebnis von und Reaktion auf ›1968‹ war. Siehe: ZELLMER, Elisabeth: Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre in München (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 85), München 2011, S. 59-91. 18 | Vgl. MAURER, Susanne: Gespaltenes Gedächtnis? – ›1968 und die Frauen‹ in Deutschland. In: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissen-

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Begibt man sich in der allgemeinen geschichtswissenschaftlichen Literatur zur 68er-Bewegung auf die Suche nach geschlechterrelevanten Implikationen, so stößt man regelmäßig auf Formulierungen, die auf eine »traditionell geschlechtliche Rollenverteilung […] innerhalb der antiautoritären Bewegung«19 oder auf einen »männlich dominierten Mainstream der Studentenbewegung«20 hinweisen. Fast durchgehend finden sich weitestgehend unreflektierte Aussagen wie »die Rebellionen dieser Generation […] waren männlich dominiert«21 und »unter den öffentlich Protestierenden […] waren Männer überproportional vertreten«22, die keine detaillierte geschlechterhistorische Interpretation und Analyse erfahren.23 Ansonsten ist die Geschichte der Bewegung in geschlechtsneutraler Sprache geschrieben, wie der Historiker Thomas Etzemüller kritisch anmerkt: »Stets wird von ›den‹ Studenten gesprochen und Zufall scheint es zu sein, daß bei genauerem Hinsehen als Helden der Bewegung nur Männer auszumachen sind.«24 Diese defizitäre Forschungslage verlangt zum einen danach, Akteurinnen der 68er-Bewegung sichtbar zu machen, was bisher vor allem die Historikerin und Journalistin Ute Kätzel geleistet hat. Mit einem auf Interviews gestützten Band hat Kätzel einen Anfang gemacht, der NichtRezeption der Protagonistinnen von ›1968‹ und deren Geschichte entgegenzuwirken und auf die bis dahin eher unbekannten Lebensgeschichten und Leistungen politisch engagierter ›68erinnen‹ aufmerksam zu machen.25 Darüber hinaus beschaft 20 (2009), Heft 2, S. 118-128, hier S. 122. 19 | KIEßLING, Simon: Die antiautoritäre Revolte der 68er. Postindustrielle Konsumgesellschaft und säkulare Religionsgeschichte der Moderne, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 58. 20 | KERN, Thomas: Soziale Bewegungen. Ursachen, Wirkungen, Mechanismen, Wiesbaden 2008, S. 68. 21 | ZINNECKER, Jürgen: Halbstarke – die andere Seite der 68er Generation. In: Ulrich Hermann (Hg.): Protestierende Jugend. Jugendopposition und politischer Protest in der deutschen Nachkriegsgeschichte, Weinheim/München 2002, S. 461-487, hier S. 483. 22 | VERHEYEN, Nina: Diskussionslust. Eine Kulturgeschichte des ›besseren Arguments‹ in Westdeutschland, Göttingen 2010, S. 247. 23 | Die Liste der zufälligen, zur Veranschaulichung der Forschungslage gewählten Beispiele ließe sich noch fortführen. 24 | ETZEMÜLLER, Thomas: 1968 – Ein Riss in der Geschichte. Gesellschaftlicher Umbruch und 68er-Bewegungen in Westdeutschland und Schweden, Konstanz 2005, S. 175. 25 | Siehe: KÄTZEL, Ute (Hg.): Die 68erinnen. Porträt einer rebellischen Frauengeneration, Königstein 2008. Siehe auch: Dies.: Frauenrolle und Frauenbewusstsein in der 68erBewegung. Bundesrepublik und DDR im Vergleich. In: Annegret Schüle/Thomas Ahbe/Rainer Gries (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006, S. 324-354; VERLINDEN, Karla: ›Wir können […] nicht auf die Zeit nach der Revolution warten‹ – Frauen in der Studentenbewegung. In: Elke Kleinau/Susanne Maurer/Astrid Messerschmidt (Hg.): Ambivalente Erfahrungen – (Re-)politisierung der Geschlechter, Opladen/ Farmington Hills 2011, S. 89-100.

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steht zum anderen ein bisher gänzlich unbeachtetes Desiderat nach einer männergeschichtlichen Annäherung an die offenbar maskulin geprägte Protestbewegung. Eine systematische Untersuchung, was eine männlich dominierte Protestkultur ausmacht, und inwiefern Vorstellungen und Normen von Männlichkeit diese beeinflussen, fehlt bisher in der historischen Forschung zu ›1968‹. Der Historiker Aribert Reimann, der sich im deutschen Sprachraum als erster mit der Erforschung männerhistorisch relevanter Aspekte der 68er-Bewegung beschäftigt hat, bestätigt den Befund einer hegemonial männlichen Repräsentation von ›1968‹. »Die sogenannte Kulturrevolution der 1960er und 1970er Jahre kann – zumindest in den westlichen Industrienationen – als die letzte männlich kodierte Revolution gelten,« konstatiert Reimann in einem 2010 erschienenen Aufsatz.26 In seiner Habilitationsschrift widmet sich der Neuzeithistoriker der Biografie des 68er-Aktivisten Dieter Kunzelmann und schreibt in dessen Leben als ›Avantgardist, Protestler und Radikaler‹ die Geschichte der künstlerischen und politischen Avantgardebewegungen nach 1945 ein. In seiner Geschichte der subversiven Protestkultur und des politischen Radikalismus in der Bundesrepublik, symptomatisch dargestellt an der Lebensgeschichte Dieter Kunzelmanns, berücksichtigt Reimann unter anderem auch die Frage, was die Geschichte von Protest und Radikalismus für die historischen Konstellationen von Männlichkeit impliziert. Er untersucht in seiner Habilitationsschrift den männerbündischen Charakter der Oppositionsbewegung der späten 1960er Jahre und betont die Bedeutsamkeit der idealtypischen Figur des militanten Revolutionärs für das Männerbild der 68er-Aktivisten.27 Neben der Vernachlässigung einer männerhistorischen Analyse der 68er-Bewegung lässt sich innerhalb der Forschungslandschaft zu ›1968‹ eine weitere evidente Lücke ausmachen. Die Geschichte der Gefühle, als noch recht junges, aber zugleich auch innovatives und produktives Forschungsfeld, hat bisher sowohl in empirischer, als auch in methodisch-theoretischer Hinsicht noch keinen Eingang in die Historiografie der bundesdeutschen Oppositionsbewegung gefunden. Die Historikerin Martina Kessel weist jedoch darauf hin, dass »die potentiell politische Qualität von Gefühlen und Gefühlsmobilisierungen«28 besonders für die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts deutlich auf der Hand liegt. »Dennoch fehlt es bisher an langfristig angelegten Studien, die der Frage nachgehen, wie und warum Politik und Emotionen im […] 20. Jahrhundert in spezifischer Weise 26 | REIMANN, Aribert: Zwischen Machismo und Coolness. Männlichkeit und Emotion in der westdeutschen Kulturrevolution der 1960er und 1970er Jahre. In: Manuel Borutta/Nina Verheyen (Hg.): Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit in der Moderne, Bielefeld 2010, S. 229-254, hier S. 229. 27 | Siehe: REIMANN, Aribert: Dieter Kunzelmann. Avantgardist, Protestler, Radikaler, Göttingen 2009. 28 | KESSEL, Martina: Gefühle und Geschichtswissenschaft. In: Rainer Schützeichel (Hg.): Emotionen und Sozialtheorie. Disziplinäre Ansätze, Frankfurt a.M./New York 2006, S. 29-47, hier S. 37.

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verknüpft wurden«29, bemängelt Kessel.30 Auch die etablierte Emotionshistorikerin Ute Frevert betont ausdrücklich, dass sich gerade im Bereich des kollektiven, politischen Protests eine ganz neue Forschungsperspektive eröffnet, wenn man die verhaltenssteuernde Rolle von Emotionen und deren soziale Konstituierungsprozesse ins Zentrum der Untersuchung menschlichen Handelns, Entscheidens und Verhaltens rückt.31 In ähnlicher Weise, wie die Fülle an historischen Darstellungen zur Protestbewegung der späten 1960er Jahre einhellig wie unreflektiert von einer maskulin dominierten Protestkultur ausgeht, finden sich in der Literatur zu ›1968‹ zahlreiche Anmerkungen zur 68er-Bewegung als stark emotional beeinflusste soziale Bewegung. Häufig ist die Rede von einer »an […] Emotionen reichen Studentenbewegung«32 oder von einer »Emotionalität […], welche die Vorstellungen und die Alltagspraxis der ›68er‹ prägte«.33 Es heißt, der »Protest von 1968 zeigte sich zuerst in […] emotionalen Formen«34 oder die 68er-Bewegung sei die »erste soziale Bewegung [gewesen] in der […] emotionale Verhaltensmuster zur Disposition gestellt«35 worden wären. Dieser vage Grundtenor einer offensichtlichen Bedeutsamkeit von Gefühlen innerhalb der antiautoritären Protestbewegung ist jedoch bis heute in keiner fundierten emotionshistorischen Untersuchung einer Verifizierung unterzogen worden. Ute Frevert, die sich derzeit mit der Erforschung der Bedeutung von Gefühlen als Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung befasst, gilt mit ihrer geschlechtersensiblen Studie zum Thema des männlichen Ehrgefühls 29 | KESSEL, Gefühle und Geschichtswissenschaft, S. 37. 30 | Zum ambivalenten Verhältnis der demokratischen Öffentlichkeit zu Emotionen in der Politik siehe: SCHAAL, Gary S./HEIDENREICH, Felix: Politik der Gefühle. Zur Rolle von Emotionen in der Demokratie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 63 (2013), Heft 32-33, S. 3-11. 31  |  Vgl. FREVERT, Ute: Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen? In: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), Heft 2, S. 183-208, hier S. 199f. 32  |  BAVAJ, Riccardo: ›68er‹ versus ›45er‹. Anmerkungen zu einer ›Generationsrevolte‹. In: Heike Hartung/Dorothea Reinmuth/Christiane Streubel u.a. (Hg.): Graue Theorie. Die Kategorie Alter und Geschlecht im kulturellen Diskurs, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 53-76, hier S. 60. 33 | METZLER, Gabriele: Der lange Weg zur sozialliberalen Politik. Politische Semantik und demokratischer Aufbruch. In: Habbo Knoch (Hg.): Bürgersinn und Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren, Göttingen 2007, S. 157-180, hier S. 180. 34  |  KLEINERT, Hubert: Mythos 1968. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 58 (2008), Heft 14-15, S. 8-15, hier S. 15. 35 | FAHLENBRACH, Kathrin: Protestinszenierungen. Die Studentenbewegung im Spannungsfeld von Kultur-Revolution und Medien-Evolution. In: Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hg.): 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart/Weimar 2007, S. 11-22, hier S. 11.

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im Rahmen ihrer Habilitation im Jahr 1989 als Vorreiterin in Sachen Emotionsgeschichte.36 Obgleich in der gegenwärtigen Kulturgeschichte die historische Emotionsforschung eine Hochkonjunktur erfährt, sind vor allem zeithistorische Monografien, die Gefühle von vornherein in den Mittelpunkt der Analyse stellen, noch recht selten.37 Im angloamerikanischen Forschungsraum lassen sich als Beispiele für zeitgeschichtliche Studien mit emotionsgeschichtlichem Fokus Peter N. Stearns Studie zur Durchsetzung des emotionalen Stils der ›Coolness‹ in der amerikanischen Mittelschicht der 1920er Jahre nennen38 und Joanna Bourkes Kulturgeschichte der Angst im langen 20. Jahrhundert.39 Mit einer historischen Untersuchung des Gefühls der Langeweile hat sich die deutsche Geschichtswissenschaftlerin Martina Kessel um die Erschließung eines originellen, bisher gänzlich unbeachteten Themenfeldes verdient gemacht.40 Arbeiten, in denen einzelne Gefühle wie ›Coolness‹, ›Angst‹ oder ›Langeweile‹ zum Ausgangpunkt der Überlegungen gewählt werden, sind deutlich in der Überzahl. Die emotionale Verfasstheit einer Gesellschaft, sozialen Gruppierung oder Bewegung hingegen stand bisher eher selten im Zentrum einer emotionsgeschichtlichen Darstellung.41 Was die Erforschung des Gefühlsrepertoires der westdeutschen 68er-Bewegung angeht, so lässt sich auf einen Aufsatz der amerikanischen Historikerin Belinda Davis zurückgreifen, welche sich mit der Emotionalisierung der provokanten, ak-

36  |  Siehe FREVERT, Ute: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991; Siehe auch: Dies.: Mann und Weib und Weib und Mann. Geschlechterdifferenzen in der Moderne, München 1995. Aktuell hat Ute Frevert eine Studie zur zeitlichen Struktur, also zur Vergänglichkeit und Wandelbarkeit von Emotionen publiziert, sowie eine Monografie über die gefühlspolitischen Praktiken des aufgeklärt-absolutistischen König Friedrich II. von Preußen: Dies.: Vergängliche Gefühle (Historische Geisteswissenschaften, Frankfurter Vorträge, Bd. 4), Göttingen 2013; Dies.: Gefühlspolitik. Friedrich II. als Herr über die Herzen?, Göttingen 2012. 37  |  Vgl. VERHEYEN, Nina: Geschichte der Gefühle. In: Docupedia-Zeitgeschichte, unter: http://docupedia.de/zg/Geschichte_der_Gef.C3.BChle?oldid=84615 (abgerufen am 29. Juli 2012). 38 | Siehe: STEARNS, Peter N.: American Cool. Constructing a Twentieth-Century Emotional Style, New York 1994. 39  |  Siehe: BOURKE, Joanna: Fear. A Cultural History, London 2005. Die historische Erforschung der Angst im 19. und 20. Jahrhundert ist bisher von den Untersuchungen, die einzelne Gefühle in den Blick nehmen, am besten erforscht. Siehe auch: SPRINGER, Anne/JANTA, Bernhard/MÜNCH, Karsten (Hg.): Angst, Gießen 2011; TIEDTKE, Marion/KISSER, Thomas/ RIPPL, Daniela (Hg.): Angst. Dimension eines Gefühls, München 2011. 40  |  Siehe: KESSEL, Martina: Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2001. 41 | Vgl. HITZER, Bettina: Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen, unter: http:// hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2011-11-001 (abgerufen am 29. Juli 2012).

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tionistischen Protestformen von ›1968‹ befasst.42 Die These einer Aufwertung von Sensibilität und emotionaler Expressivität in den 1960er und 1970er Jahren der Bundesrepublik liefert der Neuzeithistoriker Frank Biess.43 Des Weiteren vollzieht der Schweizer Historiker Jakob Tanner in einem Aufsatz aus dem Jubiläumsjahr 2008 die Ausbildung einer neuartigen, nationale Grenzen überschreitenden emotionalen Attitüde und Lebensweise durch die 68er-Aktivisten nach.44 Einen innovativen Forschungsimpuls zur Untersuchung historischer Phänomene aus zugleich emotions- und männerhistorischer Perspektive liefert der von Manuel Borutta und Nina Verheyen herausgegebene Sammelband Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne.45 In dieser Aufsatzsammlung werden Emotionen als soziale Konstruktionen betrachtet, die eng mit der Wahrnehmung und Darstellung von Geschlechtszugehörigkeit verbunden sind.46 Borutta und Verheyen appellieren darin dafür, die geschlechterstereotype diskursive Verbindung von Männlichkeit mit Rationalität und Weiblichkeit mit Emotionalität aufzubrechen und zu hinterfragen. Der Vernachlässigung des Forschungsgegenstandes männlicher Emotionen gilt es gemäß Borutta und Verheyen entgegenzuwirken, indem Gefühle als soziokulturell und historisch variable und dennoch allzeit präsente Elemente von Männlichkeit untersucht werden und das Bild einer unterdrückten, defizitären oder gar pathologischen maskulinen Emotionalität eine Erweiterung und Veränderung erfährt.47 Anstöße zur Anwendung von ›Männlichkeit(en)‹ und ›Emotion(en)‹ als analytische Kategorien in einer Untersuchung der 68er-Bewegung liefert wiederum Aribert Reimann, der im Sammelband von Borutta und Verheyen einen Beitrag zur machistischen Coolness der kulturrevolu-

42  |  Siehe: DAVIS, Belinda: Provokation als Emanzipation. 1968 und die Emotionen. In: Vorgänge 42 (2003), Heft 4, S. 41-49. 43  |  Siehe: BIESS, Frank: Die Sensibilisierung des Subjekts: Angst und ›Neue Subjektivität‹ in den 1970er Jahren. In: Werkstatt Geschichte 49 (2008), S. 51-71. 44  |  Siehe: TANNER, Jakob: Motions and Emotions. In: Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hg.): 1968 in Europe. A History of Protest and Activism, 1956-1977, New York/Houndmills 2008, S. 71-80. 45  |  BORUT TA, Manuel/VERHEYEN, Nina (Hg.): Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit in der Moderne, Bielefeld 2010. 46  |  Die Historikerin Anne-Charlotte Trepp geht davon aus, dass eine Geschichte der Geschlechterbeziehungen ohne die Einbeziehung von Emotionen überhaupt nicht geschrieben werden kann. Vgl. TREPP, Anne-Charlotte: Gefühl oder kulturelle Konstruktion? Überlegungen zur Geschichte der Emotionen. In: Ingrid Kasten/Gesa Stedman/Margarete Zimmermann (Hg.): Kulturen der Gefühle in Mittelalter und Früher Neuzeit (Querelles Jahrbuch, Bd. 7), Stuttgart 2002, S. 86-103, hier S. 86. 47  |  Vgl. BORUT TA, Manuel/VERHEYEN, Nina: Vulkanier und Choleriker? Männlichkeit und Emotion in der deutschen Geschichte 1800-2000. In: Dies. (Hg.): Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit in der Moderne, Bielefeld 2010, S. 11-39, hier S. 15f.

Einleitung

tionären Akteure von ›1968‹ beisteuert.48 Ferner verfolgt Reimann die Spur der Gefühle männlicher ›68er‹ bis in die 1970er Jahre hinein und diagnostiziert in einem weiteren Aufsatz zur emotionshistorischen Männlichkeitsforschung den ehemals euphorischen und kraftvollen maskulinen Protestaktivisten eine ›linke Melancholie‹ als Folge der Frustration über die gescheiterte Revolution.49 Ausgehend von diesen ersten fruchtbringenden Überlegungen zur geschlechtersensiblen Erforschung kollektiver Gefühle innerhalb der 68er-Bewegung, gilt es diesen Ansatz auf eine systematische und tiefergehende Untersuchung der studentischen Protestkultur der späten 1960er Jahre zu übertragen. In Anbetracht der herausgestellten Forschungslücken innerhalb des geschichtswissenschaftlichen Repertoires zum thematischen Komplex ›1968‹ ist es unumgänglich, die maskulin geprägte Protestbewegung als soziale Gruppierung mit gemeinsamen Gefühlen zu untersuchen und die emotionalen Äußerungen der Bewegung als männlich codierte Gefühlsnormen zu analysieren. Folgt man Ute Frevert, so gaben die männlichen Revolteure nicht nur in der Kultur des politischen Protests den Ton an, sondern spielten auch in der neuen Gefühlskultur der sozialen Bewegung die erste Geige.50 Welche Rolle kollektiven Emotionen bei Entstehung, Hochphase und Zerfall der maskulin dominierten 68er-Revolte zukommt, steht dementsprechend im Zentrum dieser Arbeit. Mit einer fundierten und detaillierten Analyse der 68er-Bewegung als eine nach männlichen Prinzipien strukturierte Protest- und Gefühlskultur lässt sich das Verständnis des historischen Phänomens ›1968‹ ertragreich erweitern.

48 | Siehe: REIMANN, Zwischen Machismo und Coolness. 49 | Siehe: REIMANN, Aribert: Abschiedsbriefe der Bewegung: Linke Selbstreflexionen der 1970er Jahre. In: Till van Rahden/Daniel Fulda (Hg.): Demokratie im Schatten der Gewalt, Göttingen 2010, S. 262-285. 50 | Vgl. FREVERT, Ute: Gefühlvolle Männlichkeiten. Eine historische Skizze. In: Manuel Borutta/Nina Verheyen (Hg.): Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit in der Moderne, Bielefeld 2010, S. 305-330, hier S. 327.

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Herangehensweise

1. Theorie und Methode

In Ermangelung eines theoretisch-methodischen Ansatzes, der eine geschlechtersensible Analyse von Gefühlen in einem historischen Kontext ermöglicht, ist für diese Studie eine Kombination von Theorieangeboten aus der Männlichkeitsund der Emotionsforschung sinnvoll. Durch eine Synthese verschiedener theoretisch-methodischer Modelle aus beiden Disziplinen lassen sich kulturell geprägte Gefühlsordnungen und -stile im Zusammenspiel mit vergeschlechtlichten Beziehungs- und Machtkonstellationen untersuchen.

1.1  G eschichte der M ännlichkeiten Obgleich diese Untersuchung als Beitrag zu einer Geschichte der Männlichkeiten ausgewiesen ist, bleibt zu betonen, dass die Ausrichtung der Studie im Rahmen einer umfassenden Geschlechtergeschichte zu verorten ist, die Männlichkeitswie Weiblichkeitsentwürfe in ihrer Historizität integriert. Männlichkeit wird häufig erst anhand ihrer komplementären Konstruktion zur Weiblichkeit sichtbar und greif bar. Im kritischen Bewusstsein der Notwendigkeit einer sprachlichen Gleichstellung aller Geschlechter wird in dieser Studie, die sich explizit eine männlich dominierte soziale Gruppe zum Thema macht, dennoch aus Gründen der Verständlichkeit auf männliche, beziehungsweise geschlechtsneutrale Sprachformen zurückgegriffen. Die interdisziplinäre Männerforschung nahm ihre Anfänge in den angloamerikanischen ›Men’s Studies‹ der 1970er Jahre und hat sich unterdessen an den Universitäten und Forschungseinrichtungen in aller Welt von der Nischenwissenschaft zum Mainstream entwickelt.1 In den Geistes- und Sozialwissenschaften besteht mittlerweile ein Konsens darüber, dass Geschlecht,2 Weiblichkeit und Männlichkeit keine biologisch begründeten Entitäten darstellen, sondern 1  |  Vgl. FREY STEFFEN, Therese: Gender, Leipzig 2006, S. 85f. 2  |  Im deutschen Forschungsraum hat sich für ›Geschlecht‹ der englischsprachige Fachbegriff ›gender‹ durchgesetzt. Der deutsche Ausdruck ist mit dem Risiko verbunden, ›Ge-

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Herangehensweise

als soziokulturell und historisch wandelbare Konstruktionen aufgefasst werden müssen. Zudem ist es zum wissenschaftlichen Qualitätsstandard geworden, Geschlechterforschung relational zu anderen Diversitätsmerkmalen wie Alter, Nationalität/Ethnizität, Klasse/Schicht, Konfession, Generation oder sexuelle Orientierung zu betreiben.3 Angestoßen durch verschiedene U.S.-amerikanische Forschungsarbeiten vollzog sich bereits in den 1990er Jahren innerhalb der internationalen Männerstudien ein Perspektivenwechsel, der weg von der Untersuchung einer homogenen und stabilen Männlichkeit im Singular hin zur Analyse dynamischer und multipler ›Männlichkeiten‹ im Plural führte. Die Alterität und Differenz in den Erfahrungen, Einstellungen, Denk- und Verhaltensweisen von Männern wurde fortan in der Männerforschung betont, die vergleichsweise eindimensionale Sichtweise auf eine normative Kerngruppe von weißen, heterosexuellen Männer aus der Mittelschicht um zahlreiche Dimensionen erweitert.4 In Deutschland konnte sich die akademische Männerforschung erst relativ spät und gerade im Bereich der Geschichtswissenschaften nicht ohne Schwierigkeiten institutionell etablieren.5 Folgt man den Historikern Jürgen Martschukat und Olaf Stieglitz, die im Jahr 2008 erstmals eine Einführung in die Geschichte der Männlichkeiten veröffentlicht haben, so dominieren im deutschsprachigen Forschungsraum bisher die Untersuchungsfelder Homosozialität, Militär, So-

schlecht‹ lediglich als biologische Kategorie wahrzunehmen und nicht als gesellschaftliches Konstrukt. 3  |  Vgl. KÜHNE, Thomas: Männergeschichte als Geschlechtergeschichte. In: Ders. (Hg.): Männergeschichte. Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt a.M. 1996, S. 7-30, hier S. 8 und S. 13. 4  |  Vgl. MARTSCHUKAT, Jürgen/STIEGLITZ, Olaf: Geschichte der Männlichkeiten (Historische Einführungen, Bd. 8), Frankfurt a.M./New York 2008, S. 37. Siehe auch: BROD, Harry/ KAUFMAN, Michael (Hg.): Theorizing Masculinities, Thousand Oaks 1994. 5  |  Ähnlich wie die ihr vorausgegangene Frauengeschichte erfuhr die Männergeschichte scharfe Kritik durch die traditionellen Geschichtswissenschaften. Beiden geschlechtergeschichtlichen Ansätzen wurde vorgeworfen, objektiv-wertfreien Wissenschaftsstandards nicht zu entsprechen und von starkem ideologischem und politischem Eigeninteresse geprägt zu sein. Darüber hinaus begegneten auch Vertreterinnen der Frauengeschichte der Männergeschichte zunächst äußerst skeptisch und ablehnend, da sie mit dieser Forschungsrichtung eine Rückkehr zur ausschließlich männlichen Perspektive befürchteten. Sie sahen ihr Ziel, Frauen als das unterdrückte Geschlecht in historischen Situationen und Entwicklungen sichtbar zu machen, zunächst gefährdet. Mittlerweile wird die Männergeschichte auch von der feministischen Forschung breit rezipiert und ist fester Bestandteil der Geschlechtergeschichte geworden. Vgl. WUNDER, Heide: Frauen- und Geschlechtergeschichte. In: Günther Schulz/Christoph Buchheim/Gerhard Fouquet u.a. (Hg.): Sozialund Wirtschaftsgeschichte. Arbeitsgebiete – Probleme – Perspektiven, Wiesbaden 2004, S. 305-324, hier S. 311f.

1. Theorie und Methode

zialisation, Gewalt, Arbeit, Gesundheit und Vaterschaft.6 Obwohl in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme empirischer Forschungsarbeiten im Bereich der Männlichkeitsgeschichte zu verzeichnen war, bewegt sich die historische Beschäftigung mit Männlichkeitskonstrukten nach wie vor in einem so gut wie ausschließlich sozialwissenschaftlich geprägten Theorierahmen. Darüber hinaus merkte der Soziologe Sebastian Krumbein bereits im Jahr 1995 an, »dass eine einheitliche, systematisch entwickelte Theorie über Männlichkeit bislang nicht existiert«7, wobei sich an dieser defizitären Situation der Theoriebildung bis heute wenig geändert hat. In dieser Studie stütze ich mich auf das Theoriemodell hegemonialer Männlichkeit der australischen Soziologin Raewyn Connell8 in Kombination mit Pierre Bourdieus Überlegungen zur männlichen Herrschaft und zum maskulinen Habitus. Beide Ansätze gehen von der Prämisse einer patriarchal organisierten Gesellschaft im Sinne maskuliner Suprematie aus. Während Connells Konzept sich eignet, Männlichkeitsvorstellungen, -ideale und -normen sozialer Gruppen zu analysieren, bietet Bourdieus Habitusmodell einen Anknüpfungspunkt zwischen Emotionen von Individuen und gesellschaftlichen Gruppierungen und der Reproduktion männlicher Hegemonie.9 Hinzugezogen werden soll außerdem der Beitrag Wolfgangs Schmales zu maskuliner Herrschaft aus historischer Sicht. Der Geschichtswissenschaftler liefert ein Modell idealtypischer und hegemonialer Männlichkeitskonstruktionen zwischen 1450 und 2000 und behandelt darin auch die zu Beginn der 1960er Jahre einsetzende Aufweichung der patriarchal strukturierten westlichen Gesellschaftsordnung. Außerdem erklärt Schmale die binäre Verknüpfung von Weiblichkeit mit Emotionalität und Männlichkeit mit Rationalität im Rahmen seiner Historisierung männlicher Hegemonie.

6 | Vgl. MARTSCHUKAT/STIEGLITZ, Geschichte der Männlichkeiten, S. 37f. 7 | KRUMBEIN, Sebastian: Selbstbild und Männlichkeit. Rekonstruktion männlicher Selbstund Idealbilder und deren Veränderung im Laufe der individuellen Entwicklung, München/ Wien 1995, S. 4. 8  |  Die transsexuelle Soziologin hat in der Vergangenheit unter den Namen Robert William Connell oder Bob Connell publiziert, lebt jedoch seit einiger Zeit als Frau, weshalb ihre späteren Werke das Kürzel R. W. Connell oder den weiblichen Namen Raewyn Connell tragen. Von daher verwende ich im Folgenden den Namen Raewyn Connell und gehe von einer weiblichen Geschlechtsidentität der Autorin aus, die sie für sich gewählt hat. 9  |  Bourdieus Interesse an Emotionen zieht sich durch sein gesamtes wissenschaftliches Schaffen. Bisher blieb sein Ansatz zur soziokulturellen Konstruktion von Gefühlen in der Emotionsforschung jedoch weitgehend unbeachtet. Zur Bedeutung von Emotionen in Bourdieus Habitus-Konzept siehe: REED-DANAHAY, Deborah: Locating Bourdieu, Bloomington 2005, Kapitel 4: Habitus und Emotion, S. 99-128.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Herangehensweise

1.1.1 Raew yn Connell: Hegemoniale Männlichkeit Der Theorieansatz hegemonialer Männlichkeit von Raewyn Connell ist als das maßgebliche Leitkonzept der interdisziplinären Männerforschung zu begreifen. Seitdem der theoretische Entwurf im Jahr 1987 erstmals präsentiert wurde,10 erfuhr er breite Rezeption auf internationaler Ebene.11 Mit Connells Konzept lassen sich nicht nur die asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen, sondern auch zwischen verschiedenen Ausformungen von Männlichkeit analysieren. Die Soziologin betont, dass Männlichkeit als soziokulturelles Konstrukt auf kollektiven Deutungsmustern basiert und sich in symbolischen Praktiken organisiert. Ihrem Verständnis nach wird Männlichkeit situationsspezifisch und kontextbezogen in alltäglichen Interaktionen im Sinne des ›doing gender‹ ausgehandelt: »Außerhalb eines Systems von Geschlechterbeziehungen gibt es so etwas wie Männlichkeit überhaupt nicht. Statt zu versuchen Männlichkeit als Objekt zu definieren (ein natürlicher Charakterzug, Verhaltensdurchschnitt, eine Norm), sollten wir unsere Aufmerksamkeit auf die Prozesse und Beziehungen richten, die Männer und Frauen ein vergeschlechtlichtes Leben führen lassen. ›Männlichkeit‹ ist […] eine Position im Geschlechterverhältnis; die Praktiken, durch die Männer und Frauen diese Position einnehmen, und die Auswirkungen dieser Praktiken auf die körperliche Erfahrung, auf Persönlichkeit und Kultur.«12

Das für ihre Ausführungen zentrale Konzept der Hegemonie übernimmt Connell von dem marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci, der sich mit der Struktur gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse befasste. Wenn Connell jedoch nach der »gesellschaftlichen Dynamik« fragt, »mit welcher eine Gruppe eine Führungsposition im gesellschaftlichen Leben einnimmt und aufrechterhält«13, 10  |  Siehe: CONNELL, Raewyn: Gender and Power: Society, the Person and Sexual Politics, Stanford 1987. 11  |  Fast alle Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die in der Männerforschung tätig sind, beziehen sich auf Connells Werk, obwohl es keine ganzheitliche, ausformulierte Theorie darstellt. Es handelt sich dabei um ein locker gestricktes Konzept, das theoretisch flexibel und inhaltlich relativ unbestimmt ist. Gerade damit lässt sich jedoch die weite Verbreitung und der große Erfolg des Ansatzes in verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen erklären. Vgl. MEUSER, Michael: Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, Opladen 1998, S. 104; Vgl. DINGES, Martin: ›Hegemoniale Männlichkeit‹ – Ein Konzept auf dem Prüfstand. In: Ders. (Hg.): Männer – Macht – Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute, Frankfurt a.M. 2005, S. 7-35, hier S. 12. 12 | CONNELL, Raewyn: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, 3. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 91. 13 | CONNELL, Der gemachte Mann, S. 98.

1. Theorie und Methode

beruft sie sich nicht auf die Klassenverhältnisse wie Gramsci, sondern auf die Geschlechterbeziehungen. Anknüpfend an Gramscis Hegemoniebegriff wird die Herrschaft des männlichen Geschlechts in Connells Ansatz in hohem Maße durch sozialen Konsens legitimiert.14 Die ungleich verteilten Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern können nur bestehen, wenn ein Großteil der Gesellschaft in deren Reproduktion einwilligt und investiert.15 Als wichtigste Achse der westlichen Geschlechterordnung benennt Connell die »allgegenwärtige Unterordnung von Frauen und die Dominanz von Männern« im Sinne patriarchal geprägter gesellschaftlicher Verhältnisse.16 Die kulturelle Vormachtstellung in einem sozialen Gefüge schreibt die Soziologin einer kleinen, elitären Gruppe von Männern zu, die das Leitbild der hegemonialen Männlichkeit repräsentiert. In seiner perfekten Verkörperung ist hegemoniale Männlichkeit als soziale Norm und Orientierungsmuster zu betrachten, das zu erreichen in der Realität so gut wie unmöglich ist. In Connells Theorie existieren neben dem kulturellen Männlichkeitsideal, das an der Spitze der Geschlechterhierarchie steht, verschiedene andere Männlichkeitstypen. Alle Ausprägungen von Männlichkeit gewinnen innerhalb der Geschlechterordnung im Zuge einer »doppelten Distinktions- und Dominanzlogik«17 an Kontur, einerseits durch ein geschlechtsbezogenes Überlegenheitsgefühl Frauen gegenüber, andererseits durch die hierarchisch strukturierten Beziehungen der Männer untereinander.18 Wie der Kriminalsoziologe Michael Meuser anmerkt, ist das Konzept der hegemonialen Männlichkeit somit »als generatives Prinzip der Konstruktion von Männlichkeit zu begreifen.«19 Hegemoniale Männlichkeit als bewegliche Relation, die soziokulturell und historisch variiert, beinhaltet, dass die Vorherrschaft einer tonangebenden Elite und deren Männlichkeitsvorstellungen in Frage gestellt und herausgefordert werden kann. Connell betont, dass in der hegemonialen Männlichkeit lediglich »eine 14 | Betrachtet man eine allgemeine politikwissenschaftliche Definition von ›Hegemonie‹, so wird diese beschrieben als »die Fähigkeit einer herrschenden Schicht […], ihre Dominanz über die Gesellschaft aufrechtzuerhalten, ohne auf direkte Formen der Repression oder Gewalt angewiesen zu sein.« Siehe: SCHULTZE, Rainer-Olaf: Hegemonie. In: Dieter Nohlen/Ders. (Hg.): Lexikon der Politikwissenschaft, Bd. 1: Theorien, Methoden, Begriffe, 3. Aufl., München 2005, S. 336-337, hier S. 336. 15 | Vgl. CONNELL, Der gemachte Mann, S. 98. 16 | Vgl. CONNELL, Der gemachte Mann, S. 94. 17  |  MEUSER, Michael: Gewalt, Körperlichkeit, Geschlechtlichkeit. Überlegungen zur gewaltförmigen Konstruktion von Männlichkeit. In: Kriminologisches Journal 35 (2003), Heft 3, S. 175-188, hier S. 177. 18 | Vgl. CONNELL, Der gemachte Mann, S. 99. 19 | MEUSER, Michael: Hegemoniale Männlichkeit – Überlegungen zur Leitkategorie der Men’s Studies. In: Brigitte Aulenbacher/Mechthild Bereshill/Martina Löw u.a. (Hg.): FrauenMännerGeschlechterforschung, Münster 2006, S. 160-174, hier S. 161.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Herangehensweise

›derzeit akzeptierte‹ Strategie verkörpert ist.«20 Welche Form von Männlichkeit als hegemonial gilt und wer welchen Platz in der Hierarchie des sozialen Systems von Männlichkeiten einnimmt, ist als ein ständiger Aushandlungsprozess zu verstehen. Obgleich der Wettstreit um soziokulturelle Hegemonie meist unter Männern stattfindet, betont die Soziologin: »Neue Gruppen können […] alte Lösungen in Frage stellen und eine neue Hegemonie konstruieren. Die Vorherrschaft jeder Gruppe von Männern kann von den Frauen herausgefordert werden.«21 Obwohl das Leitbild hegemonialer Männlichkeit von den meisten Männern nicht umgesetzt und praktiziert werden kann, orientiert sich trotzdem die überwiegende Mehrheit des männlichen Geschlechts an diesem Ideal und strebt es an. Warum Männer, die den Ansprüchen der hegemonialen Männlichkeit nicht genügen, diese dennoch unterstützen, erklärt sich Connell durch deren Teilhabe an der ›patriarchalen Dividende‹: »Männer profitieren vom Patriarchat durch einen Zugewinn an Achtung, Prestige und Befehlsgewalt«22, legt die Soziologin dar und bezeichnet Männer, welche die Norm hegemonialer Männlichkeit teilen, weil sie dadurch von der allgemeinen Unterdrückung des weiblichen Geschlechts profitieren, als ›komplizitäre Männlichkeiten‹.23 Am untersten Ende der maskulinen Geschlechterhierarchie sieht Connell homosexuelle Männer, die sie als ›untergeordnete Männlichkeiten‹ in ihrem Theoriekonzept aufführt, weil sie kulturell stigmatisiert, diskriminiert und ausgeschlossen werden. Auch heterosexuelle Männer können aus dem Kreis der Legitimierten ausgestoßen werden, sobald diese auch nur vermeintlich ›schwule‹, als effeminiert begriffene Verhaltensweisen an den Tag legen, so Connell.24 Als ›marginalisierte Männlichkeiten‹ bezeichnet die Soziologin Männer aus subordinierten Klassen, Milieus oder Ethnien. Als Beispiel für an den gesellschaftlichen Rand gedrängte Männlichkeiten nennt sie die von institutionalisiertem Rassismus beeinflusste Konstruktion schwarzer Männlichkeit in den USA.25 Für die folgende Argumentation ist es außerdem von Bedeutung, dass innerhalb verschiedener (sub-)kultureller, gesellschaftlicher und historischer Zusammenhänge zeitgleich zahlreiche Ausformungen, Varianten und Vorstellungen von hegemonialer Männlichkeit existieren können, wie Connell in einem ihr Konzept ergänzenden und modifizierenden Aufsatz aus dem Jahr 2005 einräumt.26 So kann also in einer Subkultur wie dem studentischen Protestmilieu von ›1968‹ eine eigene, generationsspezifische, vom gesamtgesellschaftlichen Männlich20 | CONNELL, Der gemachte Mann, S. 98. 21 | CONNELL, Der gemachte Mann, S. 98. 22 | CONNELL, Der gemachte Mann, S. 103. 23 | Vgl. CONNELL, Der gemachte Mann, S. 100f. 24 | Vgl. CONNELL, Der gemachte Mann, S. 99f. 25 | Vgl. CONNELL, Der gemachte Mann, S. 101f. 26 | Vgl. CONNELL, Raewyn/MESSERSCHMIDT James W.: Hegemonic Masculinity. Rethinking the Concept. In: Gender and Society 19 (2005), Heft 6, S. 829-859, hier S. 845.

1. Theorie und Methode

keitsideal abweichende Variable hegemonialer Männlichkeit entstehen. Die Gender-Soziologin Sylka Scholz etwa plädiert dafür, dass in einer Gesellschaft stets nicht nur eine, sondern verschiedene hegemoniale Männlichkeiten vorhanden sind.27

1.1.2 Pierre Bourdieu: Maskuliner Habitus In seinen theoretischen Überlegungen zur männlichen Herrschaft greift der namhafte französische Soziologe Pierre Bourdieu 28 – ähnlich wie Connell mit ihrem Hegemoniekonzept – auf den Ansatz symbolischer Gewalt zurück, um die Existenz von patriarchalen Gesellschaftsstrukturen und Androzentrismus29 zu erklären: »Die Macht der männlichen Ordnung zeigt sich an dem Umstand, daß sie der Rechtfertigung nicht bedarf: Die androzentrische Sicht zwingt sich als neutral auf und muß sich nicht in legitimatorischen Diskursen artikulieren. Die soziale Ordnung funktioniert wie eine gigantische Maschine zur Ratifizierung der männlichen Herrschaft […]« 30 27 | Siehe: SCHOLZ, Sylka: ›Sozialistische Soldatenpersönlichkeiten‹ und ›Helden der Arbeit‹. Hegemoniale Männlichkeiten in der DDR?, unter: www.ruendal.de/aim/pdfs/Scholz. pdf (abgerufen am 10. Dezember 2012). 28  |  Pierre Bourdieu ist als einer der einflussreichsten Soziologen des 20. Jahrhunderts zu betrachten. In sozialkritischer Manier verfasste er über dreißig kultursoziologische Werke, vor allem zur Herrschaftspraxis, gesellschaftlichen Elitebildung und zum französischen Bildungssystem. Hinter Bourdieus einzelnen Theorien des Sozialen verbirgt sich der Anspruch des Soziologen, eine umfassende soziologische Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeit im Sinne einer universalen ›Großen Theorie‹ zu leisten. Im Folgenden sollen nur die für die Männlichkeitsforschung relevanten Theoriekomponenten Bourdieus herausgegriffen werden. Vgl. SCHWINGEL, Markus: Bourdieu zur Einführung, Hamburg 1995, S. 14f. Bourdieus herrschaftstheoretische Perspektive auf Männlichkeit entstand nicht im Kontext der Men’s Studies wie Connells Modell hegemonialer Männlichkeit. Obwohl Bourdieus Ausführungen zur männlichen Herrschaft und Connells hegemoniales Männlichkeitskonzept zahlreiche Ähnlichkeiten und Anknüpfungspunkte besitzen, sind die zwei Ansätze in wechselseitiger Nicht-Beachtung entstanden. Um eine Ergänzung der beiden Theoriemodelle hat sich vor allem der Soziologe Michael Meuser verdient gemacht. Vgl. MEUSER, Hegemoniale Männlichkeit, S. 161. 29  |  Eine androzentristische Weltsicht beinhaltet eine unbewusste gesellschaftliche Fixierung auf das männliche Geschlecht und eine stillschweigende Erhebung des Männlichen zum allgemeingültigen, normativen Maßstab. Geschlechtsspezifische, maskuline Lebensmodelle und Denksysteme erhalten dabei den Status allgemein-menschlicher Universalität. Vgl. CZOLLEK, Leah Carola/PERKO, Gudrun/WEINBACH, Heike: Lehrbuch Gender und Queer. Grundlagen, Methoden und Praxisfelder, Weinheim/München 2009, S. 26. 30 | BOURDIEU, Pierre: Die männliche Herrschaft, Frankfurt a.M. 2005, S. 21.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Herangehensweise

Charakteristisch für symbolische Gewalt im Falle der Geschlechterordnung ist für Bourdieu das unreflektierte Einverständnis und die unbewusste Reproduktion der ungleichen Machtverhältnisse nicht nur durch die Beherrschenden – die Männer –, sondern auch durch die Beherrschten – die Frauen. Die Aufrechterhaltung der männlichen Herrschaft geschieht gemäß Bourdieu über kommunikative und emotionale Wege: »Es ist jene sanfte, für ihre Opfer unmerkliche unsichtbare Gewalt, die […] über die rein symbolischen Wege der Kommunikation und des Erkennens, oder genauer des Verkennens, des Anerkennens oder […] des Gefühls ausgeübt wird.«31 Als natürlich, normal und unvermeidbar erscheint laut Bourdieu allen Gesellschaftsmitgliedern die Unterteilung der Welt in die Kategorien ›männlich‹ und ›weiblich‹, weil sie »objektiviert in der sozialen Welt und inkorporiert im Habitus präsent ist.«32 Die unbewusste Verinnerlichung der männlichen Herrschaft auf Seiten der Geschlechterordnung erklärt Bourdieu mit dem zunächst für die Klassenverhältnisse entwickelten, kultursoziologisch eminent bedeutenden Konzept des Habitus.33 Der Begriff Habitus ist verwandt mit dem französischen Wort ›habitude‹, was soviel wie Gewohnheit heißt. Einfach ausgedrückt ist das Habituelle also das Gewohnheitsmäßige, das was man tut, ohne nachzudenken, eine eingeschliffene Verhaltensweise.34 Als sozialer Habitus ist nach Bourdieu das gesamtheitliche Auftreten und Verhalten eines Menschen zu betrachten, was Lebensstil, Geschmack, Vorlieben, Abneigungen, Sprache, Kleidung, Manieren, Gangart, Mimik, Gestik sowie auch emotionalen Ausdruck beinhaltet.35 Der Habitus ist sowohl in kognitive Strukturen wie soziale Wertvorstellungen, Haltungen und Denkmuster, als auch in körperliche Routinen wie die Körperbewegung und -haltung eingeschrieben.36 Obwohl der Habitus an einen individuellen Körper und dessen Erfahrungsgeschichte gebunden ist, ist er zugleich auch Ausdruck einer überindividuellen Soziallage, das heißt, Personen einer sozialen Gruppierung neigen dazu, ihre Umwelt in ähnlicher Weise wahrzunehmen und in ihr 31 | BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, S. 8. 32  |  BOURDIEU, Pierre: Die männliche Herrschaft. In: Irene Dölling/Beate Krais (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis, Frankfurt a.M. 1997, S. 153-217, hier S. 159. 33 | In seinem 1979 erstmals in Paris erschienen Hauptwerk ›La distinction. Critique sociale du jugement‹ befasst Bourdieu sich mit Mechanismen kultureller Abgrenzung zwischen sozialen Schichten und stellt unter anderem den Grundbegriff des ›Habitus‹, den er auch schon in früheren Werken benutzt hat, genauer vor. Vgl. BOURDIEU, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 1993, S. 277-331. 34  |  Vgl. BRANDES, Holger: Der männliche Habitus, Bd. 2: Männerforschung und Männerpolitik, Opladen 2002, S. 62. 35 | Vgl. REED-DANAHAY, Locating Bourdieu, S. 107. 36 | Vgl. BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, in: Dölling/Krais, S. 162.

1. Theorie und Methode

zu agieren. Das habituelle Dispositionssystem dient dementsprechend auch zur Orientierung in der sozialen Welt und zur Hervorbringung sozial angemessener Praktiken. Durch eine tiefe präreflexive emotionale Identifikation mit einer gesellschaftlichen Gruppe werden laut Bourdieu körperliche Muster auf dem Wege der Mimesis übernommen und mit diesen zugleich auch spezifische Muster des Denkens, Wahrnehmens und Beurteilens. Der Habitus wirkt unbewusst, weil er hauptsächlich somatisch ist.37 Durch mimetische Akte der Körperbewegung ist es möglich, »eine Welt vorgefertigter Gefühle und Erfahrungen auftauchen«38 zu lassen. Emotionen können laut Bourdieu also durch sich wiederholende Körperpraktiken im Sinne eines ›doing emotion‹ hervorgebracht werden.39 Männer wie Frauen verfügen laut Bourdieu zudem über einen vergeschlechtlichten Habitus, in dem geschlechtsspezifische Verhaltensweisen sowie die asymmetrischen Geschlechterverhältnisse inkorporiert sind: »Der Vorrang des Männlichen […] drängt sich – vermittels des Systems konstitutiver Schemata des Habitus – nahezu unausweichlich auf als Matrix aller Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen sämtlicher Mitglieder der Gesellschaft.«40 Bourdieu bindet also den maskulinen Habitus unmissverständlich an die Position gesellschaftlicher Macht. Für den Soziologen existiert jedoch keineswegs nur ein männlicher, beziehungsweise weiblicher Habitus, seiner Ansicht nach bestehen wiederum ›feine Unterschiede‹ in den geschlechtsspezifischen Habitusformen. Je nach sozialer Lage, also abhängig von Strukturmerkmalen wie Herkunft, Vermögen, Beruf, Bildung und Alter bestehen verschiedene schicht- und milieuspezifische Variationen des maskulinen Habitus, sowie Connell von der Existenz zahlreicher Männlichkeiten ausgeht.41 In ähnlicher Weise wie Connell befasst sich Bourdieu in seinen Ausführungen zur männlichen Herrschaft mit Geschlechterverhältnissen auf hetero- und homosozialer Ebene. Er betont dabei jedoch zwei eng miteinander verwobene Aspekte noch deutlicher als Connell: Die kompetitive Struktur von Männlichkeit und den homosozialen Charakter der Bereiche, in denen der allgegenwärtige Wettbewerb als zentraler Bestandteil zur Konstruktion von Maskulinität stattfindet.42 »Konstruiert und vollendet wird der männliche Habitus nur in Verbindung mit dem den Männern vorbehaltenen Raum, in dem sich unter Männern, 37  |  Vgl. FRÖHLICH, Gerhard/REHBEIN, Boike: Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2009, S. 113. 38 | BOURDIEU, Die feinen Unterschiede, S. 740. 39  |  Vgl. SCHEER, Monique: Welchen Nutzen hat die Feldforschung für eine Geschichte religiöser Gefühle? In: VOKUS – Volkskundlich-Kulturwissenschaftliche Schriften 21 (2011), Heft 1-2, S. 65-77, hier S. 68. 40 | BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, in: Dölling/Krais, S. 175. 41 | Vgl. BRANDES, Der männliche Habitus, S. 78f. 42  |  Vgl. BERESWILL, Mechthild/MEUSER, Michael/SCHOLZ, Sylka: Männlichkeit als Gegenstand der Geschlechterforschung. In: Dies. (Hg.): Dimensionen der Kategorie Geschlecht:

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die ernsten Spiele des Wettbewerbs abspielen«43, so Bourdieu über den omnipräsenten maskulinen Konkurrenzkampf. Diese sogenannten ›ernsten Spiele unter Männern‹ finden in allen Gesellschaftsbereichen statt, welche die bürgerliche Geschlechterordnung dem männlichen Geschlecht zuschreibt, wie Politik, Militär, Wirtschaft, Wissenschaft, Ökonomie oder religiöse Institutionen. Frauen werden zwar von diesen Spielen, in denen um Privilegien gestritten wird, ausgeschlossen und können nur als Zuschauerinnen agieren, dennoch kommt ihnen im »Vermännlichungsprozess« die bedeutende Rolle der Anerkennung und Unterwerfung zu.44 Laut Bourdieu nimmt das weibliche Geschlecht an den Spielen nur indirekt über seine Männer teil, »durch eine emotionale, solidarische Verbundenheit mit dem Spieler.«45 Die wettbewerbsorientierten Machtspiele der Männer untereinander dienen nicht nur zur Ausbildung homosozialer Hierarchien, sondern sind auch als Mittel zur männlichen Vergemeinschaftung zu verstehen. Wettbewerbsstrukturen innerhalb homosozialer Räume tragen den Sinn der Vergewisserung und Demonstration von Männlichkeit. Männer eigenen sich die Spielregeln, beziehungsweise Modalitäten des Wettbewerbs schon in frühem Kindesalter an, bedingt durch ihre maskuline Sozialisation. Der mann-männliche Konkurrenzkampf wird mit der Zeit internalisiert und ritualisiert, auf diese Weise lernen Männer die homosozialen Machtspiele lieben.46 Die treibende Kraft hinter den ernsten Spielen unter Männern erklärt Bourdieu mit dem geschlechtsspezifischen Gefühl der männlichen Ehre: »[D]as Ehrgefühl […] ist das unumstrittene Prinzip aller Pflichten gegen sich selbst, der Motor […] all dessen […] was zu tun man sich schuldig ist […] um, in den eigenen Augen, einer bestimmten Idee vom Mann würdig zu bleiben.«47 Obwohl das herrschende Gesellschaftsprinzip nach ihrem Geschlecht strukturiert ist, führt Bourdieu an, dass Männer zugleich auch Gefangene und Opfer der männlichen Herrschaft sind: »Das männliche Privileg ist auch eine Falle und findet seine Kehrseite in der permanenten, bisweilen ins Absurde getriebenen Spannung und Anspannung, in der die Pflicht, seine Männlichkeit unter allen Umständen zu bestätigen, jeden Mann hält.«48 Folglich ist das männliche Geschlecht einem »Sein-Sollen«49 ausgeliefert, einem ständigen Zwang und gesellschaftlichen Druck, seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen und somit das System männlicher Herrschaft aufrechtzuerhalten. Der Fall Männlichkeit (Forum Frauen- und Geschlechterforschung, Bd. 22), Münster 2007, S. 7-21, hier S. 11. 43 | BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, in: Dölling/Krais, S. 203. 44 | Vgl. BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, in: Dölling/Krais, S. 203. 45 | BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, in: Dölling/Krais, S. 197. 46 | Vgl. BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, in: Dölling/Krais, S. 201. 47 | BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, S. 88. 48 | BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, S. 92. 49 | BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, in: Dölling/Krais, S. 188.

1. Theorie und Methode

Mithilfe des theoretischen Instrumentariums des männlichen Habitus lässt sich untersuchen, wie in dem von Männern dominierten Protestmilieu von ›1968‹ ein maskulin codierter gruppenspezifischer Protesthabitus ausgebildet und reproduziert werden konnte. Für das Erkenntnisinteresse dieser Studie ist zudem von Bedeutung, dass gemäß Bourdieu im sozialen Habitus auch emotionale Momente inkorporiert sind.50 So spielt in seiner Abhandlung zur männlichen Herrschaft das Gefühl der Ehre etwa das zentrale Antriebsmoment zur Ausbildung des maskulinen Habitus. Emotionen der Liebe, Solidarität und Bewunderung von weiblicher Seite tragen gemäß Bourdieu ebenfalls zur Entwicklung habitueller Schemata des Denkens, Fühlens und Handelns auf Seiten des männlichen Geschlechts bei. Darüber hinaus ist für diese Untersuchung die Überlegung von besonderer Bedeutung, dass Emotionen Teil des vergeschlechtlichten Habitus sind. Personen, die sich in derselben gesellschaftlichen, beziehungsweise geschlechtlichen Lage befinden, neigen demnach nicht nur zu ähnlichen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, sondern auch zu ähnlichen emotionalen Empfindungen und Reaktionen auf ihre Umwelt.51 Mit dem geschlechtlichen Habitusmodell liefert Bourdieu also eine Verbindung zwischen den soziokulturellen Konstruktionsmechanismen von Geschlecht und Emotion.

1.1.3 Wolfgang Schmale: Zur Geschichte männlicher Hegemonie Eine ergänzende Historisierung der soeben vorgestellten sozialwissenschaftlichen Konzepte männlicher Herrschaft ist in Wolfgang Schmales Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450-2000) zu finden. Der Geschichtswissenschaftler stellt darin die These auf, dass erst im Europa des 19. Jahrhunderts von der Praxis eines hegemonialen Männlichkeitskonzepts gesprochen werden kann, was für ihn eng mit der Aufklärung und dem Aufstieg des bürgerlichen Gesellschaftsund Geschlechterrollenmodells verbunden ist.52 Für seine Untersuchung von normativen Männlichkeitskonstruktionen in den Jahrhunderten davor spricht 50 | Vgl. SCHWINGEL, Bourdieu zur Einführung, S. 59. 51 | Bourdieu geht davon aus, dass die im Habitus somatisierten Herrschafts- und Geschlechterbeziehungen »häufig die Form von Leidenschaften oder Gefühlen (Liebe, Bewunderung, Respekt) oder körperlichen Emotionen (Scham, Erniedrigung, Schüchternheit, Beklemmung, Ängstlichkeit, aber auch Zorn oder ohnmächtige Wut)« annehmen. Auf der Ebene der emotionalen Körperreaktionen zeigen sich inkorporierte Herrschaftsverhältnisse seiner Meinung nach beispielsweise durch Erröten, sprachliche Unsicherheit, Unbeholfenheit oder Zittern. Vgl. BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, S. 72f. 52 | Vgl. SCHMALE, Wolfgang: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450-2000), Wien/Köln/Weimar 2003, S. 152f. Connell verortet die Existenz eines hegemonialen Typus von Männlichkeit historisch bereits etwas früher als Schmale: »Seit dem 18. Jahrhundert kann man in Europa und Nordamerika […] von einer Geschlechterordnung sprechen, in der Männlichkeit im heutigen Sinn – mit geschlechtstypischen Persönlichkeitszügen, definiert

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Herangehensweise

Schmale deshalb von idealtypisierten Figurationen: »Von einem ›hegemonialen‹ Männlichkeitskonzept kann erst relativ spät in der Geschichte die Rede sein, aber zuvor wurden fleißig Modelle entworfen, Idealtypisierungen vorgenommen oder neue Möglichkeiten ›ausprobiert‹, die ›Schule‹ machten und breit rezipiert wurden […].«53 Als Grundvoraussetzungen für die Entwicklung eines hegemonialen Männlichkeitsmodells im Laufe des 18. Jahrhunderts sieht Schmale die breite Streuung aufklärerischer Inhalte durch den Ausbau grenzüberschreitender Kommunikationswege, die Entstehung des Schul- und Bildungswesens, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, sowie die Vorstellung vom Staat als Nationalstaat.54 Mit der Ausbreitung des bürgerlichen Gesellschaftsmodells im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts vollzogen sich vier verschiedene Entwicklungen, die zur »Profilierung von Männlichkeit«55 beitrugen, so Schmale. Zu dieser Zeit hat sich erstens eine neue Anthropologie des Mannes und der Frau etabliert. Es fand eine deutliche Schärfung der Unterscheidung von Männlichkeit und Weiblichkeit statt, was körperliche und charakterliche Attribute betraf. Eigenschaften erhielten eine komplementäre geschlechtliche Codierung. Aktivität, Stärke, Mut, Unternehmungsgeist, Nervenstärke, Entschlusskraft, Selbstständigkeit, Vernunft, Urteilskraft und physische Härte wurden als stereotyp männliche Zuschreibungen begriffen.56 In Anlehnung an die vermeintlich naturgegebenen Charakteristika von Mann und Frau fand zweitens eine Trennung der geschlechtlichen Aufgaben- und Arbeitssphären statt. Der öffentliche, berufliche und politische Raum wurde als männliche Sphäre definiert, das private, familiäre und häusliche Aufgabenfeld galt als weiblicher Wirkungsbereich. Der Mann erhielt die Rolle als Erzeuger, Beschützer, Ernährer und als Familienoberhaupt.57 Die Konstruktion von bipolaren Geschlechtscharakteren, sowie die geschlechtliche Sphärentrennung, die dem Bedürfnis nach normativer Fixierung der Geschlechterverhältnisse entsprachen, beinhalteten auch die Vorstellung von unterschiedlichen emotionalen Dispositionen der Geschlechter. Während der Mann in den dynamischen, öffentlichen Bereichen wie Politik, Wirtschaft oder Krieg kühl, rational und besonnen handeln musste, galt es als Aufgabe der Frau, in der stillen und beständigen Privatsphäre Kindererziehung und Eheleben in gefühlsbetonter, liebevoller und aufopferungsbereiter Weise zu gestalten. Emotionalität, Mitgefühl, Wankelmut oder auch Religiosität wurde dem vermeintlich irrationalen weiblichen Geschlecht zugeschrieben. Das als Gegensatz von Weiblichkeit und in Wirtschaft und Staat institutionalisiert – hergestellt und aufrechterhalten wird.« CONNELL, Der gemachte Mann, S. 209f. 53 | SCHMALE, Geschichte der Männlichkeit, S. 12. 54 | Vgl. SCHMALE, Geschichte der Männlichkeit, S. 152f. 55 | SCHMALE, Geschichte der Männlichkeit, S. 173. 56 | Vgl. SCHMALE, Geschichte der Männlichkeit, S. 174f. 57 | Vgl. SCHMALE, Geschichte der Männlichkeit, S. 193f.

1. Theorie und Methode

Zeigen von Gefühlen galt für Männer dementsprechend als unmännlich und effeminiert.58 Die Dichotomie Ratio versus Emotion wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert also geschlechtlich codiert und hierarchisiert.59 Die Hegemonialisierung des in der Aufklärung entstandenen Männlichkeitsmodells ging drittens mit der Militarisierung des Mannes einher. Die Einführung der Wehrpflicht in Europa seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts revolutionierte das traditionelle Männerbild nachhaltig und formte die Idee der Armee als Schule der männlichen Nation. Die Wehrpflicht »universalisierte die Funktion des Mannes als Krieger und wertete den Soldatendienst als ehrenvolle […] Verbindlichkeit jedes einzelnen Mannes auf. […] Das Militär war aber nicht nur ein Medium männlicher Vergemeinschaftung, sondern nahm darüber hinaus für sich in Anspruch, den rekrutierten Jüngling erst zum Manne zu bilden.«60 Das Militär als Männerraum schloss Frauen aus und zwang Männer zur Übernahme der Soldatenrolle.61 Im 18. Jahrhundert setzte viertens die Normierung des Mannes als heterosexuell ein, indem Homosexualität als zu bestrafende Sünde gegen die Natur des Mannes umdefiniert wurde. In der bürgerlichen Gesellschaftsordnung wurde Sexualität prinzipiell als eheliche Sexualität zwischen Mann und Frau festgelegt.62 Die enorme Wirkungsmacht der bürgerlichen dichotom strukturierten Geschlechterordnung zeigt sich zuweilen bis heute in der Beharrungskraft von stereotypen Geschlechtscharakteren und der geschlechtlichen Arbeits- und Aufgabenverteilung in Familien, sowie der Beständigkeit von wehrhaften Männlichkeitsidealen und des Heteronormativitätskonzepts. Selbst zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind in den Augen von Schmale vom hegemonialen Männlichkeitsmodell »noch wesentlich mehr als nur Spuren geblieben.«63 Einen ersten Bruch mit den beschriebenen Konstanten hegemonialer Männlichkeit diagnostiziert Schmale für den Zeitraum, der im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht. Für die Jahre rund um ›1968‹ diskutiert der Historiker An58  |  Vgl. HAUSEN, Karin: Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Dies. (Hg.): Geschlechtergeschichte als Gesellschaftsgeschichte (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 202), Göttingen 2012, S. 19-49, hier S. 23ff. 59  |  Vgl. HAMMER-TUGENDHAT, Daniela/LUT TER, Christina: Emotionen im Kontext. Eine Einleitung. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 10 (2010), Heft 2, S. 7-14, hier S. 8. 60  |  FREVERT, Ute: Soldaten, Staatsbürger. Überlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit. In: Thomas Kühne (Hg.): Männergeschichte. Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt a.M. 1996, S. 69-87, hier S. 81. Siehe auch: Dies.: Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001. 61 | Vgl. SCHMALE, Geschichte der Männlichkeit, S. 194ff. 62 | Vgl. SCHMALE, Geschichte der Männlichkeit, S. 207ff. 63 | SCHMALE, Geschichte der Männlichkeit, S. 239.

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zeichen einer sich in Krise, Auflösung oder zumindest Transformation befindlichen hegemonialen Männlichkeit.64 In konfliktreichen Auseinandersetzungen mit dem bürgerlichen Konzept männlicher Hegemonie haben sich laut Schmale seit den 1960er Jahren »andere Entwürfe von Männlichkeit« entwickelt, »die keinen hegemonialen Charakter haben, bzw. haben können.«65 Die Vorausbedingungen eines allgemeingültigen, hegemonialen Modells männlicher Herrschaft auf europäischer Ebene befanden sich zu dieser Zeit in einem Auflösungsprozess. Es entstanden neue, alternative Männlichkeitsentwürfe, die mit einem allmählichen Auf brechen der Geschlechtergrenzen eingingen. Die männliche Herrschaft löste sich zwar nicht auf, geriet aber unter wachsenden Legitimitätsdruck und büßte den Status des Selbstverständlichen ein.66 Die 68er-Bewegung legte gemäß Schmale zwar die Grundlagen für einen Demokratisierungsschub, der die asymmetrischen Geschlechterverhältnisse zwischen Männern und Frauen erschütterte, dennoch betrachtet der Historiker die Protestbewegung von ›1968‹ primär als »Männerrevolte […], eine umfassende Revolte gegen das bis dahin umfassende hegemoniale Männlichkeitsmodell.«67 In der Nachkriegszeit verlor das Militär als identitätsbildender Männerraum seinen Status als Kernelement hegemonialer Männlichkeit, weshalb der Historiker Thomas Kühne von einer Zivilisierung der Männlichkeit nach 1945 spricht.68 Die soldatische Männlichkeitsnorm wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ersetzt »durch ein mittelschichtsorientiertes Vorbild des aufopferungsvollen Familienernährers und Berufsmannes, wobei die individuelle Karriere zum Zielpunkt der männlichen Normalbiografie wurde.«69 Nach dem Trauma und Schrecken des verlorenen Krieges entwickelte sich in der Bundesrepublik Deutschland also eine angepasste Männlichkeit, die sich über Familie, Beruf und Konsum definierte und sich an traditionell patriarchalen und christlichen Werten orientierte. Hinter 64 | Für den Historiker Martin Lengwiler ist eine krisenhafte Infragestellung tradierter Männlichkeitsvorstellungen gerade im 20. Jahrhundert ein Dauer- und Normalzustand, der einen schleichenden geschlechtergeschichtlichen Transformationsprozess beschreibt. Siehe: LENGWILER, Martin: In kleinen Schritten: Der Wandel von Männlichkeiten im 20. Jahrhundert. In: L’homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 19 (2008), Heft 2, S. 75-94. 65 | SCHMALE, Geschichte der Männlichkeit, S. 238. 66 | Vgl. MEUSER, Michael: Herausgeforderte Männlichkeit. Neue Zwänge oder neue Optionen. In: SOWI. Das Journal für Geschichte, Politik, Wirtschaft und Kultur 34 (2005), Heft 3, S. 50-60, hier S. 52. 67 | SCHMALE, Geschichte der Männlichkeit, S. 247. 68  |  Vgl. KÜHNE, Thomas: ›…aus diesem Krieg werden nicht nur harte Männer heimkehren.‹ Kriegskameradschaft und Männlichkeit im 20. Jahrhundert. In: Ders. (Hg.): Männergeschichte. Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt a.M. 1996, S. 174-192, hier S. 189. 69 | BRANDES, Der männliche Habitus, S. 217.

1. Theorie und Methode

einer durchschnittsbürgerlichen Lebensweise in der auf blühenden Wirtschaftswundergesellschaft der 1950er und 1960er Jahre versteckte sich jedoch häufig eine krisenhafte Virilität, belastet durch unverarbeitete Kriegs- und Nachkriegsneurosen.70 Diese »Kultur der rekonstruierten Bürgerlichkeit der Nachkriegszeit«71 und deren Männlichkeitsvorstellungen und -ideale wurden von der systemkritischen 68er-Bewegung zur Disposition gestellt.

1.2  G eschichte der E motionen In den Geschichtswissenschaften bestand lange Jahre nur geringes Interesse an der Erforschung von Emotionen, was sich in jüngster Zeit grundlegend geändert hat. Die Rede ist von einem kulturwissenschaftlichen Paradigmenwechsels im Sinne eines »emotional turns«72 und von einem interdisziplinären »Affektboom«73 in den Geistes- und Sozialwissenschaften, dem sich auch die geschichtswissenschaftliche Forschung nicht entziehen konnte.74 Anders als in verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen, die sich schon lange mit der Erforschung von Gefühlen als biochemische, neurologische und psychische Prozesse befassen und diese als ahistorische, universal-angeborene neuronale Reaktionsmuster behandeln, entspricht es dem neu entdeckten Interesse der kulturwissenschaftlichen Disziplinen, Emotionen als soziale Konstrukte zu untersuchen, die dementsprechend historisch und kulturspezifisch wandelbar sind.75 Ute Freverts aktuelle Studie zur Vergänglichkeit von Emotionen hat ergeben, dass Gefühle historischen Konjunkturen unterliegen, also »[z]u manchen Zeiten und in man70 | Vgl. REIMANN, Machismo und Coolness, S. 244f. 71 | REIMANN, Machismo und Coolness, S. 249. 72 | ANZ, Thomas: Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung, unter: www. literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10267 (abgerufen am 14. Januar 2013); Vgl. FREVERT, Was haben Gefühle in der Geschichte zu suchen, S. 183ff. 73 | HAMMER-TUGENDHAT/LUT TER, Emotionen im Kontext, S. 7. 74  |  Vgl. PRZYREMBEL, Alexandra: Sehnsucht nach Gefühlen: Zur Konjunktur der Emotionen in der Geschichtswissenschaft. In: L’homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 16 (2005), Heft 2, S. 116-124, hier S. 118. 75  |  Vgl. BORUT TA, Manuel/BÖSCH, Frank: Medien und Emotionen in der Moderne. Historische Perspektive. In: Dies. (Hg.): Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne, Frankfurt a.M./New York 2006, S. 13-41, hier S. 16f. Der Historiker Peter Dinzelbacher stellt in diesem Zusammenhang fest: »Nichts ist einfacher, als den Menschen in der Vergangenheit genau dieselben Denk- und Empfindungsweisen zu unterstellen, die wir von uns selbst kennen« und spricht sich für ein epochenspezifisches Verständnis von Gefühlen aus. Vgl. DINZELBACHER, Peter: Liebe/Sexualität. In: Ders. (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, 2. Aufl., Stuttgart 2002, S. 80-101, hier S. 80.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Herangehensweise

chen Gesellschaften […] stärker, sichtbarer, kraftvoller und machtvoller«76 sind als in anderen. Sie können aber auch in den Hintergrund oder gar in Vergessenheit geraten, wodurch sie sich »in ihren Bezügen, ihrer sozialen Wertigkeit, ihrem Ausdruck, ihrer Intensität«77 verändern. Insgesamt entstehen Emotionen im Zusammenspiel biologischer, physischer, sozialer und kultureller Komponenten. Es gehört jedoch zu den ungelösten Fragen der Emotionsforschung, in welcher Art und Weise diese verschiedenen Variablen korrelieren.78 In der vorliegenden Arbeit gehe ich im Sinne Ute Freverts davon aus, dass Emotionen sich aus vier Bestandteilen zusammensetzen: erstens aus der unmittelbaren Wahrnehmung einer sozialen Situation, zweitens aus der Veränderung körperlicher Empfindungen, drittens aus der Demonstration expressiver Gesten und viertens aus einem soziokulturellen Code, der die Gesten mit Bedeutung versieht.79 Mit einer Hinwendung zur Emotionsgeschichte kann die überkommene Prämisse, dass menschliches Handeln grundsätzlich der Zweckrationalität folgt, überwunden werden. In dem noch jungen Forschungszweig gelten Emotionen als unmittelbar handlungsrelevant, sie motivieren, begleiten und prägen soziales Handeln.80 Gefühle werden nicht länger als irrationale, natürliche, private und somit unsichtbare Phänomene gesehen, die sich einer sozialwissenschaftlichen Analyse per se entziehen.81 In aktuellen Beiträgen zur Geschichte der Gefühle wird dafür plädiert, nicht mehr zwischen dem vermeintlich wahren, inneren Gefühl eines Individuums und dem äußeren, mehr oder minder verzerrten Gefühlsausdruck zu unterscheiden. Emotionen werden als genuin soziale Konstruktionen analysiert, die in zwischenmenschlicher Interaktion durch Sprache, Mimik und Gestik nicht nur nachträglich ausgedrückt, sondern vielmehr hergestellt, modelliert oder sogar inszeniert werden.82 Ob ›Emotion‹ als strukturelle Analysekategorie das Verständnis des historischen Prozesses in den Geschichtswissenschaften ebenso tiefgreifend und systematisch verändern wird, wie es vor ungefähr dreißig Jahren die Kategorie ›Geschlecht‹ getan hat, bleibt vorerst abzuwarten.83 Einigkeit in den neueren Forschungsbeiträgen zur Geschichte der Emotionen besteht jedoch darin, dass Geschlecht und Gefühl immer zusammen gedacht werden müssen. »Die Konstruktion von Geschlecht und von Gefühlen sind in einer sehr engen Weise miteinander verflochten und können nicht kontextfrei untersucht 76 | FREVERT, Vergängliche Gefühle, S. 9. 77 | FREVERT, Vergängliche Gefühle, S. 9. 78 | Vgl. TREPP, Gefühl oder kulturelle Konstruktion, S. 87. 79 | Vgl. FREVERT, Ute: Angst vor Gefühlen? Die Geschichtsmächtigkeit von Emotionen in 20. Jahrhundert. In: Paul Nolte/Manfred Hettling/Frank-Michael Kuhlemann u.a. (Hg.): Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte, München 2000, S. 95-111, hier S. 98. 80 | Vgl. FREVERT, Angst vor Gefühlen, S. 95. 81 | Vgl. VERHEYEN, Geschichte der Gefühle. 82 | Vgl. VERHEYEN, Geschichte der Gefühle. 83 | Vgl. HITZER, Emotionsgeschichte, S. 2.

1. Theorie und Methode

werden«84, konstatieren etwa die renommierten Geschlechterforscherinnen Hilge Landweer, Claudia Opitz-Belakhal und Helga Kelle. Modelle zur methodisch-theoretischen Annäherung an eine Geschichte der Gefühle kommen vor allem aus dem amerikanischen Forschungsraum. Als die drei prominentesten Vertreter, die seit den 1980er Jahren unterschiedliche Schlüsselkonzepte zur historischen Erforschung von Emotionen geliefert haben, sind die Mediävistin Barbara Rosenwein, der Kulturanthropologe und Historiker William M. Reddy und der Geschichtswissenschaftler Peter Stearns zu nennen.85 Rosenwein machte sich verdient um das Modell der emotionalen Gemeinschaften (›emotional communities‹).86 Reddys bedeutender Beitrag zur Emotionsgeschichte besteht in seinen theoretischen Überlegungen zum emotionalen Regime (›emotional regime‹)87 und seiner Definition von ›emotives‹. Als Pionier der Emotionsgeschichte entwickelte Peter Stearns zusammen mit seiner Frau Carol das Konzept der Emotionologie (›emotionology‹).88 Für die vorliegende Arbeit, die sich mit dem kollektiven Emotionshaushalt und -stil der 68er-Bewegung befasst, sind vor allem die neueren Theorieansätze des emotionalen Regimes und der emotionalen Gemeinschaft von Bedeutung, die das Phänomen emotionaler

84 | LANDWEER, Hilge/OPITZ-BELAKHAL Claudia/KELLE Helga: Einleitung: Gefühle. In: Feministische Studien 26 (2008), Heft 1, S. 3-6, hier S. 4. 85  |  Siehe: PLAMPER, Jan: Wie schreibt man eine Geschichte der Gefühle? William Reddy, Barbara Rosenwein und Peter Stearns im Gespräch mit Jan Plamper. In: Werkstatt Geschichte 54 (2010), S. 39-69. 86 | Siehe: ROSENWEIN, Barbara: Worrying about Emotions in History. In: American Historical Review 107 (2002), Heft 3, S. 821-845; Dies.: Emotional Communities in the Early Middle Ages, New York, 2006; Dies: Problems and Methods in the History of Emotions. In: Passions in Context. International Journal for the History and Theory of Emotions 1 (2010), Heft 1, S. 1-32. 87 | Siehe: REDDY, William M.: Against Constructionism: The Historical Ethnography of Emotions. In: Current Anthropology 38 (1997), Heft 3, S. 327-351; Ders.: Emotional Liberty: Politics and History in the Anthropology of Emotions. In: Cultural Anthropology 14 (1999), Heft 2, S. 256-288; Ders.: The Navigation of Feeling: A Framework for the History of Emotions, New York 2001; Ders.: Emotional Styles and Modern Forms of Life. In: Nicole C. Karafyllis/Gotlind Ulshöfer (Hg.): Sexualized Brains. Scientific Modeling of Emotional Intelligence from a Cultural Perspective, Cambridge 2008, S. 81-100. 88 | Siehe: STEARNS, Peter N./STEARNS, Carol Z.: Emotionology: Clarifying the History of Emotions and Emotional Standards. In: American Historical Review 90 (1985), Heft 4, S. 813-836; Dies.: Introduction. In: Dies. (Hg.): Emotion and Social Change. Towards a New Psychohistory, New York/London 1988, S. 1-22; STEARNS, Peter N.: History of Emotions: Issues of Change and Impact. In: Michael Lewis/Jeanette M. Haviland-Jones/Lisa Feldman Barrett (Hg.): Handbook of Emotions, New York 2008, S. 17-31.

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Vergemeinschaftung zu fassen versuchen.89 Reddys theoretisches Modell macht deutlich, mit welchen Mechanismen eine herrschende Schicht emotionale Hegemonie aufrechterhält und wie es zum Umsturz dieser gesetzten Gefühlsnormen kommen kann. Rosenwein, die ihren Ansatz zugleich in Anlehnung wie auch Abgrenzung von Reddys Konzept entwickelte, erweitert seine Überlegungen um die Annahme, dass immer zahlreiche, miteinander konkurrierende emotionale Gemeinschaften im gleichen sozialen Kontext existieren.

1.2.1 William M. Reddy: Emotionales Regime William M. Reddy verwertet in seinem emotionsgeschichtlichen Theorieansatz Erkenntnisse der kulturanthropologischen und kognitionspsychologischen Gefühlsforschung, sowie Überlegungen der Sprechakttheorie nach John L. Austin. Reddy betont die Wechselwirkung zwischen inneren Gefühlszuständen und den sprachlichen Äußerungen darüber, die er ›emotives‹ nennt. ›Emotives‹ sind für den Historiker gleichzeitig funktional-deskriptiv und selbsterkundend, das heißt, sie konstituieren sich in dem Moment, in dem sie artikuliert werden: »Eine Emotionsaussage ist der Versuch, die zum Ausdruck gebrachte Emotion hervorzurufen, sie ist der Versuch zu empfinden, was man zu empfinden behauptet. Diese Versuche funktionieren in der Regel, aber sie können fehlschlagen. Wenn die Emotionsaussage fehlschlägt, ist sie insofern selbsterkundend, als man etwas Unerwartetes über die eigenen Gefühle erfährt.« 90 Gemäß Reddy ist es also nicht einfach, Gefühle in Sprache und andere Formen des emotionalen Verhaltens zu übersetzen, sie ›richtig‹ zu charakterisieren und in einen emotionalen Code – sei es in Verbaläußerungen, Gesten oder Gesichtsausdrücke – umzusetzen.91 Mit der Hilfe von ›emotives‹ beschreiben Akteure ihr 89 | Peter und Carol Stearns postulierten bereits im Jahr 1985 in einem programmatischen Aufsatz, dass der emotionale Ausdruck von Gefühlen in gesellschaftlichen Gruppen durch ein Set von historisch wandelbaren Gefühlsnormen gesteuert wird. Das Ehepaar Stearns entwickelte dafür den Begriff ›emotionology‹. Das Konzept trennt scharf zwischen den kollektiven emotionalen Standards einer Gesellschaft und den subjektiven emotionalen Erfahrungen von Individuen. Die strikte Unterscheidung zwischen dem eigentlichen, inneren Gefühl und der kulturell geprägten Gefühlsäußerung in diesem Konzept entspricht jedoch nicht mehr dem aktuellen Forschungsstand. Eine weitere Schwäche des Konzepts besteht in der hydraulischen Definition von ›Gefühl‹, die selbst als ein Ergebnis westeuropäischer Geschichte zu betrachten ist, wie verschiedene Emotionshistoriker mittlerweile aufgezeigt haben. Vgl. HITZER, Emotionsgeschichte, S. 6ff. 90  |  William M. Reddy zitiert nach: PLAMPER, Wie schreibt man eine Geschichte der Gefühle, S. 42. 91 | Vgl. REDDY, The Navigation of Feeling, S. 96-107.

1. Theorie und Methode

Gefühlsleben nicht nur, sie steuern es mit unsicherem Ausgang, was Reddy als ›emotional navigation‹ bezeichnet.92 Eine Person, die sich in einem emotionalen Zustand der Verwirrung befindet, sagt unter Umständen ›Ich liebe dich‹, um herauszufinden, ob dies auch wirklich wahr ist. Jemand, der sagt ›Ich bin sehr wütend auf dich‹ kann herausfinden, dass in dem Moment, in dem er es ausgesprochen hat, die Wut verflogen ist.93 Die Emotionsideale und -normen einer Gesellschaft haben in Reddys Theoriegefüge großen Einfluss darauf, wie Menschen ›emotives‹ im Alltag benutzen. Als emotionales Regime bezeichnet Reddy eine Reihe normativer Emotionen, die in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext gültig sind, sowie die Rituale und Praktiken, mit denen sie verinnerlicht werden, als auch die ›emotives‹, die sie ausdrücken und einprägen. Gesetzt werden die Gefühlsnormen von der herrschenden, gesellschaftlich dominanten Klasse. Der Historiker betrachtet die Existenz eines emotionalen Regimes als notwendige Grundlage jedes stabilen politischen Regimes.94 In sehr strikten emotionalen Regimen werden Verstöße gegen die emotionale Ordnung mit Strafen wie Exklusion, Degradierung oder übler Nachrede geahndet. In weniger repressiven, toleranteren emotionalen Regimen tritt eine emotionale Disziplinierung nur in einigen Lebensbereichen oder Institutionen zu Tage. Insgesamt herrscht dort eine größere Freiheit, zwischen verschiedenen emotionalen Stilen zu wählen, die jedoch mehr oder weniger mit den Normen des Machtzentrums im Gemeinwesen korrespondieren müssen.95 Existieren in einer Gesellschaft nur sehr geringe Möglichkeiten zur freiheitlichen emotionalen Navigation und fehlt es an emotionalen Zufluchtsorten (›emotional refuges‹), entsteht, so prognostiziert Reddy, emotionales Leiden (›emotional suffering‹). Emotionale Refugien können für Reddy Beziehungen, Rituale oder Organisationen sein, in denen Individuen Linderung und Entspannung von dem gesellschaftlich vorgegebenen Druck finden, emotionalen Normen entsprechen zu müssen.96 Mit einer extremen Steigerung des emotionalen Leidens in einer Gesellschaft erklärt Reddy politische Umstürze, wie zum Beispiel die Französische Revolution. Emotionales Leiden wird dabei also zum Faktor des historischen Wandels.

1.2.2 Barbara Rosenwein: Emotionale Gemeinschaften In kritischer Auseinandersetzung mit Reddys Konzept des emotionalen Regimes kommt Barbara Rosenwein zu dem Schluss, dass in einer Gesellschaft nicht nur ein dominantes emotionales Regime vorherrscht, sondern immer eine Vielzahl von emotionalen Gemeinschaften existiert. Für Rosenwein ist der Begriff ›Re92 | Vgl. REDDY, The Navigation of Feeling, S. 129. 93 | Vgl. REDDY, The Navigation of Feeling, S. 102. 94 | Vgl. REDDY, The Navigation of Feeling, S. 129. 95 | Vgl. REDDY, The Navigation of Feeling, S. 124ff. 96 | Vgl. REDDY, The Navigation of Feeling, S. 129.

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gime‹ überzogen, da er suggeriert, dass für alle Mitglieder eines soziokulturellen und historischen Zusammenhangs dieselben emotionalen Normen gelten, was der Mannigfaltigkeit der sozialen Realität widerspricht.97 Die Mittelalterhistorikerin kritisiert die enge Verbindung, die Reddy zwischen einem emotionalen Regime und einer dominanten staatlichen Instanz sieht. Das typische politische Regime ist für Reddy der moderne Nationalstaat, womit er andere historische Staatsformen aus seinen theoretischen Überlegungen ausschließt. Obwohl die Bundesrepublik der 1960er Jahre, welche den Untersuchungsrahmen der vorliegenden Arbeit darstellt, Reddys Prämisse eines modernen Nationalstaates entspricht, folge ich dem Vorschlag Jan Plampers: Der Emotionshistoriker regt dazu an, das Modell des emotionalen Regimes konsequent im Plural zu verwenden, also von mehreren zur gleichen Zeit existierenden emotionalen Regimes auszugehen.98 Plamper hält die grundsätzliche Abgrenzung der Konzepte des emotionalen Regimes und der emotionalen Gemeinschaften durch Rosenwein für konstruiert und ermuntert zur eklektischen Kombination einzelner Theoriebausteine.99 Rosenwein definiert in ihrem Theoriemodell emotionale Gemeinschaften zum einen als soziale Gruppierungen, die gleiche oder ähnliche Interessen, Werte und Ziele teilen. Zum anderen sind emotionale Gemeinschaften für die Mediävistin gegebenenfalls auch textuelle Gemeinschaften, die sich durch gemeinsame Ideologien, Lehren und Diskurse sowie ein gemeinsames Vokabular auszeichnen.100 Insofern weisen emotionale Gemeinschaften Ähnlichkeiten zu Bourdieus Konzept des sozialen Habitus auf, stellt Rosenwein fest, da sie gruppenspezifische, internalisierte Normen beinhalten, die determinieren, wie wir denken und handeln.101 Sie nennt Familien, Nachbarschaften, Parlamente, Zünfte, Klöster oder Kirchengemeinden als Beispiele für emotionale Gemeinschaften, mit denen sie in der Regel soziale Gruppierungen mit Nahverhältnissen beschreibt. Individuen können folglich Mitglieder mehrerer emotionaler Gemeinschaften sein und sich zwischen diesen bewegen. Emotionale Gemeinschaften sind gemäß Rosenwein Personengruppen in ganz unterschiedlicher Größe und Fasson, »die dieselben Bewertungen von Emotionen und Vorstellungen, wie diese auszudrücken seien, vertreten.«102 Emotionale Gemeinschaften besitzen also ein distinktes kollektives Gefühlssystem. Diese normative emotionale Struktur beinhaltet, welche Gefühle 97 | Vgl. Barbara Rosenwein zitiert nach: PLAMPER, Wie schreibt man eine Geschichte der Gefühle, S. 59. 98 | Vgl. PLAMPER, Jan: Geschichte und Gefühle. Grundlagen der Emotionsgeschichte, München 2012, S. 310. 99 | Vgl. PLAMPER, Geschichte und Gefühle, S. 82. 100 | Vgl. ROSENWEIN, Emotional Communities, S. 24f. 101 | Vgl. ROSENWEIN, Emotional Communities, S. 25. 102  |  Barbara Rosenwein zitiert nach: PLAMPER, Wie schreibt man eine Geschichte der Gefühle, S. 56.

1. Theorie und Methode

innerhalb einer sozialen Gruppe geschätzt, verurteilt oder ignoriert werden und welche Modi des Gefühlsausdrucks gemeinschaftlich erwartet, gefördert, geduldet oder missbilligt werden.103 Emotionale Gemeinschaften teilen also emotionale Stile und normative Gefühlsstandards, was auch einen kontrollierenden und disziplinierenden Effekt auf die dazugehörigen Individuen beinhaltet. Welche Folgen die Abweichung von den Emotionsnormen einer sozialen Gruppierung hat und wie die Machtbeziehungen zwischen den verschiedenen emotionalen Gemeinschaften zu verstehen sind, vertieft Rosenwein in ihrem insgesamt relativ offenen und vagen Konzept nicht weiter. In Anlehnung an Reddys Überlegungen zum emotionalen Leiden als Kriterium der gesellschaftlichen und politischen Veränderung schlägt sie in einem Aufsatz aus dem Jahr 2010 vor, zwischen dominanten und marginalen emotionalen Gemeinschaften zu unterscheiden. Sie geht davon aus, dass dominante emotionale Gemeinschaften sich im historischen Verlauf selbst verändern oder an Einfluss und Bedeutung verlieren. Währenddessen können ehemals marginale emotionale Gemeinschaften in den Vordergrund rücken, indem sie politische Hegemonie oder soziales Prestige erlangen.104 Die Vorstellung von koexistierenden emotionalen Gemeinschaften, die um die soziokulturelle Hegemonie emotionaler Normen konkurrieren, verbindet Reddys Prämisse eines tonangebenden emotionalen Regimes mit Rosenweins Auffassung von emotionalen Gemeinschaften im Plural. Diese Verbindung der beiden Ansätze soll in dieser Arbeit fruchtbar gemacht werden, zumal sie dem Kampf unterschiedlicher Männlichkeiten um die Definition hegemonialer Männlichkeit ähnelt.

1.3 S ynthese Die vorliegende Untersuchung basiert auf einem theoretisch-methodischen Mix aus den soeben erläuterten Ansätzen der Männlichkeits- und Emotionsforschung, zwischen denen zahlreiche Anknüpfungspunkte und Verbindungslinien existieren. Gemeinsam ist den Modellen aus beiden Disziplinen, dass sie sich mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen beschäftigen, beziehungsweise mit den Mechanismen, wie soziale Gruppen hegemonialen Status erlangen und ihr Normen-Repertoire durchsetzen. Von Bedeutung für die vorliegende Studie ist die Annahme, dass verschiedene gesellschaftliche Gruppen sich in ständiger Konkurrenz miteinander darüber befinden, welche kulturellen Männlichkeits- und Gefühlscodes gesamtgesellschaftliche Gültigkeit haben sollen. Die westdeutsche 68er-Bewegung lässt sich vor dem Hintergrund dieses Theorierahmens als gesellschaftliche Subgruppe analysieren, die nach den generativen Prinzipien hegemonialer Männlichkeit strukturiert ist und dementspre103 | Vgl. ROSENWEIN, Worrying about Emotions in History, S. 842. 104 | Vgl. ROSENWEIN, Problems and Methods in the History of Emotions, S. 24f.

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chend auch einen kollektiven Protesthabitus ausbildet. Im gemeinsamen Habitus der männlichen Oppositionellen reproduzieren sich nicht nur ähnliche Muster der Wahrnehmung, des Verhaltens und des Denkens, sondern auch des Fühlens. Folglich ist die antiautoritäre Bewegung zugleich auch als (marginale) emotionale Gemeinschaft mit distinkten emotionalen Stilen, Standards und Normen in Abgrenzung zum dominanten Gefühlssystem der bundesdeutschen Gesamtgesellschaft zu betrachten. Zu beachten ist in dieser Untersuchung zudem, dass die späten 1960er Jahre eine historische Umbruchssituation markieren, was die unhinterfragte Gültigkeit eines allumfassenden hegemonialen Männlichkeitsideals und dessen emotionalen Standards angeht.

2. ›1968‹ als wissenschaftliches und erinnerungspolitisches Konstrukt

Die Chiffre ›1968‹ gilt es zunächst als wissenschaftliches und erinnerungspolitisches Gefüge zu dekonstruieren. Aufgezeigt werden muss, wie die vage, symbolträchtige Formel wissenschaftlich handhabbar gemacht werden kann: Im Folgenden werden deshalb die für diese Studie relevanten Ereignisse, Protagonisten, sowie der zeitliche Rahmen von ›1968‹ entschlüsselt. Was sich hinter den ›68ern‹ als Generation und sozialer Bewegung verbirgt, soll ebenso Klärung erfahren, wie die Frage nach der hegemonial männlichen Repräsentation von ›1968‹, sowohl auf zeitgenössischer, als auch auf erinnerungspolitischer Ebene.

2.1 D as J ahr 1968 als M y thos , C hiffre , Z äsur , S ymbol und E reignis »Das Hauptproblem bei der Beschäftigung mit ›1968‹ ist die Unbestimmtheit dessen, was mit den vier Ziffern überhaupt bezeichnet wird«1, konstatiert Joachim Scharloth und weist damit auf die Untauglichkeit von ›1968‹ als präzise, wissenschaftlich instrumentalisierbare Kategorie hin. »›1968‹ ist nicht etikettierbar. Dieses komplexe Bündel an Ereignissen und Tendenzen, das sich über mehrere Jahre erstreckte und bis heute seine Form verändert, schillert in den unterschiedlichsten Facetten«2, bemerkt auch Detlef Siegfried über die suggestive, schwer fassbare Vereinheitlichung eines komplexen Phänomens durch das zeichenhafte Kürzel ›1968‹. Nicht umsonst lauten auch die Titel zweier Sammelbände zum Thema der 68er-Bewegung 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur3 und Das Jahr 1968 – Ereignis, Symbol, Chiffre.4 Beide Titel weisen auf ›1968‹ als ein Symbol hin, das den Höhepunkt des internationalen Protests zeitlich verortet und als zentraler Re1 | SCHARLOTH, 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, S. 25. 2 | SIEGFRIED, Sound der Revolte, S. 13. 3 | Siehe: KRAUSHAAR, 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur. 4 | Siehe: RATHKOLB/STADLER, Das Jahr 1968 – Ereignis, Symbol, Chiffre.

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ferenzpunkt eine Reihe historisch bedeutsamer Ereignisse der späten 1960er Jahre im kollektiven Gedächtnis markiert. ›1968‹ steht also nicht nur für die Ereignisdynamik eines Jahres, sondern ist vielmehr »zum Symbol einer historischen Umbruchsphase geworden […], deren Folgen bis in die Gegenwart noch spürbar sind.«5 Aufgrund der äußerst vagen und unscharfen Aussagekraft der Chiffre ›1968‹ ist eine genaue wissenschaftliche Klärung, welcher Zeitraum, welche Ereignisse und welche Akteure in dieser Arbeit untersucht werden sollen, vonnöten. Mittlerweile ist es zum geschichtswissenschaftlichen Usus geworden, Untersuchungen zur 68er-Bewegung in den Kontext einer längeren kulturellen Transformationsperiode einzubetten und von einer verengten Sicht auf das Jahr 1968 Abstand zu nehmen.6 ›1968‹ wird angesichts einer mehrjährigen Verlaufsphase des politischen Protests eher als Epoche begriffen als ein einzelnes alles veränderndes Jahr.7 Detlef Siegfried schlägt sogar eine Ausweitung des zu berücksichtigenden Zeitraumes auf die Jahre 1958 bis 1973 vor, um den gesamten Liberalisierungsschub der prosperierenden ›langen 1960er Jahre‹ miteinbeziehen zu können.8 Der Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studie beginnt im Jahr 1965, als an der Freien Universität Berlin (FU Berlin) erste studentische Unruhen und Proteste ausbrachen und der antiautoritäre Flügel im Berliner SDS an Bedeutung gewann und endet im Jahr 1970 mit der offiziellen Auflösung des SDS in verschiedene, konkurrierende Splittergruppen.9 Diese Wahl des Untersuchungszeitraumes ergibt sich durch eine Fokussierung meines Forschungsinteresses auf das studentische Milieu des Protests, in dem der SDS eine Sonderrolle einnahm. Ein weiteres Problem bei der zeitgeschichtlichen Erforschung der Protestbewegung von ›1968‹ besteht in der »eigentlichen Belanglosigkeit der damit zusammenhängenden Ereignisse, […] die in keinem Verhältnis zu den dadurch ausgelösten Medienwirkungen steht.«10 Die antiautoritäre Oppositionsbewegung fiel Ende 5 | SCHMIDTKE, Der Aufbruch der jungen Intelligenz, S. 9. 6  |  Die 68er-Bewegung ist als erste globale revolutionäre Bewegung zu betrachten. Das Jahr 1968 markiert den Höhepunkt des Protests in zahlreichen europäischen Ländern, wie den ›Pariser Mai‹ in Frankreich oder den ›Prager Frühling‹ in der Tschechoslowakei. In Westdeutschland sind das Attentat auf Rudi Dutschke sowie die nachfolgenden Osterunruhen als Höhepunkte dieses Referenzjahres zu betrachten. Vgl. SCHARLOTH, 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, S. 25; Gemäß Nobert Frei wäre es für die Protestbewegung der Bundesrepublik eigentlich präziser, von ›67ern‹ als von ›68ern‹ zu sprechen. Für den Historiker stellt der 2. Juni 1967, der gewaltsame Tod des Studenten Benno Ohnesorg, das Ereignis mit der größten generationsprägenden Wucht für die Protestierenden der 1960er Jahre dar. Vgl. FREI, Jugendrevolte und globaler Protest, S. 118. 7 | Vgl. FREI, Jugendrevolte und globaler Protest, S. 212. 8 | Vgl. SIEGFRIED, Sound der Revolte, S. 13f. 9 | Vgl. SCHARLOTH, Eine Kommunikationsgeschichte, S. 31f. 10 | JARAUSCH, Konrad: Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995, Bonn 2004, S. 205.

2. ›1968‹ als wissenschaf tliches und erinnerungspolitisches Konstrukt

der 1960er Jahre mit einer medienhistorischen Schwellensituation zusammen, in der die Massenmedien einen grundlegenden Wandel erfuhren. Durch den Siegeszug des Fernsehens stellten auch die Printmedien ihre Berichterstattung auf die Prinzipien Visualisierung und Emotionalisierung um. Die Massenmedien erkannten die expressiven Protestformen der ›68er‹ rasch als Medienereignis und multiplizierten durch ihre mediale Re-Inszenierung der Proteste deren öffentliche Wirksamkeit um ein Vielfaches. Hinzu kam, dass Akteure der Protestbewegung begannen, die Medien instrumentell zur Umsetzung ihrer politischen Ziele zu nutzen.11 Bis heute sind die Massenmedien stark an der Konstruktion des Mythos ›1968‹ beteiligt, der einen realistischen Blick auf die Ereignisse der Protestjahre verstellt.12 Oftmals verdeckt auch der Streit um die historische Leistung der ›68er‹, welcher zwischen Kritikern und ehemaligen Akteuren der sozialen Bewegung bis heute andauert, den Blick auf die Zeit selbst. Die Frage, was sich rund um das Jahr 1968 überhaupt ereignet hat, nimmt in Betrachtungen der Protestbewegung oftmals einen zu geringen Platz ein.13 Hinzu kommt, dass es politisch nie eine einheitliche 68er-Bewegung gegeben hat, sondern nur eine zeitliche Verdichtung und wechselseitige Verstärkung von einzelnen Protestaktionen. Zu den pluralen Protestepisoden der langen 1960er Jahre gehören die Ostermarsch-Bewegung, die Anti-Vietnamkriegs-Bewegung, die Universitätsreform-Bewegung, die Hippie-Bewegung, die lokalen Rote-Punkt-Bewegungen, die Schüler- und Lehrlingsbewegungen, sowie die Neue Frauenbewegung.14 Das kollektive Gedächtnis bezüglich der oppositionellen Bewegung der späten 1960er Jahre ist im Grunde nicht von konkreten historischen Ereignissen dominiert, sondern von Assoziationen wie »jugendlicher Protest, generationelle Revolte, gegenkulturelle Ausgelassenheit [und] sexuelle Befreiung«15 geprägt. Als Höhepunkte der Mobilisierung des politischen Protests sind in der Bundesrepublik die Jahre 1967 und 1968 zu sehen. Der gewaltsame Tod des Studenten Benno Ohnesorg auf einer Demonstration am 2. Juni 1967 markierte den Beginn einer Hochphase der Bewegung. Zu einer weiteren Radikalisierung kam es nach dem Attentat auf den studentischen Wortführer Rudi Dutschke am 11. April 1968. Zur Erläuterung, welche Ereignisse in dieser Untersuchung zum symbolischen Jahr ›1968‹ gezählt werden, findet sich im Anhang eine tabellarische Darstellung der relevanten Ereignisse der westdeutschen, studentisch geprägten 68er-Bewegung zwischen 1965 und 1970.16 11 | Vgl. FAHLENBRACH, Protestinszenierungen, S. 11. 12  |  Vgl. GREVEN, Michael Thomas: Systemopposition. Kontingenz, Ideologie und Utopie im politischen Denken der 1960er Jahre, Opladen 2011, S. 35. 13 | Vgl. SCHMIDTKE, Der Aufbruch der jungen Intelligenz, S. 10f. 14 | Vgl. GREVEN, Systemopposition, S. 19 und S. 24f. 15  |  KLIMKE, Martin: 1968 als transnationales Ereignis. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 58 (2008), Heft 14-15, S. 22-27, hier S. 22. 16  |  Siehe: Chronik der Protestereignisse, S. 368-380.

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Genauso wenig eindeutig, wie sich der Zeitraum und die Ereignisse des Phänomens ›1968‹ klar eingrenzen und bestimmen lassen, sind auch die Akteure der Revolte auszumachen. Das Organisationsprinzip der Protestbewegung bestand in der Kooperation eines losen Netzwerkes verschiedenartiger Gruppierungen und Zirkel, deren Bündnisse meist auf bloßen Absprachen beruhten und für einzelne Kampagnen oder Aktionen geschlossen wurden.17 Die unterschiedlichen Trägergruppen des politischen Protests verfolgten zum Teil widersprüchliche Ziele, wiesen jedoch auch gewisse intentionale Schnittmengen auf. Aktiv beteiligt an der 68er-Bewegung waren verschiedene Hochschulverbände wie der SDS, der Sozialdemokratische Hochschulbund (SHB), der Liberale Studentenverbund (LSD) oder der Verband Deutscher Studentenschaften (VDS), genauso wie verschiedene universitäre Ad-hoc-Gruppen, Basisgruppen und Arbeitsgruppen. Als bedeutender außeruniversitärer Verein der außerparlamentarischen Bewegung ist der Republikanische Club zu nennen. Gegen die Notstandsgesetzgebung engagierten sich darüber hinaus gewerkschaftliche Akteure und Initiativen wie das Kuratorium Notstand der Demokratie und die Kampagne für Demokratie und Abrüstung. Zudem beteiligten sich der Sozialistische Lehrerbund (SLB) und verschiedene Schülerverbände wie das Aktionszentrum Unabhängiger und Sozialistischer Schüler (AUSS) an der Protestbewegung. Die Republikanische Hilfe war eine Organisation, die zur juristischen Unterstützung von Demonstrationsteilnehmern gegründet wurde. Einen weiteren Teil des Netzwerks bildeten verschiedene Kommune-Gruppen sowie die Subkulturen der Gammler, Provos und Rocker. Auch die Untergrundbewegung der sogenannten Stadtguerilla, die sich Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen, Tupamaros West-Berlin oder Blues nannte, kann als Teil des sich zunehmend radikalisierenden linken Protestmilieus der späten 1960er Jahre gezählt werden.18 »Weil ›1968‹ ein Patchwork unterschiedlicher Gruppen darstellte, die Gegenkultur und politische Opposition auf jeweils eigene Weise fusionierten, zeigt es ein bisweilen verwirrendes Janusgesicht«19, warnen Christina von Hodenberg und Detlef Siegfried vor der Heterogenität der Akteure von ›1968‹. In einer wissenschaftlichen Untersuchung des politischen Protests rund um das Jahr 1968 17 | Vgl. SCHARLOTH, 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, S. 30. 18  |  Die Gründung dieser gewaltsam agierenden, anarchistischen Gruppen, die der urbanen Haschischszene entsprangen, ist als Übergang zu den terroristischen Aktivitäten der Gruppierungen Bewegung 2. Juni und Rote Armee Fraktion (RAF) zu betrachten. Der Linksterrorismus der 1970er Jahre darf jedoch nicht als bloße Radikalisierung und gewaltsame Weiterführung der 68er-Bewegung interpretiert werden, auch wenn eine geistige Verwandtschaft mit dem Weltbild und den politischen Zielsetzungen der antiautoritären Protestbewegung nicht zu übersehen ist. 19  |  VON HODENBERG, Christina/SIEGFRIED, Detlef: Reform und Revolte. 1968 und die langen sechziger Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik. In.: Dies. (Hg.): Wo ›1968‹ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006, S. 7-14, hier S. 11.

2. ›1968‹ als wissenschaf tliches und erinnerungspolitisches Konstrukt

ist es von daher zwingend notwendig, exakt zu definieren, welche Trägergruppen und Organisationen der sozialen Bewegung im Zentrum der Analyse stehen, wenn abstrahierend und generalisierend von der Studentenbewegung, 68er-Generation, Außerparlamentarischen Opposition (APO), Kulturrevolution, Jugendrebellion oder antiautoritären Revolte von ›1968‹ die Rede ist. Im Mittelpunkt meines Forschungsvorhabens stehen insbesondere der SDS, welcher als geistiges und organisatorisches Zentrum der Protestbewegung fungierte, sowie die personell hauptsächlich daraus hervorgehenden Kommunen I und II. Bevor die in dieser Arbeit zu untersuchenden Trägergruppen näher vorgestellt werden, soll zunächst geklärt werden, wer die ›68er‹ als Generation und soziale Bewegung überhaupt waren und sind.

2.2  ›68 er -G ener ation ‹ und ›68 er -B e wegung ‹ »Verdrehungen und Verzerrungen, die innerhalb der Linken selbst produziert wurden und sich häufig durch Verdrehungen und Verzerrungen […] der Medien verstärkten, haben zur Erfindung des 68ers als Eigennamen eines politischen Sozialcharakters geführt. So etwas legt die Vermutung nahe, man könnte einen 68er auf der Straße erkennen oder doch wenigstens in der Kneipe, wenn er zu reden anfängt. Seht, das ist ein typischer 68er!« 20

Das ehemalige SDS-Mitglied Oskar Negt, das sich als Mentor und aktiver Begleiter der bundesdeutschen Studentenbewegung sieht 21, reflektiert in ironischer und kritischer Manier über die soziale Eigen- und Fremdkonstruktion des ›68ers‹ als unverkennbare menschliche Spezies mit charakteristischem Wesen und Aussehen. Was es mit der vermeintlichen Eigenheit des ›typischen 68ers‹ als Mitglied einer Generation und Akteur einer sozialen Bewegung auf sich hat, soll an dieser Stelle entschlüsselt werden. Sich einer Generation zugehörig zu fühlen, beziehungsweise sich von einer anderen zu differenzieren, bedeutet zunächst eine »biographische Verortung in Zeit und Geschichte, das heißt als Zeitgenosse, als Altersgenosse und Mensch in einem bestimmten Blick auf die anderen – jüngeren und älteren – Altersgruppen.«22 Das Konzept der historischen Generation dient zur Messung gesellschaftlicher Veränderung und zum Sichtbarmachen eines Werte- und Kulturwandels. Wenn im Verlauf sozialer Wandlungsprozesse die tradierten Denk-, Gestaltungsund Erlebnisformen der älteren Generation den nachrückenden Kulturträgern als ›problematisch‹ erscheinen, besteht die Möglichkeit zur Herausbildung einer 20 | NEGT, Oskar: Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht, Göttingen 2008, S. 339. 21 | Vgl. NEGT, Achtundsechzig, S. 11 22 | DANIEL, Ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 2004, S. 331.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Herangehensweise

neuen historische Generation.23 Eine Generation ist von daher eine Gruppe von Menschen, die sich nicht nur durch eine ungefähre Gleichzeitigkeit der Geburt, sondern auch durch eine spezifische kollektive Identität auszeichnet: Sie fühlt sich durch gelebte Werte, Ziele und Überzeugungen, ebenso wie durch gemeinsame Lebenserfahrung, gewonnene Lebensformen und Lebenshorizonte bedeutungsvoll verbunden.24 Bei der 68er-Generation handelt es sich um eine Geburtskohorte, die in der Forschung meist einen Spielraum von sieben bis zehn Geburtsjahrgängen umfasst. Der Soziologe Heinz Bude zählt die Jahrgänge zwischen 1938 und 1948 zu den Angehörigen der 68er-Generation, welche im Jahr 1968 zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt waren.25 »Ziemlich genau die 40er Jahrgänge« gelten hingegen für den Historiker Ulrich Herbert als Geburts-Zeitraum der 68er-Generation. Die in den 1940er Jahren geborenen Personen erlebten die bedeutsamen und langfristig folgenreichen Ereignisse der späten 1950er und frühen 1960er Jahre als Heranwachsende, erklärt Herbert seine Definition der 68er-Generation.26 Jürgen Busche wiederum wählt nur die sieben Jahrgänge der zwischen 1942 und 1948 Geborenen. Seiner Meinung nach ist für die Einordnung der ›68er‹ als generationelle Kohorte von Bedeutung, dass diese den Krieg und das Kriegsende nicht oder nicht bewusst erlebt haben.27 Darüber hinaus wird die 68er-Generation oft auch 23 | Vgl. FIETZE, Beate: Historische Generationen. Über einen sozialen Mechanismus kulturellen Wandels und kollektiver Kreativität, Bielefeld 2009, S. 80. 24 | Vgl. HERMANN, Ulrich: Was ist eine Generation? Methodologische und begriffsgeschichtliche Explorationen zu einem Idealtypus. In: Annegret Schüle/Thomas Ahbe/Rainer Gries (Hg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006, S. 23-39, hier S. 35. Als kanonischer Referenztext der interdisziplinären Generationenforschung gilt der einflussreiche und schulbildende Generationenentwurf des Soziologen Karl Mannheim. Mehr oder weniger explizit beziehen sich bis heute alle Überlegungen zum Thema Generationen auf dessen Theorie. Mannheim lehnte die Annahme einer biologistischen Gesellschaftsrhythmik ab und schrieb erstmals das Entstehen generationeller Vergemeinschaftung der Erfahrung gemeinsamer Erlebnisse zu. Siehe: MANNHEIM, Karl: Das Problem der Generation. In: Ders./WOLFF, Kurt H. (Hg.): Wissenssoziologie, Berlin/ Neuwied 1984, S. 509-565. In der aktuellen Generationenforschung hat es sich zum Konsens entwickelt, eine Generation als ein soziokulturelles Konstrukt zu betrachten, »ein nicht (nur) biologisches und quantitatives, sondern in erster Linie […] ein soziales, bewusstseinsmäßiges und qualitatives Phänomen.« Vgl. LÜSCHER, Kurt/LIEGLE, Ludwig: Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft, Konstanz 2003, S. 109. 25  |  Vgl. BUDE, Heinz: Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938 bis 1948, Frankfurt a.M. 1995, S. 18. 26 | Vgl. HERBERT, Ulrich: Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert. In: Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 95-114, hier S. 109. 27  |  Vgl. BUSCHE, Jürgen: Die 68er. Biographie einer Generation, Berlin 2003, S. 34.

2. ›1968‹ als wissenschaf tliches und erinnerungspolitisches Konstrukt

in Abgrenzung zu der vorgehenden ›45er-Generation‹ definiert, welche gemäß Helmut Schelsky auch als ›skeptische Generation‹ bekannt ist und die Geburtsjahrgänge der 1920er und frühen 1930er beinhaltet.28 Als jüngste Teilnehmer der Proteste von ›1968‹ bestimmt der Geschichtswissenschaftler Axel Schildt die Gymnasiasten und Oberschüler der Jahrgänge 1948 bis 1953, welche zwar nicht den wortführenden Anteil der 68er-Bewegung darstellten, aber den nicht unbedeutenden Nachwuchs der studentischen Revolte.29 Gerade in Städten, die in den späten 1960er Jahren noch keine Universität besaßen, wie zum Beispiel Bremen, waren die protestierenden ›68er‹ jünger als in den studentischen Metropolen.30 Zu den Aktivisten der 68er-Bewegung wird dementsprechend in manchen Forschungsarbeiten auch eine deutlich größere Geburtskohorte gezählt.31 Von daher erscheint es auch für diese Studie plausibel, eine umfassende Definition zu wählen und unter der Zuschreibung ›68er-Generation‹ alle Jahrgänge der späten 1930er Jahre bis zum Beginn der 1950er Jahre zu fassen.

28  |  Die 45er-Generation wird auch HJ- oder Flakhelfer-Generation genannt und bezeichnet die Generation der Kriegskinder. Die ›45er‹ erlebten in ihrer Kindheit und Jugend die NS-Diktatur, deren Niedergang und Kollaps, sowie die Trümmer- und Hungerwelt der Nachkriegszeit und wurden in den Jahren der Besatzung erwachsen. Schelsky sprach diesen Geburtsjahrgängen eine kollektive Entideologisierung und Desillusionierung, sowie einen generationellen Stil des Skeptizismus und Argwohns zu, der zugleich eine gewisse Indifferenz bezüglich der gültigen Gesellschaftsordnung beinhaltete. Siehe: BAVAJ, ›68er‹ versus ›45er‹; MOSES, Dirk: Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie. In: Neue Sammlung 40 (2000), Heft 2, S. 233-263; KERSTING, Franz-Werner: Helmut Schleskys ›Skeptische Generation‹ von 1957. Zur Publikations- und Wirkungsgeschichte eines Standardwerkes. In: Mitteilungen LJA WL 153 (2000), S. 35-46; SCHELSKY, Helmut: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf/Köln 1957. 29  |  Vgl. SCHILDT, Axel: Nachwuchs für die Rebellion – die Schülerbewegung der späten 60er Jahre. In: Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 229-251, S. 229f. 30  |  Vgl. HANNOVER, Irmela/SCHNIBBEN, Cordt: Warum wir uns ein Wochenende lang unser Leben erzählen. In: Dies. (Hg.): I can’t get no. Ein paar 68er treffen sich wieder und rechnen ab, Köln 2007, S. 8-19, hier S. 10. 31 | In ihrer Untersuchung der ›68erinnen‹ berücksichtigt beispielsweise Ute Kätzel die Jahrgänge der 1935 bis 1950 Geborenen. Belinda Davis betrachtet in ihrer Forschungsarbeit zu Transnationalismus, Transkulturalismus und politischer Aktivität in Westdeutschland die Lebensgeschichten von Aktivisten, die zwischen 1937 und 1957 zur Welt kamen. Vgl. KÄTZEL, Frauenrolle und Frauenbewusstsein, S. 326; Vgl. DAVIS, Belinda: Transnation und Transkultur. Gender und Politisierung von den fünfziger bis in die siebziger Jahre. In: Sven Reichardt/Detlef Siegfried (Hg.): Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland 1968-1938, Göttingen 2010, S. 313-334, hier S. 314.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Herangehensweise

Die soeben definierten Jahrgänge der 68er-Generation lassen sich als Träger einer sozialen Bewegung identifizieren, die Mitte der 1960er Jahre ihren Anfang nahm und in den Jahren 1969 und 1970 wieder zerfiel. Eine soziale Bewegung lässt sich als ein Netzwerk verschiedener Gruppen und Organisationen beschreiben, das sozialen Wandel mittels kollektiver Aktionen und Proteste herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen will.32 Ein individuell unerreichbares Ziel soll gemeinsam mit anderen auch gegen Widerstand verwirklicht werden. Der kontinuierliche Mobilisierungserfolg sozialer Bewegungen kann nur dann gewährleistet werden, wenn auf der Basis gemeinsamer Bewegungsinteressen eine kollektive Protestidentität gewonnen werden kann. Soziale Bewegungen bestehen stets nur einen relativen Zeitraum, da sich eine permanente Mobilisierung für vergleichsweise schwach organisierte Akteure auf längere Dauer äußerst schwierig gestaltet. Die Auflösung einer sozialen Bewegung ist von daher jederzeit möglich.33 Bezüglich der Erfolgswahrscheinlichkeit einer sozialen Bewegung stellt Heinz Bude fest: »Soziale Bewegungen entstehen als kollektive Antwort auf eine günstige politische Gelegenheitsstruktur, die es einer minoritären Gruppe erlaubt, sich plötzlich als Sprachrohr des gesellschaftlichen Ganzen ins Spiel zu bringen.«34 Die Tatsache, dass in der Bundesrepublik Deutschland die junge Generation die Rolle der Avantgarde im gesellschaftlichen Modernisierungsprozess übernahm, ergibt sich aus den vorteilhaften gesellschaftlichen Gesamtentwicklungen der langen 1960er Jahre. Die Jugendlichen dieser Zeit kamen durch eine tiefgreifende Bildungsreform in den Genuss verlängerter Ausbildungszeiten und verbrachten sehr viel mehr Zeit an den Schulen und Universitäten, anstatt bereits in jungen Jahren in den Arbeitsprozess einzurücken. Somit unterlagen die jungen Menschen weniger dem strikten Zeitregime der Werktätigkeit, sondern hatten mehr frei einteilbare Zeit zu ihrer Verfügung.35 Das Anwachsen der Studentenpopulation aus dem Zusammenwirken verbreiteter Bildungsbestrebungen einer aufstiegsorientierten Mittelschicht und einer erhöhten Geburtenrate der Nachkriegsjahre machte die Öffnung und den Ausbau der Universitäten notwendig.36 Als Folge dieser Entwicklungen entstand ein biografischer Freiraum der ›Postadoleszenz‹, der bis Ende zwanzig andauern konnte. In diesem Lebensabschnitt bot sich für Heranwachsende die Möglichkeit, mit verschiedenen Lebensoptionen

32 | Vgl. NEIDHARDT, Friedhelm/RUCHT, Dieter: The Analysis of Social Movements: The State of Art and Some Perspectives of Further Research. In: Dieter Rucht (Hg.): Research on Social Movements. The State of Art in Western Europe and the USA, Frankfurt 1991, S. 421-464, hier S. 450. 33  |  Vgl. GILCHER-HOLTEY, Ingrid: Die 68er-Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA, 4. Aufl., München 2008, S. 10f., S. 25 und S. 95. 34 | BUDE, Das Altern einer Generation, S. 29. 35 | Vgl. SIEGFRIED, Sound der Revolte, S. 17. 36 | Vgl. BUDE, Das Altern einer Generation, S. 28.

2. ›1968‹ als wissenschaf tliches und erinnerungspolitisches Konstrukt

zu experimentieren.37 Diese gesellschaftlichen Grundbedingungen tragen zur Erklärung bei, warum es sich bei den ›68ern‹ hauptsächlich um Jugendliche, beziehungsweise junge Erwachsene aus dem akademischen Milieu handelte und die Protestbewegung von ›1968‹ demzufolge auch häufig als Studentenbewegung bezeichnet wurde.38 In der gesamten deutschen Geschichte existierte für den Kulturhistoriker Claus-Dieter Krohn kaum eine Rebellion, »die so ausschließlich von jüngeren Intellektuellen bestimmt wurde«39 wie die Revolte von ›1968‹. Zum studentischen Milieu der 68er-Generation sind also meist Personen aus den sozialen Mittel- und Oberschichten zu zählen, wobei im Übergang vom Elite- zum Massenstudium auch immer mehr Männer aus bildungsferneren Arbeiterfamilien den Weg zum Universitätsstudium fanden, ebenso wie Frauen, die sich den Zugang zur Universität oftmals gegen den Widerstand ihrer Familien erkämpfen mussten.40 Diese Generation an jungen Erwachsenen besaß durch ihre fundierte Schul- und Hochschulbildung überdurchschnittlich hohe Sprach- und Symbolisierungsfertigkeiten, so dass die Revolte ihren Ausdruck finden konnte.41 Betrachtet man das Jahr 1968 aufgrund der globalen Gleichzeitigkeit der Proteste, der wechselseitigen internationalen Bezugnahmen der Protestierenden aufeinander und der Entstehung eines weltweit verbreiteten gemeinsamen Lebensgefühls als Symbol der ersten globalen Generation, so spielt dabei der Studentenstatus eines Großteils der Akteure eine überaus bedeutende Rolle. Nur der Teil der Jugend, der als Generationselite Zugang zu Universitäten, politischen Organisationen und den kulturellen Zentren der Gesellschaft fand, hatte auch die Möglichkeit, im Rahmen einer globalisierten politischen Sphäre zu agieren, die sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre neu konstituierte. Innerhalb der Zuspitzungen des Kalten Krieges ist zudem auch der Vietnamkrieg als symbolisches Ereignis zu betrachten, an dem sich verschiedene nationale Konfliktfelder

37 | Vgl. SIEGFRIED, Sound der Revolte, S. 17. 38 | Vgl. LÜSCHER/LIEGLE, Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft, S. 28. 39 | KROHN, Claus-Dieter: Die westdeutsche Studentenbewegung und das ›andere Deutschland‹. In: Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2006, S. 695-718, hier S. 696. 40 | Vgl. RABEHL, Bernd: Zur archaischen Inszenierung linksradikaler Politik. Ursachen und Auswirkungen des politischen Existentialismus in der Studentenrevolte 1967/68. In: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Frankfurter Schule und Sudentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946-1995, Bd. 3, Hamburg 1998, S. 34-64, hier S. 37. 41 | Vgl. BREYVOGEL, Wilfried: Provokation und Aufbruch der westdeutschen Jugend in den 50er und 60er Jahren. Konflikthafte Wege der Modernisierung der westdeutschen Gesellschaft in der frühen Bundesrepublik. In: Ulrich Herrmann (Hg.): Protestierende Jugend. Jugendopposition und politischer Protest in der deutschen Nachkriegsgeschichte, Weinheim/München 2002, S. 445-459, hier S. 456.

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zwischen den Generationen bündelten und auf einen globalen Zusammenhang ausrichteten.42 Eine weitere Erfolgsbedingung der westdeutschen 68er-Bewegung mit ihrer Forderung nach Gesellschaftsveränderung, Modernisierung und Demokratisierung lag in der »politischen Transformationssperre der frühen sechziger Jahre.«43 In der Bundesrepublik war seit dem in den 1950er Jahren einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwung bei weiten Teilen der Kriegsgeneration Desinteresse an sozialen und politischen Fragen zu verzeichnen. Anstatt sich politisch zu involvieren und engagieren, verwirklichte sich diese Generation lieber durch wirtschaftlichen Erfolg und genoss als Ausgleich dazu ihre Freizeit im Privaten.44 In der zunehmend materialistisch ausgerichteten Wohlstandsgesellschaft entsprach es einer kollektiven Mentalität, sich nach gesellschaftlicher Harmonie und Stabilität zu sehnen und sich vom öffentlichen ins private Leben zurückzuziehen.45 In einer sich rapide verändernden Welt erschien die traditionell-konservative Politik und Kultur der Adenauerzeit der jungen Generation jedoch zunehmend als überholt und reaktionär. In dieser »postdiktatoriale[n] Anpassungsperiode«46, einer Zeit, in der sozialer und politischer Wandel eher stagnierten, setzten die aufkommenden Forderungen der ›68er‹ nach gesellschaftlicher Veränderung aufgestaute Energien des Fortschritts frei. Die 68er-Generation ist dementsprechend als »aktive Generation«, beziehungsweise »politische Generation« einzuordnen, da sie »mit einem Willen zur Veränderung der politischen Rahmenbedingungen auf[trat] und versucht[e], verändernd und stilbildend zu wirken.«47 Fragt man nach der Wirksamkeit der 68er-Bewegung als politische Kraft, so ist zunächst zu bedenken, dass es sich dabei um eine relativ kleine, radikale Gruppe aktiv Protestierender handelte. In einem Interview aus dem Jahr 1967 räumte Rudi Dutschke ein, dass der Kern der Bewegung in West-Berlin – dem Zentrum des politischen Protests48 – aus nur fünfzehn bis zwanzig voll engagierten Perso42 | Vgl. FIETZE, Historische Generationen, S. 224ff. 43 | BUDE, Das Altern einer Generation, S. 29. 44 | Vgl. ROSEMAN, Mark: Introduction: Generation conflict and German history 17701968. In: Ders. (Hg.): Generations in Conflict. Youth revolt and generation formation in Germany 1770-1968, Cambridge 1995, S. 1-46, hier S. 35 f; Vgl. SIEGFRIED, Sound der Revolte, S. 16f. 45 | Die Hinwendung zum Privaten und zum familiären ›Nestbau‹ in den 1950er Jahren ist als Reaktion auf die entbehrungsreichen Kriegs- und Nachkriegsjahre, sowie auf die aggressiven Eingriffe des NS-Staates in das Privat- und Intimleben zu betrachten. Vgl. HERZOG, Dagmar: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005, S. 131. 46 | HERBERT, Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, S. 110. 47 | LÜSCHER/LIEGLE, Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft, S. 110. 48  |  Die Proteste sprangen von den Berliner Universitäten, insbesondere von der FU Berlin auf die gesamte Bundesrepublik über. Die FU wurde im Jahr 1948 im amerikanischen

2. ›1968‹ als wissenschaf tliches und erinnerungspolitisches Konstrukt

nen bestehen würde. Dutschke war der Meinung, dass die Oppositionsbewegung darüber hinaus auf 150 bis 200 Aktivisten und auf insgesamt 4.000 bis 5.000 Unterstützer an der FU Berlin zurückgreifen könne.49 Wolfgang Kraushaar geht davon aus, dass in Städten wie Frankfurt am Main oder Marburg lediglich je fünfzig aktive, den antiautoritären Protest vorantreibende Personen zu finden waren.50 Die Zahl der Enthusiasmierten des linken Protestmilieus in ganz Westdeutschland setzt Ulrich Hebert bei 30.000 Personen an.51 Heinz Bude dagegen schätzt, dass die mobilisierbare Masse der bundesdeutschen 68er-Bewegung hingegen nur ungefähr 10.000 Leute umfasste. Bei dieser Annahme beruft sich Bude auf die Tatsache, dass zu einer der größten Demonstrationen der Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg am 18. Februar 1969 in Berlin etwa 12.000 Teilnehmer kamen.52 Wie es einer so kleinen gesellschaftlichen Teilgruppe dennoch gelang, der Zeit rund um das Jahr 1968 ihren Stempel aufzudrücken, lässt sich nur damit erklären, dass die 68er-Bewegung mit ihren Protesten offensichtlich einen gesamtgesellschaftlichen Trend erspürte, diesen explizit machte, zuspitzte und radikalisierte.53 Die Bezeichnung ›68er-Generation‹ entstand erst zu Beginn der 1980er Jahre und wurde von einer neuen Jugendbewegung als Negativzuschreibung eingeführt. Die Hausbesetzerbewegung wollte sich durch die Einführung dieser Diskursfigur von den politischen Einstellungen und Lebensweisen der vorhergehenden Protestgeneration abgrenzen. Vor der Durchsetzung des Generationenbegriffs wurde die 68er-Revolte als APO, antiautoritäre Bewegung oder Studentenbewegung thematisiert.54 Zum einen wurde das Kürzel ›68er‹ von den Medien konsequent aufgegriffen und setzte sich schnell im allgemeinen Sprachgebrauch Sektor gegründet, um westliche Werte und demokratische Prinzipien zu vermitteln. Zu Beginn wurde den Studierenden ein relativ hohes Maß an studentischer Mitverwaltung zugesprochen, jedoch in den späten 1950er Jahren vom Senat wieder stark eingeschränkt. Nirgendwo war der Widerspruch zwischen einem explizit formulierten Demokratisierungsanspruch und dem realen Ausschluss der Studentenschaft von institutionellen und politischen Entscheidungen offensichtlicher als an der FU Berlin. Hinzu kam, dass es immer mehr Studenten nach Berlin zog, die aus politischen Gründen den Wehrdienst verweigern wollten. Im akademischem Umfeld der FU Berlin herrschte außerdem zu dieser Zeit das dichteste Netz an gesellschaftskritischen Diskussionsforen. Vgl. SCHULZ, Kristina: Studentische Bewegungen und Protestkampagnen. In: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.): Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a.M. 2008, S. 417-446, hier S. 422f. 49 | Interview mit Rudi Dutschke am 3. Dezember 1967. In: GAUS, Günter: Was bleibt, sind Fragen. Die klassischen Interviews, Berlin 2000, S. 433-451, hier 448f. 50  |  Vgl. Wolfgang Kraushaar zitiert nach: BUDE, Das Altern einer Generation, S. 41f. 51 | Vgl. HERBERT, Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, S. 113. 52 | Vgl. BUDE, Das Altern einer Generation, S. 48. 53 | Vgl. HERBERT, Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, S. 113. 54 | Vgl. KÄTZEL, Frauenrolle und Frauenbewusstsein, S. 323.

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durch, zum anderen begannen auch ehemalige Aktivisten von ›1968‹ sich nachträglich als 68er-Generation zu gerieren und identifizieren.55 Mit der Umcodierung der Oppositionsbewegung zur 68er-Generation fand eine retrospektive Vermehrung der Personen statt, die sich ex post als Mitglieder dieser Jahrgangsgemeinschaft ausgaben und das Label ›68er‹ für sich beanspruchten. Plötzlich zählten sich sogar Personen zur 68er-Generation, die nie aktiv an den Protesten von ›1968‹ teilgenommen hatten. Ausschlaggebend war nicht die reale Erfahrung des politischen Aktionismus, sondern vielmehr das Gefühl, ein ›68er‹ zu sein, beziehungsweise der 68er-Generation anzugehören, die einen historischen Wandel erwirkt hat.56 Der Historiker Bernd Weisbrod betont die emotionale Dimension der nachträglichen Vermehrung der 68er-Generation: »Es war das spezifische empathische Gruppengefühl […], das Generationalität gestiftet hat, das Gefühl nämlich, einer auserlesenen Gruppe anzugehören, deren nachholende politischöffentliche Vergewisserung sie erst zur Generation machte.«57 Generationelle Zusammengehörigkeit ergibt sich folglich zu einem nicht unwesentlichen Teil durch gemeinsam erlebte Gefühle und die nachträgliche Erinnerung daran. Emotionen verbinden und mobilisieren Individuen mindestens ebenso stark wie gemeinsame Erlebnisse.58 Das Konzept der Generation und auch der sozialen Bewegung als Gefühlsgemeinschaft mit einem gruppenspezifischen Emotionsfundament ist von besonderer Bedeutung für die vorliegende Untersuchung.

2.3 D ie › 68 er -G ener ation ‹ als männliche G ener ation »In der Regel meinen diese umgangssprachlichen und politisch-öffentlichen Ge-

nerationenzuschreibungen ausschließlich die männlichen Angehörigen von Altersgruppen«59, resümiert die Kulturhistorikerin Ute Daniel über die geschlechtliche Struktur der Generationszusammenhänge des 19. und 20. Jahrhunderts. Die männliche Codierung des Generationenbegriffs erklärt sich Daniel durch 55  |  Gemäß Albrecht von Lucke griffen die ›68er‹ bereits zeitgenössisch zur Hochphase der Bewegung auf generationelle Deutungsmuster zurück. Dies geschah jedoch nicht bewusst zur Schaffung einer eigenen generationellen Identität, sondern zur Abgrenzung von der kriegsbelasteten Elterngeneration, die pauschalisierend als ›Nazi-Generation‹ diffamiert wurde. Vgl. VON LUCKE, Albrecht: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht, Berlin 2008, S. 19. 56 | Vgl. BUDE, Das Altern einer Generation, S. 39f. 57  |  WEISBROD, Bernd: Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 55 (2005), Heft 8, S. 3-9, hier S. 8. 58  |  Vgl. KNOCH, Habbo: Gefühlte Gemeinschaften. Bild und Generation in der Moderne. In: Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 295-319, hier S. 301f. 59 | DANIEL, Kompendium Kulturgeschichte, S. 333.

2. ›1968‹ als wissenschaf tliches und erinnerungspolitisches Konstrukt

die allgemeine, geschlechterstereotype Erwartungshaltung an das männliche Geschlecht, die politische Öffentlichkeit wirksam und aktiv gestalten und verändern zu können.60 Der androzentrische Generationenbegriff impliziert, dass Geschichte und Politik ausschließlich von Männern gemacht sei. Dementsprechend geht der Kulturwissenschaftler Kaspar Maase in einem historischen Rückblick davon aus, dass die »politisch und sozialprogrammatisch aufgeladenen Generationsentwürfe zwischen Sturm und Drang und den 68ern allesamt einen männlich bias hatten und haben.«61 Auch Christina Benninghaus bestätigte jüngst in einer Studie, dass in der Vergangenheit hauptsächlich Männer als Repräsentanten von Generationen im Sinne von sozialen Einheiten wahrgenommen wurden und Männer auch häufiger selbst daran interessiert waren, sich als Angehörige einer Generation darzustellen. Generationelle Eigenschaften wurden gemäß der Historikerin im 19. und 20. Jahrhundert vor allem Männern zugeschrieben, wobei ein mit männlich-jugendlicher Stärke und Zukunftsorientierung assoziiertes Generationenbild entworfen wurde.62 In dieser Weise gerierten sich auch die Akteure der maskulin dominierten 68er-Bewegung nachträglich als Mitglieder einer männlichen Generation im Sinne einer ›imagined community‹.63 Gemäß dem Geschichtswissenschaftler Riccardo Bavaj war nicht nur die linke Protestkultur rund um das Jahr ›1968‹ fest in Männerhand, sondern auch die retrospektive geschichtspolitische Deutungshoheit über die Ereignisse und Folgen der Proteste: »Denn so wie die 68er-Revolte zu großen Teilen einer nach klassischen Rollenmustern verlaufenden Männergeschichte ähnelte, war auch das Reden darüber eine männliche Angelegenheit – zumal im universitären Bereich.«64 Eine hegemonial männliche Repräsentation

60  |  Frauen und Mädchen hatten in der historischen Forschung zu Generationen bislang eine marginale Stellung inne. Frauengenerationen konnten sich im 19. und 20. Jahrhundert laut Daniel am ehesten durch Aktivitäten in Frauenbewegungen öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen. Vgl. DANIEL, Kompendium Kulturgeschichte, S. 333. 61 | MAASE, Kaspar: Farbige Bescheidenheit. Anmerkungen zum postheroischen Generationsverständnis. In: Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffes, Hamburg 2005, S. 220-242, hier S. 228. 62  |  Benninghaus befragt das breit rezipierte Generationenkonzept Karl Mannheims auf seine geschlechtliche Codierung und findet heraus, dass sich Mannheims Begriff der Generation lediglich auf »die Gruppe der artikulationsfähigen jungen Männer mit bürgerlichem Hintergrund« bezog und diese als »selbstbewusste ›Kämpfer‹ für eine bessere Zukunft« darstellte. Vgl. BENNINGHAUS, Christina: Das Geschlecht der Generation. Zum Zusammenhang von Generationalität und Männlichkeit um 1930. In: Ulrike Jureit/Michael Wildt (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffes, Hamburg 2005, S. 127-158, hier S. 158. 63 | Vgl. BENNINGHAUS, Das Geschlecht der Generation, S. 129. 64 | BAVAJ, ›68er‹ versus ›45er‹, S. 69.

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von ›1968‹, wie sie auch die Geschlechterforscherin Susanne Maurer diagnostiziert, besteht folglich in doppelter Hinsicht auf zwei zeitlichen Ebenen.65 Zunächst weisen zeitgenössische Medien- und Selbstzeugnisse, wie fotografische und filmische Aufnahmen von Demonstrationen und Kongressen, Tonbandaufnahmen von Reden in überfüllten Hörsälen, Interviews in Printmedien oder auch die zeitgenössische Autorenschaft von ›1968‹ auf eine Dominanz des männlichen Geschlechts innerhalb der 68er-Bewegung hin. Die Anführer und Symbolfiguren der Protestkultur waren allesamt Männer, wie Maurer in einem einfachen ikonografischen Experiment beweist. Die Geschlechterforscherin fragt danach, welche Namen und vor allem Gesichter von Frauen der Protestbewegung neben populären Wortführern wie Rudi Dutschke, Bernd Rabehl, Hans-Jürgen Krahl oder auch Rainer Langhans und Dieter Kunzelmann bekannt und geläufig seien. Die Frage erweist sich als eine rhetorische, da die Antworten ausbleiben.66 Weibliche Protagonistinnen der westdeutschen 68er-Bewegung blieben dagegen zeitgenössisch zumeist im Hintergrund und erlangten keinen nachhaltigen öffentlichen Bekanntheitsgrad.67 Als maskulin codierte Bewegung muss die Revolte rund um das Jahr 1968 darüber hinaus auch insofern begriffen werden, als dass in den späten 1960er Jahren an den Universitäten auf drei Studenten allenfalls eine Studentin entfiel.68 Männer waren im akademischen Milieu, in dem die Protestbewegung ihren Ausgang fand, den Frauen nicht nur zahlenmäßig überlegen,

65 | Vgl. MAURER, Gespaltenes Gedächtnis, S. 120. 66 | Vgl. MAURER, Gespaltenes Gedächtnis, S. 120. 67  |  Die innerhalb der bundesdeutschen 68er-Bewegung medial bekannteste Frau ist wohl das Münchner Fotomodell Uschi Obermaier, das im Herbst 1968 zu ihrem Freund Rainer Langhans in die Kommune I zog. Obermaier war jedoch keine aktive, politisch interessierte Aktivistin, sondern wurde eher für ihren ausschweifenden und hedonistischen Lebensstil innerhalb der Popkultur der 1960er Jahre berühmt. Politische Aktivistinnen der antiautoritären Revolte wie Helke Sander, Sigrid Damm-Rüdiger, Gretchen Dutschke-Klotz oder viele andere blieben jedoch weitgehend unbekannt. 68  |  Gemäß der Umfrage ›Student und Politik Sommer 1967‹ des Instituts für Demoskopie Allensbach betrug das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Studierenden im Jahr 1967 bundesweit 76 zu 24 Prozent. Im Jahr 1968 in West-Berlin lag der Frauenanteil unter den Studierenden bei 22 Prozent und der Männeranteil dementsprechend bei 78 Prozent. Vgl. ALY, Götz: Unser Kampf. 1968, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2008, S. 49. Eine Auswertung der Daten des Statistischen Bundesamtes zum Frauenanteil an Universitäten bestätigt, dass zur Zeit der 68er-Revolte ungefähr eine Studentin auf drei Studenten kam. Gemäß dieser Statistik machten weibliche Studierende im Jahr 1968 einen Anteil von ca. 28 Prozent der bundesdeutschen Studentenschaft aus. Vgl. WERMUTH, Nanny: Frauen an Hochschulen. Statistische Daten zu den Karrierechancen (Studien zu Bildung und Wissenschaft, Bd. 105), Bad Honnef 1992, S. 1.

2. ›1968‹ als wissenschaf tliches und erinnerungspolitisches Konstrukt

sondern dominierten auch Planung, Organisation, inhaltliche Gestaltung und Durchführung des politischen Protests.69 Des Weiteren unterliegt auch die Geschichtsschreibung70, die nachträgliche bilanzierende Debatte und autobiografische Deutung von ›1968‹ ebenfalls stark männlichen Einflüssen. Die Erinnerung an die Revolte und deren mehr oder minder nach wissenschaftlichen Standards verfahrende Aufarbeitung ist fest in der Hand ehemaliger Aktivisten der Bewegung. Der Historiker Norbert Frei vermutet, dass der Drang nach fantasiereicher und narzisstischer Selbstauslegung in den Habitus der männlichen ›68er‹ übergangen sei: »Als ihre eigenen Interpreten sind ›die 68er‹ noch immer am ehesten bei sich. ›68er‹ sein, hieß schon damals und heißt bis heute, über ›68‹ zu reden […] und sich gerade so die Deutungshoheit über das Gewesene zu sichern.«71 So lässt sich auch die Fixierung der Medien auf die prominenten männlichen Mitglieder der Protestgeneration erklären, die sich in zahlreichen Publikationen und öffentlichen Stellungnahmen als Macher der antiautoritären Revolte, beziehungsweise als Repräsentanten der 68er-Generation darstellen. Allein an der Aussparung der weiblichen Begrifflichkeit ›68erinnen‹, wie erst Ute Kätzel sie im Jahr 2002 eingeführt hat, lässt sich ein Unterordnen und Vergessen des Frauenanteils der Bewegung ausmachen.72 »Eine identitäre Verortung von Frauen ist nur im Rahmen politischer, männlich geprägter Ereignisse möglich«,73 stellt die Historikerin Eva-Maria Silies über das Fehlen generationeller Eigen- und Fremdzuschreibungen von Frauen als ›68erinnen‹ fest. Rückblickend wird die oppositionelle Bewegung also »primär von Männern öffentlich gefeiert, diskutiert und analysiert.«74 Bereits im Jahr 1988 wusste Franz Schneider, selbst ein ehemaliger APO-Aktivist, von der »burschenseligen« Jubiläumslust der ›68er‹ als männerbündisch strukturierter Gemeinschaft zu berichten.75 Auch bei Treffen ehemaliger Aktivisten zur nachträglichen Diskussion des Erfolgs, beziehungsweise des Scheiterns der Protestbewegung wie im Jahr 69 | Vgl. BUSCHE, Die 68er, S. 29; Siehe auch: Kapitel 3.3. Die Ordnung der Geschlechter in SDS und Kommunen. 70 | Zahlreiche ehemalige Akteure der 68er-Bewegung haben akademische Karrieren im sozial- oder geisteswissenschaftlichen Bereich zurückgelegt und setzen sich häufig als Geschichts- oder Politikwissenschaftler mit der selbst erlebten Rebellion von ›1968‹ auseinander, so zum Beispiel Götz Aly, Gerd Koenen oder Siegward Lönnendonker. 71 | FREI, Jugendrevolte und globaler Protest, S. 211. 72 | Vgl. VERLINDEN, ›Wir können […] nicht auf die Zeit nach der Revolution warten‹, S. 89. 73 | SILIES, Eva-Maria: Liebe, Lust und Last. Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960-1980 (Göttinger Studien zur Generationsforschung, Bd. 4), Göttingen 2010, S. 375. 74 | FLÜGGE, Sibylla: 1968 und die Frauen, S. 265. 75  |  Vgl. SCHNEIDER, Franz: Dienstjubiläum. In: Ders. (Hg.): Dienstjubiläum einer Revolte. ›1968‹ und 25 Jahre, 2. Aufl., München 1993, S. 9-28, hier S. 9.

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1987 oder 1998, war die Anzahl der teilnehmenden Frauen sehr begrenzt.76 Buchprojekte, die ehemaligen Bewegten von ›1968‹ ein Forum zur Darstellung ihres persönlichen Erlebens der Protestjahre bieten, werden – wie ein Herausgeber anmerkt – unversehens »zu einer ausgesprochenen Männerdomäne«77. Biografische Porträts von ›68erinnen‹ »sind leider Mangelware in diesem Buch«78 merken etwa Karl-Heinz Heinemann und Thomas Jainter im Vorwort ihres Sammelbandes an. Die Frauenforscherin Henrike Hülsbergen kritisiert darüber hinaus, dass in Presse, Funk und Fernsehen überwiegend die männlichen »Polit-Zampanos«79 zum Thema ›1968‹ befragt werden: »Zu Diskussionsrunden wird eine Alibifrau eingeladen, in den Beiträgen und Dokumentationen dominiert das Interesse an der Politikvergangenheit der Genossen.«80 Die bereits in den 1970er Jahren einsetzenden und bis heute andauernden erinnerungspolitischen Deutungskämpfe um das Bild von ›1968‹ wurden und werden folglich so gut wie ausschließlich zwischen Männern ausgetragen.

76  |  Siehe: SCHAUER, Helmut (Hg.): Prima Klima. Wider dem Zeitgeist: Erste gnadenlose Generaldebatte zur endgültigen Klärung aller unzeitgemäßen Fragen. 21.–23. Nov. 1986 in Frankfurt am Main. Protokolle, Hamburg 1987; LÖNNENDONKER, Siegward (Hg.): Linksintellektueller Aufbruch zwischen ›Kulturrevolution‹ und ›kultureller Zerstörung‹. Der SDS in der Nachkriegsgeschichte (1946-1969). Ein Symposium (Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Bd. 83), Opladen/Wiesbaden 1998. 77  |  GESTER, Jochen: Warum ein Buch über ›1968‹ – und dann? Vorwort. In: Ders./Willi Hajek (Hg.): 1968 – und dann? Erfahrungen, Lernprozesse und Utopien der Bewegten der 68er-Revolte, 2002 Bremen, S. 7-17, hier S. 17. 78 | HEINEMANN, Karl-Heinz/JAINTER, Thomas: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Ein langer Marsch. 1968 und die Folgen, Köln 1993, S. 7-9, hier S. 9. 79 | HÜLSBERGEN, Henrike: ›Wir wollten etwas Neues, anderes …‹. Studentinnen an der Freien Universität während der Studentenbewegung. In: Dies./Christine Färber (Hg.): Selbstbewußt und frei: 50 Jahre Frauen an der Freien Universität Berlin, Königstein/Taunus 1998, S. 140-168, hier S. 140. 80 | HÜLSBERGEN: ›Wir wollten etwas Neues, anderes …‹, S. 140.

3. Akteure der Revolte

Als Akteure der Revolte von ›1968‹ stehen in dieser Studie der SDS und die daraus hervorgehenden Berliner Kommunen I und II im Zentrum des Forschungsinteresses. Insofern liegt der Fokus auf dem studentischen Umfeld der Protestbewegung, wobei mit dem SDS als theorie- und politikdominierte, intellektuelle Neue Linke und den Kommunen als hedonistisches Selbstverwirklichungsmilieu zwei verschiedenartige subkulturelle Strömungen des Protestmilieus untersucht werden. Ausgewählt wurden der SDS sowie die Kommunen I und II wegen ihrer herausgestellten Bedeutung für die Kultur und den Verlauf der bundesdeutschen 68er-Bewegung. Trotz des Fokus auf den studentischen Verband und die Wohngemeinschaften soll in dieser Arbeit der Blick auf weitere vernetzte Trägergruppen der Protestbewegung nicht verstellt sein. Am Rande werden deshalb auch Akteure und Gruppierungen Beachtung finden, die keine Mitglieder des SDS oder Bewohner der SDS-nahen Berliner Kommunen waren, aber dennoch als Teil der antiautoritären Revolte zu betrachten sind. Als minimale Definition für einen Protagonisten der Revolte sind die aktive Beteiligung an den Protesten rund um das Jahr 1968 und das Teilen ideeller Wert- und Denksysteme der 68er-Bewegung ausschlaggebend. Im Folgenden soll zunächst die Geschichte und politische Entwicklung des SDS und der Kommunen I und II illustriert werden und anschließend Aufschluss über die Zusammensetzung und Ordnung der Geschlechter in dem Studentenverband und den Wohnkommunen gegeben werden.

3.1 S ozialistischer D eutscher S tudentenbund (SDS) Obwohl der SDS zwischen den Jahren 1967 und 1969 gemäß Wolfgang Kraushaar kaum mehr als 2.000 Mitglieder zählte, »so galt er doch vielen als der eigentliche Urheber der Unruhen, die die Republik erschütterten.«1 Der SDS war ein politischer Studentenverband, der im Jahr 1946 in Hamburg auf Betreiben des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) hin als Nachwuchs1  |  Wolfgang Kraushaar, in: FICHTER/LÖNNENDONKER: Kleine Geschichte des SDS, S. 8.

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organisation der Sozialdemokratie gegründet wurde und als Rekrutierungsfeld für sozialdemokratische Spitzenfunktionäre diente. Der föderal strukturierte Verband war nahezu an allen bundesdeutschen Universitäten vertreten und gliederte sich nach dem Delegiertenprinzip in Bundesvorstand, Landesverbände und regionale Gruppen.2 Ende der 1950er-Jahre hatte die SPD eine Kursänderung vorgenommen, aus der Arbeiterpartei war eine Volkspartei geworden. Mit dem im Jahr 1959 in Bad Godesberg erstmals vorgestellten Parteiprogramm bekannte sich die SPD zur Markt- und Erwerbswirtschaft und sagte sich damit vom Antikapitalismus der marxistischen Weltanschauung los.3 Die Linkssozialisten der SPD und die Mehrheit des SDS hielten jedoch an einer wissenschaftlich fundierten Sozialismuskonzeption fest und warfen der SPD Anpassung und Resignation vor. Nach jahrelangen Konflikten bildete der rechte Flügel des SDS eine neue, parteiloyale Studentenorganisation, den SHB4, worauf der Parteivorstand der SPD sich am 29. Juli 1961 durch einen Unvereinbarkeitsbeschluss vom mehrheitlichen linken Flügel des SDS trennte.5 Der Abschied von der Mutterpartei SPD war für den SDS eine Chance zur programmatischen Neuorientierung. Rezipiert wurden vor allem neomarxistische Theoretiker, die in den USA, Großbritannien und Frankreich ihre Reaktualisierung und Neuinterpretation sozialistischer Politikkonzepte unter dem Anspruch einer New Left beziehungsweise einer Nouvelle Gauche formulierten.6 Innerhalb des westdeutschen SDS formierte sich zwischen 1960 und 1964 ebenfalls eine Neue Linke, die sich durch folgende Ideen von der alten Linken abgrenzte: Zunächst bestimmte die Neue Linke das Ziel einer neuen Grundlagenkritik des Politischen. Man ging davon aus, dass in der modernen Gesellschaft der Bundesrepublik die Machtelite ihre Herrschaft nicht durch Gewalt ausübte, sondern über eine subtile Manipulation durch die Kulturindustrie und die Ideologie des Antikommunismus. Folglich stand für die Neue Linke nicht mehr die Klassenherrschaft, sondern der militärisch-industrielle Komplex des autoritären Staates, bestehend aus Militärs, Großkonzernen und Regierungsbürokratien im Zentrum ihrer Gesellschaftskritik. Wegen ihrer programmatischen Bekämpfung einer bürokratischen Machtelite lehnte es die Neue Linke auch ab, sich selbst in bürokratischen Parteien zusammenzuschließen und zog eine Organisation in dezentralen, informellen Netzwerken vor. Politische Aktionen sollten dement2 | Vgl. SCHULZ, Studentische Bewegungen und Protestkampagnen, S. 435. 3 | Vgl. KRAUSHAAR, Wolfgang: Denkmodelle der 68er-Bewegung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 51 (2001), Heft 22-23, S. 14-27, hier S. 16. 4  |  Nach seiner Abgrenzung vom SDS zu Beginn der 1960er Jahre näherte sich der SHB bereits Mitte der 1960er dem SDS wieder an und entwickelte sich kontinuierlich nach links. 5 | Vgl. SCHMIDTKE, Der Aufbruch der jungen Intelligenz, S. 46ff. 6 | Vgl. RICHTER, Pavel: Die Außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik Deutschland 1966 bis 1968. In: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): 1968 – vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998, S. 35-55, hier S. 41.

3. Akteure der Revolte

sprechend durch spontane Kooperation einzelner Gruppen vollzogen werden, die nicht mehr einer strikten Parteidisziplin folgen mussten. Darüber hinaus bestimmte die Neue Linke ein neues revolutionäres Subjekt. Statt der organisierten Arbeiterbewegung, sollte die junge Intelligenz zum Katalysator des gesellschaftlichen und politischen Wandels werden. Außerdem ging man nicht mehr wie die alte Linke davon aus, dass einer politischen Revolution die Veränderung der soziokulturellen Verhältnisse automatisch folgen würde, vielmehr wollte man eine politische Transformation durch die Veränderung mentaler Strukturen einleiten. Die Neue Linke forderte den Ausbau von Mitbestimmungsrechten im ökonomischen Produktionsbereich, aber auch im privaten Reproduktionsbereich. Eine Revolution gesellschaftlicher Werte, Einstellungen und Moralvorstellungen stand also seit Beginn der 1960er Jahre auf dem Programm der Neuen Linken.7 Besonderen Einfluss auf die Entwicklung einer Neuen Linken und schließlich auch der studentischen Protestbewegung hatte in der Bundesrepublik die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, zu der Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas, Friedrich Pollock, Herbert Marcuse und Walter Benjamin gezählt werden. Im Gegensatz zur traditionellen Theorie, die das Gegebene als unhinterfragbaren Ausgangspunkt des Denkens ansah, wurde die Kritische Theorie als eingreifendes Denken begriffen. Das primäre Forschungsinteresse der Kritischen Theorie galt der Untersuchung gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge. Die Frankfurter Schule entwickelte eine ökonomisch fundierte Gesellschaftsanalyse im Anschluss an Karl Marx, kombiniert mit Sigmunds Freuds Konzept der Psychoanalyse.8 Bereits in den 1950er Jahren galten Horkheimers und Adornos Seminare in der linken Studentenschaft als Geheimtipp und in den 1960er Jahren entwickelte sich eine Generation an Studenten, die häufiger widersprach und die hermetische Geschlossenheit der Theorie kritisierte.9 Im Umfeld des Frankfurter Instituts für Sozialforschung unter der Leitung Horkheimers und Adornos entstand neben Berlin ein weiteres Zentrum oppositioneller Aktivitäten.10 Seminarthemen wie zeitgenössische Philosophie und Kritik, soziologische Bestandaufnahmen der Epoche, die Geschichte der historischen Arbeiterbewegung, der Opposition und Revolution sowie der Diktaturen von Hitler und Stalin wirkten sich auf das Bewusstsein und die Einstellung der SDS-Mitglieder aus.11 Hinzu kam, dass der SDS bereits kurz nach der Trennung von der Mut7 | Vgl. SCHMIDTKE, Der Aufbruch der jungen Intelligenz, S. 54ff. 8  |  Vgl. MÜNKLER, Herfried: Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule. In: Karl Graf Ballestrem/Henning Ottmann (Hg.): Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München/ Wien 1990, S. 179-210, hier S. 179f. 9  |  Vgl. GILCHER-HOLTEY, Ingrid: Kritische Theorie und Neue Linke. In: Dies. (Hg.): 1968 – vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998, S. 168-187, hier S. 178. 10 | Vgl. SCHULZ, Studentische Bewegungen und Protestkampagnen, S. 423. 11 | Vgl. RABEHL, Zur archaischen Inszenierung linksradikaler Politik, S. 36.

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terpartei an fast allen bundesdeutschen Universitäten autonome, sozialistische Arbeitskreise schuf, in denen die Studenten sich systematisch die grundlegenden Texte des Marxismus und der Kritischen Theorie aneignen konnten.12 Der SDS entwickelte sich zur Mitte der 1960er Jahre zum Sammelbecken dissidenter universitärer Intellektueller und Linkskräfte auf der Suche nach einer neuen ideologischen Orientierung. Im Jahr 1965 traten Rudi Dutschke, Dieter Kunzelmann und Bernd Rabehl in den Berliner Landesverband ein und begannen einen dem Selbstverständnis nach ›antiautoritären Flügel‹ innerhalb des SDS aufzubauen, der zunächst keineswegs die Mehrheit des SDS besaß, jedoch rasch bedeutenden Einfluss gewann. Mit dem Ausbau dieses neuen politischen Flügels als Kraftzentrum im Berliner SDS entzündete sich ein Konflikt darüber, mittels welcher Organisations- und Aktionsformen die angestrebte gesellschaftliche Veränderung am effektivsten möglich sei. Während die linkssozialistischen Traditionalisten auf das altgediente Prinzip ›Aktion durch Organisation‹ beharrten, forderte der antiautoritäre Flügel die Aufnahme direkter Aktionsformen und die Einführung dezentraler und antihierarchischer SDS-Gruppen und Initiativen, die autonom und selbstbestimmt agieren sollten.13 Die Divergenzen innerhalb des SDS zwischen der linkssozialistischen Fraktion, die den marxistischen Traditionen der deutschen Arbeiterpartei verhaftet war, und der antiautoritären Fraktion, die sich betont antiinstitutionell und antibürokratisch gab und das Theorieangebot der Neuen Linken einbrachte, konnten nie überwunden werden und trugen auch zu dessen Auflösung im Jahr 1970 bei.14 Die drei Ideengeber der antiautoritären Gruppierung im SDS Dutschke, Kunzelmann und Rabehl stammten aus der Politgruppe Subversive Aktion.15 Ausgehend vom Bewusstsein, dass der gesellschaftliche Umsturz durch viele kleine Revolutionen herbeigeführt werden könne, betrachteten die Mitglieder der Subversiven Aktion die provokante Aktion als ihr spezielles Kampfmittel und als zentrale Technik der Bewusstseinsveränderung mit aufklärerischer Wirkung. 12 | Vgl. GÖRTEMAKER, Manfred: Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 2002, S. 198. 13 | Vgl. SCHULZ, Studentische Bewegungen und Protestkampagnen, S. 436f. 14 | Vgl. BAVAJ, Riccardo: Die ’68er-Bewegung – Ursprünge und Grundzüge des politischen Denkens der antiautoritären Führungsspitze um Rudi Dutschke. In: Ders./Florentine Fritzen (Hg.): Deutschland – ein Land ohne revolutionäre Traditionen? Revolutionen im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts im Lichte neuerer geistes- und kulturgeschichtlicher Erkenntnisse, Frankfurt a.M. 2005, S. 121-135, hier S. 126. 15 | Die Subversive Aktion war zunächst eine Münchner Politgruppe um Dieter Kunzelmann, Frank Böckelmann und Herbert Nagel. Sie verband Ideen der europäischen, linksradikalen Künstlergruppe Situationistische Internationale mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und entwickelte das Konzept mit provokanten Aktionsformen politisch zu agitieren. Weitere ›Mikrozellen‹ der Subversiven Aktion bildeten sich in Berlin, Nürnberg, Stuttgart und Frankfurt. Vgl. SIEGFRIED, Time Is On My Side, S. 477.

3. Akteure der Revolte

Der antiautoritäre Flügel des SDS setzte sich in den folgenden Jahren mit seinem Konzept durch, Gesellschaftsveränderung durch politische Analyse und Massenmobilisierung herbeizuführen. Als im Jahr 1965 verstärkt studentische Unruhen an der FU Berlin aufkamen und die studentischen Forderungen nach einer grundsätzlichen Umgestaltung, Enthierarchisierung und Demokratisierung der Hochschulen laut wurde, ging man erstmals über appellative und demonstrative Formen des Protests hinaus und erprobte provokative, die alltägliche Routine unterbrechende Aktionsformen. Die vom SDS organisierten Protestaktionen waren inspiriert von den in der US-amerikanischen Bürgerrechts- und Studentenbewegung praktizierten Demonstrationstechniken, wie Sit-ins, Go-ins oder Teach-ins. Das Prinzip der begrenzten Regelverletzung fand auch innerhalb der bundesdeutschen Oppositionsbewegung Anwendung.16 Der zu Beginn der 1960er Jahre noch relativ unbedeutende Studentenverband, der an den Universitäten eher ein Schattendasein geführt hatte, wurde zur Mitte des Jahrzehnts »zum organisatorischen und inhaltlichen Motor des Protests.«17 Der Verband entwickelte sich in den folgenden Jahren vom wichtigsten Träger der studentischen Proteste zum »eigentlichen Führungszentrum«18 der gesamten 68er-Bewegung, die sich gesamtgesellschaftlich relevanten Themen von politischer Brisanz widmete. »Der SDS stand unvermittelt an der Spitze einer Protestbewegung, die jenseits des etablierten politischen Spektrums der Bundesrepublik stand.«19 Als sich im Jahr 1966 eine große Koalition aus der Christlich Demokratischen Union (CDU) und der SPD unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger bildete, formierte sich der SDS zum maßgeblichen Vertreter der Außerparlamentarischen Opposition, der wichtigsten politischen Gegenkraft dieser Zeit. Durch die Bildung einer Großen Koalition waren im Deutschen Bundestag die politischen Einflussmöglichkeiten der parlamentarischen Opposition, nämlich der Freien Demokratischen Partei (FDP), verschwindend gering. Der SDS befürchtete, dass das Fehlen einer starken Oppositionspartei zur Schwächung der demokratischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland führen könnte. Die größte Sorge des studentischen Verbandes bestand darin, dass unter der Großen Koalition die geplante Notstandsgesetzgebung, die die Freiheitsrechte des Grundgesetzes beschneiden sollte, verabschiedet werden würde.20 »Auf fast allen Politikfeldern […] spielte der SDS für die Außerparlamentarische Opposition die

16 | Vgl. GÖRTEMAKER, Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 199f. 17 | GÖRTEMAKER, Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 198. 18 | LANGGUTH, Gerd: Mythos ’68. Die Gewaltphilosophie von Rudi Dutschke. Ursachen und Folgen der Studentenbewegung, München 2001, S. 11. 19  |  STEFFEN, Mona: SDS, Weiberräte, Feminismus? In: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Frankfurter Schule und Sudentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 19461995, Bd. 3, Hamburg 1998, S. 126-140, hier S. 128. 20 | Vgl. ALBRECHT, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), S. 467.

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Vorreiterrolle«21, resümiert der Historiker Willy Albrecht über die herausgehobene Stellung des SDS für die politische Protestwelle der späten 1960er Jahre. Neben dem Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung dominierten innerhalb der konkreten politischen Agenda des westdeutschen SDS der Protest gegen den als imperialistisch begriffenen Krieg der USA in Vietnam, sowie die sogenannten Anti-Springer-Aktionen. Der SDS sah durch die Monopolstellung des Presseimperiums von Axel Springer die demokratischen Prinzipien von Meinungsbildung und -vielfalt gefährdet. Die Zeitschriften und Zeitungen des konservativ, national und staatsaffirmativ eingestellten Springer-Verlages verfolgten eine strikte antikommunistische und antistudentische Linie und etablierten sich im Laufe der 1960er Jahre als Gegenpol der Linken.22 Für viele SDS-Mitglieder wurde der politische Protest in dieser Zeitspanne zum zentralen Lebensinhalt: Das Organisieren und Veranstalten von Demonstrationen, Besetzen von Hochschulinstituten, Aufhängen von Plakaten, Drucken von Flugblättern und Zeitungen und das Führen von Diskussionen bestimmten den Alltag der studentischen Aktivisten. Auf diesem äußeren Höhepunkt der 68er-Bewegung begann die studentische Bewegung unter der Führung des SDS jedoch innerlich zu verebben.23 Die Verabschiedung der Notstandsgesetze am 30. Mai 1968 und die dadurch hergerufene Frustration über die Erfolglosigkeit der zahlreichen Protestaktionen werden häufig als Anfang vom Ende der Studentenbewegung begriffen.24 Obwohl das öffentliche Klima spätestens seit dem Attentat auf Rudi Dutschke zugunsten der rebellierenden Studenten gekippt war und eine Mobilisierung von den mit dem SDS sympathisierenden Studentenmassen geglückt war, konnte der Verband den Zustrom an potentiellen neuen Mitgliedern nicht mehr kanalisieren und organisieren. Es gelang immer weniger, Neuankömmlinge als ordentliche Mitglieder aufzunehmen und zu integrieren. Versammlungen waren heillos überfüllt und die enorme Bandbreite der Diskussionsthemen war kaum noch zu bewältigen. Die Suche nach neuen Organisationsformen, um den Verband umstrukturieren und damit zu retten, überforderte die führenden SDS-Mitglieder. Sie konnten sich nicht auf ein neues Organisationsmodell einigen, worauf der SDS mehr oder weniger im Chaos versank.25 Dynamik, Intensität und Tempo waren gemäß Wolfang Kraushaar zu selbstzerstörerischen Charakteristika der 68er-Bewegung geworden.26

21 | ALBRECHT, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), S. 461. 22 | Vgl. KRUIP, Gudrun: Das ›Welt‹-›Bild‹ des Axel-Springer Verlags. Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen, München 1999, S. 223ff. 23 | Vgl. JARAUSCH, Konrad: Deutsche Studenten, 1800-1970, Frankfurt a.M. 1984, S. 228f. 24 | Vgl. ALBRECHT, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), S. 467. 25 | Vgl. STEFFEN, SDS, Weiberräte, Feminismus, S. 128f. 26 | Vgl. KRAUSHAAR, Denkmodelle der 68er-Bewegung, S. 25.

3. Akteure der Revolte

Der SDS schaffte es nicht, die Revolte von ›1968‹ zu einer legalen Radikalopposition auszuweiten, und zerfiel stattdessen in verschiedene, größtenteils zerstrittene Fraktionen.27 Die Geschichte des SDS als überregionale Studentenorganisation endete nach 23 Jahren im März 1970. Eine Frankfurter Mitgliederversammlung löste den letzten Bundesvorstand des SDS per Akklamation auf. Die aus dem studentischen Verband hervorgegangenen Organisationen, darunter vor allem die kommunistischen Kadergruppen, K-Gruppen genannt, wollten ganz bewusst keine Studenten- oder Akademikerorganisationen mehr sein, sondern betrachteten sich als Vorhut der Arbeiterbewegung. Die von der studentischen 68er-Bewegung unerreichte Weltrevolution sollte nun durch ›praktische Arbeit‹ in Produktionsbetrieben vorangetrieben werden.28

3.2 K ommune I und II Der Begriff ›Kommune‹ bezeichnet in der Regel eine Vergesellschaftungsform, bei der weitgehend gleich gestellte Menschen, die meist nicht miteinander verwandt sind, gemeinsam ihre Produktionssphäre und Alltagspraxis gestalten. In ihrer historischen Entwicklung galt die Kommune von Anfang an auch als wesentliches Element der Gesellschaftsveränderung und als Kampf begriff gegen die gesellschaftlich vorherrschenden Formen des Zusammenlebens. Mit der Gründung der Berliner Kommunen I und II zu Beginn des Jahres 1967 im Umfeld des SDS begann die moderne Kommunenbewegung mit zwei Paukenschlägen.29 Im Juni 1966 diskutierten im elterlichen Landhaus von Oskar Menne im bayerischen Kochel am See neun Männer und fünf Frauen über die Möglichkeiten revolutionärer Praxis in Westeuropa im Allgemeinen, sowie über das Projekt eines Wohnkollektivs im Speziellen. Die Teilnehmer kamen primär aus dem antiautoritären Flügel des SDS in Berlin und München, wie Rudi Dutschke, Bernd Rabehl, Dieter Kunzelmann, Eike und Gertrud Hemmer oder Dagmar Seehuber.30 Die Idee, politische Arbeit mit Lebenspraxis zu verbinden, wurde bereits in den frühen 1960er Jahren von Mitgliedern der Subversiven Aktion diskutiert, die sich 1965 dem Berliner SDS anschlossen. Der anfangs instrumentell-strategisch erdachte Zweck von Kommunen, durch gemeinsames Zusammenleben Solidarität und Engagement einzelner Aktivisten zu verstärken, wurde nach dem Treffen in Kochel am See zu einer umfassenden Theorie revolutionärer Lebenspraxis

27 | Vgl. RABEHL, Zur archaischen Inszenierung linksradikaler Politik, S. 39. 28 | Vgl. ALBRECHT, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), S. 469f. 29 | Vgl. SCHIBEL, Karl-Ludwig: Kommunebewegung. In: Roland Roth/Dieter Rucht (Hg.): Die Sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a.M. 2008, S. 527-540, hier S. 528. 30 | Vgl. HOLMIG, Zäune anrempeln, die den Alltag begrenzen, S. 54.

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ausgeweitet.31 Zurück in Berlin trug der Arbeitskreis die Kommune-Diskussion in den SDS und übte sogleich massive Kritik an dem Organisationsprinzip des traditionell strukturierten Studentenverbandes. Die bis dahin üblichen Zusammenkünfte der SDS-Mitglieder zu abendlichen Arbeitskreisen, gelegentlichen Vollversammlungen und jährlichen Delegiertenkonferenzen wurden von den Kommune-Befürwortern als ›revolutionäre Halbtagsarbeit‹ moniert. Diejenigen SDS-Genossen, die in Begeisterung für das Kommune-Projekt entflammt waren, bezeichneten die SDS-Aktivisten, die ihr politisches Engagement von ihrem alltäglichen Privatleben trennten, nun despektierlich als ›Freizeitsozialisten‹. Die Anhänger der Kommune-Idee im SDS waren davon überzeugt, dass auch das Privatleben rigoros politisiert werden sollte, und schlugen als neues Organisationsprinzip des SDS den Auf bau von kommuneähnlichen Wohn- und Arbeitsgemeinschaften vor.32 An der bisherigen politischen Arbeit des SDS wurde zudem bemängelt, dass im Sinne der marxistischen Gesellschaftsanalyse lediglich der Hauptwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital Beachtung fände. Die Befürworter des Kommune-Projekts waren hingegen der Meinung, dass die künftige politische Arbeit nicht nur auf die objektiv-ökonomischen Produktionsverhältnisse auszurichten sei, sondern vielmehr auf die subjektiv-privaten Nebenwidersprüche, wie das kapitalistische Leistungsprinzip, Besitzdenken, Neidgefühl, Konkurrenzverhalten oder auch Fragen zu Liebe, Sexualität, Partnerschaft und Kindererziehung.33 Man kam also zu der Auffassung, dass der gewünschte Umbruch der gesamtgesellschaftlichen Beziehungen über die Veränderung des Individuums stattfinden müsse und mit einer rein politisch-ökonomisch gelagerten Revolte nicht zu bewältigen sei.34 Der Kommune-Arbeitskreis folgte außerdem der These, dass die Kleinfamilie eine Zwangsgemeinschaft von Mann und Frau sei, in deren Abhängigkeitsverhältnissen sich keiner von beiden frei entfalten könne. Man ging davon aus, dass aus der bürgerlichen Familie faschistische Gesellschaftsstrukturen entstünden, indem der unterdrückerische Charakter von der kleinsten gesellschaftlichen Einheit auf alle anderen staatlichen Institutionen übertragen werde. Diese These war Ausgangspunkt für die Mitglieder der Kommune-Bewegung, ein Leben in Kommunen dem traditionellen Familienleben vorzuziehen und darin den Schlüssel zur revolutionären Umgestaltung der herrschenden Gesellschaft zu sehen. Als es jedoch an die praktische Umsetzung der Kommune-Idee ging, herrschte innerhalb der ›Ur-Kommune-Gruppe‹ im SDS Uneinigkeit und Zögern. Die Realisierung des Projekts ergab sich schließlich durch ein Auseinanderfallen der 31 | Vgl. FAHLENBRACH, Kathrin: Protest-Inszenierungen. Visuelle Kommunikation und kollektive Identitäten in Protestbewegungen, Wiesbaden 2002, S. 212. 32 | Vgl. HOLMIG, Die aktionistischen Wurzeln der Studentenbewegung, S. 109. 33 | Vgl. HOLMIG, Zäune anrempeln, die den Alltag begrenzen, S. 54. 34 | Vgl. SIEGFRIED, Time Is On My Side, S. 646.

3. Akteure der Revolte

Kommune-Bewegung in drei Gruppierungen. Der erste Kreis um Rudi Dutschke und Bernd Rabehl betrachtete das Zusammenleben in Wohngemeinschaften letztendlich doch nicht als wirkliche Alternative zur politischen Arbeit im SDS und nahm kurzfristig Abstand davon, tatsächlich in eine Kommune einzuziehen. Die zweite Gruppierung um Dieter Kunzelmann und Fritz Teufel gründete die erste Berliner Kommune, die Kommune I. Die dritte Gruppe der KommuneBewegung des SDS formierte sich um Eike Hemmer und Jörg Schlotterer und bildete kurz darauf die Kommune II.35 Dabei ist jedoch anzumerken, dass die Bewohner der beiden Berliner SDS-Kommunen häufig wechselten und manchmal auch zwischen der Kommune I und II hin- und herzogen.36 Im Januar 1967 machten Dieter Kunzelmann, Dagmar Seehuber, Hans-Joachim Hameister, Fritz Teufel, Volker Gebbert, Dorothea Ridder, Dagrun und Ulrich Enzensberger Ernst und bezogen zusammen eine Wohnung. Unmittelbar nach Gründung der Kommune I verabschiedeten sich ihre Mitglieder mehrere Monate lang von der politischen Diskussion, um sich auf die psychischen Probleme der einzelnen Kommunarden zu konzentrieren und diese ausführlich zur Sprache zu bringen. Dieser psychoanalytische Gesprächsmarathon war der Versuch, die alte, bürgerliche Identität bis in die Intimsphäre hinein offen zu legen, um diese dann bewusst zu destruieren und eine neue befreite und politisch handlungsfähige Persönlichkeit aufzubauen.37 Die Kommune I verfolgte außerdem von Anfang an eine offensive Medienpolitik und gestaltete ihr öffentliches Selbstbild sehr gezielt. Die Medienberichterstattung zeigte großes Interesse am alternativen Kommune-Alltag, an dem unkonventionellen, hippiesken Erscheinungsbild und den spektakulären Aktionen der Kommunarden. Vor allem die männlichen Mitglieder der Kommune I avancierten schon bald zu medialen ›Anti-Stars‹ der bundesdeutschen Kulturindustrie, wie Detlef Siegfried feststellt, und konnten ihr Leben unter anderem durch die Einnahmen aus der Zusammenarbeit mit den Massenmedien finanzieren.38 Die bevorzugte Aktionsform der Kommune I war der Situationismus, der Kunst und politische Revolution verband. Die Kommunarden trieben die Strategie eines provokanten, subversiven Aktionismus, wie er zum Teil auch schon im universitären Milieu des SDS eingesetzt worden war, auf die Spitze. Bekannt wurde die Kommune I für ihren respektlosen Umgang mit Autoritäten und die Inszenierung von satirisch-humorvollen Polit-Spektakeln. Die Provokationsstrategie der Kommunarden zielte darauf ab, ihre politischen Gegner sowie die durchschnittliche Bevölkerung zu brüskieren, verärgern und verwirren, aber auch zum Überdenken und In-Frage-Stellen überkommener Traditionen und festgefahrener Denkschemata zu motivieren. Die Kommune I stellte im weiteren Kreis der Teil35 | Vgl. LÖNNENDONKER/RABEHL/STAADT, Die antiautoritäre Revolte, S. 315. 36 | Vgl. FRITZEN, Die Berliner ›Kommunen‹, S. 140. 37 | Vgl. HOLMIG, Zäune anrempeln, die den Alltag begrenzen, S. 55. 38 | Vgl. SIEGFRIED, Sound der Revolte, S. 86.

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nehmer und Sympathisanten der 68er-Bewegung eine avantgardistische Minderheit dar, die jedoch die größte symbolische und mediale Breitenwirkung erfuhr.39 Im SDS erregten die unkontrollierbaren, spektakulären Happenings der Kommune I jedoch schon wenige Monate nach deren Bestehen Missfallen. Man befürchtete, dass die Kommunarden durch ihre Aufsehen erregenden Inszenierungen die Ernsthaftigkeit der Studentenbewegung unterminierten und statt theoretische Konzepte und politische Inhalte zu verfolgen, nur noch medienwirksamen Klamauk betrieben. Die Kritik von links war so vehement, weil die Öffentlichkeit begann, die gesamte Studentenbewegung mit der wohlbekannten Kommune I zu identifizieren.40 Im Mai 1967 kam es zum Ausschluss der Kommune I aus der politischen Organisationsstruktur des SDS. Die Kommunarden wurden von ihren Mitgliederrechten suspendiert, weil sie kurz zuvor eigenmächtig, ohne vorherige Absprache und verbandsinterne demokratische Abstimmung, Flugblätter im Namen des SDS verteilt hatten.41 Die Kommune I ließ sich davon jedoch nicht beirren und verfolgte weiterhin das revolutionäre Anliegen in ihrer ganz eigenen Fasson. Erst gegen Ende 1968 setzte ein allmählicher Auflösungsprozess innerhalb der Kommune I ein. Während Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann den Weg der Radikalisierung einschlugen und sich in militanten Kreisen dem ›bewaffneten Kampf‹ verschrieben, verkörperte Rainer Langhans zusammen mit dem Münchner Fotomodell Uschi Obermaier durch ihre Nähe zu den Massenmedien, zu Drogen und zur Popkultur die hedonistisch-konsumistische Seite der Kommune I. In Folge dieser Radikalisierung und Militarisierung sowie Entpolitisierung und Kommerzialisierung der einstmals kulturrevolutionären Avantgarde löste sich die Kommune I im Herbst 1969 endgültig auf.42 Ungefähr einen Monat nach Gründung der Kommune I, im Februar 1967, entstand die auch als ›SDS‹- oder ›Polit‹-Kommune bezeichnete Kommune II. Eike Hemmer, Eberhard Schulz, Jörg Schlotterer und Rainer Langhans (der kurz darauf zur Kommune I wechselte) hatten den Plan, den SDS-Vorstand durch eine Kommune zu ersetzen, und ließen sich auf der Landesvollversammlung als Arbeitskollektiv zum Vorstand des Landesverbandes wählen. Der neugewählte SDS-Vorstand zog daraufhin in die Räume des SDS-Zentrums ein. Weitere Mitglieder der Kommune II waren Jan-Carl Raspe, Marion Stergar, Christl Bookhagen und Dagmar Seehuber (die zunächst in der Kommune I wohnte). Diese Wohngemeinschaft sollte anders als die Kommune I ganz auf die politische Arbeit ausgerichtet sein.43 Sie kehrte die Herangehensweise der Kommune I 39 | Vgl. FAHLENBRACH, Protest-Inszenierungen. Visuelle Kommunikation, S. 211. 40 | Vgl. SIEGFRIED, Sound der Revolte, S. 97. 41 | Vgl. LÖNNENDONKER/RABEHL/STAADT, Die antiautoritäre Revolte, S. 324ff. 42 | Vgl. SIEGFRIED, Sound der Revolte, S. 98ff. 43 | Vgl. GÖRLICH, Christopher: Die 68er in Berlin. Schauplätze und Ereignisse, Berlin 2002, S. 302.

3. Akteure der Revolte

um und versuchte, durch gemeinsame politische Arbeit die Charakterstrukturen ihrer Bewohner zu ändern und zu befreien.44 Doch auch in der bewusst politisch konzipierten Kommune II als arbeitsfähiges Wohnkollektiv ließen sich persönliche Probleme und zwischenmenschliche Schwierigkeiten im Alltag der Kommune nicht ignorieren und zurückdrängen.45 »Alltägliche Fragen drängten sich der Kommune II auf und lähmten sie in der politischen Arbeit, zerstörten gar die politischen Ambitionen«46, so der Historiker Christopher Görlich über den Stillstand der politischen Aktivität durch das Zusammenleben des SDS-Vorstandes. Die Diskussion über private Angelegenheiten nahm schon bald die gesamte Aufmerksamkeit und Energie der Kommune II in Anspruch. So wie zuvor schon die Kommune I im linksradikalen Milieu wegen ihrer psychoanalytischen Gespräche als ›Psycho‹- oder ›Horrorkommune‹ verschrien war, erhielt die Kommune II ebenfalls bald den Ruf, zu einer ›psychoanalytischen Laienspielgruppe‹ zu verkommen.47 In der Kommune II lebten außerdem zwei Kleinkinder, Marion Stergars Tochter Grischa und Eike Hemmers Sohn Nessim, an denen Konzepte antiautoritärer Erziehung erprobt wurden. Die Kommune II beteiligte sich deshalb auch an den ersten Kinderladen-Projekten in Berlin und machte Raubdrucke von historischen Schriften zur ›revolutionären Kindererziehung‹ zu ihrer Haupterwerbsquelle.48 Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 sah sich die Gruppe nicht mehr im Stande, ihre therapeutischen Gruppengespräche weiterzuführen und löste sich schließlich im Sommer 1968 auf. Den Verlauf ihres Experimentierens mit einer neuen Form des Zusammenlebens dokumentierte die Kommune II detailliert. Die Buchveröffentlichung ihrer Erfahrungen avancierte zu einem Klassiker der linken Szene.49 Die Kommune I war demnach die aktionistischere Kommune, sie organisierte spektakuläre Happenings und verteilte zahlreiche Flugblätter provokanten Inhalts, ihre Bewohner kamen immer wieder in Konflikt mit der Justiz und wurden häufiger von der Polizei verhaftet. Die Kommune II dagegen erfuhr bei Weitem weniger mediale und öffentliche Aufmerksamkeit als die Kommune I. Obwohl sie als politisch aktive Kommune geplant war, lag ihre Hauptbeschäftigung in der Reflexion ihres Zusammenlebens in langen therapeutischen Gruppengesprächen.

44 | Vgl. HOLMIG, Zäune anrempeln, die den Alltag begrenzen, S. 55. 45 | Vgl. LÖNNENDONKER/RABEHL/STAADT, Die antiautoritäre Revolte, S. 317f. 46 | GÖRLICH, Die 68er in Berlin, S. 302. 47 | Vgl. SIEGFRIED, Time Is on My Side, S. 647. 48  |  Vgl. KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine Kulturrevolution 1967-1977, Köln 2001, S. 162. 49  |  Siehe: KOMMUNE 2 (Christl Bookhagen/Eike Hemmer/Jan Raspe/Eberhard Schulz/ Marion Stergar): Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. Kollektives Leben mit politischer Arbeit verbinden, Berlin 1969.

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3.3 Die Ordnung der Geschlechter in SDS und Kommunen Betrachtet man die Zusammensetzung der Geschlechter im SDS, so waren die männlichen Mitglieder deutlich in der Überzahl. Wie den Mitgliederlisten zu entnehmen ist, variierte der Männer-, beziehungsweise Frauenanteil in den verschiedenen Regionalgruppen des Studentenverbandes. Im Wintersemester 1968/1969 bestanden die relativ kleinen SDS-Gruppen in Wiesbaden, Laubach und Essen nur aus Männern.50 Der höchste Frauenanteil war zu dieser Zeit in der SDS-Gruppe der Pädagogischen Hochschule Bonn mit 43 Prozent vorzufinden, gefolgt vom SDS Stuttgart mit 32 Prozent.51 Unter einem Drittel lag der Anteil weiblicher Mitglieder im SDS Heidelberg und SDS Frankfurt mit je 28 Prozent und im SDS Saarbrücken mit 27 Prozent.52 In den Regionalgruppen Mannheim, Mannheim Ing.-Schule, Gießen, Braunschweig, Würzburg, Erlangen-Nürnberg, Regensburg, Mainz und Darmstadt dominierten männliche Mitglieder den Verband noch deutlicher, ihr Anteil betrug zwischen 79 und 91 Prozent.53 Bedauerlicherweise existieren in der APO-Sammlung des Universitätsarchivs der Freien Universität Berlin für den Zeitraum um ›1968‹ keine Mitgliederlisten des SDS Berlin, der bedeutendsten und schätzungsweise größten Untergruppe des studentischen Verbandes.54 Eine unda50 | Vgl. SDS-Mitgliederlisten Wintersemester 1968/1969: SDS Hessenkolleg Wiesbaden (17 Männer, 0 Frauen), SDS Laubach (7 Männer, 0 Frauen), SDS Essen (10 Männer, 0 Frauen). In: Freie Universität Berlin, Universitätsarchiv, Sachthematische APO-Sammlung (FU Berlin, UA, APO-Sammlung), Sig. 302 (SDS, Bundesvorstand, 23. Delegiertenkonferenz, 1968). 51 | Vgl. SDS-Mitgliederlisten Wintersemester 1968/1969: SDS PH Bonn (4 Männer, 3 Frauen), SDS Stuttgart (17 Männer, 8 Frauen). In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 302 (SDS, Bundesvorstand, 23. Delegiertenkonferenz, 1968). 52  |  Vgl. SDS-Mitgliederlisten Wintersemester 1968/1969: SDS Heidelberg (79 Männer, 31 Frauen), SDS Saarbrücken (16 Männer, 6 Frauen). In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 302 (SDS, Bundesvorstand, 23. Delegiertenkonferenz, 1968); Mitgliederbestätigungen SDS Frankfurt 1966-1968 (155 Männer, 59 Frauen). In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 397 (SDS, Gruppen Frankfurt, Aufnahmeanträge/Mitgliederbestätigungen). 53  |  Vgl. SDS-Mitgliederlisten Wintersemester 1968/1969: SDS Mannheim (17 Männer, 4 Frauen), SDS Mannheim Ing.-Schule (11 Männer, 1 Frau), SDS Gießen (44 Männer, 9 Frauen), SDS Braunschweig (19 Männer, 3 Frauen), SDS Würzburg (19 Männer, 5 Frauen), SDS Erlangen/Nürnberg (52 Männer, 11 Frauen), SDS Regensburg (9 Männer, 1 Frau), SDS Mainz (54 Männer, 15 Frauen), SDS Darmstadt (32 Männer, 3 Frauen). In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 302 (SDS, Bundesvorstand, 23. Delegiertenkonferenz, 1968). 54  |  Im Januar 1967 wurde der SDS Berlin von einigen Professoren aufgrund eines Flugblattes wegen Beleidigung verklagt. Die Polizei durchsuchte die Büros des SDS und beschlagnahmte die Mitgliederkartei. Der regierende Bürgermeister Heinrich Albertz lenkte jedoch kurz darauf ein und versprach die versiegelte Rückgabe der Kartei. Der Verbleib dieser Mitgliederkartei ist unklar. Vgl. GÖRLICH, Die 68er in Berlin, S. 301. Die Berliner

3. Akteure der Revolte

tierte Mitgliederkartei des SDS Berlin, schätzungsweise aus den Jahren 1965/1966, weist einen Frauenanteil von 20 Prozent aus.55 Frauen waren im SDS nicht nur zahlenmäßig unterrepräsentiert, ihre Position war auch in der theoretischen Diskussion wie in der Organisationsstruktur schwach. In der Geschichte des studentischen Verbandes nahmen weibliche Mitglieder nur äußerst selten eine führende Rolle als Vorstandsmitglied auf Bundes- und Landesebene ein.56 Frauen übten sich im Bereich der aktiven politischen Teilhabe zu dieser Zeit generell noch in starker Zurückhaltung, wie die Geschlechterhistorikern Ute Frevert feststellt: »Eine heile Männerwelt gab es in den 60er Jahren […] in der Politik. Kaum eine Frau störte das bierselige Miteinander; sowohl auf Ortsvereinsebene als auch in höheren Parteigremien blieben Männer weitgehend unter sich. […] Selbst im SDS hielten sich Frauen zurück und waren für logistische Probleme zuständig, anstatt politische Diskussionen zu führen.« 57

Frauen, die sich zu dieser Zeit an den bundesdeutschen Hochschulen in einer Minderheitenposition befanden, wurden im SDS jedoch offiziell willkommen geheißen und als gleichberechtigte Mitglieder aufgenommen. Viele fanden den SDS im Vergleich zu anderen Studentenverbänden insofern attraktiver, als dass diese Organisation sich progressiv und aufgeschlossen gab. Die Agenda des SDS beinhaltete in sozialistischer Tradition die Gleichstellung der Geschlechter.58 Bereits Karl Marx formulierte den Anspruch, eine gesellschaftliche Ordnung schaffen zu wollen, in der alle Menschen gleichberechtigt leben können. Diese egalitäre Utopie umfasste auch die Gleichheit zwischen Mann und Frau. Dementsprechend wird im sozialistischen Denksystem davon ausgegangen, dass mit der Aufhebung des ausbeuterischen und unterdrückerischen Klassensystems automatisch gleiche Bedingungen für beide Geschlechter einhergehen.59 In der Unterordnung der Frauenfrage unter die Klassenfrage offenbart sich jedoch auch der patriarchale Charakter der sozialistischen Ideologie: Das gesonderte Eintreten für Geschlechteregalität wird gemeinhin als hinderlich für den weit bedeutsameSDS-Aktivisten Klaus Gilgenmann und Jan-Carl Raspe sprachen in einer Rede an ihre Genossen von 300 Mitgliedern vor Beschlagnahmung der Mitgliederkartei. Vgl. Rede von Klaus Gilgenmann und Jan Carl Raspe, 29. Januar 1967. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sammlung Rainer Langhans, SDS-intern. 55  |  Vgl. Mitgliederkartei des SDS Berlin, undatiert (140 Männer, 35 Frauen). In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sammlung Horst Mahler. 56 | Vgl. FICHTER/LÖNNENDONKER, Kleine Geschichte des SDS, S. 241ff. 57 | FREVERT, Umbruch der Geschlechterverhältnisse?, S. 659f. 58 | Vgl. STEFFEN, SDS, Weiberräte, Feminismus, S. 130. 59 | Vgl. KAPPELER, Andreas: Frauen in Russland 1860-1930. In: Marija Wakounig (Hg.): Die gläserne Decke. Frauen in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa im 20. Jahrhundert (Querschnitte, Bd. 11), Innsbruck/Wien/München u.a. 2003, S. 12-32, hier S. 24f.

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ren Klassenkampf betrachtet. Dementsprechend galt die Frauenfrage auch den sozialistischen Theoretikern im SDS lediglich als ›Nebenwiderspruch‹ der kapitalistischen Gesellschaftsordnung.60 Dass der frauenemanzipatorische Anspruch im SDS nur auf theoretischer Ebene existierte und in den realen Lebenszusammenhängen keine praktische Umsetzung erfuhr, brachte eine Splittergruppe von weiblichen SDS-Mitgliedern im Jahr 1968 zum Protest gegen die maskulin dominierten, patriarchalischen Strukturen auf. Rückblickend berichten Akteurinnen der studentischen Bewegung häufig davon, dass ihre männlichen Genossen nach außen hin antiautoritäre Verhaltensweisen forderten, sich ihren Frauen und Freundinnen gegenüber jedoch zuweilen autoritär und chauvinistisch verhielten: »So gingen die Männer auf Demonstrationen, zu Vorträgen und diskutierten untereinander, während die Frauen die Flugblätter abtippten, Kaffee kochten oder auf die Kinder aufpassten.«61 Der SDS wird von vielen ehemaligen weiblichen SDS-Mitgliedern als »Männergilde«62 oder als eine »Organisation von Männern«63 mit »Machoattitüden«64 beschrieben. Im Nachhinein bestätigen auch zahlreiche männliche Mitglieder der studentischen Organisation, dass sie den SDS seinerseits ebenfalls als »Männerbund«65, beziehungsweise »Männervereinigung« wahrgenommen haben, »zu dem Frauen zugelassen waren, aber sie hatten sich den Normen der Männer zu beugen.«66 Der ehemalige SDS-Aktivist Peter Mosler resümiert über die Stellung von Frauen im SDS: »Frauen waren im Sozialistischen Deutschen Studentenbund von vornherein Mitglieder minderen Rangs.«67 Die Rebellion der Studenten war gemäß Mosler, »ihrem uneingestandenen Selbstverständnis nach […] eine Intellektuellenrevolte, Jugendrevolte und Männerrevolte.«68 Nur wenige Frauen, wie Sigrun Anselm, berichten, sich im SDS keineswegs unterdrückt gefühlt zu haben und ihre Mitgliedschaft vielmehr als Chance sahen, 60 | Vgl. STROBEL, Ricarda: Die neue Frauenbewegung. In: Werner Faulstich (Hg.): Die Kultur der 70er Jahre, München 2004, S. 259-273, hier S. 261. 61 | KRIESTEN, Die Revolution der Geschlechterbeziehungen?, S. 251. 62  |  REGEHR, Elke: ›Für viele Männer des SDS war die Psyche Weiberkram‹. In: Ute Kätzel (Hg.): Die 68erinnen. Porträt einer rebellischen Frauengeneration, Königstein 2008, S. 8199, hier S. 97. 63  |  DUTSCHKE-KLOTZ, Gretchen: ›Jemanden zu lieben war irgendwie falsch‹. In: Ute Kätzel (Hg.): Die 68erinnen. Porträt einer rebellischen Frauengeneration, Königstein 2008, S. 277296, hier S. 281. 64  |  Herta Däubler-Gmelin zitiert nach: HÜLSBERGEN, ›Wir wollten etwas Neues, anderes …‹, S. 146. 65  |  Bernd Rabehl, in: LÖNNENDONKER, Linksintellektueller Aufbruch, S. 23. 66  |  Thomas Mitscherlich, in: LÖNNENDONKER, Linksintellektueller Aufbruch, S. 175. 67 | MOSLER, Peter: Was wir wollten, was wir wurden. Studentenrevolte – zehn Jahre danach, Hamburg 1977, S. 159. 68 | MOSLER, Was wir wollten, was wir wurden, S. 236.

3. Akteure der Revolte

sich Durchsetzungsvermögen anzueignen. Anselm räumt jedoch ein, »daß es im SDS viele männliche Vorreiter gab, insofern war der SDS männlich dominiert. Aber die meisten Männer waren auch schüchtern und mußten sich frei reden.«69 Susanne Schunter-Kleemann beschreibt die Position von Frauen im SDS ebenfalls zwiespältig: »Was das Geschlechterverhältnis betrifft, so war der SDS einerseits ein Spiegelbild der Gesellschaft, andererseits auch wieder nicht. Es gab eine Dominanz der Männer, und dennoch war der SDS ein ganzes Stück egalitärer als die Gesellschaft. Es waren viele Frauen dabei, und wir wurden nirgendwo rausgedrängt.«70 Trotz ihrer überwiegend positiven Erfahrungen im SDS beschreiben auch Anselm und Schunter-Kleemann den SDS als männlich dominiert. Der Männer-, beziehungsweise Frauenanteil in den SDS-nahen Berliner Kommunen I und II lässt sich aufgrund des raschen Mitgliederwechsels nicht exakt ausmachen. Geht man davon aus, dass an der Kommune-Diskussion in Kochel am See neun Männer und fünf Frauen teilnahmen, in die Kommune I zunächst fünf Männer und drei Frauen einzogen und die Kommune II zu Beginn ebenfalls aus fünf Männern und drei Frauen bestand, so liegt der Frauenanteil innerhalb der Kommune-Bewegung von ›1968‹ ungefähr bei einem Drittel oder auch höher. Für eine maskuline Dominanz innerhalb der Kommunen spricht neben der zahlenmäßigen Mehrheit der Männer die Tatsache, dass jeweils eine Gruppe von männlichen Kommunarden den festen, bestimmenden Kern der Wohngemeinschaften ausmachte und die weiblichen Bewohnerinnen häufig nach relativ kurzer Zeit wieder aus den Kommunen auszogen und durch neue ersetzt wurden. Kommunardinnen, die sich im kollektiven Zusammenleben nach maskulin codierten Regeln unwohl fühlten, reagierten nicht mit Protest, sondern mit Auszug aus der jeweiligen Kommune. Für den 68er-Aktivisten Gerd Koenen war die Kommune I »ihrer Konstruktion nach ein reiner Männerbund (bestehend aus Kunzelmann, Langhans, Teufel und U. Enzensberger), während die weiblichen Besatzungsmitglieder in schneller Folge wechselten.«71 Bei der Planung und Inszenierung der öffentlichkeitswirksamen Politspektakel, welche die Kommune I in der Bundesrepublik berühmt machten, sind die genannten männlichen Kommunarden ebenfalls als federführend zu betrachten. Zu Popstars der linken Subkultur avancierten vor allem Langhans, Kunzelmann und Teufel, als sie durch die Massenmedien immer größeren Bekanntheitsgrad erlangten und ein regelrechtes Groupie-Wesen innerhalb der Kommune I aufzogen. Dort waren feste Paarbeziehungen verpönt, vor allem die männlichen Gründungsmitglieder forderten promiskuitive ›offene Beziehungen‹ und setzten 69 | Sigrun Anselm zitiert nach: HÜLSBERGEN, ›Wir wollten etwas Neues, anderes …‹, S. 161. 70 | SCHUNTER-KLEEMANN, Susanne: ›Wir waren Akteurinnen und nicht etwa die Anhängsel‹. In: Ute Kätzel (Hg.): Die 68erinnen. Porträt einer rebellischen Frauengeneration, Königstein 2008, S. 101-119, hier S. 118. 71 | KOENEN, Das rote Jahrzehnt, S. 159.

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die Frauen in der Kommune damit unter Druck.72 Von den Frauen des Wohnkollektivs erfuhr lediglich Uschi Obermaier öffentliche Aufmerksamkeit für die Zurschaustellung ihrer zeitgenössisch als unkonventionell begriffenen Liebesbeziehung zu Langhans und ihren freizügigen Körperkult. Politisch engagierte Kommunardinnen spielten sich in dem medialen Hype um die Kommune I anders als ihre prominenten männlichen Mitbewohner nicht in den Vordergrund. Es scheint, dass in den Berliner Kommunen, wie in der gesamten maskulin codierten, linken Protestkultur vorwiegend die Haltung vorzufinden war, dass die Anwesenheit von Frauen durchaus erwünscht war, aber deren Beteiligung an politischen Diskussionen und Aktionen meist nicht besonders ernst genommen wurde. Auch in der Kommune II existierte ein »politisierender männlicher Kernkader«73, bestehend aus Eike Hemmer, Eberhard Schulz, Jörg Schlotterer und Rainer Langhans, bevor letzterer in die Kommune I wechselte. Bezeichnenderweise ließen sich in der sogenannten Polit-Kommune nur die tonangebenden männlichen Mitglieder in den Vorstand des SDS-Landesverbandes wählen. Die weiblichen Kommunardinnen berichten, dass ihnen die politische Arbeit in der Kommune II im Gegensatz zu ihren männlichen Mitbewohnern unmöglich war. Die »Identifizierung mit den männlichen Idealen – politische Arbeit und Leistungsanspruch«74 gelang den Frauen der Kommune II nach eigener Aussage nicht, was in der kommuneninternen Dokumentation als wesentlicher Grund für das Scheitern des gesamten alternativen Wohn- und Arbeitsprojekts angegeben wird.

72 | PRZY TULLA, Dagmar: ›Niemand ahnte, dass wir ein ziemlich verklemmter Haufen waren‹. In: Ute Kätzel (Hg.): Die 68erinnen. Porträt einer rebellischen Frauengeneration, Königstein 2008, S. 201-219, hier S. 206. 73 | KOENEN, Das rote Jahrzehnt, S. 162. 74 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 67.

4. Quellen

Eine Quellenanalyse nach emotions- und geschlechterhistorischen Kriterien unterliegt besonderen methodischen und quellenkritischen Herausforderungen. In beiden kulturgeschichtlich orientierten Fachrichtungen gilt es, die untersuchten Quellen »auch gerade nach dem abzutasten, was ›zwischen den Zeilen‹ steht.«1 In der historischen Männerforschung, so Martschukat und Stieglitz, ist eine spezielle Sensibilität für Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Männlichkeit in der Geschichte vonnöten: »Entwürfe und Manifestationen von Männlichkeit müssen nicht zwangsläufig an der Oberfläche historischer Entwicklungen stehen.«2 Stattdessen können Vorstellungen von Männlichkeit auch unabhängig und jenseits von Männern und männlichen Körpern ausgemacht werden. So lohnt es sich etwa auch, Denkstrukturen, Institutionen oder andere Zusammenhänge auf ihre maskuline Codierung hin zu untersuchen.3 Es bietet sich an, »nicht nur spezifisch ›männliche‹ Themen (wie Militär, Familienherrschaft, männliche Sexualität)« einer männlichkeitshistorischen Analyse zu unterziehen, »sondern auch und gerade jene scheinbar geschlechtsunspezifischen Bereiche, in denen Männlichkeiten dann viel überraschender zum Vorschein kommen.«4 Ähnlich verhält es sich bei der Quellenauswahl in der historischen Emotionsforschung: Quellen, die Gefühlsäußerungen nur in geringem Maße beinhalten oder gänzlich frei davon sind, können für das Forschungsvorhaben von ebenso großer Relevanz sein wie betont emotionale Zeugnisse. Die Abwesenheit von be1  |  ASCHMANN, Birgit: Vom Nutzen und Nachteil der Emotionen in der Geschichte. Eine Einführung. In: Dies. (Hg.): Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts (Historische Mitteilungen, Bd. 62), München 2005, S. 9-32, hier S. 31. 2 | MARTSCHUKAT/STIEGLITZ, Geschichte der Männlichkeiten, S. 164. 3 | Vgl. MARTSCHUKAT/STIEGLITZ, Geschichte der Männlichkeiten, S. 164. 4 | ERHART, Walter/HERRMANN, Britta: Der erforschte Mann? In: Dies. (Hg.): Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit, Stuttgart/Weimar 1997, S. 3-31, hier S. 19.

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stimmten Emotionen, die man in einem Quellenkorpus vermuten würde, kann bedeuten, dass spezielle Gefühle bewusst unterdrückt oder verschwiegen wurden, etwa weil sie in einem gewissen gesellschaftlichen Kontext als unangemessen galten.5 Darüber hinaus müssen auch vergleichsweise dezente Hinweise auf emotionale Äußerungen erkannt werden, wenn diese sich beispielsweise in Metaphern oder ironischen Beschreibungen verstecken. Emotionen können, wie die Historikerin Barbara Rosenwein anmerkt, ohnehin nur aus zweiter Hand – über Gesten, Veränderungen der Körperhaltung, Wörter, Ausrufe oder etwa Tränen – beobachtet, interpretiert und decodiert werden.6 »›Emotionen-Arbeit‹ heißt für den Historiker also vor allem ›Übersetzungs-Arbeit‹.«7 Es geht zudem nicht nur darum, die Häufigkeit von Wörtern und Sätzen zu bestimmen, die einen Einblick in vergangene Gefühle erlauben, sondern darum, die Quellen als Ganzes zu lesen und zu verstehen.8 Von Interesse für dieses Forschungsvorhaben sind alle Quellen, die auf Selbstsicht, Selbstrepräsentation und Selbstgefühl der bundesdeutschen Protestbewegung schließen lassen. Zur Untersuchung der Generation von ›1968‹ als soziale Gruppierung mit kollektiven Gefühlsstandards eignet sich also primär eine Zusammenstellung von Quellenmaterial, das die Akteure der sozialen Bewegung selbst produziert haben. Obwohl die Protestbewegung in dieser Studie als eine maskulin codierte Revolte untersucht wird, versteht es sich, dass auch Zeugnisse aus der Hand weiblicher Protagonistinnen von ›1968‹ miteinbezogen werden, wenngleich diese deutlich in der Minderzahl sind. Es empfiehlt sich außerdem, eine breite Auswahl an Zeugnissen von möglichst vielen verschiedenen Mitgliedern der zu untersuchenden emotionalen Gemeinschaft zu berücksichtigen.9 Autobiografische Dokumente werden bewusst mit dem Ziel verfasst, eine Geschichte und den Anteil, den ihr Verfasser oder ihre Verfasserin daran hatte, der Nachwelt zu überliefern. Der Einsatz von Autobiografien als historische Quellen wird in den Geschichtswissenschaften jedoch zuweilen mit Skepsis betrachtet. Es wird kritisiert, dass diese nur einen getrübten und verfälschten Zugriff auf die Vergangenheit ermöglichen, da sie rein subjektiver Natur und von Rechtfertigungs- und Legitimierungsbedürfnissen geprägt sind. Außerdem berichten sie im Wissen um später Geschehenes.10 Persönliche Lebensberichte geben aber auch Aufschluss über die individuelle Entwicklung und den Gefühlshaushalt 5 | Vgl. ROSENWEIN, Problems and Methods, S. 17. 6 | Vgl. ROSENWEIN, Emotional Communities, S. 27. 7 | PRZYREMBEL, Sehnsucht nach Gefühlen, S. 123. 8 | Vgl. ROSENWEIN, Problems and Methods, S. 18f. 9 | Vgl. ROSENWEIN, Problems and Methods, S. 12. 10 | Vgl. DEPKAT, Volker: Nicht die Materialien sind das Problem, sondern die Fragen, die man stellt. Zum Quellenwert von Autobiographien für die historische Forschung. In: Thomas Rathmann/Nikolaus Wegmann (Hg.): ›Quelle‹. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion, Berlin 2004, S. 102-117, hier S. 106.

4. Quellen

einer Person, zeigen, wie die Ereignisse und der Wandel ihrer Zeit auf sie gewirkt haben und verraten etwas über die Wert- und Normenvorstellung einer Gruppe, mit der sich der einzelne identifiziert hat.11 Die Quellengattung der Selbstzeugnisse, bei denen ein Individuum sein vergeschlechtlichtes Selbst und Erleben, sowie seine Gefühle in den Mittelpunkt der Darstellung stellt, eignet sich also gerade aufgrund ihres subjektiven Charakters besonders gut für die geschlechterund emotionshistorische Forschung.12 Autobiografische Schriften dürfen jedoch niemals isoliert betrachtet werden, sondern immer in Ergänzung mit anderem Quellenmaterial, wie etwa weiteren Ego-Dokumenten. Angesichts der Fülle der publizierten Lebensgeschichten ehemaliger 68er-Aktivisten stellt es in dieser Studie kein Problem dar, die einzelnen autobiografischen Zeugnisse als Erfahrungsberichte einer sozialen Gruppierung im Zusammenhang zu betrachten. Außerdem muss bei der Analyse jedes einzelnen autobiografischen Dokuments danach gefragt werden, wann und warum sich ein Autor überhaupt dazu entschließt, einen lebensgeschichtlichen Bericht zu schreiben und zu veröffentlichen.13 Der jeweilige historische Kontext des Entstehungs- und Publikationszeitpunktes des Werkes muss genauso in die Interpretation des lebensgeschichtlichen Textes miteinbezogen werden, wie der eigentliche durch den Autor beschriebene Zeitraum. Die für diese Untersuchung herangezogenen Autobiografien männlicher ›68er‹ und vereinzelt, soweit vorhanden, auch weiblicher ›68erinnen‹, sind über einen Zeitraum veröffentlicht worden, der sich von den frühen 1970er Jahren bis zur Gegenwart zieht. Gerade bei der recht streitbaren maskulin dominierten 68erGeneration sind Autobiografien überdies als ›Kampfinstrumente‹ zur Deutung der Vergangenheit und Verortung ihrer historischen Identität zu betrachten.14 Dieselbe quellenkritische Herangehensweise gilt auch für die mündliche Selbstthematisierung der Akteure von ›1968‹ in zeitgenössischen wie retrospektiven Interviews durchgeführt von Journalisten oder Wissenschaftlern. Bei dem Umgang mit Zeitzeugeninterviews darf genauso wie bei autobiografischen Quellen nicht aus dem Blickfeld verschwinden, dass Ereignisse und deren unmittelbare Wahrnehmung mit einem immer größer werdenden Zeitabstand vergessen, verdrängt, nachträglich reflektiert und umgedeutet werden.15 Retrospektive Phänomene der Nostalgie, Heroisierung, Sentimentalisierung und Mystifizierung

11 | Vgl. DEPKAT, Volker: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. In: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), Heft 3, S. 441-476, hier S. 467. 12 | Vgl. TREPP, Gefühl oder kulturelle Konstruktion, S. 88ff. 13 | Vgl. DEPKAT, Nicht die Materialien sind das Problem, S. 116. 14 | Vgl. DEPKAT, Nicht die Materialien sind das Problem, S. 117. 15  |  Vgl. STEPHAN, Anke: Erinnertes Leben: Autobiographien, Memoiren und Oral-HistoryInterviews als historische Quellen. In: Digitales Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands, unter: www.vifaost.de/texte-materialien/digitale-reihen-und-sammlungen/handbuch/ (abgerufen am 10. Februar 2013).

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erschweren eine Untersuchung kollektiver Gefühle im Besonderen.16 Allerdings hat die Psychologie auch einen positiven Zusammenhang zwischen Emotion und Erinnerungsleistung nachgewiesen: Emotional Erlebtes bleibt besser und genauer im Gedächtnis.17 Ferner gehören unmittelbare Zeugnisse des politischen Protests wie programmatische Reden, Referate und Diskussionsbeiträge, Positionspapiere, offene Briefe, Erklärungen, Flugblätter, Plakate und Parolen zum anvisierten Quellenkorpus. Das Flugblatt war zur Zeit der antiautoritären Revolte das beliebteste und bedeutendste Verbreitungsmedium zur politischen Information und Agitation, weshalb es in dieser Arbeit besondere Aufmerksamkeit als Protestmedium erfährt. Flugblätter konnten aus aktuellem Anlass, kurzfristig, einfach und günstig mit handlichen Druckmaschinen in den eigenen vier Wänden hergestellt werden. Ohne großen Aufwand war es möglich, diese mit einer potentiell unbegrenzten Auflage zu verbreiten. Meist hatten sie einen appellativen Charakter, sie riefen dazu auf, die Forderungen einer Gruppe zu unterstützen oder gegen die vorherrschenden Zustände zu protestieren.18 Propagandamedien der ›68er‹ wie Flugblätter, Plakate oder Spruchbänder zeichneten sich oftmals auch durch einen satirischen, ironischen und humorvollen Stil aus. Die innerhalb der Protestbewegung kultivierte kritisch-argumentative Face-to-face-Kommunikation in Form von Diskussionen lässt sich anhand von Reden, Referaten und Diskussionsbeiträgen untersuchen. Die dokumentierten mündlichen Äußerungen der 68er-Aktivisten geben Aufschluss über die politischen Ziele, Wünsche und Forderungen wie auch den Gefühlshaushalt der sozialen Bewegung, genauso wie die schriftlichen Zeugnisse des Protests. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen darüber hinaus zeitgenössische Publikationen der Protagonisten von ›1968‹. Teil der Analyse sollen monografische Werke, aber vor allem auch Aufsätze und Artikel in Zeitschriften, Zeitungen oder Sammelbänden aus der Feder der Protestierenden sein. Als Quellenmaterial dienen Studentenzeitschriften wie das Berliner Oberbaumblatt, alternative Blätter des linksradikalen Protestmilieus wie die Agit 883, wissenschaftlich ausgerichtete Theoriezeitschriften, wie die im Jahr 1960 durch den SDS gegründete Neue Kritik oder das magazinartige Kursbuch, das sich mit verschiedenen Themenschwerpunkten als eines der wichtigsten Organe der Protestbewegung etablierte. 16 | Vgl. TANNER, Motions and Emotions, S. 72. 17 | Vgl. BRÄNDLE, Fabian/VON GREYERZ, Kaspar/HEILIGENSETZER, Lorenz u.a.: Texte zwischen Erfahrung und Diskurs. In: Kaspar von Greyerz/Hans Medik/Patrice Veit (Hg.): Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1850), Köln/Wien/Weimar 2001, S. 3-31, hier S. 12f. 18  |  Vgl. SCHMITZ, Ulrich: Die Tübinger Flugblätter des Sommersemesters 1968. In: Hajo Diekmannshenke/Iris Meißner (Hg.): Politische Kommunikation im historischen Wandel, Tübingen 2001, S. 289-307, hier S. 290.

4. Quellen

Des Weiteren werden auch (populär-)wissenschaftliche Theorien, Ideologien und Denkmodelle in den Quellenkorpus miteinbezogen, die bedeutenden Einfluss auf das Denken, Fühlen und Handeln der Aktivisten von ›1968‹ hatten. Der Revolte wohnte laut Wolfgang Kraushaar die »Dynamik einer intellektuellen Suchbewegung«19 inne, die in einem atemberaubenden Tempo Theorieansätze aus unterschiedlichen Disziplinen aufgriff, einstudierte, durchdeklinierte und häufig auch wieder verwarf. Mit der vorrangigen Absicht, eine umfassende Gesellschaftstheorie zu entwickeln, fand eine breite Rezeption vorhandener Theorietraditionen vornehmlich marxistischer Färbung statt. Kritik an den bestehenden Verhältnissen sollte mit Theoremen aus Marxismus, Psychoanalyse, Kritischer Theorie und Sozialpsychologie untermauert werden, die oftmals über Jahrzehnte hinweg keine Beachtung gefunden hatten.20 In ihrer ›Theoriewut‹ bediente sich die Oppositionsbewegung diverser ideologischer Modelle und Revolutionstheorien des 20. Jahrhunderts, um ihre prinzipielle Gegnerschaft gegen die ›herrschende Gesellschaft‹ auszudrücken.21 Zuletzt wird in dieser Studie zur Ergänzung der Textquellen auch fotografisches Material, das die Ereignisse und die Protagonisten der 68er-Bewegung abbildet, als historische Quelle behandelt. Da die Revolte von ›1968‹ als Medien-Revolte zu begreifen ist, die unter anderem beinhaltet, dass die Akteure ihre Proteste bewusst medienwirksam inszenierten, existiert eine Fülle von fotografischen Zeugnissen der sozialen Bewegung und ihrer Akteure. Im Zentrum der historischen Bildanalyse steht dabei der protestierende Mensch, dessen Körper als Ort von diskursiven Zuschreibungen erfasst werden soll.22 Da der Körper als Medium des vergeschlechtlichten Gefühlsausdrucks zu betrachten ist, muss die Rolle visueller Vermittlungsformen der Konstruktion von ›Geschlecht‹ und ›Emotion‹ bei der Untersuchung von Fotografien rund um das Jahr 1968 spezielle Aufmerksamkeit erfahren. Perioden verdichteten soziokulturellen und politischen Wandels sind meist verschränkt mit auffälligen Veränderungen im körperkommunikativen Habitus der Trägergruppen des gesellschaftlichen Wandels, so die Sprachwissenschaftlerin Angelika Linke.23 Körperzeichen der Protagonisten von ›1968‹, wie Kleidung, Haartracht, Schmuck, Haltung, Bewegung, Gestik und Mimik, lassen sich anhand von Bildmaterial besonders gut analysieren. 19 | KRAUSHAAR, Denkmodelle der 68er-Bewegung, S. 14. 20 | Vgl. KRAUSHAAR, Denkmodelle der 68er-Bewegung, S. 14f. 21 | Vgl. KOENEN, Gerd: Rotwelsch und Zeichensprache. In: Andreas Schwab/Beate Schappach/Manuel Gogos (Hg.): Die 68er. Kurzer Sommer – Lange Wirkung (Schriften des Historischen Museums Frankfurt a.M., Bd. 27), Essen 2008, S. 262-270, hier S. 262. 22  |  Vgl. JÄGER, Jens: Fotografie und Geschichte, Frankfurt a.M./New York 2009, S. 154ff. 23  |  Vgl. LINKE, Angelika: Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden. Zur Protestsemiotik von Körper und Raum in den 1968er Jahren. In: Heidrun Kämper/Joachim Scharloth/Martin Wengeler (Hg.): 1968. Eine sprachwissenschaftliche Zwischenbilanz (Sprache und Wissen, Bd. 6), Berlin/Boston 2012, S. 201-226, hier S. 201.

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Emotionale Strukturen in der maskulin codierten Protestkultur der 68 er-Bewegung

1. Utopie

Als fernab jeglicher Realität missbilligten zeitgenössische Kritiker der 68er-Bewegung die Überzeugung der jungen Protestierenden, in der Bundesrepublik sei ein radikaler politischer und gesellschaftlicher Umsturz im Sinne einer sozialistischen Revolution möglich. Bemängelt wurde die Kurzsichtigkeit der Aktivisten »in einem absolut unrevolutionären Augenblick und in einer unrevolutionären Weltgegend sich einzureden, man habe eine Chance, revolutionäre Gedanken durchzusetzen.«1 Die überhöhten Zielsetzungen der antiautoritären Bewegung wurden auch in einem historisierenden Blick zurück oftmals als wirklichkeitsfremde, absurde »Luftschlösser«2 getadelt, der Geisteszustand der Rebellierenden als blauäugig, träumerisch und verblendet kritisiert. Viele ehemalige Protagonisten der Bewegung können im Nachhinein selbst nicht mehr genau nachvollziehen, weshalb sie Ende der 1960er Jahre so fest daran geglaubt haben, die Revolution stünde vor der Tür, und räumen ein, damals mit »erheblichen Realitätsdefiziten«3 ausgestattet gewesen zu sein. Von daher soll ein Blick auf die Geschichte der Gefühle der linken Protestgemeinschaft von ›1968‹ bemüht werden, um herauszufinden, welche Energien und Motivationen die jungen Menschen zum leidenschaftlichen Protest anstachelten. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht dabei das Faible der 68er-Bewegung für utopisches Denken.4 »Die Vokabel ›Utopie‹ ist gegenwärtig ungemein be1 | HORN, Klaus/MITSCHERLICH, Alexander: Vom ›halbstarken‹ zum starken Protest, Vortrag in der Polizeiführungsakademie Hiltrup, 26. April 1968. In: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 2. Bd., S. 367-370, hier S. 367f. 2 | TELTSCHIK, Horst: Luftschlösser. In: Schwäbisch Hall Stiftung (Hg.): Kultur des Eigentums, Berlin/Heidelberg 2006, S. 187-193, hier S. 187. 3  |  VON WERDER, Lutz: Die Auseinandersetzung mit der Realität hat einem die Scheuklappen beseitigt. In: Karl-Heinz Heinemann/Thomas Jainter (Hg.): Ein langer Marsch. 1968 und die Folgen, Köln 1993, S. 11-27, hier S. 26. 4  |  Der Begriff der Utopie bezieht sich auf die im Jahr 1516 publizierte ›Utopie‹ von Thomas Morus. Der humanistische Denker entwarf in seinem Staatsroman eine ideale Gesellschaft und wies damit auf die Mängel der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse hin.

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liebt«5, konstatierte der Politologe und SDS-Angehörige Arnhelm Neusüß im Jahr 1968 in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Sammelbandes Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen über den zeitgenössischen Trend zum Zukunftsglauben. Für das enorme Interesse an utopischem Denken innerhalb des studentischen Protestmilieus spricht auch die Themenwahl von Hans Magnus Enzensbergers Kulturzeitschrift Kursbuch, die sich bei den Revoltierenden der späten 1960er Jahre großer Popularität erfreute: Im August 1968 widmete sich eine Ausgabe schwerpunktmäßig der Kritik der Zukunft, in der unter anderem die Ergebnisse eines Preisausschreibens über die ›beste‹ konkrete utopische Konzeption präsentiert wurden.6 Bereits im Sommer 1967 fand im Audimax der FU Berlin ein viertägiger Diskussionsmarathon statt, auf dem der Kulturphilosoph Herbert Marcuse vor ungefähr 3.000 Studenten einen Vortrag zum Thema Das Ende der Utopie hielt. Mit Ende war keineswegs die Beendigung der Utopie gemeint, sondern ihre baldige Erfüllungschance.7 Wie der gesellschaftskritische Charakter des Utopischen, die Überzeugung, dass eine bessere Gesellschaft als die existierende möglich sei, die 68er-Generation vereinnahmte und ihre emotionalen Normen und Ideale prägte, soll im Folgenden untersucht werden.

1.1  Z ukunf tsop timismus Als optimistisch und lebensfroh lässt sich der grundsätzliche Impetus der studentischen Bewegung charakterisieren.8 Ein hoffnungsvolles Vertrauen in die Zukunft gehörte zum kollektiven Gefühlsrepertoire der Protestierenden von ›1968‹. Laut dem SDS-Aktivisten Peter Schneider veranlasste kein konkreter politischer Eine Utopie kann damit als Gedankenlabor definiert werden, in dem bestehende gesellschaftliche Restriktionen ignoriert werden und eine neue soziale Ordnung frei konzipiert werden kann. Verfasser von Utopien entwerfen ihre Zukunftsvisionen jedoch meist nicht nur auf einer rein traumhaft-fantastischen Ebene, sondern sehen eine realistische Verwirklichung der anvisierten Gesellschaftsform. Vgl. WASCHKUHN, Arno: Politische Utopien. Ein politiktheoretischer Überblick von der Antike bis heute, München/Wien 2003, S. 1-14. 5  |  NEUSÜSS, Arnhelm: Einführung. Schwierigkeiten einer Soziologie des utopischen Denkens. In: Ders. (Hg.): Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen (Soziologische Texte, Bd. 44), Darmstadt/Berlin 1968, S. 13-114, hier S, 13. Die Sammlung theoretischer Klassiker zum Thema des Utopischen fand im studentischen Milieu der 68er-Bewegung große Verbreitung. 6 | Vgl. Dossier 3: Konkrete Utopie. Zweiundsiebzig Gedanken über die Zukunft. In: Kursbuch 14 (1968), S. 110-145, hier S. 110. 7 | Vgl. KOPPERSCHMIDT, Josef: La Prise de parole oder Über den Versuch der Befreiung des Wortes. In: Ulrich Ott/Roman Luckscheiter (Hg.): Belles lettres/Graffiti. Soziale Phantasien und Ausdrucksformen der Achtundsechziger, Göttingen 2001, S. 95-113, hier S. 99. 8 | Vgl. BIESS, Die Sensibilisierung des Subjekts, S. 54.

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Strukturplan zum Umsturz des Status quo die Revolte, sondern ein nur für die junge Bevölkerung spürbarer Appell zur Mobilisierung auf emotionaler Ebene: »Was so viele Kriegs- und Nachkriegskinder zur Rebellion zusammenführte, war kein Text, kein Manifest, kein Revolutionsprogramm. Es war eher etwas wie ein nonverbales, weltweit kommuniziertes Signal zum Aufbruch, das nur die jungen Leute hörten: Laßt auf der Stelle alles, was ihr tut und getan habt, liegen und beginnt ein neues, selbstbestimmtes Leben!« 9

Offenbar hatte sich ab Mitte der 1960er Jahre bei zahlreichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen die starke Sehnsucht nach individueller und gesellschaftlicher Veränderung aufgestaut, die enorme Energien freisetzte und die Bereitschaft erzeugte, das Leben ganz der Revolte zu verschreiben. Die Vorstellung, durch radikale Opposition die zeitgenössische Staats- und Gesellschaftsordnung zu überwinden und zu transformieren, verursachte euphorische Auf bruchsstimmung und vereinte eine Generation junger Menschen, wenn man Schneiders autobiografischen Aufzeichnungen Glauben schenkt. Der prominente APO-Aktivist Daniel Cohn-Bendit erinnert sich ebenfalls an die rasante Entwicklung eines umgreifenden utopischen Veränderungswillens, dem sich seiner Aussage nach niemand entziehen konnte: »1968 fing der Planet Feuer, wie auf ein weltweites Zeichen hin. […] Die Lust am Leben und der Sinn für Geschichte war der Schlüssel für unsere herausfordernde Haltung.«10 Lebensfreude und ein neu entdecktes Gespür für die Wandelbarkeit des menschlichen Daseins nennt CohnBendit als die relevanten emotionalen Dispositionen seiner Generation zum Protest. Während Schneider das Gefühl zum revolutionären Auf bruch als ›Signal‹ beschreibt und Cohn-Bendit es als ›Feuer‹ illustriert, war es für das führende SDS-Mitglied Joscha Schmierer der »Zauber des großen Augenblicks«11, der die Rebellion von ›1968‹ in Schwung brachte. »Der Zauber, plötzlich etwas tun und bewirken zu können, wo es so ausgesehen hatte, als könne nie etwas getan oder bewirkt werden, ist der erste, alles prägende Reiz von 68«12 resümiert Schmierer in mystifizierender Weise über die Geburtsstunde der Protestbewegung. Manfred Neugroda, der sich 1966 dem Kölner SDS anschloss, gibt an, in den Jahren des

9 | SCHNEIDER, Peter: Rebellion und Wahn. Mein ’68. Eine autobiographische Erzählung, Köln 2008, S. 106. 10 | COHN-BENDIT, Daniel: Wir haben sie so geliebt, die Revolution, Frankfurt a.M. 1987, S. 8ff. 11  |  SCHMIERER, Joscha: Der Zauber des Augenblicks. 1968 und der internationale Traum. In: Lothar Bauer/Wilfried Gottschalch/Reimut Reiche u.a. (Hg.): Die Früchte der Revolte. Über die Veränderung der politischen Kultur durch die Studentenbewegung, Berlin 1988, S. 107-126, hier S. 114. 12  |  SCHMIERER, Der Zauber des Augenblicks, S. 114.

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Protests hätte »ein Frühlingsgefühl in der Luft«13 gelegen. Neugroda verwendet den Frühling als Symbol des Auf bruchs und als Zeichen für neues Wachstum und neue Möglichkeiten, um damit das Gefühl einer Generation nachzuzeichnen, die daran glaubte, im Stande zu sein, die Verhältnisse durch entsprechende Anstrengungen innerhalb kurzer Zeit radikal zu verändern.14 Unter den vier zitierten Akteuren der 68er-Bewegung herrscht also Einigkeit darüber, dass die Entscheidung zur Revolution nicht mit dem Verstand getroffen wurde, sondern durch das ansteckende Gefühl, die Welt verändern zu wollen und zu können, ausgelöst wurde. Diese Beobachtung korrespondiert mit aktuellen Ergebnissen der Generationenforschung, die besagen, dass das Gefühl generationeller Zugehörigkeit nicht nur aus einer gemeinsam empfundenen Erfahrungsperspektive entsteht, sondern auch aus gemeinsamen Zukunftserwartungen und -sehnsüchten.15 Insofern lässt sich die 68er-Generation zugleich als Gefühls- und Erwartungsgemeinschaft charakterisieren. Matthias Sesselmann, der die Proteste der späten 1960er Jahre in Hannover erlebte, beschreibt seine emotionale Verfasstheit zu Beginn seines politischen Engagements in der APO als einen Zustand zwischen Wut und Hoffnung, wie er bezeichnend für die antiautoritäre Protestbewegung war: »Es überkam mich […] eine blinde Wut auf das Establishment […] Ich war fest entschlossen, alles daranzusetzen, diese Dinge stoppen zu helfen. Ich malte mir eine bessere, gerechte Welt aus, die ich glaubte mit meinen Gesinnungsgenossen aufbauen zu können. Wenn nur genügend Leute mitmachen würden, so hoffte ich, müßte es gelingen, die augenblickliche Regierung zu stürzen und gemeinsam einen gerechten Staat zu organisieren.«16

Die utopische Vision, die bestehenden politischen und sozialen Verhältnisse zu zerstören und eine ›bessere‹ und ›gerechtere‹ Gesellschaftsordnung zu schaffen, wie Sesselmann sie beschreibt, orientiert sich an einem unerreichbaren Ideal, das eher einer religiösen Prophezeiung als einer politischen Prognose gleicht.17 Die realistischen Chancen auf Umsetzbarkeit des herbeigesehnten Umsturzes waren für die junge, im emotionalen Auf bruch befindliche Generation jedoch ir13 | NEUGRODA, Manfred: Die Rigidität, mit der da gebrochen wurde, finde ich immer noch faszinierend. In: Karl-Heinz Heinemann/Thomas Jainter (Hg.): Ein langer Marsch. 1968 und die Folgen, Köln 1993, S. 116-126, hier S. 117. 14 | Vgl. NEUGRODA, Die Rigidität, S. 117. 15 | Vgl. GERLAND, Kirsten/MÖCKEL, Benjamin/RISTAU, Daniel: Die Erwartung. Neue Perspektiven der Generationenforschung. In: Dies. (Hg.): Generation und Erwartung. Konstruktion zwischen Vergangenheit und Zukunft (Göttinger Studien zur Generationenforschung, Bd. 12), Göttingen 2013, S. 9-26, hier S. 14. 16 | SESSELMANN, Matthias: Von der APO zum Opa. Autobiographie und Gedanken eines 68ers, Rinteln 1987, S. 45. 17 | Vgl. TANNER, Motions and Emotions, S. 77.

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relevant. Die Antiautoritären wollten ihre Zeit nicht mit konkreter Organisation, Vorbereitung und Planung der neuen Gesellschaft vergeuden. Es ging den linksstehenden Revolteuren nicht um die Durchsetzung fester Ziele und Programme, sondern darum, eine »Bewegung in Gang zu setzen und am Laufen zu halten«.18 Die Akteure der Revolte sperrten sich sogar dagegen, die künftige Gesellschaft detailliert zu beschreiben und hielten sich in ihren utopischen Visionen bewusst vage.19 Rudi Dutschke etwa betont, dass die Gestalt der ersehnten Gesellschaft nicht vorgegeben werden soll, da das Vorzeichnen »ja gerade Kennzeichen der etablierten Institutionen [sei], die den Menschen zwingen, etwas anzunehmen.«20 Viel wichtiger war stattdessen die ungebrochene Zuversicht, zur Herbeiführung der Revolution tatsächlich im Stande zu sein. Die Utopie der ›68er‹ lebte von Verheißung und nicht von Erfüllbarkeit. Ein Arbeitskreis ehemaliger SDS-Mitglieder, darunter Bernd Rahbel, FrankUwe Fuhrmann und Reiner Knoll, resümiert aus der Retrospektive, dass der Reiz für junge Menschen, am Protest mitzuwirken, in der vermeintlichen Gewissheit gelegen habe, sich in einer Zeitspanne der bevorstehenden Entscheidung zu befinden.21 Der Mobilisierungserfolg der jungen Generation durch das Aufgebot an Utopien habe in der Erzeugung einer »revolutionären Ungeduld«22 gelegen. Gerade das Leben im Widerstand und in Erwartung der unmittelbaren Umwälzung der Verhältnisse sei besonders attraktiv gewesen. »Der Antiautoritarismus bündelt alle Energien und Emotionen auf den Zustand einer Revolte. Ideologisch kennt er nur Zukunft, die Gegenwart wird als Leidensdruck erfahren«23, so der Arbeitskreis. Als dementsprechend unerträglich schildert der bekannte SDS-Aktivist Rudi Dutschke eine Zukunft ohne Revolution in einer Rede aus dem Jahr 1967: »Es bleibt nicht mehr viel Zeit – und ich weiß nicht, wie ich Euch nennen soll, alle Anreden sind von unseren Herren in Ost und West schon längst besetzt, es sei denn, Ihr akzeptiert den Begriff und die Anrede des Revolutionärs. […] Fürchtet nicht die schöpferische Unruhe, habt keine Angst um Eure ›persönliche Freiheit‹. Ein Leben in den Apparaten ist die Alternative, sie brächte die zynische Langeweile, die Borniertheit des Fachidioten, den Verrat an den uneingelösten Hoffnungen, die wir alle mit uns herumtragen, Hoffnungen auf eine 18 | KIESSLING, Die antiautoritäre Revolte der 68er, S. 115. 19 | Vgl. KIESSLING, Die antiautoritäre Revolte der 68er, S. 115. 20 | Interview mit Rudi Dutschke am 3. Dezember 1967, in: GAUS, Was bleibt, sind Fragen, S. 441. 21  |  Vgl. RAHBEL, Bernd/FUHRMANN, Frank-Uwe/KNOLL, Reiner u.a.: Die Provokationselite. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund und die sozialen Bewegungen in den 50er und 60er Jahren, Vorläufige Ergebnisse, Occasional Paper, April 1986, FU Berlin, unter: http://web.fu-berlin.de/APO-archiv/Online/SDSPROVO.htm (abgerufen am 25. März 2013). 22 | RAHBEL/FUHRMANN/KNOLL, Die Provokationselite. 23 | RAHBEL/FUHRMANN/KNOLL, Die Provokationselite.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er neue Gesellschaft, auf Glück, Befriedigung, Versöhnung, auf Entfaltung der individuellen Fähigkeiten des Menschen, auf Abschaffung von Manipulation, Krieg, Hunger, Elend und zusätzlicher Herrschaft von Menschen über Menschen, von Menschen über die Natur.« 24

Dutschke schwört sein Publikum auf den gesellschaftlichen Umsturz ein, indem er die Alternative, also ein Weiterleben im Rahmen der bestehenden Zustände, als langweilig, eingeschränkt und kleinkariert verdammt. Eine vorprogrammierte und fremdbestimmte Existenz droht laut Dutschke jedem, der den kollektiven euphorischen Zukunftsoptimismus aufgibt. Eine Abweichung vom einenden Prinzip der Hoffnung bedeutet für ihn Illoyalität und Verrat. Dutschke wählt die Anrede des Revolutionärs für seine Zuhörer, da angeblich alle anderen Titel von den politischen Machthabern im Kalten Krieg bereits in Beschlag genommen worden waren. Der Redner spricht ganz selbstverständlich vom ›Revolutionär‹ einerseits und den ›Herren in Ost und West‹ andererseits, was offenbart, dass Dutschke den Bereich der politischen Auseinandersetzung als ein männlich dominiertes gesellschaftliches Handlungsfeld betrachtet. Der Androzentrismus in Dutschkes Rede weist auf das Selbstverständnis einer maskulin dominierten politischen Bewegung hin. Dutschke verrät seine revolutionäre Ruhelosigkeit, wenn er ankündigt, dass nicht mehr viel Zeit bleibt und seine Anhänger beschwichtigt, keine Angst vor einer bevorstehenden Phase der ›schöpferischen Unruhe‹ zu haben. Er mobilisiert in seiner Ansprache stereotyp maskulin codierte Eigenschaften wie Zukunftsorientierung, Tatkraft, gesellschaftliche Teilhabe, Kampf bereitschaft, Energie und Ehrgeiz als zentrale Voraussetzungen für ein auf gesellschaftliche Veränderung abzielendes generationelles Handeln.25 Ein zufriedenes, selbstbestimmtes und herrschaftsfreies Leben ohne Krieg, Hunger und Elend in Hinblick auf die Länder der ›Dritten Welt‹ verspricht der studentische Wortführer für die Zeit nach der Revolution. Die Suche nach dem menschlichen Glück wird zum höchsten Ziel der 68er-Bewegung auserkoren. Wie Dutschkes Vorstellungen für eine bessere Zukunft zeigen, handelt es sich bei den spekulativen Zukunftsentwürfen der ›68er‹ ausschließlich um positiv formulierte sozialutopische Entwürfe, die auf Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden abzielen.26

24  |  DUTSCHKE, Rudi: Zum Verhältnis von Organisation und Emanzipationsbewegung – Zum Besuch Herbert Marcuses. In: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 2. Bd., S. 255-260, hier S. 255f. (Ursprünglich in: Oberbaumblatt, Wochenblatt in Berlin, Ausgabe vom 12. Juni 1967, 1. Jg., Nr. 5, S. 1 und S. 4-6.) 25 | Vgl. BENNINGHAUS, Das Geschlecht der Generation, S. 136f. 26 | Bei utopischen Entwürfen gilt es zwischen der negativen Utopie, auch Anti-Utopie oder Dystopie genannt, und der positiv formulierten Utopie, auch als Eutopie bezeichnet, zu unterscheiden. Es werden entweder dystopische Schreckens- und Furchtvisionen ausgemalt oder wie im Fall der ›68er‹ von einer wünschenswerten, besseren und menschlicheren Zukunft geträumt. Vgl. WASCHKUHN, Politische Utopien, S. 5.

1. Utopie

Auch in der Erinnerung von Reinhard Kahl, dem ehemaligen Bundesvorsitzenden des AUSS, findet eine verheißungsvolle Gleichsetzung von ›Revolution‹ und künftigem Glück statt, wenn er an die hoffnungsfrohe Zuversicht von ›1968‹ zurückdenkt: »Revolution war der euphorische Ausdruck für eine weite sonnige Zukunft.«27 Das Credo der Protestierenden lautete gemäß Kahl »[d]en anderen gehört[] vielleicht die Vergangenheit, uns gehört[] die Zukunft«28, was die uneingeschränkte Orientierung an der bevorstehenden Zeit abermals verdeutlicht. Die Empfindungen der Revolteure angesichts der als Stagnation wahrgenommenen Gegenwart veranschaulicht ferner ein zeitgenössisches Gedicht von Volkhard Brandes mit dem Titel ›Revolution‹ eindrücklich. Gegenwärtiger Leidensdruck als Triebfeder zur Veränderung und unerschütterlicher Zukunftsoptimismus werden gleichermaßen als Bestandteile des gemeinsamen emotionalen Haushalts stilisiert: »Revolution: Wenn das Unerträgliche, Das wir aus Gewohnheit (und Angst) so lange ertrugen, Unerträglich geworden ist Und das Selbstverständliche endlich Wirklichkeit wird.« 29 Es lässt sich festhalten, dass die Bereitschaft, das Unwahrscheinliche für möglich zu halten, in der studentischen Protestszene zur Tugend erhoben wurde.30 Das Bekenntnis zum heroischen Zukunftsoptimismus ist als Teil des kollektiven Gefühlssystems der Bewegung zu betrachten, wie auch verschiedene populäre Slogans aus der zeitgenössischen studentischen Protestszene belegen. Der Reim »Revolution ist machbar, Herr Nachbar!«31 war im Umfeld der Protestierenden genauso beliebt wie die Aufforderung »Seid realistisch, verlangt das Unmögliche!«32 Die kurzen, eingängigen Sprüche bringen die Begeisterung der Protestierenden für das Utopische auf den Punkt. Die Parolen »Unter dem Pflaster liegt 27 | KAHL, Reinhard: Arko und Demo. Die Göttinger Schülerbewegung. In: Daniel CohnBendit/Rüdiger Dammann (Hg.): 1968. Die Revolte, Frankfurt a.M. 2007, S. 47-76, hier S. 65. 28 | KAHL, Arko und Demo, S. 65. 29 | BRANDES, Volkhard: Wie der Stein ins Rollen kam. Vom Aufbruch in die Revolte der sechziger Jahre, Frankfurt a.M. 1988, S. 158. 30 | Vgl. SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 84; Vgl. BECKENBACH, Niels: Utopie und Wahn in der 68er-Bewegung. In: Susanne Hartwig/Isabella von Treskow (Hg.): Bruders Hüter/Bruder Mörder. Intellektuelle und Innergesellschaftliche Gewalt (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 122), Berlin/New York 2010, S. 93-108, hier S. 95. 31 | Vgl. SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 84. 32  |  Vgl. BAADER, Meike Sophia (Hg.): ›Seid realistisch, verlangt das Unmögliche!‹. Wie 1968 die Pädagogik bewegte, Weinheim/Basel 2008, Buchumschlag Vorderseite.

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der Strand«33, »Die Phantasie an die Macht!«34, »Phantasie wird zum Meer, das die bürgerliche Welt wegspült«35 oder »Jede neue Idee geht von einer gelebten Emotion aus«36 betonen die Rolle von Vorstellungskraft, Kreativität und emotionaler Aufgeschlossenheit für die Verwirklichung von Gesellschaftsveränderung.

1.2 N eue S ensibilität Die Idee, dass die Schaffung einer neuen befreiten Gesellschaft eng mit der emotionalen Verfasstheit der Individuen zu tun hat, die den revolutionären Umsturz herbeiführen, lieferte der Kulturphilosoph Herbert Marcuse und infizierte damit die Generation der protestierenden Studenten. In seinem 1969 erschienenen Werk Versuch über die Befreiung37 legt der Vertreter der Kritischen Theorie seine utopische Anthropologie eines neuen Menschen dar. Die Monografie avancierte ebenso wie die 1964 in den USA und 1967 in Deutschland publizierte vorhergehende utopische Theorie Der eindimensionale Mensch38 zum vielbeachteten Standardwerk der internationalen Studentenbewegung. Marcuse traf mit seiner utopischen Konzeption der neuen Sensibilität den Nerv der Zeit und prägte das emotionale Normenrepertoire der 68er-Bewegung, wie der Kulturwissenschaftler Nury Kim feststellt: »Im Begriff der neuen Sensibilität fand Marcuse das Stichwort, das den Text seiner Zeit wie ein Titel zu überschreiben schien.«39 Die Entfaltung einer veränderten Wahrnehmung und Empfindung, sowie die Artikulation und Freisetzung von Gefühlen bilden die Basis der Marcuse’schen Utopie eines neuen Menschen und einer neuen Gesellschaftsordnung. In der rationalisierten, kapitalistischen Konsum- und Leistungsgesellschaft der 1960er Jahre herrschte gemäß Marcus ein Menschentypus vor, der fixiert 33 | Vgl. SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 84. 34 | Vgl. BOHRER, Karl Heinz: 1968: Die Phantasie an die Macht? Studentenbewegung – Walter Benjamin – Surrealismus. In: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): 1968 – vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998, S. 288-300, hier S. 288. 35 | Vgl. Interview mit Dieter Kunzelmann Juni/Juli 1991, Teil II. In: DRESSEN, Wolfgang/ KUNZELMANN, Dieter/SIEPMANN Eckhard (Hg.): Nilpferd des höllischen Urwalds – Spuren in eine unbekannte Stadt – Situationisten, Gruppe SPUR, Kommune I (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Werkbund-Archivs, Berlin 30. Oktober bis 1. Dezember 1991), Gießen 1991, S. 154-166, hier S. 154. 36 | Vgl. BAADER, ›Seid realistisch, verlangt das Unmögliche!‹, Buchumschlag Rückseite. 37 | MARCUSE, Herbert: Versuch über die Befreiung, Sonderausgabe, Frankfurt a.M. 1969. Im Folgenden zitiert nach: Sonderausgabe, Frankfurt a.M. 2008. 38  |  Siehe: MARCUSE, Herbert: Der eindimensionale Mensch, Frankfurt a.M. 1967. 39 | KIM, Nury: Herbert Marcuse und die neue Sensibilität – Eine Lektüre der Studentenbewegung. In: Heinz-Peter Preußer/Matthias Wilde (Hg.): Kulturphilosophen als Leser. Porträts literarischer Lektüren, Göttingen 2006, S. 138-154, hier S. 138.

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war auf die maskulinen Prinzipien von Wettbewerb, Macht und Vernunft. Die Bürger der bestehenden Gesellschaft seien, so Marcuse, »von den Erfordernissen des Profits und der Ausbeutung durchdrungen. Der ganze Bereich der am Wettbewerb orientierten Leistungen und des standardisierten Vergnügens, all die Symbole von Status, Prestige und Macht, von inserierter Männlichkeit […]«40, verhindere eine freie Auslebung menschlicher Grundbedürfnisse. Die gegenwärtige Industriegesellschaft beschreibt Marcuse als eine Männerwelt, geprägt von Aggressivität und Brutalität, von raffinierter Rücksichtslosigkeit und moralischer Gleichgültigkeit, verursacht durch die ständige Jagd nach Leistung und finanziellem Erfolg.41 Als erstes Erfordernis, das der Befreiung aus dem Status quo vorherzugehen hat, nennt der Philosoph das dringliche Verlangen der Menschen nach Veränderung und die Freude am Umsturz.42 Er meint damit einen Menschentypus, »der die Revolution will, der die Revolution haben muß, weil er sonst zusammenbricht.«43 Ebendiese Voraussetzungen glaubt Marcuse in der antiautoritären Bewegung seiner Zeit zu erkennen, weshalb er sich sicher ist, dass die Erlangung einer neuen Sensibilität nicht mehr in ferner Zukunft zu suchen, sondern bereits zum politischen Faktor geworden ist: »Die neue Sensibilität ist eben deswegen Praxis geworden; sie entsteht gegen Gewalt und Ausbeutung, in einem Kampf für wesentlich neue Weisen und Formen des Lebens; sie impliziert die Negation des gesamten Establishments, seiner Moral, seiner Kultur; die Behauptung des Rechts, eine Gesellschaft zu errichten, in der die Abschaffung von Armut und Elend Wirklichkeit wird und das Sinnliche, das Spielerische, die Muße Existenzformen und damit Form der Gesellschaft selbst werden.« 44

Rezeptivität, Leichtigkeit und Gelassenheit sind die Faktoren, die in Marcuses utopischem Modell zur Grundlage einer befreiten Gesellschaft werden. Sie sollen Teil eines veränderten emotionalen Habitus von Individuen sein, die eine andere Sprache sprechen, andere Ausdrucksformen entwickeln, anderen Impulsen folgen und andere Werte gewinnen.45 Mit der Erlangung einer neuen Sensibilität, so hofft Marcuse, könne eine innere »Schranke gegen Grausamkeit, Brutalität und Häßlichkeit«46 errichtet werden. Die Aktivierung von Sinnlichkeit und Fantasie 40 | MARCUSE, Versuch über die Befreiung, S. 34. 41 | Vgl. MARCUSE, Herbert: Aggressivität in der gegenwärtigen Industriegesellschaft (1956). In: Ders. (Hg.): Schriften, Bd. 8, Frankfurt a.M. 1987, S. 41-59, hier S. 43. 42 | Vgl. MARCUSE, Versuch über die Befreiung, S. 36. 43 | MARCUSE, Herbert: Das Ende der Utopie, hg. von Horst Kurnitzky/Hansmartin Kuhn, Berlin 1967, S. 29. 44 | MARCUSE, Versuch über die Befreiung, S. 46. 45 | Vgl. MARCUSE, Versuch über die Befreiung, S. 40. 46 | MARCUSE, Versuch über die Befreiung, S. 40.

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soll zu mehr Menschlichkeit im gesellschaftlichen und politischen Miteinander führen und das »Diktat repressiver Vernunft«47 ablösen. Marcuse reproduziert in seinem Konzept der neuen Sensibilität die geschlechterstereotype Dichotomie, Vernunft, Aggressivität, Macht und Produktivität mit Männlichkeit und Emotion, Sinnlichkeit, Passivität und Friede mit Weiblichkeit zu assoziieren. Er propagiert den utopischen Entwurf einer Gesellschaft, die weniger nach männlichen und mehr nach weiblichen Prinzipien geformt ist. In dem Essay Konterrevolution und Revolte aus dem Jahr 1972 bringt er diese These noch deutlicher zum Ausdruck als in seinem Versuch über die Befreiung. Vor dem Hintergrund des Auf blühens der Neuen Frauenbewegung in den frühen 1970er Jahren spricht er sich für einen weiblichen Sozialismus aus, der nicht als Ablösung des Patriarchats durch das Matriarchat falsch zu verstehen sei, sondern als eine befreite Gesellschaft, die sich durch das emotionale Vermögen, rezeptiv, passiv und zärtlich zu sein, auszeichne. Das von der Arbeitswelt in Folge der geschlechtsspezifischen Aufgabenteilung weniger entfremdete und brutalisierte weibliche Geschlecht sei menschlicher und sinnlicher geblieben als das männliche, argumentiert Marcuse.48 Bedenkt man, dass es sich bei der 68er-Revolte um eine maskulin dominierte Bewegung gehandelt hat, so stellt sich die Frage, ob eine begeisterte Rezeption von Marcuses revolutionärer Utopie nicht nur auf eine Aufwertung von Emotionalität, sondern auch auf eine Zuwendung zu weiblich codierten sozialen Umgangs- und Gefühlsformen hindeutet. Rudi Dutschke übernimmt in seinen Überlegungen zum idealen Revolutionär jedenfalls Marcuses Idee, dass eine Verwandlung auf subjektiver, gefühlsmäßiger Ebene notwendig sei, um im revolutionären Kampf siegreich zu sein: »Er [der Revolutionär] verspürt infolge der bewußt gewordenen Erfahrung bei jedem Schritt […] die unausgenutzten Möglichkeiten der Humanisierung von Gesellschaft und Natur […]. Die menschliche Tiefe, die Beibehaltung der subjektiven Sensibilität wird möglich, wenn die Bestimmung aller Handlungen vom konkret-utopischen Zielpunkt, der Befreiung der Menschen von innerer und äußerer Unterdrückung, in jeder Phase des praktisch-politischen Kampfes durchgehalten wird […].« 49

Der studentische Aktivist propagiert gesteigerte Empfindsamkeit, wie sie kulturell weiblich codiert ist, als innere Grundhaltung des erfolgreichen Revolutionärs. Eine geschärfte Sensibilität ist gemäß Dutschke unverzichtbar, um Möglichkeiten der Gesellschaftsveränderung besser wahrnehmen zu können. In einem gemeinsamen Referat auf der 22. Delegiertenkonferenz des SDS beanstanden Dutschke und Hans-Jürgen Krahl, dass der Mehrheitsgesellschaft 47 | MARCUSE, Versuch über die Befreiung, S. 52. 48  |  Vgl. MARCUSE, Herbert: Konterrevolution und Revolte (1972). In: Ders. (Hg.): Schriften, Bd. 9, Frankfurt a.M. 1987, S. 7-128, hier S. 77ff. 49 | DUTSCHKE, Zum Verhältnis von Organisation und Emanzipationsbewegung, S. 1f.

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jegliches Gespür für Unterdrückung abhandengekommen sei. Sie unterstellen der bundesdeutschen Bevölkerung ein unerkanntes Leiden, nämlich die Unfähigkeit zur Empörung.50 Eine ähnliche Sichtweise nehmen Eckhard Siepmann, Bewohner der Wieland-Kommune und SDS-Mitglied, und der iranische Schriftsteller Bahman Nirumand, der sich an den Protesten der bundesdeutschen Studentenbewegung maßgeblich beteiligte, in einem Aufsatz aus dem Jahr 1968 ein. Unter dem Titel Die Zukunft der Revolution bescheinigen sie dem sogenannten ›Establishment‹ eine von Resignation und Phlegmatismus geprägte kollektive Gemütslage: »Leute, die den Zustand der Welt daran messen, wie ihre Geschäfte gehen, und die Moral auf die Apologie und Reproduktion all dessen abrichten, was den Status quo stabilisiert, pflegen als unwiderlegbarstes Argument gegen den Entwurf einer autonomen Gesellschaft den Einwand vorzubringen, sie sei zwar wünschenswert, scheitere aber, wenn nicht an der Schlechtigkeit der Menschen, so doch an der Unmöglichkeit ihrer Organisation; sie sei utopisch, daher unkonstruierbar. Begleitet wird dieses Argument von jener welterfahren-resignierenden Gebärde, die zu verstehen geben soll, der Abwinkende wünsche sich zwar auch eine ›bessere Welt‹, habe aber die Unabänderlichkeit der menschlichen Natur und die Unvollkommenheit allen Tuns und Strebens erkannt und anerkannt. So wird der platte Egoismus zum tiefen Skeptizismus; die Frage ›wie wollt ihr eine solche Gesellschaft einrichten?‹ soll den Blick ablenken von dem schlechten Gewissen des Fragenden.« 51

Siepmann und Nirumand bemängeln in diesem zeitgenössischen Essay die Einstellung derer, die den persönlichen Einsatz zur Gestaltung einer besseren Gesellschaft für vergeblich und die Umwälzung der Verhältnisse per se für unerreichbar halten. Als egoistisch, decouragiert und amoralisch verurteilen die beiden Aktivisten der 68er-Bewegung das mangelnde gesellschaftspolitische Engagement ihrer arrivierten Mitbürger und verraten damit wiederum etwas über ihre gruppeninternen emotionalen Standards. Als Mitglieder der linken Protestkultur grenzen sie sich bewusst von der mehrheitlichen westdeutschen Gesellschaft ab, indem sie dieser ein Defizit an Fantasie, Veränderungswillen oder in Marcuses Worten an neuer Sensibilität zuschreiben. Eine Hervorhebung der eigenen Einfühlungskraft, was das Erkennen von sozialem und politischem Unrecht betrifft, geht mit der Missbilligung von gleichgültiger Tatenlosigkeit und sensitiver Abgestumpftheit ›der anderen‹ einher.

50 | Vgl. DUTSCHKE, Rudi/KRAHL Hans-Jürgen: Organisationsreferat auf der XXII. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, 5. September 1967. In: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 2. Bd., S. 287-290, hier S. 289f. 51  |  NIRUMAND, Bahman/SIEPMANN, Eckhard: Die Zukunft der Revolution. In: Kursbuch 14 (1968), S. 71-100, hier S. 86f.

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1.3  G egenwartskritik Als Instrumentarium zur Herbeiführung des Umsturzes diente den Revoltierenden die Kritik an allem Bestehenden. Klaus Eschen, zur Zeit der 68er-Bewegung Jura-Student in Berlin und späterer Mitbegründer des Sozialistischen Anwaltskollektivs, beschreibt das strategische und radikale Hinterfragen der gesellschaftlichen Zustände als Entdeckung seiner Generation: »Wir entdeckten, daß vieles nicht so sein mußte wie es war. […] kurzum es wurde ›hinterfragt‹. Und zwar alles […].«52 In Kreisen des intellektuellen Protests galt es, gemäß Thomas Ziehe, der die Revolte der 68er-Bewegung in Hannover miterlebte, als äußerst erstrebenswert, in geradezu pedantischer Art und Weise »an jedem Partikel der Realität die Frage zu stellen, wo kommt denn das her, was steckt dahinter.«53 Der Mitte der 1960er Jahre einsetzende Trend zur Gegenwartskritik innerhalb des sich formierenden Protestmilieus steckte auch SDS-Mitglied und Bewohner der Kommune I, Rainer Langhans, an. Für ihn stellte der Ausbruch eines kollektiven Drangs nach Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse ein persönliches Befreiungserlebnis dar: »Plötzlich waren alle um mich herum von dem Gefühl überwältigt, dass ein ganz anderes Leben möglich wäre. Für mich jedenfalls war es entscheidend, man kann fast sagen lebensrettend, als ich das erste Mal sah: ich bin gesund, und krank ist die alte Ordnung, die mich bisher so bedrängt hat mit ihrer vermeintlichen Richtigkeit.« 54

Die festgefahrene Definition davon, was in der bundesdeutschen Gesellschaft der 1960er Jahre als normal/anormal, richtig/falsch, gesund/krank betrachtet wurde, war durch die allgemeine Umbruchsstimmung in Langhans’ Augen mit einem Schlag zum verhandelbaren, jederzeit widerruflichen Konstrukt geworden. Er stellt die Erkenntnis, die Realität durch kritisches Eingreifen nach Belieben verändern zu können, als Gefühl der Erleuchtung dar. Charakteristisch für das Verlangen der Protestierenden von ›1968‹ nach einer besseren Zukunft war die totale Negation alles Bestehenden. Wenn Langhans von den kontemporären Verhältnissen als ›alte Ordnung‹ spricht, dann entsteht beinahe der Eindruck, als wäre die revolutionäre Errichtung einer neuen Gesellschaft bereits gelungen. Die Parole »Schafft alles ab!«55, die in den Revolutionsjahren die Wände der Mensa der FU Berlin zierte, demonstriert unmissverständlich die Abneigung der 52 | ESCHEN, Klaus: Vernunft. In: Christiane Landgrebe/Jörg Plath (Hg.): ’68 und die Folgen. Ein unvollständiges Lexikon, Berlin 2008, S. 129-132, hier S. 131. 53 | ZIEHE, Thomas: Da ist immer ein Stück Distanz, dadurch wird man nicht ganz so heiß. In: Karl-Heinz Heinemann/Thomas Jainter (Hg.): Ein langer Marsch. 1968 und die Folgen, Köln 1993, S. 29-40, hier S. 33. 54 | LANGHANS, Rainer: Ich bin’s. Die ersten 68 Jahre, München 2008, S. 7f. 55 | MOSLER, Was wir wollten, was wir wurden, S. 238.

1. Utopie

protestierenden Studenten gegen Bestand, Konvention und Tradition. In einem Flugblatt einer Ad-hoc-Studentengruppe der FU Berlin aus dem Jahr 1969 heißt es außerdem in kämpferischem Gestus: »Denkt stets daran: Für alles Reaktionäre gilt, daß es nur fällt, wenn wir es zerschlagen!«56 Gefühle der Ablehnung und des Dissens erlebten im linken Protestmilieu der 68er-Bewegung also Hochkonjunktur, wie auch Matthias Horx hervorhebt: »Was uns als Generation verband, war die Vorstellung, elementar anders zu denken, zu fühlen und zu handeln als der Rest der Gesellschaft.«57 Horx gibt an, dass das gemeinsame »Dagegensein«58 die jungen Protestierenden vereinte und die Gefühlskultur der antiautoritären Bewegung maßgeblich prägte. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar betont, dass Kritik an den Traditionsbeständen der bundesdeutschen Gesellschaft in jeder nur denkbaren Hinsicht charakteristisch für die außerparlamentarische Bewegung gewesen sei. Nach seinem Ermessen war die destruktive Kraft der 68er-Revolte sogar weit größer als die konstruktive.59 Eine produktive Auseinandersetzung mit dem politischen und gesellschaftlichen System der Bundesrepublik war für die Bewegten von ›1968‹ nicht von Interesse. Die Möglichkeit, die bestehenden Verhältnisse systemimmanent als parlamentarische Kraft durch Wahlen und Reformen sukzessiv zu verändern, widerstrebte den linksorientierten Oppositionellen. Die vorherrschende Situation war ihnen derart zuwider, dass sie es gemäß Michael Schneider nicht mehr ertragen konnten, sich noch weiter damit zu befassen.60 Der zeitgenössische Slogan »Was wir hier sehen und erleben, ist überhaupt nicht mehr zu beschreiben, sondern nur noch zu ändern«61, gibt diese Verweigerungshaltung recht treffend wieder. Verbesserung war für die jungen Protestierenden, wie Joachim Barloschky, gleichbedeutend mit der kompromisslosen Beseitigung der existierenden gesellschaftlichen Ordnung: »Wir wollten die Gesellschaft […] verändern. Also, ich wollte die Gesellschaft […] verändern. Ich wollte es anders haben, besser haben. Also, die Spießergesellschaft weg.«62 Was Barloschky abwertend als spießig benennt, ist als die zeitgenössische Sehnsucht der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft nach Normalität, Sicherheit und Ruhe zu identifizieren. Der Historiker Dominik Geppert bescheinigt der 56  |  Flugblatt, Ad-hoc-Gruppe FU Berlin: Wir fangen an die Konsequenzen zu ziehen, 19. Mai 1969. In: Archiv der Münchner Arbeiterbewegung (AdMA), Archiv 451. 57 | HORX, Matthias: Aufstand im Schlaraffenland. Selbsterkenntnisse einer rebellischen Generation, München/Wien 1989, S. 11. 58 | HORX, Aufstand im Schlaraffenland, S. 11. 59 | Vgl. KRAUSHAAR, Denkmodelle der 68er-Bewegung, S. 15. 60 | Vgl. SCHNEIDER, Michael: Den Kopf verkehrt aufgesetzt oder Die melancholische Linke. Aspekte des Kulturzerfalls in den siebziger Jahren, Darmstadt/Neuwied 1981, S. 142. 61 | SCHNEIDER, Den Kopf verkehrt aufgesetzt, S. 142. 62  |  Joachim Barloschky, in: HANNOVER, Irmela/SCHNIBBEN, Cordt (Hg.): I can’t get no. Ein paar 68er treffen sich wieder und rechnen ab, Köln 2007, S. 135.

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bundesdeutschen Gesellschaft der 1950er und frühen 1960er Jahre die Tendenz, weniger am Auf bau einer neuen, besseren Gesellschaft interessiert gewesen zu sein, sondern vielmehr an der Wiedererlangung dessen, was man vor dem Krieg bereits erreicht zu haben glaubte. Die Grundstimmung dieser Zeit charakterisiert Geppert als rückwärtsgewandt, nostalgisch und aufs Private ausgerichtet.63 In der Ära Adenauer war eine Abneigung gegen politische Teilhabe und eine Abkehr vom öffentlichen Leben als Reaktion auf die überspannte und aggressive Politisierung sämtlicher gesellschaftlicher Bereiche im Nationalsozialismus zu beobachten. Symptomatisch für die politische Teilnahmslosigkeit und Angepasstheit dieser Zeit war der erfolgreiche Wahlslogan der CDU aus dem Jahr 1957, der schlicht »Keine Experimente«64 lautete. Gerade kritischen, jungen Menschen, die sich nach Veränderung sehnten, schien die Adenauer-Ära als eine »bleierne, auf der Stelle tretende […], verlorene Zeit.«65 Das Desinteresse an der aktiven Mitgestaltung der gesellschaftlichen Zukunft, welche die Mehrheitsbevölkerung auch Mitte der 1960er häufig noch auszeichnete, empörte die protestierenden Studenten. Auf einem Flugblatt aus dem Jahr 1967 stellten sie klar: »Demokratie heißt für uns nicht Friedhofsruhe.«66 Überdies förderte auch die Furcht vor einer Eskalation des Kalten Krieges das emotionale Bedürfnis nach Stabilität und veranlasste die Bürger der Bundesrepublik dazu, »die Vergangenheit unter eine Art Quarantäne zu stellen und sich mit größtmöglicher Geschlossenheit der Sicherung der Gegenwart zuzuwenden.«67 Dementsprechend wenig interessiert war die westdeutsche Gesellschaft an utopischem Denken. Die Hoffnungen und Bemühungen galten vielmehr der Errichtung und Sicherung von Realität: »Man richtete sich auf das realmögliche, den erreichbaren oder ›vernünftigen‹ Kompromiß ein […].«68 Die steigende Lebensqualität durch wirtschaftliche Prosperität und die zunehmenden Möglichkeiten des Konsums für breite Gesellschaftsschichten machten die Bürger satt, zufrieden und zuversichtlich und verdrängten utopisch inspirierte Kräfte.69 63  |  Vgl. GEPPERT, Dominik: Die Ära Adenauer, 3. Aufl., Darmstadt 2012, S. 84f. 64 | Vgl. WOLFRUM, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 2007, S. 151. 65 | SCHMID, Thomas: Die Wirklichkeit eines Traums. Versuch über die Grenzen des autopoietischen Vermögens meiner Generation. In: Lothar Bauer/Wilfried Gottschalch/ Reimut Reiche u.a. (Hg.): Die Früchte der Revolte. Über die Veränderung der politischen Kultur durch die Studentenbewegung, Berlin 1988, S. 7-33, hier S. 15. 66 | Flugblatt, Allgemeiner Studentenausschuß FU Berlin: Berlinerinnen und Berliner. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Presse- und Informationsstelle der FUB, Flugblätter und -schriften, Mai/Juni 1967. 67 | GEPPERT, Die Ära Adenauer, S. 89. 68 | LEHMANN, Günther K.: Macht der Utopie. Ein Jahrhundert der Gewalt, Stuttgart 1996, S. 401. 69 | Vgl. LEHMANN, Macht der Utopie, S. 402f.

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Ein weiterer Grund für die Utopie-Müdigkeit derer, die die NS-Diktatur miterlebt hatten, war die Erfahrung des Scheiterns der nationalsozialistischen Utopie. Die Erinnerung an die Propagierung der größenwahnsinnigen und brutalen Zukunftsvision eines ›Tausendjährigen Reiches‹, das durch die Vertreibung, Versklavung und Ermordung aller ›fremdrassigen Elemente‹ gemäß der ›Blutund Boden-Ideologie‹ verwirklicht werden sollte, schreckte viele bundesdeutsche Bürger von der Idee des Utopischen ab.70 Der an den Studentenprotesten beteiligte Politologe Xaver Brenner kritisiert deshalb, dass die Wunschträume seiner Elterngeneration rein konsumierbarer Art gewesen seien: »Das Schlaraffenland mit seinen Fress-, Wohnungs-, Auto- und Urlaubswellen […] war die neue Utopie der Dinge.«71 Der Mangel an Idealismus sowie die Saturiertheit der mehrheitlichen Gesellschaft war für die Bewegten der 68er-Revolte unverständlich und lieferte ihren utopischen Zukunftsvisionen nach radikaler Gesellschaftsveränderung Vorschub. »Der erstickende Schleier, der in den Nachkriegsjahren über dem Land lag, wurde plötzlich zerissen«72, erinnert sich Volkhard Brandes. Er umschreibt die für ihn beklemmende Beständigkeit vor Beginn der antiautoritären Bewegung mit dem Gefühl des Erstickens. Aufatmen bedeutete für ihn die Zeit, in der revolutionäre Träume Hochkonjunktur erfuhren.73 Vor dem Hintergrund einer gesamtgesellschaftlichen Mentalität, die nicht von den Leitwerten des Fortschritts und der Transformation geprägt war, fand die Kritische Theorie der Frankfurter Schule großen Anklang bei den veränderungsbegierigen Studenten. Die Fähigkeit zur ›totalen, rücksichtslosen Kritik‹ wurde vom SDS München bereits im Jahr 1965 zur Verhaltensnorm des sozialistischen Studenten erklärt: »Daher darf Kritik nicht als philosophisches Meditieren verstanden werden, als platonisches Bekenntnis zum Sozialismus, als Salonkritik […]. Kritik als vorwärtstreibendes Prinzip ist vielmehr p r a k t i s c h. In steter praktischer Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Umwelt ist Kritik demnach auch revolutionär, indem sie die Verhältnisse verändert, revolutioniert. Die veränderte Umwelt wirkt auf den Kritiker zurück. Kritik ist in diesem Sinne auch t o t a l, d.h. sie ist ›rücksichtslose Kritik alles Bestehenden‹ und sie verlangt den ganzen Menschen, nicht nur den privaten. Kritik ist für jeden einzelnen und jede Gruppe Selbstverständigung, Bewußtmachung und Bewußtwerdung. […] Nicht zuletzt ist es sozialistisches Verhalten jedes einzelnen SDS-Mitgliedes, wenn es versucht, möglichst 70 | Vgl. HERMAND, Jost: Die Utopie des Fortschritts. 12 Versuche, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 17-35. 71 | BRENNER, Xaver: Die vergessenen Utopien der 68er. Am Beginn eines neuen utopischen Zeitalters? In: Kommune. Forum für Politik, Ökonomie und Kultur 3 (2008), unter: www.oeko-net.de/kommune/kommune-2008/kommune-03-08/abrenner.htm (abgerufen am 8. April 2013). 72 | BRANDES, Wie der Stein ins Rollen kam, S. 8. 73 | Vgl. BRANDES, Wie der Stein ins Rollen kam, S. 8.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er viel Wissen anzueignen, und immer an sich zu arbeiten, um zur totalen und praktischen Kritik fähig zu sein.« 74

Auf dem Flugblatt preist der Münchner SDS Kritik als Wunderwaffe, als ›vorwärtstreibende‹, ›revolutionäre‹ und ›verändernde‹ Kraft an. Der Studentenverband geht davon aus, dass die Ausübung von Kritik Menschen erschafft, die in innerem Einklang mit sich selbst und ihrer Umwelt sind. Eine verklärende Haltung zur Wirkungsmächtigkeit von Kritik, wie sie in der antiparlamentarischen Bewegung von ›1968‹ vorzufinden war, lässt sich auch in einem autobiografischen Bericht von Rainer Bieling feststellen. Der an den Protesten der späten 1960er Jahre aktiv Beteiligte behält selbst zwanzig Jahre nach dem Höhepunkt der Revolte einen idealisierten Blick auf das Veränderungspotential der Kritischen Theorie bei, wenn er in äußerst selbstbewusstem Gestus behauptet: »In dieser Weise nie zuvor und seither unerreicht stellte die Protestbewegung das Leben am Ende des 20. Jahrhunderts als Ganzes in Frage und blieb zugleich, im Vollbesitz einer kritischen Theorie der Gesellschaft, keine Antwort schuldig.« 75 Neben einem bejahenden, äußerst optimistischen emotionalen Impetus, was die Erwartungen der Protestierenden für die Zukunft betraf, kamen also auch Impulse der Negation und Destruktion, die bestehenden Verhältnisse betreffend, in der 68er-Bewegung zum Tragen. Insofern trifft das von dem Historiker Jürgen Reulecke entworfene Bild ›zorniger junger Männer‹, die im 20. Jahrhundert wütend und potent den generationellen Wandel vorantreiben, auch auf die bundesdeutsche Protestbewegung der späten 1960er Jahre zu.76 Die Antiautoritären bemühten sich weniger darum, etwas Positives, Stabiles zu etablieren, sondern waren im Gegenteil eher darauf bedacht, »alles Gegebene, Bestehende, Vorgefundene prozessual zu zerreiben.« 77 Der Geschichtswissenschaftler Simon Kießling merkt treffenderweise an, dass es sich um ein Charakteristikum der 68er-Bewegung handelte, dass deren Protagonisten stets mit Nachdruck und Überzeugung zu sagen wussten, wogegen sie kämpfen, aber im Zweifel nicht genau wofür.78

74  |  Flugblatt, SDS München: Thesen zur Situation des SDS, 1965. In: AdMA, Archiv 451. 75 | BIELING, Rainer: Die Tränen der Revolution. Die 68er zwanzig Jahre danach, Berlin 1988, S. 18. 76 | Vgl. REULECKE, Jürgen: ›Ich möchte einer werden so wie die…‹. Männerbünde im 20. Jahrhundert (Geschichte und Geschlechter, Bd. 34), Frankfurt a.M./New York 2001, S. 19ff. 77 | KIESSLING, Die antiautoritäre Revolte der 68er, S. 117. 78 | Vgl. KIESSLING, Die antiautoritäre Revolte der 68er, S. 117.

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1.4 O mnipotenz »Es hängt primär von unserem Willen ab, wie diese Periode der Geschichte enden wird.« 79 Mit diesen Worten forderte Rudi Dutschke seine Genossen auf dem Internationalen Vietnamkongress im Jahr 1968 dazu auf, die eigene Zukunft selbst in die Hand zu nehmen, womit er den rebellierenden jungen Menschen eine machtvolle Position zuwies. Die Protestierenden der 68er-Bewegung glaubten, die kontemporären gesellschaftlichen Zustände neben dem Einsatz schonungsloser Kritik durch Entschlossenheit, Willensstärke und Tatkraft zum Wanken bringen zu können. In einem Interview mit dem Journalisten Günter Gaus führte der Studentenführer Dutschke weiter aus: »Wir sind nicht hoffnungslose Idioten der Geschichte, die unfähig sind, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen […] Wir können eine Welt gestalten, wie sie die Welt noch nie gesehen hat […]«.80 Ohnmacht, Unvermögen und Schwäche weist Dutschke damit für sich und seine protestierenden Genossen als ›idiotisch‹ von sich. Mit welchem überragenden Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten viele Aktivisten in den Jahren des Protests ausgestattet waren, beweist auch eine Anekdote, die in einer Diskussionsrunde ehemaliger ›68er‹ zur Sprache kam: Der Kommunarde Hans Joachim Hameister und das SDS-Mitglied Peter Schneider sahen in den späten 1960er Jahren die Revolution kommen und diskutierten deshalb schon einmal, wer von ihnen zukünftig welches politische Amt übernehmen werde. Bei der fantasierten Aufteilung von Regierungsämtern galt die Position des Kulturministers als besonders beliebt, da die Utopie einer Kulturrevolution bei den Protestierenden von großem Reiz war.81 Die zeitgenössischen Überlegungen der männlichen Revolteure demonstrieren deren feste Überzeugung, bald selbst als Regierungschefs tätig zu sein und zeigen, welche führenden Rollen sie für ihre eigene Zukunft erdachten. Die Vorstellung in einem historisch eminent bedeutsamen Auftrag zu handeln, erzeugte bei den Mitgliedern der Bewegung ein rauschartiges, kollektives Hochgefühl. Peter Schneider erinnert sich, dass die Schaffung einer neuen Gesellschaftsordnung innerhalb des studentischen Protestmilieus als Mission begriffen wurde: »[…] wir, die von diesem Wind Getragenen, fühlten uns von der Geschichte selbst dazu berufen, eine andere Gesellschaft nach neuen Regeln aufzubauen. Es war ein […] Rausch

79 | DUTSCHKE, Rudi: ›Genossen! Wir haben nicht mehr viel Zeit…‹, Referat auf dem ›Internationalen Vietnam-Kongreß‹ in West-Berlin, 18. Februar 1968. In: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 2. Bd., S. 344-345, hier S. 344. 80 | Interview mit Rudi Dutschke am 3. Dezember 1967, in: GAUS, Was bleibt, sind Fragen, S. 445. 81  |  Vgl. Peter Schneider, in: LÖNNENDONKER, Linksintellektueller Aufbruch, S. 221f.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er einer ›historisch notwendigen‹ und ›wissenschaftlich begründeten‹ Utopie, der von unseren Hirnen und Herzen Besitz ergriffen hatte.« 82

Das Gefühl der ›68er‹, von der Geschichte selbst zur Rebellion bestimmt zu sein, wie Schneider es beschreibt, basierte auf dem marxistischen Konzept des historischen Materialismus. Dieser prognostiziert eine von allgegenwärtigen sozialen Kämpfen geprägte Höherentwicklung der Gesellschaft, die schließlich in einer kommunistischen Ordnung als Idealzustand kulminiert. Der Marxismus versteht sich nicht als utopische Vision, die den Menschen als ethischer Orientierungsrahmen dienen soll, sondern als Wissenschaft der menschlichen Zivilisationsgeschichte, die auf konkrete Realisierung des gesellschaftlichen Umsturzes abzielt.83 Schneider lässt erkennen, dass zum einen die Aura der Wissenschaftlichkeit die marxistische Geschichtsphilosophie für die Studentenbewegung attraktiv und glaubhaft machte, er verdeutlicht zum anderen aber auch, dass gerade die utopischen Potentiale des Theoriemodells die Revolteure auf emotionaler Ebene ansprachen. Das Streben nach souveräner Selbstermächtigung und das optimistische Vertrauen in die Steuerbarkeit des Gesellschaftlichen, wie Schneider es zum Ausdruck bringt, waren charakteristisch für die 68er-Bewegung, die sich von allen begrenzenden, objektiven Faktoren der äußeren Welt lossagte.84 Die Protestierenden von ›1968‹ meinten, die Geschichte sei auf ihrer Seite, was offenbar viele der Aktivisten zu dem Glauben verführte, alles erreichen zu können. Thomas Schmid, Mitglied des SDS Frankfurt, räumt ein, dass die Protestjahre für ihn von einem Gefühl der Omnipotenz nach dem Motto »Anything goes«85 bestimmt waren: »Gerade das begründete Engagement und das leidenschaftliche Begehren, das Ruder herumzuwerfen, gerade das ließ […] uns erkennen, daß es Geschichte wirklich gibt und sie ein Spiel mit offenem Ausgang ist, gerade das ließ uns ahnen, daß wir auf den Schultern anderer stehen, ließ uns aber auch spüren, daß wir zählen. Die Welt wie am ersten Tag betreten: das muß mit der herrischen Geste von Eroberern […] nichts zu tun haben (obgleich wir von ihr nicht frei waren).« 86

Die in der linken Protestszene virulente Auffassung, die Zukunft könne ganz nach eigener Fasson gestaltet werden, führte gemäß Schmid für die jungen Menschen zu einer neuen emotionalen Erfahrung, die in der grundlegenden Aufwertung der eigenen Person bestand. Erstmals in ihren Leben meinten die Protes82 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 11. 83 | Vgl. SCHÖNHERR-MANN, Hans-Martin: Globale Normen und individuelles Handeln. Die Idee des Weltethos aus emanzipatorischer Perspektive, Würzburg 2010, S. 108f. 84 | Vgl. KIESSLING, Die antiautoritäre Revolte der 68er, S. 106. 85 | SCHMID, Die Wirklichkeit eines Traums, S. 8. 86 | SCHMID, Die Wirklichkeit eines Traums, S. 8.

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tierenden, wirklich ›etwas zu zählen‹, also eine bedeutsame und einflussreiche Rolle im Auf bau einer künftigen Gesellschaft zu spielen. Schmid offenbart, dass seine Generation zwar leise Zweifel an ihrer tatsächlichen Macht zum radikalen Systemumsturz hegte, sich aber dennoch wie Eroberer, Bezwinger und Herrscher einer nahen Zukunft fühlte. Das Bild des forschen und tollkühnen Eroberers, der ein unbekanntes Land meist unter Zuhilfenahme gewaltsamer Mittel unterwirft, stammt aus der Zeit des Kolonialimperialismus des 15. und 16. Jahrhunderts und entspricht dem Männlichkeitsideal des Seefahrers und Entdeckers. Dieser kulturelle Typus von Männlichkeit charakterisiert die Geschlechterforscherin Raewyn Connell als autoritär-aggressiv, begierig nach Reichtum und Ehre und von einem egozentrischen Individualismus geprägt.87 Die Metapher der imperialistischen Seefahrt benutzt neben Schmid auch Peter Mosler, um die siegesgewisse Aufbruchsstimmung der maskulin codierten 68er-Bewegung zu illustrieren. Laut dem SDS-Mitglied waren die Protestierenden »von der Erschütterung und dem Rausch von Seefahrern ergriffen, die ein neues Land entdeckten, voller Neugier und Begierde, es in Besitz zu nehmen, denn sie erwarteten das gelobte Land.«88 Die Aktivisten der 68er-Bewegung waren zwar nicht, wie die kolonialistischen Eroberer, von der Gier nach Gold und Landbesitz getrieben, teilten jedoch die Neugierde und Beharrlichkeit auf der Suche nach neuen Ufern und das Streben nach Macht. Die Entdeckung, dass die eigene Geschichte form- und verhandelbar ist, wird von zahlreichen Mitgliedern der Protestbewegung auf die Zeit datiert, die auf den Tod des demonstrierenden Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 folgte. In dieser Zeitspanne kippte gemäß Klaus Hartung plötzlich die im Protestmilieu vorherrschende Meinung als radikale Opposition chancenlos zu sein. Als »das große Gefühl«89 seiner Generation benennt der SDS-Aktivist die Phase des Protestverlaufs, als es der studentischen Bewegung gelang, über die Universitätspolitik hinaus Einfluss auf entscheidende Fragen der bundesdeutschen Innenpolitik zu nehmen. In dem Moment glaubten die Protestierenden gemäß Hartung, dass die Welt sich nun um sie drehe.90 Er beschreibt diese Zeit als »[d]ie Wende von der Ohnmacht zur Allmacht. Wir konnten tatsächlich unsere eigene Geschichte schreiben.«91 Für die Bewegten von ›1968‹ war es ein enthusiastisches Erlebnis, die politischen Machthaber der Bundesrepublik zu Reaktionen auf politische Themen zwingen zu können, die für die Protestierenden von großer Bedeutung waren. 87 | Vgl. CONNELL, Der gemachte Mann, S. 207. 88 | MOSLER, Was wir wollten, was wir wurden, S. 236. 89  |  HARTUNG, Klaus: Das große Gefühl. In: Der Tagesspiegel, Ausgabe vom 11. April 2008, unter: www.tagesspiegel.de/kultur/1968-das-grosse-gefuehl/1208548.html (abgerufen am 21. April 2013). 90 | Vgl. HARTUNG, Das große Gefühl. 91 | HARTUNG, Das große Gefühl.

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Allmächtig fühlte sich im Angesicht der »utopisch anmutenden Erfahrung«92, plötzlich etwas bewegen und verändern zu können, auch Cordt Schnibben. Der Schüleraktivist schildert den emotionalen Haushalt seines Umfeldes in den Hochphasen der Protestbewegung als überbordendes Glück: »Wir lebten in dem Gefühl, ehrlicher zu leben, sinnvoller und moralischer als die ›Spießer‹ und ›Konsumtrottel‹, wir glaubten zu denen zu gehören, die das Richtige zur richtigen Zeit tun, wie ein Surfer, der auf einer gewaltigen Welle vor Glück brüllend dem Strand entgegenfliegt.« 93

Schnibben verwendet die Symbolik einer gigantischen Welle, also einer Naturgewalt, um das Gefühl der Kraft, Dynamik und Energie seiner politischen Generation zu verdeutlichen. Er legt dar, dass die Protestierenden Ende der 1960er ein Überlegenheitsgefühl entwickelten und voll und ganz der Überzeugung waren – im Gegensatz zum ›Establishment‹ – richtig, ehrlich, moralisch und sinnvoll zu handeln. Das Gefühl, als einzig gesellschaftliche Gruppe »den Durchblick«94 zu haben, war für die revoltierenden jungen Menschen ein Erlebnis, das gemäß dem APO-Aktivisten Rainer Bieling zu einer Selbstsicherheit führte, die manchmal auch in Überheblichkeit umschlagen konnte.95 Robert Bücking, der an der 68er-Bewegung als Oberschüler beteiligt war, berichtet rückblickend von einer euphorischen Stimmungslage, die er umgangssprachlich mit dem Gefühl, »uns platzt der Schädel vor Selbstbewusstsein«96, umschreibt. Die einer Kampfansage gleichenden Gewissheit, »wir nehmen sie alle auseinander und sind durch nichts aufzuhalten«97 manifestierte sich als Teil der emotionalen Kultur der maskulin codierten antiautoritären Protestbewegung. Folglich nahm die kulturelle Direktive männlicher Omnipotenz und Schöpferkraft in der Rebellion von ›1968‹ deutlich Gestalt an. Die maskulin codierte 68er-Bewegung kultivierte eine euphorische Umbruchspolemik, mithilfe derer nach innen hin Einigkeit und revolutionärer Tatendrang erzeugt und nach außen hin Selbstbewusstsein und Überlegenheit demonstriert werden sollte.98 Die ehrgeizigen Ambitionen der Protestgemeinde waren für ihre Mitglieder jedoch schwer umzusetzen, wie der Politikwissenschaftler und ehemalige SDS-Aktivist Hajo Funke im Jahr 1998 in einem Blick zurück erklärt:

92  |  SCHNIBBEN, Cordt: Das große Sackhüpfen. Cordt Schnibben über seine APO-Jahre in Bremen. In: Der Spiegel, Ausgabe vom 29. Januar 2001, Nr. 5, S. 172-176, hier S. 173. 93 | SCHNIBBEN, Das große Sackhüpfen, S. 173. 94 | BIELING, Die Tränen der Revolution, S. 34. 95 | Vgl. BIELING, Die Tränen der Revolution, S. 34. 96  |  Robert Bücking, in: HANNOVER/SCHNIBBEN, I can’t get no, S. 69. 97  |  Robert Bücking, in: HANNOVER/SCHNIBBEN, I can’t get no, S. 69. 98  |  Vgl. Hajo Funke, in: LÖNNENDONKER, Linksintellektueller Aufbruch, S. 186.

1. Utopie »Es lag ein ungeheurer theoretischer Anspruch im Raum, den es sozusagen praktisch einzulösen galt, nämlich der Anspruch, daß wir […] jetzt tatsächlich die Verhältnisse kippen. […] Und diese Spannung, dieser Wunsch oder auch die Idee, daß man allmächtig ist, daß man es wirklich schafft, daß wir es gerade sind, dieser existentialistische Mut, der daraus sozusagen provoziert werden sollte, der verhielt sich natürlich sehr schwer zu den Erfahrungen.« 99

Gemäß Funke bemerkten die Protestierenden sehr wohl, dass die realen Chancen zur Veränderung und ihre utopischen Visionen weit auseinanderklafften. Das Verlangen, die Verhältnisse zu stürzen, war in aller Munde, wurde innerhalb der linksintellektuellen Protestszene theoretisiert, diskutiert und proklamiert. Dieser enorme theoretische Anspruch setzte die Akteure von ›1968‹ laut Funke unter emotionalen Druck. Allmachts- und Größenfantasien, wie sie in der außerparlamentarischen Bewegung vorzufinden waren, entstehen meist in Lebenssituationen und -stadien, in denen das tatsächliche Können kümmerlich hinter den hochgegriffenen fantasierten Ansprüchen zurückbleibt. Funke legt dar, dass es einem emotionalen Ideal der Protestkultur entsprach, sich mit Unerschrockenheit, Durchsetzungsvermögen und Entschlossenheit dem revolutionären Wandel der bestehenden Verhältnisse zu verschreiben. Die durch eine euphorische und enthusiastische Revolutionsstimmung geweckten Omnipotenzgefühle konnten angesichts der realen Protestereignisse und alltäglichen Erfahrungen jedoch nicht dauerhaft bewahrt werden, so das SDS-Mitglied. Einen inneren Zwiespalt bezeugt auch Klaus Hartung, wenn er von einer Zeit spricht, »in der das Gefühl vorherrschte, über unsere Verhältnisse zu leben, aber zugleich auch ein Gefühl […] fürn [sic!] Moment die Chance zu haben, die Tür offen zu halten.«100 Laut Hartung war bei den Protestierenden durchaus ein selbstreflexives Bewusstsein für die eigene Vermessenheit und den eigenen Übermut vorhanden, was den emotionalen Impuls der Bewegten, die Revolution unmittelbar vor der Tür zu wähnen, dennoch nicht schmälerte.

1.5  Z wischenresümee Das Lebensgefühl all derer, die sich zur Protestbewegung von ›1968‹ zählten, zeichnete sich durch den festen Glauben aus, die unmittelbare Zukunft aktiv gestalten und umfassend verändern zu können. Utopische Energien und euphorische Auf bruchsstimmung bestimmten die Revolte gerade in der Initialphase des Protests. Die Bereitschaft, das Unwahrscheinliche für möglich zu halten, gehörte zum kollektiven Gefühlsrepertoire der zukunftsoptimistischen 68er-Bewegung, die die Suche nach menschlichem Glück zum obersten Ziel ihres Handelns 99  |  Hajo Funke, in: LÖNNENDONKER, Linksintellektueller Aufbruch, S. 186. 100  |  Klaus Hartung, in: SCHAUER, Prima Klima, S. 17.

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auserkoren hatte. Maskulin codierte Dispositionen wie Zukunftsorientierung, Kampf bereitschaft und Entschlossenheit standen als Eigenschaften zur Verwirklichung der revolutionären Träume hoch im Kurs. Der neue Mensch, wie ihn sich die Akteure der Protestbewegung erträumten, sollte sich jedoch auch durch eine neuartige emotionale Konstitution auszeichnen, für die der politische Philosoph Herbert Marcuse den Begriff der ›neuen Sensibilität‹ geprägt hatte. Der intellektuelle Mentor der Protestierenden propagierte die Aktivierung von Sinnlichkeit, Fantasie und Leichtigkeit, um die nach männlichen Prinzipien geformte, aggressive, rücksichtslose und amoralische Leistungsgesellschaft zu überwinden. Die protestierenden Studenten betrachteten gesteigerte Empfindsamkeit, wie sie kulturell weiblich codiert ist, als notwendige innere Grundhaltung eines erfolgreichen Revolutionärs, damit dieser gesellschaftliches Unrecht besser erkennen kann. Zugleich unterstellten sie der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft eine sensitive Abgestumpftheit und ein Unvermögen zur Empörung. Die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft evozierte innerhalb des linksintellektuellen Protestmilieus aber auch Gefühle der Negation und Destruktion. Totale, rücksichtlose Kritik an allem Bestehenden sollte den gewünschten Umsturz herbeiführen. Die Utopiemüdigkeit und politische Teilnahmslosigkeit des als saturiert und rückwärtsgewandt empfundenen ›Establishments‹ provozierte die junge Generation zum radikalen Hinterfragen sämtlicher gesellschaftlicher Traditionsbestände und schürte ihr Verlangen nach Transformation, Beseitigung oder gar Zerstörung des gegenwärtigen Systems. Zuweilen führte die siegessichere Gewissheit, einen historisch bedeutsamen Wandel in Gang setzen zu können, bei den männlichen Protestierenden zu einem übersteigerten Selbstbewusstsein, einem Gefühl der Omnipotenz. Die Aktivisten fühlten sich wie Entdecker und Eroberer einer nahen Zukunft und glaubten durch die Kraft ihres Willens ihre Geschichte selbst schreiben zu können. Ein unumstößliches Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und ein revolutionärer Übermut bestimmten demnach den normativen Gefühlshaushalt der antiautoritären Bewegung. Die Allmachts- und Größenfantasien der Revolteure entstanden durch die Unvereinbarkeit der enorm hohen Erwartungen an sich selbst und die verschwindend geringen Chancen zur Umsetzung der revolutionären Ambitionen. Von den hohen Ansprüchen der utopischen Umsturzpläne fühlten sich die Bewegten von ›1968‹ insgeheim auch manchmal überfordert.

2. Solidarität

Der Prozess der Dekolonisation, im Zuge dessen die Kolonialvölker sich entweder kämpferisch aus der Abhängigkeit der imperialistischen Mächte befreiten oder von ihren sich zurückziehenden Kolonialherren friedlich in die Unabhängigkeit entlassen wurden, ist als eine der bedeutendsten globalgeschichtlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts einzustufen.1 Die Schwächung der europäischen Mächte durch den Zweiten Weltkrieg »zerschlug die machtpolitischen Grundlagen des europäischen Imperialismus«2, was den Abbau der Kolonialherrschaft in den Nachkriegsjahrzehnten rasch vorantrieb. Zwischen 1945 und 1955 wurde fast ganz Südostasien und ein großer Teil der Länder des Nahen und Mittleren Ostens entkolonisiert, zwischen 1955 und 1976 erlangten die Staaten des afrikanischen Kontinents nach und nach ihre Unabhängigkeit.3 So betrat in der Zeit des OstWest-Konfliktes ein neuer Akteur die Bühne der internationalen Politik, der sich zu keinem der beiden Machtblöcke des Kalten Krieges zuordnen ließ: die ›Dritte Welt‹.4 Die Internationalisierung kulturdiplomatischer Anstrengungen seit der 1 | Vgl. MOMMSEN, Wolfgang: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Das Ende der Kolonialreiche. Dekolonisation und die Politik der Großmächte, Frankfurt a.M. 1990, S. 7-23, hier S. 7. 2 | HEIN, Bastian: Die Westdeutschen und die Dritte Welt. Entwicklungspolitik und Entwicklungsdienste zwischen Reform und Revolte 1959-1974, Oldenburg 2006, S. 13. 3  |  Der in den 1950er Jahren verstärkt einsetzende Vorgang der Dekolonisation setzte sich aus einer Vielzahl an unterschiedlichen Entwicklungen zusammen, die zu einem durch innenpolitische Faktoren in ›Mutterland‹ und Kolonie und zum anderen durch globalpolitische Makroprozesse bestimmt waren. Insofern sind die einzelnen Ablösungsprozesse der Kolonien von ihren Kolonialmächten nach dem Zweiten Weltkrieg in ihrer Gesamtheit politisch und historisch sehr komplex und in Kürze schwierig darzustellen. Vgl. HEIN, Die Westdeutschen und die Dritte Welt, S. 11. 4  |  Im Jahr 1961 entstand die Bewegung der Blockfreien Staaten, der sich in erster Linie asiatische, lateinamerikanische und afrikanische Staaten – sowie als einzig europäisches Land Jugoslawien – anschlossen. Ziel der Bewegung war es, sich nicht in den Ost-WestKonflikt einbinden zu lassen. Die neutralen blockfreien Staaten setzen sich gegen Kolonialismus und Rassendiskriminierung ein und forderten den Abbau der Spannungen

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Gründung der Vereinigten Nationen im Jahr 1945 und die Verkürzung transnationaler Kommunikationswege durch das neue Leitmedium Fernsehen führten dazu, dass das Elend und die Ungerechtigkeiten der ›Dritten Welt‹ in den 1960er Jahren für den bundesdeutschen Bürger unmittelbarer wurden.5 Die durch das Fernsehen allgegenwärtigen, bestürzenden Bilder von Armut, Hunger und Krieg in (ehemaligen) Kolonialländern waren gerade für viele junge Menschen nicht zu vereinbaren mit der prosperierenden Wohlstands- und Konsumgesellschaft, in der sie selbst lebten.6 Insofern sieht der Politikwissenschaftler Ingo Juchler im ›Dritte-Welt‹-Bezug den treibenden emotionalen Motor für die Proteste der linksstehenden Studenten auf der ganzen Welt.7 Die Prämissen des Antikolonialismus und Antiimperialismus einten die heterogenen Akteure der 68er-Bewegung national und international. Als Dreh- und Angelpunkte der Mobilisierung von Protestpotential sind die Identifikation mit den unterdrückten und ausgebeuteten Kolonialvölkern und die Solidarisierung mit den Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen in Asien, Afrika und Südamerika auszumachen. Besondere Bedeutung bei der Entstehung der bundesdeutschen Protestbewegung kam dem Vietnamkonflikt zu, der von den rebellierenden Studenten als Modellfall in der Auseinandersetzung zwischen den immer reicher werdenden Industriestaaten und den weit dahinter zurückbleibenden Agrarstaaten betrachtet wurde. Über die allgemeine Forderung nach der Stärkung von individueller Freiheit und demokratischer Teilhabe gelang es den Protestierenden, die Verhältnisse der ›Dritten Welt‹ mit denen der bundesdeutschen Wirtschaftswundergesellschaft zu verbinden. Welche Rolle der politische Kampf begriff der Solidarität für die Konstitution zwischen den Machtblöcken sowie die Vernichtung von deren Kernwaffenarsenalen. Vgl. WOLFRUM, Edgar: Globale Geschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007, S. 144ff. Mit dem Wegfall der ›Zweiten – kommunistischen – Welt‹ wurde der Begriff ›Dritte Welt‹ für wirtschaftlich unterentwickelte, politisch schwache Länder der südlichen Erdhalbkugel benutzt. Der Terminus kann diskriminierend im Sinne einer Rangordnung (drittrangig) verstanden werden. Da der Begriff ›Entwicklungsländer‹ oder die Umschreibung ›Länder des Südens‹ ebenfalls problematisch sind, verwende ich den Ausdruck ›Dritte Welt‹, setze ihn aber in Anführungszeichen. 5 | Vgl. HEIN, Die Westdeutschen und die Dritte Welt, S. 140. 6  |  Insbesondere die Aufnahmen von vietnamesischen Kindern mit verbrannter Haut, als Folge des flächendeckenden Abwurfs der Brandwaffe Napalm durch die U.S.-amerikanischen Streitkräfte im Vietnamkrieg, schockierten und empörten das westliche Fernsehpublikum. Vgl. SIEMENS, Anne Maria: Durch die Institutionen oder in den Terrorismus: Die Wege von Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit, Hans-Joachim Klein und Johannes Weinrich, Frankfurt a.M. 2006, S. 99. 7 | Vgl. JUCHLER, Ingo: Die Studentenbewegung in den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland der sechziger Jahre. Eine Untersuchung hinsichtlich ihrer Beeinflussung durch Befreiungsbewegungen und -theorien aus der Dritten Welt (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Bd. 88), Berlin 1996, S. 17.

2. Solidarität

des Gefühlshaushalts der westdeutschen 68er-Bewegung als emotionale Gemeinschaft spielte, steht nachfolgend im Zentrum der Analyse.

2.1 I nternationaler Z usammenhalt In den Jahren des Protests wurde kaum ein Flugblatt, eine Rede oder ein Positionspapier zum Thema der ›Dritten Welt‹ verfasst, in der die Forderung nach Solidarität mit den unterdrückten Völkern nicht im Mittelpunkt der Botschaft stand. Der Philosoph Jan Peter Beckmann definiert Solidarität als die sozialethische Einstellung, »sich miteinander verbunden (›solidarisch‹) zu fühlen, füreinander einzutreten, gemeinsam für etwas zu kämpfen.« 8 Obgleich Solidarität intellektuell, also auf Vernunft beruhend, hergestellt wird, besitzt sie unverkennbar ein affektives Fundament. Vergemeinschaftungen ohne erregende, aber auch verbindende Leidenschaften sind kaum möglich.9 Bedeutsam für die Existenz einer Solidargemeinschaft ist zudem eine gewisse Ähnlichkeit miteinander, zum einen hinsichtlich der Betroffenheit und zum anderen, was die Aufgabe des Helfens und die Pflicht gemeinsamer Haftung betrifft.10 Wie die bundesdeutsche Protestbewegung von ›1968‹ ein Gefühl der Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit mit Ländern der ›Dritten Welt‹ konstruierte, wird in der Eröffnungsrede zum Internationalen Vietnamkongress deutlich, der am 17. und 18. Februar 1968 an der Technischen Universität Berlin (TU Berlin) stattfand: »Die Internationale Vietnamkonferenz […] wurde bestimmt von der Erkenntnis, daß der Imperialismus, der die Befreiungsbewegung in Vietnam zu zerschlagen sucht, ein weltweites System ist, dessen Ausprägung zwar verschieden, seine wesentliche Bestimmung aber, Repressionsmaschinerie gegen die Menschheit zu sein, überall identisch ist. Es ergeben sich also unterschiedliche Bedingungen und somit besondere Formen des Kampfes, die zu zerbrechende Macht bleibt die gleiche. Solidarität mit dem vietnamesischen Volk bedeutet für uns, Ho Chi Minhs Aufforderung an chinesische Kommunisten ›Errichtet die Revolution in eurem eigenen Land‹ zu übernehmen und an dieser Aufgabe zu arbeiten.«11

8  |  BECKMANN, Jan P.: Über Solidarität und Individualismus. In: Hubertus Busche (Hg.): Solidarität. Ein Prinzip des Rechts und der Ethik, Würzburg 2011, S. 55-69, hier S. 59. 9 | Vgl. KREISKY, Eva: Brüderlichkeit und Solidarität. Maskuline Fahnenworte einer politischen Ethik der Moderne. In: Alberto Godenzi (Hg.): Solidarität. Auflösung partikularer Identitäten und Interessen (Res Socialis, Bd. 9) Freiburg 1999, S. 29-111, hier S. 66. 10  |  Vgl. BECKMANN, Über Solidarität und Individualismus, S. 59. 11  |  DRESSEN, Wolfgang/PLOGSTEDT, Sibylle/ROT T, Gerhart: Vorwort. In: SDS Westberlin/Internationales Nachrichten- und Forschungsinstitut (Hg.): Der Kampf des vietnamesischen Volkes und die Globalstrategie des Imperialismus. Internationaler Vietnam-Kongreß 17./18. Februar 1968 Westberlin, Berlin 1968, S. 5-11, hier S. 1.

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Die SDS-Mitglieder Wolfgang Dreßen, Sibylle Plogstedt und Gerhart Rott konstituierten in ihrer appellativen Rede einen engen Zusammenhang zwischen dem Kampf der vietnamesischen Befreiungsbewegung und dem Protest der westdeutschen, außerparlamentarischen Bewegung, da der Imperialismus für sie ein weltumgreifendes System darstellte, das alle Völker gleichermaßen betraf. Das Gefühl, von den jeweiligen Machthabern und Regierungen unterdrückt zu werden, schien für die Protestierenden die eminenten Unterschiede zwischen den politischen Gegebenheiten einer demokratischen, westlichen Industrienation, wie der Bundesrepublik und einem wirtschaftlich rückständigen, im Bürgerkrieg befindlichen ›Dritte-Welt‹-Land wie Vietnam, auf ein Minimum zu schmälern. Von einem Genossen, der nicht persönlich am Berliner Kongress teilnehmen konnte, hieß es in schriftlich übermittelten Freundschaftsgrüßen: »Daß meine Hoffnungen und Empörungen identisch sind mit Euren Hoffnungen und Empörungen und daß unsere Hoffnungen und Empörungen identisch sind mit denen […] des vietnamesischen Volkes […] versteht sich von selbst.«12 Der Verfasser dieses Schreibens nahm die Existenz einer authentischen Gefühlsgemeinschaft mit den Teilnehmern der Konferenz sowie mit den Menschen in Vietnam als selbstverständlich an. Der SED-Dissident Robert Havemann ging sogar noch weiter: In der Theoriezeitschrift des SDS Neue Kritik äußerte er, der Krieg in Vietnam sei eine Tragödie, die die ganze Menschheit in ihrem Leiden vereine. »Der Krieg in Vietnam findet nicht nur in Vietnam statt«, so Havemann, »er ist überall. In allen Ländern der Erde spüren wir ihn, fühlen uns von ihm bedroht, hoffen auf sein Ende.«13 Der dem SDS nahestehende ostdeutsche Regimekritiker stellte damit die These auf, dass durch das Bedrohungspotential des Vietnamkrieges eine weltweite Solidargemeinschaft entstanden sei. Die Befürchtung, der Konflikt in Vietnam könne durch eine geografische Ausbreitung und die Involvierung von weiteren Staaten zum Dritten Weltkrieg eskalieren,14 wurde in den Kreisen der Neuen Linken zu dieser Zeit des Öfteren verlautbart. Solidarität setzt immer ein Bewusstsein der Krise voraus, wie die Politikwissenschaftlerin Eva Kreisky anmerkt.15 Seit der Indochinakonferenz von 1954 war Vietnam provisorisch in einen westlich geprägten Süden und einen kommunistischen Norden geteilt. Der nach Kriegsende einsetzende Prozess der Dekolonisation schuf eine Reihe solcher alternativer Sozialismen, die große Faszination auf die jungen Radikalen in Europa ausübten und von den Protestierenden als Aufbrüche zu neuen Ufern interpretiert wurden. Die Tatsache, dass diese neuen sozialistischen Systeme noch jung 12  |  Freundschaftsgrüße von Günther Anders, in: SDS Westberlin/Internationales Nachrichten- und Forschungsinstitut (Hg.): Der Kampf des vietnamesischen Volkes, S. 97-101, hier S. 97. 13 | HAVEMANN, Robert: Vietnam und wir. In: Neue Kritik 7 (1966), Heft 35, S. 15-18, hier S. 15. 14 | Vgl. HAVEMANN, Vietnam und wir, S. 15. 15 | Vgl. KREISKY, Brüderlichkeit und Solidarität, S. 33.

2. Solidarität

waren und sich in weiter Ferne entwickelten, steigerte deren Attraktivität für die bundesdeutschen Revolteure, die sich nach utopischen Potentialen sehnten.16 Die von der Sowjetunion und der Volksrepublik China unterstützte Nationale Front für die Befreiung Südvietnams, eine kommunistische Guerillaorganisation, auch Vietcong genannt, leistete bewaffneten Widerstand gegen die pro-westliche Regierung Südvietnams. Als die U.S.A. auf Seiten Südvietnams mit verheerenden Bombardements gegen Nordvietnam militärisch in den kriegerischen Konflikt eingriffen, um eine Ausbreitung der kommunistischen Herrschaft im asiatischen Raum zu verhindern, entwickelte sich der vietnamesische Bürgerkrieg im Jahr 1965 endgültig zum Stellvertreterkrieg der beiden Supermächte. Der Krieg wurde auf beiden Seiten mit brutalsten Mitteln geführt, eine Gewaltspirale setzte sich in Gang.17 Von den linksstehenden Studenten der westlichen Welt wurde der Befreiungskampf des Vietcongs als »legitimer und unvermeidlicher Akt der Notwehr«18 interpretiert, während der U.S.-amerikanische Staat von den Protestierenden als imperialistischer Aggressor stilisiert wurde, der sich über das Selbstbestimmungsrecht der Völker hinwegsetzt und die Rolle als »Weltpolizist«19 anmaßt. Innerhalb der bundesdeutschen Protestbewegung entwickelte sich ein ausgeprägter Antiamerikanismus: Auf Demonstrationen skandierten die Protestierenden die Parole ›USA – SA – SS‹, in der sie das U.S.-System mit dem Nationalsozialismus, als Symbol des Schlechten und Bösen, gleichsetzten.20 In einem selbstgedichteten Lied von Mitgliedern des Münchner SDS wird die Abneigung gegen die U.S.A. und die Sympathie für die nordvietnamesische Befreiungsbewegung ebenfalls sehr deutlich: »Aggressoren werft ins Meer! Kriegsgewinnler hinterher! Raus die Yankees aus Saigon! VIETNAM DEM VIETCONG!«21 Mit welcher emotionalen Heftigkeit die U.S.A. im linken Protestmilieu als grausamer und inhumaner Feind verteufelt wurde, zeigt sich darüber hinaus auch anhand eines Diskussionsbeitrages des Genossen Raute auf dem Internationalen Vietnamkongress: »Wenn es wahr ist, daß die Vereinigten Staaten von Nordamerika in Nordvietnam dabei sind ein Volk auszurotten, wenn es wahr ist, daß amerikanische Piloten Kinder braten, Frauen und Greise zerstückeln, täglich, stündlich, wenn es wahr ist, daß die Amerikaner vietnamesische Bauern vergasen […] und wenn es weiterhin wahr ist, daß die Bundesrepublik 16 | Vgl. HEIN, Die Westdeutschen und die Dritte Welt, S. 141. 17 | Vgl. FREY, Marc: Geschichte des Vietnamkrieges. Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traums, 7. Aufl., München 2004, S. 9. 18 | STEINHAUS, Kurt: Thesen zum Krieg in Vietnam. In: Neue Kritik 7 (1966), Heft 34, S. 3-4, hier S. 3. 19 | HAVEMANN, Vietnam und wir, S. 15. 20  |  Vgl. KRAUSHAAR, Wolfgang: Die Wiedergeburt des Antiamerikanismus. In: Kalaschnikow 5 (1999), Heft 1, S. 114-117, hier S. 115. 21  |  Lied, 100 Mann. In: SDS München Protestsonggruppe: Neue Lieder, München 1967, S. 33-34, hier S. 34. In: Institut für Zeitgeschichte (IfZ) Archiv, Dn 012.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er […] diese gigantische Schlächterei unterstützt, dann muß man es hier ansprechen: […] wir werden von Verbrechern regiert!« 22

Der Kongressteilnehmer empört sich in äußerst drastischer Sprache über die vermeintlichen Kriegsgräuel der amerikanischen Soldaten in Vietnam und unterstellt der westdeutschen Regierung, das unmenschliche Blutvergießen gewissenlos zu unterstützen. Damit schlägt Raute einen Bogen zwischen dem seiner Meinung nach verbrecherischen Handeln der Amerikaner in Vietnam und dem amoralischen Beitrag der bundesdeutschen Regierung dazu. Seit der Regierung Konrad Adenauers strebte die Bundesrepublik Deutschland eine Politik der Westintegration an und stand im Kalten Krieg auf Seiten der U.S.A., von der sie als Frontstaat Schutz gegen den feindlichen Ostblock erhielt. Durch die gemeinsame antikommunistische Haltung der U.S.A. und Westdeutschlands sahen sich die Protagonisten der 68er-Bewegung in ihren politischen Freiheitsrechten bedroht und ihre Theorie eines gefährlichen, repressiven Imperialismus bestätigt. Ausgeschmückt mit übersteigerten Grausamkeiten schildert der Kongressteilnehmer das unbeschreibliche Leid des vietnamesischen Volkes als ›gigantische Schlächterei‹, wie es wohl seiner Vorstellung entsprach. »Das unbestimmte Gefühl des universalen Leidens, das die Industriestaaten des Westens der Welt draußen zufügte,« erinnert sich der 68er-Aktivist Rainer Bieling, erzeugte im linken Protestmilieu »ein authentisches Pathos des Internationalismus […].«23 Indem die 68er-Bewegung bedingungslose Solidarität mit den Ländern der ›Dritten Welt‹ forderte, konnte sie sich »als Partisan des Weltgewissens fühlen […].«24 In der Tradition der sozialistischen Arbeiterbewegung appelliert Solidarität primär an das Zusammengehörigkeitsgefühl im gemeinsamen Kampf. Solidarität besitzt laut dem Politikwissenschaftler Christoph Böhr eine hohe emotionale Motivationskraft, sie »ist Voraussetzung, Beweggrund und Antriebskraft des Kampfes gleichermaßen.«25 Dementsprechend waren die revoltierenden ›68er‹ der Meinung, ihren Widerstand gegen die herrschenden Eliten nur durch uneingeschränkten gegenseitigen Beistand und Zusammenhalt auf internationaler Ebene erfolgreich verwirklichen zu können. »Gegen die weltweite Verflechtung der Reaktion, setzen wir die weltweit kämpferische Solidarität aller fortschrittlichen Kräfte«26, 22 | Diskussionsbeitrag Genosse Raute, in: SDS Westberlin/Internationales Nachrichten- und Forschungsinstitut (Hg.): Der Kampf des vietnamesischen Volkes, S. 72f. 23 | BIELING, Die Tränen der Revolution, S. 11. 24 | BIELING, Die Tränen der Revolution, S. 11. 25  |  BÖHR, Christoph: Solidarität. Anmerkungen zu einem politischen Begriff. In: Christian Bermes/Wolfhart Henckmann/Heinz Leonhardy (Hg.): Solidarität. Person und Soziale Welt, Würzburg 2006, S. 49-60, hier S. 50. 26 | Flugblatt, AStA FU Berlin: Massendemonstration zur internationalen Solidarität, 15. Februar 1969. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, AStA der FU, Flugblätter, getrennt nach AStA-Referaten, 1968-1969.

2. Solidarität

so der selbstbewusste internationale Gestus der studentischen Protestbewegung. Solidarität als gefühlsstarken und mobilisierenden politischen Kampfbegriff nutzte auch Bahman Nirumand auf dem Internationalen Vietnamkongress, um zum gemeinschaftlichen weltweiten Befreiungskampf aufzurufen: »Stellen wir […] der ›Heiligen Allianz‹ der Konterrevolution die revolutionäre Avantgarde des globalen Befreiungskampfes entgegen, des Kampfes gegen die Zerstückelung der Welt und des Menschen, des Kampfes für eine befreite Welt und einen neuen Menschen.«27 Der abstrakte Kampf gegen den Imperialismus war für ihn gleichbedeutend mit einem Kampf für die Menschlichkeit und das Gute schlechthin. Gemäß Nirumand hatte der globale Befreiungskampf nicht das Ziel, anderen etwas wegzunehmen, sondern das gemeinsam Erreichte und Geschaffene für die Gemeinschaft zu nutzen. Den Aktivisten der 68er-Bewegung schwebte demnach eine freie und gerechte Welt für alle Menschen vor.28 Die von den Protestierenden hochgehaltene Solidarität ist also nicht nur als ein Kampfbegriff, sondern auch als ein »Wertbegriff«29 mit hohem moralischen Gehalt zu betrachten. Die Protagonisten von ›1968‹ stellten den geopolitischen Realitäten des Kalten Krieges »eine eigene transnationale Schicksals- und Wertegemeinschaft gegenüber«30, folgert der Historiker Martin Klimke über die empathische und moralisch aufgeladene Forderung der Protestbewegung nach weltumgreifender Solidarität.

2.2  M usik als emotionales B indemit tel Im linken Protestmilieu wurde das Gefühl der weltumspannenden Verbundenheit und Eintracht zelebriert und gerne durch Protestlieder mit revolutionärem Pathos befeuert. Großer Beliebtheit erfreute sich dabei das bekannteste Kampflied der international organisierten revolutionär-sozialistischen Arbeiterbewegung: Die Internationale. Der Liedtext der Internationale stammt ursprünglich von dem Pariser Kommunarden Eugène Pottier aus dem Jahr 1871 und wurde von der Sowjetunion zwischen 1922 und 1943 als offizielle Hymne verwendet.31 Die Bewegten von ›1968‹ vervielfältigten die deutschsprachige Nachdichtung des kanonischen Textes auf Flugblättern und brachten es so unter das linksstehende Volk. Der AStA der Universität München verteilte Flugblätter mit der Internationale zum Beispiel mit dem Hinweis, es handle sich dabei um »eine Einführung 27 | Diskussionsbeitrag Bahman Nirumand, in: SDS Westberlin/Internationales Nachrichten- und Forschungsinstitut (Hg.): Der Kampf des vietnamesischen Volkes, S. 62. 28  |  Vgl. ROTH, Wolfgang: Solidarität. In: Martin Greiffenhagen (Hg.): Kampf um Wörter? Politische Begriffe im Meinungsstreit, München/Wien 1980, S. 407-414, hier S. 408. 29  |  ROTH, Solidarität, S. 407. 30 | KLIMKE, 1968 als transnationales Ereignis, S. 27. 31  |  Vgl. DE KEGHEL, Isabel: Die Staatssymbolik des neuen Russland: Traditionen – Integrationsstrategien – Identitätsdiskurse, Hamburg 2008, S. 82f.

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in die Revolution« und dem frommen Wunsch: »Sei es das Verständigungsmittel der Revolutionäre untereinander!«.32 Die Erzeugung von Kampfeslust und Revolutionseuphorie steht im Zentrum der mitreißenden und aufputschenden Hymne, wie schon die erste Strophe und der Refrain offenbaren: »Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt! Das Recht wie Glut im Kraterherde nun mit Macht zum Durchbruch dringt. Reinen Tisch macht mit dem Bedränger! Heer der Sklaven, wache auf! Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger Alles zu werden, strömt zuhauf! |: Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht. :|« 33

Die Botschaft des Kampfliedes zielt darauf ab, den Verdammten, den Hungernden, den Bedrängten, den Sklaven und denjenigen, die ein ›Nichts‹ sind, vor Augen zu führen, dass sie die Macht besitzen, die unhaltbaren und erträglichen Verhältnisse radikal zu verändern, solange sie sich nur solidarisch verhalten. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit kann die Welt verändern, so die Quintessenz der Internationale. Mit der Aufforderung »Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!« schloss bereits Karl Marx 1848 sein Kommunistisches Manifest, in dem er die Grundlage dessen, was als Marxismus gilt, schuf.34 Die Protagonisten der 68er-Bewegung griffen also auf ein Konzept mit langer Geschichte zurück, wenn sie Solidarität als zentrales Prinzip des proletarischen Kampfes zur Befreiung aus Armut und Massenelend, als Ziel des Sozialismus und nicht zuletzt als emotionales Bindemittel der sozialistischen Gemeinschaft übernahmen.35 Im 20. Jahrhundert hatte sich Solidarität zum wirkungsmächtigen Symbol der Einheit, Stärke und Verbundenheit der sozialistischen Arbeiterbewegung entwickelt, 32 | Flugblatt, AStA Universität München: Auf Wunsch mehrerer Vertreter der Studentenvertretung wird diese ›Einführung‹ in die Revolution gemacht. In: AdMA, Archiv 451. 33 | Flugblatt, Auf Wunsch mehrerer Vertreter der Studentenvertretung wird diese ›Einführung‹ in die Revolution gemacht. In: AdMA, Archiv 451. 34  |  STAMMEN Theo/CLASSEN Alexander (Hg.): Karl Marx: Das Manifest der kommunistischen Partei. Kommentierte Studienausgabe, Paderborn 2009, S. 66-96, hier S. 96. 35  |  Vgl. ZÜRCHER, Markus Daniel: Solidarität, Anerkennung und Gemeinschaft. Zur Phänomenologie, Theorie und Kritik der Solidarität (Basler Studien zur Philosophie, Bd. 8), Tübingen/Basel 1998, S. 94.

2. Solidarität

in dessen Tradition sich nun auch die protestierenden ›68er‹ stellten. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei der Arbeiterbewegung um eine vorwiegend männlich dominierte und strukturierte Organisation handelte,36 weshalb sich auch der politische Leitbegriff der Solidarität aus einem maskulinen Bedeutungsuniversum schöpft.37 Obwohl Empfindung, Mitleid, Mitmenschlichkeit und karitative Mildtätigkeit, gemessen an der bipolaren Geschlechtertheorie der Moderne, eindeutig zum weiblichen Pol zählt,38 ist der depersonalisierte, abstrakte Solidaritätsbegriff, der nicht ausschließlich auf Emotionen, sondern auch auf Vernunft basiert, der maskulin codierten politisch-öffentlichen Sphäre zuzuordnen.39 Als die Aktivisten der männlich codierten antiautoritären Bewegung den emotionalen Leitwert der Solidarität in den 1960er Jahren übernahmen, galt er bereits als »Markenzeichen« und »höchste[r] Kultur- und Moralbegriff«40 des Sozialismus. Einige Aktivsten des SDS machten sich in den Jahren der Rebellion die Erkenntnis zu eigen, dass Musik emotional, assoziativ und interkulturell verbindend wirkt, weshalb sie auch die »Sprache der Gefühle«41 genannt wird. Musik wird zumeist bewusst mit dem Ziel komponiert und gestaltet, beim Hörer bestimmte Emotionen auszulösen und Stimmungen zu erzeugen.42 Der Zusammenhang von Musik, Emotion und Macht wird gerade bei Liedgut mit politischer Intention, wie Kriegsgesängen, Militärliedern, Staatshymnen und dem Gesang

36  |  Vgl. TENFELDE, Klaus: Arbeiter, Arbeiterbewegung und Staat im Europa des ›kurzen‹ 20. Jahrhunderts. In: Peter Hübner/Christoph Kleßmann/Ders. (Hg.): Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit, Köln 2005, S. 17-34, hier S. 23f. 37 | Erwerbsarbeit gilt bis heute als konstitutives Element zur Konstruktion von Männlichkeit. Innerhalb der proletarischen Arbeitswelt des 19. und 20. Jahrhunderts war Männlichkeit bestimmt durch schwere körperliche Arbeit zum Broterwerb, um als Familienernährer und -oberhaupt agieren zu können. Die Arbeiterbewegung huldigte dem Kult starker, mutiger und disziplinierter Männlichkeit. Die Frage, wie eine gerechte Güterverteilung zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft und somit eine solidarische Gesellschaft hergestellt werden könne, prägte das politische Programm der sozialistischen Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert maßgeblich. Vgl. KREISKY, Brüderlichkeit und Solidarität, S. 30. 38  |  Vgl. SCHNABL, Christa: Solidarität. Ein sozialethischer Grundbegriff – genderethisch betrachtet. In: Michael Krüggeler/Stephanie Klein/Karl Gabriel (Hg.): Solidarität – ein christlicher Grundbegriff? Soziologische und theologische Perspektiven, Zürich 2005, S. 135-161, hier S. 145f. 39 | Vgl. KREISKY, Brüderlichkeit und Solidarität, S. 34ff. 40 | BÖHR, Solidarität, S. 51. 41 | HESSE, Horst-Peter: Musik und Emotion. Wissenschaftliche Grundlagen des MusikErlebens, Wien 2003, S. 172. 42 | Vgl. HESSE, Musik und Emotion, S. 174f.

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unterdrückter Volksgruppen offensichtlich.43 In diesem Wissen brachte die Protestsonggruppe des SDS München im Selbstverlag ein kleines Büchlein mit dem Namen Neue Lieder heraus. Die SDS-Mitglieder schrieben einige Lieder für diese Sammlung selbst und übersetzten bekannte internationale Protestlieder ins Deutsche, wobei die Liedtexte allesamt das Thema der internationalen Solidarität behandeln. Die Aktivisten der Protestsonggruppe versuchten auf der emotionalen Klaviatur zu spielen, wenn sie mittels ihrer Liedsammlung die Ungerechtigkeiten in der ›Dritten Welt‹ anprangerten und musikalisch eine weltumspannende Leidensgemeinschaft schufen. Ihre Wahl fiel beispielsweise auf das sozialistische Kampflied Black and White des politisch aktiven Sängers und Schauspielers Ernst Busch: »Gib uns die Hand mein schwarzer Bruder Gib uns die Hand mein armer Bruder Gib uns die Hand mein starker Bruder Black und White werden ändern die Welt. |: Oh Brüder, weint und betet nicht mehr, Erlösung kommt uns nicht von dort her Kämpft für Recht und Freiheit, setzt euch zur Wehr Black und White werden ändern die Welt. :|« 44

Anhand der ersten Strophe und dem Refrain des Protestsongs lässt sich ablesen, dass auch hier die Solidarität mit den wirtschaftlich Ausgebeuteten und gesellschaftlich Benachteiligten im Mittelpunkt des Liedes steht. In Black and White wird speziell der Völkerfreundschaft zwischen hell- und dunkelhäutigen Ethnien gehuldigt. Der Liedtext handelt in androzentristischer Weise ausschließlich von Zusammenhalt und Mitgefühl mit dem männlichen Teil der unterdrückten Völker, den ›schwarzen Brüdern‹. Die Politologin Eva Kreisky, die sich mit der maskulinen Unterfütterung des politischen Leitbegriffs der Solidarität befasst, erklärt, dass der Terminus im Laufe der industriegeschichtlichen Entwicklung die christlich fundierte, zumeist im vor-bürgerlichen Kontext verwandte ›Brüderlichkeit‹ begrifflich ablöste und sich damit vor allem gegen die ungerechten Folgen des kapitalistischen Wirtschaftens formierte.45 Ist in Black and White von Solidari43  |  Vgl. SPITZER, Manfred: Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk, 8. Aufl., Stuttgart 2008, S. 383. 44 | Lied, Ernst Busch: Black and White. In: SDS München Protestsonggruppe: Neue Lieder, S. 18-19. In: IfZ Archiv, Dn 012. 45  |  Den Ursprung der terminologischen Gleichbehandlung von ›Brüderlichkeit‹ und ›Solidarität‹ sieht Kreisky in der Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als Losung der Französischen Revolution. Als mit der Niederlage Napoleons die Ideen des revolutionären Frankreichs im europäischen Raum an Bedeutung verloren, geriet auch der Begriff der Brü-

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tät mit den ›schwarzen Brüdern‹ die Rede, so ist eine maskuline Vergemeinschaftung zwischen wirtschaftlich und gesellschaftlich ungleichen Männern gemeint, die politisch gleichwertige Brüder erschafft. Der Kampf gegen Rassendiskriminierung und die Forderung nach einem neuen Selbstbewusstsein schwarzer Bürger wurde ab Mitte der 1960er Jahre vor allem von der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die Black Power zu ihrem Slogan ernannte und sich als Teil der antikolonialen Befreiungsbewegungen verstand, mit Nachdruck verfolgt. Wie der Ethnologe Moritz Ege feststellt, war in der linken Protestkultur der westdeutschen 68er-Bewegung eine afroamerikanophile Konjunktur zu verzeichnen, die sich nicht zuletzt in einer Welle der Solidarisierung mit der rassisch diskriminierten Ethnie äußerte.46 Da die reale Präsenz von Afroamerikanern und Afroamerikanerinnen in der Bundesrepublik der 1960er Jahren äußerst gering war, blieb die Afroamerikanophilie eher auf das Imaginäre beschränkt,47 genauso wie die Solidaritätsbekundungen mit den Völkern der ›Dritten Welt‹ insgesamt wenig mit dem realen Lebensalltag der bundesdeutschen ›68er‹ zu tun hatten. Die schwärmerische Solidarität, die die Protestierenden von ›1968‹ den Angehörigen fremder Völker und Ethnien entgegenbrachten, resümiert Bahman Nirumand rückblickend, hatte bei vielen jungen Menschen weniger mit politischer Überzeugung zu tun, sondern »speiste sich vielmehr aus einem sehnsuchtsvollen Romantizismus, sie spiegelte die exotischen Sehnsüchte einer zornigen, rebellierenden Jugend, die dem eigenen Dasein entfliehen wollte und nach Weggefährten Ausschau hielt.«48 Festzuhalten ist, dass das Gefühl der Verbundenheit mit Befreiungsbewegungen der ›Dritten Welt‹ für die Revolteure der antiautoritären Bewegung auf einer äußerst abstrakten, unwirklichen Ebene der individuellen Vorstellung basieren musste, was seine emotionale Wirkungsmacht offenbar nicht schmälerte. Jürgen Habermas kritisierte zeitgenössisch die emotionalisierte Identifizierung der jungen Protestgeneration mit den Unabhängigkeitsbewegungen ehemaderlichkeit zusehends in Vergessenheit. In die Zeit der Revolution von 1848 fällt gemäß der Politologin der gleitende begriffliche Übergang von der Brüderlichkeit zur Solidarität. Nicht zuletzt Friedrich Engels und Karl Marx befreiten den Terminus der Brüderlichkeit von seinen bürgerlichen Wurzeln und prägten Solidarität als neuen Moralbegriff. Durch den terminologischen Wandel zur vermeintlich geschlechtsneutralen ›Solidarität‹ verschwand laut Kreisky die eindeutig männerbündische Konnotation von ›Brüderlichkeit‹, weshalb die Vergeschlechtlichungen dieses Diskursfeldes weniger auffallen. Vgl. KREISKY, Brüderlichkeit und Solidarität, S. 72ff. 46  |  Vgl. EGE, Moritz: Schwarz werden. ›Afroamerikanophilie‹ in den 1960er und 1970er Jahren (Cultural Studies, Bd. 24), Bielefeld 2007, S. 24f. 47 | Vgl. EGE, Schwarz werden, S. 22. 48 | NIRUMAND, Bahman: Sehnsuchtsträume. Warum die Revolution ausblieb. In: Daniel Cohn-Bendit/Rüdiger Dammann (Hg.): 1968. Die Revolte, Frankfurt a.M. 2007, S. 223-234, hier S. 223.

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liger Kolonialvölker als Realitätstrübung, die in einer Scheinrevolution münde.49 Der SDS-Aktivist Reimut Reiche reagierte auf diesen Vorwurf mit folgendem Statement, das sich im Sammelband Die Linke antwortet Jürgen Habermas wiederfindet: »Wenn die These auch nur zur Hälfte richtig ist, daß die Befreiungsbewegungen dieser Länder den Klassenkampf gegenwärtig stellvertretend für die Unterdrückten der ganzen Welt führen, so darf man daraus folgern: Es ist politisch richtig und psychologisch notwendig, sich mit dem Kampf des Vietcong, mit dem Kampf der Schwarzen in den Slums, mit den Zielen der Kulturrevolution in China zu identifizieren.« 50

Reiche erklärt die emotionale Identifikation der jungen Protestgeneration mit den unterdrückten Völkern der ›Dritten Welt‹ als politisch und psychologisch unabdingbar, und erhebt das Gefühl der weltumgreifenden Empathie, Loyalität und Zusammengehörigkeit damit zum Gefühlsstandard der antiautoritären Protestkultur. Wenn das führende SDS-Mitglied von der ›Richtigkeit‹ einer solidarischen Haltung spricht, zeigt sich daran der normative Gehalt des von den ›68ern‹ ausschließlich positiv konnotierten Solidaritätsbegriffes, der auf eine wechselseitige moralische Verpflichtung zwischen Individuum und Gemeinschaft abzielte.51 Insofern weist die Forderung nach internationaler Solidarität, wie sie von den Protagonisten der 68er-Bewegung inflationär gebraucht wurde, auch ein Nähe zur Unterordnung und Disziplinierung auf: »Wer solidarisch ist, kann und darf nicht seiner eigenen Wege gehen. […] Wer ausschert, verstößt gegen die Solidarität und schadet der gemeinsamen Sache.«52 Indem die linke Protestgemeinschaft Solidarität mit den unterdrückten Völkern der ›Dritten Welt‹ zur Primärtugend des sozialistischen Menschen stilisierte, war eine offene Zurückweisung der Idee durch einzelne Genossen so gut wie unmöglich.53 Obwohl Solidarität an sich auf Freiwilligkeit basiert, übt der moralisch aufgeladene Begriff als »solidarischer Imperativ«54 einen sanften Druck auf den Einzelnen aus: Die Unterstützung der gemeinsamen guten Sache kann niemand, der guten Willens ist, ablehnen.

49  |  Vgl. HABERMAS, Jürgen: Die Scheinrevolution und ihre Kinder. In: Oskar Negt (Hg.): Die Linke antwortet Jürgen Habermas, Frankfurt a.M. 1968, S. 5-15, hier S. 11ff. 50  |  REICHE, Reimut: Verteidigung der ›neuen Sensibilität‹. In: Oskar Negt (Hg.): Die Linke antwortet Jürgen Habermas, Frankfurt a.M. 1968, S. 90-103, hier S. 103. 51  |  Vgl. BAYERTZ, Kurt: Begriff und Problem der Solidarität. In: Ders. (Hg.): Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt a.M. 1998, S. 11-53, hier S. 11f. 52 | BÖHR, Solidarität, S. 51. 53 | Vgl. BÖHR, Solidarität, S. 50f. 54 | HESSBRÜGGEN-WALTER, Stefan: ›Wir-Gefühl‹ oder ›Wir-Absicht‹? Zur Begründung einer ›Moral der Solidarität‹. In: Hubertus Busche (Hg.): Solidarität. Ein Prinzip des Rechts und der Ethik, Würzburg 2011, S. 127-137, hier S. 133.

2. Solidarität

2.3  G emeinschaf tssehnsucht Über das Mitgefühl mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten dieser Welt entwickelte sich auch innerhalb der Protestkultur der antiautoritären Bewegung ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Zusammenhalts. Auf dem Weg der internationalen Solidarität vollzog sich eine interne Solidarität, berichtet der Zeitgenosse Archibald Kuhnke: »Innerhalb von Wochen begriffen wir den systematischen Zusammenhang unserer Misere und jener überall auf dem Planeten. Die Solidarität mit den von der bestausgerüsteten Militärmaschinerie der Welt […] Angegriffenen konstituierte eine breite Linke wesentlich mit. Wir redeten uns gegenseitig alle als ›liebe Genossen!‹ an: Jusos, Anarchisten, Trotzkisten, Marxisten-Leninisten, ›die Herren Antiautoritarier‹, […] Maoisten, Guevaristen […].« 55

Der APO-Aktivist beschreibt, dass die maskulin dominierte Linke, die durch verschiedene ideologische Präferenzen gespalten war, erst zueinanderfand, als ihre Mitglieder begannen, in globalen Dimensionen zu denken. Gemäß Kuhnke überwanden die linksstehenden ›Herren‹ ihre politischen Differenzen und sprachen sich fortan voller Herzlichkeit und Gemeinsinn in männerbündischer Manier mit ›liebe Genossen‹ an. Das Einsetzen eines internationalistischen Solidaritätsdenkens im linksgerichteten Politikspektrum, so der APO-Aktivist, vereinte die verschiedenen bundesdeutschen Links-Gruppierungen trotz ihrer konträren Ansichten und Interessen. Die diffuse Bedrohung durch den übermächtigen, weltumgreifenden Imperialismus von außen führte zu einer verstärkten Solidarität nach innen, einem Kult der Inklusion, der wiederum Exklusion en masse produzierte.56 Die Emotionshistorikerin Ute Frevert bescheinigt der maskulin codierten 68er-Bewegung demensprechend »typische Zeichen deutscher Gefühligkeit und Gemeinschaftssehnsucht.«57 Bereits früher in der deutschen Geschichte waren, wie Eva Kreisky hervorhebt, politische Solidaritätsdiskurse durchwegs maskulin geprägt, »von der brüderlichen Solidarität der Bourgeois über die brüderliche Solidarität der Proletarier bis hin zur pervertierten ›Solidarität‹ der faschistischen ›Volksgemeinschaft‹: Immer war es hegemoniale Männlichkeit, die das tragende Gewebe gängiger […] Solidaritätsmuster abgab.«58 Solidarität als moralische Obligation wurde zum einen von den Machteliten und Regierenden propagiert, um nationalstaatlichen Zusammenhalt zu fördern und zu gewähr55  |  KUHNKE Archibald: Anlauf genommen und gesprungen – die Wellen schlagen weiter – und sogar höher. Elf Hüpfer durch vierzig Jahre. In: Jochen Gester/Willi Hajek (Hg.): 1968 – und dann? Erfahrungen, Lernprozesse und Utopien der Bewegten der 68er-Revolte, Bremen 2002, S. 21-30, hier S. 26f. 56 | Vgl. FREVERT, Gefühlvolle Männlichkeiten, S. 326. 57 | FREVERT, Gefühlvolle Männlichkeiten, S. 326. 58 | KREISKY, Brüderlichkeit und Solidarität, S. 66f.

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leisten, zum anderen diente sie auch schwachen, oppositionellen Kräften wie der 68er-Bewegung als politischer Kampf begriff in ihrem Versuch die vorherrschenden Machtstrukturen zu ändern. Die antiautoritäre Protestbewegung der 1960er Jahre ist also historisch in eine Reihe mit politischen Akteuren zu stellen, in der so gut wie ausschließlich Männer die Wertsetzungen von Solidarität als interessenspolitischen und affektiven Leitbegriff bestimmten. Eine Phase der freundschaftlichen Verbrüderungen in der überwiegend homosozial strukturierten Neuen Linken erlebte auch das SDS-Mitglied Joscha Schmierer als Gegenreaktion auf den bedrohlich wahrgenommenen Imperialismus als gemeinsames Feindbild. »Daß sich plötzlich alle Welt mit Du anredete, hatte seinen guten Grund«, resümiert Schmierer: »An die Stelle der Vermutung, mit der eigenen Einstellung allein zu stehen und sich deshalb besser auf Distanz und bedeckt zu halten, trat die Erfahrung, fast überall auf Gleichgesinnte zu treffen.«59 In seinen Augen signalisierte die Ausbreitung des Duzens im studentischen Umfeld der Protestierenden das Ende von Einsamkeit und Isolation und den Beginn eines ausgeprägten Gemeinschaftsgefühls. Charakteristisch für das internationalistische Denken der ›68er‹ ist, dass der SDS-Aktivist davon spricht, dass ›alle Welt‹ sich duzte. Bis weit in die 1960er Jahre hinein war das ›Sie‹ in der Bundesrepublik noch die übliche Anredeform zwischen Studenten. In den Zeiten der Rebellion übernahmen die linksstehenden Studierenden das Duzen von den Gewerkschaftern und Sozialdemokraten und nutzten die neue Anredeform als Solidaritätsindikator. Das ›Du‹ war Zeichen einer gemeinsamen Wertebasis und politischen Überzeugung und brachte ein Vertrauens- und Sympathieverhältnis zum Ausdruck. Das ›Sie‹ hingegen markierte im Protestmilieu der ›68er‹ Distanz und Nicht-Zugehörigkeit.60 Die jungen Oppositionellen hegten trotz ihrer Forderungen nach radikaler Individualisierung und Selbstverwirklichung zugleich ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Gemeinschaft, die Orientierung, Stabilität und Sicherheit versprach. Für den Aktivisten der Schülerbewegung Cordt Schnibben hatte der interne Zusammenhalt der bundesdeutschen außerparlamentarischen Bewegung ebenfalls etwas mit den globalen Entwicklungen zu tun. Das vermeintliche Wissen, auf dem ganzen Globus Verbündete zu haben, führte dazu, dass die Genossen sich auch überall willkommen fühlten, so Schnibben: »Wo wir hinblickten, ob nach San Francisco, Havanna oder Paris, entdeckten wir Mitkämpfer, und wo immer wir auch hinkamen, nach Berlin, Frankfurt oder Hamburg, konnten wir unseren Schlafsack ausrollen und eine selbstgemachte Zigarette schnorren.«61 Er nennt San Francisco, Havanna und Paris in einem Zug als Orte, wo er Vertreter der gemeinsamen Sache wähnt. Bei seiner Aufzählung von ›Mitkämpfern‹ in aller Welt unterscheidet er nicht, dass es sich in den U.S.A. und in Frankreich um zeitgleich zur bundesdeutschen Rebellion stattfindende Studenten- oder 59 | SCHMIERER, Der Zauber des großen Augenblicks, S. 114. 60 | Vgl. SCHARLOTH, 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, S. 173ff. 61 | SCHNIBBEN, Das große Sackhüpfen, S. 173.

2. Solidarität

auch Bürgerrechtsbewegungen handelte und auf Kuba eine bereits im Jahr 1959 geglückte sozialistische Revolution stattgefunden hatte. Die nationalpolitischen Spezifika der genannten Länder und die Verschiedenheit der auf begehrenden Protagonisten verschwimmen in Schnibbens Aussage. In seinem Solidaritätsdenken ist Mitkämpfer gleich Mitkämpfer. Das wohlige Gemeinschaftsgefühl von ›1968‹ bestand für Schnibben in der Solidarität bezeugenden Geste, einen Schlafplatz und Zigaretten von anderen Genossen zu erhalten, wo auch immer man sich in der Bundesrepublik gerade aufhielt. Geselligkeit, Freigiebigkeit und eine Abkehr von individualistischem Besitzdenken machten für den Protestierenden solidarisches Verhalten aus. Solidarität galt in der 68er-Bewegung also nicht nur als gewünschte sozialethische Einstellung in Bezug auf die ›Dritte Welt‹, sondern avancierte parallel zum Leitwert, was den Gefühlscodex der bundesdeutschen Protestgemeinschaft betraf. Thomas Mitscherlich erinnert sich an eine spezielle Art der ›SDS-Solidarität‹. Er gibt an, sich in dem Studentenverband als junger Mensch, der sich im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung befand, äußerst wohl und gut aufgehoben gefühlt zu haben. Der SDS, so Mitscherlich, gab ihm »eine Geborgenheit […] als einer, der nicht wußte, wie er zu einer eigenen Identität kommen kann […].«62 Der besondere Zusammenhalt in dem studentischen Verband bestand für ihn zudem in der Möglichkeit des intellektuellen Experimentierens für den Einzelnen: »Die SDS-Solidarität war, verbotene Dinge denken zu dürfen, und, wenn notwendig, daraus resultierende Handlungen, die auch verboten waren, zu schützen.«63 Das Erproben unkonventioneller, vom Mainstream abweichender Denkweisen und Handlungen wurde im SDS, laut Mitscherlich, nicht verurteilt, sondern von der Gemeinschaft getragen und unter deren Schutz gestellt.

2.4 S olidarische A tmosphäre Solidarität als Gefühlsnorm fand rasch Eingang in den Alltag der studentischen Aktivisten. Die Protagonisten der 68er-Bewegung lancierten und erlebten gruppeninterne Solidarität unter anderem auf Demonstrationen, an der Universität und vor Gericht, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll. Eine außergewöhnlich zusammenschweißende Wirkung hatte gemäß dem SDS-Mitglied Peter Mosler die Teilnahme an den zahlreichen Demonstrationen, die zumeist vom SDS oder auch anderen Trägergruppen des Protests veranstaltet wurden: »Mit vielen in einem tosenden Zug zusammensein, gab die Stimmung einer großen vereinigenden Brüderschaft. Sprache, Verhalten, Wut, Gesten waren ihnen gemeinsam, es war eine Art feeling, das alle verband.«64 Mosler beschreibt, wie innerhalb der von 62  |  Thomas Mitscherlich, in: LÖNNENDONKER, Linksintellektueller Aufbruch, S. 175. 63  |  Thomas Mitscherlich, in: LÖNNENDONKER, Linksintellektueller Aufbruch, S. 175. 64 | MOSLER, Was wir wollten, was wir wurden, S. 34f.

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Männern dominierten Protestgemeinschaft ein kollektiver, maskuliner Habitus entstand, ausgelöst durch die gemeinsame Fortbewegung in einem Demonstrationszug. Durch die Geschlossenheit und Eintracht der Bewegung entwickelten sich automatisch und unterbewusst nicht nur gleichartige Körperhaltungen, sondern auch eine gemeinsame Sprache, eine kollektive Art zu handeln, sowie übereinstimmende Gefühle. Der Bericht des SDS-Aktivisten über die Entwicklung der 68er-Bewegung zu einer solidarischen Gefühlsgemeinschaft entspricht exakt den Vorstellungen des Theoretikers Pierre Bourdieu, der davon ausgeht, dass sich der Habitus primär somatisch konstituiert. Auf dem Wege der körperlichen Mimesis, so Bourdieu, übertragen sich Geisteshaltungen, Verhaltensweisen und Emotionen auf ein Kollektiv.65 Die Tatsache, dass die von der 68er-Bewegung ins Leben gerufenen Demonstrationen großen Zulauf erfuhren, hinterließ auch großen Eindruck auf Matthias Sesselmann. Für den Protagonisten der APO war es »ein berauschendes Erlebnis, jeden Tag wieder gemeinsam mit Tausenden von Gleichgesinnten für eine gute Sache zu kämpfen oder einfach nur dabeizusein […].«66 Sesselmann stuft in seiner Aussage das Vor-Ort-Sein und das Dazugehören als ebenso wichtig ein wie den aktiven, solidarischen Kampf für das Gute. Eine kollektive Identität entsteht laut dem Soziologen Bernhard Giesen in der Tat maßgeblich über das elementare leibliche Erleben »– die eigenen Augen haben das Außerordentliche gesehen, die eigenen Ohren haben es gehört, die eigene Haut hat es gefühlt.«67 Auf diese Weise lässt sich auch Sesselmanns Eindruck eines sich verselbstständigenden Gemeinschaftsgefühls inmitten des Demonstrationsgeschehens erklären: Zielgerichtetes und tatkräftiges solidarisches Handeln war nicht mehr zwingend notwendig, um den Zusammenhalt der Bewegung zu spüren, die bloße leibliche Anwesenheit im Umfeld der protestierenden Genossen genügte. Rückblickend bestätigt auch Bernd Rabehl, dass sich auf Demonstrationen häufig eine verklärte Atmosphäre der Harmonie und Verbundenheit entwickelte.68 Wie der Philosoph Hermann Schmitz, Begründer der Neuen Phänomenologie, argumentiert, sind Gefühle nicht nur als private Zustände seelischer Innenwelten zu begreifen, sondern auch als räumlich ausgedehnte Atmosphären wahrzunehmen. Das Gefühlsleben eines Individuums kann demzufolge von einer distanzierten, ›überpersönlichen‹ Stimmung infiziert werden, beziehungsweise in den Bann emotionaler Atmosphären geraten.69 Auf Protestveranstaltun65 | Vgl. BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, in: Dölling/Krais, S. 162. 66 | SESSELMANN, Von der APO zum Opa, S. 57. 67  |  GIESEN, Bernhard: Generation und Trauma. In: Jürgen Reulecke (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 59-71, hier S. 62. 68 | Vgl. RABEHL, Zur archaischen Inszenierung linksradikaler Politik, S. 56. 69 | Vgl. SCHMITZ, Hermann: Gefühle als Atmosphären und das affektive Betroffensein von ihnen. In: Hinrich Fink-Eitel/Georg Lohnmann (Hg.): Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt a.M. 1993, S. 33-56, hier S. 33.

2. Solidarität

gen, so das ehemalige SDS-Mitglied Rabehl, übermannte die Protagonisten der antiautoritären Bewegung häufig eine Woge der Einigkeit und des Zusammenhalts. Solidarität war die zusammenschweißende Formel: »Sie wurde angenommen. Es herrschte Karnevalsstimmung. Revolutionsparolen wurden gerufen. Fäuste geballt. Rhythmisches Klatschen unterbrach immer wieder Ansprachen. Resolutionen wurden verlesen. Die Wanne von Geborgenheit breitete sich aus. Alle lächelten sich zu, Glanz in den Augen: ›Wir sind eine radikale Minderheit.‹ – ›Wir werden siegen!‹ Fahnen wurden geschwenkt.« 70

Rabehls retrospektiver Kommentar über das Erleben von Gemeinsamkeit und Geborgenheit der ›68er‹ auf öffentlichen Protestveranstaltungen verrät, dass sich eine intensive Gruppendynamik auch durch das Gefühl der Protestierenden entfaltete, eine ›radikale Minderheit‹ darzustellen. Für die Entstehung von Solidarität unter Gleichgesinnten ist es von konstitutiver Bedeutung, sich einer harsch ablehnenden Majorität gegenüber zu sehen.71 Der kritische Tenor in der Aussage des ehemaligen SDS-Aktivisten ist nicht zu überhören, wenn er die Stimmung des Protestkollektivs als karnevalesk beschreibt und die Euphorie in den Gesichtern der Revolteure angesichts der gemeinsamen Aktion als übertrieben gefühlig abtut. Festhalten lässt sich, dass für die Entwicklung einer gruppeninternen Solidarität innerhalb der maskulin codierten westdeutschen 68er-Bewegung die sinnliche Erfahrung, an Demonstrationszügen teilzunehmen, von eminenter Relevanz war. Darüber hinaus findet sich der Solidaritätsdiskurs der antiautoritären Protestbewegung im universitären Bereich wieder. Eine solidarische Studentenschaft galt als unabdingbare Basis zur radikalen Reformierung der ›repressiven‹ Ordinarienuniversität. In einem Positionspapier aus dem Jahr 1969 stellten Frankfurter Studenten Überlegungen dazu an, welches Verhalten auf Informations- und Diskussionsveranstaltungen an der Universität angebracht sei. Sie reagierten auf die Kritik der Universitätsleitung, ihre Anliegen in einer Diskussionsrunde mit dem hessischen Kultusminister Ernst Schütte über ein neues Universitätsgesetz nicht rational und besonnen vorgebracht zu haben, folgendermaßen: »Sicher war bis heute ein solches Uni-Hearing dazu verurteilt, unsere Kritik und Wut über unzuständige, uniformierte und unfähige Politiker […] relativ undifferenziert laut werden zu lassen – vielleicht teilweise zu emotional, zu verfrüht, zu unhöflich. Aber auch eine solche emotionale Solidarität in dieser Situation hat ihren Stellenwert und ihre politische Funk-

70 | RABEHL, Zur archaischen Inszenierung linksradikaler Politik, S. 56. 71  |  Vgl. SCHAFFRIK, Tobias: …als man zugleich narzisstisch und solidarisch sein konnte. Überlegungen zu Narzissmus, Öffentlichkeit und ›1968‹. In: Ders./Sebastian Wienges (Hg.): 68er Spätlese – Was bleibt von 1968? (Villigst Profile, Bd. 10), Berlin 2008, S. 2945, hier S. 33.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er tion. Sie zeigt, was Schütte de facto bei der Masse der Studenten provoziert, wenn er den Ernst ihrer Forderungen verniedlicht und die Solidarität der Studenten […] unterschätzt.72

In diesem Positionspapier verteidigen die Studenten die von ihnen praktizierte ›emotionale Solidarität‹, wie sie ihre spontanen, von Wut und Empörung geleiteten Äußerungen und Handlungen nennen. Sie schreiben der intuitiven, gemeinschaftlichen Kritik an den universitären Verhältnissen, die ungefiltert und nichtrationalisiert geäußert wurde, eine wichtige politische Aufgabe zu. Indem sie sich demonstrativ weigern, »die auftretenden Emotionen sozusagen disziplinarisch zu unterdrücken« 73, erklären die rebellierenden Studenten Gefühle zum politischen Faktor. Der Flugblatt-Text beinhaltet zudem eine Warnung an die Politik und die Universitätsleitung, die Macht der studentischen Solidarität besser nicht zu verharmlosen. Die zum Teil mithilfe der Polizei durchgesetzten Maßnahmen des Rektorats gegen die protestierenden Studenten würden den Prozess der emotionalen Solidarisierung unter den Studenten nur noch verstärken, heißt es abschließend auf dem Papier: »Je massiver die Gewaltmaßnahmen, um so zugespitzter die Situation, um so größer die Solidarisierung, um so unkontrollierbarer für sie die Lage.« 74 Es zeigt sich, dass die rebellierenden jungen Menschen eine Eskalation der Situation an der Universität keineswegs scheuten. Vielmehr scheinen die Verfasser der studentischen Schrift damit zu drohen, durch solidarische Aktionen den universitären Alltag ins Chaos zu stürzen und die Verhältnisse somit zum Wanken zu bringen. Die Behauptung der linksstehenden Studenten, dass repressive Maßnahmen von staatlich-öffentlicher Seite ihre Solidarität nur stärke, stellte ein gängiges Argumentationsmuster der Studentenbewegung dar, wie auch ein anderes Flugblatt aus dem universitären Kontext beweist. »Der Apparat schlägt zurück: aber er setzt etwas frei, was der universitäre Betrieb verschüttete: Produktive Phantasie, Entschlossenheit, Solidarität. […] Es lebe die Solidarität!« 75 heißt es auch dort. Durch das Bedrängnis von außen wuchs das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Einigkeit im Inneren der studentischen Bewegung. Eine Abweichung vom Solidaritätsprinzip wurde in Kreisen der protestierenden Studenten als Verstoß gegen die bewegungsinternen Gefühlsnormen harsch verurteilt und abgestraft. In einem weiteren zeitgenössischen Flugblatt warnen Vertreter der linken Protestszene vor dem angeblichen Plan der universitären Lei72  |  Sinnvolle und sinnlose Selbstkritik am Uni-Teach-in. Positionspapier zum Verhalten auf Teach-ins, 9. Januar 1969. In: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 2. Bd., S. 538-540, hier S. 539. 73  |  Sinnvolle und sinnlose Selbstkritik am Uni-Teach-in. In: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 2. Bd., S. 539. 74  |  Sinnvolle und sinnlose Selbstkritik am Uni-Teach-in. In: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 2. Bd., S. 540. 75 | Flugblatt, Es lebe die Universität der Arbeiter, Schüler und Studenten! In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 1382 (FU Flugblätter, Januar–März 1968).

2. Solidarität

tung, die Studentenschaft in zwei Lager zu teilen und Zwiespalt zu säen: »Die Universitätsbürokratie versucht wieder einmal, die Studenten in ›Studierwillige‹ und ›Störer‹ zu spalten. Diese Spaltung […] ist eine Aufforderung zu Denunziantentum und Selbstjustiz. Sie richtet sich gegen die Interessen der gesamten Studentenschaft.«76 Diejenigen, die sich nicht zum studentischen Protest gegen die vorherrschenden universitären Verhältnisse bekannten und lediglich am reibungslosen Verlauf ihres Studiums interessiert waren, wurden von den Autoren dieses Flugblattes als Verräter verunglimpft. Gleichgültigkeit, was bildungspolitische Belange betraf, wurde von den Aktivisten der Protestbewegung nicht geduldet. Stattdessen unterstellten die Verfasser der Flugschrift der gesamten Studentenschaft einheitliche Interessen, obgleich sich keineswegs alle Studierenden mit den Zielen und ideologischen Einstellungen der antiautoritären Bewegung identifizierten und bereit waren, sich aktiv am Protest zu beteiligen. Die linken Studenten argumentieren in ihrem Flugblatt darüber hinaus, dass es sich um eine Strategie des Faschismus handle, Solidarität zu unterbinden und gegen diejenigen aufzuwiegeln und Aggressionen zu schüren, die Widerstand gegen das System leisteten.77 Der Appell, nicht auf die Manipulationen eines vermeintlich faschistischen Gegners hereinzufallen und sich in jedem Fall solidarisch mit den Zielen der studentischen Protestbewegung zu verhalten, offenbart wiederum den disziplinierenden Charakter des Solidaritätspostulats. Neben der Forderung nach studentischer Solidarität im Kampf um eine grundlegende Reformierung der Hochschulgesetze wurde der Aufruf zu gemeinschaftlichem Zusammenhalt und gegenseitiger Unterstützung im Milieu der 68er-Bewegung auch dann laut, wenn ein Genosse aufgrund seines Verhaltens auf Protestveranstaltungen vor Gericht stand. Mitglieder der Protestbewegung nutzten die direkte Konfrontationssituation mit einem Richter als Vertreter des verhassten ›Establishments‹ häufig, um öffentlich zu protestieren und agitieren. So besprühte der Münchner SDS-Aktivist Thomas Schmitz-Bender während einer Demonstration gegen die griechische Militärdiktatur die Zahl 144 auf das Gebäude des Griechischen Generalkonsulats. Die Zahl 144 stand für den Paragraphen 144 der griechischen Verfassung, der die griechische Bevölkerung zum Widerstand gegen die diktatorische Herrschaft berechtigte. Schmitz-Bender, der als ›Demonstrationstäter‹ bereits vorverurteilt war, wurde im Sommer 1968 erneut wegen Aufruhrs, Landfriedensbruchs, Sachbeschädigung und Bannkreisverletzung zu einer Haftstrafe von mehreren Monaten ohne Bewährung verurteilt. Als Reaktion auf dieses Urteil sprühten dreißig andere Studenten als solidarische Geste ebenfalls die Zahl 144 auf die Wände des Griechischen Generalkonsulats 76 | Ist Frankfurt Athen? Flugblatt-Aufruf zur Teilnahme am Teach-in mit dem hessischen Kultusminister Ernst Schütte, 7. Januar 1969. In: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 2. Bd., S. 532-533, hier S. 533. 77  |  Vgl. Ist Frankfurt Athen? In: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 2. Bd., S. 533.

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und unterschrieben alle mit ihrem Namen, was als provokante Aufforderung an das bundesdeutsche Justizsystem zu verstehen war, sie ebenfalls anzuklagen. Auf einem Flugblatt zu dieser Aktion inszenierten sich die Protestierenden als eine geschlossene, unzertrennbare Gemeinschaft: »Als wir am ersten Verhandlungstag des Schmitz-Bender-Prozesses zum Griechischen Generalkonsulat demonstrierten, wollten wir mit der demonstrativen Wiederholung dessen, weswegen einer von uns vor Gericht steht, deutlich machen, daß die Justiz mit dem Herausgreifen einzelner unsere Solidarität nicht zerstören kann und daß ihre ›Abschreckungsurteile‹ gegen einzelne nicht den beabsichtigten Einschüchterungseffekt erreichen.« 78

Die Verfasser des Flugblattes aus dem Kreis des SDS München stellten klar, dass sie sich vor juristischen Folgen ihres bewusst illegalen Handelns nicht fürchteten. Im Zentrum ihrer Solidaritätsaktion stand die Botschaft, dass die bundesdeutsche Justiz gegen den Zusammenhalt vieler machtlos sei. Der SDS-Aktivist Schmitz Bender nutzte bei der Berufungsverhandlung das dem Angeklagten zustehende Schlusswort für eine politische Rede, in der er seine Taten, für die er verurteilt wurde, als richtig und notwendig rechtfertigte. Er erklärte der bundesdeutschen Justiz, die seiner Meinung nach Ausdruck der Ausbeutung und Unterdrückung der Bevölkerung war, den Kampf und betrachtete die Solidarität der protestierenden Genossen als adäquates und wirkungsvolles Mittel dazu.79 Weshalb ein Gefühl der Zusammengehörigkeit innerhalb der linken Protestgemeinde und ein dementsprechend solidarisches Handeln ein so effektives Werkzeug im Kampf gegen das Justizsystem der Bundesrepublik darstellte, schilderte Schmitz-Bender folgendermaßen: »Sowohl die Herrschenden als auch wir wissen: bei der Verurteilung einzelner von uns geht es um die vielen, die nicht vor Gericht stehen, die aber dasselbe wie der Angeklagte getan haben, oder bereit sind dasselbe zu tun. Der ideologische Anspruch der Justiz, alle Menschen gerecht und gleich zu behandeln, wird brüchig, und der politische Charakter der Justiz wird sichtbar, wenn die vielen durch ihr Handeln erneut beweisen, daß der Angeklagte eben nur einer von vielen ist, daß mit dem Angeklagten der Kampf gegen die Unterdrückung vor Gericht steht, und daß sich dieser Kampf eben nicht verbieten lässt.« 80

Der SDS-Aktivist geht davon aus, dass die Justiz durch die Anklage von einzelnen Protestierenden Exempel statuieren will, um weitere Mitglieder der außerparla78 | Flugblatt, SDS München: Politische Justiz, Springer und der Weiße Kreis. In: IfZ Archiv, ED 328/5. 79  |  Flugblatt, Thomas Schmitz-Bender: Prozeß gegen Thomas Schmitz-Bender, in erster Instanz zu 8 Monaten ohne Bewährung verurteilt, Schlusswort des Angeklagten bei der Berufungsverhandlung, 07. Juni 1968. In: IfZ Archiv, ED 328/5. 80 | Flugblatt, Prozeß gegen Thomas Schmitz-Bender. In: IfZ Archiv, ED 328/5.

2. Solidarität

mentarischen Bewegung von systemkritischem Denken und Handeln abzuschrecken. Gemäß Schmitz-Benders Rede kämpft jeder Protestierende, der vor Gericht steht, in heroischer Manier nicht bloß für sein eigenes Recht, sondern – im solidarischen Sinne – auch für die gleichgesinnten Genossen und die politischen Ziele der Bewegung. Es zeigt sich also, dass die Aktivisten der 68er-Bewegung Solidarität aufgrund ihrer harmonisierenden und integrierenden Wirkung zum »politisch-emotionale[n] Allheilmittel« 81 gegen die als inhuman und ungerecht empfundene kapitalistische Staatsordnung erklärten – sei es auf Demonstrationen, im Kampf für eine demokratische Hochschulreform oder vor Gericht.

2.5  Z wischenresümee Die Vergemeinschaftung der männlich dominierten Protestbewegung basierte auf dem emotionalen Fundament der Solidarität. Um Gefühle der Zusammengehörigkeit, Verbundenheit, Loyalität und Empathie auszudrücken, verwendeten die Bewegten von ›1968‹ ausschließlich den abstrakten und depersonalisierten Terminus der Solidarität, der seine Geschichte in der maskulin codierten politischen-öffentlichen Sphäre hat. Die Forderung nach Solidarität wurde laut, wenn es um die politische und emotionale Haltung der bundesdeutschen Protestbewegung zu den strukturell benachteiligten, von den westlichen Industriestaaten ›ausgebeuteten‹ Völkern der ›Dritten Welt‹ ging. Da Solidarität auf der gegenseitigen Verpflichtung zu helfen und füreinander einzustehen basiert, ist eine gewisse Ähnlichkeit der solidarisch handelnden Akteure miteinander unverzichtbar. Die Protagonisten der westdeutschen Protestbewegung konstruierten das Bedrohungsszenario eines abstrakten Imperialismus, unter dem alle Völker der Welt gleichermaßen zu leiden hatten. Sie zogen Parallelen zwischen ihrer außerparlamentarischen Rebellion für mehr demokratische Teilhabe und persönliche Freiheiten innerhalb des bundesdeutschen Rechtsstaates und dem Kampf kommunistischer Unabhängigkeits- und Befreiungsbewegungen in ehemaligen Kolonialländern in Asien, Afrika und Südamerika. Besonders mit der Guerillaorganisation Vietcong fühlten sich die linksstehenden Studenten verbunden: Sie litten und bangten mit der vietnamesischen Befreiungsfront, die sich in ihren Augen gegen die Einmischung der übermächtigen U.S.A. in den vietnamesischen Bürgerkrieg wehren musste und empörten sich voller Wut und Abscheu über den U.S.-Staat als anmaßenden, grausamen, imperialistischen Aggressor. Die pathetische und moralisch aufgeladene Forderung der Protestierenden nach internationaler Solidarität mit neu entstehenden Sozialismen in ehemaligen Kolonialländern wirkte enorm mobilisierend, da diese abstrakten Entwicklungen sich in weiter Ferne abspielten und Potential zum sehnsüchtigen Schwärmen in exotischen Utopien boten. Mitglieder des linken Protestmilieus machten sich 81 | KREISKY, Brüderlichkeit und Solidarität, S. 62.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er

die emotionale Wirkung der Musik zu eigen und benutzen Liedgut der sozialistischen Arbeiterbewegung, um die Ungerechtigkeiten in der ›Dritten Welt‹ anzukreiden und eine universale Leidensgemeinschaft zu erschaffen. Mit dem Rückgriff auf Solidarität als Leitbegriff der männlich strukturierten und dominierten sozialistischen Arbeiterbewegung machte sich die ebenfalls maskulin dominierte 68er-Bewegung einen Terminus zu eigen, der sich aus einem männerbündischen Bedeutungsuniversum nährte. Für die einzelnen Protagonisten der antiautoritären Bewegung übte der solidarische Imperativ einen sanften moralischen Druck aus, nicht seiner eigenen Wege zu gehen, sondern sich emotional und politisch engagiert der gemeinsamen guten Sache zu verschreiben. Die Welle der internationalen Solidarität mit Ländern der ›Dritten Welt‹ zeigte deutliche Auswirkungen auf die gruppeninterne Gefühlskultur der bundesdeutschen Protestbewegung. Angesichts der globalen Dimension der Bedrohung durch das imperialistische System überwanden die überwiegend männlichen Akteure der Neuen Linken ihre ideologischen Differenzen, verbrüderten sich und prägten Solidarität als Wertbegriff ihrer maskulin codierten Protest- und Gefühlskultur. Im linksintellektuellen Protestmilieus der ›68er‹ entstand eine männerbündische Gefühligkeit und Gemeinschaftssehnsucht. Als Zeichen der neuen solidarischen Haltung innerhalb der außerparlamentarischen Opposition wurden die Entwicklungen gewertet, dass sich plötzlich alle freundschaftlich mit ›Genosse‹ ansprachen, als Anredeform das informelle ›Du‹ benutzten und bei Gleichgesinnten in der gesamten Bundesrepublik einen Schlafplatz sicher wussten. Das Gefühl, Teil einer vom politischen und gesellschaftlichen Mainstream abweichenden, solidarischen Bewegung zu sein, vermittelte den Protestierenden die Geborgenheit und den Schutz, unkonventionelle, innovative Denk- und Handlungsmodelle zu erproben. Vor allem auf Demonstrationen entstand häufig eine verklärte ›emotionale Atmosphäre‹ der Harmonie und Verbundenheit. Durch die gemeinschaftliche Fortbewegung in Demonstrationszügen kam auf dem Wege der körperlichen Mimesis ein kollektiver emotionaler Habitus zu Stande. Der Solidaritätsdiskurs der 68er-Bewegung fand sich darüber hinaus im Protest gegen die Ordinarienuniversität wieder. Die linksorientierten Studierenden rechtfertigten ihre spontane, authentische Empörung über die ›autoritären‹ universitären Strukturen als ›emotionale Solidarität‹, die notwendig und geeignet sei, um die universitären Verhältnisse zum Wanken zu bringen. Sie unterstellten der gesamten Studentenschaft gemeinsame Interessen und verunglimpften diejenigen, die sich unsolidarisch verhielten, also nicht an den Protesten beteiligt waren, als Verräter. Zuletzt lancierten und erlebten die Revolteure von ›1968‹ Solidarität in Konfrontation mit dem bundesdeutschen Justizsystem. Die Aktivisten der antiautoritären Bewegung legten dem westdeutschen Staat zur Last, einzelne Protestierende zur Abschreckung und Einschüchterung anzuklagen, um weitere Gesinnungsgenossen von systemkritischer Agitation abzuhalten. Die Auftritte von ›68ern‹ vor Gericht wurden als heldenhafter Kampf gegen das unmenschliche, ungerechte System inszeniert und als aufopferungsbereites Verhalten einzelner

2. Solidarität

stellvertretend für die die gesamte Bewegung verklärt. Die Protagonisten der Protestbewegung glaubten, dass das Gefühl der Zusammengehörigkeit die Welt verändern könne und priesen Solidarität als Wunderwaffe zur Bekämpfung von Ungerechtigkeit und Unterdrückung auf nationaler und internationaler Ebene.

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3. Sprache des Protests

Ist in zeitgenössischen und autobiografischen Zeugnissen oder auch in der Forschungsliteratur zu ›1968‹ von führenden und einflussreichen Persönlichkeiten der antiautoritären Bewegung die Rede, so fällt meist der Ausdruck des ›Wortführers‹. Nicht zufällig beinhaltet der gewählte Begriff ›Wort‹-,Führer‹, der ausschließlich für männliche Genossen Verwendung findet, dass der Status der Führung innerhalb der 68er-Bewegung maßgeblich über Wortmächtigkeit erlangt wurde. In der intellektuell geprägten Studentenbewegung zeichnete sich die hegemoniale Männlichkeit des Wortführers dementsprechend durch überdurchschnittliches Ausdrucks- und Sprachvermögen aus. Sprachlichkeit ist somit als bedeutende Ressource zur Symbolisierung und Inszenierung einer maskulinen Protestidentität zu betrachten. Welchen neuen Sprachstil die tonangebenden Protestführer als paradigmatisches Vehikel ihrer politischen Botschaft und Gesinnung in Abgrenzung vom konventionellen Sprachgebrauch des ›Establishments‹ entwarfen, soll im Folgenden untersucht werden. Von zentralem Forschungsinteresse sind die Fragen, welche emotionale Qualität der partikuläre Kommunikationsstil für ihre Sprecher besaß, welche Gefühle die neue sprachliche Kultur transportierte und bei Außenstehenden evozierte. Dabei werden die intellektuelle Politsprache, die vornehmlich von universitären Gruppierungen wie dem SDS praktizierte wurde, und der spielerische, von innovativem Wortwitz geprägte Sprachstil, der häufig im hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieu zum Tragen kam, in den Blick genommen.1 1 | Eine strikte Abgrenzung zwischen dem politisch-theoretischen Jargon intellektueller Trägergruppen des Protests und dem satirisch-humorvollen Sprachstil der primär kulturrevolutionär ausgerichteten Gruppierungen rund um das Jahr 1968 lässt sich nicht vornehmen. Wie Florentine Fritzen anmerkt, nutzten die Kommunarden mitunter genauso wie die übrige Studentenbewegung den fachakademischen Wissenschaftsjargon. Umgekehrt zeichnete sich die Sprache der universitären Gruppen nicht nur durch den abstrakten Politjargon aus, sondern auch durch den Wortwitz und die Sprachlust, wie sie charakteristisch für die hedonistisch orientierten ›68er‹ waren. Vgl. FRITZEN, Die Berliner ›Kommunen‹, S. 151.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er

3.1 I ntellek tueller P olitik jargon Als besonders charakteristisch für die distinkte Sprache der ›68er‹ ist deren Politikjargon hervorzuheben. Der von Joachim Scharloth als »intellektuell-avantgardistischer Stil«2 ausgewiesene Sprachgebrauch avancierte rasch zum öffentlichen Abgrenzungs- und Erkennungssymbol der radikalen Linken.3 Die stark von akademisch gebildeten, universitären Gruppen geprägte Protestgemeinschaft von ›1968‹ entwickelte eine Politsprache generationeller Spezifik, die zunächst trocken, abstrakt und emotionslos wirkt. Als Beispiel für den hochspezialisierten Wissenschaftsjargon lässt sich ein Textausschnitt eines Flugblattes aus der Feder des SDS Frankfurt anführen, in dem die bundesdeutsche Gesellschaft der Nachkriegszeit als faschistisch angeprangert wird: »Das postfaschistische System in der BRD ist zu einem präfaschistischen geworden. Es ist gekennzeichnet von autoritären, als im allgemeinen Interesse liegend, mit dem Gemeinwohl gleichgesetzten Leistungsansprüchen, von der Aushöhlung der Demokratie zu einer Fassade, unter der sich rigoros die ökonomische Herrschaft privater Interessen und ihrer politischen Exekutivorgane durchsetzt.« 4

Typisch für den fachakademischen Soziolekt der linksstehenden Protestierenden war die Verwendung eines speziellen Politwortschatzes. Zu den inflationär benutzen Schlüsselwörtern der Neuen Linken gehörten, wie aus dem obigen Zitat ersichtlich, faschistisch, beziehungsweise Faschismus als zentrale Topoi des politischen Diskurses der antiautoritären Bewegung. Mit der stereotypen Zuschreibung faschistisch, die gleichgesetzt wurde mit den Eigenschaften brutal, rücksichtlos, aggressiv und gewalttätig, pflegte die studentische Linke den bundesrepublikanischen Staat zu bezeichnen.5 Der Begriff wurden von den Aktivisten enthistorisiert, also von der nationalsozialistischen Vergangenheit des Landes abgelöst, und mit den Merkmalen des gegenwärtigen Staates analog gesetzt, so die Sprachwissenschaftlerin Heidrun Kämper.6 Derartige semantische Begriffsumwertungen 2 | Vgl. SCHARLOTH, 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, S. 288-309. 3  |  Herbert Marcuse forderte eine ›neue Sprache‹ des Protests, eine Umformung des politischen Vokabulars, um die ›neuen‹ moralischen Werte einer befreiten Gesellschaft zu vermitteln. Einem Bruch mit dem Kontinuum der Herrschaft müsse ein Bruch mit deren Sprache folgen, so Marcuse. Vgl. MARCUSE, Versuch über die Befreiung, S. 55f. 4 | Flugblatt, SDS Frankfurt: Niederlage oder Erfolg der Protestaktion. Erklärung des SDS. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Presse- und Informationsstelle der FUB, Flugblätter und -schriften, Mai/Juni 1967. 5 | Vgl. KÄMPER, Heidrun: Der Faschismus-Diskurs 1967/68. Semantik und Funktion. In: Dies./Joachim Scharloth/Martin Wengeler (Hg.): 1968. Eine sprachwissenschaftliche Zwischenbilanz (Sprache und Wissen, Bd. 6), Berlin/Boston 2012, S. 259-285, hier S. 259. 6 | Vgl. KÄMPER, Der Faschismus-Diskurs, S. 280.

3. Sprache des Protests

waren keine Seltenheit in der Protestsprache der ›68er‹.7 Die jungen Protestierenden verschoben das konservativ-bürgerliche politische Begriffsrepertoire und substituierten gängige politische Termini durch marxistisch aufgeladene Begriffe.8 In Anlehnung an die Kritische Theorie der Frankfurter Schule protestierte der SDS Frankfurt in dem zitierten Flugblatt gegen das kapitalistische System der Bundesrepublik, das angeblich Faschismus als Herrschafts-Form hervorbringt und eine autoritäre Persönlichkeit als mentale antidemokratische Disposition erzeugt.9 Als weitere Schlagworte, die sich in der politisierten Sprache der außerparlamentarischen Bewegung häufen, sind also autoritär/Autorität, kapitalistisch/ Kapitalismus und herrschend/Herrschaft zu identifizieren. Der sprachliche Fundus der studentischen ›68er‹ bediente sich eines Wortschatzes, der hauptsächlich aus den Bereichen der Politikwissenschaft, Soziologie, Philosophie und Psychologie stammte. Sie übernahmen mit Vorliebe das Vokabular sozialwissenschaftlicher Klassiker, von Karl Marx angefangen über Theodor Adorno bis hin zu Herbert Marcuse.10 Fremdworte wie Fassade oder rigoros und elaborierte Vokabeln wie Leistungsanspruch oder Aushöhlung, um beim Beispiel des Flugblattes des Frankfurter SDS zu bleiben, waren zudem feste Bestandteile des hochdifferenzierten Sprachgebrauchs der intellektuellen Protestierenden. Fachsprachliche lexikalische Elemente wurden als »Duftmarken linker Texte«11 verwendet und prägten die In-Group-Sprache der Protestbewegung. Eine Mischung aus philosophischem, psychologischem und marxistischem Vokabular pflegte auch der APO-Aktivist Rudi Dutschke in hitzigen Diskussionen mit seinen Genossen zu verwenden: »Mit Hegel, also vormarxistisch, kann man sagen, daß die Befreiung des Bewusstseins die Gegenstände des Denkens verändert. Das hat Marx aufgenommen. Das kapitalistische Naturgesetz beruht auf der Bewußtlosigkeit der Beteiligten. Mit dem Verschwinden dieser Bewußtlosigkeit verschwindet auch das Naturgesetz in seiner repressiven Form, und so ist in der falschen Gesellschaft doch die richtige drin, bloß in der falschen Form, in der bewußtlosen Form.«12

Dutschke bezieht sich auf die Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels sowie auf Karl Marx’ materialistische Geschichtsauffassung als dialektische Überwin7  |  Vgl. SCHNEIDER, Franz: Sprache. In: Ders. (Hg.): Dienstjubiläum einer Revolte. ›1968‹ und 25 Jahre, 2. Aufl., München 1993, S. 71-79, hier S. 74. 8 | Vgl. BAVAJ, ›68er‹ versus ›45er‹, S. 64. 9 | Vgl. KÄMPER, Der Faschismus-Diskurs, S. 270ff. 10 | Vgl. JÄGER, Siegfried: Linke Wörter. Einige Bemerkungen zur Sprache der APO. In: Muttersprache 80 (1970), Heft 3-4, S. 85-107, hier S. 89. 11 | JÄGER, Linke Wörter, S. 90. 12  |  Rudi Dutschke, in: Ein Gespräch über die Zukunft mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semmler. In: Kursbuch 14 (1968), S. 146-174, hier S. 148.

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dung des Hegelschen Idealismus. Zudem macht er das Phänomen des Bewusstseins, das in Philosophie und Psychologie ein beliebter Forschungsgegenstand ist, zum Thema seines Diskussionsbeitrages. Inhaltlich spricht Dutschke über die Möglichkeit einer künftigen, befreiten Gesellschaftsordnung. Die hohe Fach- und Fremdwortsequenz seines sprachlichen Stils macht den Gehalt seiner Aussage für fachakademisch nicht versiertes Klientel jedoch unverständlich.13 Der Grad an sprachlicher Abstraktion ist dabei so hoch, dass der konkrete Inhalt seiner Aussage verloren zu gehen droht. Für den sprachlichen Elitarismus der intellektuellen Anführer der 68er-Bewegung war es bezeichnend, die jeweilige Argumentation nicht nur in der geschriebenen, sondern auch in der gesprochenen Sprache durch eine Vielzahl von wissenschaftlichen Zitaten zu unterstreichen und legitimieren. Neben einer Anhäufung von Fremdwörtern und wissenschaftlichen Fachtermini, sowie dem Einsatz von Zitaten marxistischer Autoritäten zur Demonstration theoretischer Belesenheit, ist der äußerst komplexe Satzbau als ein weiteres stilistisches Charakteristikum der linken Protestsprache zu nennen. Der studentische Anführer Dutschke perfektionierte die Verwendung kapriziöser syntaktischer Satzstrukturen: Nicht selten füllte ein einziger seiner Sätze viele Zeilen aus, ihn auszusprechen kostete den SDS-Aktivisten bemerkenswerterweise dennoch keine Mühe. Auf einem Kongress über ›Bedingungen und Organisation des Widerstandes‹ leitete Dutschke seinen Redebeitrag mit einer solchen ellenlangen Satzkonstruktion ein: »Mit der Verringerung der Möglichkeiten, die Schranken der Akkumulation durch Ausdehnung des kapitalistischen Feldes zu überwinden – die Welt ist aufgeteilt, die Dritte Welt hat ihren Kampf begonnen – mit dem dadurch bedingten Ausmaß der Kapitalvernichtung durch Rüstung, künstliche Aufblähung eines gigantischen Bürokraten- und Verwaltungsapparates, struktureller Arbeitslosigkeit, unausgenutzten Kapazitäten, Reklame etc., das heißt also mit dem Anwachsen der gesellschaftlich toten Kosten, mit dem wachsenden Zurückbleiben der Produktionssteigerung hinter ihren technischen Möglichkeiten treten neue Tendenzen in der Dynamik des Klassenkampfes auf, verändert sich das traditionelle Theorie-Praxis-Verhältnis im Marxismus.«14

13  |  Der Sprachwissenschaftler Joachim Scharloth merkt an, dass die radikalen Studierenden in den Texten, in denen sie die Durchschnittsbevölkerung direkt ansprachen, etwas weniger Fremd- und Schlagwörter und kürzere Sätze benutzten. In Texten, die für Studierende und die mediale Öffentlichkeit konzipiert waren, ließen sie ihrem fachakademischen Politjargon jedoch freien Lauf. Vgl. SCHARLOTH, 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, S. 305ff. 14 | DUTSCHKE, Rudi: »…Professor Habermas, Ihr begriffloser Objektivismus erschlägt das zu emanzipierende Subjekt.«, Referat auf dem Kongreß ›Bedingungen und Organisation des Widerstandes‹ in Hannover, 9. Juni 1967, In: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 2. Bd., S. 251-253, hier S. 251.

3. Sprache des Protests

Dutschkes Neigung, »syntaktische Schachtelkonstruktionen mit grammatikalischen Abhängigkeiten dritten, vierten, fünften Grades«15 zu formulieren, prägte den Sprachstil der antiautoritären Bewegung. Als weitere Hauptmerkmale des Politjargons der ›68er‹, die auch in Dutschkes Text vorzufinden sind, lassen sich die häufige Verwendung des Nominalstils und der Gebrauch von Ableitungen durch Suffixe nennen.16 Die Protestierenden distanzierten sich so von den sprachlichen Konventionen der ›bürgerlichen‹ Politik. Mit ihrem wissenschaftlichen Politjargon, der wohl nur »dem (links-links)-politisch stark Interessierten und zugleich akademisch Gebildeten verständlich«17 war, symbolisierten die ›68er‹ ihre Protestidentität. Dutschke, der als charismatischer Wortführer der APO galt, beeinflusste die Politsprache der antiautoritären Bewegung maßgeblich und hatte zahlreiche Nachahmer im männlich dominierten linkradikalen Protestmilieu. Claus Peter Müller-Thurau, der im Jahr 1968 Psychologie an der Universität Hamburg studierte, gibt an, dass viele Männer aus der Protestszene Dutschke als Idol und Vorbild betrachteten und ihn vor allem aufgrund seines außergewöhnlichen Sprachvermögens bewunderten. Zahlreiche Mitglieder der außerparlamentarischen Bewegung hätten sich bemüht, genauso zu sprechen wie Dutschke, dessen Männlichkeit innerhalb der 68er-Bewegung als hegemonial galt. »Wir haben uns sein Vokabular richtig ›reingezogen‹, versucht, es auswendig zu lernen, um die Begriffe parat zu haben«18, berichtet Müller-Thurau über die komplizitäre Männlichkeit19 der Genossen. Obgleich die meisten ›68er‹ offenbar nicht die sprachlichen und intellektuellen Fähigkeit besaßen, an Dutschkes Wortmacht heranzureichen, versuchten sie laut Müller-Thurau durch die Übernahme einiger Vokabeln der revolutionären Politsprache zumindest eine Annäherung daran zu erreichen. Versatzstücke der avantgardistischen linken Wissenschaftssprache breiteten sich innerhalb des gesamten Protestmilieus aus. Um Zugehörigkeit zur Protestgemeinschaft zu demonstrieren, benutzten die Protestierenden populäre politische Schlüsselwörter, obwohl anzunehmen ist, dass viele den intellektuellen Jargon nicht gänzlich beherrschten und verstanden. Einzelne Bausteine des politisch-wissenschaftlichen Wortschatzes wurden von Mitgliedern der antiautoritären Bewegung übernommen und als »Hohlwörter«20 in die eigene Rede ein-

15 | HERMANNS, Fritz: 1968ff. Spracherinnerungen und Sprachimpressionen. In: Ulrich Ott/Roman Luckscheiter (Hg.): Belles lettres/Graffiti. Soziale Phantasien und Ausdrucksformen der Achtundsechziger, Göttingen 2001, S. 91-93, hier S. 92. 16 | Vgl. SCHARLOTH, 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, S. 301. 17 | JÄGER, Linke Wörter, S. 87. 18  |  Claus Peter Müller-Thurau, in MÜNDEMANN, Die 68er, S. 147f. 19 | Vgl. CONNELL, Der gemachte Mann, S. 100f. 20 | JÄGER, Linke Wörter, S. 89.

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gesetzt, was die Gefahr eines pseudointellektuellen »inhaltslosen Parlierens«21 in sich barg. Um die hochspezialisierte Fachsprache der linken Elite dem gesamten Protestmilieu zugänglich zu machen, erschienen im Jahr 1968 sogar ein Revolutionslexikon22, sowie ein Sprachführer durch die Revolution23. Zentrale Fachbegriffe, Fremdwörter und theoretische Konzepte der APO wurden hier definiert und in einfacher Sprache erklärt. Ferner stand es in den späten 1960er Jahren hoch im Kurs, marxistische Schulungsseminare zu besuchen, in denen das linke Vokabular vermittelt wurde und so Eingang in die Flugblätter und Papiere der rebellierenden Jugend fand.24 In der Erinnerung Peter Schneiders hatten mit der Zeit immer mehr Mitglieder der linken Protestgemeinschaft Erfolg damit, Dutschkes elaborierten Sprachhabitus zu kopieren: Mit dessen »Ruhm wuchs die Zahl derer, die seine Diktion, seine Stimme, seine gefährlich langen Satzperioden bis zur Perfektion nachahmen konnten.«25 Wie der Sprachwissenschaftler Fritz Hermanns treffend feststellt, war der Soziolekt der ›68er‹ frei von Humor und Sprachwitz und zeichnete sich auch nicht durch sprachliche Eleganz und Klarheit aus.26 Sucht man in der wissenschaftlichabstrakten Politsprache der antiautoritären Bewegung nach Hinweisen auf die emotionale Disposition ihrer Sprecher, so wird man enttäuscht: Gefühle werden auf den ersten Blick durch die marxistisch-soziologisch geprägte Fachsprache nicht transportiert. Strikte Rationalität scheint stattdessen den nüchternen und intellektuellen Sprachstil der überwiegend männlichen ›Wortführer‹ zu beherrschen. Einfache Sachverhalte werden hochgradig abstrahiert und theoretisiert. Welcher missionarische Eifer und welches revolutionäre Feuer sich hinter dem »schwer verständlichen, bis dahin völlig unbekannten protestantisch-marxistischen Rotwelsch«27 der jungen Protestierenden verbarg, kann leicht übersehen werden. Der Frankfurter SDS-Aktivist Thomas Schmid betrachtet zwanzig Jahre nach dem Höhepunkt der 68er-Revolte einen Text, den er in den Jahren des Protests im milieu-typischen linken Politjargon verfasst hat und erinnert sich an seine überschwänglichen Gefühle, die in der zeitgenössischen Schrift verborgen sind:

21 | JÄGER, Linke Wörter, S. 89. 22  |  Siehe: WEIGT, Peter: Revolutionslexikon. Taschenbuch der außerparlamentarischen Aktion, Frankfurt a.M. 1968. 23  |  Siehe: KOPLIN, Raimund: Sprachführer durch die Revolution. Mit einer Bibliographie, München 1968. 24 | Vgl. SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 244. 25 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 76. 26 | Vgl. HERMANNS, 1968ff., S. 91. 27 | KOENEN, Der Muff von tausend Jahren, S. 142.

3. Sprache des Protests »Nichts läßt dieser Text von der Erregung, von der Hochspannung erahnen, die dieses Jahr prägten, nichts wird von den Personen, die agierten, sichtbar; man spürt nichts von dem Feuer und der Entdeckerfreude, mit denen dieser Text geschrieben wurde. Ein bißchen liest er sich heute wie die Vollzugsmeldung an einen Abteilungsleiter: starr verschraubte Wortungeheuer, seltsam desinteressiert und ohne Höhen – Sätze, denen der Sinn abhanden gekommen ist. Wie in fast allen Texten, die damals geschrieben, und wie in fast allen Reden, die damals gehalten wurden, scheint ein Anonymus zu sprechen, ist eine Geheimsprache am Werk, nicht fähig oder nicht willens, mitzuteilen und zu erzählen. Diese Texte sperren sich ab; […] fast sind sie asketisch, mit Schärfe teilen sie vor allem mit, an welchen Diskursen sie nicht teilhaben wollen, von wem sie nicht gehört und ›verstanden‹ werden wollen. Man muß schon sehr aufmerksam lesen, um das an ihnen zu entdecken, was nicht karg und martialisch ist: den glühenden Ingrimm, die Lust an der Entdeckung einer Sprache des Nein, der Unversöhnlichkeit. […] Vielleicht spürt man die Ergriffenheit im Umgang mit einer neuentdeckten Sprache, ihren großspurigen Ungetümen und ihrem hinreißendem Geklapper;« 28

Schmid wundert sich zunächst, wie wenig von der Aufregung, der Leidenschaft und dem Eifer der Protestjahre im Nachhinein in den Texten der Studentenbewegung wiederzufinden ist. Der intensive, dynamische Drang der ›68er‹ zum Aufbegehren spricht seiner Ansicht nach nicht unmittelbar aus dem leblosen, anonymen, phrasenhaften und öden Jargon, mit dem die Protagonisten der Bewegung ihrer Empörung und ihrem Veränderungswillen Ausdruck verliehen. Schmid erklärt, dass die neue, ›progressive‹ Sprache, die die Protestierenden nutzten, um ihre kritische Sicht auf die bestehende Gesellschaft zu kommunizieren, entgegen dieses ersten Eindruckes durchaus mit großen Gefühlen verbunden war. Der Sprachhistoriker Erich Straßner hebt in diesem Zusammenhang hervor, wie wenig innovativ die ›neue Sprache‹ der APO an sich war. Das wirklich Neue, so Straßners These, bestand im Wesentlichen in der Emotionalisierung altgedienter Begriffe und theoretischer Konzepte.29 Dass der Politjargon der ›68er‹ für seine Sprecher emotional stark aufgeladen war, weiß der ehemalige SDS-Aktivist Schmid aus eigener Erfahrung zu berichten. Mit einem Sprachstil, der auf Außenstehende aufgrund seines Abstraktionsgrades sinnentleert, seltsam und fremd anmutet, wollten die Protestierenden öffentlich demonstrieren und beweisen, dass sie sich ganz und gar dem Protest verschrieben hatten. Gleichgesinnte erkannten sich am gemeinsamen Idiom, Außenstehende sollten durch die Komplexität und schwere Verständlichkeit des Politslangs von der internen Kommunikation ausgeschlossen werden, weshalb Schmid die gruppeninterne Sprache als Geheimsprache bezeichnet. Insofern diente der Gebrauch eines abstrakten, 28 | SCHMID, Die Wirklichkeit eines Traums, S. 12f. 29  |  Vgl. STRASSNER, Erich: 1968 und die sprachlichen Folgen. In: Dieter Emig/Christoph Hüttig/Lutz Raphael (Hg.): Sprache und politische Kultur in der Demokratie. Hans Gerd Schuhmann zum Gedenken, Frankfurt a.M. 1992, S. 242-260, hier S. 245.

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trockenen und rationalen Wissenschaftsjargon der Bildung und Aufrechterhaltung eines kollektiven Protesthabitus. Das ehemalige SDS-Mitglied deutet an, dass durch das Sprechen einer von der Mehrheitsgesellschaft distinkten, generationsspezifischen Sprache bei den Sprechern auch übereinstimmende, kollektive Emotionen entstanden. Diejenigen, die der Bewegung nicht angehörten, konnten meist weder den Sinn noch die Gefühle nachvollziehen, die sich hinter dem Politjargon der protestierenden Akteure versteckten.

3.1.1 Ermächtigung Der fachakademische Politjargon diente Aktivisten der maskulin codierten 68erBewegung zur Demonstration eines elitären Führungsanspruchs nach innen und außen. Die Ambition der studentischen Wortführer, in der bevorstehenden Revolution die Führungsrolle einzunehmen, wurde durch den avantgardistischen Sprachstil zum Ausdruck gebracht.30 Gefühle der Ermächtigung und der intellektuellen Überlegenheit spielten eine große Rolle bei der Verwendung der wissenschaftlich orientierten Sprache. Matthias Horx, der die 68er-Bewegung als Schüler erlebte, schildert, wie er zu dieser Zeit rasch lernte, Worte als Waffen im Kampf gegen Autoritäten einzusetzen: »Es war ein Rausch. Wir waren besessen davon, den Dingen einen Namen zu verleihen. Wir begriffen schnell, daß Sprache ein hervorragendes Mittel im Kampf gegen Eltern und Lehrer war; es ging in allererster Linie darum, so lange spitzfindig zu argumentieren, bis sie völlig sprachlos waren. Auf diesem Terrain wurden wir bald unschlagbar. Niemand beherrschte die neuen Vokabeln wie wir.« 31

Für Horx war es offenbar ein befriedigendes und erfüllendes Gefühl, einen Widersacher in einem Streitgespräch durch unermüdliche Gegenargumentation zu besiegen. Er stellt die eigene ausgefeilte Wortmacht der ohnmächtigen Sprachlosigkeit des Gegners gegenüber. Um dieses Glücksgefühl verspüren zu können, musste man sich die nötigen Vokabeln, Theorien und Argumentationsmuster aneignen. Eine Studentin, die Ende der 1960er Jahre in einer Berliner Kommune lebte, veröffentlichte anonym einen Erlebnisbericht und bestätigt darin, dass ihre männlichen Mitbewohner in Diskussionen mit gerade erlernten oder angelesenen Soziologiebegriffen protzten und diese als Mittel zur Selbstbestätigung nutzten.32 Sie versuchten, so die Kommunardin, »die eigene Rechthaberei und Uneinsichtigkeit hinter schillernden Wortkaskaden und hochtrabenden politi30 | Vgl. SCHARLOTH, 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, S. 309. 31 | HORX, Aufstand im Schlaraffenland, S. 18. 32 | Vgl. RIEDEN, Charlotte: Ich lebte in einer Kommune: Eine Studentin berichtet über ein Experiment junger Menschen und ihre Erfahrungen. Mit einem Kommentar aus psychologischer Sicht von Dr. Charlotte Rieden, Berlin 1970, S. 8.

3. Sprache des Protests

schen Vokabeln zu verstecken.«33 Glaubt man dem Bericht der jungen Frau, so war es das Ziel der Genossen ihre eigene Meinung mittels hochspezialisierter Fachbegriffe kompromisslos durchzusetzen. Erst einmal vom »revolutionären Neusprech«34 infiziert, erinnert sich auch der SDS-Aktivist Peter Schneider, dass er »verbal aufrüstete«35. Wie diese Kampfesmetaphorik zeigt, wurde Sprache von den rebellierenden Studenten als die Waffe der intellektuellen Avantgarde gesehen, als welche sie sich selbst begriffen. Schneider bezeugt, dass man im Protestmilieu von ›1968‹ nicht umhinkam, die »Waffe [zu nutzen], die damals zwingend vorgeschrieben war: den ›intellektuellen‹, mit möglichst vielen Fremdwörtern und ›wissenschaftlichen Verweisen‹ bewehrten Diskurs.«36 Die Medienwissenschaftlerin Caja Thimm merkt an, dass bis heute Männer die sprachlichen Spielregeln und Normen der Diskussionsführung im Bereich der Politik festlegen.37 Die Tatsache, dass Männer und Frauen verschiedenartige Kommunikationsstile haben, ist von der Sprachwissenschaft mittlerweile vielseitig belegt.38 »Männer definieren« in politischen Auseinandersetzungen, so Thimm, nach wie vor, »daß männlich gleich kämpferisch und umgekehrt kämpferisch gleich männlich ist.«39 Wer sich innerhalb der 68er-Bewegung behaupten wollte und nach der hegemonialen Männlichkeit des Wortführers strebte, musste die spezifische Sprache des Protests beherrschen und sie argumentativ anwenden können. Die Diskussion, ein idealiter symmetrisch angelegtes, argumentatives Wortgefecht, galt als die bevorzugte Kommunikationsform der Protestierenden. Die ›68er‹ nutzten die im Politjargon ausgetragene Diskussion, um sich mit politischen Gegnern zu ›duellieren‹ und ihre Kräfte in den eigenen Reihen auszuloten. Die wettbewerbsorientierte Konstruktion von Männlichkeit, die Bourdieu und Connell hervorheben, wird hier manifest.40 Wie die Historikerin Nina Verheyen untersucht hat, war im studentischen Protestmilieu eine »demonstrative Wertschätzung von Diskussionen«41 zu verzeichnen. Durch öffentliches Diskutieren, meinten die ›68er‹, könne eine demokratische Gesprächsform auf gleicher Augenhöhe er33 | RIEDEN, Ich lebte in einer Kommune, S. 8. 34 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 244. 35 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 208. 36 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 232. 37  |  Vgl. THIMM, Caja: Strategisches Handeln im politischen Konflikt: Frauen und Männer im kommunalen Parlament. In: Ruth Reiher (Hg.): Sprache im Konflikt. Zur Rolle von Sprache in sozialen, politischen und militärischen Auseinandersetzungen (Sprache, Politik, Öffentlichkeit, Bd. 5), Berlin/New York 1995, S. 72-92, hier S. 75. 38  |  Vgl. AYASS, Ruth: Kommunikation und Geschlecht. Eine Einführung, Stuttgart 2008, S. 22-26. 39 | THIMM, Strategisches Handeln im politischen Konflikt, S. 75. 40 | Vgl. CONNELL, Der gemachte Mann, S. 98; Vgl. BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, in: Dölling/Krais, S. 203. 41 | VERHEYEN, Diskussionslust, S. 244.

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reicht werden, die Mitsprache, Kritik und Widerspruch ermögliche.42 Verheyen stellt auch fest, dass die Diskussion der maskulin dominierten antiautoritären Bewegung nicht nur als Kommunikations-, sondern auch als Machtmittel diente.43 Personen, die nicht bereit waren, mit den Protestierenden zu diskutieren, wurde das Recht auf politische Hegemonie aberkannt, wie ein Flugblatt des SDS Frankfurt beweist: »Die Ordinarien sind nicht willens und offenbar nicht fähig, in rationaler Diskussion ihren Herrschaftsanspruch an der Universität zu legitimieren. […] Wir stellen fest: der SDS diskutiert mit wem auch immer und worüber auch immer – aber unter einer Voraussetzung: in aller Öffentlichkeit.« 44

Die mangelnde Bereitschaft der Lehrstuhlinhaber, mit den Studenten zu diskutieren, legt der SDS Frankfurt demzufolge als Schwäche und Unterlegenheit aus. Die Verfasser des Flugblattes rühmen sich damit, dass sie willens sind, sich jederzeit mit jedem über jedes nur mögliche Thema verbal auseinanderzusetzen. Gefühle der Ermächtigung waren für die Protestierenden mit der in ihren Augen überdurchschnittlichen Fähigkeit zum Diskutieren verbunden. Der SDS Frankfurt signalisiert mit seiner selbstbewussten Aussage, es kommunikativ mit jedem politischen Gegner aufnehmen zu können. Die dialogische Struktur der Diskussion erfordert Spontanität und ermöglicht eine unmittelbare Anfechtung der vorgebrachten Argumente.45 Unverständnis oder sogar Verachtung brachten die protestierenden Studenten den Professoren entgegen, die sich dem spontanen, impulsiven Ad-hoc-Wortgefecht entzogen: »Die Professoren weigerten sich mit uns zu diskutieren«, stellten die Studierenden empört und despektierlich fest, »[s]ie begründeten ihre Weigerung mit dem erstaunlichen Argument, sie seien darauf nicht vorbereitet.«46 Die Professoren, die Scheu zeigten, sich dem maskulin assoziierten dialogischen Meinungskampf ohne Vorbereitung zu stellen, erfüllten aus der Perspektive der überwiegend männlichen Studenten nicht das Männlichkeitsdeal intellektueller Wortmacht. Die rebellierenden Studenten wollten nicht nur mit Professoren, sondern auch mit Politikern direkt diskutieren. Der SDS Stuttgart stellte in einem Flugblatt die 42 | Vgl. VERHEYEN, Diskussionslust, S. 245. 43 | Vgl. VERHEYEN, Diskussionslust, S. 246. 44 | Flugblatt, SDS Frankfurt: Heute: teach-in. Kritische Universität. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 389 (SDS, Gruppen Frankfurt, 1967-1968). 45 | Vgl. WINTER, Katja/NICOLAY, Nathalie: Sprachlichkeit um 1968 und ihre Folgeentwicklung. Beobachtungen zum aktuellen politischen Dialog in den Unterhaltungsmedien. In: Tobias Schaffrik/Sebastian Wienges (Hg.): 68er Spätlese – Was bleibt von 1968? (Villigst Profile, Bd. 10), Berlin 2008, S. 120-140, hier S. 129f. 46  |  Flugblatt, SDS Berlin: Sachverständige konnten nicht zur Sache sprechen, 30. Januar 1968. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 257 (SDS, Flugschriften SDS/AStA – HD).

3. Sprache des Protests

Forderung nach einem öffentlich-politischen Dialog mit Abgeordneten des Landtages über die umstrittene Hochschulgesetzgebung. Eine Ausschlagung dieses vehementen Ansinnens nach Diskussion durch die Volksvertreter wurde von den Studenten nicht akzeptiert, wie diese unversöhnlich klarstellten: »Wer sich der Diskussion der Öffentlichkeit entzieht, verdient es nicht mehr, als Volksvertreter bezeichnet zu werden.«47 Die Protestierenden verloren jeglichen Respekt vor einem politischen Widersacher, der sich ihrem Drang und ihrer Lust zum Diskutieren verweigerte. Als feige und unmännlich galt die Zurückweisung einer Herausforderung zum argumentativen Austausch. Die Bewegten von ›1968‹ verwendeten den Begriff des ›Ausdiskutierens‹48 umgangssprachlich und frei von Ironie. Der Terminus basiert auf der Vorstellung, sich über einen Sachverhalt so lange argumentativ und konträr auszutauschen, bis eine endgültige Klärung darüber gewonnen ist. Gemäß dieser in der maskulin codierten 68er-Bewegung vorherrschenden Auffassung musste nach jedem argumentativen Wortgefecht ein Sieger und ein Verlierer zu ermitteln sein. Der Gewinner des ›Wettbewerbs‹ konnte sich mit der intellektuellen Überlegenheit über seinen Gegner brüsten und sich in dieser Vorrangstellung sonnen. Aus diesem Grund spricht der Geschichtswissenschaftler Riccardo Bavaj auch von einer »sozialdarwinistische[n], maskuline[n] Diskussionskultur«49 innerhalb der antiautoritären Bewegung. Ein impliziter Wettstreit um die größte Wortmacht und vollendete Fähigkeit zur Diskussion entflammte auch innerhalb der männlich dominierten Protestszene, wie der ehemalige Schüleraktivist Matthias Kleij zu berichten weiß. Anerkennung und Bewunderung galt demjenigen, der »der beste Redner war [und] die härtesten Argumente hatte […]«.50 Robert Bücking, der ebenfalls als Oberschüler in der Hannoveraner Schülerbewegung aktiv war, hebt hervor, dass in den Jahren des Protests vor allem zwischen den Männern ein »Kampf um Worte, Gedanken und Ausdruck«51 stattgefunden hätte, der sich sogar auf die Partnerwahl auswirkte. Die Revolteure meinten, dem weiblichen Geschlecht mit ihrer Ausdrucksfähigkeit und der perfekten Beherrschung der fachakademischen Szenesprache imponieren zu können. Im Fall von Irmela Hannover scheint die Strategie der Genossen, durch Sprachvermögen Männlichkeit zu demonstrieren und zu inszenieren, geglückt zu sein. Die Teilnehmerin an den Protesten rund um das Jahr 1968 räumt ein, dass Männer, die im Stande waren, Texte und Reden im generationstypischen Politikjargon zu verfassen, auf sie äußerst attraktiv gewirkt haben: »Da habe ich gedacht, wie kann man so was Kluges so schön formuliert 47 | Flugblatt, SDS Stuttgart: Arbeiter, Hausfrauen, Bürger! In: FU Berlin, UA, APOSammlung, Sig. 257 (SDS, Flugschriften SDS/AStA – HD). 48  |  Vgl. Sinnvolle und sinnlose Selbstkritik am Uni-Teach-in. In: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 2. Bd., S. 538. 49 | BAVAJ, ›68er‹ versus ›45er‹, S. 70. 50  |  Matthias Kleij, in: HANNOVER/SCHNIBBEN, I can’t get no, S. 111. 51  |  Robert Bücking, in: HANNOVER/SCHNIBBEN, I can’t get no, S. 122.

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zu Papier bringen. Das hat mich schwer beeindruckt.«52 Hannovers Bewunderung der Wortmacht ihrer männlichen Genossen weist ihr gemäß Bourdieus Männlichkeitstheorie den Platz als weibliche Zuschauerin zu: Sie zollt den wettbewerbsorientierten Spielen der Männer, mittels derer der maskuline Habitus ausgebildet wird, Applaus und Anerkennung.53 Innerhalb der Protestgemeinschaft stellte es ein Tabu für männliche Genossen dar, offen zu bekennen, dass sie die elaborierte Politsprache nicht beherrschten, beziehungsweise nicht verstanden. Peter Schneider berichtet über den gruppeninternen Zwang, den Sprachhabitus der linksintellektuellen Protestszene zu adaptieren: »Niemand gibt gerne zu, daß er ›die neue Sprache‹ nur halb versteht; wenige haben das Selbstbewusstsein, sie schlicht für verblasen und altmodisch zu erklären. […] Niemand darf sich mehr erdreisten, seine eigene Wahrnehmung mit seinen eigenen Worten zu beschreiben. Schon der Versuch dazu wird von der Gruppe rechtzeitig aufgespürt und geahndet.« 54

Schneider bemängelt aus der Retrospektive, dass es im Milieu der 68er-Bewegung schon bald nicht mehr möglich war, politische Anliegen auf individuelle Art und Weise zu formulieren. Offenbar existierte in der Protestkultur der ›68er‹ ein beträchtlicher Gruppenzwang, den entpersonalisierten, fachakademischen Politikjargon zu nutzen. Ein Protestteilnehmer, der den avantgardistischen Sprachduktus der Bewegung ablehnte oder schlichtweg nicht begriff, konnte rasch aus der Gefühlsgemeinschaft der 68er-Bewegung ausgeschlossen werden und verlor die Chance, sich im homosozialen Wettbewerb um das Ideal hegemonialer Männlichkeit zu beweisen.

3.1.2 Einschüchterung Zahlreiche ›68erinnen‹ erlebten den abstrakten, syntaktisch komplexen, mit Fremdwörtern gespickten Politjargon der SDS-Aktivisten als männliche Elitesprache, die auf sie sehr einschüchternd wirkte. Inga Buhmann, die in den 1960er Jahren Mitglied im SDS und später in verschiedenen linksalternativen Frauen- und Stadtteilgruppen war, geht davon aus, dass die männlichen Genossen ihren elaborierten Soziolekt bewusst nutzten, um die Frauen der Protestszene unterzuordnen. Sie erinnert sich daran, wie die männlichen Mitglieder des SDS Frankfurt ihre komplexe Wissenschaftssprache aus den Hörsälen auf alle anderen Lebensbereiche übertrugen, um sich zu profilieren:

52  |  Irmela Hannover, in: DIES./SCHNIBBEN, I can’t get no, S. 123. 53 | Vgl. BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, in: Dölling/Krais, S. 203. 54 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 275.

3. Sprache des Protests »[…] bei Habermas traf sich die soziologische Elite, gegen die nichts zu sagen gewesen wäre, wenn sie nicht ihren frisch erlernten Jargon bei jeder passenden Gelegenheit mit sich herumgetragen hätte, bei Festen, in Kneipen, beim Vögeln, im SDS, und ihn nicht vorwiegend dazu verwandt hätte, andere damit einzuschüchtern. Daß sie so diese Erkenntnisse als arrogantes Machtmittel vor allem gegen Frauen benutzten, das ist mein Hauptvorwurf. So kam es oft vor, daß ich, wenn ich eine Frage stellte, einen Sermon zur Antwort erhielt, der sich lückenlos aus einer Reihe von Zitaten aus den fünf Büchern zusammensetzte, die alle gelesen haben mußten, um ›in‹ zu sein.« 55

Buhmann spricht den männlichen SDS-Mitgliedern Arroganz, Überheblichkeit und Machtstreben zu. Sie wirft ihnen vor, die ›neue Sprache‹ nicht nur gegen politische Gegner eingesetzt zu haben, sondern auch als Mittel, um ihr privates Umfeld ›mundtot‹ zu machen. Vor allem weibliche Mitglieder sollten durch den avantgardistischen, theoretisierten Sprachgebrauch auf ihren Platz verwiesen werden. Auf einfache inhaltliche Fragen, so Buhmann, wurde nicht in eingängiger Alltagssprache geantwortet, sondern mit einem unübersichtlichen Konglomerat aus Zitaten. Als Pflichtlektüre für jedes Mitglied des SDS galten einige linksintellektuelle Klassiker, ohne Kenntnis derer der Politikjargon der protestierenden Studenten ein Rätsel blieb.56 Ulrike Heider, die wie Buhmann Mitglied des SDS Frankfurt war, beklagt, dass sie, als sie das erste Mal eine Diskussionsrunde des studentischen Verbandes besuchte, fast nichts von dem Gesprochenem verstand, obwohl sie eine überdurchschnittlich gute sprachliche Ausbildung genossen hatte. »Erbittert stellte ich fest, dass neun Jahre Latein und sechs Jahre Altgriechisch an den beiden renommiertesten Gymnasien Frankfurts nicht einmal dafür gut gewesen waren.«57 So beschreibt Heider ihre Frustration über die Unfähigkeit, die schwindelerregende Wissenschaftssprache der hauptsächlich männlichen Adorno-Schüler zu verstehen. Ein hohes Bildungsniveau reichte offenbar nicht aus, um sich der eigentümlichen In-Group-Sprache des linksintellektuellen Protestmilieus bemächtigen zu können. Von daher beschreibt die Ehefrau des SDS-Wortführers Rudi Dutschke, Gretchen-Dutschke-Klotz, die vorherrschende Sprache im SDS als eine Art männerbündische Geheimsprache, deren Inhalte nur wenige Auserwählte und Eingeweihte verstehen konnten: »Der SDS bestand aus einer Gruppe von Intellektuellen, die wahnsinnig überhebliche Menschen waren. […] Sie sprachen eine Sprache, die, außer ganz wenigen, niemand verstehen

55 | BUHMANN, Inga: Ich habe mir eine Geschichte geschrieben, Frankfurt a.M. 1977, S. 162. 56 | Vgl. BUHMANN, Ich habe mir eine Geschichte geschrieben, S. 162. 57 | HEIDER, Ulrike: Keine Ruhe vor dem Sturm, Hamburg 2002, S. 56f.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er konnte. Sie klang wie eine Geheimsprache. Und es war eine Organisation von Männern. Frauen waren dabei, aber mit wenigen Ausnahmen hatten sie nichts zu sagen.« 58

Der Zweck einer Geheimsprache, wie sie historisch häufig von männerbündisch strukturierten Gruppen und Netzwerken verwendet wurde,59 besteht in der Verschleierung des Informationsgehalts vor Nicht-Eingeweihten und zur Monopolisierung von Wissen. Die Fähigkeit, eine Geheimsprache zu sprechen und zu verstehen, ist dementsprechend als Signum von Macht und politischem Einfluss zu verstehen. Gemäß der lebensgeschichtlichen Darstellung von Dutschke-Klotz findet der Ausschluss von Frauen an der politischen Teilhabe im SDS schon durch deren Unvermögen statt, sich aktiv der maskulin codierten Elitesprache männlicher Führungspersönlichkeiten zu bedienen. Die Verwendung einer Geheimsprache zeugt außerdem von einem ausgeprägten Elitebewusstsein, welches Dutschke-Klotz in der intellektuellen Hybris ihrer männlichen SDS-Genossen wiederzuerkennen meint. Elke Regehr, die sich ebenfalls an den Protesten rund um das Jahr 1968 beteiligte, bestätigt, dass gemäß ihrer Erfahrung im SDS nur diejenigen zu Wort kamen, die den Kommunikationsstil der männlichen intellektuellen Avantgarden beherrschten: »Im SDS war das Klima nicht immer liberal. Dort dominierten einige wenige Chefideologen mit ihrem ›Soziologiekauderwelsch‹. Ich habe mich nicht getraut zu sagen: ›Jetzt lasst mich doch auch mal reden, ich rede wenigstens verständlich.‹ Es war überhaupt nicht selbstverständlich, als Frau mitzudiskutieren. Die meisten Frauen saßen oder standen stumm und lauschten.« 60

Regehr erklärt sich die allgemeine demütige Stummheit der anwesenden Frauen im SDS mit ihrem eigenen Gefühl der Einschüchterung angesichts der Übermacht ihrer wortgewaltigen, soziologisch geschulten Genossen. Den komplizierten Sprachgebrauch der männlichen ›Chefideologen‹ zu kritisieren oder zu übergehen, haben die weiblichen SDS-Mitglieder ihrer Erinnerung nach nicht gewagt. Zudem berichtet Christel Kalisch, Mitbegründerin der Kommune II, dass das gemeinsame Schreiben eines politischen Artikels mit ihrem Kommunarden JanCarl Raspe an seinem unverständlichen, fachakademischem Soziolekt scheiterte: »Er hatte eine furchtbar geschraubte Sprache, es fiel mir schwer, mich damit zu identifizieren, sie zu verstehen und selbst etwas beizutragen, weil der ganze Text 58 | DUTSCHKE-KLOTZ, ›Jemanden zu lieben war irgendwie falsch‹, S. 281. 59 | Vgl. BIEDERMANN, Hans: Das verlorene Meisterwort. Bausteine zu einer Kultur- und Geistesgeschichte des Freimaurertums, 3. Aufl., Wien/Köln/Weimar u.a. 1999, S. 176; Vgl. BLAZEK, Helmut: Männerbünde. Eine Geschichte von Macht und Faszination, Berlin 1999, S. 32 und S. 47. 60 | REGEHR, ›Für viele Männer des SDS war die Psyche Weiberkram‹, S. 85f.

3. Sprache des Protests

von dieser Sprache geprägt war.«61 Für sie ging automatisch die inhaltliche Aussage sowie eine persönliche Identifikation mit dem vorliegenden Text verloren, sobald dieser in besagtem maskulin codierten Politjargon verfasst war. Selbst retrospektiv löst die abstrakte Sprache, wie sie auf Zusammenkünften des studentischen Protestmilieus üblich war, noch starke Gefühle der Ohnmacht und Beklemmung bei der ehemaligen Kommunardin aus. So verspürt Kalisch im Jahr 2002 noch Beklemmung und Hilflosigkeit beim bloßen Gedanken daran, wie es in den Jahren des Protests war, als Frau auf einer Versammlung das Wort zu ergreifen. »Es machte mir Angst und war überhaupt nicht meine Wellenlänge«62, resümiert die ›68erin‹. Mit emotionalem Unbehagen, das sich sogar in körperlichem Unwohlsein bemerkbar machte, reagierten offenbar mehrere Frauen, die sich Ende der 1960er Jahre im linken Protestmilieu engagierten. Angst, Unsicherheit und Scheu verspürte auch eine Genossin namens Katja, als sie sich bei einer SDS-Versammlung zu Wort meldete: »Sie wollte an der Diskussion teilnehmen, meldete sich mutig zu Wort und kam nach einer Stunde zum Reden, mit einer banalen Verständnisfrage. Über sechzig Minuten hatte sie gezittert, sie nicht zu vergessen. Als sie die Frage am Mikrofon herausbrachte, überlief sie heiß das Gefühl, jeder im Auditorium habe gemerkt, daß sie sich nur vor sich selbst und vor den Genossen bewähren wollte. Sie schleuderte die Worte mit ihrem ganzen Körper heraus, litt die Qual des Sprechens, die Furcht vor dem Sturz, wenn Worte fehlen.« 63

Gemäß Peter Moslers Bericht war für Katja das Mitdiskutieren im SDS keine Selbstverständlichkeit. Die Wortmeldung erforderte erhebliche Überwindung, die Angst, nicht die richtigen Worte zu finden, machte das bloße Stellen einer Frage zur psychischen und physischen Qual für sie. Ihre emotionale Hemmung, vor den Genossen zu sprechen, äußerte sich in körperlichen Symptomen, wie Zittern und Schwitzen. Es zeigt sich, dass Frauen auf studentischen Versammlungen offenbar einen kollektiven Druck spürten, ihren Diskussionsbeitrag nicht einfach frei, ungezwungen und spontan in ihrer Fasson formulieren zu können, sondern den argumentativen Topoi und der Wortwahl der tonangebenden männlichen Genossen möglichst entsprechen zu müssen. Betrachtet man die Gefühle, die der fachakademische Politjargon bei zahlreichen ›68erinnen‹ hervorrief, bestätigt sich, dass die männliche Elitesprache nicht nur als Machtmittel gegen politische Widersacher, sondern zuweilen auch zur (un-)bewussten Unterordnung des weiblichen

61  |  KALISCH, Christel: ›Es war nicht nur angenehm, was hochkam‹. In: Ute Kätzel (Hg.): Die 68erinnen. Porträt einer rebellischen Frauengeneration, Königstein 2008, S. 259-275, hier S. 266. 62 | KALISCH, ›Es war nicht nur angenehm, was hochkam‹, S. 266. 63 | MOSLER, Was wir wollten, was wir wurden, S. 47.

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Geschlechts fungierte und damit auch zur Aufrechterhaltung maskuliner Hegemonie.

3.2 W ort wit z und S pr achlust Parallel zu dem ernsthaften, politisch und moralisch hoch engagierten, fast schon biederen Politjargon entwickelte sich im linken Protestmilieu rund um das Jahr 1968 noch eine weitere sprachliche Stilrichtung, mittels derer sich die Protestierenden von der Sprache des ›Establishments‹ abgrenzten. Ein verspielter, humoristischer und kreativer Sprachgebrauch voll satirischem Sprachwitz und innovativer Sprachlust war ebenso charakteristisch für die Sprache der 68er-Bewegung, wie der abstrakte und komplexe Wissenschaftsjargon mit seiner rationalen und stringenten Argumentation. Die sprachliche Kreativität der ›68er‹ ist zunächst an deren »Wandparolenund Sprechchorsprache«64 abzulesen. Die Protestierenden erschufen humor- oder fantasievolle Slogans, die allesamt in Reimform verfasst waren und sich deshalb vom Sprachrhythmus her vorzüglich dazu eigneten, in Sprechchören skandiert zu werden. Aufgrund ihrer Kürze und Prägnanz ließen sich die schlagwortartigen, plakativen Statements auch einfach und schnell als Graffitis an öffentlichen Häuserwänden anbringen oder auf Spruchbänder und Plakate schreiben. Große Verbreitung erfuhren die Parolen der Protestierenden außerdem durch die Massenmedien, die statt der komplex formulierten programmatischen Stellungnahmen der antiautoritären Bewegung lieber die aussagekräftigen, leicht zu erfassenden und emotionalisierten Slogans in ihre Presseartikel, Rundfunk- und Fernsehbeiträge übernahmen und somit stark zu deren Popularisierung beitrugen.65 Mithilfe von gereimten Parolen konnten die ›68er‹ ihre politischen Ziele für jeden verständlich auf den Punkt bringen: Ihren Protest gegen die Notstandsgesetze drückten sie beispielsweise mit dem Reim ›Willst du Krieg im Frieden führen, musst den Notstand du probieren‹ aus. Das Statement ›Unter den Talaren – Muff von tausend Jahren‹ diente dazu die überholten und elitären Strukturen der Universitätspolitik mit viel Wortwitz anzuprangern. Mit ›tausend Jahren‹ nahmen die studentischen Aktivisten außerdem Bezug auf das von den Nationalsozialisten propagierte ›Tausendjährige Reich‹ und protestierten gegen die mangelnde Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Ihren Unmut über den Kriegseinsatz der U.S.A. in verschiedenen Ländern der ›Dritten Welt‹ vermittelten die rebellierenden jungen Menschen zum Beispiel mittels des Slogans ›Kuba, Kongo, Vietnam – die Blutspur der US ist lang‹. Die 64 | Vgl. SCHNEIDER, Sprache, S. 75. 65 | Vgl. WIENGES, Sebastian: Die Stille der Revolution. Einführende Überlegungen zu ›1968‹. In: Tobias Schaffrik/Ders. (Hg.): 68er Spätlese – Was bleibt von 1968? (Villigst Profile, Bd. 10), Berlin 2008, S. 1-9, hier S. 4.

3. Sprache des Protests

Überlegenheit der plakativen Ausdrucksform gegenüber den intellektuell formulierten und argumentativ aufgebauten Reden und Positionspapieren bestand darin, dass man mit Parolen den Gegner buchstäblich niederschreien konnte, mit Argumenten jedoch kaum.66 Mit dem impulsiven Herausrufen ihrer politischen Botschaften konnten die ›68er‹ ihrer kollektiven Empörung und Unzufriedenheit freien Lauf lassen. Sie mussten sich nicht erst die Mühe machen, ihre Befindlichkeiten zu abstrahieren und zu rationalisieren, sondern konnten ihre Emotionen in knappen, griffigen Parolen in die Welt hinausschreien. Durch die rhythmisch strukturierte Sprache, die eine große Anzahl von Menschen gleichzeitig skandierte, wurde zudem Gemeinsamkeit geschaffen. Gemäß Franz Schneider erkannten die jungen Protestteilnehmer die enormen Wirkungsmöglichkeiten der rhythmisch strukturierten politischen Kampfsprache: »Reime gehen ins Gehör, Rhythmen fahren in die Glieder. Beides macht die Wirkung. Die Versform gräbt sich ins Gedächtnis.«67 Die körperliche Erfahrung des Rhythmus, wie Schneider sie beschreibt, trug unbewusst zur habituellen Manifestation kollektiver Gefühle innerhalb der Protestbewegung bei. Im Gegensatz zu den Parolen, die klare politische Forderungen kommunizierten, kreierten die ›68er‹ auch antiautoritäre Sprüche wie ›Es ist verboten zu verbieten‹ oder ›Lasst eure Wünsche Realitäten sein‹, die nichts Konkretes kritisierten oder verlangten, aber trotzdem die Fundamente der existierenden Gesellschaftsordnung grundsätzlich in Frage stellten. Diese Art von Statements waren aufgrund ihrer Offenheit und Unbestimmtheit nicht angreif bar und argumentativ schwer widerlegbar, stellten jedoch auf geschickte Weise alles Bestehende und alle geltenden Regeln zur Disposition.68 Auf Demonstrationen der oppositionellen Bewegung wurde die Aufforderung zum Mitmachen ebenfalls durch originelle Slogans in Reimform kommuniziert. ›He – kommt runter vom Balkon, unterstützt den Vietkong!‹ oder ›Bürger, lasst das Gaffen sein, kommt herunter, reiht euch ein!‹ riefen die Protestierenden in der Hoffnung um Unterstützung durch Außenstehende. Die Slogans waren in salopper, unbefangener Umgangssprache gehalten und sprachen den Adressaten zumeist mit einem verbindlichen, informellen ›du‹ an. Jugendsprachliche Merkmale kommen in der Sprechchorsprache der ›68er‹ also deutlich zum Tragen. Der provokante und ironische Spruch ›Mädchen, schnell in eure Stuben, unten sind die roten Buben‹, der – wie es zunächst scheint – zur Flucht vor den männlichen Demonstrierenden aufruft, verdeutlicht zum einen die maskuline Codierung der außerparlamentarischen Bewegung, zum anderen spielt der Reim mit der sexuellen Potenz der männlichen Genossen als vermeintliche Gefahr für die weibliche Bevölkerung. Im Kontext der bundesdeutschen Nachkriegszeit könnte der Spruch auf die massenhaften Vergewaltigungen von deutschen Frauen durch 66 | Vgl. WIENGES, Die Stille der Revolution, S. 5. 67 | SCHNEIDER, Sprache, S. 76. 68 | Vgl. WIENGES, Die Stille der Revolution, S. 5.

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Soldaten der Sowjetarmee unmittelbar nach Kriegsende hinweisen. Die verbleibenden Ängste der Menschen vor dem Sozialismus sollen durch den Spruch persifliert werden. Die angebliche sexuelle Gefährlichkeit aller linksgerichteten, beziehungsweise kommunistisch gesinnten Männer, wurde damit aufs Korn genommen.69 Die Parolen der 68er-Bewegung transportierten darüber hinaus die Wut und die Aggression der Protestierenden, weshalb die Reime oft einen drohenden, brutalen Charakter besaßen. In Bezug auf die bundesdeutsche Rechtsprechung waren in der Protestszene von ›1968‹ folgende Sprüche im Umlauf, die nichts Gutes für die Vertreter der Justiz vorsahen: »Die Justiz bleibt fies und barsch, tritt man ihr nicht in den Arsch!«70, oder auch ›Gefängnisse entlasten, nur Richter müssen knasten‹. Zur Gewaltanwendung gegen die Springer-Presse, deren Berichterstattung über die Aktivitäten der Studentenbewegung äußerst kritisch ausfiel, riefen die Parolen ›Haut dem Springer auf die Finger!‹ und ›Springer-Presse, halt die Fresse!‹ auf. Die Protagonisten der Protestbewegung scheuten sich auch nicht davor, ihre Einschüchterungsversuche und Gewaltandrohungen gegen konkrete Personen zu richten. Die Parole ›Brecht dem Schütz die Gräten, alle Macht den Räten!‹ bezog sich auf den ab 1967 regierenden Bürgermeister Berlins Klaus Schütz. Der Spruch ›Hoppe, heute kriegst du Kloppe‹ sollte den Finanz- und Justizsenator Hans-Günter Hoppe das Fürchten lehren. Mit dem humoristischen Wortspiel ›Körber-Verletzung ist nicht straf bar‹ vermittelten die rebellierenden Studenten ihre Kampfansage an den Medizin-Professor Körber, der an der FU Berlin in den 1960er Jahren als Dekan agierte.71 Durch Verwendung eines kreativen Sprachgebrauchs in Reimform und einem gewissen Sprachwitz machten die Studierenden den gewaltsamen und aggressiven Inhalt der Parolen innerhalb des linken Protestmilieus salonfähig. Androhungen von physischer Gewalt und persönliche Verunglimpfungen von politischen Feinden gingen den Protestierenden in der lockeren, humoristischen Versform wahrscheinlich leichter über die Lippen. Die umgangssprachlich verfassten Parolen enthalten verschiedene Dialektismen wie ›knasten‹ oder ›Kloppe‹ und Vulgarismen wie ›Arsch‹ oder ›Fresse‹.72 Mit diesen Kraftausdrücken wollten die Revolutionäre das ›Establishment‹ empören und schockieren. Bewusst wurde ein äußerst bildhafter, tabuisierter Wortschatz genutzt, um mit seiner brutalen Direktheit den politischen Gegner zu verunsichern und zu irritieren.73

69  |  Slogans zitiert nach: STRASSNER, 1968 und die sprachlichen Folgen, S. 248f. 70  |  Flugblatt, Fritz Teufel: Selbstanzeige. An die Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht/ Landgericht München, Formular zum Ausfüllen, Nicht zutreffendes bitte streichen. In: IfZ Archiv, ED 328/5. 71 | Vgl. SCHNEIDER, Sprache, S. 75. 72 | Vgl. SCHARLOTH, 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, S. 332ff. 73 | Vgl. JÄGER, Linke Wörter, S. 88.

3. Sprache des Protests

Der sprachliche Humor und die vitale, innovative Sprachkraft der 68er-Bewegung kamen ferner im satirischen und parodistischen Kommunikationsstil der Protestierenden zum Tragen. Die Revolteure bemächtigten sich zuweilen der sogenannten Textsorten-Parodie, das heißt, sie machten sich die Spezifika einer bestimmten Textsorte zu eigen, die den Lesern aus anderen Kontexten wohlbekannt war.74 So wurde in den Protestjahren beispielsweise das Gebet ›Vaterunser‹ von einfallsreichen und fantasievollen Genossen umgedichtet in ›Axel Unser‹ und in der Form eines Flugblattes veröffentlicht: »Axel unser – der du bist im Springerkonzern geheiligt werde deine Korruption dein Presseimperium komme deine Manipulation geschehe wie in Bonn also auch bei uns – unser tägliches ›Bild‹ gib uns heute und vergib uns unsere Dummheit wie auch wir vergeben unserer Volksverdummung und führe uns nicht zur Wahrheit sondern erlöse uns von Antispringerdenken – Denn dein ist das Reich Einer Mannschaft von Nibelungenart Und die Kraft Der ›Bild‹ Polemik Und die Herrlichkeit des NICHTNACHDENKENS In Ewigkeit – ›Bild am Sonntag‹« 75

Üblicherweise war von einem Flugblatt der 68er-Bewegung der direkte Appell zu erwarten, eine politische Forderung zu unterstützen. Es wurde meist explizit dazu aufgefordert, gegen die herrschenden Verhältnisse zu rebellieren.76 Umso mehr stach die originelle und provokante sprachliche Verpackung der politischen Intention in diesem Fall aus der Masse an studentischen Flugblättern heraus. 74 | Vgl. NIEHR, ›Still schäm’ ich mich in meiner Zelle…‹, S. 123ff. 75 | Flugblatt, Axel Unser, 6. Mai 1968. In: IfZ Archiv, ED 328/31. 76 | Vgl. NIEHR, ›Still schäm’ ich mich in meiner Zelle…‹, S. 124.

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Das ›Axel Unser‹ ist eine Parodie des meist gesprochenen und am weitest verbreiteten Gebetes im Christentum, das im westlichen Kulturraum jedem geläufig ist. Da sie religiöse Autorität strikt ablehnten, hatten die ›68er‹ – ohne Ehrfurcht und Respekt – auch keine moralischen Bedenken, das Gebet zu verfremden und in den Dienst des Protests zu stellen. Das ›Vaterunser‹, in dessen Mittelpunkt die Bitten der Menschen an Gott stehen, wird im ›Axel Unser‹ umgemünzt auf den mächtigen Medienmogul Axel Springer. Indem die Verfasser des Flugblattes den Verleger, der in den 1960er Jahren einen Großteil der bundesdeutschen Presseerzeugnisse auf den Markt brachte, mit Gott gleichsetzen, kritisieren sie sowohl die Leichtgläubigkeit der Menschen, die der Berichterstattung der Springer-Presse vorbehaltslos trauen und Glauben schenken, als auch die Anmaßung Axel Springers, der gesamten Bevölkerung seine Meinung aufdrängen zu wollen. Dem Springer-Konzern wird zur Last gelegt, sein Pressemonopol zur Korruption, Manipulation und Volksverdummung zu nutzen. Besonders die Skandalund Sensationsberichterstattung der auflagenstarken Bild-Zeitung wird im ›Axel Unser‹ als unseriöser, polemischer und demokratiegefährdender Journalismus bloßgestellt. Die Textsorten-Parodie ist aus der Sicht der gutgläubigen, unkritischen und demütigen deutschen Bevölkerung geschrieben, die abhängig ist von den vermeintlichen Lügen und vorgefertigten Meinungen der Springer-Presse und deshalb um die lebenswichtige tägliche Bild-Zeitung bittet. Mithilfe dieses ironisch-satirischen Sprachspiels riefen die Verfasser des Flugblattes dazu auf, weltlichen Autoritäten keinen gottähnlichen Status zuzubilligen. Die Verfasser des ›Axel Unser‹ verhöhnten und verspotteten ihren politischen Gegner auf eine erfinderische und humoristische Art und Weise. Demzufolge erfüllte es die Protestierenden wohl mit einem Gefühl der Handlungsfähigkeit und Überlegenheit, mittels kreativer Sprachkraft Widersacher der Lächerlichkeit preiszugeben und durch satirische Elemente gesellschaftliche Missstände elegant und geistreich aufzudecken. Die humorvolle und freche Parodie sollte die Rezipienten des Flugblattes zum Schmunzeln bringen und den vorbehaltslosen Glauben an gesellschaftliche und religiöse Dogmen in Frage stellen. Die Bewohner der Kommune I waren die populärsten Vertreter des satirischen, spielerischen Umgangs mit Sprache. Zuweilen schossen sie bewusst mit ihrem skurrilen, beziehungsweise schwarzen Humor über das Ziel hinaus. Der folgende Textausschnitt aus einem Flugblatt der Kommunarden vom 24. Mai 1967 war im Stil einer Reklame-Wurfsendung gehalten. In der Überschrift des Flugblattes heißt es, wie man es von Aufmerksamkeit heischenden Produktwerbungen kennt, wiederholt: »Neu! Unkonventionell!« und »Neu! Atemberaubend!«77 Inhaltlich spielt der Flugblatttext auf den Brand eines großen Kaufhauses in Brüssel an, bei dem 233 Menschen gestorben und viele mehr verletzt worden sind:

77  |  KOMMUNE I: Flugblatt Nr. 7 vom 24. Mai 1967. In: LANGHANS, Rainer/TEUFEL, Fritz: Klau mich, unveränderte Neuauflage, München 1977, o. S. 

3. Sprache des Protests »Mit einem neuen gag in der vielseitigen Geschichte amerikanischer Werbemethoden wurde jetzt in Brüssel eine amerikanische Woche eröffnet: ein ungewöhnliches Schauspiel bot sich am Montag den Einwohnern der belgischen Metropole: Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelte zum erstenmal in einer europäischen Grossstadt jenes knisternde Vietnamgefühl (dabeizusein und mitzubrennen), das wir in Berlin bislang noch missen müssen. Skeptiker mögen davor warnen, ›König Kunde‹, den Konsumenten, den in unserer Gesellschaft so eindeutig Bevorzugten und Umworbenen, einfach zu verbrennen.« 78

Die Brandkatastrophe, bei der man zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, ob es sich um einen Anschlag gehandelt hatte, ereignete sich drei Tage vor Erscheinen des Flugblattes. Angesichts der hohen Anzahl an Toten und Verletzten ist der zeitgenössische Vorwurf der Geschmack- und Pietätlosigkeit schwer von der Hand zu weisen. Die Kommunarden spielen in ihrem Flugblatt darauf an, dass zum Zeitpunkt des Brandes amerikanische Wochen in dem Brüssler Kaufhaus stattfanden, in denen gesondert U.S.-amerikanische Produkte angepriesen wurden. Der Brand wird in der Diktion eines Werbetextes als gezieltes, originelles MarketingEvent dargestellt, das zur Anwerbung von Kunden stattgefunden hat. Die Mitglieder der Kommune I protestieren in ihrer charakteristischen ironisch-parodistischen Art gegen die als skrupel- und seelenlos empfundene Konsumgesellschaft, deren Ursprung unter anderem in der Amerikanisierung der deutschen Kultur gesehen wird. Im Mittelpunkt der Botschaft steht jedoch der Protest gegen den Vietnamkrieg. Die brennenden Menschen im Kaufhaus werden zynischerweise verglichen mit den Opfern von Napalm-Brandsätzen, die von den amerikanischen Streitkräften im Vietnamkrieg eingesetzt worden sind. Mit der drastischen und hämischen Herauf beschwörung eines ›knisternden Vietnamgefühls‹ soll auf das Leid der vietnamesischen Zivilopfer aufmerksam gemacht werden. Es wird als Ironie des Schicksals hingestellt, dass die proamerikanischen Konsumenten, die die Kriegsführung der Vereinigten Staaten bewusst oder unbewusst unterstützen, nun selbst das erleben, was dem vietnamesischen Volk täglich droht. Das Flugblatt weist indirekt darauf hin, dass Politik und Ökonomie auf globaler Ebene miteinander verbunden sind. Die U.S.A., so die Botschaft der Kommune I, profitieren volkswirtschaftlich von der Kriegsführung gegen Vietnam. Durch die politische Kooperation der Bundesrepublik Deutschland mit den Vereinigten Staaten habe diese automatisch Teil an der Ausbeutung ›Dritter-Welt‹-Länder und dem amoralischen Kriegsgewinn. Das satirisch gestaltete Flugblatt im Stil eines Reklamezettels überlies es dem Leser, selbst Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Mitglieder der Kommune I wollten den Rezipienten damit nahe legen, dass eine radikale Änderung des individuellen Konsumverhaltens langfristige und tiefgreifende politische Veränderungen

78  |  KOMMUNE I: Flugblatt Nr. 7. In: LANGHANS/TEUFEL, Klau mich, o. S.

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bewirken kann.79 Als erste affektive Reaktion des Lesers auf den beißenden, fast schon sadistischen Zynismus der bitterbösen Parodie war sicherlich Schock, Irritation und Ablehnung zu erwarten. Fritz Teufel, der sich wegen der Anstiftung zu terroristischen Aktivitäten in einem Prozess vor Gericht verantworten musste, entgegnete auf die Frage des Richters, was er mit dem Flugblatt bei den Lesern erreichen wollte, folgendes: »Es hat uns gereizt, die moralische Empörung der Leute hervorzurufen, die sich niemals entrüsten, wenn sie in ihrer Frühstückszeitung über Vietnam oder über andere schlimme Dinge lesen.«80 Mit konventionellen sprachlichen Mitteln wäre es den Kommunarden wohl kaum gelungen, die Aufmerksamkeit und Emotionalisierung einer breiten Öffentlichkeit zu erreichen. Im Idealfall, so die Hoffnung der Kommunarden, könnten die heftigen Emotionen, die sie bewusst mit diesem sprachlichen Stil evoziert hatten, zum Nachdenken, zur Selbsterkenntnis und schließlich zur Verhaltensänderung der Adressaten führen.81 Was die Sprechchorsprache und der satirisch-parodistische Sprachgebrauch der ›68er‹ gemein haben, ist, dass sie Humor in verschiedenen Nuancen zur Anwendung bringen.82 Humor als omnipräsentes Element sozialer Interaktion, äußert und entlockt eine Bandbreite an emotionalen Reaktionen, von Amüsement und Heiterkeit über Irritation, Überraschung, Beleidigung oder sogar Feindschaft.83 Für diejenigen, die den jeweiligen Humor teilen, also belustigt sind, entsteht ein angenehmes, positives Gefühl, das dem der Freude ähnelt.84 Freudige Erregung, Ausgelassenheit und Vergnügtheit war wohl auch die emotionale Reaktion der Protestaktivisten über den im linken Protestmilieu üblichen Wortwitz. Ob es den studentischen Oppositionellen gelang, auch dem ›Establishment‹ mit ihren kreativen und frechen Sprachspielen das ein oder andere Schmunzeln zu entlocken, sei dahingestellt. Eine wie auch immer geartete emotionale Resonanz auf ihre sprachlich fantasievoll gekleideten Protestbotschaften war den rebellie79 | Vgl. HAKEMI, Anschlag und Spektakel, S. 45f. 80  |  Fritz Teufel, in: LANGHANS/TEUFEL, Klau mich, o. S. 81 | HAKEMI, Anschlag und Spektakel, S. 48. 82  |  Der Sozialpädagoge Herbert Effinger unterscheidet zwischen folgenden Arten des Humors, die verschiedene Eigenschaften und soziale Wirkungen besitzen: Ironie, Selbstironie, Parodie, Satire, Anekdote, Sketch, Witz, Karikatur, Scherz, Sarkasmus, Streich, Zynismus, Spott, Hohn, Zote. Vgl. EFFINGER, Herbert: Lachen erlaubt: Witz und Humor in der sozialen Arbeit, Regensburg 2006, S. 50. 83  |  Vgl. VAID, Jyotsna: Joking Across Languages: Perspectives on Humor, Emotion, and Bilingualism. In: Aneta Pavlenko (Hg.): Bilingual Minds. Emotional Experiences, Expression and Representation, Clevedon 2006, S. 152-182, hier S. 152. 84 | Gemäß dem amerikanischen Psychologen Rod. A. Martin existiert im englischen, wie auch im deutschen Sprachgebrauch kein exakter Terminus für das angenehme Gefühl der Belustigung, das durch Humor erzeugt wird. Vgl. MARTIN, Rod A.: The Psychology of Humor. An Integrative Approach, Burlington 2007, S. 7f.

3. Sprache des Protests

renden jungen Menschen jedoch gewiss. Im Gegensatz zu der ernsthaften Politsprache, die zunächst einmal den Verstand ansprach, erreichte der informelle, erfinderische, ironische und humoristische Sprachstil seine Rezipienten unvermittelt auf einer emotionalen Ebene. Sobald es die Protestierenden schafften, die Empfänger ihrer politischen Botschaften emotional anzusprechen, konnten sie sich zumindest sicher sein, Aufmerksamkeit für ihre Belange erzeugt zu haben. Es ist also davon auszugehen, dass das hegemoniale Männlichkeitsideal des Wortführers innerhalb der antiautoritären Bewegung nicht ausschließlich über das meisterliche Beherrschen des intellektuellen Fachjargons zu erreichen war, sondern auch über die Fähigkeit, Gesellschaftskritik mittels griffiger und witziger Parolen und ironischer Satire zu üben.

3.3  Z wischenresümee Die maskulin codierte 68er-Bewegung entwickelte eine von der Mehrheitsgesellschaft distinkte sprachliche Kultur, die der Inszenierung einer gemeinsamen Protestidentität und dem Transport kollektiver Emotionen diente. Sprachliche Ausdrucksfähigkeit hatte innerhalb des linken Protestmilieus einen enorm hohen Stellenwert und galt als unabdingbare Voraussetzung zur Erlangung hegemonialer Männlichkeit. Der fachakademische Wissenschaftsjargon, den die ›68er‹ benutzten, zeichnete sich durch die Anhäufung von sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fachtermini und Fremdwörtern, die semantische Umwertung von gängigem politischen Vokabular, sowie den vielfachen Gebrauch von wissenschaftlichen Zitaten aus. Zudem war der Politjargon der linken Elite an syntaktisch und grammatikalisch komplexen Schachtelsätzen und der durchgängigen Verwendung des Nominalstils zu erkennen. Diese anspruchsvolle, nur für politisch Aktive und akademisch Gebildete verständliche Diktion wurde nur von einigen wenigen Wortführern wie Rudi Dutschke in vollendeter Perfektion beherrscht. Dennoch bemühten sich die dem intellektuellen Protestmilieu angehörigen Genossen, im Sinne komplizitärer Männlichkeiten, zumindest einzelne Schlagwörter und Versatzstücke des Soziolekts in ihren Sprachgebrauch zu übernehmen. Aus heutiger Sicht wirkt die wissenschaftlich-abstrakte Politsprache der ›68er‹ auf den ersten Blick trocken, rational und emotionslos. Der missionarische Eifer und die revolutionäre Leidenschaft, die sich in den Protestjahren hinter dem Fachjargon der Protestierenden verbargen, können angesichts des schwer verständlichen, abstrakten, leblos erscheinenden Kommunikationsstil rasch aus dem Blickfeld geraten. Die gruppeninterne Sprache war ein wirksames Mittel der emotionalen In- und Exklusion. Gleichgesinnte erkannten sich am gemeinsamen Jargon, Außenstehende wurden durch ihre Probleme, dem ›Fachchinesisch‹ zu folgen, von der Protestgemeinde ausgeschlossen. Die Bewegten von ›1968‹ sahen sich als intellektuelle Avantgarde und setzten ihre hochspezialisierte Politsprache als Waffe gegen politische Gegner in öffentlichen Diskussionen ein. In den eige-

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nen Reihen trugen die männlichen Genossen ebenfalls erbitterte Wortgefechte im Wettbewerb um eine hegemoniale Stellung innerhalb der Bewegung aus. Anerkennung und Respekt von den männlichen Genossen und Bewunderung vom weiblichen Geschlecht galten in der linksintellektuellen Diskussionskultur demjenigen, der sich im Wettstreit um die vollendete Wortmacht durchsetzen konnte. Einen Gegner im argumentativen Schlagabtausch zu besiegen, erzeugte Gefühle der Ermächtigung und Überlegenheit. Das Zugeständnis, die Szenesprache nicht zu verstehen und zu beherrschen, wurde im Protestmilieu als unmännlich betrachtet, was einen normierenden Druck auf die männlichen Protestierenden ausübte. Wie viele weibliche ›68erinnen‹ berichten, setzten die Genossen ihren elaborierten Soziolekt auch dazu ein, um Frauen unterzuordnen, einzuschüchtern und mundtot zu machen. Als männerbündische Geheimsprache empfanden die weiblichen Protestierenden den avantgardistischen Politjargon der männlichen Elite, weshalb sie auf studentischen Diskussionsveranstaltungen meist stumm blieben. Unsicherheit, Angst und Ohnmacht empfanden die Frauen angesichts einer Wortmeldung auf Mitgliedsversammlungen des SDS. Das emotionale Unbehagen nahm überhand, wenn sie versuchten, sich sprachlich dem männlich codierten Fachjargon anzupassen. Der sprachliche Stil der ›68er‹ zeichnete sich nicht nur durch den Gebrauch einer argumentativ strukturierten, marxistisch gefärbten Wissenschaftssprache aus, sondern auch durch innovativen Sprachwitz. Um ihre politischen Botschaften und ihr Lebensgefühl zum Ausdruck zu bringen, produzierten die Protestierenden fantasie- und humorvolle Slogans in Versform wie am Fließband. Diese plakativen und prägnanten Slogans konnten dem Gegner impulsiv, leidenschaftlich und ungehemmt entgegengeschrien werden. Der sprachliche Rhythmus der gereimten Sprüche, die eine mehr oder minder große Gruppe Demonstrierender gleichzeitig und in vielfacher Wiederholung rief, trug maßgeblich zur habituellen Entwicklung einer kollektiven Protestidentität und eines gemeinsamen Gefühlshaushaltes bei. Die in salopper Alltagssprache formulierten, emotionalisierten Reime waren für Bürger aller Bildungsschichten verständlich und wurden von den Medien vielfach verbreitet. In der informellen, humoristischen Reimform gingen den Aktivisten der 68er-Bewegung auch Gewaltandrohungen und vulgäre Kraftausdrücke mit dem Ziel, das ›Establishment‹ zu verspotten und zu schockieren, leicht über die Lippen. Sprachlicher Humor bildete auch das Kernstück des ironisch-parodistischen Kommunikationsstils der Bewegten von ›1968‹. Die Protestierenden nutzten ihre schöpferische Sprachkraft und prangerten gesellschaftliche Missstände indirekt durch die Verfremdung und Persiflage üblicher Textsorten an. Der freche, ironische und zuweilen zynische Sprachwitz sollte den Rezipienten unvermittelt auf emotionaler Ebene ansprechen und ein gesteigertes Bewusstsein für die Inhalte des Protests wecken. Hämische Freude über die Verunglimpfung und sprachliche Bloßstellung des Gegners prägte demnach ebenfalls die Gefühlskultur der maskulin codierten Protestbewegung.

4. Provokation

»Wenn Menschen einander begegnen, kommunizieren und interagieren sie leiblich, auf einer vorreflexiven Ebene, sie nehmen sich sinnlich wahr.«1 Auf diese Weise stellt der Sozialwissenschaftler Robert Gugutzer die bedeutende Rolle des Körpers für die zwischenmenschliche Kommunikation heraus und betont dabei die sinnlich-emotionale Vermittlungsebene der Körpersprache. Die Aktivisten der bundesdeutschen 68er-Bewegung betrieben symbolische Politik und nutzten ihre Körper bewusst als »interkorporale[] Zeichenträger.«2 Sie stellten ihren gesellschaftlichen und politischen Dissens mittels expressiver und performativer Körpercodes offen zur Schau. Zum einen trugen sie ihre Protesthaltung durch die ostentative Stilisierung ihres äußeren Erscheinungsbildes, was Kleidung und Haartracht betraf, in die Öffentlichkeit, zum anderen vermittelten sie ihre innere Gefühlswelt und politische Überzeugung durch aktionistische Protestformen, die die traditionellen Formen politischer Auseinandersetzung sprengten. Im Folgenden soll der These nachgegangen werden, dass die körperkommunikative und vestimentäre Selbstinszenierung der Protestierenden auf die Provokation des ›Establishments‹ abzielte. Nicht umsonst betitelt ein Kreis ehemaliger SDS-Mitglieder seine retrospektive Abhandlung über die antiautoritäre Bewegung mit Die Provokationselite.3 Ordnung, Gehorsam, Disziplin und Angepasstheit waren den Mitgliedern der maskulin dominierten Protestszene ein Gräuel. Sie bemühten sich mit aller Kraft, die Regeln und Normen des bestehenden sozialen Systems zu brechen, um diejenigen, die das System trugen und befürworteten, in einen offenen Konflikt hineinzuziehen und zu einer affektiven Reaktion zu zwingen.4 Dazu setzten sie ihren Körper strategisch als Medium des Protests ein. Inwiefern provokantes, von der gesellschaftlichen Norm abweichendes Aussehen und 1 | GUGUTZER, Robert: Der body turn in der Soziologie. Eine programmatische Einführung. In: Ders. (Hg.): Body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006, S. 9-53, hier S. 31. 2 | GUGUTZER, Der body turn in der Soziologie, S. 31. 3 | Vgl. RAHBEL/FUHRMANN/KNOLL, Die Provokationselite. 4  |  Vgl. PARIS, Rainer: Stachel und Speer – Machtstudien, Frankfurt a.M. 1998, S. 58.

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Verhalten dem kulturrevolutionären Männlichkeitsideal der 68er-Bewegung entsprach und das normative Gefühlsrepertoire der Protestgemeinde prägte, soll von daher näher beleuchtet werden. Von Erkenntnisinteresse sind darüber hinaus die Fragen, welche Gefühle die ›68er‹ mit ihren provokanten Körperpraktiken zum Ausdruck brachten und welche emotionalen Reaktionen sie mittels ihrer öffentlichkeitswirksamen Selbstdarstellung provozieren wollten.

4.1 K leidercodes und F risuren In den 1960er Jahren galten in der Bundesrepublik eindeutige gesellschaftliche und berufliche Kleidungskonventionen. Nach Möglichkeit kleidete sich der Herr in dieser Zeit mit einem Anzug in gedeckten, dunklen Farben und trug dazu ein makellos gebügeltes weißes Hemd mit schmaler Krawatte. Ein figurumschmeichelnder Mantel und ein klassischer Hut komplettierten die förmliche, unauffällige Herrenmode, die sachlich-nüchtern und gediegen wirkte.5 Das tadellose Alltagsoutfit entsprach einem neuen Männlichkeitstypus des smarten Büroangestellten, der großen Wert auf Gepflegtheit und geschäftsmäßigen Schick legte.6 Die durchschnittliche Herrenfrisur bestand aus einem kurzen Haarschnitt, bei dem Nacken und Ohren frei blieben. Die meisten Männer trugen ihr Haar in den 1960er Jahren akkurat gekämmt mit einem Seitenscheitel. Zur geschäftsmäßigen, gepflegten Erscheinung passend entsprach es dem zeitgenössischen Ideal männlicher Körperpflege, das Gesicht jeden Tag ordentlich glatt zu rasieren. Das Tragen von Bärten galt als wenig gesellschaftsfähig.7 Neu hinzu kamen Mitte der 1960er Jahre die Einflüsse der Freizeit- und Sportmode. Außerhalb der Arbeitszeit konnten nun Kleidungsstücke getragen werden, die sonst verpönt waren, wie bunte, gemusterte Hemden, Cord-Blazer, Pullover, Pullunder und Einzelhosen aus Stoff oder sogar Blue Jeans und T-Shirts.8 In den Jahren des Protests wirkte sich das politische Engagement der Aktivisten der 68er-Bewegung in grundlegender Weise auf ihr Kleidungsverhalten aus. Sie entwickelten eine revolutionäre Gegenmode, mittels derer sie ihre politischen Leitwerte und ihre emotionalen Dispositionen nach außen hin kenntlich machten. Die Soziologin Anja Meyerrose weist in diesem Kontext darauf hin, dass in bisherigen (populär-)wissenschaftlichen Betrachtungen zur Mode der westdeutschen 68er-Bewegung die Kleidung und Haartracht der männlichen Aktivisten weit größere Aufmerksamkeit erfahren haben als die der weiblichen Mitglieder der Protestszene. Sie begründet dieses Phänomen damit, dass sich in den späten 5  |  Vgl. GROB, Marion: Das Kleidungsverhalten jugendlicher Protestgruppen in Deutschland im 20. Jahrhundert am Beispiel des Wandervogels und der Studentenbewegung, Münster 1985, S. 229f. 6 | Vgl. KIESSLING, Die antiautoritäre Revolte der 68er, S. 38. 7 | Vgl. SCHARLOTH, Eine Kommunikationsgeschichte, S. 314f. 8 | Vgl. GROB, Das Kleidungsverhalten jugendlicher Protestgruppen, S. 230f.

4. Provokation

1960er Jahren das Kleidungsverhalten der Männer radikaler verändert habe als der Modestil der Frauen.9 Da es sich bei der bundesdeutschen 68er-Bewegung um eine maskulin dominierte Protestkultur gehandelt hat, ist anzunehmen, dass die männlichen Protestierenden die Abhebung ihres Äußeren vom Mainstream der bundesdeutschen Mode stärker forciert haben, beziehungsweise der Wandel ihres Kleidungsstils in der Öffentlichkeit deutlicher wahrgenommen wurde.

4.1.1 Lässigkeit Im Gegensatz zur modischen Etikette der Mehrheitsgesellschaft verzichteten die ›68er‹ auf eine Trennung von Alltags-, Ausgeh-, Freizeit- und Berufskleidung. Anstatt sich zum jeweiligen Anlass passend anzuziehen, trugen die Protestierenden eine gemütliche und legere Alltagskluft.10 Sie symbolisierten damit ihre Weigerung, sich gesellschaftlichen Konventionen und Normzwängen zu unterwerfen und sich vorschreiben zu lassen, welche Kleidungsstücke zu welcher Tageszeit und zu welcher Okkasion als adäquat zu gelten hatten. Die männlichen ›68er‹ lehnten außerdem das Tragen von Anzug, Hemd und Krawatte als Insignien bürgerlicher Maskulinität strikt ab. Mitglieder des SDS und anderer universitärer Trägergruppen des Protests brachen mit der Tradition, in Vorlesungen im klassisch konservativen Herrenanzug zu erscheinen. Bis dahin war es für männliche Studenten, die sich als zukünftige Elite der Gesellschaft begriffen, üblich, das förmliche Kleidungsstück als Statussymbol zu tragen. Die Aktivisten der Studentenbewegung betrachteten den Anzug als Uniform des Spießbürgers, der sich genauso normiert und konfektioniert kleidet, wie er sich allen gesellschaftlichen und politischen Zwängen brav anpasst und unterordnet. Als ›dressierte Affen‹ verhöhnten sie ihre Kommilitonen, die sich weiterhin im Anzug an der Universität blicken ließen.11 Insofern achteten die Mitglieder der Protestgemeinschaft darauf, sich lässiger, achtloser und individueller zu kleiden als die Mehrheit der deutschen Bundesbürger. Ulrike Heider beschreibt die modischen Veränderungen im Frankfurter SDS in der Hochzeit der antiautoritären Revolte wie folgt: »Die SDSler hatten etwas längere Haare als normale Studenten, sie trugen Bärte und fast alle Jeans zu Armeeparkas, Leder- oder Kordsamtjacken.«12 Als Zeichen der Rebellion gegen die bürgerliche Vorstellung von korrekter, tadelloser Gepflegtheit begannen die männlichen Studenten, laut Heider, ihre Kopf- und Gesichtsbehaarung länger wachsen zu lassen. Statt die vorgegebene, förmliche Kombination aus Anzug, 9 | Vgl. MEYERROSE, Anja: The Fashion Revolution. Transformation of Men’s Clothing in Germany’s ›1968‹. In: Agata Stopinska/Anke Bartels/Raj Kollmorgen (Hg.): Revolutions. Reframed – Revisited – Revised (Transpekte: Transdisziplinäre Perspektiven der Sozial- und Kulturwissenschaften, Bd. 5), Frankfurt a.M. 2007, S. 285-295, hier S. 287. 10 | Vgl. GROB, Das Kleidungsverhalten jugendlicher Protestgruppen, S. 258. 11 | Vgl. FAHLENBRACH, Protest-Inszenierungen. Visuelle Kommunikation, S. 200. 12 | HEIDER, Keine Ruhe vor dem Sturm, S. 55.

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Hemd und Krawatte zu tragen, kombinierten sie Jeanshosen zu verschiedenen legeren Allzweck-Jacken. Auf feine, vornehme und pflegeintensive Stoffe, die es häufig zu reinigen, zu bügeln und stärken galt, legten die Männer des SDS keinen Wert. Sie zogen unkomplizierte, ungezwungene Kleidungsstücke aus robusten Materialen wie Jeans, Leder oder Kord vor. Mit den längeren Haaren und Bärten und der nachlässigen Kleidung waren funktional-praktische Vorteile verbunden: Gesellschaftlich geforderte Zeremonielle wie die tägliche Rasur, der Gang zum Friseur oder zur Kleiderreinigung blieben den Trägern der Oppositionsmode erspart.13 Ein zwangloses, freies Körpergefühl war für die Protestierenden mit der bequemen, informellen und individualisierten Oppositionsmode verbunden. Es entwickelte sich im SDS wie im gesamten linken Protestmilieu ein »Kleidungsund Haartrachtpluralismus«14, dessen oberste Prämisse darin bestand, nicht ›fein‹ gekleidet oder in irgendeiner Art angepasst auszusehen. Auf Fotografien von studentischen Versammlungen oder Demonstrationen, die in den Protestjahren entstanden, wirkt ein Großteil der darauf abgelichteten ›68er‹ aus heutigem Modeempfinden heraus jedoch nicht übermäßig unordentlich und nachlässig gekleidet. Betrachtet man die männlichen Protestierenden beispielsweise auf einer Protestveranstaltung an der FU-Berlin am 19. April 1967, so ergibt sich kein Eindruck eines modischen Anarchismus. Abbildung 1: Sit-in im Foyer des Henry-Ford-Baus der FU Berlin am 19. April 1967. In der Mitte am Mikrofon Rudi Dutschke

13  |  Vgl. SCHWENDTER, Rolf: Theorie der Subkultur, Köln 1973, S. 229f. 14 | SIEGFRIED, Time Is on My Side, S. 491.

4. Provokation

Die männlichen Studenten tragen kurze oder etwas längere Haare und sind zumeist glatt rasiert. Mit ihren Hornbrillen, Rollkragenpullovern und Jacketts über einfarbigen oder gemusterten Hemden wirken sie eher brav und bieder. Peter Schneider, ehemaliges Mitglied des SDS, bestätigt, dass das kollektive Erscheinungsbild der jungen Protestierenden aus heutiger Sicht wenig wild und revolutionär wirkt, zur damaligen Zeit aber massiv gegen geltende Kleidungskonventionen verstieß. Das Äußere der männlichen Protestierenden im universitären Milieu betrachtet er aus der Retrospektive als steif und reizlos: »Die meisten von uns zeigten sich damals im Fassonschnitt der fünfziger Jahre, mit Scheitel und ausrasierten Hälsen, sie trugen Tweedjacketts zu schlecht sitzenden Kord- oder Khakihosen, selten Bluejeans, großkarierte Flanell- oder bügelfreie Trevirahemden, von deren Kragen ein trostloser […] Schlips herabhing. […] Ein schwarzer Rollkragenpullover und eine Lederjacke, an deren Patina im Idealfall ein Dutzend Vorbesitzer mitgearbeitet hatte, war bereits das Äußerste an zur Schau getragener Widerspenstigkeit.«15

Was Schneider im Jahr 2008 als ›schlecht sitzend‹ und ›trostlos‹ beschreibt, bedeutete in den Protestjahren eine sensible Verletzung der etablierten Repräsentationsformen. Allein die Tatsache, dass die linksintellektuelle Elite Kleidungsstücke aus der Sport- und Freizeitmode zu offiziellen Anlässen trug, war ein deutliches Bekenntnis zum Protest. Die Sphäre der Politik, in die sich die ›68er‹ einmischten, galt bis dahin als ein gesellschaftlicher Bereich, in dem Politiker und Staatsmänner ausschließlich in förmlichen, hochwertigen und gepflegten Anzügen auftraten, um einen seriösen und kompetenten Eindruck zu erwecken. Ein eklatanter Verstoß gegen die Kleidungsnormen der Mehrheitsgesellschaft bestand schon darin, wenn ein Hemd ungebügelt, ohne Unterhemd, mit hochgekrempelten Ärmeln und offenem Kragen getragen wurde. Wie Schneider anführt, waren im antiautoritären Milieu Männerhemden aus Polyester oder Flanell am beliebtesten, weil die Oberbekleidung aus diesen Materialien angezogen werden konnte, ohne vorher gebügelt worden zu sein. Als weiteres emotionales Bekenntnis zu Disharmonie und Selbstbestimmung sind im expressiv-symbolischen Kontext der 1960er Jahre die ungewöhnliche Zusammenstellung von verschiedenen Stoffen und die unkonventionelle Kombination von Kleidungsstücken zu betrachten, die die rebellierenden Studenten betrieben.16 Besonders gewagt waren gemäß Schneider oppositionelle Kleidungsstücke wie schwarze Rollkragenpullover und Lederjacken. Der schwarze Rollkragenpullover, von dem sich die protestierenden Studenten die Aura existentialistischer Gelehrter erhofften, wurde als minimalistisches, die gängige Mode bewusst verneinendes Kleidungsstück getragen, um sich vom bürgerlichen Erscheinungsbild der mehrheitlichen Gesellschaft abzugrenzen. Das subkulturelle, rebellische Image der dunklen Le15 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 120. 16 | Vgl. FAHLENBRACH, Protest-Inszenierungen. Visuelle Kommunikation, S. 201.

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derjacke übernahmen die männlichen ›68er‹ von der Halbstarken-Bewegung der 1950er Jahre als Protestsymbol. Um dem kulturrevolutionären Protestimage zu entsprechen, mussten auch die Haare der männlichen Protestierenden keineswegs schulterlang gewachsen sein. Zu einer Zeit, in der größter Wert auf korrekt geschnittene, tadellos liegende Herrenfrisuren gelegt wurde, führte bereits ein herausgewachsener Haarschnitt zum gewünschten Effekt, optisch aus der Menge herauszustechen. Gemäß dem APO-Aktivisten Volkhard Brandes reichte es bereits aus, »das Haar zwei Zentimeter über der deutschen Norm«17 zu tragen, um als aufmüpfig und nonkonform aufzufallen. Diese aus heutiger Perspektive für den ungeschulten Blick nicht aus dem Stegreif erkennbaren expressiven Codes waren in den Protestjahren für Zugehörige der Protestkultur sofort und problemlos auszumachen. Freund und Feind ließen sich durch die Kultivierung einer revolutionären Gegenmode auf den ersten Blick identifizieren. Der saloppe Stil der linksstehenden Studenten sollte selbstsichere Lockerheit und Zwanglosigkeit ausstrahlen. Laut dem Geschlechterhistoriker Kaspar Maase hat sich im Habitus männlicher Jugendlicher und junger Erwachsener in den Nachkriegsjahrzehnten ein fundamentaler Wandel von der Zackigkeit hin zur Lässigkeit ergeben. Die Proteste der Halbstarken und die Revolte der 68er-Bewegung deuteten, so Maase, habituell auf die Ablehnung von Selbstdisziplin und gehorsamer Anerkennung von Hierarchien und Autoritäten hin. Durch den verlorenen Krieg büßte das Ideal des soldatischen Mannes seine Hegemonie ein, womit auch die militärisch-zackige, stramme, schneidige Attitüde der Kriegsgeneration an Legitimität verlor.18 Das, was in der heutigen Jugendsprache als ›cool‹ oder ›hip‹ bezeichnet wird, versuchten die Männer der 68er-Bewegung mit ihrer legeren Kleidung, ihren längeren Haaren und ihrer betont lässigen Haltung auszudrücken. Der kulturrevolutionäre maskuline Habitus brachte die innere Haltung der Revolteure zum Ausdruck, er zeigte, dass sie nicht bereit waren, unhinterfragt Befehle entgegenzunehmen und überkommenen Regeln zu folgen. Die Aktivisten der 68er-Bewegung wollten ihre Körper nicht wie ihre militärisch sozialisierte Vätergeneration disziplinieren, sie wollten sich frei fühlen und wohlfühlen im eigenen Körper. Gemäß dem ehemaligen SDS-Mitglied Ulrike Heider näherten sich die Frauen im Umfeld des studentischen Verbandes der männlichen Oppositionsmode an: »Die meisten Frauen trotzten der traditionellen Weiblichkeit im Verzicht auf den zeitüblichen, puppenhaften Schick, waren ungeschminkt und kaum anders angezogen als die Männer.«19 Die weiblichen Protestierenden verletzten also ex17 | BRANDES, Wie der Stein ins Rollen kam, S. 8. 18 | Vgl. MAASE, Kaspar: ›Lässig‹ kontra ›zackig‹ – Nachkriegsjugend und Männlichkeit in geschlechtergeschichtlicher Perspektive. In: Christina Benninghaus/Kerstin Kohtz (Hg.): ›Sag mir, wo die Mädchen sind…‹. Beiträge zur Geschlechtergeschichte der Jugend, Köln/ Weimar/Wien 1999, S. 79-101, hier S. 84ff. 19 | HEIDER, Keine Ruhe vor dem Sturm, S. 55.

4. Provokation

pressiv-symbolische Geschlechtercodes, indem sie sich so ähnlich wie ihre männlichen Mitstreiter kleideten und eine betont feminine Stilisierung ihres Äußeren zurückwiesen. Diese Unisex-Mode ist zum einen als Anspruch der ›68erinnen‹ auf die soziale Gleichstellung zwischen den Geschlechtern zu interpretieren,20 zum anderen lässt sich in der Annäherung der Frauen an den männlichen Protesthabitus die Übernahme der maskulin geprägten Symbolik des Protests erkennen. Es zeigt sich, dass die männlichen Revolteure den Ton angaben, was die Auswahl und den Symbolgehalt der antiautoritären Mode betraf. Das Tragen der androgynen Protestkleidung bedeutete auch für die Frauen größeren Tragekomfort und Beweglichkeit. Sie okkupierten das maskuline Privileg, lässige Hosen zu tragen, und zogen diese wie ihre Genossen zu schlichten Hemden, Pullovern oder T-Shirts an. Der in den 1960er Jahren in Mode gekommene Minirock, dessen Stellenwert zur Befreiung der Frau mittlerweile umstritten ist, erwies sich als ein eher unkomfortables Kleidungsstück: Ständig mussten seine Trägerinnen prüfen, ob er nicht nach oben gerutscht war. Beim Sitzen galt es stets, die Beinhaltung zu überprüfen. Auch die zierlichen und damenhaft wirkenden, spitz zulaufenden Stöckelschuhe mit Pfennigabsätzen, die zu dieser Zeit die Schuhmode beherrschten, ermöglichten kein entspanntes, natürliches Gehen. Darüber hinaus bedeutete das tägliche Schminken und das Toupieren und Frisieren der Haare einen erheblichen Aufwand, um den normierten, gesellschaftlichen Schönheitsidealen zu entsprechen.21 Die weiblichen SDS-Mitglieder, die sich dem disziplinierenden Körperkult nicht länger unterwarfen, näherten sich also dem auf Lässigkeit bedachten Habitus der männlichen Genossen an.

4.1.2 Fantasievolle Nachlässigkeit Die Mitglieder des hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieus, allen voran die Bewohner der Kommune I, trieben die Stilisierung ihres Körpers als Protestmedium auf die Spitze. Zur »Mode-Avantgarde der Bewegung«22 avancierten die männlichen Bewohner der Kommune I, weil sie es schafften, mit ihrer originellen, aufsehenerregenden und provozierenden Garderobe große mediale und öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Protestanliegen zu erzielen. Sie kleideten sich noch auffälliger, exotischer und achtloser als die Aktivisten der intellektuellen, universitären Trägergruppen des Protests. Dass den Aktivisten der Kommunebewegung die körperlich-expressive Abgrenzung vom ›Establishment‹ mittels einer oppositionellen Repräsentationsästhetik besonders wichtig war, belegt deren Kritik an Rudi Dutschkes Erscheinung. Als dieser zu spät zum Treffen des Kommune-Gründerkreises kam, weil er Besuch von seinen Eltern hatte, wurde hinter seinem Rücken despektierlich über sein Äußeres geredet. Aus den Krei20 | Vgl. FAHLENBRACH, Protest-Inszenierungen. Visuelle Kommunikation, S. 200f. 21 | Vgl. GROB, Das Kleidungsverhalten jugendlicher Protestgruppen, S. 226. 22 | SCHARLOTH, Eine Kommunikationsgeschichte, S. 313.

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sen der späteren Kommune I und II hieß es abschätzig, dass »[e]in Revolutionär, der beflissen darauf bedacht sei, seine Eltern nicht durch unbürgerliche Kleidung und Haarschnitt vor den Kopf zu stoßen, […] eben noch weitgehend seiner bürgerlichen Herkunft verhaftet [sei].«23 Das Bedürfnis der Kommunarden nach unangepassten Lebensformen spiegelte sich in ihrer extravaganten, bunt zusammengewürfelten Kleidung wider. Die Bewohner der Kommune I, die die U.S.amerikanische Hippiebewegung in Westdeutschland am treffendsten repräsentierten, brachten mit ihrer Kleidungswahl ihre Verweigerung der Konsumkultur zum Ausdruck. Sie kombinierten in einer kunterbunten Collage aus allen erdenklichen Farben und Stilen ein individuelles Outfit, bei dem Selbstgemachtes wie auffälliger Schmuck und Kopf bedeckungen, mit einem Sammelsurium von alten Kleidungsstücken aus Second-Hand-Läden und Teilen aus dem elterlichen Kleiderschrank vermischt wurde. Die Kommunarden erwarben ihre Kleidung nicht gemäß der neuesten Mode in Kaufhäusern, sondern tauschten Kleidungsstücke untereinander oder erstanden sie für wenig Geld auf dem Trödel.24 Als Zeichen der Abkehr von der Industrie- und Leistungsgesellschaft wurden Kleidungsstücke oft selbst genäht, geflickt und gefärbt.25 Es war den Kommunarden wichtig, jeden Tag aufs Neue in kreativer und intuitiver Weise die Kleidungsstücke und Accessoires auszusuchen und zu kombinieren, auf die sie gerade Lust hatten. Sie machten sich so zurecht, wie es ihrer augenblicklichen Gefühlslage entsprach. Der Übergang zwischen männlich und weiblich konnotierten Kleidungsstücken war dabei fließend. Die Männer der Kommune I hatten kein Problem damit, Rüschenhemden oder bunte Modeschmuck-Ketten zu tragen, die bis dahin ausschließlich der Frauenmode vorbehalten waren. Noch deutlicher als die Mitglieder universitärer Protestgruppen sagten die männlichen Kommunarden der gediegenen, gepflegten bürgerlichen Herrenmode den Kampf an. Sie befreiten sich von dem Ernst und der Förmlichkeit des Anzugs und verabschiedeten sich somit auch von dem verantwortungsbewussten, aufstiegsorientierten und pflichtgetreuen Männlichkeitsideal der Nachkriegszeit. Fritz Teufel, Mitbegründer der Kommune I, spielte im Rahmen eines öffentlichkeitswirksamen Happenings auf humorvolle Weise mit den Kleidungskonventionen des ›Establishments‹. Er trug einen klassisch-konservativen dunklen Anzug, kämmte sich das Haar ordentlich und trennte sich von seinem Vollbart. In dieser akkurat-gediegenen Herrengarderobe, die er als ›Verkleidung‹ und ›Tarnung‹ nutzte, erschien er vor dem Berliner Rathaus und verteilte Flugblätter auf denen er ›Freiheit für Teufel‹, also für sich selbst, forderte.26 Fritz Teufel befand sich zu diesem Zeitpunkt auf Bewährung auf freiem Fuß und amüsierte sich, wenn die Passanten, an die er die Flugblätter verteilte, ihn in seiner bürgerlichen Maskerade nicht erkannten. Mit dieser satiri23 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 18. 24 | Vgl. GROB, Das Kleidungsverhalten jugendlicher Protestgruppen, S. 240ff. 25 | Vgl. SCHARLOTH, Eine Kommunikationsgeschichte, S. 317. 26 | Vgl. BAUMANN, Wie alles anfing, S. 26.

4. Provokation

schen Aktion verdeutlichte Teufel, dass die uniformierte Herrenmode in seinen Augen eine Kostümierung darstellte, hinter der man seine Individualität verstecken konnte. Fantasie, Lebensfreude und Nonkonformismus sprachen aus dem Kleidungsstil der Kommunarden. Mit ihrer humorvollen, verspielten und farbenfrohen Garderobe erschienen sie demonstrativ auch zu offiziellen Anlässen und hatten Spaß daran, aufzufallen und empörte Blicke und Kommentare bezüglich ihres außergewöhnlichen Aussehens zu ernten. Der Kommunarde Ulrich Enzensberger erinnert sich mit Freude daran, wie nachlässig und wenig passend sein Mitbewohner Fritz Teufel bei einem Gerichtstermin gekleidet war: »Er trug eine rosa Sommerjacke, eine Art Turnhemd und als größte Besonderheit eine schon verschlissene Jeans. Seine nackten Füße steckten in Jesuslatschen. Alles unerhört. […] Durch den Moabiter Justizpalast, die muffigste Höhle Berlins, wehte plötzlich ein Hauch von Flower-Power.« 27

Teufels hippieskes, kunterbuntes Outfit ist als eine Steigerung des in der 68erBewegung geltenden Ideals ungezwungener Lässigkeit zu betrachten. Sein ungepflegtes, fast schon heruntergekommenes Erscheinungsbild entspricht dem zeitgenössischen Ideal des Gammel-Looks.28 In öffentlichen oder sogar offiziellen Situationen sollte die Mehrheitsgesellschaft durch einen verwahrlosten körperlichen Auftritt provoziert werden, der als unanständig oder sogar als ›vulgär‹ wahrgenommen wurde.29 Die gezielte protestorientierte Vernachlässigung der Körperhygiene so mancher männlicher Kommunarden ging selbst einer Mitbewohnerin, die anonym über ihre Erlebnisse in einer nicht identifizierbaren Berliner Kommune erzählt, zu weit. Mit Unbehagen schildert sie die defizitäre Körperpflege eines KommuneBewohners: »Sein Äußeres glich der allgemeinen Vorstellung von einem Berufsrevolutionär oder Gammler: bärtig, ungepflegt, mit schulterlangem Haar, das wie eine Gardine seinen schmalen Kopf umhüllte. Als ihm Gisela, die er inzwischen zu seiner Bettgenossin gemacht hatte, vorwarf: ›Du stinkst aus dem Mund‹, gab er lachend zur Antwort: ›Ich habe mich auch schon zwei Tage nicht mehr gewaschen und auch nicht die Zähne geputzt.« 30

27 | ENZENSBERGER, Die Jahre der Kommune I, S. 179. 28  |  Als Gammler wurden ab Mitte der 1960er Jahre Jugendliche bezeichnet, die sich in Großstädten auf zentralen Plätzen versammelten und durch Musikmachen oder Nichtstun den Unmut der Mehrheitsgesellschaft auf sich zogen. Vgl. SIEGFRIED, Sound der Revolte, S. 165. 29 | Vgl. LINKE, Unordentlich, langhaarig und mit der Matratze auf dem Boden, S. 208. 30 | RIEDEN, Ich lebte in einer Kommune, S. 16.

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Für Anstand, Benehmen, Charme und gute Manieren war in der subversiven Körperpolitik der kulturrevolutionär ausgerichteten Trägergruppen der 68er-Bewegung kein Platz. Der bewusste Verzicht des besagten Kommunarden auf regelmäßiges Zähneputzen und Duschen sollte das bürgerliche Anstandsideal ironisieren.31 Wie aus dem Zitat der anonymen Berliner Kommunardin hervorgeht, waren üppige Bärte und lange, ungekämmte Haare in der hedonistisch orientierten Protestszene gang und gäbe. Das, was die linksstehenden Studenten oft nur durch einen herausgewachsenen Haarschnitt, also etwas längere Haartracht andeuteten, trugen Mitglieder des Selbstverwirklungsmilieus in aller Deutlichkeit zur Schau. Lange, buschige Koteletten, Rauschebärte und ungezähmt wachsendes Haar entwickelten sich – nicht zuletzt dank der Bewohner der Kommune I – zum Markenzeichen maskuliner Protestidentität. Rainer Langhans’ voluminöse Lockenpracht und die Rauschebärte von Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann wurden von zahlreichen Männern des linken Protestmilieus zum Vorbild genommen, um selbst die Haare sprießen zu lassen.32 Die drei männlichen Kommune-Stars trugen ihre langen Haare und Bärte als Statement ihrer revolutionären Gesinnung. Abbildung 2: Die Bewohner der Kommune I Dieter Kunzelmann, Antje Krüger, Rainer Langhans und Fritz Teufel (von links nach rechts) auf der Vollversammlung der ›Kritischen Universität‹ in der TU Berlin

31 | Vgl. REIMANN, Machismo und Coolness, S. 239. 32  |  Vgl. Jochen Staadt interviewt Siegward Lönnendonker am 30. Juli 1984, S. 38f. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 50 (SDS, Sammlung Staadt, SDS-Projekt).

4. Provokation

Langes, wallendes Haar wurde von den männlichen Protestierenden vom Symbol für Weiblichkeit zum Zeichen rebellischer Lässigkeit umgedeutet: »Die langen Haare der revoltierenden Jugendlichen meinten Formlosigkeit, Sinnlichkeit, Freiheit und Offenheit. Sie sagten den Leuten, wie wir zu Vietnam standen, zum Universitätsaufstand, zum Haschisch. Die langen Haare sollten ein Zeugnis der Großen Weigerung sein.« 33

Das Tragen einer natürlich gewachsenen Haarmähne war gemäß dem ehemaligen SDS-Mitglied Peter Mosler in der linken Protestszene ein klares Bekenntnis zu den Zielen der Bewegung und deren kollektivem Gefühlshaushalt. Seiner Interpretation folgend verdichtete sich im langen Haar der kollektive emotionale Habitus der männlichen ›68er‹. Der antiautoritäre Gestus der maskulin codierten westdeutschen 68er-Bewegung wurde äußerlich neben der informellen, nachlässigen Wahl der Kleidung am deutlichsten durch eine Langhaarfrisur symbolisiert. In dem entspannten, lockeren und ungehemmten Auftritt der Revolteure spiegelt sich ihr Wunsch nach einer Gesellschaft wider, die frei von striktem Regelwerk und einengenden Normzwängen ist. Die Aktivisten der Protestbewegung wählten eine zwanglose, bequeme Gegenmode, die dazu einlud, sich im eigenen Körper wohl zu fühlen. Sie untergruben disziplinierende und moralisierende bürgerliche Konventionen, was Kleidung, Haarmode und Körperpflege betraf, um diese als sinnlos, absurd und wertlos zu entlarven. Durch offensive Normbrüche versuchten sie die Normalität zu stören oder gar aufzuheben.

4.1.3 Revolutionärer Stolz Die emotionalen Reaktionen der mehrheitlichen Gesellschaft auf das andersartige, unkonventionelle Erscheinungsbild der Protestierenden fielen zum Teil äußerst heftig aus. Das SDS-Mitglied Volkhard Brandes beschreibt die aggressive und feindliche Stimmung, die den Trägern der revolutionären Mode entgegengebracht wurde, zeitgenössisch wie folgt: »Pogromstimmung herrscht in Berlin. Aber auch in Städten wie München werden Bärtige und Langhaarige […] mit Etiketten wie Hippies, Gammler, Beatnicks, Provos, Halbstarke oder Revoluzzer beklebt, zum Horrorbild des Spießers.«34 Gemäß Brandes waren es vor allem die langen Haare und Bärte der männlichen Mitglieder der linken Protestgemeinde, die sich rasch zum ›Horrorbild‹ der arrivierten Bevölkerung entwickelten. Die jungen Oppositionellen hatten offenbar Erfolg mit ihrer Provokationsstrategie, denn wie der Soziologe Rainer Paris konstatiert: »Eine Provokation, die niemanden aufregt, ist keine.«35 Unmut, Empörung und Wut schlugen den Protestie33 | MOSLER, Was wir wollten, was wir wurden, S. 238. 34 | BRANDES, Wie der Stein ins Rollen kam, S. 154. 35 | PARIS, Stachel und Speer, S. 59.

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renden entgegen, da sie durch ihr nachlässiges Äußeres kollektive Vorstellungen von Achtung und Respekt verletzt hatten. Jemand, der sich provoziert fühlt, sieht sich meist in seiner Identität bedroht, beleidigt und herabgewürdigt, so Paris.36 Demensprechend brutal und hasserfüllt reagierten einige Bürger auf die oppositionelle Stilisierung der Bewegten von ›1968‹. Ulrike Heider erinnert sich an massive körperliche Angriffe und verbale Anfeindungen gegenüber den Trägern der Gegenmode: »Jungen Männern wurden in der Straßenbahn die als kommunistisch geltenden Bärte und die als weibisch verschrienen langen Haare angezündet. Frauen in Jeans und T-Shirts ohne Büstenhalter wurden als Huren betrachtet, und in vielen Kneipen waren Studenten unerwünscht.« 37

Die Übergriffe und Beleidigungen und die Ausgrenzung der leger auftretenden Mitglieder der Protestszene, die das ehemalige SDS-Mitglied beschreibt, sind als Ahndungen der Verletzung von stereotypen expressiven Geschlechtercodes zu betrachten. Männer, die lange Haare trugen, verstießen automatisch gegen hegemoniale Männlichkeitsnormen. Ihnen wurde eine pathologische Effeminierung unterstellt, was den homophoben und heteronormativen Zeitgeist offenbart. Gegner der antiautoritären Bewegung fühlten sich offenbar derart von den vermeintlich verweiblichten Langhaarträgern bedroht, dass sie diese äußerst gewaltsam ihrer langen Bärte und Haare entledigten, um die geltenden Männlichkeitsnormen zu verteidigen und wiederherzustellen. Der Schüleraktivist Christoph Köhler gibt an, dass der höhnische »Standardspruch«, den er von Fremden auf der Straße zu hören bekommen hat, in »Biss’n Jung oder ’n Mädchen?«38 bestanden hat. Die Frauen der linken Protestszene wurden gemäß Heider in ähnlicher Weise diffamiert, weil sie sich bequem und leger kleideten. Durch die Missachtung weiblicher Kleidungs- und Schönheitsnormen handelten sie sich die Verunglimpfung als ›Huren‹ ein. Ein sexuell ausschweifender, asozialer Lebensstil wurde den ›68erinnen‹ angedichtet, weil sie sich gemäß dem maskulin codierten, lässigen Verweigerungsstil kleideten. Die Protagonisten der 68er-Bewegung, die die normverletzende Gegenmode trugen, mussten also mit massiver gesellschaftlicher Drangsalierung bis hin zu physischer Gewalt rechnen. Ihre Technik der Provokation folgte der Selbststigmatisierung. Sie brachen öffentlich und mit voller Absicht gesellschaftliche Normen und machten sich damit schuldig und angreif bar.39 Es forderte Mut, sich selbst ein Stigma aufzuerlegen und mit den negativen Konsequenzen, die darauf folgten, umzugehen. Der Arbeiter Bommi Baumann, der sich in den Jahren des 36 | Vgl. PARIS, Stachel und Speer, S. 58. 37 | HEIDER, Keine Ruhe vor dem Sturm, S. 56. 38  |  Christoph Köhler, in: HANNOVER/SCHNIBBEN, I can’t get no, S. 52. 39 | Vgl. PARIS, Stachel und Speer, S. 59.

4. Provokation

Protests viel in der Kommune I aufhielt, beschreibt, wie sich die langen Haare der männlichen Protestierenden zum Stigma entwickelten und mit welchen Repressalien er umzugehen hatte: »In dem Fall bei mir […] war es ja so, daß es dir mit den langen Haaren plötzlich wie einem Neger gegangen ist […]. Die ham uns aus Kneipen rausgeschmissen, auf den Straßen angespuckt, beschimpft und sind hinterhergerannt […]. Auf der Arbeit bist du rausgeflogen […] und ewig Ärger, also auch mit wildfremden Leuten auf der Straße […]. Du bist denn plötzlich och sone Art Jude oder Neger oder Aussätziger, auf alle Fälle bist du irgendwie draußen […].« 40

Baumann vergleicht das Gefühl, gesellschaftlich umfassend ausgegrenzt, diskriminiert und verfolgt zu werden, mit der rassistischen Verfolgungsgeschichte von Juden und Schwarzen. Er fühlt sich als Träger von langen Haaren wie ein Mitglied einer missachteten, bedrängten Minderheit, die von der mehrheitlichen Gesellschaft terrorisiert wird. Die von den Protestierenden intentional herbeigeführte Provokation zielte jedoch nicht primär darauf ab, sich als Opfer zu inszenieren, sondern die brutal und aggressiv Reagierenden moralisch zu diskreditieren und zu entlarven. Das selbst auferlegte Stigma der langen Haartracht sollte auf die umgewälzt werden, die einen Menschen wegen eines harmlosen Körperzeichens wie seiner Frisur schikanierten.41 Die Strategie der Provokation besteht gemäß Paris in einer ›Entschuldung‹: »Nicht der Normbrecher, sondern die Normhüter sollen letztendlich als die eigentlich Schuldigen dastehen. […] Der demonstrative Normbruch soll am Ende die Norm selbst als illegitim erweisen.«42 Die gewünschte Intention der Provokateure lag also darin, das ›Establishment‹ zu reizen und zu einer unwillkürlichen Reaktion zu veranlassen, die deren Mitglieder in Misskredit bringen sollte. Dafür waren die Vertreter der maskulin dominierten 68er-Bewegung bereit, Bedrohungen, Beleidigungen und Prügel in Kauf zu nehmen. Die männlichen Revolteure trugen die antiautoritäre Verweigerungsmode mit großem Stolz. Im Umfeld der Protestbewegung galt es als mutig, die radikaloppositionelle Gesinnung durch die plakative Stilisierung des Äußeren öffentlich zu demonstrieren. Von daher bezogen die ›68er‹ ein Hochgefühl aus der Unerschrockenheit und Entschlossenheit, mit der sie sich dem Risiko stellten, von der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert und drangsaliert zu werden. Bommi Baumann gibt an, dass neben der Furcht vor Repressalien auch egozentrische Gefühle der Selbstzufriedenheit die emotionale Gemeinschaft der männlich dominierten antiautoritären Protestbewegung in Bezug auf die äußere Repräsentationsästhetik auszeichneten: 40 | BAUMANN, Bommi: Wie alles anfing, Frankfurt a.M. 1977, S. 8. 41 | Vgl. PARIS, Stachel und Speer, S. 59. 42 | PARIS Stachel und Speer, S. 59f.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er »Diese langen Haare, da findest du dich plötzlich selber schön, du kriegst ’ne andere Beziehung zu dir […]. Du entwickelst einen ganz gesunden Narzißmus […]. Am Anfang ist nur Verwirrung und denn gehst du ganz bewußt, da gefällst du dir natürlich in der Rebellensituation […].« 43

Nach einer anfänglichen Unsicherheit stellte sich laut Baumann durch die Identifikation mit dem Image des furchtlosen, unbeugsamen männlichen Revolutionärs ein narzisstisches Wohlgefühl ein. Wie der Protagonist der 68er-Bewegung offenlegt, fand er sich selbst mit den langen Haaren sehr attraktiv. Das ehemalige SDS-Mitglied Siegward Lönnendonker erinnert sich, wie stolz auch er in den späten 1960er Jahren auf seine lange Haartracht war und wie diese für ihn das Ideal wehrhafter und politisch couragierter Männlichkeit äußerlich repräsentierte. Auf Demonstrationen, bei denen die Polizei Wasserwerfer gegen die Protestierenden einsetzte, pflegte Lönnendonker in Richtung der Beamten zu brüllen: »Halts Maul, lass dir erst mal die Haare länger wachsen.«44 Er drehte also die gesellschaftliche Stigmatisierung von männlichen Langhaarträgern in das Gegenteil um und diffamierte die Polizisten wegen ihres bürgerlichen Kurzhaarschnitts. Voller Selbstbewusstsein und Würde trugen die Aktivisten der Oppositionsbewegung ihre lange Haartracht und ihre legere, individuell zusammengestellte Kleidung nach außen, wie auch das APO-Mitglied Rainer Bieling bekundet. Die Gegenmode war für ihn und seine Genossen ein […] »Zeichen der Dazugehörigkeit zu einem klassenumspannenden Jugendmilieu, Zeichen der Verneinung der Werte und Normen der Erwachsenenwelt. […] Provokation der Eltern, Lehrer, Meister, Demonstration von Differenz, des Anders-sein-wollens, des Jungseins und des Stolzes, diesen Umstand vor aller Welt zu zeigen und gegen alle Welt zu verteidigen.« 45

Bieling führt aus, dass die Garderobe und Haarmode der jungen Protestierenden als habituelle Ausdrucksformen maskuliner Emotionalität eine kaum zu überschätzende Rolle für die Ausbildung einer distinkten generationellen Identität der ›68er‹ spielten. Die Aktivisten der Revolte signalisierten durch körperkommunikative Codes die Verteidigung ihrer Werte und Ziele entgegen aller Widerstände und drohender Sanktionen.

43 | BAUMANN, Wie alles anfing, S. 9. 44 | Interview Lönnendonker, S. 38f. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 50 (SDS, Sammlung Staadt, SDS-Projekt). 45 | BIELING, Die Tränen der Revolution, S. 29.

4. Provokation

4.1.4 Leidens- und Gewaltbereitschaft Die körpersemiotische Stilisierung der maskulin codierten 68er-Bewegung orientierte sich darüber hinaus stark an revolutionären Ikonen der Vergangenheit. Obwohl die jungen Protestierenden sich als antiautoritär deklarierten und althergebrachte Traditionen ablehnten, griffen sie dennoch »mit frenetische[m] Eifer auf die ideologischen Erbschaften […], die Kostüme und Ikonen eines vergangenen Zeitalters«46 zurück. Für die kollektive Vorstellung revolutionärer Männlichkeit spielte Alberto Kordas Fotografie Che Guevaras aus dem Jahr 1960 eine herausragende Rolle.47 Besondere Attraktivität und Faszination übte das Portrait des kubanischen Rebellenführers auf die Aktivisten der Protestbewegung wegen seiner Jugendlichkeit aus. Zum Zeitpunkt der Entstehung der Fotografie war Guevara zweiunddreißig Jahre alt und damit nicht sehr viel älter als die Protagonisten der antiautoritären Bewegung. Durch seinen frühen Tod, der ihn im revolutionären Kampf in Bolivien ereilte, wurde er in den Jahren der weltweiten Jugendrevolte rasend schnell zur Ikone des revolutionären Märtyrers: »Am 9. Oktober 1967 erfuhren wir vom Tod Che Guevaras […] an diesem Tage entstand […] ein Mythos. Demonstranten in Paris und Berlin, in Rom und Rio de Janeiro trugen das Porträt dieses Mannes vor sich her. Sein leicht melancholischer Gesichtsausdruck zierte unzählige Zimmer von Studentinnen und Studenten. Für eine ganze Generation wurde er Symbol des Guerillero, der eine neue Gesellschaft verkörperte […].« 48

Wie der antiautoritäre Wortführer Daniel Cohn-Bendit anführt, stellte der Rebell das Ideal hegemonialer Männlichkeit in der linksradikalen Protestszene dar. Poster von Guevara, auf denen er eine schwarze Baskenmütze mit einem roten Stern darauf trägt, fanden reißenden Absatz in der linken Protestszene.49 Die besagte Fotografie erlangte nach dem Tod Guevaras rasend schnell ikonografischen Status und wurde von den ›68ern‹ auf Demonstrationen in Plakatform vor sich hergetragen.

46 | KOENEN, Rotwelsch und Zeichensprache, S. 262. 47 | Vgl. REIMANN, Machismo und Coolness, S. 235. 48 | COHN-BENDIT, Wir haben sie so geliebt, S. 127. 49  |  Vgl. LUSK, Irene: Che lebt. In: Eckhard Siepmann/Dies./Jürgen Holtfreter u.a. (Hg.): CheSchahShit. Die Sechziger Jahre zwischen Cocktail und Molotow, Reinbek 1986, S. 183187, hier S. 183.

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Abbildung 3: Demonstration der Studentenbewegung in München mit Plakaten revolutionärer Ikonen, darunter Abbildungen Che Guevaras

Das Image des Guerilleros, der Vollbart und ungezähmtes langes Haar zu einer Lederjacke trägt, beeinflusste die antiautoritäre Gegenmode der westdeutschen 68er-Bewegung maßgeblich. Mit seinem »entschlossen-virile[n], gleichzeitig nachdenklich-sentimentale[n] Habitus«50 avancierte Guevara zum Messias und revolutionären Helden der Jugendbewegung. Für die maskulin codierte Protestbewegung wurde das Bild der Revolutionsikone zum kraftvollen Vermittler und Speicher von kollektiven Emotionen. Die Fotografie spielte eine maßgebliche Rolle bei der Manifestation der 68er-Generation als eine Gefühls- und Identifikationsgemeinschaft.51 Die männlichen Protestierenden kopierten das Aussehen und die virile Lässigkeit, die Guevara auf dieser massenhaft vervielfältigten Fotografie ausstrahlt. Gemäß dem führenden SDS-Mitglied Bernd Rabehl ist der Guerillero in den Jahren des Protests zum Typus geworden. Rund um ›1968‹ sind laut Rabehl »hunderte, tausende, wie kleine Che Guevaras rumgelaufen mit Baskenmütze und langem schwarzem Haar und schönem verwahrlost-gepflegtem

50 | REIMANN, Machismo und Coolness, S. 236. 51 | Vgl. KNOCH, Gefühlte Gemeinschaften, S. 294.

4. Provokation

Bart.«52 Der Guevara-Look stand im Zentrum der oppositionellen Mode der maskulin codierten Studentenbewegung. Abbildung 4: Student in Guevara-Pose auf dem vom SDS organisierten Internationalen Vietnamkongress an der TU Berlin

Guevaras Leben und Sterben für die Revolution imponierte den jungen Protestierenden. Er galt den Aktivisten der 68er-Bewegung als Sinnbild für Unangepasstheit und existentielle Hingabe für ein höheres Ziel. Gewalt- und Leidensbereitschaft entwickelten sich auf diesem Wege zu emotionalen Leitwerten der männlich dominierten Protestszene.53 Nicht Angst, Unsicherheit und Scheu sollten die emotionale Konstitution eines Aktivisten der Protestbewegung im revolutionären Kampf auszeichnen, sondern ein selbstbewusstes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten sowie »ein provozierend lässiger Umgang mit realen Gefahren«54.

52 | Bernd Rabehl zitiert nach: GROB, Das Kleidungsverhalten jugendlicher Protestgruppen, S. 271. 53 | Vgl. REIMANN, Machismo und Coolness, S. 237. 54 | REIMANN, Machismo und Coolness, S. 236f.

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Mit ihrem Kleidungsverhalten näherten sich die männlichen Protestierenden dem radikalen Schick und dem militanten Image Guevaras an, indem sie militärisch konnotierte Kleidungsstücke trugen. Als Zeichen der Solidarität mit den lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen zogen zahlreiche Mitglieder des linken Protestmilieus Armeeparkas an. Die bequemen, praktikablen und billig in Second-Hand-Läden zu erhaltenden Jacken waren im Gegensatz zu militärischen Uniformen relativ unförmig und sackartig und entsprachen deshalb dem lässigen, nonkonformen Stil der antiautoritären Oppositionellen. Die in der bundesdeutschen Protestszene beliebten Parkas sind als Zeichen der zunehmenden Radikalisierung der 68er-Bewegung zu betrachten. Gemäß Dieter Kunzelmann wurden die Armeeparkas gerne auf Demonstrationen getragen, da das robuste Material regenabweisend war und die Protestierenden vor den Wasserwerfern der Polizei schützte.55 Trotz des postulierten Antimilitarismus der Bewegten von ›1968‹ wollten sie durch das Tragen von militärisch assoziierten Kleidungsstücken wie des Parkas einen kämpferischen, militanten Eindruck erwecken.56 Gerade wenn die Demonstranten sich in Blocks und Ketten formierten und dazu Armeejacken trugen, evozierten sie willkürlich ein militärisches Erscheinungsbild.57 Die in der Bundesrepublik nach Ende des Zweiten Weltkrieges geltende hegemoniale Norm ziviler Männlichkeit wurde von den ›68ern‹ durch das Tragen militärischer Kleidungsstücke im Alltagsleben aufgebrochen. Für die Vätergeneration der Protestierenden, die lieber nicht an den zerstörerischen Krieg und ihre militärische Lauf bahn erinnert werden wollte, stellte die militante Garderobe ihrer Söhne eine unmissverständliche Provokation dar. Darüber hinaus wurde im Protestmilieu Ende der 1960er Jahre vereinzelt auch der Mao-Look getragen, der sich aus einer hochgeschlossenen Jacke mit schmalem Stehkragen und einer Schirmmütze zusammensetzte. Die westdeutschen Protestierenden übernahmen den uniformierten Dresscode, den der chinesische Revolutionär und Diktator Mao Tse-Tung als Massen- und Einheitskleidung für sein Volk eingeführt hatte. Fritz Teufel und Rainer Langhans trugen vor Gericht ebendiesen Mao-Look, um zu provozieren und mit einem Augenzwinkern ihren Führungsanspruch als kommunistische Avantgarde zum Ausdruck zu bringen.

55 | Vgl. Dieter Kunzelmann zitiert nach: GROB, Das Kleidungsverhalten jugendlicher Protestgruppen, S. 277. 56 | Zum Verhältnis von Männlichkeit und Militanz in der maskulin codierten 68erBewegung siehe: Kapitel 8. Gewalt, S. 271-302. 57 | Vgl. GROB, Das Kleidungsverhalten jugendlicher Protestgruppen, S. 277.

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Abbildung 5: Rainer Langhans (links) und Fritz Teufel vor dem Gerichtssaal in Berlin-Moabit am 4. März 1968 in Mao-Anzügen

Über ihre Anzüge im Stil kommunistischer Parteifunktionäre zogen die beiden Bewohner der Kommune I Offiziersmäntel an, die aus dem Besitz von Langhans’ Vater stammten. Indem sie Ledermäntel trugen, die im Zweiten Weltkrieg zur militärischen Garderobe der verpönten ›Nazi-Generation‹ gehörten, versuchten Teufel und Langhans zum einen die ursprüngliche Bedeutung der Kleidungsstücke in einen neuen Kontext zu setzen und ihnen damit einen konträren Sinn zu geben. Zum anderen verrieten die Kommunarden mit ihrer provokanten vestimentären Selbstinszenierung die im maskulin codierten Protestmilieu übliche Faszination für Ikonen aus dem revolutionären Kampf und dem damit assoziierten militant-lässigen Männlichkeitsideal. Die Protestierenden forcierten mit ihrem militärischen, an männlichen Helden der Revolution angelehnten Erscheinungsbild einen draufgängerischen und herausfordernden Habitus, den der Historiker Aribert Reimann auch als kulturrevolutionären Machismo beschreibt.58 Sie demonstrierten durch ihren kämpferisch konnotierten Kleidungsstil die potentielle Gewaltbereitschaft, mit der sie 58 | Vgl. REIMANN, Machismo und Coolness, S. 242.

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ihre Vorstellung von einer besseren Gesellschaft durchsetzen wollten. Das Image des unbeugsamen, heldenhaften Berufsrevolutionärs, der sich, wenn es sein muss, mit Todesverachtung für die Revolution einsetzt und opfert, prägte den Gefühlshaushalt der ›68er‹ also maßgeblich.

4.2 P rotestinszenierungen Die 68er-Bewegung brachte neue Formen des Protests hervor, die der Devise ›Revolution durch Aktion‹ folgten. Als markante Zäsur in der Geschichte des deutschen Protests wertet der Kultursoziologe Thomas Balistier das neuartige oppositionelle Verhalten der ›68er‹, das subversiv auf symbolische Grenzverletzungen abzielte. Das Bundesinnenministerium war von linksgerichteten Protestgruppen bis dahin ausschließlich homogen ausgerichtete Massenaufmärsche gewohnt, weshalb zunächst Ratlosigkeit vorherrschte, wie den aktionistischen Protestformen begegnet werden sollte.59 Von den Universitäten ausgehend, an denen rebellierende Studenten ihr Mitspracherecht einforderten und für eine gesellschaftskritische Reform der Wissenschaft kämpften, entwickelten sich Widerstandsformen, die in der Bundesrepublik bis dahin unbekannt waren. Die Studierenden sprengten Vorlesungen und Seminare, indem sie im Rahmen von Go-ins unangemeldet Universitätsveranstaltungen unterbrachen und die Aufmerksamkeit der Anwesenden für ihre Protestanliegen nutzten. Sie informierten und diskutierten auf Teach-ins über gesellschaftliche und politische Missstände und blockierten den Universitätsbetrieb mit Sit-ins, dem massenhaften Niedersetzen auf den Boden. Diese teils geplanten, teils spontanen Aktionen waren oft von Unruhe, Zwischenrufen, Gelächter und Tumulten gekennzeichnet und wurden deshalb nicht selten von der Polizei aufgelöst. Die Protestpraktiken, die dem Prinzip der gewaltfreien, begrenzten Regelverletzung und des zivilen Ungehorsams folgten, vermittelten den jungen Menschen das Gefühl, Teil einer handlungsmächtigen Massenbewegung zu sein, und wurden deshalb bald schon auf den gesamten öffentlichen Raum übertragen. Mit großem Einfallsreichtum umgingen und untergruben die Protestierenden der Oppositionsbewegung die von staatlicher Seite strikt vorgegebenen Regeln, wie eine Demonstrationsveranstaltung abzulaufen hatte. Dazu gehörte beispielsweise das Verlassen von vorgeschriebenen Demonstrationsrouten, das Errichten von Verkehrsblockaden, das Werfen von Eiern, Tomaten oder Knallkörpern, sowie auch die Strategie der Demonstranten, sich geschickt unter die Passanten zu mischen, um sich so für die Polizei unkenntlich zu machen.60 Zu den Highlights der Bewegungsgeschichte zählten außerdem die spektakulären und medienwirksamen Happenings der Protestbewegung, die 59 | Vgl. BALISTIER, Thomas: Straßenprotest: Formen oppositioneller Politik in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1979 und 1989, Münster 1996, S. 218. 60 | Vgl. SCHULZ, Studentische Bewegungen und Protestkampagnen, S. 439f.

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bis heute im kollektiven Gedächtnis verhaftet sind. Vor allem die Bewohner der Kommune I erlangten durch ihre spielerischen, provokanten öffentlichen Selbstinszenierungen, die darauf abzielten, die tradierte Ordnung des öffentlichen Raumes strategisch in Unordnung und Chaos umzuwandeln, Berühmtheit. Die regelverletzenden und zuweilen gesetzeswidrigen Protesttechniken der Kommunarden machten selbst Gerichtstermine zu einem satirischen Spektakel mit der Intention, die Staatsmacht ins Lächerliche zu ziehen. Was es für die kollektive Gefühlswelt der Protestierenden bedeutete, die aktionistische Provokations-Politik zur Anwendung zu bringen, wird im Folgenden analytisch erhellt.

4.2.1 Lustvolle Erlebnisintensität Viele Mitglieder der Protestszene waren der endlosen, abstrakten Theoriedebatten überdrüssig und entdeckten auf diese Weise den aktionistischen Protest für sich. Selbsttätig und aktiv zu werden, schien eine weit größere Anziehungskraft auf die linksstehenden Studenten zu haben, als immer nur von der gewünschten gesellschaftlichen Veränderung zu sprechen. Der SDS-Aktivist Peter Schneider erklärt in seiner Rede Wir haben Fehler gemacht, die er am 5. Mai 1967 auf der Vollversammlung der Fakultäten der FU vortrug, ein Ende der langwierigen und nutzlos erscheinenden Diskussionen. Zudem hält er ein leidenschaftliches Plädoyer für die Aktion und die Emotion, bevor er seine Kommilitonen zu einem Sit-in auffordert: »Da haben wir den Einfall gehabt, daß das Betretungsverbot des Rasens, das Änderungsverbot der Marschrichtung, das Veranstaltungsverbot der Baupolizei genau die Verbote sind, mit denen die Herrschenden dafür sorgen, daß die Empörung über die Verbrechen in Vietnam, über die Notstandspsychose, über die vergreiste Universitätsverfassung schön ruhig und wirkungslos bleibt. Da haben wir gemerkt, daß sich in solchen Verboten die kriminelle Gleichgültigkeit einer ganzen Nation austobt. Da haben wir es endlich gefressen, daß wir […] gegen Sachlichkeit, die nichts weiter als Müdigkeit bedeutet, gegen die Verketzerung der Emotion, […] gegen verlogene Rationalität und wohlweisliche Gefühlsarmut, – daß wir gegen den ganzen alten Plunder am sachlichsten argumentieren, wenn wir aufhören zu argumentieren, und uns hier in den Hausflur auf den Fußboden setzen.« 61 Der studentische Wortführer empört sich über den in seinen Augen pervertierten Ordnungs- und Bürokratiefanatismus des bundesdeutschen Staates und kritisiert die strengen Regularien, die es der antiautoritären Opposition angeblich erschweren, ihren Protest auf legalem Wege zu organisieren. Er vermutet hinter den sachlichen, rationalen Vorschriften und bürokratisch-juristischen Regelun61 | SCHNEIDER, Peter: Wir haben Fehler gemacht. Rede auf der Vollversammlung aller Fakultäten der Freien Universität Berlin am 5. Mai 1967. In: Jürgen, Miermeister/Jochen, Staadt (Hg.): Provokationen. Die Studenten- und Jugendrevolte in ihren Flugblättern 19651971, Darmstadt/Neuwied 1980, S. 47-50, hier S. 50.

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gen eine Strategie der Herrschenden, die Bürger unmündig und klein zu halten. Die Verbindung von Aktion und die Emotion erklärt Schneider zur unabdingbaren Voraussetzung für eine Gesellschaftsveränderung zum Besseren. Er spricht sich für einen emotional aufgeladenen und emotional befreienden Protest aus. Gefühlsarmut bedeutet für ihn eine Gefahr für die demokratische Partizipation. Folgerichtig fasst der Historiker Frank Biess über die Gefühlspraktiken der ›68er‹ zusammen: Ihre »[…] Emotionalität […] war von innen nach außen gerichtet, die Freisetzung und Artikulation von Emotionen diente als Vorbedingung gesellschaftlicher Transformationen.«62 Mit der gemeinsamen Raumbesetzung, zu der Schneider auffordert, wird der Körper der Protestteilnehmer zur Störung und Blockade eingesetzt, um die unhinterfragte, alltägliche Routine des Hochschulbetriebes lahmzulegen. Durch diese kollektive Körpergeste als aktive semiotisch signifikante Handlung der Provokation meinte der Aktivist mehr erreichen zu können als mit Argumenten. Die Teilnehmer eines Sit-ins mussten sich nicht bemühen, ihren Dissens und die damit verbundenen Emotionen zu rationalisieren und verbal auszudrücken, ihr Körper diente ihnen als Medium ihres kollektiven Gefühlsausdruckes. Sie präsentierten sich dabei nicht nur als physische, sondern auch als symbolische Einheit. Die visuelle Selbstdarstellung als symbolischer Massenkörper spielte also eine zentrale Rolle für die neue Protest- und Gefühlskultur der ›68er‹.63 In Situationen, in denen es gesellschaftlich ›angebracht‹ gewesen wäre, zu stehen oder ordentlich auf einem Stuhl zu sitzen, machten es sich die Protestierenden auf dem Boden bequem. Sie brachten sich Kissen, Matratzen oder sogar ausklappbare Gartenliegen mit, um auf längere Dauer lässig kauernd oder sogar ausgestreckt liegend verharren zu können. Die von den studentischen Sit-ins betroffenen Institutionen, zumeist die Leitungen von Universitäten, konnten die große Zahl der auf dem Boden sitzenden Personen nicht einfach ignorieren und waren über kurz oder lang gezwungen, die Verhandlung mit den Protestierenden aufzunehmen. Selbst für den Fall, dass ein solcher aktionistischer Protest von der Polizei aufgelöst wurde, konnten sich die studentischen Aktivisten zumindest des medialen Interesses an den aufsehenerregenden Geschehnissen sicher sein. In der Tat linderte die aktionistische Art des Protests das Gefühl vieler junger Menschen, nicht gehört zu werden. Sie kamen sich nicht mehr entmündigt und machtlos vor. Die Historikerin Belinda Davis benennt das Erlebnis der Ermächtigung durch die Aktion als eine der größten politischen Errungenschaften der 68er-Bewegung.64 Einer kleinen, an sich einflusslosen gesellschaftlichen Gruppe gelang es auf diese Weise, ihre Botschaften machtvoll durchzusetzen.

62 | Vgl. BIESS, Die Sensibilisierung des Subjekts, S. 54. 63 | Vgl. FAHLENBRACH, Protest-Inszenierungen. Visuelle Kommunikation, S. 193. 64 | Vgl. DAVIS, Provokation als Emanzipation, S. 44f.

4. Provokation

Abbildung 6: Sit-in am 20. Juni 1967 in den Räumlichkeiten der Evangelischen Studentengemeinde. Berliner Studenten protestieren gegen die Verhaftung Fritz Teufels

Für die Protestierenden war die Erfahrung, sich durch Aktionen Gehör zu verschaffen, persönlich und politisch befriedigend und führte dazu, dass die neuen Demonstrationsformen als Vergnügen wahrgenommen wurden.65 Der Schüleraktivist Joachim Barloschky etwa betont, dass er und seine Genossen die Protestziele der Bewegung zwar mit vollem Ernst verfolgten, die neue Art des Protests jedoch zugleich als lustvoll empfunden hätten.66 Die Protagonisten der antiautoritären Bewegung assoziierten den aktionistischen Protest mit positiven Gefühlen wie Wohlbefinden, Freude, Glück und Vitalität. Dieter Kunzelmann schildert aus der Retrospektive, dass die Aktion als Protestform für seine Generation mit purer Lebensfreude verbunden war: »Was Staat, Justiz und Polizei verunsicherte […] war die Selbstverständlichkeit, mit der die antiautoritäre Bewegung den öffentlichen Raum, […] in ihren Besitz nahm. Feste, Happenings, Demonstrationen, Spiele mit der Polizei, Diskussionen, Musik, Liebe – all dies geschah öffentlich, vor den Augen aller und alle konnten sich beteiligen. […] Die Unmittelbarkeit der sinnlichen Erfahrungen, ob auf der Straße oder in neuen Lebenszusammenhängen, die Lust am Alltagsleben immer das Unerwartete, das Überraschende, das Provozierende

65 | Vgl. DAVIS, Provokation als Emanzipation, S. 44. 66  |  Vgl. Joachim Barloschky, in: HANNOVER/SCHNIBBEN, I can’t get no, S. 82.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er dem Eingeschliffen-Überkommenen vorzuziehen, begeisterte große Teile einer ganzen Generation.« 67

Aus Kunzelmanns Zitat wird deutlich, dass er selbst im Blick zurück noch freudige Erregung bei dem Gedanken verspürt, in den späten 1960er Jahren das an sich übermächtige Staatssystem mit gewitzten Überraschungseffekten und ungewöhnlichen Provokationsstrategien irritiert zu haben. Der aktionistische Protest bedeutete für die jungen Erwachsenen, die sich an der antiautoritären Bewegung beteiligten, gemäß dem ehemaligen Kommunarden, eine enorme Erlebnisintensität. Sie teilten die Spannung, an Aktionen teilzunehmen, von denen niemand wusste, welche Reaktion sie hervorrufen und welches Ende sie finden würden. Detlef Siegfried bestätigt, dass für Beteiligte des linken Protestmilieus die Aktionen als »konzentrierte Momente der selbsttätigen Erfahrungsbildung«68 von zentraler Bedeutung für das positive Erleben des Bewegungsalltages waren. Die Protestierenden wagten es, sich in aller Öffentlichkeit unangepasst, auffällig und herausfordernd zu benehmen und den bürgerlichen Ruf nach Ruhe und Ordnung zu stören. Durch ihre Provokationen erschufen sie zugespitzte, charismatische Situationen, die als Abenteuer erlebt wurden und somit die Bewegung in Schwung hielten.69 Hans Günter Jürgensmeier, der als SHB-Mitglied an der Universität Bonn an der 68er-Bewegung teilnahm, bestätigt, wie anziehend der aktionistische Proteststil war, der hedonistische Elemente integrierte. Für ihn war »eine Demo immer […] auch ein Happening«.70 Durch den aufregenden Erlebnischarakter der linken Proteste, die jugendkulturelle Ästhetik und politische Äußerung verbanden, »hatte man auch eine neue emotionale Lage für sich geschaffen […]«71, so Jürgensmeier. Die neuen Protestformen entsprachen also offenbar dem Lebensstil und folgten den emotionalen Bedürfnissen einer erlebnishungrigen jungen Generation.

4.2.2 Angst und Spaß Der auf Konfrontation ausgelegte aktionistische Protest der ›68er‹ führte häufig zu folgenreichen Auseinandersetzungen mit Professoren, Politikern, Richtern oder anderen Staatsbediensteten, provozierte Beschimpfungen und Tätlichkeiten durch Passanten und endete nicht selten in gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei. Die im linken Protestmilieu üblichen regel- oder gar gesetzeswidrigen 67 | KUNZELMANN, Leisten Sie keinen Widerstand!, S. 102f. 68 | SIEGFRIED, Sound der Revolte, S. 169. 69 | Vgl. PARIS, Stachel und Speer, S. 78f. 70  |  Zeitzeugen – Hans Günter Jürgensmeier. In: BOTHIEN, Horst-Pierre (Hg.): Protest und Provokation. Bonner Studenten 1967/1968 (Forum Geschichte. Eine Schriftenreihe des Stadtmuseums zur Geschichte Bonns im 18. bis 20. Jahrhundert, Bd. 6), Bonn 2007, S. 109. 71  |  Zeitzeugen – Hans Günter Jürgensmeier. In: BOTHIEN, Protest und Provokation, S. 109.

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Aktionen bargen die Gefahr, körperlich verletzt, inhaftiert und bestraft zu werden. Die Sozialwissenschaftlerin Andrea Pabst weist darauf hin, dass öffentlicher Protest für seine Teilnehmer generell eine körperliche wie emotionale Belastung darstellt und große Mengen an Adrenalin freisetzt. Betrachtet man den Protest als Körperpraxis, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Demonstranten sich zumeist in unübersichtlichen Menschenmengen bewegen, der kritischen Beobachtung durch Außenstehende ausgesetzt sind und mit Gegenreaktionen von Protestgegnern rechnen müssen. Das Erleben physischer Anstrengung und psychischer Anspannung führt nicht selten zur Erschöpfung.72 Daraus ist zu folgern, dass gerade die Teilnahme an den aktionistischen Protesten der ›68er‹ Mut und Überwindung erforderte.73 Obwohl der riskante Aktionismus für die junge Generation attraktiv und erfolgversprechend war, verspürten viele Protestierende Ängste vor den nicht einzuschätzenden Folgen ihrer Protestaktionen. Der ehemalige Kommunarde Rainer Langhans erinnert sich jedoch, dass eine angstfreie, aktive Beteiligung an den Aktionen dem normativen Gefühlsrepertoire der maskulin codierten 68er-Bewegung entsprach: »Wir fanden immer die Leute gut, die nicht so viel Angst hatten und einfach mitmachten. Die meisten hatten Angst, die Bürgersöhnchen. Ich auch am Anfang, wer nicht?« 74 Langhans tut die Furcht vor der Aktion als bürgerliche Emotion ab, indem er anführt, dass nur ›Bürgersöhnchen‹ bange vor den riskanten Protestpraktiken war. Durch den abschätzig gebrauchten Terminus des ›Bürgersöhnchens‹ spricht er denen, die sich vor der Protestteilnahme fürchteten, das in der linken Protestszene geltende Männlichkeitsideal ab. Angst gilt gemäß der stereotypen Geschlechterdichotomie als weibliches, mit Schwäche und Ohnmacht assoziiertes Gefühl.75 Dementsprechend überrascht es nicht, dass Langhans die Furcht vor dem aktionistischen Protest als unzulässige Emotion innerhalb der männlich dominierten Emotionskultur der 68er-Bewegung deklariert. Zugleich räumt das Mitglied der Kommune I aber ein, dass auch er zunächst Angst vor der aktionistischen Protesttechnik hatte. Als emotionale Bewältigungsstrategie für dieses Dilemma entwickelten die Aktivisten der Protestbewegung die Technik, Angst durch Spaß zu reduzieren. Bereits vor der Formierung der außerparlamentarischen Protestbewegung rund um das Jahr 1968 gingen Mitglieder der avantgardistischen Künstlervereinigung GRUPPE SPUR, die im Jahr 1957 in München gegründet wurde, davon aus, dass

72  |  Vgl. PABST, Andrea: Protesting Bodies and Bodily Protest. ›Thinking through the Body‹ in Social Movement Studies. In: Timothy Brown/Lorena Anton (Hg.): Between the Avantgarde and the Everyday. Subversive Politics in Europe from 1957 to the Present, New York 2011, S. 191-200, hier S. 199. 73 | Vgl. BALISTIER, Straßenprotest, S. 244. 74 | LANGHANS, Ich bin’s, S. 91. 75 | Vgl. FABIAN, Egon: Die Angst: Geschichte, Psychodynamik, Therapie, Stuttgart 2010, S. 125.

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Rebellion Spaß machen müsse. »Eine Revolution ohne Gaudi76 ist keine Revolution«77, proklamierten die linksintellektuellen Situationisten, denen unter anderem Dieter Kunzelmann angehörte, bevor er im Jahr 1967 Mitbegründer der Kommune I wurde. Die GRUPPE SPUR entwickelte performative Proteststrategien und betrachtete politische Happenings als experimentelle Kunst.78 Die kulturrevolutionäre Protestbewegung machte sich gegen Ende der 1960er Jahre folgenden Grundsatz der Künstlervereinigung zu eigen: »Boykottiert alle herrschenden Systeme und Konventionen, indem ihr sie nur als mißratene Gaudi betrachtet.«79 Die Taktik, über Autoritäten und institutionalisierte Ordnungsvorstellungen zu lachen, anstatt sich davon einschüchtern zu lassen, wurde von den Aktivisten der 68er-Bewegung in ihr Protestrepertoire aufgenommen. Vor allem den Mitgliedern der Kommune I ging es darum, möglichst viele Mitstreiter und Außenstehende davon zu überzeugen, »dass das Leben Spaß machte – und nicht erst übermorgen, wenn die Revolution kommen würde.«80 Der sogenannte »SpaßProtest«81 prägte die gruppeninterne Gefühlskultur der maskulin dominierten Oppositionsbewegung also insofern, als dass eine vergnügte, übermütige und unerschrockene Stimmungslage bei der Durchführung der riskanten Protestaktionen zur emotionalen Norm erhoben wurde. In einem zeitgenössischen SDS-Rundbrief macht Rainer Langhans seinen Genossen die Strategie schmackhaft, durch Ausgelassenheit Ängste abzubauen und auf diese Weise erfolgreich zu protestieren: »Die Stärke der Polizei ist die Ordnung, die sie aufrechterhält. Unsere Stärke ist die Unordnung, die uns beweglich macht. Unsicherheit macht uns unbeweglich. […] Wenn wir Angst haben, verkrampft sind, nicht mehr lachen können, müssen wir einpacken. […] Ein paar Vorschläge: Jeder darf für alles sammeln, wenn er sich eine Büchse macht, z.B. für: ›Warme Wäsche für die Polizei‹, ›Sturmfeste Kerzen für die Mauer‹, ›Feilen für die Hertie-Knacker‹, ›Für Hundekackplätze in allen Bezirken‹. Alle haben neben der Pille, neben Liebesperlen, Bonbons und Parisern auch Konfetti und Luftschlangen mit, um sich die Zeit auch ohne Polizei vertreiben zu können.« 82 76 | ›Gaudi‹ wird in der bayerischen und österreichischen Mundart für ›Spaß‹ oder ›Vergnügen‹ verwendet. 77  |  GRUPPE SPUR (Sturm/Prem/Fischer/Kunzelmann/Zimmer): Januar-Manifest, Januar 1961. In: Miermeister/Staadt, Provokationen, S. 13-14, hier S. 14. 78  |  Vgl. LEE, Mia: The Gruppe Spur. Art as a Revolutionary Medium during the Cold War. In: Timothy Brown/Lorena Anton (Hg.): Between the Avant-Garde and the Everyday. Subversive Politics in Europe from 1957 to the Present, New York 2011, S. 11-30, hier S. 18. 79  |  GRUPPE SPUR, Januar-Manifest. In: Miermeister/Staadt, Provokationen, S. 13. 80 | LANGHANS, Ich bin’s, S. 60. 81 | ENZENSBERGER, Die Jahre der Kommune I, S. 95. 82 | Rundbrief SDS Berlin. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sammlung Rainer Langhans, SDS-intern.

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Langhans rät seinen Mitstreitern, sich auf öffentlichen Protestveranstaltungen ›unordentlich‹, also spontan, unvorhersehbar oder gar eigentümlich zu verhalten. Sein Aufruf zur Unübersichtlichkeit spricht die expressive, habituelle Mobilisierung der Demonstrationsteilnehmer an.83 Die Polizei, so die These des SDS-Vorstandes, versteht es, Demonstrationen zu überwachen und notfalls gewaltsam aufzulösen, solange alles ordentlich nach bekanntem Schema abläuft. Er plädiert dafür, die Beamten durch ungewöhnliche Verhaltensweisen zu verwirren und zumindest vorübergehend handlungsunfähig zu machen. Diese Strategie kann gemäß Langhans nur Erfolg haben, wenn die Aktivisten, die den Protest durchführen, sich in einer entspannten, heiteren emotionalen Lage befinden. Da mit ängstlichem Unbehagen keine Demonstration erfolgreich durchgeführt werden könne, liefert er zugleich einige Vorschläge, wie sich die Protestierenden bei Laune halten und gegenseitig zum Lachen bringen können. Gemäß der Neurologin und Psychiaterin Barbara Wild gilt Humor tatsächlich als ein in der Sozial- und Psychotherapie angewandtes Mittel, um Ängste zu überwinden: »Angst und Erheiterung sind gegenläufige Gefühlszustände. Witziges kann deshalb kurzfristig Ängstlichkeit reduzieren […].«84 Humor, so Wild, könne dabei helfen, eine Situation neu zu strukturieren und anders zu betrachten.85 Ein ausgeglichenes, überlegtes und angstfreies Auftreten bei den Protestaktionen entsprach also der normativen emotionalen Konstitution eines männlichen ›68ers‹. Gerade die Mitglieder der Kommune I waren äußerst kreativ darin, sich immer wieder neue Aktionen auszudenken, die die Ordnung des öffentlichen Raums auf eine schelmische Art störten. Das überraschende und verstörende Moment der Provokationsstrategie konnte nur aufrechterhalten werden, wenn die gleichen Aktionen nicht wiederholt wurden und der Normbruch damit nicht zur Routine mutierte. Unter anderem setzten die Revolteure verschiedene Verkleidungen ein, um den anhaltenden Erfolg der provokanten Aktionen zu sichern. Das Tragen von Kostümen sollte den Protestmitgliedern auf psychischer Ebene Angst und Unsicherheit nehmen und ihnen dafür Selbstsicherheit und Ausgelassenheit schenken. Vor der Protestaktion gegen den Staatsbesuch des persischen Schahs Mohammad Reza Pahlavi am 2. Juni 1967 in Berlin verteilten die Kommunarden unter den Demonstranten und Passanten selbstgebastelte ›Schah- und Farah-Tüten‹, die die Protestierenden auf dem Kopf trugen.

83 | Vgl. FAHLENBRACH, Protest-Inszenierungen. Visuelle Kommunikation, S. 191f. 84 | WILD, Barbara: Humor in der Psychiatrie und Psychotherapie : Neurobiologie – Methoden – Praxis, Stuttgart 2012, S. 59. Siehe auch: FRIT TUM, Markus: Humor und sein Nutzen für SozialarbeiterInnen, Wiesbaden 2012. 85 | Vgl. WILD, Humor in der Psychiatrie und Psychotherapie, S. 59.

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Abbildung 7: Demonstration vor der Deutschen Oper in Berlin mit ›Schah- und Farah-Tüten‹

Die Papiertüten, die entweder mit dem Antlitz des persischen Herrschers oder dem seiner Frau geschmückt waren, sollten irritieren und provozieren. Die Aktivisten der 68er-Bewegung protestierten gegen die Entscheidung des bundesdeutschen Staates, den Schah, den sie als brutalen und gewissenlosen Diktator betrachteten, zu hofieren und zu einem Staatsbesuch einzuladen. Mit den bedruckten Tüten, die als Masken dienten, wurden unzählige Doppelgänger des Monarchenpaares geschaffen. Die ›Schah- und Farahtüten«-Aktion zielte darauf ab, die vermeintliche Einzigartigkeit und Wichtigkeit des Autokraten zu untergraben. Die Protestteilnehmer, die sich Tüten über den Kopf stülpten, konnten sich jedoch auch hinter der Maskierung verstecken. Indem sie ihre eigene Identität damit vorübergehend unkenntlich machten, war es ihnen möglich, freier und ungezwungener zu protestieren. Die Kommunarden ließen diese Aktion nicht unkommentiert und verteilten unter den Demonstrierenden Flugblätter mit dem Titel Man geht nicht mehr ohne Tüte, auf denen sie unter anderem die psychologische Funktion ihrer Protestaktion durchblicken ließen: »Denn diese Tüten werden den Bedürfnissen der verschiedensten Bevölkerungsschichten gerecht: […] Wenn man eine Hasenscharte hat oder einen Birnenkopf wie der Pastor Albertz, wenn Rektor Lieber unter seinen Studenten spazierengehen will, ohne Pfiffe und Buhrufe […], wenn man jemanden überraschen will, […] wenn die Polizei erscheint oder wenn ein Kind weint, wenn man Angst hat oder Spaß macht, erweist sich die Güte unserer Tüte.« 86

86  |  KOMMUNE I: Man geht nicht mehr ohne Tüte, Flugblatt Nr. 10 vom 1. Juni 1967. In: Miermeister/Staadt, Provokationen, S. 29.

4. Provokation

In gewohnt humoristischer Manier machen die Bewohner der Kommune I zunächst Vorschläge, wer eine solche Tüte zu welchem Zweck nutzen könnte und verteilen damit zugleich Seitenhiebe in Richtung ihrer politischen Gegner. Zuletzt weisen sie ihre Mitstreiter darauf hin, dass die Teilnahme an dem satirischen, spielerischen und spaßorientierten Protest auch der Überwindung eines persönlichen Unbehagens dient. Die Kommunarden, die sich intensiv mit der Funktionsweise der menschlichen Psyche auseinandersetzten, waren sich sicher, dass Angst lähmt, einengt und emotionale Energie bindet und Humor ein einfacher Trick ist, um die Stimmung auch in angespannten Situationen zu lockern. In einem weiteren zeitgenössischen Flugblatt, das aus dem studentischen Protestmilieu der FU Berlin stammt, lässt sich eine Handlungsanleitung finden, wie mit der ›Spaß-Protest‹-Strategie eine Gerichtsverhandlung gesprengt werden kann. Um den Richter zu reizen und in Rage zu bringen, wird empfohlen, als Angeklagter, aber auch als Zuschauer während der Verhandlung stetig zu grinsen, laut zu lachen und zu gähnen. Wenn der Richter schließlich auf die Provokationen autoritär reagiert und die Protestierenden zur Ordnung ruft, so sollen ihm, wenn möglich, seine früheren Verstrickungen in die Verbrechen des NSSystems vorgeworfen werden.87 Auf diese Weise, so versprachen die Verfasser des Flugblattes ihren Lesern, »[…] verlieren wir unsere Angst und für’s Publikum ist es ein gutes und lustiges Lehrstück, denn jeder von uns kann irgendwann als Angeklagter einmal mit den Richtern spielen. Es ist einfach nicht zu leugnen: Es macht Spaß, den [Richter] zu ärgern!!!«88 Durch das inadäquate Verhalten vor Gericht, dem situativen Durchbrechen gesellschaftlicher Normen, meinten die Protestierenden innere Hemmschwellen und Autoritätsängste überwinden zu können. Ferner ging es den Mitgliedern der maskulin codierten Oppositionsbewegung darum, Konfliktsituationen herbeizuführen, in denen sie sich selbst als auserwählte, heroische Kämpfer für das Gute erleben und inszenieren konnten. Mit ihren provokanten Aktionen bemühten sie sich gezielt, das ›Böse‹ hervorzulocken, um es vor den Augen aller als moralisch verwerflich zu entlarven.89 Beim politischen Gegner negative Gefühle wie Ärger, Empörung und Entrüstung hervorzurufen war ein bedeutender Teil der Provokationsstrategie, ohne den sie nicht funktionierte. Für die zumeist männlichen Aktivisten der 68er-Bewegung war das spielerische Ärgern des Gegners ein durch die männliche Sozialisation bereits wohlbekanntes, lustbesetztes Spiel. Das Hänseln, Streiche-Spielen und Verärgern wird bereits in der frühen Entwicklung, vor allem von Kindern männlichen Geschlechts eingeübt, um Mut zu zeigen, Grenzen auszutesten und unempfindlicher gegen Kritik und soziale Reglementierung zu werden. Genauso gehö87 | Vgl. Flugblatt, Massenschauprozess ›Africa Addio‹. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 1392 (FU Flugblätter, Januar–März 1968). 88 | Flugblatt, Massenschauprozess ›Africa Addio‹. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 1392 (FU Flugblätter, Januar–März 1968). 89 | Vgl. PARIS, Stachel und Speer, S. 78.

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ren riskante Verhaltensweisen zum üblichen maskulinen Sozialisationsmuster, das der Ausbildung einer starken, selbstbewussten und furchtfreien männlichen Geschlechtsidentität Vorschub leistet.90 Unbewusst folgten die männlichen Anhänger der linken Protestszene von ›1968‹ mit ihrer provokanten, aktionistischen Protesttechnik Mustern männlicher Konfliktaustragung, die sie sich bereits in ihrer Kindheit und Jugend angeeignet hatten. Die eigene Scheu, Unsicherheit oder Furcht zu überwinden, indem man andere lächerlich machte, ärgerte oder irritierte, führte für die ›68er‹ zu einem Lustgewinn, der sinnvoll für die politischen Ziele und den Mobilisierungserfolg der außerparlamentarischen Opposition eingesetzt werden konnte. Gemäß Peter Schneider vollzog sich seit der Einführung des aktionistischen Protests ein Wandel des kollektiven, emotionalen Habitus der jungen Revolteure. Eine »neue Frechheit und Lässigkeit«91 bestimmte fortan das Benehmen der Protestler. Siegward Lönnendonker beschreibt es sogar als persönliches Befreiungserlebnis, durch den spaßorientierten, provokanten Demonstrationsstil seine anerzogene Autoritätshörigkeit verloren zu haben: »[W]enn ich meine eigene Person betrachte,« so der ehemalige SDS-Aktivist »da muss ich sagen, dass ich […] immens viel gelernt habe, auch mit mir selber umzugehen, einzuschätzen, […] wann es sein muss mal jemanden anzubrüllen […].«92 Den Abbau von Hemmungen und Ängsten beschreibt er als die großen, nachhaltigen Erfolge der Lebensstil-Revolution der 68er-Bewegung.93 Wenn geplante Aktionen wie gewünscht abliefen und ein großes mediales Echo erfuhren, so war gemäß Bommi Baumann die Stimmung in der Kommune I auf dem Höhepunkt: »Da waren immer Späßchen drin, war [sic!] immer lustig, immer ein Lacher drin.«94 Ehemalige Vertreter der Protestbewegung neigen in ihren autobiografischen Narrativen dazu, zu erzählen, wie es ihnen gelang, mit spielerischen Aktionen die gesellschaftlichen Verhältnisse zu demaskieren und mit lachenden Gesichtern die Staatsmacht bloßzustellen. Ein unbekannter Teilnehmer aus dem Umkreis des SDS Frankfurt macht auf einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung dreißig Jahre nach dem Höhepunkt des antiautoritären Protests jedoch keinen Hehl daraus, dass der aktionistische Protest keineswegs immer erfolgreich verlief:

90 | Vgl. STROBEL-EISELE, Gabriele/NOACK, Marleen: Jungen und Regeln – Anomie als jungenspezifische Thematik in der Geschlechterdiskussion. In: Dies./Thomas Fuhr (Hg.): Kinder: Geschlecht männlich. Pädagogische Jungenforschung, Stuttgart 2006, S. 99-128, hier S. 108ff. 91 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 118. 92 | Interview Lönnendonker, S. 31. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 50 (SDS, Sammlung Staadt, SDS-Projekt). 93  |  Vgl. Interview Lönnendonker, S. 31. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 50 (SDS, Sammlung Staadt, SDS-Projekt). 94 | BAUMANN, Wie alles anfing, S. 23.

4. Provokation »Wir wollten ja weglaufen, wir wollten uns ja gar nicht prügeln, sondern wir wollten witzige Geschichten machen, und die Macht sollte in Gelächter untergehen. […] Wir haben dann Prügel bezogen und ich erinnere mich, wie wir im Kolb-Heim in Frankfurt dann nach den Schlachten saßen und mit einer unglaublichen Humorlosigkeit unsere blauen Flecken betrachtet haben, die uns die Polizei geschlagen hatte.« 95

Innerhalb der männlich geprägten bundesdeutschen 68er-Bewegung galt der lustvolle, aktionistische Protest als strategisches Allheilmittel, um sich des Gefühls zu entledigen, nicht gehört zu werden. Die als unmännlich codierten Emotionen der Angst und Unsicherheit sollten durch Spaß vertrieben werden und den jungen Erwachsenen ein entspanntes und vergnügliches Protesterlebnis ermöglichen. Zeitgenössisch wie retrospektiv wurde die Prämisse der lustbesetzten Rebellion hochgehalten, wenn nicht sogar mystifiziert. Zeugnisse einer gruppeninternen Humorlosigkeit angesichts des scheiternden Spaß-Protests sind deshalb eine Seltenheit.

4.3  Z wischenresümee Die maskulin codierte westdeutsche 68er-Bewegung kommunizierte ihre generationsspezifischen, vergeschlechtlichten Gefühlsstandards mittels provokanter vestimentärer und performativer Körpercodes. Durch das Tragen einer legeren und zwanglosen Alltagskleidung zu allen Tageszeiten und gesellschaftlichen Anlässen lehnten sich die Protestierenden gegen die in den 1960er Jahren geltenden Kleidungskonventionen auf. Männliche Studenten verzichteten auf den konservativ-klassischen Herrenanzug als Statussymbol bürgerlicher Männlichkeit und brachen mit den damit verbundenen Normen und habituellen Repräsentationsformen hegemonialer Männlichkeit. Die saloppe Kleidung und der herausgewachsene Haarschnitt der männlichen Kulturrevolutionäre sollte selbstsichere Lässigkeit ausstrahlen und die innere Haltung der jungen Männer zum Ausdruck bringen, dass sie nicht bereit waren, wie ihre militärisch sozialisierte Vätergeneration unhinterfragt Regeln zu befolgen und Gehorsam zu leisten. Selbst die weiblichen Mitglieder der Oppositionsbewegung glichen sich mitunter dem bequemen, lässigen Kleidungstil der männlichen Genossen an und konnten sich so frei fühlen und wohlfühlen im eigenen Körper. Mitglieder des hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieus steigerten die ungezwungene Gegenmode, die im linksintellektuell-universitären Protestmilieu getragen wurde, insofern, als dass sich ihre Kleidungswahl noch kreativer, auffälliger und achtloser gestaltete. Sie würfelten ihre non-konforme Garderobe bunt und exotisch zusammen und machten sich jeden Tag aufs Neue so zurecht, wie es ihrer aktuellen Gefühlslage intuitiv entsprach. Der nachlässige oder gar verwahrloste Eindruck, den so 95 | Unbekannter Diskussionsteilnehmer, in: LÖNNENDONKER, Linksintellektueller Aufbruch, S. 197.

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manch männlicher Kommunarde in der Öffentlichkeit erweckte, wurde von der Mehrheitsgesellschaft als unerhörter Affront gegen die guten Manieren wahrgenommen. Mit dem Gammel-Look als gezielte, protestorientierte Verwahrlosung der Körperpflege ironisierten die ›68er‹ das bürgerliche Anstandsideal. Dementsprechend galten gegen Ende der 1960er Jahre lange, ungekämmte Haare und üppig sprießende Bärte als Markenzeichen maskuliner Protestidentität und als deutlichstes Bekenntnis zur antiautoritären Bewegung und deren kollektivem Emotionshaushalt. Mit ihrer normverletzenden, nachlässigen äußeren Erscheinung riefen die Protestierenden bei nicht wenigen konservativen Mitbürgen Gefühle der Ablehnung und Wut hervor. Lange Haare bei Männern wurden als Verstoß gegen das bürgerliche Männlichkeitsideal geahndet. Die antiautoritären Aktivisten stigmatisierten sich selbst und mussten deshalb mit massiven verbalen Anfeindungen und Bedrohungen bis hin zu physischer Gewaltanwendung rechnen. Die intoleranten und aggressiven Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft wurden bewusst provoziert, um diese in Misskredit zu bringen. Letztendlich sollte das Stigma von den Normbrechern auf die Normhüter umgewälzt und die gesellschaftlich geltenden Regeln und Konventionen als per se illegitim entlarvt werden. In der Gefühlskultur der Protestszene galt es dementsprechend als mutig, couragiert und attraktiv, mit der demonstrativen Stilisierung des Äußeren in aller Öffentlichkeit zur radikaloppositionellen Gesinnung zu stehen. Die männlichen Aktivisten der bundesdeutschen 68er-Bewegung gefielen sich selbst in der antiautoritären Gegenmode und trugen sie als Symbol ihrer kollektiven Werte, Ziele und Emotionen mit großem Stolz. Darüber hinaus orientierten sich die männlichen Vertreter der außerparlamentarischen Opposition bei ihrer körpersemiotischen Inszenierung an Revolutionsführern der Vergangenheit und Gegenwart. Der kubanische Rebell Che Guevara, der seinen frühen Tod im revolutionären Kampf in Südamerika fand, wurde von Protagonisten der 68er-Bewegung in der ganzen Welt als Held gefeiert und als jugendlicher Märtyrer verehrt. Lange Haare, Vollbart, Baskenmütze mit rotem Stern und Lederjacke wurden in Anlehnung an ein fotografisches Portrait Guevaras auch in der Bundesrepublik zum modischen Vorbild für die männlichen Mitglieder der Protestbewegung. Der lässige-draufgängerische und zugleich sentimental-melancholische Habitus des Revolutionsführers, der sich mit Todesverachtung der Revolution geopfert hatte, beeinflusste den kollektiven Gefühlshaushalt der männlich dominierten Protestgemeinde insofern, als dass Gewaltund Leidensbereitschaft zu emotionalen Leitwerten avancierten. Militärisch oder kommunistisch assoziierte Kleidungsstücke wie Armeeparka, Offiziersmäntel oder Anzüge im Mao-Look wurden im antiautoritären Milieu bevorzugt getragen, um einem lässig-militanten Männlichkeitsideal Ausdruck zu verleihen. Neben der oppositionellen Kleidung und Haarmode spielten die aktionistischen Protestinszenierungen der ›68er‹ eine bedeutende Rolle in der habituellen Repräsentation maskuliner Emotionalität. Die expressiven Protestformen, die auf symbolische Regelverletzung abzielten, verwandelten die Ordnungsprinzipien

4. Provokation

des öffentlichen Raumes durch überraschende, unerwartete und provokante Effekte in Unordnung. Durch den großen Erfolg aktionistischer Demonstrationen konnte das Gefühl der Protestierenden Linderung erfahren, politisch nicht gehört zu werden. Sie fühlten sich persönlich und politisch befriedigt und nahmen die aktionistischen Protestpraktiken als lustbesetztes Vergnügen wahr. Die Mitglieder der antiautoritären Bewegung stellten durch ihre provokanten Aktionen intentional zugespitzte Situationen mit ungewissem Ausgang her und empfanden diese als spannende Abenteuer. Junge Menschen fühlten sich von der enormen Erlebnisintensität des aktionistischen Protests, der auch hedonistische Elemente integrierte, angezogen. Obwohl die neuartigen Protestformen offenbar den emotionalen Bedürfnissen der erlebnishungrigen 68er-Generation entsprachen, ängstigten sich die meisten Demonstranten dennoch vor der Teilnahme an den riskanten, zuweilen gesetzwidrigen Aktionen und deren unabwägbaren Konsequenzen. Da das Gefühl der Angst in der maskulin codierten Protestszene als unmännlich galt und eine aktive, couragierte und unerschrockene Beteiligung an den Aktionen der gruppeninternen, normativen Gefühlskultur entsprach, entwickelten die ›68er‹ eine Strategie zur Reduktion von Angst. Inspiriert von den situationistischen Künstlern der GRUPPE SPUR, die proklamierten, dass Revolution Spaß machen müsse, entwickelten die Aktivisten der Studentenbewegung den ›Spaß-Protest‹. Anstatt sich von Autoritäten, Konventionen und Regeln einschüchtern zu lassen, wollten die Protestierenden künftig nur noch über deren Unsinnigkeit lachen und sie damit der Lächerlichkeit preisgeben. Vor allem die Mitglieder der Kommune I waren äußerst kreativ darin, sich immer wieder neue Handlungsstrategien und Verkleidungen einfallen zu lassen, die die Protestierenden bei Laune hielten, zum Lachen brachten und ihnen so ein angstfreies, ungehemmtes Auftreten ermöglichten. Lähmende Furcht und Anspannung sollten durch Humor in Ausgelassenheit und Vergnügen verwandelt werden. Auf der anderen Seite wollten die Protagonisten der 68er-Bewegung durch das Auslachen, Ärgern und Provozieren des politischen Gegners bei diesem negative Gefühle wie Wut und Empörung hervorrufen. Mit dieser Strategie versuchten sie eine Eskalation des Konflikts herbeizuführen und den Gegner dazu zu zwingen, sein wahres, ›böses‹ Gesicht zu zeigen. So konnten sich die zumeist männlichen Aktivisten als moralisch rechtschaffene Helden inszenieren, die für das Gute kämpften. Das spielerische Ärgern von Autoritäten und das Erproben riskanter Aktionen stellen Verhaltensmuster dar, die bereits in der männlichen Sozialisation erlernt werden. Freches, lässiges und humorvolles Verhalten stellte für die Protagonisten der Oppositionsbewegung eine Befreiung von den auf Anstand, Höflichkeit und gutes Benehmen ausgerichteten habituellen Ausdrucksformen des ›Establishments‹ dar.

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5. Generationenkonflikte

Mit dem Erstarken der Studentenbewegung Mitte der 1960er Jahre entzündete sich in der Bundesrepublik Deutschland ein Generationenkonflikt an der nationalsozialistischen Vergangenheit der Älteren, welcher bereits seit Ende der 1950er Jahre unterschwellig das Generationenverhältnis zwischen belasteten Eltern und deren unbelastetem Nachwuchs beeinträchtigte. In den frühen 1960er Jahren drangen allmählich mehr und mehr Details über das Ausmaß der NS-Vernichtungspolitik an die Öffentlichkeit. Eine anfängliche Diskussion über Vergangenheitsbindungen in der bundesdeutschen Gesellschaft entstand. Die 68er-Generation erlebte das nationalsozialistische System entweder im Kleinkindalter oder war zu dieser Zeit noch gar nicht geboren und konnte deshalb nicht auf persönliche Erfahrungen zurückgreifen. Sie wurde stattdessen von »Schule, Elternhaus und Medien mit oftmals krass widersprüchlichen Informationen und Emotionen konfrontiert, die kaum auf einen Nenner zu bringen waren.«1 Trotz dieser Verunsicherung auf rationaler und emotionaler Ebene geht der Historiker Detlef Siegfried davon aus, dass sich »ein generationeller Common sense in der Ablehnung des Nationalsozialismus«2 bereits anfangs der 1960er Jahre entwickelte. Diese negative Grundhaltung junger Menschen beruhte jedoch auf einem insgesamt eher lückenhaften und oberflächlichen Wissensstand, sowie auf einer meist geringen Bereitschaft zu persönlichen zeithistorischen Nachforschungen.3 In der Protestbewegung beschäftigte man sich zwar theoretisch intensiv mit faschistischen Strukturen, eine dezidierte und anhaltende Auseinandersetzung mit dem Thema Nationalsozialismus fand jedoch auch dort nicht statt. Nichtsdestotrotz skandalisierten die Protestierenden die NS-Vergangenheit der Eltern, erhoben sie zu einem bedeutenden Politikum und diskutierten sie vor allem in Bezügen zu aktuellen politischen Problemen gerne und häufig.4 1 | SIEGFRIED, Time Is On My Side, S. 168. 2 | SIEGFRIED, Time Is On My Side, S. 168. 3 | Vgl. SIEGFRIED, Time Is On My Side, S. 166ff. 4 | Vgl. SIEGFRIED, Detlef: Zwischen Aufarbeitung und Schlußstrich. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten 1958 bis 1969. In: Ders./Axel

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Im Folgenden soll analysiert werden, inwiefern die Emotionskultur der 68erBewegung von der problembehafteten Auseinandersetzung mit der elterlichen Vergangenheit geprägt wurde. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Konflikten zwischen Vätern und Söhnen und der damit verbundenen Kollision zweier soziokulturell und historisch unterschiedlich sozialisierter Modelle von Männlichkeit. Ich folge der These, dass die zumeist männlichen Vertreter der 68er-Bewegung den zeitgenössischen Generationenstreit als eine Kontroverse zwischen Männern empfanden, beziehungsweise (auch nachträglich) konstruierten.5 Während sie sich selbst in der Rolle der moralisch integren Ankläger sahen, galt die allgemeine Vorwurfshaltung so gut wie ausschließlich dem männlichen Elternteil und dessen Rolle im Nationalsozialismus.

5.1  M isstr auen Der in der Protestkultur weit verbreitete, plakative Spruch ›Trau keinem über dreißig‹ lässt Misstrauen als das vorherrschende Gefühl der 68er-Generation ihrer Elterngeneration gegenüber bereits vermuten. Wie der studentische Wortführer Peter Schneider betont, basierte das Auf begehren der außerparlamentarischen Bewegung gegen die Kriegsgeneration nicht primär auf rationalen, durch sachliche Informationen gestützte Überlegungen, sondern beruhte auf einem vagen Gefühl des Argwohns und intuitiven Vorbehalts: »Der antifaschistische Impuls der 68er-Bewegung gründete sich eher auf einen Generalverdacht als auf solides Wissen und gründliche Recherchen – dennoch ist er […] das bestimmende emotionale Motiv der Rebellion in Deutschland gewesen. […] der Grundverdacht gegen die ›Nazigeneration‹ war wohl das wichtigste Antriebsmoment des Protestes. Es erzeugte jenes gewisse Zittern, jene emotionale Sprungbereitschaft und auch Maßlosigkeit der Anklage bei oft nichtigen Anlässen, die die deutsche Rebellion kennzeichnet.« 6

Schmidt/Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 37), Hamburg 2000, S. 77-147, hier S. 100f. 5 | Wilfried Breyvogel bestätigt den generationellen Konflikt der 68er-Generation mit der kriegsbelasteten Elterngeneration als eine Auseinandersetzung, die sich primär auf homosozialer Ebene abspielte. Seiner Meinung nach bestanden die Generationenkonflikte hauptsächlich zwischen den Vätern und ihren Söhnen, »denen sich bisweilen die Töchter zur Seite stellten.« Vgl. BREYVOGEL, Provokation und Aufbruch der Westdeutschen Jugend, S. 457. 6 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 124ff.

5. Generationenkonflikte

Gemäß Schneiders Erfahrung stellten Emotionen das zentrale, handlungsleitende Motiv zum Protest dar und begründeten die Heftigkeit und Intensivität der Kritik an den älteren Geburtsjahrgängen. Dass die Generation der ›68er‹ meist schon im Kindesalter eine beunruhigende Ahnung hegte, die Elterngeneration habe sich in der Vergangenheit grausamer Verbrechen schuldig gemacht, welche nun im Verborgenen gehalten würden, berichtet der ehemalige SDS-Aktivist Wolfgang Nitsch: »Wir gehörten zu der Generation junger Intellektueller, die schon beim Erwachen ihres politischen und zeitgeschichtlichen Bewußtseins im Schulalter jederzeit mit der grauenvollen Perspektive konfrontiert werden konnten, wenn sie nur hartnäckig nachforschten. Was unserer ödipalen Neugier entzogen werden sollte, waren ja nicht nur die kleinen Geheimnisse unserer Familienromane, sondern das letzte Geheimnis, daß die Erwachsenen ein für allemal die historische Perspektive für menschenwürdiges Leben zerstört hatten, daß unsere Elterngeneration die Generation der Kollektiv-Mörder an einer menschenwürdigen Zukunft war: die Väter von Auschwitz, die Väter der H-Bombe und die Väter der Stalinistischen Gulags.« 7

Nitsch verurteilt die Generation seiner Eltern in einer drastischen und unversöhnlichen Art und Weise ausnahmslos als ›Kollektiv-Mörder‹ durch ihre mögliche Beteiligung am nationalsozialistischen oder stalinistischen Genozid oder an der Entwicklung und Nutzung von Kernwaffen. In Verwendung der ›Wir‹-Form spricht er für eine ›Generation junger Intellektueller‹, womit er seine Generation offensichtlich auf das elitäre studentische Umfeld des SDS beschränkt. Die Schuld an der angeblich irreparablen Zerstörung von Menschlichkeit weist er im Speziellen den Vätern zu. Wenn Nitsch von Vätern spricht, so meint er nicht nur die im unmittelbaren sozialen Umfeld anwesenden leiblichen Väter, sondern eine Generation von Männern, die für die kriegerischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts verantwortlich gewesen ist. Er beschränkt sich in seiner Anklage nicht auf die Vätergeneration seines eigenen Landes, sondern bezieht sich auch auf die der Sowjetunion und der USA. Dass Nitsch ausschließlich die ›Väter‹ für inhumane, militärische Gewaltverbrechen verantwortlich macht, erklärt sich darin, dass Krieg, Militär und Waffentechnik im kollektiven Bewusstsein bis heute als originär männliche Terrains und Lebensbereiche begriffen werden.8 Gerade zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges war die Vorherrschaft von Männern in den Positionen staatlicher Macht eklatant. Die Zentren ökonomi7 | NITSCH, Wolfgang: 20 Jahre Student/inn/enbewegung – kein Grund zum Feiern. Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe ›68-88: Revolution oder Resignation‹ der AntiRepressions-AG an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg am 21. November 1988, unter: http://www-a.ibit.uni-oldenburg.de/bisdoc_redirect/publikationen/bisverlag/uni reden/ur32/kap1.pdf (abgerufen am 20. Juni 2012). 8 | Vgl. MARTSCHUKAT/STIEGLITZ, Geschichte der Männlichkeiten, S. 123.

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scher und militärischer Entscheidungsfindung moderner Staaten lagen unübersehbar in männlicher Hand.9 Tilmann Fichter, der sich ebenfalls als führendes Mitglied des SDS an der antiautoritären Revolte von ›1968‹ beteiligte, bekräftigt Nitsch’ Zuweisung einer einseitigen männlichen Schuld der Väter. Selbst zwanzig Jahre nach dem Höhepunkt der 68er-Bewegung, bringt er seinen tiefen Widerwillen gegen die Vätergeneration noch mit unverminderter Schärfe zum Ausdruck: »Wir haben gegen unsere Väter geputscht, die bis heute nicht einsehen, welche Verantwortung sie tragen für den Mord an sechs Millionen Juden. Und ich bin nach wie vor der Meinung, wir mußten scheitern und wir mußten putschen.«10 In diesem Statement zu seiner persönlichen Bilanz der Studentenbewegung macht Fichter unmissverständlich klar, gegen wen sich die Rebellion von ›1968‹ richtete, und wer seiner Meinung nach verantwortlich war für ›den Mord an sechs Millionen Juden‹: die Väter. Zugleich verteidigt er aus der Retrospektive erneut die moralische Notwendigkeit und Richtigkeit der Rebellion der Söhne gegen ihre unverantwortlichen, unverbesserlichen Väter. Sowohl Nitsch als auch Fichter nehmen in ihren Anklagen sämtliche deutschen Männer, beziehungsweise Väter in Sippenhaft, und ignorieren dabei die Existenz von Oppositionellen und aktiven Gegnern des NS-Systems innerhalb der Vätergeneration. In geschlechterstereotyper Weise schließen auch beide in ihren Schuldzuweisungen aus, dass Frauen, also Mütter, direkt an politischen und militärischen Verbrechen, beziehungsweise Kriegshandlungen beteiligt waren. Dies ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass die Täterrolle von Frauen im Nationalsozialismus bis in die 1990er Jahre hinein keinen Gegenstand (populär-)wissenschaftlicher Diskussionen darstellte.11 9  |  Vgl. CONNELL, Raewyn: Men, Gender and the State. In: Søren Ervø/Thomas Johansson (Hg.): Among Men: Moulding Masculinities, Bd. 1, Aldershot 2003, S. 15-28, hier S. 15f. 10 | Tilman Fichter, in: MÜNDEMANN, Tobias: Die 68er…und was aus ihnen geworden ist, München 1988, S. 205. 11 | Frauen wurden von der Geschichtswissenschaft lange primär als Opfer der frauenfeindlichen Geschlechterpolitik des patriarchal und männerbündisch strukturierten nationalsozialistischen Systems betrachtet. Im Zentrum des Forschungsinteresses stand das reaktionäre nationalsozialistische Frauenleitbild, in dem die Unterlegenheit des weiblichen Geschlechts biologistisch und naturalistisch begründet wurde. Die geschichtswissenschaftliche Frauenforschung entwickelte in den 1980er Jahren das Konzept der ›Mittäterinnenschaft‹, welches davon ausging, dass Frauen sich nur indirekt über ihre unterstützende Rolle als treue, aufopferungsbereite Ehefrau eines Täters mitschuldig machten. Seit den 1990er Jahren wendete sich die feministische Geschichtswissenschaft von ihrem apologetischen Gestus ab und untersuchte die aktive Täterinnenrolle von Frauen. Mittlerweile existieren unter anderem Studien zur Täterschaft von Frauen als Aufseherinnen in Konzentrationslagern oder von Frauen, die als Ärztinnen, Krankenschwestern, Sozialarbeiterinnen, Lehrerinnen und Erzieherinnen maßgeblich an der Umsetzung der menschenfeindlichen nationalsozialistischen Sozial- und Gesundheitspolitik beteiligt waren.

5. Generationenkonflikte

Die Söhne der 68er-Generation stellten ihre Mütter generell nicht ins Zentrum ihrer emotionalen Anklage, wie auch die lebensgeschichtliche Erinnerung Matthias Kleijs, eines führenden Mitglieds des Sozialistischen Schülerbundes Bremen, untermauert: »Die Moral meiner Eltern, mit der konnte ich nicht leben, weil die für meinen Geschmack zutiefst bigott oder verlogen […] war. Mit der Moral meiner Mutter konnte ich noch eher leben, die war ja nicht unmittelbare Kriegsteilnehmerin […].«12 Während Kleij die defizitäre moralische Integrität seines Vaters unerbittlich an den Pranger stellt, zeigt er für seine Mutter größeres Verständnis. Indem er ihre unmittelbare Mitwirkung am Kriegsgeschehen ausschließen kann, verdrängt er automatisch auch ihre potentielle Befürwortung oder Unterstützung des nationalsozialistischen Systems. Der 68er-Aktivist Gernot Folkers beschreibt den Generationenkonflikt der 1960er Jahre ebenfalls als familiäre Auseinandersetzung, von denen die Mütter ausgenommen wurden, wenn er behauptet: »Wir waren die Kinder der Täter-Väter« und haben »uns, als wir die Augen öffnen konnten, von diesen Vätern distanziert […]. (Die Mütter lasse ich hier aus, weil eben doch vorwiegend die Väter als Täter in Frage kamen.)«13 Folkers entfernte sich demnach emotional nur von seinem Vater und nicht von seiner Mutter, weil diese in seinen Augen als NS-Täterin nicht in Frage kam. Im Zweiten Weltkrieg wurde gemäß der Sozialwissenschaftlerin Ulla Roberts, die zur intergenerativen Wirkung der NS-Geschichte forscht, »die fernere, weniger erfahrbare Welt draußen, zu der auch die Schlachtfelder mit ihren Gefahren […] gehörten, […] in der Vorstellungswelt der Kinder natürlich von den Vätern repräsentiert.«14 Dementsprechend verloren in der Nachkriegszeit deutsche Väter in den Augen ihrer Kinder auch merklich an Ansehen: Schließlich hatten sie den Krieg angezettelt, hatten unvorstellbare Gräueltaten begangen und waren aus dem Krieg als Verlierer heimgekehrt. Auf diese Weise lässt sich erklären, warum die nachge-

Siehe: REESE, Dagmar/SACHSE, Carola: Frauenforschung zum Nationalsozialismus. Eine Bilanz. In: Lerke Gravenhorst/Carmen Tatschmurat (Hg.): Töchter-Fragen. NS-Frauengeschichte (Forum Frauenforschung, Bd. 5), Freiburg 1990, S. 73-106; EBBINGHAUS, Angelika (Hg.): Opfer und Täterinnen. Frauenbiographien des Nationalsozialismus, Nördlingen 1987; HERKOMMER, Christina: Frauen im Nationalsozialismus – Opfer oder Täterinnen? Eine Kontroverse der Frauenforschung im Spiegel feministischer Theoriebildung und der allgemeinen historischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, München 2005; KOMPISCH, Kathrin: Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus, Köln/Böhlau 2008. 12  |  Matthias Kleij, in: HANNOVER/SCHNIBBEN, I can’t get no, S. 65. 13 | FOLKERS, Gernot: Die Studentenbewegung und die Gewalt. Eine kritische Selbstreflexion. In: Tobias Schaffrik/Sebastian Wienges (Hg.): 68er Spätlese – Was bleibt von 1968? (Villigst Profile, Bd. 10), Berlin 2008, S. 19-28, hier S. 25f. 14  |  ROBERTS, Ulla: Starke Mütter – ferne Väter. In: Hartmut Radebold/Werner Bohleber/ Jürgen Zinnecker (Hg.): Transgenerationelle Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten, 2. Aufl., Weinheim/München 2009, S. 165-174, hier S. 167.

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borene Generation ihre Mütter mit Schuldzuweisungen verschonte und ihre von Misstrauen und Empörung geleiteten Anklagen ganz auf die Väter richtete.

5.2 S chweigen In autobiografischen Werken männlicher Vertreter der Protestbewegung stellt das Misstrauensverhältnis zwischen Vätern und Söhnen ein konstantes Thema dar.15 Als immer wiederkehrendes Motiv in der Beschreibung der gespannten Vater-Sohn-Beziehung lässt sich das beharrliche Schweigen des Vaters über seine persönliche Rolle im NS-System ausmachen. Cordt Schnibben, der seinen Weg in die APO über die Bremer Schülerbewegung fand, beschreibt das Verhältnis zu seinem Vater als konflikthaft und disharmonisch: »Zu Hause brannte jeden Mittag die Küche: ich versuchte, die neuesten Wahrheiten von Marx weiterzugeben, mein Vater warnte vorm Weltjudentum und erfreute uns mit Judenwitzen. Er war Nazi geblieben; in der Nachkriegszeit hatte man ihm den Prozess gemacht, er wich aus, wenn ich wissen wollte, weshalb. Erst vor einigen Jahren, als wir seine Wohnung ausräumten, erfuhr ich, dass er drei Jahre lang im Zuchthaus gesessen hatte, weil er in den letzten Kriegswochen an der Exekution eines Deserteurs beteiligt war.«16

Diese Schilderung Schnibbens spricht zunächst von einem Aufeinanderstoßen zweier grundverschiedener Weltbilder und ideologischer Überzeugungen. Während der Sohn sich begeistert zeigte von der zeitgenössischen »Renaissance des unorthodoxen Marxismus«17, verharrte der Vater in antisemitischen Denktraditionen des Nationalsozialismus. Dem lebensgeschichtlichen Bericht zufolge war Schnibbens Vater außer Stande, seine Schuld einzugestehen und somit Schwäche und Versagen einzuräumen. Er verbarg sein Seelenleben vor dem Sohn und nahm seine Schuld sozusagen mit ins Grab. Um sich nicht rechtfertigen zu müssen, schwieg er und verweigerte sich jeglicher Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Dem Männlichkeitsideal der Kriegsgeneration widersprach es grundlegend, innere Beweggründe und Gefühle offenzulegen. Klage, Trauer und Schmerz galt es für sich zu behalten. Die soldatisch-militaristische Sozialisation der Vätergeneration lehrte Männer, sich psychisch und physisch stets mit unerschütterlicher Willenskraft und Härte zu kontrollieren. »Der zentrale Begriff 15 | Da es vergleichsweise nur wenige autobiografische Zeugnisse von ›68erinnen‹ gibt, ist über deren Verhältnis zu ihren Eltern auch weit weniger bekannt. Der Historiker und ehemalige ›68er‹ Götz Aly geht davon aus, dass die Auseinandersetzungen zwischen Söhnen und Vätern härter verliefen und die Konflikte zwischen Töchtern und Müttern stiller, aber nicht weniger belastend ausfielen. Vgl. ALY, Unser Kampf, S. 202. 16 | SCHNIBBEN, Das große Sackhüpfen, S. 174. 17 | JARAUSCH, Die Umkehr, S. 214.

5. Generationenkonflikte

dafür hieß Manneszucht, die Fertigkeit, Nerven und Muskeln willensmäßig zu beherrschen […]«18, resümiert der Historiker und Männerforscher Ernst Hanisch über die Selbstdisziplinierung soldatischer Männlichkeiten als Voraussetzung zur modernen Kriegsführung. Diese militärische Durchhaltemoral und Disziplin wurde in der Nachkriegszeit von den »Vätern schnurstracks in die Arbeitsmoral des Wirtschaftswunders verwandelt […]«.19 Für die Aufarbeitung von Kriegserlebnissen blieb also keine Zeit. Die Sprachlosigkeit der Väter sollte schmerzvolle und schamhafte Erfahrungen ungeschehen machen. Die populärste zeitgenössische Abhandlung über den kollektiven psychischen Zustand der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft stammte von Margarethe und Alexander Mitscherlich und trug den vielsagenden Titel Die Unfähigkeit zu trauern.20 Die These der beiden Psychoanalytiker lautete, dass die Deutschen sich während der NS-Zeit hochgradig mit Adolf Hitler identifiziert hätten, nach dem Ende des Krieges aber nicht fähig gewesen wären, um ihn zu trauern und deshalb diesen Teil ihrer Vergangenheit derealisieren würden.21 Eisernes Schweigen war auch die Reaktion Alfred Dutschkes, dem Vater der APO-Ikone Rudi Dutschke, bezüglich seiner Vergangenheit als Wehrmachts-Soldat. Gretchen Dutschke-Klotz erinnert sich folgendermaßen daran: »Daß man für Deutschland und seinen Führer kämpfen mußte, war für Alfred Dutschke keine Frage. Er hatte sich freiwillig zur deutschen Wehrmacht gemeldet. […] Ob Alfred die aufgepeitschte Begeisterung über den Krieg geteilt hatte, ist nicht sicher. Im nachhinein war er nicht bereit, es zuzugeben. Er verhielt sich nicht anders als Millionen von Deutschen, die nach dem Ende des Gemetzels vergaßen, was sie zuvor getan hatten. Es gab keine Fragen, und es gab keine Antworten. Alfred Dutschke erzählte auch keine Kriegserlebnisse.« 22

Indem Alfred Dutschke die nationalsozialistische Episode seines Lebenslaufs durch sein Schweigen tabuisierte, machte er sich für die nachgeborene 68er-Generation verdächtig, an einem ›Gemetzel‹ teilgenommen zu haben. Seine Sprachlosigkeit vermittelte den Eindruck, als wolle er diese unbequeme Wahrheit nach Kriegsende leichthin ›vergessen‹. Dutschke-Klotz kategorisiert und verallgemei18 | HANISCH, Ernst: Männlichkeiten. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts, Wien/Köln/Weimar 2005, S. 17f. 19 | THOMÄ, Dieter: Väter. Eine moderne Heldengeschichte, München 2008, S. 254. 20 | Siehe: MITSCHERLICH Alexander/MITSCHERLICH Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967. 21  |  Vgl. JUREIT, Ulrike: Geliehene Väter. Alexander Mitscherlich und das Bedürfnis nach generationeller Selbstverortung im 20. Jahrhundert. In: Tobias Freimüller (Hg.): Psychoanalyse und Protest, Alexander Mitscherlich und die ›Achtundsechziger‹ (Vorträge und Kolloquien, Bd. 4), Göttingen 2008, S. 158-176, hier S. 171. 22 | DUTSCHKE-KLOTZ, Gretchen: Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben. Rudi Dutschke. Eine Biographie von Gretchen Dutschke-Klotz, Köln 1996, S. 18f.

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nert in ihrem autobiografischen Bericht das Verhalten ihres Schwiegervaters als paradigmatisch für eine ganze Generation von deutschen Männern. Der Männerforscher Lothar Böhnisch beschreibt mit den Prinzipien ›Externalisierung‹, ›Stummheit‹ und ›Kontrolle‹ historisch und soziokulturell gewachsene Grundmuster männlicher Sozialisation und Lebensbewältigung, die es Männern erschweren, ›negative‹ Gefühle wie Angst, Scham und Trauer zu artikulieren. Demnach dienen das Unterdrücken und Verbergen der eigenen Emotionalität, die traditionell als unmännliche Schwäche diffamiert wird, zur Aufrechterhaltung des rationalistischen und kontrollierten männlichen Macht- und Herrschaftssystems.23 Offenbar wollten die Männer der Generation Alfred Dutschkes, die als Verlierer aus dem Zweiten Weltkrieg in ein zerstörtes Deutschland heimkehrten, ihre familiäre Position durch das Eingestehen einer Beteiligung an nationalsozialistischen Verbrechen nicht noch weiter schwächen. Durch jahrelange Absenz sahen viele Männer ihre Autorität als Familienernährer und -oberhäupter bedroht. Der militärischen Niederlage folgte die absolute Diskreditierung des politischen Systems in Deutschland, welche fast immer auch mit einer persönlichen Deklassierung der Kriegsheimkehrer verbunden war. Nicht wenige Soldaten kehrten arbeitsunfähig und psychisch wie körperlich verletzt nach Hause und bekamen vor Augen geführt, dass ihre Familie auch in ihrer Abwesenheit ohne ihre Hilfe und Arbeitskraft zurechtgekommen war. Ulrich Enzensberger, ein Bewohner der Kommune I, erklärt, dass es seine Generation kennzeichnete, »daß die Väter, wenn überhaupt, als Verlierer heimkehrten. Sie fehlten in den ersten Jahren, wenn sie dann ihren Platz in der Familie wiedereinnahmen […] waren sie als Autoritäten fragwürdig geworden.«24 In den Kriegs- und Nachkriegsjahren verschob sich in den Familien die bisherige Kompetenzverteilung und die Hierarchie zwischen Familienangehörigen gerieten ins Wanken.25 Das Motiv des väterlichen Schweigens zieht sich auch durch die Erinnerung des Schüleraktivisten Matthias Kleij. Dieser schildert wie er in seiner Jugend unter dem Verbot litt, Fragen zur nationalsozialistischen Biografie seines Vaters als SS-Offizier zu stellen: »Für mich zu Hause war das ein entsetzliches Lebensgefühl, dieses ›Darüber wollen wir jetzt mal nicht mehr sprechen […].‹ Wir wussten ja gar nicht, was das gewesen ist. So ein paar kleine Geschichten, dass sie Hunger gelitten haben und so ein Zeug. Wie viele sie umgebracht haben, […] darüber ist ja nie gesprochen worden. Es hieß ja immer, das muss 23 | Vgl. BÖHNISCH, Lothar: Bewältigungsprobleme männlicher Geschlechtsidentität im Lebenslauf, Weinheim/München 1993, S. 129ff.; Vgl. Ders.: Die Entgrenzung der Männlichkeit. Verstörungen und Formierungen des Mannseins im gesellschaftlichen Übergang, Opladen 2003, S. 158ff. 24 | ENZENSBERGER, Die Jahre der Kommune I, S. 100. 25 | Vgl. GOLTERMANN, Svenja: Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München 2011, S. 134.

5. Generationenkonflikte auch mal jetzt vorbei sein, und das fand ich widerlich, dass über etwas nicht mehr geredet werden durfte, von dem ich eigentlich nichts wusste […]. Das hat mich wahnsinnig mitgenommen […].« 26

In diesem autobiografischen Narrativ kollidiert das Bedürfnis des Vaters, einen Schlussstrich unter seine NS-Vergangenheit zu ziehen, mit dem jugendlichen Wissensdurst des Sohnes. Auf die geheimnisumwobene Atmosphäre von Verschweigen und Verdrängen, die in seiner Familie vorherrschte, reagierte Kleij mit Unverständnis und Abscheu. Die Neugierde des Sohnes machte auch vor der (letztendlich ungestellten) Frage keinen Halt, wie viele Menschen sein Vater und seine SS-Kameraden im Krieg wohl getötet hatten. Kleij zeigte keinerlei Verständnis für das Vermeiden und Verleugnen dieses Themas durch seinen möglicherweise von Kriegserlebnissen traumatisierten Vater.27 Das Konzept des psychischen Traumas, das in den letzten beiden Jahrzehnten in der gesamten westlichen Welt zu einem zentralen Schlüsselbegriff mit inflationärem Gebrauch geworden ist, war nach dem Zweiten Weltkrieg als Deutungskategorie noch weitestgehend unbekannt.28 Es empörte und verletzte den Sohn, dass er bewusst von elterlicher Seite im Ungewissen gelassen wurde. »Wenn Eltern nicht über das sprechen, was in ihrem Leben wichtig war […], entsteht eine emotionale Kälte und Distanz, eine Gefühlsmauer. Dies ist eine der tragischen Erfahrungen, welche die Kinder von Tätern […] des Nationalsozialismus in Deutschland anscheinend teilten«29, weiß die Historikerin Katherine Biesecke zu berichten. Für einen überwiegend in Wohlstand und Frieden aufgewachsenen Protagonisten der 68er-Generation lag es außerhalb des Vorstellbaren, im Krieg das Tötungstabu überwinden zu müssen. Wegen der Fremdheit der Kriegssituation für einen Nachgeborenen wie Kleij interessierten diesen die inneren Beweggründe für das Handeln seines Vaters in der Zeit des Nationalsozialismus wohl umso mehr. Möglicherweise lässt sich das mangelnde Verständnis und Einfühlungsvermögen der anklagenden Protestaktivisten ihren Vätern gegenüber auch mit gravierenden Mentalitätsunterschieden der beiden Generationen erklären, die auf einen vollkommen unterschiedlichen Erlebnisstand zurückzuführen sind. Anders als ihre Väter erlebten sie nie oder nur in sehr jungen Kindesjahren eine leidvolle Welt, geprägt von Krieg, Zerstö26  |  Matthias Kleij, in: HANNOVER/SCHNIBBEN: I can’t get no, S. 58. 27 | Verschweigen, verleugnen und verdrängen können als Symptome eines Traumas, wie etwa der Erfahrung extremer Gewalt im Krieg, gedeutet werden. Als Trauma lässt sich ein mit Leid und Schmerz verbundenes, überwältigendes und bedrohliches Ereignis, dem man ohnmächtig ausgeliefert ist, definieren. Vgl. MÜLLER-HOHAGEN, Jürgen: Verleugnet, verdrängt, verschwiegen – Die seelischen Auswirkungen der Nazizeit, München 2005, S. 176ff. 28 | Vgl. GOLTERMANN, Die Gesellschaft der Überlebenden, S. 18. 29 | BIESECKE, Katherine: Der Lebensborn. Frauen zwischen Mythos und Macht, Norderstedt 2009, S. 157.

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rung und ideologischem Fanatismus, sowie den politischen und sozialen Zusammenbruch Deutschlands und die Trümmer- und Hungerwelt der Nachkriegszeit.30 Ein maßgeblicher Grund für das Misstrauensverhältnis zwischen Aktivisten der 68er-Bewegung und ihrer Vätergeneration scheint in der fehlgeschlagenen Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern gelegen zu haben, wie auch der ehemalige Kommunarde Rainer Langhans in seinen Memoiren bestätigt: »Auch ich habe es nicht geschafft, mit meinem Vater wirklich darüber zu reden. Ich habe hier und da mal nachgefragt und gleich gesehen, dass ich keine richtigen Antworten bekam. Er war ein Mitläufer und hielt Hitler für einen primitiven Schreihals. Doch obwohl er sich immer als unpolitisch betrachtete, wurde er Mitglied der NSDAP. Er sagte, das sei nötig gewesen, wenn man keine Schwierigkeiten bekommen wollte.« 31

Gerade die Widersprüchlichkeit des geringen Wissens, das Langhans über das Leben seines Vaters während des NS-Regimes besaß, verleitete ihn zu dem generationstypischen Misstrauen der antiautoritären Revolteure. Eine plausible Einschätzung, ob die Parteimitgliedschaft wirklich nötig war, um sich vor dem denunziatorischen und unterdrückerischen NS-System zu schützen, oder ob der Vater nicht doch die ideologischen und politischen Ziele der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) unterstützte und dies nur aus Scham und zum Selbstschutz verleugnete, schien für Langhans seinerzeit unmöglich.32

5.3 S cham Rekapituliert man, wie sehr sich viele Vertreter der Protestbewegung an der konsequenten Sprachlosigkeit ihrer Väter störten, so überraschen retrospektive Bekenntnisse von männlichen ›68ern‹, die sich selbst nicht trauten, den eigenen Vater ganz konkret auf sein Vorleben anzusprechen. Der von Scham und verdrängter Schuld geprägte Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit scheint zum Teil von der älteren auf die jüngere Generation übertragen worden zu sein. Michael Schneider etwa wundert sich im Nachhinein, dass kaum ein Vertreter seiner Generation »sich je ernsthaft die Frage stellt, warum er selber 30 | Vgl. BAVAJ, ›68er‹ versus ›45er‹, S. 60. 31 | LANGHANS, Ich bin’s, S. 49. 32 | Nach der Selbstauflösung, beziehungsweise des Verbots aller anderen Parteien im Juli 1933 war die NSDAP die einzige Partei in Deutschland. Es bestand kein offizieller, rechtlicher Beitrittszwang, wenn zum Teil auch massiver Druck zum Beitritt ausgeübt wurde. Durch zeitweilige Mitgliedersperren versuchte man den Elitecharakter der Partei zu betonen und Zögernde zum Beitritt zu bewegen. Häufig stellten die Sorge um die berufliche Existenz und das Wohlergehen von Angehörigen Beitrittsgründe dar.

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zum Schweigen des Vaters so lange geschwiegen hat.«33 Im Rahmen einer Diskussionsrunde im Jahr 2007 räumt auch Cordt Schnibben sein eigenes Unvermögen zur offenen Auseinandersetzung mit seinem Vater ein: »Mein Vater war auch Nazi. Im Nachhinein muss ich sagen, dass ich den Mut nicht hatte, ihn persönlich zu konfrontieren. Ich habe abstrakt in der Schule oder zu Hause über die Nazizeit geredet, aber ihn nicht konfrontiert.«34 Während dem Aktivisten der Schülerbewegung eine rigorose Anklage der ›Nazigeneration‹ auf allgemeiner, unpersönlicher Ebene leicht über die Lippen ging, schien es für ihn im familiären Bereich mit unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden gewesen zu sein, dem eigenen Vater mit seinen Verdächtigungen und Vorwürfen zu begegnen. In ähnlicher Weise beschreibt Peter Schneider, dass aus seiner Erfahrung viele Protestierende der Mut zur forschen Anklage verließ, wenn es um die Auseinandersetzung der NS-Vergangenheit in der eigenen Familie ging: »Trotz oder wegen ihres mangelhaften Wissens war den 68ern im Prinzip jeder, der in Amt und Würden war, ja eigentlich jeder über vierzig verdächtig und der stummen Frage ausgesetzt: Was hast du damals gemacht? […] Zugegeben, man stellte diese Frage lieber Passanten, die die Demonstranten ins ›Lager‹ oder ins ›Gas‹ schicken wollten, als den eigenen Eltern – wir schonten unsere Eltern, um uns selbst zu schonen.« 35

Offensichtlich traten Verdrängungsmechanismen in der Aufarbeitung der NSVergangenheit auf familiärer Ebene nicht nur auf Seiten der belasteten Kriegsgeneration zu Tage, sondern auch auf Seiten der 68er-Generation. So waren auch Aktivisten der antiautoritären Bewegung nicht immer dazu bereit, die ganze Wahrheit über die ältere Generation zu erfahren, wenn es sich dabei um die eigenen Eltern handelte. Die nationalsozialistische Kollektivschuld der Nachkriegsgesellschaft eignete sich zwar als emotionaler Antriebsgrund zur Rebellion, weil die Problematik von einem übergeordneten politischen Kontext auf jedermanns Familienverhältnisse zu übertragen war, erhielt jedoch genau dadurch eine ganz andere Dimension der persönlichen Betroffenheit. Olav Münzberg, ein weiterer Anhänger der Neuen Linken räumt ein, dass viele Nachkommen der Tätergeneration nicht damit zurechtkamen, das Trauma ihrer Eltern zu verarbeiten: »Schon das Kommunikationsdefizit nagte an ihnen, erst recht das teilweise ihren Eltern entrissene Geheimnis.«36 Die schreckliche Gewissheit, dass die Eltern sich nationalsozialistischer Verbrechen schuldig gemacht hatten, wog für viele Protagonisten der 68er-Generation letztendlich doch noch schwerer als das beharrliche innerfamiliäre Schweigen. So kam es, dass die Protagonisten der Protestbewegung 33 | SCHNEIDER, Den Kopf verkehrt aufgesetzt, S. 10. 34  |  Cordt Schnibben, in: HANNOVER/SCHNIBBEN: I can’t get no, S. 59. 35 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 126. 36 | MÜNZBERG, Olav: Wovon berührt? Vom jüdischen Trauma? Von den Traumata der Eltern? In: Ästhetik & Kommunikation 14 (1983), Heft 51, S. 24-26, hier S. 26.

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aus Gründen eines »elementaren psychischen Eigeninteresses«37 zuweilen gar nicht wissen wollten, inwieweit die eigenen Väter sich tatsächlich an NS-Verbrechen beteiligt hatten. Im Umgang mit der Schuld ihrer Elterngeneration entwickelten Vertreter der 68er-Bewegung des Weiteren emotionale Abwehrstrategien, die von der Suche nach Ersatzvorbildern bis hin zur Verleugnung der eigenen Eltern reichten. Bei Cordt Schnibben ging das Bedürfnis, sich von der nationalsozialistisch belasteten Generation loszusagen, so weit, dass er als Jugendlicher bewusst nach positiven ›Gegenentwürfen‹ zu seinen Eltern suchte: »Da […] gab es diese überzeugenden Menschen, die waren ja Gegenentwürfe von unseren Eltern. Widerstandskämpfer vor allem, das waren ja Figuren, über die man dachte: Wow […] die haben sich anders verhalten in der Nazizeit als unsere Eltern, das fand man großartig […]. Das waren ja keine Idioten und keine Monster. […] Für mich waren diese Leute Ersatzeltern.« 38

Weil er sich für die unrühmliche Vergangenheit seiner Eltern schämte, zog Schnibben fremde Erwachsene, die im Nationalsozialismus Widerstand geleistet hatten, diesen vor und betrachtete sie sogar als seine ›Ersatzeltern‹. Während er seine Eltern indirekt als ›Idioten‹ und ›Monster‹ diffamiert, bezeichnet er die Widerstandskämpfer in einem schwärmerischen und bewundernden Gestus als ›großartig‹. In der Aussage des ehemaligen Schüleraktivisten wird eine maximale moralische und emotionale Abwertung seiner Eltern manifest. Schenkt man einer lebensgeschichtlichen Anekdote, erzählt von Gretchen Dutschke-Klotz, Glauben, so flüchtete sich ihr Ehemann Rudi Dutschke in seiner Kindheit in die Fantasie, er sei ein jüdisches Kind, das sich auf der Flucht vor dem NS-System befinde: »Wie viele andere, die nicht ganz verdrängen konnten, hatte Rudi Schwierigkeiten mit seiner Identität als Deutscher. […] Die Schande war unermeßlich groß. Um sich davon distanzieren zu können, bildete er sich ein, daß er ein Jude sei, den die Dutschkes bei sich versteckt hätten. Diese Einbildung stützte er auf die Tatsache, dass er beschnitten war.« 39

Demzufolge imaginierte der spätere Wortführer der antiautoritären Bewegung, dass er kein leibliches Kind seiner Eltern sei, um sich von deren mit Schuld beladenen Geschichte loszusagen. Stattdessen schrieb er sich eine jüdische Identität zu, was er auf die Tatsache seiner Beschneidung stützte, einem jüdischen Ritus, in Folge dessen jüdische Jungen in die Religionsmündigkeit eintreten. In seiner kindlichen Vorstellungswelt zog Dutschke es angeblich vor dem jüdischen 37 | SCHNEIDER, Den Kopf verkehrt aufgesetzt, S. 11. 38  |  Cordt Schnibben, in: HANNOVER/SCHNIBBEN: I can’t get no, S. 144. 39 | DUTSCHKE-KLOTZ: Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben, S. 21.

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›Opfervolk‹ anzugehören, um vom nationalsozialistischen ›Tätervolk‹ Abstand zu nehmen. Aus der kindlichen Verleugnung der leiblichen Eltern spricht der Wunsch nach Distanz und Abgrenzung. Das übliche emotionale Bedürfnis von Kindern nach familiärer Zusammengehörigkeit und Nähe schien bei Dutschke bereits im Kindesalter durch ein Gefühl der Scham gestört gewesen zu sein, was die NS-Vergangenheit der Eltern betraf. Offenbar fühlte er sich bereits als Kind dazu genötigt, »stellvertretend die ausgeschlagene Schuld und die mit ihr verknüpften Emotionen zu übernehmen.«40 Ob sich die Kindheitserinnerung Rudi Dutschkes, wie seine Ehefrau Gretchen sie wiedergibt, tatsächlich ereignet hat, oder ob es sich dabei um eine nachträglich konstruierte Geschichte handelt, um das zeitgenössische Schamgefühl der ›68er‹ ihrem Herkunftsland gegenüber zu illustrieren, ist nicht zu überprüfen. Eine tiefsitzende Scham gegenüber den eigenen Eltern und der damit einhergehende Wunsch, sich von diesem schuldbeladenen Ursprung abzukoppeln, ist als grundlegende emotionale Disposition der Protestierenden von ›1968‹ auszumachen.41 In der Studentenbewegung waren die Identifikation mit den Opfern des NS-Systems und der Vergleich der eigenen Situation mit der Judenverfolgung im Nationalsozialismus durchaus keine Seltenheit. Auf einem Flugblatt des SDS Berlin aus dem Jahr 1968 heißt es beispielsweise: »Julius Streicher hetzte in seiner Zeitung ›Der Stürmer‹ zum Judenmord. Er wurde dafür zum Tode verurteilt. Axel C. Springer hetzt zum Studentenmord. Er wurde bisher nicht verurteilt und hetzt und hetzt und hetzt…«42 Die Verfasser dieses Flugblattes setzen darin die antisemitische Verleumdung, Bedrohung und Beleidigung jüdischer Bürger durch die im Nationalsozialismus populäre Wochenzeitung Der Stürmer mit den Presseerzeugnissen des antikommunistischen, konservativ-nationalen und studentenkritischen Springer-Verlages gleich. In einem weiteren zeitgenössischen Flugblatt des SDS ist zu lesen: »In Berlin ist tausendfach der Ruf erschollen: wenn die Studenten nicht ruhig sein wollen, dann werft sie über die Mauer. Sie sind zu den ›Juden‹ des Antikommunismus geworden.«43 Auch hier erklärten sich die SDS-Mitglieder zu verspäteten Opfern des Nationalsozialismus mit dem Zweck, sich von den eigenen Schuld- und Schamgefühlen loszulösen, die sie aufgrund 40 | SCHNEIDER, Christian: Der Holocaust als Generationsobjekt. Generationengeschichtliche Anmerkungen zu einer deutschen Identitätsproblematik. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, 13 (2004), Heft 4, S. 56-73, hier S. 68. 41 | Vgl. SCHNEIDER, Der Holocaust als Generationsobjekt, S. 68; Vgl. JUREIT, Geliehene Väter, S. 173; Vgl. KIESSLING, Die antiautoritäre Revolte der 68er, S. 275. 42 | Flugblatt, Mörder?, Mai 1968. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 1384 (FU Flugblätter, Notstandsgesetzgebung, Institutsbesetzungen, Mai 1968). 43 | Flugblatt, SDS Frankfurt: Niederlage oder Erfolg der Protestaktion. Erklärung des SDS. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, AStA der FU, Flugblätter, getrennt nach Asta-Referaten, 1968-1969.

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der verbrecherischen deutschen Vergangenheit und ihrer eigenen Rolle als biologische Nachkommenschaft der ›Tätergeneration‹ verspürten.

5.4 Par anoia Die gesellschaftliche Tendenz der 1950er und zum Teil auch noch der 1960er Jahre, die Grauen des Nationalsozialismus zu verdrängen und die eigene Verantwortung vergessen zu machen,44 löste bei Mitgliedern der 68er-Bewegung Gefühle des Argwohns aus, die manches Mal paranoide Züge annehmen konnten. Wie Rainer Langhans in seinen autobiografischen Erinnerungen hervorhebt, verunsicherte und beunruhigte die defizitäre öffentliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit kombiniert mit der in vielen Familien praktizierten Geheimnistuerei die Nachgeborenen: »Wir waren ja noch ganz nah dran. Viele Nazis saßen in der Regierung. In der Verwaltung. Man wusste, sie waren noch überall. Wir fühlten uns umgeben von Nazis. Es waren unsere Eltern, unsere Lehrer, unsere Vorgesetzten, unsere Nachbarn. Sie waren: jedermann. Jedermann, der etwas älter war als wir. Deshalb der Spruch: Trau keinem über dreißig. Für uns war das ein existentielles Problem.« 45

Der frühere Bewohner der Kommune I beschreibt das unbehagliche Lebensgefühl seiner Generation, in allen Bereichen des sozialen Umfelds unbescholten weiterlebende ehemalige Nationalsozialisten befürchten zu müssen – sei es im staatlichen System der Bundesrepublik, in der Familie, der Schule oder der Arbeit. Das angstvolle Gefühl, nirgendwo vor Personen sicher zu sein, die sich unter Umständen NS-Verbrechen schuldig gemacht hatten, stellt er als eine schwerwiegende emotionale Belastung dar. Langhans’ Verdacht, hinter ›jedermann‹ könne sich ein ›Nazi‹ verstecken, erweckt den Eindruck, als habe er in den Jahren des Pro44 | In den Geschichtswissenschaften standen sich lange zwei konträre Deutungen gegenüber, was den Umgang der Bundesrepublik und ihrer Bürger mit dem Erbe des Nationalsozialismus in den 1950er und 1960er Jahren betrifft: Zum einem hielten zahlreiche Wissenschaftler, darunter auch viele, die der studentischen Protestbewegung nahe standen, die bundesdeutsche Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit für ein skandalträchtiges Konglomerat aus Verdrängen, Verschweigen und Verleugnen. Andere sprachen dem postdiktatorischen Westdeutschland höchstes Lob aus für ihre engagierte Aufarbeitung der schuldbehafteten Vergangenheit und ihre Bemühungen, Unrecht wieder gutzumachen. Die aktuelle Forschung geht davon aus, dass beide Thesen der historischen Wirklichkeit nicht gerecht werden. Zwischen den Polen der Verdrängung und Aufarbeitung existiert ein breites Spektrum an individuellen Verhaltensweisen und politischen Handlungen. Vgl. WOLFRUM, Die geglückte Demokratie, S. 170f. 45 | LANGHANS, Ich bin’s, S. 49.

5. Generationenkonflikte

tests unter Verfolgungswahn gelitten. Sein alltägliches Leben war offenbar von äußerstem Misstrauen geprägt, was dem Wesen eines Paranoikers gleichkommt. Dieser meint nämlich in einer Welt voller stets gegenwärtiger Gefahren zu leben und sieht sich im Mittelpunkt allen Übelwollens.46 Die beängstigende und verstörende Wahrnehmung der Allgegenwart von NSTätern in der Nachkriegszeit war auch dem APO-Aktivisten Matthias Sesselmann wohlbekannt: »Während meiner Kindheit hatte ich aufgrund von Erzählungen von Erwachsenen den Eindruck gewonnen, diese Zeiten seien schon urlange her. Nun merkte ich, daß diese schlimme Epoche zur unmittelbaren Vergangenheit meiner Generation gehörte. Ein furchtbares Erwachen überkam mich: ›Dieses Land, in dem du in deiner heilen Welt aufgewachsen bist, ist die Heimat von Mördern, Verrätern und Feiglingen. Und da die Mutigen und Aufrechten meist in den Konzentrationslagern umgekommen sind, ist der Anteil der Feiglinge allenfalls größer geworden und wir […] sind die Nachkommen dieser Feiglinge.‹« 47

Das von Sesselmann erdachte Schreckensszenario, die Bundesrepublik sei die ›Heimat von Mördern, Verrätern und Feiglingen‹, deren Anteil sich in der Bevölkerung der Nachkriegszeit durch den nationalsozialistischen Genozid an den ›Mutigen und Aufrechten‹ sogar noch erhöht habe, vermittelt aus heutiger Sicht ebenfalls den Eindruck einer übertrieben argwöhnischen, verzerrten Wahrnehmung der Realität. Als Angehöriger einer postkatastrophischen Generation befürchtete Sesselmann sogar selbst, die zerstörerische Komponente der vorhergehenden Generation geerbt zu haben. Wie viele seiner Zeitgenossen fühlte er sich durch das Leben inmitten potentieller NS-Verbrecher einer omnipräsenten, diffusen Bedrohung ausgesetzt. Des Weiteren bestätigt auch Olav Münzberg die kollektive Tendenz der ›68er‹ hinter den bürgerlichen Existenzen der Eltern nur das Schlimmste zu wähnen: »Unsere Generation konnte in jedem Angehörigen der älteren Generation erst einmal einen Totschläger oder Mörder, KZ-Wächter oder KZ-Schergen vermuten.«48 Die Psychologin Rotraut De Clerck, welche sich mit individueller und kollektiver Angst in politischen und historischen Zusammenhängen beschäftigt, weist jedoch darauf hin, dass die Einordnung, »ob das unverständliche oder gar bizarre Verhalten, [Denken und Fühlen] eines Menschen in einer historischen Situation paranoisch oder realitätsgerecht ist […]«49 mit Bedacht vorgenommen

46 | Vgl. ROBINS, Robert S./POST, Jerrold M.: Die Psychologie des Terrors. Vom Verschwörungsdenken zum politischen Wahn, München 2002, S. 23. 47 | SESSELMANN, Von der APO zum Opa, S. 44. 48 | MÜNZBERG, Wovon berührt, S. 26. 49  |  DE CLERCK, Rotraut: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Trauma und Paranoia. Individuelle und kollektive Angst im politischen Kontext, Gießen 2006, S. 7-12, hier S. 9.

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werden sollte. Über die historische Wandelbarkeit von Emotionen und deren Ausdruck fügt der Sozialpsychologe Christian Schneider hinzu: »Aus heutiger Sicht fällt es leicht, festzustellen, daß überall ein neues 1933 zu wittern eine grobe Verzeichnung der Situation war. Aber es war der Blick und das grundierende Gefühl jener Generation. […] Alles war faschistoid: Hinter jeder Ecke lauerte der neue Faschismus […].« 50

Der von Langhans, Sesselmann und Münzberg überspitzt formulierte Gefühlszustand eines paranoiden Misstrauens der ›68er‹ ihrer Elterngeneration gegenüber, lässt sich durch eine unübersehbare Persistenz nationalsozialistischer Eliten in Regierung und Öffentlichkeit der jungen Bundesrepublik erklären. Die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Entnazifizierungsmaßnahmen der Alliierten waren von geringer Konsequenz, Einheitlichkeit und Gründlichkeit bestimmt und sind rückblickend in mancher Hinsicht als Misserfolg zu verzeichnen. Was als massenhafte Bestrafungsaktion beginnen sollte, endete stattdessen als massenhafte Rehabilitierung. »Anfang der fünfziger Jahre ließen die Anstrengungen, Untaten aus der NS-Zeit strafrechtlich zu ahnden, rasch und drastisch nach«,51 so der Zeithistoriker Norbert Frei. Der ursprüngliche Plan der Alliierten, Politik, Wirtschaft, Rechtsprechung, Medien und Gesellschaft in Deutschland von allen NS-Einflüssen zu befreien, entwickelte sich in deutscher Hand zu einem schwerfälligen, hochgradig bürokratisierten Justizapparat, der häufig fragwürdige Urteile hervorbrachte: An der Tagesordnung waren verzögerte Ermittlungen, Verfahrenseinstellungen aufgrund von Verjährung oder vorzeitige Begnadigungen sowie Freilassungen von Kriegsverbrechern, die durch alliierte Militärgerichte verurteilt worden waren. Das Strafmaß fiel zudem meist mild aus. Nach dem ersten Straffreiheitsgesetz von 1949 folgte 1954 das zweite Amnestiegesetz, was dem allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Verlangen nach einem Schlussstrich entsprach und die Verfolgung ungesühnter NS-Verbrechen immer mehr zum Erliegen brachte. Seit dem Jahr 1949 wurden bereits keine neuen Verfahren mehr eingeleitet, während ein Großteil der laufenden Verfahren eingestellt wurde. Man gewährte häufig selbst Personen Amnestie, die zuvor als ›belastet‹ und ›hauptschuldig‹ eingestuft worden waren. Darüber hinaus führte die Wiederaufnahme von zunächst für schuldig befundenen und aus dem Dienst entlassenen Beamten schließlich zu einer hochgradigen personellen Kontinuität im Bereich des gesamten öffentlichen Lebens.52 In seiner autobiografischen Erinnerung an die Jahre des Protests empört sich der ehemalige Kommunarde Ulrich Enzensberger, dass sein Vater, der im 50 | SCHNEIDER, Der Holocaust als Generationsobjekt, S. 64. 51 | FREI, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NSVergangenheit, München 1996, S. 100. 52 | Vgl. FREI, Vergangenheitspolitik, S. 100ff.

5. Generationenkonflikte

Entnazifizierungsverfahren als ›Mitläufer‹ eingestuft wurde – wie fast alle früheren Reichsbeamten – in der jungen Bundesrepublik rasch seine alte Position, inklusive vollständiger Pension, wiedererlangte.53 »Mein Vater genauso wie der ›Blutrichter von Prag‹«54, resümiert der 68er-Aktivist über die für ihn beunruhigende, massenhafte Rehabilitation ehemaliger NS-Beamter, und stellt damit seinen Vater auf eine Ebene mit dem Staatsanwalt Hans Rudolf Rehder-Knöspel , der am Sondergericht Prag in hoher Zahl den Vollzug von Todesstrafen im Namen des NS-Regimes geleitet hat. Die erneute Verbeamtung von Personen mit NS-Vergangenheit geschah unter anderem aus einem Fachkräftemangel heraus. Der noch junge Staat benötigte Funktionsträger mit hohem Sachverstand für Industrie, Verwaltung, Kultur und Politik. Dem reibungslosen Funktionieren der öffentlichen Ämter wurde Priorität vor einer konsequenten Entnazifizierung eingeräumt.55 Diese deutlichen Mängel bei der Befreiung der deutschen Gesellschaft von NS-Einflüssen trägt zur Erklärung bei, wie bei Vertretern der 68er-Generation das ungewöhnlich starke Gefühl des Misstrauens der älteren Generation gegenüber entstehen konnte. Der Anspruch der Bundesrepublik, ein von der NSVergangenheit vollkommen losgelöster Staat mit einem konsolidierten demokratischen System zu sein, schien den ›68ern‹ hinter der Realität zurückzubleiben.56 Die Tatsache, dass in zahlreichen westdeutschen Institutionen hohe Ämter mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern bekleidet worden waren, schürte die untergründige Angst in der linken Protestszene, dass es sich bei der Bundesrepublik Deutschland um einen latent faschistischen Staat handeln und die Geschichte sich wiederholen könne. Die Empörung der Protestbewegung über den Machterhalt einer belasteten Führungselite, die offenkundig unwillig war, sich der Vergangenheit zu stellen, kommt in folgendem Flugblatt aus dem Jahr 1968 zum Ausdruck: »Organisieren wir den UNGEHORSAM gegen die Nazi-Generation. […] Unsere Geduld muß jetzt ein Ende haben: Machen wir Schluß damit, daß nazistische Rassenhetzer, daß die Juden-Mörder, die Slawen-Killer, die Sozialisten-Schlächter, daß die ganze Nazi-Scheiße von gestern weiterhin ihren Gestank über unsere Generation bringt. Holen wir nach, was 1945 versäumt wurde: Treiben wir die Nazi-Pest zur Stadt hinaus. […] Leisten wir Widerstand gegen ehemalige Nazi-Richter, Nazi-Staatsanwälte, Nazi-Gesetzgeber aller Coleur, Nazi-Polizisten, Nazi-Beamte, Nazi-Verfassungsschützer, Nazi-Lehrer, Nazi-Professoren, Nazi-Pfaffen, Nazi-Journalisten, Nazi-Propagandisten, Nazi-Bundeskanzler, und nicht zuletzt gegen Kriegsgewinnler, Nazi-Fabrikanten, Nazi-Finanziers. […] Mobilisieren wir die

53 | Vgl. ENZENSBERGER, Die Jahre der Kommune I, S. 11f. 54 | ENZENSBERGER, Die Jahre der Kommune I, S. 12. 55 | Vgl. HICKETHIER, Knut: Protestkultur und alternative Lebensformen. In: Werner Faulstich (Hg.): Die Kultur der 60er Jahre, München 2003, S. 11-30, hier S. 12. 56 | Vgl. HICKETHIER, Protestkultur und alternative Lebensformen, S. 12.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er permanente ANTI-NAZI-KAMPAGNE. Bereiten wir den AUFSTAND gegen die Nazi-Generation vor.« 57

Der zur bewussten Provokation mit Fäkalvokabular und zahlreichen Invektiven gespickte Text des Flugblattes klingt wie ein wütender und verärgerter Befreiungsschlag der Rebellen von ›1968‹ gegen die angeblich moralisch unbelehrbare, reuelose ›Nazi-Generation‹. Für die Verfasser des Aufrufs stand unumstößlich fest, dass NS-Täter im Justiz-, Bildungs- und Polizeiapparat, in Wirtschaft, Kirche und höchsten Politikkreisen bis hin zum Amt des Bundeskanzlers ungeschoren tätig sind, weshalb sie zu Ungehorsam, Widerstand und Aufstand gegen die ›Nazi-Generation‹ auffordern. Die ›68er‹ exekutierten den ›Vatermord‹ also nicht nur an ihren eigenen Vätern, sondern auch auf symbolischer Ebene an »institutionellen Insignien, an Attributen und Metaphern der väterlichen Macht«58, wie der Psychoanalytiker Wolfgang Leuschner anmerkt. Die geplanten Notstandsgesetze wurden von den Aktivisten der Protestbewegung als »Diktaturgesetze« oder »NS-Gesetze«59 verteufelt, von dem Verleger Axel Springer hieß es, er trage »die Uniform der Nazis«60, und vor bundesdeutschen Richtern wurde gewarnt, weil man befürchtete, »die Hakenkreuzrichter«61 würden erneut eine »braune Zukunft unter schwarzer Robe«62 bringen. Ihre Professoren beschuldigten Vertreter der studentischen Bewegung, sich im »Nazi-Regime […] hinter ihrem scheinmoralischen Künstlertum der Verantwortung zum Widerstand entzogen«63 zu haben, und hinter dem »Mordanschlag« auf den studentischen Wortführer Rudi Dutschke – so waren sich die Revolteure sicher – stünden »die gleichen Interessen, die zwei Weltkriege und den Faschismus über Deutschland brachten […].«64 Mit aller Kraft unterstellten die Protestierenden Funktionsträgern der älteren Generation, nach wie vor nationalsozialistisch 57 | Flugblatt ›Organisieren wir den Ungehorsam gegen die Nazigeneration‹, verteilt am 23. Januar 1968 anlässlich des ›Afrika-Addio-Prozesses‹ in West-Berlin. In: Miermeister/ Staadt, Provokationen, S. 54. 58 | LEUSCHNER, Wolfgang: Kriegskinder und ›68‹. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 60 (2000), Heft 4, S. 370-374, hier S. 372. 59  |  Flugblatt, AStA Heidelberg: Streik gegen die Notstandsgesetze am 15. Mai, 13. Mai 1968. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 257 (SDS, Flugschriften SDS/AStA – HD). 60 | Flugblatt, Vietnam. 10. Informationen. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 1382 (FU Flugblätter, Januar–März 1968). 61 | Bahman Nirumand, in: SDS Westberlin/Internationales Nachrichten- und Forschungsinstitut (Hg.): Der Kampf des vietnamesischen Volkes, S. 62. 62  |  Flugblatt, Allgemeiner Studentenausschuß FU Berlin: Aufforderung zum Auflauf. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 1382 (FU Flugblätter, Januar–März 1968). 63  |  Flugblatt, AStA München: Aufruf zur Solidarität. In: IfZ Archiv, ED 328/32. 64  |  Flugblatt, Redaktion Tendenzen München: Erklärung zu den politischen Ereignissen der letzten Tage, 17. April 1968. In: IfZ Archiv, ED 328/31.

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gesinnt zu sein. Indem die ›68er‹ die Kontinuität von NS-Eliten im bundesdeutschen Staat skandalisierten, auf die Schuld der »Immernoch-Nazis«65 insistierten und sich über deren Unverbesserlichkeit empörten, sagten sie sich von ihrer Vätergeneration und deren Vergangenheit los. Angefeuert wurde der Protest der Studenten in den 1960er Jahren durch nach und nach ans Tageslicht kommende Enthüllungen über die nationalsozialistischen Verstrickungen verschiedener prominenter Mitglieder der bundesdeutschen Führungselite, wie etwa die Kurt Georg Kiesingers, welcher von 1966 bis 1969 das Amt des Bundeskanzlers innehatte. Kiesinger, der in dem oben zitierten Flugblatt zur ›Nazi-Generation‹ gerechnet wird, war Zeit seiner Amtsausübung massiver Kritik dafür ausgesetzt, dass er 1933 der NSDAP beigetreten war und im Reichsaußenministerium als Stellvertretender Abteilungsleiter der Rundfunkpolitischen Abteilung Karriere gemacht hatte.66 Seine nationalsozialistisch belastete Vergangenheit stellte für ihn kein Hindernis dar, in das mächtigste politische Amt der Bundesrepublik gewählt zu werden. Diesen Umstand torpedierten die Protestierenden der 68er-Bewegung, indem sie den Bundeskanzler »Pg [Parteigenosse] Kiesinger, […] Propagandaexperte von Goebbels«67 nannten und ihm vorwarfen, mit Hitler paktiert zu haben. Als »unerträgliche Provokation«68 schilderten sozialistische Schüler- und Studentenverbände in den Jahren des Protests die Tatsache, dass ein ehemaliger NS-Parteifunktionär das Bundeskanzleramt innehatte. Wenn die Sprache auf inhumane Folter- und Kriegsmethoden im Vietnamkrieg kam, so merkten die Protestierenden auf einem Flugblatt listig an, dass in der Bundesrepublik für derartige Dinge ein Fachmann an höchster Stelle sitze.69 Die »bemerkenswerte Ungestörtheit«,70 mit der viele ihren Karriereweg nach 1945 fortsetzen konnten, war charakteristisch für den Lebensverlauf der Vätergeneration der ›68er‹. Bei den höheren Stellungen im westdeutschen Staatsapparat, die personelle Kontinuitäten zum nationalsozialistischen System aufwiesen, handelte es sich fast ausschließlich um Positionen, die von Männern bekleidet waren. Frauen wurden im Nationalsozialismus vom öffentlichen Leben in Politik, Ver65 | Flugblatt, Arbeitskreis Sozialistischer Schüler/SDS/SHB München: Es ist kein Zufall. In: AdMA, Archiv 451. 66 | Kiesinger verbrachte nach Kriegsende achtzehn Monate in einem Internierungslager, wurde zunächst als Mitläufer eingestuft, anschließend jedoch vollständig entlastet. Zur Biografie Kiesingers siehe: RUNDEL, Otto: Kurt Georg Kiesinger. Sein Leben und sein politisches Wirken, Stuttgart 2006; GASSERT, Philipp: Kurt Georg Kiesinger 1904-1988. Kanzler zwischen den Zeiten, München 2006. 67 | Flugblatt SDS/USSG/AUSS: Ohrfeigt Kiesinger, 30. Januar 1969. In: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 2. Bd., S. 556. 68 | Ohrfeigt Kiesinger. In: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 2. Bd., S. 556. 69 | Vgl. Flugblatt, Es ist kein Zufall. In: AdMA, Archiv 451. 70 | GOLTERMANN, Die Gesellschaft der Überlebenden, S. 140.

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bänden und Verwaltung weitgehend ausgeschlossen. Das NS-Regime beschränkte bereits im Jahr 1933 den Frauenanteil an Universitäten auf zehn Prozent und verdrängte das weibliche Geschlecht so aus den akademischen Berufen. Seit 1936 durften Frauen keine Positionen in Justiz und höherem Verwaltungsdienst mehr bekleiden. Auch in der NSDAP hatten Frauen bereits seit deren Gründung im Jahr 1920 kein Anrecht auf politische Ämter und Mandate.71 Dementsprechend war der weibliche Bevölkerungsanteil von den Entnazifizierungsmaßnahmen der Alliierten in weit geringerem Maß betroffen.72 Zum einen, weil sie weit seltener Machtstellungen im NS-System bekleideten, zum anderen, weil die Entnazifizierungsbehörden die in der nationalsozialistischen Bewegung aktiven Frauen »im Rückgriff auf ein im bürgerlichen Geschlechterdualismus begründetes Weiblichkeitsideal entpolitisierten.«73 Frauen wurden oft nur sporadisch zur Verantwortung gezogen und häufig milder bestraft als Männer.74 Somit bestätigt sich, dass der Generationenkonflikt dieser Zeit hauptsächlich auf homosozialer Ebene ausgefochten wurde. Die von der maskulin dominierten Studentenbewegung angeprangerte Omnipräsenz der ›Nazi-Generation‹ die damit verbundene »Angstphantasie, der Moloch des Nationalsozialismus sei nur vermeintlich erledigt«75 bezog sich auf den kontinuierlichen Machterhalt einer männlichen Führungsriege, die sich bereits im Nationalsozialismus verdient gemacht hatte.

5.5  V äterliche G e walt Ein weiteres zentrales Thema in den autobiografischen Narrativen männlicher Vertreter der 68er-Bewegung ist die Erfahrung körperlicher Gewaltausübung durch den Vater, die das Vertrauensverhältnis in der Vater-Sohn-Beziehung maßgeblich erschütterte. Wie das Erleben väterlicher Gewaltanwendung innerhalb der Familie von den antiautoritären Aktivisten zum Protest gegen einen gewaltsamen, patriarchalen Staat politisiert wurde, soll daher im Folgenden analysiert werden.

71 | Vgl. WALCOFF, E. Jennifer: Von der Staatsbürgerin zur ›Volksbürgerin‹. Der Disput um die Rechtsstellung der Frau. In: Sybille Steinbacher (Hg.): Volksgenossinnen. Frauen in der NS-Volksgemeinschaft (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Bd. 23), Göttingen 2007, S. 48-66, hier S. 56ff. 72 | Vgl. MEYER, Kathrin: Entnazifizierung von Frauen. Die Internierungslager der USZone Deutschlands 1945-1952, Berlin 2004, S. 12. 73 | GUT TMANN, Barbara: Entnazifizierung – (k)ein Thema der historischen Frauenforschung? In: Ariadne – Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung 27 (1995), S. 14-21, hier S. 17. 74 | Vgl. GUT TMANN, Entnazifizierung, S. 14. 75 | SCHNEIDER, Der Holocaust als Generationsobjekt, S. 64.

5. Generationenkonflikte

Der studentische Wortführer Rudi Dutschke schildert, dass bereits die erste Begegnung mit seinem Vater im Alter von drei Jahren mit physischer Gewalt verbunden war: »Ich traf meinen [Vater] Ende 1943, war mir seiner natürlich nicht bewusst. Jedenfalls war ich in den Armen meiner Mutter, da stand ein Besucher plötzlich neben uns, lachte und wollte mich […] in die Arme nehmen, jedenfalls bekam er von mir einen echten Backenschlag […] Nun nahm er mich erst recht, drehte mich, und die ›Begrüßung‹ erfolgte durch nicht zu vergessende Hiebe auf den Arsch. Damit die ›Kräfteverhältnisse‹ wiederhergestellt waren.« 76

Die erste Kindheitserinnerung Dutschkes an seinen Vater war demnach von Entfremdung und Misstrauen geprägt. Der 68er-Aktivist erlebte seine ersten Kindesjahre ohne den Vater, der seine Familie wegen des Militärdienstes verlassen hatte müssen. Wie viele seiner Altersgenossen wuchs er in einer ›vaterlosen Gesellschaft‹77 auf, bedingt durch das millionenfache Fehlen von Vätern in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Dutschke beschreibt, wie er seinem Vater als dreijähriges Kind ins Gesicht schlug, weil er sich vor dem für ihn fremden Mann fürchtete, der ihn auf den Arm nehmen wollte. Dieser als ›Fremdeln‹ bezeichne76  |  Rudi-Dutschke, in: DUTSCHKE-KLOTZ, Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben, S. 19. 77 | Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich brachte mit der Veröffentlichung seines Werkes ›Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft‹ im Jahr 1963 einen nachhaltigen gesellschaftlichen Diskurs über den Autoritätsverlust von Vätern in der deutschen Nachkriegsgesellschaft in Gang. Mitscherlich befasste sich nicht mit dem kriegsbedingten demografischen Fehlen von Vätern in der westdeutschen Gesellschaft, sondern ging von einem voranschreitenden gesellschaftlichen Prozess des Unsichtbar-Werdens des Vaters aus. Die ›Entväterlichung‹ – so die Hauptthese Mitscherlichs – entstehe dadurch, dass in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft der Arbeitsplatz des Vaters von der Familie getrennt sei und die unterweisende Vorbildfunktion des Vaters für die nachfolgende Generation verloren ginge. Mitscherlich befürchtete eine zunehmende Entfremdung zwischen Vätern und Söhnen und den damit einhergehenden Niedergang der Vaterkultur und des Vaterideals. Der Psychoanalytiker gilt als einer der geistigen Mentoren der 68er-Bewegung. Bis heute wird sein Werk in fast allen Abhandlungen über das Thema Väter rezipiert. Siehe: MITSCHERLICH, Alexander: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, München 1963; Mit Vaterlosigkeit als Folge des Zweiten Weltkrieges befassen sich der Historiker Jürgen Reulecke und der Psychoanalytiker Hartmut Radebold. Sie untersuchen kriegsbedingte Vaterlosigkeit im doppelten Sinne als allgemeine gesellschaftliche Abwesenheit von männlichen Bezugspersonen, sowie die alltägliche, ganz konkret zu bewältigende Vaterlosigkeit auf individueller, innerfamiliärer Ebene. Siehe: SCHULZ, Hermann/RADEBOLD, Hartmut/REULECKE, Jürgen (Hg.): Söhne ohne Väter. Erfahrungen der Kriegsgeneration, Bonn 2005.

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te Abwehrmechanismus von Kleinkindern ist aus entwicklungspsychologischer Perspektive als normale und gesunde Reaktion zu bewerten. Kleinkinder erliegen ihren übermächtigen Gefühlen wie erschreckenden Ängsten oder unbeherrschten Aggressionen. Eine willkürliche Steuerung von Gefühlen und Trieben wird erst im Laufe der Sozialisation erlernt.78 Die spätere APO-Größe Dutschke erinnert sich jedoch an ›nicht zu vergessende Hiebe‹, mit denen sein Vater ohne Verständnis für kleinkindliche Verhaltensweisen auf die spontane, gefühlsmäßige Ablehnung durch seinen Sohn reagierte. Er interpretiert die gewaltsame Reaktion seines Vaters als Machtdemonstration des Familienoberhaupts, beziehungsweise als Wiederherstellung der Machtverhältnisse in der Vater-Sohn-Beziehung. Der Psychologe Jürgen Müller-Hohagen, der sich mit den seelischen Nachwirkungen der NS-Zeit beschäftigt, attestiert hohe Reizbarkeit, Neigung zu innerfamiliärer Gewalt und Mangel an Einfühlungsvermögen als typisch für die langfristige physische Verfasstheit von Soldaten, die aus dem Krieg heimkehrten: »Im […] Zweiten Weltkrieg waren Männer quer durch die Gesellschaft massenhaft rekrutiert und abgerichtet […], um andere Männer kaltblütig umzubringen, wenn sie ›Widerstand‹ leisteten.«79 Von daher hält Müller-Hohagen es für sehr naheliegend, dass dies nicht ohne Wirkung blieb, wenn sie später mit den eigenen Söhnen und deren Widersetzlichkeiten umgehen mussten.80 Seinen Vater erlebte der Kommunarde Eike Hemmer ebenfalls als herrisch und autoritär. Er erinnert sich daran, wie ihn sein Vater schon als kleines Kind zur körperlichen Abhärtung zwang: »Ich erinnere mich, daß zur Zeit der Nazis über meinem Bett ein Spruch hing: ›Gelobt sei, was hart macht.‹ Mein Vater hatte ihn dorthin gehängt, weil ich als Vier- oder Fünfjähriger im Schwimmbad nicht ins kalte Wasser wollte.«81 Obwohl er keine direkte körperliche Gewalt durch seinen Vater erfuhr, so fühlte er sich schon als kleines Kind massiv in psychische und physische Bedrängnis gesetzt, eine sportliche Leistung zu erbringen, die ihm widerstrebte. In den 1960er Jahren war ein »stark autoritär-züchtigender Erziehungsstil, der seinen Erfolg in Disziplin und Unterordnung sah«82, noch durchaus üblich. Der Kommunarde assoziiert die repressiven Erziehungsmaßnahmen seines Vaters als typisch für die Zeit der totalitären NS-Diktatur. Die Hauptmotivation der von der 68er-Generation initiierten Bewegung für antiautoritäre Erziehung, mit der sich auch Hemmer in der Kommune II beschäftigte, bestand darin, die in der traditionellen Kultur übliche Züchtigung von Kindern abzuschaffen. Selbst wohlwollende elterliche Autorität wurde als schädlich für die 78 | Vgl. ROBINS/POST, Die Psychologie des Terrors, S. 111. 79 | MÜLLER-HOHAGEN, Verleugnet, verdrängt, verschwiegen, S. 76. 80 | Vgl. MÜLLER-HOHAGEN, Verleugnet, verdrängt, verschwiegen, S. 76. 81  |  Eike Hemmer, in: KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 140. 82  |  FREY TAG, Tatjana: Väterliche Autoritäten und vaterlose Gesellschaft. In: Meike Sophia Baader (Hg.): ›Seid realistisch, verlangt das Unmögliche!‹. Wie 1968 die Pädagogik bewegte, Weinheim/Basel 2008, S. 173-181, hier S. 174.

5. Generationenkonflikte

Entwicklung der Kinder erachtet, da diese sonst (wie in der Zeit des Nationalsozialismus) keinen Widerstand für Unterdrückung entwickeln könnten.83 Gewaltsame Auseinandersetzungen mit dem Vater waren bei Rainer Langhans an der Tagesordnung und für ihn mit widersprüchlichen Gefühlen verbunden: »Ich musste an meinen Vater denken: als er mich früher geprügelt hatte […]. Ich hatte ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl und war rechthaberisch. Für ihn schien es schier unerträglich gewesen zu sein, wenn ich meinen Mund nicht halten konnte und ihm widersprach […] Oft nahm er einen Kleiderbügel und schlug mich. […] Ich wollte ihm keine Genugtuung geben und habe deshalb nicht geweint. Klar hatte ich Schübe von Wut und Verzweiflung. Aber letztendlich habe ich ihm das nicht übel genommen, denn ich sah seine Hilflosigkeit.« 84

Der studentische Aktivist beschreibt, dass er bereits in seiner Kindheit und Jugend die charakterlichen Voraussetzungen besaß, welche ihm später den Status einer führenden Persönlichkeit im antiautoritären Protest von ›1968‹ einbrachten: das Festhalten an moralischen Wertvorstellungen, Streitbarkeit und Diskussionslust. Sein steter verbaler Widerspruch reizte den Vater bis hin zur gewalttätigen Entladung der aufgestauten Wut. Der ehemalige Kommunarde gibt an, dass er bereits als Kind dessen Unfähigkeit erkannte, Konflikte mit Worten zu lösen. Überraschend verständnisvoll erklärt sich Langhans das Unvermögen seines Vaters, negative Gefühle anders als durch körperliche Gewalt auszudrücken, als emotionales Defizit. Trotzdem erinnert er sich auch daran, dass er seinem Vater kein Eingeständnis männlicher Schwäche liefern wollte und die Tränen angesichts des körperlichen Schmerzes zurückhielt. Langhans geht davon aus, dass es seinem Vater Genugtuung bereitete, wenn er seinen Sohn durch Schläge auf seinen untergeordneten Platz in der familiären Hierarchie verweisen konnte. Eine weitere Beschreibung des Vaters als Autoritätsperson, der seine Machtposition innerhalb der Familie und vor allem dem Sohn gegenüber, falls nötig auch gewaltsam aufrechterhielt, stammt von dem SDS-Aktivisten Gerd Weghorn. Dieser führt aus, dass seine Politisierung und sein Entschluss zur Mitgliedschaft im SDS über das gestörte, von Gewalt geprägte Verhältnis zu seinem Vater entstanden seien. Er erklärt, dass es in den späten 1960er Jahren nicht unüblich war, »[…] daß man irgendwie über Vater-Sohn Konflikte […] zum SDS gekommen ist.«85 Auf einer Konferenz ehemaliger SDS-Mitglieder berichtet er, dass ihn die Erfahrung körperlicher Gewalt durch den Vater für die Wahrnehmung eines 83  |  Vgl. HERZOG, Dagmar: Antifaschistische Körper. Studentenbewegung, sexuelle Revolution und antiautoritäre Kindererziehung. In: Klaus Naumann (Hg): Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 521-551, hier S. 538f. 84 | LANGHANS, Ich bin’s, S. 58. 85  |  Gerd Weghorn, in: LÖNNENDONKER, Linksintellektueller Aufbruch, S. 199.

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unterdrückerischen, gewaltsamen ›Vater-Staates‹ sensibilisiert hätte. Eine unwillkürliche körperliche und emotionale Assoziation mit den früheren Schlägen seines Vaters erlebte er in den Jahren des Protests, als er auf einer Demonstration vom Schlagstock eines Polizisten getroffen wurde: »Ich hab’ dann eins über die Schulter gekriegt … Und ich muß sagen, daß dieser Schlag auf die Schulter eigentlich für mich die Erweckung war. Denn diese Schläge hatte ich schon einmal abbekommen. Ich hatte also keinen theoretischen Zugang zum SDS, sondern ich hatte den Zugang über die Art geprügelt zu werden, weil ich das schon kannte, eben von meinem Vater her. Und diese Dimension, Vater Staat und meine eigenen Vater-Verhältnisse, war für mich wichtig gewesen.« 86

Der SDS-Aktivist setzt die gewalttätigen Erziehungsmethoden seines Vaters mit dem aggressiven Vorgehen des bundesdeutschen Staates gegen Protestierende gleich. Er erhebt seinen Vater zur Metapher gesellschaftlicher Machtverhältnisse, was die von den ›68ern‹ viel rezipierten Studien über Autorität und Familie nahelegen.87 In der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule rücken tradierte Stereotypen patriarchalischer Männlichkeit und insbesondere die väterliche Autorität ins Zentrum der Machtkritik. Die Wurzel für autoritäre, staatliche Herrschaft wird in dieser Denkrichtung in den durch das Patriarchat geschaffenen Machtverhältnissen gesehen, die sich von den Kleinfamilien ausgehend in die gesamte Gesellschaft fortsetzen. Die Kleinfamilie mit dem Mann als Familienoberhaupt, der Frau und Kinder unterdrückt, wird von den Theoretikern der Frankfurter Schule als Fundament zur Ausbildung jenes ›autoritären Charakters‹ begriffen, welcher auch den blinden Gehorsam der Massen im Nationalsozialismus ermöglicht hat.88 Obgleich Weghorn leugnet, über einen theoretisch-intellektuellen Zugang zum SDS gekommen zu sein, entspricht die Gleichsetzung seiner persönlichen Vaterbeziehung mit der Beschaffenheit des ›Vater-Staates‹ den theoretischen Überlegungen der Frankfurter Schule, die sich im linken Protestmilieu großer Popularität erfreuten. Ferner fand auch bei Helmut Prieß der Anschluss an die 68er-Revolte über eine emotionale und sensitive Analogsetzung von väterlicher Gewalt und staatlicher Herrschaft statt: 86  |  Gerd Weghorn, in: LÖNNENDONKER, Linksintellektueller Aufbruch, S. 198f. 87 | Siehe: HORKHEIMER, Max/FROMM, Erich/MARCUSE, Herbert (Hg.): Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, Paris 1936; ADORNO, Theodor W./FRENKEL-BRUNSWIK, Else/LEVINSON, Daniel J. u.a. (Hg.): The Authoritarian Personality, New York 1950; Ausgewählte Kapitel in deutscher Übersetzung: ADORNO, Theodor W.: Studien zum autoritären Charakter, hg. von Milli Weinbrenner, Frankfurt 1973. 88 | Vgl. DRINCK, Barbara: Vatertheorien. Geschichte und Perspektive, Opladen 2005, S. 142.

5. Generationenkonflikte »Ich komme aus einem sehr konservativen bis reaktionären Elternhaus. Mein Vater war […] ein Antisemit bis zu seinem Tode […]. Ich bin etwa Mitte der 60er Jahre, als die ersten ›Zuckungen‹ der Studentenbewegung stattfanden, wacher geworden. Zwei Umstände haben das begünstigt. Der erste ist, daß ich durch die vielen Schläge mit dem Rohrstock, die ich bis zum 18. Lebensjahr bekommen habe, sensibel wurde gegenüber Prügel und Druck von oben und mich dagegen aufzulehnen lernte […]. Insofern entsprach die Bewegung meiner eigenen Lebenserfahrung.« 89

Prieß übertrug offenbar die Gefühle, die für ihn als Kind und Jugendlichem präsent waren, als sein Vater in ihn brutaler Weise mit einem Rohrstock schlug, wie etwa Angst, Verzweiflung, Ohnmacht oder auch Wut, auf die von der 68er-Bewegung angeprangerte staatliche Autorität der Bundesrepublik. Die emotionale Voraussetzung, sich gegen vermeintliche Ungerechtigkeit und Unterdrückung aufzulehnen, entstand für Prieß gemäß seiner Aussage durch das von Gewalttätigkeit beeinträchtigte Verhältnis zu seinem Vater. Statt Vertrauen und Zuneigung lernte er, staatlichen Autoritäten Misstrauen und Abneigung entgegenzubringen. In den späten 1960er Jahren politisierten die Mitglieder der maskulin codierten 68er-Bewegung ihre persönlichen gewaltbelasteten Vater-Beziehungen. Das Erleben väterlicher Aggression und Autorität war für die hier zitierten ›68er‹, wenn auch nicht immer explizit ausgesprochen, mit Demütigung, Hilflosigkeit und Furcht, aber auch Zorn verbunden. Mit dem Erstarken der antiautoritären Bewegung übertrugen sie die im privaten Vater-Sohn-Verhältnis vermisste Fürsorglichkeit, Milde und Warmherzigkeit emotional auf die Beschaffenheit eines bestrafenden und gewaltsamen, männlich-strukturierten Vater-Staates. Im Protestmilieu von ›1968‹ entwickelte sich, wie Tatjana Freytag feststellt, ein »Postulat der Vaterlosigkeit«90, was gemäß der Erziehungswissenschaftlerin die zeitgenössische Emanzipation von allem Autoritären bedeutete. Die realen und symbolischen Väter wurden zu Trägern alter Werte stilisiert, die es zu bekämpfen galt.91

5.6  M or alische Ü berlegenheit Obgleich Misstrauen bezüglich der Vätergeneration unbestritten ein intensives wie authentisches Gefühl im emotionalen Haushalt der maskulin codierten 68erBewegung darstellte, galt eine distanzierte, kritisch hinterfragende Einstellung zu den Eltern auch als eine Art verpflichtende emotionale Grundhaltung im Milieu der linken Protestkultur. Gerade aus der Retrospektive schildern manche Vertreter der Protestbewegung ein durchaus vertrauens- und liebevolles Verhält89  |  Helmuth Prieß, in: MÜNDEMANN, Die 68er, S. 170f. 90 | FREY TAG, Väterliche Autoritäten und vaterlose Gesellschaft, S. 176. 91 | Vgl. FREY TAG, Väterliche Autoritäten und vaterlose Gesellschaft, S. 176f.

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nis mit ihren Eltern, wie der bekannte Politaktivist Dieter Kunzelmann. Dieser betrachtet den herauf beschworenen Generationenkonflikt seiner Zeit im Nachhinein als unzutreffende, stereotype Verallgemeinerung gestörter Generationenverhältnisse. Als im linken Protestmilieu »die Platitüde vom ›Aufstand gegen die Eltern‹ die Runde machte«92, so Kunzelmann, wurde ihm damals insgeheim bewusst, dass sein liberales Elternhaus zur Entwicklung seines selbstbewussten Freiheitsstrebens beigetragen hatte. Allerdings lobt er erst retrospektiv die Aufgeschlossenheit und Großzügigkeit seines Vaters, eine Äußerung die in den Jahren des Protests mit den kollektiven Gefühlsnormen der 68er-Bewegung unvereinbar gewesen wäre.93 Rückwirkend beschreibt auch Volkhard Brandes seinen Vater, der im Jahr 1968 verstorben ist, als liebevollen Menschen, der seine Kinder verwöhnte und einen züchtigenden Erziehungsstil ablehnte. Über dessen Beteiligung am Nationalsozialismus fällt Brandes für einen Aktivisten der 68er-Bewegung bereits zeitgenössisch ein vergleichsweise mildes Urteil, wenn er in direkter Anrede an seinen gerade gestorbenen Vater schreibt: »Du warst Opfer dieser Gesellschaft, […] still und geduldig und ohne Protest. […] Du warst der unauffällige Mitläufer – immer noch schlimm genug.«94 Brandes kritisiert zwar, dass sein Vater die NS-Diktatur widerstandslos hingenommen hat, sieht ihn letzten Endes jedoch als Opfer der politischen und gesellschaftlichen Umstände. Für den Mitstreiter der Protestbewegung bedeutete es einen emotionalen Konflikt, seinen Vater vom menschlichen Standpunkt her zu lieben, ihn wegen seiner Mitschuld an der NSVergangenheit jedoch kritisieren und verurteilen zu müssen, weil dies von der Protestbewegung als emotionaler Gemeinschaft gefordert wurde. Im Jahr 1968 stellt Brandes diese innere Zerrissenheit folgendermaßen dar: »Gegen seine erklärten Feinde kämpfen ist leicht, aber gegen den Feind, der sich in der Liebe verbirgt, kämpfen zu lernen, ist schwer.«95 Demnach hatte er Probleme sich an der kollektiven Rebellion gegen die Väter zu beteiligen und seine positiven Gefühle dem eigenen Vater gegenüber zu kontrollieren und zu verbergen. Der studentische Wortführer Peter Schneider baut seinen im Jahr 2008 veröffentlichten Lebensbericht über seine Zeit in der 68er-Bewegung auf Tagebucheinträge aus den Jahren 1967 und 1968 auf. Insofern befinden sich in Schneiders autobiografischer Erzählung sowohl Passagen aus der Sicht eines sieben-, beziehungsweise achtundzwanzigjährigen ›68ers‹, als auch Passagen aus der Perspektive eines achtundsechzigjährigen Autobiografen. In einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1967 schrieb Schneider folgendes über seinen Vater:

92 | KUNZELMANN, Dieter: Leisten Sie keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben, Berlin 1998, S. 17. 93 | Vgl. KUNZELMANN, Leisten Sie keinen Widerstand!, S. 17. 94 | BRANDES, Wie der Stein ins Rollen kam, S. 174. 95 | BRANDES, Wie der Stein ins Rollen kam, S. 173.

5. Generationenkonflikte »Seinen Tagesablauf plante er auf die Minute voraus, und jede Stunde, die er nicht schon zwei Tage voraussagen konnte, erschien ihm wie eine Drohung, gegen die er sich schützen mußte. Gleichzeitig war mein Vater nicht in der Lage, sich gegen manche meiner Behauptungen über unsere Gesellschaft […] zu wehren. […] Ich begriff, daß jedem Zugeständnis an meine Vorstellungen von Erneuerungen ein tatsächlicher körperlicher Verfall auf seiner Seite entsprach. Ich sah, daß er alt, schlapp, kraftlos werden mußte, um sein Bewußtsein von dem lebenslangen Erstarrungsprozess, den er mit all seiner Vitalität vorantrieb, loszureißen. Ich sah, daß er erst einmal vollständig zerstört und wehrlos sein mußte, ehe er eine Chance hatte, die vierzig jährige Zerstörung seiner eigenen Persönlichkeit zu ahnen.« 96

Das SDS-Mitglied spricht seinem Vater einen regelrechten Planungs- und Ordnungsfanatismus zu und bemängelt dessen angebliche Unfähigkeit zu spontanem, intuitivem und gefühlsmäßigem Handeln aus dem Augenblick heraus. Darüber hinaus beschreibt er seinen Vater als geistig wie körperlich leblos und erstarrt. Die physische Schwäche seines Vaters rührt für ihn von dessen fortschrittsfeindlichen und erzkonservativen Geisteshaltung her. Er betrachtet ihn als typischen Vertreter und zugleich auch Opfer einer reaktionären und kleinbürgerlichen Gesellschaft, die sich taub stellt für jegliche soziale Veränderung und Modernisierung. Bedenkt man, dass Wortmacht in der maskulin codierten 68erBewegung als Zeichen von Virilität gehandelt wurde, so überrascht es nicht, dass Schneider seinem Vater als Vertreter des ›Establishments‹ unmännliche Wehrlosigkeit auf verbaler Ebene der Diskussion bescheinigt. Spricht der SDS-Aktivist von der ›vierzigjährigen Zerstörung‹ der Persönlichkeit seines Vaters, so spielt er auch auf dessen Prägung durch die totalitäre Kultur des Nationalsozialismus an. Schneider beschreibt seinen Vater als unpolitischen Menschen, der zwar kein Widerstandskämpfer war, aber auch ein kein überzeugter Nationalsozialist. Die Sachlage, dass sein Vater als Kapellmeister zur Eröffnung des Nürnberger Parteitages einmal einen Chor der Hitlerjugend dirigiert hatte, reichte für Schneider gemäß seiner Memoiren völlig aus, um seinem Vater generationstypische vernichtende Ablehnung entgegenzubringen.97 Aus der Ex-Post-Betrachtung ist der Autobiograf erschrocken, mit welcher Schärfe, Arroganz, Kälte, Verachtung und Überheblichkeit er seinen Vater während seiner aktiven Zeit in der 68er-Bewegung verurteilte. Schneider schämt sich retrospektiv für diesen respektlosen Tagebucheintrag über seinen Vater, der eigentlich als »besonders liebenswerter und untypischer Vertreter seiner Generation«98 einzustufen gewesen wäre. Erst aus der Retrospektive erkennt der frühere Revolteur, dass der pauschale Faschismusverdacht, mit dem die Vertreter der 68er Generation ihren Vätern entgegentraten, im Falle seines Vaters ungerechtfertigt war: 96 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 182f. 97 | Vgl. SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 184f. 98 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 185.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er »Gleichzeitig haftete meiner Lossagung, die den Vater aller Eigenschaften entkleidete und ihn zu einem Fall erklärte, der Charakter einer Pflichtübung an. Zwar ist sie in der IchForm gehalten, aber es fällt schwer den Plural zu überhören. In der Abgrenzung vom Vater schwingt der ›Ihr-Ton‹ mit […]. Meine Pubertät war eher friedlich verlaufen, in der Zeit […] hatte ich den Bruch mit meinem Vater stets vermieden. Plötzlich, als bereits Siebenundzwanzig jähriger meldete sich nicht mehr der Sohn zu Wort, sondern der Vertreter einer selbsternannten Avantgarde, die im eigenen Vater nur noch einen Vertreter der ›Tätergeneration‹ erkennen wollte.« 99

Schneider beschreibt seine Abkehr von der Person seines Vater als ›Pflichtübung‹ für einen jungen Mann, der sich als ›wahres‹ Mitglied der Protestbewegung von ›1968‹ sehen wollte. Er bestätigt, dass das Empfinden und Äußern von Misstrauen bezüglich der Vätergeneration mit erheblichem Gruppendruck verbunden war. Einen emotionalen Bruch mit dem eigenen Vater zu vollziehen, galt offensichtlich als Voraussetzung, um in den führenden Zirkeln der 68er-Bewegung dazuzugehören. Gemäß Schneiders autobiografischem Bericht sahen viele Protestierende »ihre Väter überhaupt nicht mehr als Väter, sondern eben nur noch als politische Subjekte, mit denen die ideologische Auseinandersetzung gesucht werden musste.«100 Für die in der Protestbewegung aktiven Söhne war der symbolische Vatermord eine Art der Bekundung der unzweifelhaften Zugehörigkeit zur linken Protestkultur. Der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke betrachtet die ›NaziHysterie‹ der 68er-Generation dementsprechend auch als Mittel zur Inszenierung generationeller Distinktion. Nicht ohne Zynismus merkt er an: »Aus dem braunen Sumpf bezog die Generation der Nachgeborenen die Feierlichkeit der eigenen Opposition. […] der Vater-Sohn-Konflikt war dadurch pathetisch aufgeladen.«101 Die Leidenschaft, mit dem die Bewegten von ›1968‹ den Generationenkonflikt in Szene setzten, entstand gemäß von Lucke aus dem Bedürfnis der Protestler, eine emotionale Trennlinie zu ihrer Elterngeneration zu ziehen und ihre moralische Integrität im Gegensatz zum moralischen Scheitern ihrer Väter zu betonen.102 Der Historiker und ehemalige Mitstreiter des SDS Gerd Koenen geht sogar davon aus, dass die öffentliche Lossagung der ›68er‹ von ihren Eltern in manchen Fällen mit dem Gewinn eines »elitäre[n] Bedeutungsgefühl[s]«103 verbunden war. Er beschreibt, dass das Wissen der Protestgeneration, von der NS-Tätergeneration abzustammen, mit authentischen Gefühlen wie Misstrauen, Wut, Scham oder 99 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 185f. 100 | THOMÄ, Väter, S. 256. 101 | VON LUCKE, Albrecht: Auszug aus der postpathetischen Republik. In: Ästhetik & Kommunikation 35 (2004), Heft 124, S. 21-27, hier S. 24. 102  |  Vgl. VON LUCKE, Auszug aus der postpathetischen Republik, S. 24. 103  |  KOENEN, Gerd: Der Muff von tausend Jahren. Ein Aufstand gegen die Kriegsgeneration? In: Daniel Cohn-Bendit/Rüdiger Dammann (Hg.): 1968. Die Revolte, Frankfurt a.M. 2007, S. 139-160, hier S. 152.

5. Generationenkonflikte

Verzweiflung verbunden war, aber auch eine Vorlage zur narzisstischen Selbstdarstellung lieferte: »›Sie‹ (die Generation der Eltern) hatte ›uns‹ das alles schließlich eingebrockt. […] Wegen ihnen waren wir genötigt, uns als junge Deutsche, etwa wenn wir durch Europa reisten, ständig zu rechtfertigen, standen wir als Abkömmlinge eines Kollektivs der Verlierer und Verbrecher der Weltgeschichte schlechthin da. Echte Scham und existentielle Verzweiflung mischten sich mit jeder Sorte steiler Selbststilisierungen und schwüler Selbstfaszination.« 104

Koenen unterstellt der westdeutschen Protestbewegung, der er selbst angehörte, sich durch die moralische Verdammung der nationalsozialistisch belasteten Elterngeneration Geltung und Aufmerksamkeit verschafft zu haben. Er bestätigt die Vermutung, dass die Rebellen der 68er-Bewegung Misstrauen gegen die ältere Generation zum gruppeninternen Gefühlsstandard erhoben, um sich als distinkte soziale Gruppierung mit moralisch überlegenen sozialen Werten und politischen Zielen zu inszenieren.

5.7  Z wischenresümee Die konflikthaften familialen Beziehungen zwischen der 68er-Generation und ihrer Elterngeneration definierten sich in der Bundesrepublik maßgeblich über die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der Nation und den individuellen Verstrickungen der Eltern in die totalitäre NS-Diktatur. Die nachgeborenen ›68er‹ stützten ihren Protest gegen die mit Schuld belastete Kriegsgeneration auf das emotionale Motiv eines vagen, generellen Misstrauens, und nicht wie zu vermuten, auf detailliertes Wissen über die Zeit des Nationalsozialismus. Es zeigt sich, dass in den Anklagen der männlich dominierten 68erGeneration die Schuld an den NS-Verbrechen und dem Holocaust ausschließlich den Vätern zugesprochen wurde. Die Täterrolle von Müttern, also von Frauen im Nationalsozialismus, wurde in geschlechtsstereotyper Weise ausgeschlossen. Ein immer wiederkehrendes Thema in den autobiografischen Erinnerungen männlicher Vertreter der antiautoritären Protestbewegung ist das beharrliche Verschweigen und Verdrängen ihrer Väter, was deren persönliche Rolle im NS-System und im Zweiten Weltkrieg anbelangt. Die soldatisch-militaristische Sozialisation der Vätergeneration lehrte Männer, sich psychisch wie physisch immer unter Kontrolle zu haben, und ›negative‹ Gefühle wie Angst, Scham oder Trauer stets zu verbergen, da diese mit unmännlicher Schwäche assoziiert wurden. Die Sprachlosigkeit der Väter, die schmerzvolle und schamhafte Erlebnisse vergessen machen sollte, erfuhren die Söhne als emotionale Distanz und Kälte. Die geheimnisvol104 | KOENEN, Der Muff von tausend Jahren, S. 149ff.

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le, gehemmte Atmosphäre, nicht offen miteinander sprechen zu können, die in vielen Familien der Nachkriegszeit herrschte, verhinderte die Entwicklung eines vertrauensvollen Verhältnisses zwischen Vätern und Söhnen. Was den Umgang mit der ›schändlichen‹ NS-Vergangenheit anbelangt, lassen sich Verdrängungsmechanismen nicht nur auf Seiten der Elterngeneration ausmachen, sondern auch auf Seiten der ›68er‹. Während vielen Protagonisten der Studentenbewegung eine rigorose und unversöhnliche Anklage gegen die ›Nazigeneration‹ im Allgemeinen leicht über die Lippen ging, fanden sie oftmals nicht den Mut, ihre eigenen Eltern mit deren potentieller Schuld zu konfrontieren. Die Generation der Nachgeborenen empfand offenbar intensive Scham für die nationalsozialistische Vergangenheit ihrer Eltern, so dass bereits in Kindheit und Jugend emotionale Abgrenzungsstrategien erprobt wurden, die von der Verleugnung der Eltern bis hin zur Suche nach Ersatzeltern reichten. Die wenig effizienten Entnazifizierungsmaßnahmen der Nachkriegszeit schürten die Befürchtung der 68er-Generation, es in allen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens mit ehemaligen NS-Verbrechern zu tun zu haben. Der Verdacht, hinter jedermann könne sich ein ›Nazi‹ verstecken, hinterließ bei der nachgeborenen Generation ein Lebensgefühl, das von paranoidem Misstrauen geprägt war. Der Protest der maskulin codierten Protestbewegung gegen den Machterhalt einer männlichen Führungselite, deren Karrieren sich in einem nahtlosen Übergang von der NS-Diktatur in das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland fortsetzten, bestätigt einen Generationenkonflikt vornehmlich auf mann-männlicher Ebene. Ein weiteres zentrales Motiv in den lebensgeschichtlichen Narrativen männlicher ›68er‹ ist das Erleben körperlicher Gewaltausübung durch den Vater. Wie die von der Protestbewegung viel rezipierten Studien über Autorität und Familie der Frankfurter Schule nahe legten, erhoben verschiedene Protestaktivisten ihren gewalttätigen, leiblichen Vater zur Metapher gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Das Erleben physischer Gewaltausübung wurde zeitgenössisch von den hier zitierten linksorientierten Oppositionellen als Sensibilisierung für die Beschaffenheit eines unterdrückerischen ›Vater-Staates‹ begriffen. Zusammenfassend kann das Gefühl des Misstrauens der ›68er‹ gegenüber ihrer kriegsbelasteten Elterngeneration als kollektiv gültige Empfindung im gemeinsamen Gefühlssystem identifiziert werden. Die distanzierte, argwöhnische Haltung in Bezug auf reale und symbolische Väter war für viele Vertreter der Protestbewegung eine authentische emotionale Disposition. Dennoch entwickelte sich ein generationstypisches Misstrauen gegenüber der ›Nazigeneration‹ auch als verpflichtende emotionale Grundhaltung für Personen, die sich zum linken Protestmilieu zugehörig begreifen wollten. Das Empfinden und Äußern von Misstrauen, insbesondere den Vätern gegenüber, galt in der maskulin dominierten Protestbewegung als eine mit Gruppendruck verbundene Pflichtübung für rebellierende Söhne. Die moralische Verurteilung der Elterngeneration ermöglichte den Revolteuren die Ausbildung einer distinkten, vermeintlich moralisch überlegenen generationellen Identität.

6. Psychoanalyse

Innerhalb der bundesdeutschen 68er-Bewegung waren psychoanalytische Diskursmuster weit verbreitet und populär. Die antiautoritäre Szene, die auf der Suche nach Selbstverwirklichung, Emanzipation und Partizipation war, begeisterte sich für psychoanalytische Theorien, mittels derer sie meinte, unbewusste Fantasien und verdrängte Gefühle freilegen und interpretieren zu können.1 Die Wiederentdeckung der Psychoanalyse in den späten 1960er Jahren ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass das nationalsozialistische Regime diese als staatsbedrohende jüdische Wissenschaft verurteilte und deshalb führende jüdische Psychoanalytiker verfolgte, zur Emigration zwang oder gar ermorden ließ. Dementsprechend begriffen die jungen Protestierenden die Rezeption ehemals verbotener und verdrängter psychoanalytischer Theorien der 1920er Jahre als Widerstand gegen den bundesdeutschen Staat, der ihrer Meinung nach seiner Verpflichtung zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nicht nachgekommen war. Da auf dem offiziellen Buchmarkt Mitte der 1960er Jahre Werke von Psychoanalytikern so gut wie nicht vertreten waren, tauchten im studentischen Umfeld zusehends Raubdrucke auf. Die quasi-konspirative, illegale Rezeption der psychoanalytischen Klassiker verstärkte das Gefühl der Oppositionellen, ein gesellschaftliches Tabu zu brechen und zugleich der ›Wahrheit‹ ein Stück näher zu kommen.2 Den ›68ern‹ galt die Psychoanalyse als ein Mittel zur Heilung seelisch Leidender, als welche sie sich selbst begriffen. Allgegenwärtig in der antiautoritären Protestszene war die 1  |  Vgl. LAUFS, Adolf: Neunzehnhundertachtundsechzig – Im Bild eines Zeitgenossen von der anderen Seite. In: Armin Kohnle/Frank Engehausen (Hg.): Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zu deutschen Universitätsgeschichte, Stuttgart 2001, S. 218-230, hier S. 220. 2 | Vgl. BILSTEIN, Johannes: Psychoanalyse und Pädagogik: Kritische Theorie des Subjekts und Antiautoritäre Erziehung. Die Wiederaneignung der Psychoanalytischen Pädagogik in pädagogischen Diskursen der späten 1960er- und frühen 1970er Jahre. In: Meike Sophia Baader/Ulrich Herrmann (Hg.): 68 – Engagierte Jugend und Kritische Pädagogik. Impulse und Folgen eines kulturellen Umbruchs in der Geschichte der Bundesrepublik, Weinheim/München 2011, S. 217-231, hier S. 218ff.

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Auffassung, dass die gestörten psychischen Dispositionen, die die Elterngeneration an der Teilhabe am faschistischen NS-System prädestinierten, automatisch auf die nächste Generation übergegangen seien. Von daher drängte es zahlreiche Mitglieder der 68er-Bewegung danach, sich selbst von den vermeintlichen psychischen Altlasten des ›Faschismus‹ zu befreien. Die Original-Schriften Sigmund Freuds, des Begründers der Psychoanalyse, spielten bei der ›Entdeckung der Innerlichkeit‹ durch die ›68er‹ nicht die wichtigste Rolle. Freuds Werk wurde von den Studenten selten direkt zitiert oder vollständig rezipiert.3 Trotzdem war seine Erkenntnis, »dass die geistige Persönlichkeit eines Menschen nicht einheitlich ist, sondern, dass neben bewussten seelischen Vorgängen auch [unbewusste] Motive, Wünsche und triebhafte Tendenzen wirksam sind«4, die Grundlage für den oftmals eher populärwissenschaftlichen Umgang der Protestbewegung mit der Psychoanalyse. Neben der herausgestellten Rolle des Unterbewussten wurden auch die Theoreme Freuds von der zentralen Bedeutung der Sexualität und frühkindlicher Erlebnisse von der 68er-Bewegung übernommen. Die verstärkte Auseinandersetzung mit der schon fast in Vergessenheit geratenen Psychoanalyse geschah in der Bundesrepublik also nicht auf Initiative der professionellen Wissenschaft, sondern ›von unten‹, von Seiten der Studentenbewegung, die der psychologischen Theorie einen neuen gesellschafts- und kulturkritischen Impetus verlieh.5 Die Protagonisten der außerparlamentarischen Bewegung beschäftigten sich hauptsächlich mit den Schriften Wilhelm Reichs, der bereits in den 1920er und 1930er Jahren Psychoanalyse und Marxismus verbunden hatte, sowie den psychoanalytisch orientierten Werken von Vertretern der Frankfurter Schule.6 Obgleich die psychoanalytische Theorie von den ›68ern‹ nur sehr äußerlich und bruchstückhaft rezipiert wurde, wie der SDS-Aktivist und späterer Psychoanalytiker Reimut Reiche bemängelt,7 war das Interesse für die Erforschung des inneren Gefühls- und Seelenlebens innerhalb der linken Protestgemeinde groß. Neben der laienhaften Aneignung von psychoanalytischem Wissen durch die Rezeption psychoanalytischer Theorien, veranstalteten die Studierenden sogenannte Psycho-Teach-ins, gründeten Ad-hocArbeitsgruppen zum Thema und erprobten das psychoanalytische Instrumenta3 | Vgl. BILSTEIN, Psychoanalyse und Pädagogik, S. 222. 4 | ZAGORAC, Diana: Wie die Pädagogik zur Psychoanalyse kam. Psychoanalytische Pädagogik damals und heute, Marburg 2008, S. 12. 5 | Vgl. JAEGGI, Eva: Klinische Psychologie: Psychotherapie. In: Günter Krampen (Hg.): Psychologie – Experten als Zeitzeugen, Göttingen 2009, S. 226-239, hier S. 226; Vgl. BRÜCKWEH, Kerstin: Mordlust: Serienmorde, Gewalt und Emotionen im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2006, S. 161. 6 | Vgl. BRÜCKWEH, Mordlust, S. 161. 7 | Vgl. REICHE, Reimut: Sexuelle Revolution – Erinnerung an einen Mythos. In: Lothar Bauer/Wilfried Gottschalch/Ders. u.a. (Hg.): Die Früchte der Revolte. Über die Veränderung der politischen Kultur durch die Studentenbewegung, Berlin 1988, S. 45-71, S. 49.

6. Psychoanalyse

rium in Alltagsituationen sowie in therapeutischen Selbsterfahrungs- und Gruppenexperimenten. Welche Auswirkungen die Wiederentdeckung der Psychoanalyse für die kollektive Gefühlskultur der maskulin geprägten Protestszene rund um das Jahr 1968 hatte, wird deshalb nachfolgend ebenso näher beleuchtet, wie die Frage, was die Hinwendung zu psychoanalytischen Methoden und Interpretationsmustern für den politischen Protest der Studierenden bedeutete. Das Herauslassen von Gefühlen, das Offenlegen psychischer Belastungen und die Kommunikation persönlicher Probleme widersprach den Verhaltens- und Gefühlsmustern, die im 20. Jahrhundert dem Ideal hegemonialer Männlichkeit entsprachen. Von daher lohnt es zu untersuchen, ob sich innerhalb der männlich codierten 68er-Bewegung durch die intensive Auseinandersetzung mit der menschlichen Psyche ein alternatives gefühlsbetonteres Männlichkeitsideal durchsetzen konnte.

6.1 E motional frierende K inder » Gestörte Eltern-Kind-Beziehungen und die emotionalen Verluste einer im freudlosen Klima des Nachkriegs verbrachten Kindheit und Jugend gehören zu den psychischen Langzeitkosten des Faschismus […]« 8, resümiert der ehemalige 68erAktivist Michael Schneider über die in seinen Augen unausweichlich durch die Vergangenheit beeinträchtigte psychische Gesundheit seiner Generation. Gerade die Väter, die im Krieg gewesen waren, seien, so Schneider, zu keinerlei Gefühlsäußerung und auch zu keiner Lebensfreude fähig gewesen. Mit der erbarmungslosen Disziplin, die der Vätergeneration im Laufe ihrer soldatischen Lauf bahn eingeimpft worden sei, hätten sie sich, aus dem psychologischen Zwang heraus, die deutsche Kollektivschuld wettzumachen, in den Wiederauf bau gestürzt.9 Mit dieser psychologisierenden Deutung, wie sie für (ehemalige) Vertreter der studentischen Protestbewegung bezeichnend war, erklärt sich Schneider, warum viele Mitglieder der antiautoritären Bewegung angeblich mit keiner gefestigten psychischen Konstitution ausgestattet waren. Als emotional zu kurz gekommene Kinder mit unerfüllten Liebes- und Glücksbedürfnissen wuchs, gemäß Schneider, eine ganze Generation mit einem existentiellen Mangelgefühl auf.10 Die Frage nach der ›faschistischen‹ Männlichkeit der Vätergeneration und deren disziplinierter Emotionalität ließ zahlreichen Männern, die dem linksalternativen Protestmilieu angehörten, keine Ruhe. Sie wollten wissen, wie sich die emotional verkrampfte, steife und strenge Haltung ihrer Väter auf die Entwicklung ihrer eigenen Persönlichkeit und maskulinen Geschlechtsidentität ausgewirkt hatte. Die wohl bekannteste psychologische und psychoanalytische Auseinander8 | SCHNEIDER, Den Kopf verkehrt aufgesetzt, S. 53. 9 | Vgl. SCHNEIDER, Den Kopf verkehrt aufgesetzt, S. 41. 10 | Vgl. SCHNEIDER, Den Kopf verkehrt aufgesetzt, S. 53.

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setzung mit faschistischen Männlichkeits- und Gewaltfantasien legte das SDSMitglied Klaus Theweleit in Form des in den Jahren 1977 und 1978 erschienenen zweibändigen Werkes Männerphantasien vor.11 Seine These, dass die Soldatenmänner ihre als weiblich definierten weichen, leidenschaftlichen, lebendigen und emotionalen Elemente in einem gestählten Körperpanzer eingekesselt haben, beinhaltet auch die väterliche Gefühlskälte, die Theweleit und viele andere Protagonisten der 68er-Generation selbst erfahren haben.12 Der Historiker Götz Aly, der ebenfalls selbst aktiv an der Studentenbewegung in Berlin beteiligt war, bezeichnet die ›68er‹ deshalb als die »Generation der emotional frierenden Kinder«.13 Da viele Mitglieder der Protestbewegung aus bürgerlichen Haushalten stammten, so Alys Erfahrung, mangelte es den Studierenden zwar meist nicht an finanzieller Unterstützung durch das Elternhaus, dafür aber an Nestwärme und moralischer Orientierung.14 Die konfliktlos angepasste Elterngeneration der ›68er‹, so auch der Sozialphilosoph und Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter, sei eine auto-

11 | Siehe: THEWELEIT, Klaus: Männerphantasien, Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Frankfurt a.M. 1977; Bd. 2: Männerkörper – zur Psychoanalyse des weißen Terrors, Frankfurt a.M. 1978. Das zweibändige Werk basiert auf Theweleits Dissertation Freikorpsliteratur vom deutschen Krieg 1918-1923, mit der er im Jahr 1976 an der Universität Freiburg promovierte. 12 | Theweleits eigenwilliges Werk Männerphantasien, das keinem stringenten Aufbau folgt, antiakademisch und zugleich theoriegesättigt ist, machte den Autor in den 1970er Jahren zum Star im linksalternativen Milieu. Männerphantasien enthält autobiografische Passagen und ist auch als Versuch eines ›68ers‹ zur Selbstbefreiung von der nationalsozialistisch belasteten Elterngeneration zu interpretieren. Als Zeitdokument muss das Werk als Ausdruck der Kultur und Weltsicht der linken Alternativszene der späten 1960er und 1970er Jahre gesehen werden. Das provokante und innovative Werk stellt einen bedeutenden frühen Beitrag zur akademischen Körper- und Geschlechtergeschichte dar, stieß bei Erscheinen in der traditionellen Geschichtswissenschaft jedoch auf Ablehnung. Theweleit nutzt Freikorps-Literatur der 1920er als insgesamt recht schmale Quellenbasis seiner literaturwissenschaftlich-psychoanalytischen Untersuchung. Er behandelt ein historisches Thema, ohne dieses auch nur annähernd ausreichend in einen historischen Kontext einzuordnen. Von daher bleibt Männerphantasien, wie auch vom Autor beabsichtigt, zeit- und ortlos. Wen Theweleit genau meint, wenn er von ›faschistischen Männern‹ spricht, bleibt offen. Vgl. REICHARDT, Sven: Klaus Theweleits ›Männerphantasien‹ – ein Erfolgsbuch der 1970er Jahre. In: Zeithistorische Forschungen, Online Ausgabe, 3 (2006), Heft 3, unter: www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Reichardt-3-2006 (abgerufen am 1. November 2013). 13 | ALY, Unser Kampf, S. 196. 14 | Vgl. ALY, Unser Kampf, S. 195f.

6. Psychoanalyse

ritätsergebene Gesellschaft gewesen, die ihren Gehorsam geräuschlos vom Verlierer- auf das Siegersystem übertragen habe.15 Als Bewältigungsversuche der NS-Vergangenheit interpretiert der frühere SDS-Aktivist Wolfgang Nitsch das dringende Bedürfnis der ›68er‹, sich von dem als gestört und abgestumpft empfundenen Gefühls- und Seelenleben der elterlichen Tätergeneration abzugrenzen. Die junge Generation befand sich gemäß Nitsch in den späten 1960er Jahren in einem […] »pathologischen Kampf um die Gewinnung eines neuen Ich- oder Selbst-Ideals gegen die pervertierte alptraumhafte Autorität der Nazi-Eltern-Generation, die doch zugleich in verdrehter, nicht bewußter Weise mehr oder weniger in uns drin steckte, z.B. als quälerischsadistisches Über-Ich, als Schuldgefühl, als Leistungsperfektionismus, als Zerstörung der Liebesfähigkeit, als berüchtigte Arroganz der SDS-Intellektuellen. Die Verkrampfung dieser neuen Identitätssuche hinterließ ihre unwillkürlichen Spuren in Rhetorik, Haltung, Beziehungsstrukturen der typischen 68er Männer.« 16

Wie Nitsch angibt, führten die Mitglieder der antiautoritären Protestbewegung nicht nur einen Kampf gegen die nationalsozialistisch belastete Elterngeneration, sondern auch einen gegen die eigenen psychischen Defizite, die durch die unbewusste identifikatorische Teilhabe an der faschistischen Vergangenheit der Eltern entstanden sind. Das ehemalige SDS-Mitglied betrachtet die kollektive psychische Konstitution der 68er-Generation als pathologisch und meint die Auswirkungen der gestörten Psyche im Habitus der zumeist männlichen Vertreter der Protestbewegung wiederzuerkennen. Die Suche nach einer neuen, befreiten psychischen Identität prägte demnach offenbar den Gefühlshaushalt der männlich dominierten bundesdeutschen Oppositionsbewegung als emotionale Gemeinschaft. Ob die als emotionale Kälte interpretierte Unfähigkeit der Väter Gefühle auszudrücken, bei der maskulin codierten 68er-Generation tatsächlich zu einer gesteigerten Sensibilität für emotionale Bedürfnisse führte, gilt es zu prüfen.

6.2 R ationaler F unk tionär vs . sensibler M ann Der psychische Drang nach einem »kollektive[n] Ausagieren […] verinnerlichte[r] Ängste, Aggressionen und Sehnsüchte«17, von dem große Teile der 68er-Bewegung erfasst waren, brachte so manchen männlichen Aktivisten in ein Dilemma, da dieses Verhalten den in der Geschichte Deutschlands tief verankerten hegemonialen Männlichkeitsnormen widersprach. Das Auftreten von psychischen 15 | Vgl. RICHTER, Horst-Eberhard: Wanderer zwischen den Fronten, Gedanken und Erinnerung, Köln 2000, S. 108. 16 | NITSCH, 20 Jahre Student/inn/enbewegung. 17 | SCHNEIDER, Den Kopf verkehrt aufgesetzt, S. 148.

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Problemen bei Männern wurde spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als Krise der Männlichkeit problematisiert. Bereits von 1880 bis 1914 wurde der nervöse, empfindsame, verweiblichte Mann diskursiv als pathologisches Gegenbild zur nervenstarken soldatischen Männlichkeit entworfen.18 Selbst Soldaten, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg an der Front gedient hatten, wurde psychische Labilität als Folge von extremen Gewalt- und Angsterfahrungen oft nicht zugestanden. Psychiater und Psychologen diagnostizierten den Veteranen ›Kriegsneurosen‹ und stempelten sie häufig als Simulanten und Drückeberger ab, also als unzulängliche, schwache Männer. ›Richtige Männer‹, so die weitläufig populäre, aber auch professionelle Meinung, seien dazu in der Lage, Kriegserlebnisse psychisch unbeschadet zu überstehen. Es galt der »psychiatrische Lehrsatz von der nahezu grenzenlosen Belastbarkeit des Individuums […].«19 Nach dem Zweiten Weltkrieg gestand der bundesdeutsche Staat Soldaten mit massiven psychischen Kriegsfolgen keine Rente zu. Männer, die wegen traumatischer Kriegserlebnisse berufsunfähig geworden waren, wurden nicht selten als ›Rentenneurotiker‹ abqualifiziert.20 Die finanziellen Folgen des nationalsozialistischen Krieges und Völkermordes waren immens. Über vier Millionen Kriegsversehrte und Kriegshinterbliebene erhielten Rentenzahlungen, weshalb eine zusätzliche Entschädigung von Betroffenen mit psychischen Spätfolgen finanziell kaum zu tragen war. Zudem ließen sich die kriegs- und verfolgungsbedingten psychischen Störungen nach dem Zweiten Weltkrieg schlecht in die Erfolgsgeschichte der bundesdeutschen Wirtschaftswundergesellschaft integrieren.21 Auf eigene Initiative einen Psychotherapeuten zu besuchen, kam für die Vätergeneration der ›68er‹ aufgrund der massiven kulturellen Pathologisierung psychischer Erkrankungen bei Männern nicht in Frage. Folglich wuchsen die Protagonisten der 68er-Bewegung in einem soziokulturellen Kontext auf, in dem es als unmännlich galt, psychische Verletzungen offenzulegen und um therapeutische Hilfe zu bitten. Die klassische Psychoanalyse, wie sie in den späten 1960er Jahren in linksalternativen Kreisen in Mode kam, bewertet der Psychologe Wolfang Mertens als antipatriarchalisch wegen des »Ernstnehmen[s] des Psychischen, der Subjektivität, der inneren Welt eines Menschen, seiner Gefühle, seiner Nöte« und des »geduldige[n] Verweilen[s] bei der Innerlichkeit, ohne gleich in männliche

18  |  Vgl. KRÄMER, Felix/MACKERT, Nina: Wenn Subjekte die Krise bekommen. Hegemonie, Performanz und Wandel am Beispiel einer Geschichte moderner Männlichkeit. In: Joachim Landwehr (Hg.): Diskursiver Wandel, Wiesbaden 2010, S. 265-279, hier S. 271ff.; Vgl. HANISCH, Männlichkeiten, S. 26. 19 | KURY, Patrick: Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout, Frankfurt a.M. 2012, S. 205. 20  |  Vgl. MORSCHITZKY, Hans: Angststörungen. Diagnostik, Konzepte, Therapie, Selbsthilfe, 3. Aufl., Wien 2004, S. 119. 21 | Vgl. KURY, Der überforderte Mensch, S. 203ff.

6. Psychoanalyse

Abstraktionen zu flüchten.«22 Dementsprechend begegneten männliche Protestaktivisten, wie Volkhard Brandes, dem Trend zur kollektiven Ergründung des innersten Seelenlebens zunächst mit Skepsis oder gar Ablehnung: »Was mich in dieser Zeit mehr und mehr nervte, war das in unseren Kreisen üblich werdende Herumgestochere in der eigenen Psyche. Härte war bei mir angesagt. Wenn meine Mitbewohner die Nächte hindurch in ihren Seelen herumzuwühlten, stand ich morgens um sieben mit der Internationale auf den Lippen auf, dachte an die Arbeiter in den Fabriken, zog mir einen Kaffee rein und begann in die Schreibmaschine zu hämmern, daß es den anderen in den Schlaf fuhr.« 23

Brandes gibt an, in seiner Zeit als SDS-Mitglied kein Verständnis für das Bedürfnis seiner Mitbewohner, psychische Probleme intensiv zu diskutieren, gehabt zu haben. Für ihn stand die laienhafte psychologische Praxis der Genossen im Widerspruch zu seinem Selbstbild als rationaler und disziplinierter politischer Funktionär, der seine Zeit und Energie ganz und gar den politischen Zielen der Bewegung widmete. Der innere Zwang, etwas zu leisten und sich zu beweisen, um dem männlichen Ideal nachzueifern, beschreibt der Psychologe und Männerforscher Herb Goldberg als selbstzerstörerische Tendenz, die bis heute häufig in der männlichen Psyche verankert sei.24 Als den männlichen Imperativ bezeichnet auch Pierre Bourdieu im Rahmen seiner Überlegungen zur männlichen Herrschaft die Kehrseite maskuliner Hegemonie, die in der Pflicht besteht, der vorherrschenden Männlichkeitsnorm nachzukommen.25 Aus der Erinnerung Brandes geht hervor, dass er sich den in seinen Augen schwachen, psychisch instabilen Mitbewohnern überlegen fühlte. Er war der Meinung, im Gegensatz zu seinen Genossen aktiv und produktiv etwas geleistet zu haben, während diese sich nächtelang ›nur‹ mit sich selbst beschäftigt und die Morgenstunden untätig verschlafen haben. Die Affinität zahlreicher linksstehender Studenten für die Ergründung unbewusster seelischer Zustände wurde vor allem von Mitgliedern des intellektuelltheoretisch ausgerichteten SDS als unangenehm und befremdlich befunden. Gemäß dem ehemaligen SDS-Aktivisten Klaus Hartung schämte man sich in dem männlich dominierten Studentenverbund für die an der menschlichen Psyche interessierten Kommilitonen und fürchtete um seinen Ruf:

22  |  MERTENS, Wolfgang: Männlichkeit aus psychoanalytischer Sicht. In: Walter Erhart/ Britta Herrmann (Hg.): Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit, Stuttgart/Weimar 1997, S. 35-57, hier S. 38. 23 | BRANDES, Wie der Stein ins Rollen kam, S. 152. 24 | Vgl. GOLDBERG, Herb: Man(n) bleibt Mann. Möglichkeiten und Grenzen der Veränderung, Hamburg 1997, S. 13ff. 25 | Vgl. BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, S. 92.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er »Es war der Aufstand der Geschädigten, die ihre Misere veröffentlichten. Darin lag der Skandal, die Peinlichkeit für uns rationale Funktionäre des SDS. Diese Selbstentblößung entblößte auch uns. Es brachte uns in den Verdacht, daß unserem politischen Handeln ganz persönliche Motive unterlagen, daß wir möglicherweise für Vietnam auf die Straße gingen, weil wir auch sonst frustriert waren.« 26

Aus der verspürten Peinlichkeit und der Angst vor öffentlicher Entblößung der SDS-Mitglieder spricht ihre Identifikation mit einem kontrollierten und rationalen Männlichkeitsideal. Das Sprechen über sich selbst und das Zugeben von Sorgen, Ängsten oder gar psychischen Problemen wird von den Aktivisten der 68er-Bewegung als »Bedrohung ihrer männlichen Identität« erlebt, »da Schwäche und Hilfsbedürftigkeit als unmännlich gelten.«27 Wie sozialpsychologische Untersuchungen ergeben haben, stellen soziokulturelle Normen traditioneller Maskulinität für Männer ein deutliches Hemmnis dar, bei physischen und psychischen Erkrankungen Hilfe zu suchen.28 Die Furcht vor einer emotionalen ›Selbstentblößung‹, wie Hartung sie beschreibt, ist wohl gleichzusetzen mit der maskulinen Angst vor dem Verlust von Selbstkontrolle, Autonomie und Kompetenz. Als Abwehrstrategie gegen die im linksalternativen Milieu beliebt gewordenen therapeutischen Bestrebungen reagierten die männlichen SDS-Aktivisten gemäß Hartung mit einer Mischung aus Süffisanz und Häme.29 Sie wollten keinesfalls mit den Teilen der Bewegung in Verbindung gebracht werden, die sich mit der Psyche beschäftigten. Gerade für die intellektuell ausgerichteten Trägergruppen der außerparlamentarischen Bewegung waren politischer Protest und die Artikulation persönlicher Probleme nicht zu vereinen. Sie befürchteten, dass ihre politischen Forderungen und Anliegen nicht mehr ernst genommen werden würden, sobald Mitglieder der Protestbewegung ihre psychischen Leiden in der Öffentlichkeit inszenierten. Innerhalb der maskulin codierten bundesdeutschen 68er-Bewegung beherrschten ökonomisch-materialistische Theorien die Vorstellung vom Menschen und der Gesellschaft. Die sozialistisch gesinnten Studenten glaubten an die Dialektik von Basis und Überbau. Als ökonomische Basis werden in der marxistischen Theorie die einer Gesellschaft zugrundeliegenden materiellen Produktionsverhältnisse begriffen, als Überbau die politischen, religiösen, philosophischen und 26 | HARTUNG, Klaus: Die Psychoanalyse der Küchenarbeit. Selbstbefreiung, Wohngemeinschaft und Kommune. In: Eckhard Siepmann/Irene Lusk/Jürgen Holtfreter u.a. (Hg.): CheSchahShit. Die Sechziger Jahre zwischen Cocktail und Molotow, Reinbek 1986, S. 151160, hier S. 154. 27 | LEIMKÜHLER-MÖLLER, Anne-Maria: Männer und Depression: geschlechtsspezifisches Hilfesuchverhalten. In: Fortschritte der Neurologie – Psychiatrie 68 (2000), Heft 11, S. 489-495, hier S. 492. 28 | Vgl. LEIMKÜHLER-MÖLLER, Männer und Depression, S. 489. 29 | Vgl. HARTUNG, Die Psychoanalyse der Küchenarbeit, S. 154.

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sonstigen gesellschaftlichen Denkweisen, also die Gesamtheit der ideologischen Vorstellungen. Dabei besteht die grundsätzliche Auffassung, dass die ökonomische Basis den Überbau bestimmt und nicht andersherum.30 Eine soziale Revolution, wie die ›68er‹ sie herbeigesehnt haben, kann in diesem Theoriemodell nur auf Ebene der Basis geschehen, wenn in einer historischen Epoche die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen geraten. Die Psyche gehört gemäß der marxistischen Weltsicht zum Überbau, von dem keine revolutionären Kräfte ausgehen. Elke Regehr, die sich in den späten 1960er Jahren an der studentischen Revolte beteiligte und sich in den 1970er Jahren als Psychologin und Psychoanalytikerin ausbilden ließ, erklärt die Tatsache, dass viele männliche ›68er‹ die Revolutionierung des Unbewussten ablehnten, mit dem rigiden Primat des Historischen Materialismus innerhalb der linksintellektuellen Protestszene.31 Für zahlreiche Vertreter der studentischen Bewegung bestimmte ausschließlich das materielle Sein das Bewusstsein. Psychologische und pädagogische Reflexionen von weiblichen Protestteilnehmerinnen wurden gemäß Regehr von den Männern des SDS »größtenteils belächelt, als ob man sich nicht ganz auf der Höhe des revolutionären Gedankenguts befände.«32 Als »Weiberkram«33 taten männliche 68er-Aktivisten psychologische Theorien ab, während sie den Marxismus als rationale Wissenschaft, als ein männliches, ihnen angemessenes Terrain betrachteten.34 Obwohl innerhalb der maskulin codierten 68erBewegung ein Konsens darüber bestand, dass das Schweigen und die emotionale Verschlossenheit der in den Nationalsozialismus verstrickten Vätergeneration anzuklagen seien, übernahmen die protestierenden Söhne wahrscheinlich, ohne sich dessen bewusst zu sein, nicht selten die emotionale Stummheit der Väter. Wenngleich von einigen männlich dominierten Trägergruppen der antiautoritären Bewegung die Beschäftigung mit der Psyche als unmännlich und unpolitisch abgelehnt wurde, entwickelte sich innerhalb der linken Protestgemeinde parallel dazu das Ideal des »sensiblen Mannes«.35 Diese laut Peter Schneider in Mode gekommene und von Frauen des linksalternativen Milieus zusehends bevorzugte Ausprägung von Männlichkeit zeichnete sich durch die Fähigkeiten aus, gut zuhören zu können und besonders einfühlsam zu sein.36 Die Geschlechterhistorikerin Ute Frevert bestätigt, dass in der Jugendszene der 1960er Jahre das Ideal des ›knallharten Supermannes‹, der keine Gefühlsregung zeigt, Anhänger verlor und das Bedürfnis nach Anlehnung und Geborgenheit nicht mehr verleug30  |  Vgl. HOFMANN, Joachim: Der Marxismus. Seine Abbildung anhand von Originalzitaten, Donauwörth 2009, S. 36-60. 31 | Vgl. REGEHR, ›Für viele Männer des SDS war die Psyche Weiberkram‹, S. 98. 32 | REGEHR, ›Für viele Männer des SDS war die Psyche Weiberkram‹, S. 93. 33 | REGEHR, ›Für viele Männer des SDS war die Psyche Weiberkram‹, S. 98. 34 | Vgl. REGEHR, ›Für viele Männer des SDS war die Psyche Weiberkram‹, S. 98. 35 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 79. 36 | Vgl. SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 79.

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net wurde.37 In Arbeitskreisen, in denen zwar gemeinsam Politik betrieben wurde, aber kein Austausch von persönlichen Problemen stattfand, fühlten sich viele Mitglieder der 68er-Bewegung nicht mehr wohl. Es kam vor, dass politische Diskussionsrunden unterbrochen wurden, um sich den emotionalen Befindlichkeiten eines Einzelnen zu widmen. Wenn ein Genosse »sichtbar niedergeschlagen oder traurig war, fand sich meistens einer, der nach zwei, drei Stunden die Debatte unterbrach: ›Ich finde es Scheiße, daß hier so abstrakt diskutiert wird, während es einem so dreckig geht.‹«38 Für zahlreiche Protagonisten der antiautoritären Protestbewegung schien politisches Arbeiten und die kollektive Diskussion von individuellen Gefühlen und Gemütslagen durchaus miteinander vereinbar. Rainer Langhans etwa bekannte auf einer Konferenz ehemaliger ›68er‹ im Jahr 1986, wie sehr er in den Jahren des Protests dieses Miteinander und Füreinander-da-sein im SDS vermisst hat, wie sehr er unter der dort vorherrschenden männlichen Sprachlosigkeit und emotionalen Kälte gelitten hat: »Ich war damals SDS-Funktionär […] und wurde wegen persönlicher Probleme, die mir sehr schwergefallen sind zu lösen, nämlich mit Frauen, dann schließlich aus dem SDS ausgeschlossen. […] Ich bin rausgegangen, weil ich mit einer Frau zuende [sic!] war und konnte nur noch heulend im SDS-Zentrum liegen. […] Es ist so, wenn man sich mit weiblichen Dingen einläßt, daß man rausfliegt aus dem Männerbund, und der Männerbund ist ein Theoriebund.« 39

Langhans klagt an, angeblich wegen unmännlichen Verhaltens, also der unkontrollierten emotionalen Artikulation von Liebeskummer unfreiwillig aus dem Studentenbund ausgeschlossen worden zu sein. Diese Aussage entspricht nicht der Realität. Er wurde als Mitglied der Kommune I von dem studentischen Verbund suspendiert, weil er Flugblätter im Namen des SDS ohne vorherige verbandsinterne Abstimmung und Absprache veröffentlicht hatte. Es ist anzunehmen, dass Langhans mit seiner falschen Aussage das Motiv seiner eigenen, inneren Distanzierung vom SDS verdeutlichen wollte. Er war nämlich Mitbegründer der Kommunebewegung, die dem Credo folgte, dass eine wirkliche Veränderung der bestehenden Verhältnisse »nur über die direkte Beschäftigung mit [der] inneren Situation […], mit dem Privaten, auch mit dem Unterbewussten«40 zu erreichen sei. Im linksalternativen Milieu der Protestbewegung entwickelte sich also eine subkulturelle Strömung, die primär auf innere Revolution aus war. Mit Stolz berichtet Langhans, »einer von den Psychos«41 gewesen zu sein. In den Jahren der 68er-Revolte konnte es demnach für Männer durchaus identitätsstiftend sein, 37 | Vgl. FREVERT, Umbruch der Geschlechterverhältnisse?, S. 658. 38 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 20. 39  |  Rainer Langhans, in: SCHAUER, Prima Klima, S. 84f. 40 | LANGHANS, Ich bin’s, S. 42. 41 | LANGHANS, Ich bin’s, S. 43.

6. Psychoanalyse

sich mit einer politisch verstandenen Psychologie zu befassen. Der Zeithistoriker Sven Reichardt bescheinigt dem sozialen Umfeld der 68er-Bewegung eine Auseinandersetzung »zwischen der Kälte abstrakter Theorie einerseits und der Wärme unmittelbarer Erfahrungspolitik andererseits«42, die mit selbstreflexiver Introspektion und Selbstverwirklichung verbunden war. Da die theoretisch-intellektuellen Polit-Gruppierungen ein abstraktes, rationales Klima der emotionalen Kälte ausstrahlten, entwickelte sich laut Reichardt ein hedonistisches Selbsterfahrungsmilieu, das auf der Suche nach Verständnis, Wärme und Geborgenheit war.43 Auf eine mystifizierende Art und Weise beschreibt Rainer Langhans die in den späten 1960er Jahren im Protestmilieu einsetzende Reise von Selbsterfahrungsgruppen in ihre Psyche: »Sie zogen sich zurück und machten sich auf den Weg – in ihr eigenes Inneres. […] Es war eine Implosion. Sie sind in sich reingekrochen und haben alles analysiert und hochgehen lassen, was an alten Erfahrungen da war. Und wollten erst mal sich selbst revolutionieren, bevor sie wieder herumrannten und schrien: Revolution! Revolution!« 44

Durch die Erkundung und Offenlegung ihres Seelenlebens versuchten die Mitglieder der Selbstverwirklichungsszene ihre innere Welt zu verstehen, vor allem auch die unbewussten Motive ihrer Handlungsweisen, die ihnen selbst fremd und unverständlich erschienen. Dabei gingen sie von einem politischen und kulturkritischen psychoanalytischen Ansatz in Anlehnung an Sigmund Freud aus. Der Begründer der Psychoanalyse hatte die massenhaft diagnostizierten Neurosen seiner Zeit zum Anlass genommen, um über das allgemeine kulturelle Unbehagen nachzudenken.45 Die psychoanalytisch interessierten ›68er‹ fragten danach, warum sich die Menschen krankmachenden, entwürdigenden gesellschaftlichen Zwängen unterwerfen und deren destruktiver Irrationalität folgen würden, obwohl sie sich nach einem sinnvolleren, freieren Leben sehnten und eigentlich sogar wüssten, wie dieses umzusetzen sei.46 Mittels des aufklärerischen Potentials der Psychoanalyse erhofften sie sich eine lückenlose Selbsterkenntnis und damit einen Ausweg aus den einschränkenden, unterdrückenden Lebensverhältnissen. Selbsterfahrung, Selbstwerdung und Selbstverwirklichung waren die zentralen Termini der Protestierenden, die eine innere Revolution verfolgten. Großer 42 | REICHARDT, Sven: ›Wärme‹ als Modus sozialen Verhaltens? Vorüberlegungen zu einer Kulturgeschichte des linksalternativen Milieus vom Ende der 1960er bis Anfang der 1980er Jahre. In: Vorgänge 44 (2005) Heft 3-4, S. 175-187, hier S. 181. 43 | Vgl. REICHARDT, ›Wärme‹ als Modus sozialen Verhaltens?, S. 175ff. 44 | LANGHANS, Ich bin’s, S. 47. 45  |  Vgl. MERTENS, Wolfgang: Psychoanalyse. Geschichte und Methoden, 4. Aufl., München 2008, S. 91f. 46 | Vgl. MERTENS, Psychoanalyse, S. 91.

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Beliebtheit innerhalb der antiautoritären Protestgemeinschaft erfreute sich Herbert Marcuses psychoanalytisch inspiriertes Konzept der Subjektwerdung, das »in der Tradition nachaufklärerischer, idealistischer Autonomievorstellungen« stand, »und zu dessen Hauptkennzeichen die Individualisierung und das Verwinden von Herrschaft«47 gehörte. In kulturkritischer Manier bezichtigte der Philosoph die zeitgenössischen Lebensverhältnisse als pathogen. Das Ergebnis der unfreien, von psychischer Unterdrückung gekennzeichneten Verhältnisse, so Marcuse, sei »ein verstümmeltes, verkrüppeltes und frustriertes Menschenwesen, das wie besessen seine Knechtschaft verteidigt.«48 Aus diesem Geisteszustand wollten sich die ›68er‹ befreien und zu selbstständigen, bewusst urteilenden Individuen werden, die ihre authentischen Wünsche und Bedürfnisse umsetzen können. Was die zivilisatorische Bewältigung von Destruktivität betraf, waren die Mitglieder des linken Protestmilieus voller psychoanalytischer Zuversicht.49 Psychische Befreiungs- und Selbstwerdungspraktiken gewannen innerhalb des linksalternativen Protestmilieus zusehends an Attraktivität. Diese Entwicklung hatte gemäß dem ehemaligen SDS-Mitglied Siegward Lönnendonker zur Folge, dass Zugehörigkeit zur maskulin codierten 68er-Bewegung auch über die demonstrative Inszenierung einer psychischen Störung erfolgte. In der Protestszene von ›1968‹ gab es angeblich »[…] so was wie einen Wettlauf […]: wer ist der Verrückteste. […] eine Symptom-Neurose, […] damit war es nicht getan, es musste schon eine Charakterneurose sein. Und dann hatte man, wie gesagt, die Meisterprüfung.«50 Gemäß der Aussage des ehemaligen SDS-Aktivisten galt es innerhalb der linken Protestgemeinde in gewisser Weise als ›schick‹, eine durch die untragbaren gesellschaftlichen Verhältnisse verursachte Neurose zu haben. Der von Lönnendonker beschriebene Wettkampf um die schwerwiegendste psychische Erkrankung und die damit verbundene Aufmerksamkeit und Führungsrolle innerhalb der Protestgemeinschaft entspricht der wettbewerbsorientieren Generierung von Maskulinität gemäß Bourdieu.51 In Teilen der männlich dominierten westdeutschen 68er-Bewegung schämte man sich demzufolge nicht mehr, seine inneren Beweggründe, Gefühle und psychischen Probleme offenzulegen, 47 | BOGDAL, Klaus-Michael: Riskante Subjektwerdung oder Wissen wir noch, wer wir waren? In: Ulrich Ott/Roman Luckscheiter (Hg.): Belles lettres/Graffiti. Soziale Phantasien und Ausdrucksformen der Achtundsechziger, Göttingen 2001, S. 17-32, hier S. 26. 48  |  MARCUSE, Herbert: Befreiung von der Überflußgesellschaft. In: Kursbuch 16 (1969), S. 185-199, hier S. 186. 49 | Vgl. BUSCH, Hans-Joachim: Aggression und politische Sozialisation. Überlegungen zu einer politischen Psychologie des Subjekts. In: Timo Hoyer/Ullrich Beumer/Marianne Leuzinger-Bohleber (Hg.): Jenseits des Individuums – Emotion und Organisation, Göttingen 2011, S. 286-306, hier S. 287. 50 | Interview Lönnendonker, S. 38. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 50 (SDS, Sammlung Staadt, SDS-Projekt). 51 | Vgl. BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, in: Dölling/Krais, S. 203.

6. Psychoanalyse

sondern protzte sogar mit seinen angeblichen seelischen Leiden. »Wer seinen Schutz abwarf und sich hemmungslos seinen Gefühlen überließ, war der Star […]«52, erinnert sich auch der Politaktivist Peter Schneider. Da viele junge Erwachsene der Protestgeneration in ihrer Kindheit und Jugend unter einer gesamtgesellschaftlichen Atmosphäre litten, die in ihrer Wahrnehmung von Dumpfheit, Sprachlosigkeit und Verklemmtheit gekennzeichnet war, hatte die Zuwendung zur Innerlichkeit in den Jahren rund um ›1968‹ ein erlösendes und befreiendes Moment. »Endlich durfte man Gefühle zeigen, weinen, schreien oder gar toben. So groß war diese Befreiung, dass nun fast jeder ein psychisches Problem bei sich fand, thematisierte und pflegte.«53 Auf diese Weise bestätigt die ›68erin‹ Ulrike Heider den eigentümlichen zeitgenössischen Trend innerhalb der Protestszene, sich eine psychische Pathologie zuzuschreiben. Emotionale Bedürfnisse und seelische Belastungen nach außen zu kehren, korrespondierte im Selbstverwirklichungsmilieu der 68er-Bewegung folglich mit den normativen Gefühlsregeln der Protestgemeinschaft. Die Mitglieder der Protestbewegung, die eine gesellschaftliche Revolution über den Weg der Psyche anstrebten, definierten die Aufdeckung von seelischem Leiden nicht mehr als Hindernis und Schwäche, sondern als unabdingbare Voraussetzung, um die angestrebte Gesellschaftsveränderung herbeizuführen: »Vor allem aber kehren sie das Verhältnis von stark und schwach um. Die provozierende These (und Praxis) war: Wer leidet, hat etwas zu sagen. Nicht der intellektuell gewappnete Politikfunktionär hat etwas zu sagen, sondern gerade der, der Schwierigkeiten hat sich zu artikulieren, der Angst hat […].« 54

Laut Klaus Hartung fand innerhalb der bundesdeutschen 68er-Bewegung eine Wandlung, beziehungsweise Verschiebung des gruppeninternen hegemonialen Männlichkeitsideals statt. Das Männlichkeitskonstrukt des rationalen Polit-Aktivisten verlor an Attraktivität, während das des sensiblen Mannes an Zuspruch gewann. Demjenigen, der psychische Probleme einräumte und öffentlich kommunizierte, wurden mehr Authentizität und Kompetenz zugesprochen, revolutionär tätig zu sein, als demjenigen, der sich der Auseinandersetzung mit sich selbst verschloss.

6.3 Pathogene U niversität Die Affinität der Bewegten von ›1968‹ zu psychoanalytischen Theorien und Interpretationsmustern führte dazu, dass die Universitäten, von denen die studenti52 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 351. 53 | HEIDER, Keine Ruhe vor dem Sturm, S. 121. 54 | HARTUNG, Die Psychoanalyse der Küchenarbeit, S. 156.

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sche Revolte ausging, als pathogene Orte wahrgenommen wurden. Die Protestierenden unterstellten den akademischen Institutionen ein soziales Klima, das die Studentenschaft psychisch krank machte. Eine der fundamentalen Ursachen der 68er-Revolte stellten schließlich auch die Studienbedingungen der späten 1960er Jahre dar. In diesem Jahrzehnt stieg die Zahl der Studierenden so stark an, dass Massenvorlesungen und endlose Warteschlangen vor Mensen, Einrichtungen der Universitätsverwaltung oder Büros der Professoren zum studentischen Alltag wurden. Während sich jährlich mehr Studenten einschrieben, stagnierten die Professoren- und Assistentenstellen. Dies hatte zur Folge, dass das Universitätsstudium zusehends einen unpersönlicheren, wenn nicht gar anonymen Charakter erhielt. Es fand eine Distanzierung der Studierenden von den Lehrenden und von der Institution Universität insgesamt statt. Den jungen Erwachsenen erschien der Universitätsbetrieb bürokratisch und unternehmensartig geführt, die Möglichkeiten zur eigenständigen Gestaltung des Studiums waren äußerst gering. Über Etat, Personal, Forschung und Lehre der Seminare und Institute bestimmten die Ordinarien.55 Die linksstehenden Studierenden waren unzufrieden mit den veränderten Studienbedingungen, fühlten sich unwohl und gingen dazu über, ihre vermeintlichen psychischen Probleme den universitären Strukturen anzulasten. Sie trafen sich auf Psycho-Teach-ins und ermittelten mithilfe ausgefüllter Fragebögen statistisch die in der Studentenschaft am häufigsten auftretenden seelischen Leiden. Die Ad-hoc-Gruppe Sozialisation der Universität München resümierte über die Anforderung des akademischen Arbeitens: »Wir alle haben Angst vor Prüfungen und spüren den psychischen Druck. 50 % leiden an Konzentrationsunfähigkeit, Gedankenblockierung und Verlust des Überblicks, 30 % an Vergeßlichkeit, Zweifeln und nicht mehr zu kontrollierendem Denken […].«56 Der SDS Mannheim ließ 117 Studenten Fragebögen zu den Themen Sexualität, Angst und Arbeit mit folgendem Ergebnis ausfüllen: »55 [der Befragten] bekannten sich offen zu ihren sexuellen Problemen […], 69 zu Angst und 92 zu Arbeitsschwierigkeiten. […] 106 […] halten das psychische Elend in unserer Gesellschaft für groß.«57 Fast alle Teilnehmer dieser Psycho-Teach-ins räumten also ein, unter gesellschaftlichen und universitären Leistungsansprüchen psychisch zu leiden. Die Symptome, die die Studenten Ende der 1960er Jahre beschrieben, ließen sich heute unter dem schil55 | Vgl. GROPPE, Carola: Universität, Generationenverhältnisse und Generationenkonflikte um ›68‹. Vom Wandel der Institution und der Radikalisierung politischer Aktivität. In: Meike Sophia Baader/Ulrich Herrmann (Hg.): 68 – Engagierte Jugend und Kritische Pädagogik. Impulse und Folgen eines kulturellen Umbruchs in der Geschichte der Bundesrepublik, Weinheim/München 2011, S. 129-147, hier S. 141ff. 56 | Flugblatt, Universität München, Ad-hoc-Gruppe Sozialisation: Prüfungen, ein Instrument der Anpassung. In: AdMA, Archiv 451. 57 | SDS Mannheim, Auszug aus dem Mannheimer Info ›Rote Kommentare‹: PsychoTeach-in. In: SDS Info, 2. Jg., Nr. 7/8, 20. Februar 1969, S. 16. In: IfZ Archiv, Dn 012.

6. Psychoanalyse

lernden wie populären Begriff des Stress zusammenfassen, der in Wissenschaftswie Alltagssprache inflationär als Ursache diffusen persönlichen Unbehagens verwendet wird. Stress, als dessen historische Frühform die Neurasthenie betrachtet wird, hat gegen Mitte der 1970er eine diskursive Explosion erfahren und ist zum bevorzugten Thema populärwissenschaftlicher Ratgeber avanciert.58 Seitdem ist »Stress zum kulturellen Code geworden, mit dem grundsätzlich alle als belastend empfundenen Situationen in Arbeit und Alltag charakterisiert werden«59, so der Historiker Patrick Kury, der sich um die Erforschung einer Wissensgeschichte des Stress verdient gemacht hat.60 Obgleich eine Popularisierung des Stressdiskurses gegen Ende der 1960er Jahre noch nicht eingesetzt hatte, waren die Vertreter der 68er-Bewegung bereits recht sensibel für die Wahrnehmung von psychischer Belastung und Überforderung. Die Mitglieder des studentischen linksalternativen Protestmilieus zeigten reges Interesse für die sozialen und kulturellen Einflüsse auf die menschliche Psyche in einer Zeit, in der die Erforschung von Stress medizinischen Experten vorbehalten war, und die Massenmedien das Thema noch nicht für sich entdeckt hatten. Die akademische Welt der 1960er Jahre, in der Mechanismen männlicher Dominanz wirksam waren, war jedoch signifikant durch eine Erfolgs- und Leistungsorientierung gekennzeichnet.61 Zielstrebiges Schaffen und intellektuelle Leistungsfähigkeit galten im universitären Bereich als hegemonial männlich assoziierte Attribute. Da in den Jahren des Protests der Frauenanteil an bundesdeutschen Hochschulen unter einem Drittel lag und die 68er-Bewegung von überwiegend männlichen Protagonisten geprägt war, erscheint die Artikulation von Überforderung und die Zurückweisung von männlichen Leistungsansprüchen umso einschneidender. Die kritische Beurteilung des akademischen Leistungsdiktats durch die Protestierenden bedeutete ein Ausbrechen aus der unhinterfragten Erfüllung der stereotypen männlichen Geschlechterrolle. Wie die Mitglieder der Kommune II zeitgenössisch feststellten, litten ihrer Meinung nach vor allem Männer unter dem kulturellen Imperativ von Pflicht und Leistung: 58 | Vgl. KURY, Der überforderte Mensch, S. 9ff. 59 | KURY, Der überforderte Mensch, S. 13. 60 | Patrick Kury betont den engen Zusammenhang zwischen der historischen Stressund Emotionsforschung. Die Popularisierung des Stressdiskurses in den 1970er Jahren erfolgte laut Kury nicht zufällig zeitgleich mit dem wachsenden gesellschaftlichen Interesse an Emotionen. Zudem beschäftigt sich die psychologische und psychosomatische Stressforschung intensiv mit der Rolle von Gefühlen bei der Wahrnehmung von Stress. Vgl. KURY, Der überforderte Mensch, S. 26. 61 | Siehe die klassische soziologische Studie: BOURDIEU, Pierre: Homo academicus, Frankfurt a.M. 1992. Zur aktuellen Situation der Geschlechterordnungen im Wissenschaftsbetrieb: KRAIS, Beate (Hg.): Wissenschaftskultur und Geschlechterordnung: Über die verborgenen Mechanismen männlicher Dominanz in der akademischen Welt, Frankfurt a.M. 2000.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er »Die […] Männer, die studiert hatten oder noch studierten, hatten eine wesentliche gemeinsame Erfahrung: die Leistungsansprüche von Elternhaus, Schule und Universität waren nur unter ungeheurem psychischen Druck zu erfüllen. Wie unterschiedlich dieser Druck sich auch geäußert hatte – sei es in offen neurotischen Symptomen, sei es in der bewußt werdenden Verarmung psychischer Qualitäten wie Vitalität und Sensibilität – für alle […] war Produktivität entscheidend verknüpft mit Leid und Entsagung.« 62

Die maskuline Erziehung und Sozialisation in der kapitalistischen Leistungsgesellschaft, so der kritische Tenor der Kommune II, sei viel zu sehr auf effizientes Arbeiten und Produktivität im wirtschaftlichen Sinne ausgerichtet. Wie die Ökonomin Martina I. Mronga bestätigt, ist die Konstruktion von »Männlichkeit […] – historisch gesehen – systemkonform eingebettet in die industriekapitalistische Wirtschaftsform und Lebensführung.«63 Der männlich dominierte Wettkampf um Lebenschancen, Prestige, Macht und Status ist in kapitalistischen Gesellschaften untrennbar mit der Teilhabe am Wirtschaftsleben verbunden.64 Genau dieses maskuline Produktivitätsprinzip stellten die Protestierenden der 68er-Bewegung erstmals in der bundesdeutschen Geschichte in Frage. Die gesellschaftliche Direktive Männlichkeit durch Leistungserbringung zu beweisen, wurde von den linksalternativen Oppositionellen als Norm begriffen, die psychische Krankheiten bedingt. Das Eingeständnis, von den universitären Anforderungen überfordert zu sein und unter psychischem Stress zu leiden, war für die Protagonisten der maskulin codierten Oppositionsbewegung kein Zeugnis des individuellen akademischen und maskulinen Scheiterns. Vielmehr herrschte im Protestmilieu die Meinung vor, dass sich der Einzelne den pathogenen gesamtgesellschaftlichen Strukturen gar nicht entziehen kann. Der SDS Mannheim warnte beispielsweise vor einer epidemischen Ausbreitung psychischen Elends an den bundesdeutschen Universitäten, wenn der Hochschulbetrieb nicht revolutioniert werden würde: »[…] angesichts der zunehmenden Brutalisierung und psychischen Verelendung unserer Gesellschaft ist der herkömmliche Universitätsbetrieb eine glatte Unverschämtheit. Die Professoren kümmern sich einen Scheißdreck um das Elend um sie herum, obwohl sie die wissenschaftlichen Möglichkeiten dazu hätten. Wenn wir der Ordinarienuniversität nicht endlich ihre wissenschaftlichen Produktionsmittel entreißen, dann werden wir mitschuldig am psychischen Massenelend und […] an der Beibehaltung unserer eigener Neurosen, die durch Unterwerfung und Anpassung nur kaschiert und konserviert werden.« 65 62 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 108. 63  |  MRONGA, I. Martina: Die Konstruktion von Männlichkeit im Management: Eine Analyse entgrenzter Arbeitsstrukturen, Wiesbaden 2013, S. 45. 64 | Vgl. MRONGA, Die Konstruktion von Männlichkeit im Management, S. 45. 65  |  SDS Mannheim, Auszug aus dem Mannheimer Info ›Rote Kommentare‹: Psycho-Teachin, S. 17. In: IfZ Archiv, Dn 012.

6. Psychoanalyse

Der regionale studentische Verbund empört sich über eine universitäre Realität, in der keine Rücksicht auf das Gefühls- und Seelenleben der Studierenden genommen wird und spricht im Stile der marxistischen Gesellschaftsanalyse von ›psychischem Massenelend‹. Während Karl Marx im industriellen Zeitalter die Verelendung der Arbeiterklasse im Sinne des Pauperismus angeprangert hatte, unterstellten die ›68er‹ der kapitalistischen Wohlstands- und Konsumgesellschaft der 1960er Jahre die Hervorbringung massenhafter psychischer Erkrankungen innerhalb der Studentenschaft. Wenn der SDS Mannheim annimmt, dass die Professoren die wissenschaftlichen Möglichkeiten zur Beseitigung des psychischen Elends der Studierenden inne hätten, aber nicht bereit seien, diese zur Anwendung zu bringen, dann spricht dies für die Betrachtung der Wissenschaft als Unterdrückungsinstrument der Herrschenden. Die Vertreter des antiautoritären Protests waren der Meinung, dass über Lehrinhalte systemkonforme Werte und Normen an die Studierenden weitergegeben würden und dahinter eine systematische Verhinderung kritischen Denkens stecke. Eine zeitgenössische psychoanalytische Interpretation der Machtverhältnisse an den bundesdeutschen Hochschulen, die im Mai 1968 in der Frankfurter Studentenzeitung Diskus veröffentlicht wurde, zeigt, wie sich die 68er-Bewegung die massenhafte Entstehung psychischer Störungen in der Studentenschaft erklärte: »Die bestehende Universität setzt viel daran, den Studenten die Kindheit zu verlängern […]. Der Professor reproduziert infantile Angst, indem er gleichzeitig die Studenten mit der ›Milch der Wissenschaft‹ füttert […] und andererseits über die Prüfungsgewalt nachkontrollieren kann, ob der Student auch alles ›gefressen‹ hat. […] Hinter der ›wissenschaftlichen Arbeit‹ verbirgt sich ein Geflecht von verdrängter Angst, Aggression, libidinösen Wünschen, von Narzissmus und autoritärer Konkurrenz, die die befriedigende Aneignung und Verwertung der wissenschaftlichen Inhalte ver- oder zumindest behindert. […] Die Angst ist die Angst vor der Strafe, die der Unwissenheit folgen kann, nämlich in den Prüfungssituationen zu versagen. Die Aggressivität, die notwendig gegen die versagenden Instanzen entsteht, wird wegen deren Übermacht verdrängt und verwandelt sich in Schuldgefühle […] nicht genug zu wissen […].« 66

Die Verfasser dieser psychoanalytischen Diagnose setzen die gemäß der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule als repressiv einzustufenden Strukturen der bürgerlichen Kleinfamilie analog mit dem autoritären Universitätssystem. Der Studierende ist in dieser Deutung in seinem Streben nach Wissen einerseits abhängig von der gütigen, nährenden, weiblich konnotierten alma mater, wird an66  |  DE CLERCK, R./DOMBOIS R./ROTH E. M .R./VOEGELIN, Ludwig: Arbeitsgruppen im aktiven Streik. Emanzipation unter politischem und wissenschaftlichem Leistungsdruck, Mai 1968. In: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 2. Bd., S. 607-618, hier S. 609. (Ursprünglich veröffentlicht in: Diskus – Frankfurter Studentenzeitung, 19. Jg., Nr. 4f.)

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dererseits aber von der patriarchal-autoritär begriffenen Professorenschaft mittels (Prüfungs-)Gewalt dazu gezwungen, das vorgegebene Wissen unhinterfragt zu verinnerlichen, wobei bei Versagen Sanktionen drohen. Aus diesen Widersprüchen erwachsen gemäß der psychoanalytischen Interpretation des universitären Leistungsdrucks ernsthafte psychische Konflikte für die Studierenden. Damit kann festgehalten werden, dass die maskulin codierte 68er-Bewegung wohl als erste studentische Generation die negativen seelischen und emotionalen Dimensionen des erfolgsorientierten, elitär ausgerichteten und anonymisierten Hochschulstudiums für die Studierenden erforschte und diskursiv verhandelte. Die ihrerseits gnadenlose Verurteilung der universitären Strukturen als pathogen war Ausdruck einer Protestkultur, die die unbewussten Vorgänge der menschlichen Psyche für sich entdeckt hatte und ihren universitätspolitischen Dissens mittels psychoanalytischer Interpretationsschemata kundtat.

6.4  G ruppenther apie Im Umfeld der 68er-Bewegung bildeten sich Gesprächskreise, in denen eine laienhafte, psychoanalytische Praxis betrieben wurde. Es gab einen regelrechten »run auf die Gruppentherapie«67, erinnert sich der führende SDS-Aktivist Christian Semler. Selbsterfahrungsgruppen trafen sich in Räumen der Universität68, meist wurden die »berüchtigten nächtelangen Psychodebatten«69 jedoch in Wohngemeinschaften durchgeführt. Bekannt für ihre regelmäßig und institutionalisiert stattfindenden gruppenanalytischen Gesprächsrunden waren die Kommunen I und II. »[Das] Versenken in die eigene Psyche und in die sublimen Verästelungen des individuellen Charakters« 70 war für die Kommunarden ein bedeutender Teil ihrer kulturrevolutionären Bestrebungen um einen alternativen, von gesellschaftlichen Normzwängen befreiten Lebensstil. Welche herausragende Stellung die offene Kommunikation von emotionalen Befindlichkeiten im Kommune-Leben innehatte, zeigt sich daran, dass beispielsweise die Kommune II nur auf einen »einzige[n] Kommune-Grundsatz« Wert legte, den alle Bewohner zu befolgen hatten, nämlich »über alle auftauchenden Probleme gemeinsam zu sprechen.« 71 Das Verschweigen der inneren Gefühlswelt und die Tabuisierung von bestimmten Themen, worunter viele Mitglieder der 68er-Generation in ihren bürgerlichen Herkunftsfamilien gelitten hatten, sollte in den experimentellen Wohngemeinschaften ins Gegenteil umgekehrt werden. 67  |  Christian Semler, in: COHN-BENDIT, Wir haben sie so geliebt, S. 112. 68 | Vgl. KUT TER, Peter: Moderne Psychoanalyse. Eine Einführung in die Psychologie unbewusster Prozesse, 3. Aufl., Stuttgart 2000, S. 308f. 69 | HEIDER, Keine Ruhe vor dem Sturm, S. 121. 70 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 12. 71 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 48.

6. Psychoanalyse

In den Kommunen wurde die Installierung von psychoanalytischen Gesprächskreisen zum identitätsstiftenden kollektiven Ritual. Dabei herrschte das unausgesprochene Verbot, sich dem Gespräch zu entziehen.72 Die Kommune I kam regelmäßig am Abend zusammen und versammelte sich in einem Kreis, um das Seelenleben der Mitglieder zu ergründen.73 Die Kommune II hingegen veranstaltete Reihenanalyse-Sitzungen, bei denen dienstags die Frauen und freitags die Männer dran waren. Dabei legte sich die zu therapierende Person auf eine improvisierte ›Analysecouch‹, die aus einer Matratze mit einem Schaumstoff kissen bestand.74 Die jeweilige Hauptperson, deren Psyche es zu erforschen galt, begann über beliebige Tagesereignisse und deren psychische Verarbeitung – also über Ärger, Frust und andere innere Konflikte – zu sprechen.75 Außerdem waren plötzlich auftauchende Assoziationen, Träume und Kindheitserinnerungen sowie sexuelle Probleme beliebte Gesprächsthemen. Ohne einer speziellen psychoanalytischen Methodik zu folgen, stellte ein Mitglied der Kommune Fragen an die Person, die gerade an der Reihe war, ihr Innerstes preiszugeben. Falls die Fragen bei dem Betroffenen nicht zu einem entspannten Redefluss, sondern zu einer emotionalen Blockade führten, versuchte sich ein anderer Bewohner in der Rolle des Fragenstellers.76 Den Kommunarden war es bei ihrer Gruppentherapie wichtig, dass die psychoanalytische Laienpraxis auf gleichberechtigte Art und Weise im Kollektiv stattfand. Das ungleiche Verhältnis von Psychotherapeut und Patient wurde im Selbstverwirklichungsmilieu der Oppositionsbewegung grundsätzlich abgelehnt, da es als autoritäre Herrschaftsbeziehung begriffen wurde. Es bestand die Forderung, dass der Therapeut sich dem Patienten gegenüber genauso öffnen solle, wie es von diesem verlangt werde.77 Innerhalb der antiautoritären 68er-Bewegung war insgesamt eine auffällige Affinität zur Arbeit in Gruppen zu beobachten, Zweierbeziehungen wurden gemieden.78 Wie Ulrich Enzensberger – Bewohner der männlich dominierten Kommune I – berichtet, kam es trotz der Ablehnung autoritärer Machtgefälle immer wieder dazu, dass sich jemand unbewusst die Rolle des Therapeuten anmaßte: »Was die Autoritäten betraf, so schienen sie einigen von uns in Gestalt von Therapeuten wiederzukehren, das heißt von Mitgliedern unserer Gemeinschaft, die den Lebensweg der anderen deuten und bewerten wollten, als handle es sich bei diesen um Patienten.«79 Obwohl es den Kommunarden an sich klar war, dass in einer »in-

72  |  Vgl. KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 220. 73 | Vgl. SCHARLOTH, 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, S. 199. 74  |  Vgl. KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 210. 75  |  Vgl. KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 210. 76  |  Vgl. KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 2. 77  |  Vgl. JAEGGI, Klinische Psychologie, S. 226. 78 | Vgl. KUT TER, Moderne Psychoanalyse, S. 308. 79 | ENZENSBERGER, Die Jahre der Kommune I, S. 109.

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quisitorische[n] Atmosphäre«80, in der niemand etwas von sich preisgeben wollte, keine Selbstverwirklichung stattfinden würde, konnten es einige Mitglieder nicht lassen, mit detektivischem Gespür in den psychischen Untiefen ihrer Mitbewohner zu graben. Gemäß der Erfahrung Dagmar Przytullas übten die männlichen Bewohner der Kommune I bei der Gründung der Wohngemeinschaft großen Druck auf einzelne Mitglieder aus, sich zu öffnen und prüften regelrecht, ob alle Kommune-Anwärter bereit seien, dem Kollektiv die intimsten psychischen Vorgänge zu verraten.81 Von daher beschreibt Przytulla die entgleisten gruppentherapeutischen Sitzungen als ›Psychomarathons‹ oder ›Psychoterrorsitzungen‹.82 Bei den Mitbewohnern, die sich ausspioniert und seelisch entblößt fühlten, entstand allem Anschein nach keine psychische Befreiung, sondern nur emotionales Unbehagen. Auch Gretchen Dutschke-Klotz berichtet von ›Psychoterror‹, den in ihren Augen der dominant auftretende Kommunarde Dieter Kunzelmann betrieb. Sein Konzept, sich gegenseitig jeden psychischen Schutz zu entreißen, um sich durch fundamentale Kritik von den bürgerlichen Denkweisen zu befreien, schien Dutschke-Klotz zu brutal und führte ihrer Meinung nach nur zu emotionalen Verletzungen.83 Offenbar war es gerade für die männlichen Kommunarden verlockend, in einem experimentellen Rahmen eine kritische Spiegelhaltung einzunehmen, die Äußerungen der Mitbewohner distanziert zu beobachten, rational zu reflektieren und mittels angeeignetem psychoanalytischen Wissen so professionell wie möglich zu deuten. Mit dem Anspruch, alle psychischen Schwächen und Probleme aus den Kommune-Bewohnern herausholen zu wollen, schossen sie, wie es scheint, manchmal über das Ziel hinaus. Obgleich Dieter Kunzelmann angibt, dass die psychotherapeutischen Sitzungen der Kommune I stets in einer solidarischen Atmosphäre stattgefunden hätten, bei der zynische Kommentare verboten gewesen wären,84 existierten offensichtlich doch große Hemmnisse bei den Teilnehmern, ihre eigene Psyche schonungslos vor den anderen nach außen zu kehren. Gelang es den Kommunarden jedoch, eine Gesprächsatmosphäre zu schaffen, in der alle Mitglieder der kulturrevolutionären Gemeinschaft entspannt waren und sich wohlfühlten, gingen sie dazu über, ihren Lebensalltag in psychoanalytisch motivierten Rundgesprächen bis ins kleinste Detail zu erörtern. Die Bewohner der Kommune II protokollierten ihre intensive Psychologisierung des gesamten Alltagslebens. Anlass zur laienhaften psychoanalytischen Abstraktion bestand für die Kommunarden bereits bei der Auswahl der Möbel für die Räum80 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 18. 81 | Vgl. PRZY TULLA, ›Niemand ahnte, dass wir ein ziemlich verklemmter Haufen waren‹, S. 206. 82 | Vgl. PRZY TULLA, ›Niemand ahnte, dass wir ein ziemlich verklemmter Haufen waren‹, S. 206. 83 | Vgl. DUTSCHKE-KLOTZ, ›Jemanden zu lieben war irgendwie falsch‹, S. 283. 84 | Vgl. KUNZELMANN, Leisten Sie keinen Widerstand!, S. 62.

6. Psychoanalyse

lichkeiten der Kommune II. Eike Hemmer bestand bei seinem Einzug darauf, einen großen schwarzen Schreibtisch aus Eiche aufzustellen. Hinter Hemmers Beharren auf den Schreibtisch, so vermuteten seine Mitbewohner, stecke »der (unbewußte) Wunsch, durch dieses Möbelstück, das den Raum beherrschte und hinter dem man sich verschanzen konnte, die Rolle einer väterlichen Autorität zu übernehmen.«85 Die Kommunarden interpretierten das wuchtige Möbelstück als einen durch die bürgerliche Sozialisation bedingten Drang Hemmers, einem auf Dominanz und Hegemonie ausgelegten Männlichkeitsbild zu folgen. Um diesen unbewussten patriarchalischen Tendenzen entgegenzuwirken, entschieden sie sich für ein gemeinsames Arbeitszimmer mit einfachen Arbeitsplatten.86 Auch die alltäglich anfallende Hausarbeit war in der Kommune II Gegenstand psychoanalytischer Überlegungen. Es kam immer wieder vor, dass niemand dazu bereit war, aufzuräumen und zu putzen, und die Wohnräume somit in einen schmutzigen und chaotischen Zustand gerieten.87 Hinter dem mangelnden Fleiß, die Wohnung zu säubern, wurde sogleich ein unterschwelliger gruppeninterner Konflikt gewittert: »Jeder erwartete von den anderen, […] daß sich etwas änderte. Diese Passivität war das Resultat irgendeines Konflikts in der Gruppe, der bis dahin […] unbewußt geblieben ist. […] Wir wissen, dass einige Wohngemeinschaften in Berlin daran gescheitert sind. Ihre Mitglieder haben sich über Küchenprobleme so irrsinnig zerstritten, daß die Gruppen im gegenseitigen Terror […] auseinanderfielen.« 88

Die Kommunarden nahmen profan erscheinende Alltagsprobleme sehr ernst und bemühten sich, das zwischenmenschliche Zusammenleben angenehmer und friedlicher zu gestalten, indem sie es aus psychologischer Perspektive betrachteten. Gelöst werden sollte das Hausarbeitsproblem schließlich nicht durch das bürgerliche Prinzip von Disziplin und Verantwortung, sondern durch Verlässlichkeit und Engagement im Rahmen einer herrschaftsfreien Selbstverwaltung.89 Das übersteigerte Nachdenken über sich selbst und mögliche unbewusste psychische Motivationen scheint in den Kommunen zu einem Phänomen der Überpsychologisierung geführt zu haben. Gerade in der Kommune II brachte die intensive Beschäftigung mit persönlichen Problemen die ursprüngliche Ambition, politische Arbeit zu verrichten, gänzlich zum Erliegen. Nach eigener Aussage gerieten die Kommunarden in ein »immer undurchdringlicheres Netz psychologisierender gegenseitiger Beziehungen.«90 Der eigentliche aktive politische Protest 85 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 51. 86  |  Vgl. KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 51f. 87  |  Vgl. KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 63. 88 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 63. 89  |  Vgl. KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 66. 90  |  Vgl. KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 275.

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rückte durch die energie- und zeitintensive innere Revolution in den Hintergrund. Obwohl das Selbsterfahrungsexperiment des Kommune-Lebens nach ungefähr einem Jahr scheiterte, resümierten die Mitglieder Kommune II über die positive Veränderung der kollektiven Gefühlsstruktur innerhalb der Wohngemeinschaft: In der Kommune sei es in einer lockeren, zwanglosen Atmosphäre möglich gewesen, »Affekte ohne Sanktionen zu äußern«.91 Außerdem hätte eine »Sensibilisierung der Alltagsbeziehungen«92 stattgefunden. Die Kommunarden geben an, durch die regelmäßige psychoanalytische Gesprächspraxis ihren »gesamten Wahrnehmungsapparat in einen Zustand erhöhter Empfindsamkeit versetzt«93 zu haben. Mit dem Durchbruch tiefliegender, unbewusster Affekte sei ein Ausleben »kindlicher und gefühlsbetonter Verhaltensweisen«94 möglich geworden. Normative, restriktiv wirkende gesellschaftliche Gefühlsregeln waren, folgt man den Schilderungen der Kommunarden, innerhalb der Wohngemeinschaft außer Kraft gesetzt. Individuelle Emotionen konnten ungefiltert und authentisch geäußert werden. Die Mitglieder der Kommune II beschreiben den fast schon utopisch wirkenden Zustand einer von soziokulturellen emotionalen Regeln befreiten Gefühlsgemeinschaft. Nach William Reddys emotionshistorischem Theoriemodell ist die Kommune als ein emotionaler Zufluchtsort zu charakterisieren, in dem Mitglieder der 68er-Bewegung ihren Emotionen unabhängig von den gesamtgesellschaftlichen Gefühlsnormen freien Lauf lassen konnten.95 Das emotionale Leiden, das die Kommunarden in ihren bürgerlichen Herkunftsfamilien oder in schulischen wie universitären Institutionen erlebt hatten, konnte gemäß den Erfahrungen der Kommune II durch das Zusammenleben in einer psychoanalytisch motivierten Wohngemeinschaft zumindest zeitweilig überwunden werden.

6.5  Z wischenresümee In den späten 1960er Jahren entdeckte die Studentenbewegung die von den Nationalsozialisten verdrängten psychoanalytischen Theorien der 1920er und frühen 1930er Jahre für sich und sah in der Freilegung unbewusster Erfahrungen und verdrängter Gefühle die Möglichkeit zur psychischen Befreiung der gesamten bundesdeutschen Nation von ihrer postfaschistischen Mentalität. Obgleich die ›68er‹ die klassischen psychoanalytischen Schriften eher oberflächlich und eklektisch rezipierten, beherrschte die Annahme, dass die menschliche Psyche unbewusste seelische Motive bereithält, die politischen und kulturkritischen Diskurse der oppositionellen Bewegung. Weit verbreitet im linksalternativen Protest91 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 264. 92 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 265. 93 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 265. 94 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 266. 95 | Vgl. REDDY, The Navigation of Feeling, S. 129.

6. Psychoanalyse

milieu war die Vorstellung, dass sich die autoritätshörige, ›faschistisch‹ indoktrinierte Persönlichkeit der nationalsozialistisch belasteten Elterngeneration durch Erziehung und unbewusste kindliche Identifikation auch auf die eigene psychische Konstitution ausgewirkt hätte. Besonders durch die emotions- und freudlos empfundene Beziehung zu der soldatisch sozialisierten Vätergeneration fühlten sich zahlreiche Mitglieder der maskulin codierten 68er-Bewegung in ihrer Kindheit und Jugend emotional zu kurz gekommen. Das Herauslassen von Gefühlen und das Offenlegen seelischer Belastungen als Voraussetzungen zur psychoanalytischen Interpretation und Heilung psychischer Nöte, widersprachen jedoch den emotionalen Standards hegemonialer Männlichkeit. Vor allem Mitglieder des theoretisch-intellektuell ausgerichteten, männlich dominierten SDS begegneten der in der Protestszene in Mode gekommenen kollektiven Ergründung der Psyche deshalb mit Skepsis und Abneigung. Das Sprechen über sich selbst und das Eingeständnis von Ängsten, Sorgen oder psychischen Leiden wurde von männlichen SDS-Funktionären gleichgesetzt mit einem identitätsbeschädigenden Verlust von maskuliner Selbstkontrolle und dem Zeigen von unmännlicher Schwäche und Hilfsbedürftigkeit. Parallel dazu erfreute sich im Umfeld der Protestgemeinde das Konstrukt des sensiblen, empathischen Mannes jedoch immer größeren Zuspruchs. Innerhalb der bundesdeutschen 68er-Bewegung kristallisierte sich eine Subkultur heraus, deren Vertreter das Klima in den politischen Arbeitsgruppen als abstrakt, rational und kalt empfanden und auf der Suche nach Wärme und Geborgenheit Selbsterfahrungsgruppen gründeten. Die Kombination aus politischem Protest und der kollektiven Aufarbeitung persönlicher Probleme schien im Rahmen einer politisch verstandenen Psychologie möglich. Diejenigen Mitglieder der außerparlamentarischen Bewegung, die auf Selbstverwirklichung durch eine innere Revolution aus waren, trugen ihre vermeintlichen psychischen Störungen fast schon mit Stolz nach außen. Als erstrebenswertes Zeichen der Zugehörigkeit zum Protestmilieu galt die Kommunikation einer Neurose; das Aufdecken von seelischem Leid war für männliche Aktivisten der Bewegung nicht mehr mit dem Verlust von männlichem Status verbunden. Die Mitglieder der 68er-Bewegung, die sich der Auseinandersetzung mit sich selbst nicht verschlossen, wurden sogar als die authentischeren Revolutionäre betrachtet, weil sie die nötige psychische Konstitution besaßen, um eine tiefgehende Gesellschaftsveränderung herbeizuführen. Durch die veränderten Studienbedingungen im Rahmen der Bildungsexpansion der 1960er Jahre war die zeitgenössische Studentenschaft mit den Anfängen eines anonymen Massenstudiums konfrontiert. Unter dem Einfluss psychoanalytisch inspirierter Diskursmuster unterstellten die linksstehenden Studierenden den Universitäten ein pathogenes Klima. Die Protestierenden befürchteten durch die autoritären Strukturen der universitären Lehre eine psychische Verelendung der gesamten Studentenschaft, die angeblich darauf ausgerichtet war, den Studenten systemkonforme Werte und Normen überzustülpen und freies, kritisches Denken zu unterdrücken. Sie waren äußerst sensibel für die Wahrnehmung von

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psychischer Belastung und Überforderung und klagten über den enormen psychischen Druck, der ihrer Erfahrung nach durch den auf Leistung, Konkurrenz und Erfolg ausgelegten elitären Charakter des Hochschulstudiums entstand. Damit beschrieben die 68er-Aktivisten als erste Generation bundesdeutscher Studenten Stress-Symptome als Folge der hohen intellektuellen Anforderungen und strukturellen Bedingungen an den Universitäten. Diese Zurückweisung des männlich assoziierten Leistungsimperativs deutet abermals auf einen Wandel des vorherrschenden Männlichkeitsideals und den damit verbundenen normativen Gefühlsregeln innerhalb der maskulin codierten 68er-Bewegung hin. Von daher traf man sich in Wohngemeinschaften zu gruppenanalytischen Gesprächsrunden, in denen laienhafte, psychoanalytisch inspirierte Therapiesitzungen stattfanden. Die in den Kommunen I und II etablierte Praxis, dass ein ausgewählter Teilnehmer vor der Gruppe seine seelischen Nöte und psychischen Schwächen offenlegte, verleitete vor allem männliche Kommunarden zuweilen dazu, in die Rolle des investigativen Therapeuten zu schlüpfen, wodurch eine unangenehme, gehemmte Atmosphäre entstand, in der niemand mehr etwas von sich verraten wollte. Die Kommunarden psychologisierten ihr Alltagsleben zum Zwecke der Selbsterfahrung und der psychischen Befreiung in erschöpfender Weise bis ins kleinste Detail, wodurch die angestrebte politische Arbeit auf der Strecke blieb. Trotzdem gaben die Mitglieder der Kommune II an, im Laufe ihres Zusammenlebens eine von soziokulturellen emotionalen Normen und Regeln befreite, authentische gruppeninterne Gefühlskultur etabliert zu haben. Die Kommune wurde als emotionaler Zufluchtsort erlebt. Die Hinwendung der ›68er‹ zur menschlichen Psyche lässt insgesamt auf eine maskulin dominierte Protestkultur schließen, die sich dem kulturell weiblich codierten inneren Gefühls- und Seelenleben öffnete.

7. Sexualität

Im Jahr 1968 konstatierte das Nachrichtenmagazin Der Spiegel eine tiefgreifende Sexualisierung des öffentlichen Raumes in der Bundesrepublik und mutmaßte über die Chancen und Risiken der anschwellenden »Flut des veröffentlichten Sex«1 und des »allgegenwärtigen Sex-Rummel[s]«2 . Die zeitgenössisch diagnostizierte »Sex-Welle«3 äußerte sich in der Omnipräsenz von Nacktheit auf Titelblättern von Illustrierten, der Instrumentalisierung von Sexualität in der Produktwerbung und der bevorzugten Thematisierung von Liebe, Intimität und Erotik in Magazinen, Büchern und Filmen. Der Mitte der 1960er Jahre einsetzende mediale Sexboom verschaffte der im Jahr 1961 auf den Markt gekommenen Anti-Babypille die nötige Publizität, um in hohem Maße nachgefragt zu werden. Das effektive und einfach erhältliche orale Verhütungsmittel schuf Raum für eine relativ ›risikofreie‹, experimentelle Sexualpraxis. Darüber hinaus trug Oswalt Kolle mit seinen zahlreichen Auf klärungsbüchern, -filmen und -kolumnen Ende der 1960er Jahre zur Popularisierung von therapeutischem, ›technisch‹ orientiertem Sexualwissen bei. Eine kontroverse Debatte über die sozialmoralische Regulierung sexuellen Verhaltens stieß der bereits Mitte der 1950er Jahre in deutscher Sprache erschienene Kinsey Report an – eine sozialstatistische Studie über das Sexualverhalten von Männern und Frauen. Der Sexualwissenschaftler Alfred Kinsey richtete sich auf der Basis seiner Forschungsergebnisse gegen die gesellschaftliche Einordnung von sexuellen Spielarten in die Kategorien von gesund und krank, beziehungsweise normal und abnormal. Er fand heraus, dass moralische Ideale und sexuelle Praxis in der westlichen Gesellschaft der 1960er Jahre weit auseinanderklafften.4 In der Bundesrepublik existierten zu dieser Zeit verschiedene Gesetze, die das Geschlechts- und Beziehungsleben einschränkten. 1 | O. A.: Sex. Was für Zeiten. In: Der Spiegel, Ausgabe vom 18. November 1968, Nr. 47, S. 46-67, hier S. 63. 2  |  O. A.: Sex. Was für Zeiten. In: Der Spiegel, S. 65. 3  |  O. A.: Sex. Was für Zeiten. In: Der Spiegel, S. 52. 4 | Vgl. EDER, Franz X.: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität, 2. Aufl., München 2009, S. 225ff.

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Im Jahr 1968 galt Homosexualität noch als Straftatbestand, Abtreibungen ohne medizinische Indikation waren illegal und der sogenannte Kuppeleiparagraph verbot es Eltern und Vermietern, unverheirateten Paaren Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen, in denen sexuelle Kontakte zu Stande kommen konnten. Das patriarchalische Eherecht überließ dem Ehemann die ausschließliche Entscheidungsgewalt über Haushaltsführung, Kindererziehung sowie die Erwerbstätigkeit seiner Frau. Ehebruch konnte strafrechtlich sanktioniert werden, während die Ehepartner der ›ehelichen Pflichterfüllung‹ unterlagen. Parallel zum massenmedialen Erotikboom waren demzufolge auch rückwärtsgewandte Sittlichkeitsvorstellungen virulent, die unter anderem in der Rechtspraxis Ausdruck fanden. Als die studentische Protestbewegung ihre Wirkungsmacht entfaltete, war die sogenannte Sex-Welle bereits in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die 68er-Bewegung war damit nicht, wie fälschlicherweise häufig angenommen, die Initiatorin einer umfassenden Sexualisierung der bundesdeutschen Gesellschaft.5 Die Protestierenden lösten auch keine sexuelle Revolution im Sinne eines schlagartigen und fundamentalen Umsturzes sexueller Verhaltensweisen aus. In der Bundesrepublik Deutschland der 1950er und 1960er Jahre fand vielmehr ein längerfristiger, nicht linear verlaufender, komplexer Wandlungsprozess von Sexualnormen statt.6 Unbestritten ist jedoch, dass die jungen Revolteure den Liberalisierungsdiskurs maßgeblich mittrugen und ihre gesellschaftskritischen Forderungen sexuell aufluden. Sie beschleunigten und befeuerten die bereits angestoßene gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Bei dem sexuellen Freiheitskampf, den die ›68er‹ betrieben, handelte es sich primär um den Ausdruck eines Generationenkonfliktes, wie der Historiker Franz Eder feststellt: »Das ›schmutzige Geheimnis‹, das die Elterngeneration um die ›Sexualität‹ (und ihre politische Vergangenheit) machte, animierte viele Jugendliche und junge Erwachsene […] zu einer radikalen Ablösung‹ von der Kultur des Wirtschaftswunders.«7 Die Vertreter der außerparlamentarischen Protestbewegung betrachteten die NS-Zeit als besonders sexualrepressiv8 und sahen in dem als prüde empfundenen christlichen Sexualkonservatismus der 1950er Jahre, 5 | Vgl. FORSBACH, Ralf: Die 68er und die Medizin. Gesundheitspolitik und Patientenverhalten in der Bundesrepublik Deutschland (1960-2010) (Medizin und Kulturwissenschaft, Bonner Beiträge zur Geschichte, Anthropologie und Ethik der Medizin, Bd. 5), Göttingen 2011, S. 150. 6 | Vgl. STEINBACHER, Sybille: Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik. München 2011, S. 10f. 7 | EDER, Kultur der Begierde, S. 224. 8  |  Die Historikerin Dagmar Herzog stellt die These auf, dass die 68er-Bewegung die Sexualpolitik des NS-Regimes falsch interpretiert hat. Laut Herzog war die nationalsozialistische Sexualpolitik bezüglich der sozial und rassisch erwünschten ›arischen‹ Bevölkerung nicht sexualfeindlich, sondern geradezu freizügig und liberal. Vielmehr war es die Kultur der 1950er und frühen 1960er Jahre, die die 68er-Generation als muffig, prüde und rück-

7. Sexualität

den sie in ihrer Kindheit und Jugend erlebt hatten, ein Fortwirken nationalsozialistischer Mentalitätsstrukturen.9 Sie glaubten, dass aus Triebverzicht unfreie, repressive Gesellschaftsstrukturen entstünden und propagierten sexuelle Emanzipation als Strategie gesellschaftlicher Befreiung. Als Ziehväter dieser Ideologie lassen sich Herbert Marcuse10 und Wilhelm Reich11 ausmachen. In ihren Werken fand die 68er-Generation eine sexuelle Erklärung für die zeitgenössische Verdrängung der NS-Vergangenheit und die Verheißung einer friedlicheren und gerechteren Zukunft auf der Basis befreiter Sexualität.12 Wie die Protestierenden ihr persönliches Sexualleben zum gesellschaftlichen Problem machten und welche Auswirkungen der sexuelle Befreiungsdiskurs auf die Zweierbeziehungen und das Verständnis von partnerschaftlicher Zuneigung und Liebe innerhalb des linksalternativen Milieus hatte, soll im Folgenden in den Mittelpunkt der Analyse gestellt werden. Herauszufinden gilt es, welche Gefühle für die Akteure der maskulin codierten Protestbewegung mit der Umsetzung des Imperativs ›freier Liebe‹ verbunden waren und inwiefern von einer Dekonstruktion des romantischen Liebesideals durch die Bewegten von ›1968‹ gesprochen werden kann.

7.1 S e xualität als P olitikum In der medialen, kommerzialisierten Sexwelle ihrer Zeit sahen die Protagonisten der 68er-Bewegung keinen lobenswerten Beitrag zur Liberalisierung und Befreiung von Sexualität. Die antikapitalistisch eingestellten Protestierenden verurteilten die Instrumentalisierung des sexuellen Triebes als Kaufanreiz zum Zwecke der Gewinnschöpfung.13 Stattdessen machten sie Sexualität zum Politikum. Die ›Projektgruppe Sexualität und Politik‹ stellte in den Jahren des Protests klar, wie sich ihre Sexualpolitik von dem kommerzialisierten Sexboom unterschied. Auf einem Flugblatt mit dem Titel Sex-Pol-Info 3 lehnte die Gruppe das von Oswalt Kolle populärwissenschaftlich auf bereitete Sexualwissen als profitorientiert ab, warf dem ›Aufklärer der Nation‹ vor, den Geschlechtsakt zur Turn-

schrittlich erlebt hätten, so die Historikerin. Vgl. HERZOG, Die Politisierung der Lust, S. 23 und S. 196. 9 | Vgl. STEINBACHER, Wie der Sex nach Deutschland kam, S. 253. 10  |  Siehe: MARCUSE, Herbert: Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Stuttgart 1957; Neuauflage unter verändertem Titel: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a.M. 1965. 11 | Siehe: REICH, Wilhelm: Die Sexualität im Kulturkampf, Frankfurt a.M. 1936; Neuauflage unter verändertem Titel: Die sexuelle Revolution, Frankfurt a.M. 1966. Im Folgenden zitiert nach der unveränderten Auflage aus dem Jahr 1974. 12 | Vgl. EDER, Kultur der Begierde, S. 231. 13 | Vgl. KIESSLING, Die antiautoritäre Revolte der 68er, S. 56.

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übung zu degradieren und eine sexuelle Scheinfreiheit zu propagieren.14 Ihre Losung lautete stattdessen: »Wir formulieren unsere Kritik an der unmenschlichen Sexualmoral dieser Gesellschaft im Zusammenhang mit unserer Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung.«15 Für die Mitglieder der linken Protestszene besaß das Sexuelle eine transformative, wenn nicht gar revolutionäre Kraft. Die Entfesselung der gesellschaftsverändernden sexuellen Energie, so auch die Projektgruppe Sexualität und Politik, müsse über die Beseitigung jeglicher Normierung und Moralisierung von Sexualität geschehen: »Die[] Gesellschaft und ihre Moral hält die Menschen mit Hilfe künstlich erzeugter Sexualangst gehemmt und unfrei und verändert so sexuelle Energien in Ehrgeizlertum und Leistungsstreben, was wiederum den Mächtigen der Gesellschaft zugute kommt. […] Der Weg dorthin führt über zahlreiche Sexualkrüppel. Die Opfer dieser Vergewaltigung sind wir mehr oder weniger alle. […] Eigenschaften wie krankhaftes Leistungsstreben, Aggressivität, Nervosität, Brutalität, übertriebene Genauigkeit und Pünktlichkeit, übersteigertes Pflichtund Ehrgefühl sind durch sexuelle Unterdrückung zu erklären.« 16

Als vorherrschendes gesellschaftliches Gefühl in Bezug auf Sexualität nennen die Verfasser des Textes Angst. Eine hegemoniale Gefühlskultur, in der Sexualität primär mit der negativen Emotion der Furcht verbunden ist, führte für sie zu zwanghaft leistungsorientierten, grausamen, pedantischen und kranken, aber systemkonform agierenden Persönlichkeiten. Die Protestierenden sahen die deutschen Bürger als ›Sexualkrüppel‹, denen durch die staatlich gelenkte Sexualmoral sexuelle Gewalt angetan wurde. Mit ihrer ›Sex-Pol-Info‹ bezog sich die Gruppe auf die sexualrevolutionäre Sex-Pol-Bewegung der frühen 1930er Jahre, die von dem Psychoanalytiker und Sexualforscher Wilhelm Reich ins Leben gerufen worden war.17 Reichs zeitgenössisches Anliegen hatte darin bestanden, die Arbeiterjugend von den Zwängen repressiver Sexualmoral zu befreien. Er war der Meinung, dass mittels einer von Staatswegen propagierten strikten Sexualmoral eine Disziplinierung und Anpassung der Arbeiter an die ausbeuterischen, kapitalistischen Produktionsverhältnisse vollzogen würde. In seinem Werk Die sexuel14 | Vgl. Projektgruppe Sexualität und Politik: Sexpol-Info 3. In: Miermeister/Staadt, Provokationen, S. 169-172, hier S. 169. 15  |  Projektgruppe Sexualität und Politik. In: Miermeister/Staadt, Provokationen, S. 169. 16  |  Projektgruppe Sexualität und Politik. In: Miermeister/Staadt, Provokationen, S. 170f. 17 | Reich gründete im Jahr 1931 den ›Deutschen Reichsverband für Proletarische Sexualpolitik‹ als Unterorganisation der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und rief den ›Verlag für Sexualpolitik‹ ins Leben. Nach Spannungen mit der Parteiführung, die Reichs sexualpolitische Auffassungen doch nicht in ihr politisches Programm aufnehmen wollte, wurde er bereits im Jahr 1932 von der Partei ausgeschlossen. Vgl. STRÜVER, Peter: Ethik, Ästhetik, Normalität und Vernunft. Über die (gewollte/ungewollte) Einengung menschlicher Erkenntnis, Münster 2005, S. 173ff.

7. Sexualität

le Revolution erklärte Reich den Zusammenhang zwischen dem menschlichen Liebesleben und der vorherrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in autoritär strukturierten Systemen.18 Der Sexualforscher ging davon aus, dass sexuelle Energie »produktive Lebensenergie schlechthin« sei und »als biologische Auf bauenergie der psychischen Apparatur […] die menschliche Gefühls-und Denkstruktur bilde[]«.19 Die individuelle und kollektive Gefühlswelt der Menschen wird gemäß dieser Theorie primär davon beeinflusst, ob Sexualität ausgelebt und bejaht oder verdrängt und unterdrückt wird. Die Bewegten von ›1968‹ übernahmen die These des Psychoanalytikers, dass eine Stauung der genitalen Triebbedürfnisse zur Erkrankung an Neurosen führe und feierten »den orgastisch potent gewordenen Menschen«20 als psychisch befreit. In einer sexualbejahenden Gesellschaft, in der die Menschen dazu fähig wären, ihre gesellschaftlich auferlegte moralische Zwangsjacke und die damit verbundenen sexuellen Hemmnisse abzulegen, so meinte Reich, würden asoziale gesellschaftliche Impulse verschwinden.21 In seiner bereits 1933 verfassten Schrift Massenpsychologie des Faschismus22 beschrieb er eine emotionale Deformation der Menschen im Deutschen Reich, bedingt durch die repressive, autoritäre und sexualfeindliche Erziehung und Moral. Die hinter der Fassade sozialer Angepasstheit verborgenen destruktiven Impulse der deutschen Bürger hätten sich laut Reich in der massenhaften Zustimmung zur menschenverachtenden NS-Bewegung und den daraus entstandenen Gräueltaten und Gewaltexzessen entladen. Der Psychoanalytiker sah in der Unterdrückung von Sexualität den emotionalen Nährboden für Faschismus.23 In den Werken Reichs fanden die Protagonisten der bundesdeutschen 68er-Bewegung die passende Theorie, mit der sie sich die Teilhabe ihrer übermäßig angepasst und konform wirkenden Elterngeneration an den nationalsozialistischen Verbrechen erklären konnten. Der häufig als kalt und abgestumpft empfundene emotionale Stil der Eltern und deren konservative Einstellungen zur Sexualität wurden von der jungen 68er-Generation nun als Folge schädlicher sexualrepressiver Sozialisation begriffen. Das Hochhalten von Anstand und Sittlichkeit durch die Eltern in der Wirtschaftswundergesellschaft interpretierten die ›68er‹ als Verdrängungsmechanismus von Schuld: »Die Wohlanständigkeit der Eltern war in den Augen der […] Studenten, die Wohlanständigkeit von Mittätern und Mitläufern der Nazis, die über Sexualmoral tönten,

18 | Vgl. REICH, Die sexuelle Revolution, S. 19ff. 19 | REICH, Die sexuelle Revolution, S. 18. 20 | REICH, Die sexuelle Revolution, S. 30. 21 | Vgl. REICH, Die sexuelle Revolution, S. 30f. 22 | Siehe: REICH, Wilhelm: Massenpsychologie des Faschismus: zur Sexualökonomie der politischen Reaktion und zur proletarischen Sexualpolitik, Kopenhagen 1933. Im Folgenden zitiert nach einer in Köln/Berlin erschienenen Auflage aus dem Jahr 1971. 23 | Vgl. REICH, Massenpsychologie des Faschismus, S. 31-58.

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um nicht über Kriegsschuld und Völkermord reden zu müssen.«24 In Folge dieser Erkenntnis stand eine sexuelle Revolution ganz oben auf der Agenda der antiautoritären Bewegung, zumal die Protestierenden hinter dem demokratischen System der noch jungen Bundesrepublik einen latent ›präfaschistischen Staat‹ verborgen sahen. In der Abgrenzung ihrer kollektiven Gefühlsstandards von denen der Kriegsgeneration spielte die Bejahung sexueller Lust und Aktivität für die ›68er‹ deshalb eine bedeutende Rolle. Die linksalternativen Oppositionellen erhoben in ihrer sexuellen Auf bruchsstimmung die sexualpolitische Theorie Reichs zur obersten Lebensregel, wie das in den Protestjahren am Juridicum der Universität Frankfurt angebrachte Graffiti »Lest Wilhelm Reich und handelt danach!«25 beweist. Seine Schriften wurden »überall herumgereicht, nahezu süchtig verschlungen und permanent ›durchdiskutiert‹.«26 Mitglieder der studentischen Protestgemeinde in Hamburg nannten das psychologische Institut der Universität im Jahr 1969 sogar in ›Wilhelm-ReichInstitut‹ um.27 Die Aktion diente den Studierenden als demonstratives Bekenntnis, jeglichen hemmenden, sexualasketischen Ballast abzuwerfen zu wollen, um frei zu werden für die revolutionäre Aktion. Sie kündigten sogleich die Durchführung von Love-ins als »neue[], völlig unakademische[] Formen öffentlicher Zärtlichkeiten an den Universitäten«28 an und übertrugen Reichs These des repressiven Umgangs mit Sexualität in autoritären Gesellschaften auf ihre Zeit: »Die Sexualfeindlichkeit hat entscheidende Bedeutung für das bestehende repressive System. Deshalb ist es nicht zufällig, daß in der antiautoritären Bewegung der ›Neuen Linken‹ […] die politische Rebellion durch Vereinigung von sexual-moralischen und politischen Protestformen eine ›neue Dimension erreicht […]. Über […] zaghafte[] Ansätze hinaus muß die sexuelle Rebellion bei uns theoretisch und praktisch beginnen, um einen neuen aktiven Menschen zu schaffen, der zu einer Veränderung der bestehenden Verhältnisse fähig ist.« 29 24 | SCHMIDT, Gunter: Sexualität. In: Tobias Schaffrik/Sebastian Wienges (Hg.): 68er Spätlese – Was bleibt von 1968? (Villigst Profile, Bd. 10), Berlin 2008, S. 46-57, hier S. 50. 25 | Vgl. ROTH, Roland: Mobilisierung, Bewegung und Macht II. In: Ursula Ferdinand/Andreas Pretzel/Andreas Seeck (Hg.): Verqueere Wissenschaft? (Berliner Schriften zur Sozialwissenschaft und Sexualpolitik, Bd. 1), 2. Aufl., Münster 2005, S. 351-386, hier S. 362. 26  |  REICHARDT, Sven: Von ›Beziehungskisten‹ und ›offener Sexualität‹. In: Ders./Detlef Siegfried (Hg.): Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland 1968-1938, Göttingen 2010, S. 267-289, hier S. 284. 27 | Vgl. Flugblatt, Das psychologische Institut der Universität Hamburg wurde am 28. Januar 1969 in Wilhelm-Reich-Institut umbenannt. In: SDS Info, 2. Jg., Nr. 7/8, 20. Februar 1969, S. 55-57. In: IfZ Archiv, Dn 012. 28  |  Flugblatt, Das psychologische Institut der Universität Hamburg, S. 56. In: IfZ Archiv, Dn 012. 29  |  Flugblatt, Das psychologische Institut der Universität Hamburg. S. 57. In: IfZ Archiv, Dn 012.

7. Sexualität

Das Diktum der sexuellen Rebellion, der Aufruf zur ›freien Liebe‹ galt folglich in der Protestkultur der ›68er‹ als emotionaler Verhaltensmaßstab, dem es zu folgen galt, wenn man sich der Bewegung zugehörig fühlen wollte. Sexualökonomischer Frust sollte in revolutionäre Lust verwandelt werden.30 Auf welche Art und Weise die Mitglieder der Protestszene versuchten, die Forderung nach der Schaffung eines ›neuen Menschen‹ und einer neuen Gesellschaft auf dem Wege eines befreiten Liebeslebens umzusetzen und welche Emotionen damit verbunden waren, soll nun untersucht werden.

7.2 K ollek tivierte I ntimität Sexualität wurde vor allem im kulturrevolutionären Selbstverwirklichungsmilieu der westdeutschen 68er-Bewegung nicht mehr als intime Privatsache gesehen, die sich ausschließlich und exklusiv zwischen zwei Menschen hinter verschlossenen Türen abspielte. In verschiedenen linksalternativen Wohngemeinschaften initiierten Mitglieder der Protestszene das Experiment einer kollektivierten Intimität. Die Beteiligten versuchten ihren ›natürlichen‹, ›gesunden‹ sexuellen Impulsen zu folgen und sich von jeglichen gesellschaftlich auferlegten Scham- und Angstgefühlen loszusagen, die für sie bisher mit Sexualität verbunden waren. In der Kommune I herrschte diesbezüglich das Motto: »Keine Zweierbeziehungen mehr. Kein privater Besitz. Allgemeine Zärtlichkeit. Jedem gehört alles.«31 In der Bereitschaft zum Verzicht auf monogame Beziehungen und dem damit verbundenen Gefühlsprogramm bestand die emotionale Voraussetzung zum Einzug in die Kommune I. Von der in einer festen Zweierbeziehung neben sexueller Erfüllung gesuchten emotionalen Stabilität im Sinne von Nähe, Fürsorge, Vertrauen und Treue zu einem ausgewählten Liebespartner sollte Abstand genommen werden. Die jungen Oppositionellen wollten die sexuelle und emotionale Fixierung auf eine einzige Person lösen und ihre ›sexuellen Energien‹ stattdessen auf das Kollektiv umlenken. Obwohl in die Kommune II zu Beginn zwei Paare einzogen, beendeten auch diese ihre langjährigen Beziehungen, als ihnen im Laufe des kollektiven Zusammenlebens bewusst wurde, dass Zweierverhältnisse unweigerlich gegenseitige psychische Abhängigkeiten und Unterdrückungsverhältnisse bedingen würden.32 Von daher definierte auch die Kommune II die Schaffung einer »erotischen Atmosphäre«33 und die Entwicklung kollektiver »libidinöser Beziehun30 | Vgl. PERINELLI, Massimo: Lust, Gewalt, Befreiung. Sexualitätsdiskurse. In: Rotaprint 25 (Hg.): Agit 883. Revolte. Underground in Westberlin 1969-1972, Hamburg/Berlin 2006, S. 85-100, hier S. 85. 31 | LANGHANS, Ich bin’s, S. 53. 32  |  Vgl. KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 46. 33 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 265.

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gen«34 als sexualrevolutionäre Ziele ihres Wohnexperiments. An die Stelle einer auf Liebe und Treue basierenden festen Bindung sollten offene Beziehungen mit authentischer Sexualität rücken, die lediglich aus einem »milden Sympathiegefühl für alle Menschen bestand[en].«35 Mit der Forderung nach ›allgemeiner Zärtlichkeit‹ und einer ›erotischen Atmosphäre‹ meinten die Kommunarden jedoch nicht nur das hemmungslose Ausleben einer polygamen Sexualpraxis, sondern die Entstehung eines sozialen Klimas, in der aus Sexualität kein höchstpersönliches, exklusives Geheimnis zwischen zwei Personen mehr gemacht wird. Wichtiger als die tatsächlich zustande kommenden sexuellen Kontakte jenseits fester Partnerschaften war den Kommunarden die Aufhebung des sexualmoralischen gesellschaftlichen Maßstabes, der besagte, schamhaft oder zumindest diskret mit sexuellen Erfahrungen, Wünschen und Bedürfnissen umzugehen. Die Bewohner der Kommune II wiesen explizit daraufhin, dass bei ihnen nicht jeder mit jedem ins Bett ging. Wechselnde Sexualpartner seien meist außerhalb der Wohngemeinschaft gesucht worden.36 Auch die Kommune I hielt das Bild wilder Promiskuität eher als Klischee aufrecht, um sich dem Interesse der medialen Berichterstattung sicher zu sein, als diesem tatsächlich gerecht zu werden.37 Im Selbstverwirklichungsmilieu der 68er-Bewegung fand vielmehr eine sprachinflationäre Enttabuisierung, beziehungsweise eine Explosion des Redens über Sexualität statt.38 Die Intimsphäre sollte zur Schaffung einer (sexuell) befreiten Gesellschaft aufgehoben werden. Mit offener Sexualität war auch das offene Reden darüber gemeint. Beziehungsstreitigkeiten und sexuelle Probleme wurden vor dem Kollektiv ausgebreitet und gemeinsam diskutiert. Das Bedürfnis, über das Beziehungsleben zu sprechen, um eine emotionale Verbundenheit aufrechtzuerhalten und Probleme aus dem Weg zu räumen, wird in der bipolaren Geschlechterordnung dem für die Pflege des partnerschaftlichen oder ehelichen Gefühlshaushaltes zuständigen weiblichen Geschlecht zugeschrieben. Mit der Kollektivierung des Redens über Sexualität als politischer Akt schien in der männlich dominierten 68er-Bewegung das Interesse für den regen kommunikativen Austausch über Liebesdinge anzuwachsen. Eine junge Frau, die Ende der 1960er in einer kulturrevolutionären Berliner Kommune wohnte, berichtet anonym von dem gemeinsamen Versuch, einen Ausweg aus den Liebeswirren zu finden, die durch eine ›Ehe-zu-dritt‹ verursacht wurden. Die Ausgangslage gestaltete sich dabei folgendermaßen: Jens-Peter und 34 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 264. 35 | REICHARDT, Von ›Beziehungskisten‹ und ›offener Sexualität‹, S. 286. 36  |  Vgl. KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 130. 37 | Vgl. LANGHANS, Ich bin’s, S. 53f. 38  |  Vgl. SCHLAFFKE, Winfried: Entwürfe und Wege zu einer neuen Gesellschaft. In: Franz Schneider (Hg.): Dienstjubiläum einer Revolte. ›1968‹ und 25 Jahre, 2. Aufl., München 1993, S. 97-122, hier S. 107.

7. Sexualität

Gisela waren verheiratet, führten jedoch eine offene Ehe. Gisela war schwanger von ihrem Ehemann, als ein neuer Mitbewohner, Saleha, einzog. Sie verliebte sich in diesen und begann eine sexuelle Beziehung mit ihm.39 Jens-Peter musste fortan »das amouröse Schauspiel tagtäglich in seiner Nähe miterleben. Wenn er sich beispielsweise die Socken aus seinem Schrank holen wollte, verwehrte ihm seine Frau das Betreten des Zimmers: ›Du kannst jetzt nicht hinein. Das wird kein schöner Anblick für dich.‹«40 Daraufhin forderte der gehörnte Ehemann wegen ›seelischer Grausamkeit‹ den Auszug des Liebhabers seiner Frau und berief die ›Vollversammlung‹ der Kommune ein. Jens-Peter, der zugab, in letzter Zeit selbst mit drei verschiedenen Frauen geschlafen zu haben, erklärte seinen Mitbewohnern, dass der Unterschied zwischen seinen außerehelichen Aktivitäten und denen seiner Frau darin bestand, dass er seine freie Sexualität außerhalb der Kommune auslebe, während Giselas Geliebter in seinem Bett läge.41 Bis in die späten Morgenstunden wurde über die Möglichkeiten von Ehescheidung und Abtreibung diskutiert. Der neue Partner Giselas, Saleha, war zwar bereit, die ›Gattenrolle‹ zu übernehmen, lehnte die Vaterrolle für das Kind, das Gisela von JensPeter erwartete, jedoch entschieden ab. Von daher sprachen die Kommunarden ausführlich über das Kindswohl und waren sich einig, dass die Kinder immer die Leidtragenden von Beziehungsstreitigkeiten seien. Jens-Peter startete schließlich einen Versöhnungsversuch mit seiner Ehefrau, den diese ablehnte. Während sich einige Mitbewohner eher zurückhielten und Mitleid mit den Betroffenen empfanden, mischten sich andere mit vollem Eifer in fremde Liebesangelegenheiten ein. Die ›Vollversammlung‹ fasste letztendlich keinen Beschluss, Jens-Peter zog freiwillig aus der Kommune aus.42 Die Teilnehmer der Versammlung versuchten das Liebes- und Sexualleben ihrer Mitbewohner nicht unter den üblichen sexualmoralischen Wertmaßstäben zu beurteilen. Dennoch schien auch im Kollektiv keine zufriedenstellende, friedliche Lösung des chaotisch anmutenden Beziehungskonfliktes möglich zu sein. Gefühle wie Enttäuschung, Eifersucht und Wut standen der frei ausgelebten Sexualität im Weg. Die Kommune II war ebenfalls davon überzeugt, dass Probleme zwischen zwei Liebespartnern in der Gruppe besprochen werden müssten, da die außenstehenden Mitbewohner die Situation neutraler betrachten könnten als die beiden Betroffenen selbst. Das gemeinsame Kommunegespräch könne »einen Weg aus dem Teufelskreis des typischen Konflikts in Zweierbeziehungen aufzeigen.«43 Außerdem müssten Beziehungsstreitigkeiten schon deshalb im Kollektiv besprochen werden, da sich die affektiven Spannungen eines Paares auf die emo-

39 | Vgl. RIEDEN, Ich lebte in einer Kommune, S. 16f. 40 | RIEDEN, Ich lebte in einer Kommune, S. 17. 41 | Vgl. RIEDEN, Ich lebte in einer Kommune, S. 17f. 42 | Vgl. RIEDEN, Ich lebte in einer Kommune, S. 18f. 43 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 185.

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tionale Atmosphäre der gesamten Wohngemeinschaft auswirken würden.44 Von daher legten die Kommunarden ihre intimsten Gefühle bezüglich ihres Liebeslebens in psychoanalytisch motivierten Diskussionsrunden offen. So hat es sich in der Kommune II beispielsweise ereignet, dass Marion Stergar während eines Gruppengesprächs eine große rote Kerze anzünden wollte. Ihr Freund Eberhard Schulz versuchte dies zu verhindern, weshalb es zu einem Streit zwischen den beiden kam.45 Unmittelbar nach diesem Vorfall wurde Schulz in laienhafter psychoanalytischer Praxis von seinen Mitbewohnern darüber befragt, welche Erlebnisse und Emotionen für ihn mit dem Entzünden der Kerze verbunden waren, woraufhin er erklärte: »Ich wollte nicht, daß Marion die Kerze während der Kommunesitzung anzündete, weil ich sie dem Zusammensein mit ihr vorbehalten hatte, wenn wir über die Erlebnisse des Tages, unsere Wünsche und Schwierigkeiten sprachen […] zärtlich zueinander waren und miteinander vögelten. Ich hatte das Gefühl, wenn Marion sie während der Sitzung anzündete, müßte sie zum Symbol unserer Schwierigkeiten im Verhältnis werden […].« 46

Der Kommunarde führt an, dass für ihn das öffentliche Anzünden der Kerze durch seine Freundin gleichbedeutend war mit einer Geringschätzung ihrer gemeinsamen Sexual- und Intimsphäre. Er gesteht seine Angst vor dem VerlassenWerden und fühlt sich durch die ›Kaltschnäuzigkeit‹ seiner Partnerin verletzt.47 Eine solche Expression subjektiver Eindrücke, Assoziationen und Gefühle setzt ein hohes Maß an Selbstthematisierungskompetenz und Bereitschaft zur reflexiven Problematisierung voraus. Die im Rahmen der Zweierbeziehung entstandene Verlustangst interpretierten die Bewohner der Kommune II als symptomatisch für die psychische Schädlichkeit der Paarbeziehung, die Abhängigkeitsverhältnisse schaffe, in denen die Menschen unglücklich und frustriert wären.48 Auf der Suche nach sexueller Selbstbefreiung prägte die Forderung nach einer allumfassenden emotionalen Öffnung die Gefühlskultur der bundesdeutschen 68erBewegung maßgeblich und machte selbst vor intimen Liebesangelegenheiten keinen Halt. Mit dem berühmt-berüchtigten provokanten Ausspruch ›Was geht mich der Vietnamkrieg an, solange ich Orgasmusschwierigkeiten habe!‹, wies Dieter Kunzelmann darauf hin, dass in seinen Augen nur durch die Befriedigung sexueller Bedürfnisse eine gesellschaftliche Befreiung im Sinne einer politischen Revolution stattfinden könnte. Sexuelle Probleme, ob real oder fingiert, gehörten deshalb, so Kunzelmanns Losung, in die Öffentlichkeit. Um diese Botschaft zu ver44  |  Vgl. KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 184. 45  |  Vgl. KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 180f. 46 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 182. 47  |  Vgl. KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 182ff. 48  |  Vgl. KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 46f.

7. Sexualität

mitteln, zog der Bewohner der Kommune I sogar den Status von sexueller Potenz als zentrales Ausdrucks- und Sicherungsmittel von Männlichkeit in Zweifel.49 Wie Pierre Bourdieu betont, wird Zeugungskraft in der kollektiven Vorstellung nach wie vor mit wahrem ›Mann-Sein‹ gleichgesetzt, als ultimativer Mannesbeweis betrachtet.50 Kunzelmann thematisierte seine angeblich defizitäre sexuelle Leistungsfähigkeit jedoch nur, um zugleich eine ›Heilung‹ sexueller Probleme durch das intensive Ausleben befreiter Sexualität zu propagieren. Insofern war lebhafte sexuelle Aktivität durchaus identitätsstiftender Teil des kulturrevolutionären Männlichkeitsideals. Die Bewohner der Kommune II begriffen die männliche Sexualität ebenfalls nicht als unantastbares Tabu und analysierten und problematisierten diese deshalb en detail. Ein zeitgenössisches Gesprächsprotokoll aus der Kommune II zeigt, wie die sexuelle Erziehung und Sozialisation des Kommunarden Jan-Carl Raspe bis hin zu seinem aktuellen Liebesleben als hochgradig pathologisch eingestuft wurde: »Bürgerliches Elternhaus, […] Zwei Schwestern, Mutter, drei Tanten, Großmutter. Vater früh gestorben (vor der Geburt). Zwei Onkel sorgen für den Lebensunterhalt der ganzen Familie. Ansonsten keine männlichen Bezugspersonen. […] Erst relativ spät Kontakt zu fremden Leuten, Kindern, Straße, setzt erst mit Schulzeit ein, verbunden mit starken Repressionen wegen des bürgerlichen Elternhauses. Frühe Sexualspiele, Arztspiele, […] früh einsetzende Onanie. […] Nie irgend eine Form von sexueller Aufklärung. Kontakt zu Mädchen wird schwieriger, Enttäuschungen und Ertapptwerden […]. Arbeit als Kompensation, durchgehende Onanie, die mit starken Schuldgefühlen verbunden ist. Zwei Semester Chemiestudium, Abbruch, dann Soziologie. Kontaktschwierigkeiten und Autoritätsangst. Schweißausbrüche und Magenschmerzen, plötzlich Sprachhemmungen. Erst sehr spät sexuelle Erfahrungen und auch diese unter Ängsten. Ausweichen, wegrennen, wenn irgendein Anspruch auftaucht […]. Das Zusammenschlafen […] löste bei Jan das Gefühl aus, benutzt zu werden […].« 51

Die Kommunarden betrachten Raspes vermeintlich gestörte sexuelle Identität als Paradebeispiel der von sexualmoralischen Normen durchdrungenen repressiven Erziehung eines bürgerlichen Elternhauses. In der fast ausschließlichen Sozialisation durch weibliche Bezugspersonen, der mangelnden Sexualaufklärung und im fehlenden Umgang mit Gleichaltrigen liegen gemäß der laienhaften psychoanalytischen Deutung der Mitbewohner die weiteren Ursachen für seine Entwick49 | Vgl. POHL, Rolf: Genitalität und Geschlecht. Überlegungen zur Konstitution der männlichen Sexualität. In: Mechthild Bereswill/Michael Meuser/Sylka Scholz (Hg.): Dimensionen der Kategorie Geschlecht. Der Fall Männlichkeit (Forum Frauen- und Geschlechterforschung, Bd. 22), Münster 2007, S. 186-205, hier S. 196. 50  |  Vgl. BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, S. 23f. 51 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 192f.

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lung zu einem sexuell verklemmten, frustrierten und beziehungsunfähigen Erwachsenen. Vor allem das bis in die 1960er Jahre fortdauernde körperfeindliche Bewusstsein, Onanie sei gesundheitsschädlich und moralisch verwerflich, hätte sein gestörtes Sexualleben geprägt. Alle schlechten Charaktereigenschaften und Verfehlungen in Raspes Lebenslauf führten die Kommunarden monolithisch auf sexuelle Frustration zurück. Die betonte Interpretation von Raspes Sexualleben als krankhaft sollte aufzeigen, wie dringend eine Normalisierung und Befreiung von Sexualität durch das sexualrevolutionäre Konzept ›freier Liebe‹ nötig war. Im auf Selbstverwirklichung ausgelegten Alternativmilieu der maskulin-codierten 68er-Bewegung galt die kompromisslose Aufdeckung von intimen sexuellen Problemen als Voraussetzung für den sexualpolitischen Gesellschaftsumsturz. Das kollektive, öffentliche Sprechen über Liebeskummer, Beziehungsstreitigkeiten und sexuelle Unzulänglichkeiten wurde in der zeitgenössischen Protestszene durchaus als adäquates männliches Verhaltensmuster begriffen. Über intime Sorgen und sexuelle Nöte zu reden, erhielt in den Jahren des Protests einen politischen Anstrich und widersprach folglich dem revolutionären Männlichkeitsbild der ›68er‹ nicht. Die Expression subjektiver Affekte und Eindrücke, die gewöhnlich – wenn überhaupt – ausschließlich in privaten Vertrauensbeziehungen stattfand, wurde von den kulturrevolutionären Aktivisten entprivatisiert und kollektiviert. Betrachtet man eine Kontaktanzeige, die im Juni 1969 in der linken Untergrundzeitschrift Agit 883 52 von B. Schibrowski veröffentlicht wurde, so zeigt sich, wie mit männlicher Schwäche und Hilfsbedürftigkeit im Bereich des Sexuellen sogar um eine Partnerin geworben wurde: »Welches geduldige Mädchen (17-20 J.) ist bereit, mir aus meiner Sexualnot u[nd] damit bei der Überwindung d[er] bürgerlich-repressiven Fesseln meiner Umgebung zu helfen. Versuch wird nicht ganz einfach sein.«53 Offenbar war es in der oppositionellen Alternativszene kein männlicher Makel, sondern ein mutiges Bekenntnis zum Protest und ein Zeichen maskuliner Sensibilität, in aller Öffentlichkeit Hilfe in Liebesdingen zu suchen. Zur Heilung und Überwindung sexueller Probleme wurde, wie auch aus der Anzeige hervorgeht, befreite, sexuelle Aktivität betrachtet.

52 | Agit 883 steht für ›Flugschrift für Agitation und soziale Praxis‹. Die Zeitschrift wurde zu Beginn Agit 883 56 51 genannt, wobei die Zahl der Telefonnummer der ersten Redaktionsadresse entsprach. Die zwischen Februar 1969 und Februar 1972 mit 88 Ausgaben erschienene Untergrundzeitschrift stellte das bedeutendste publizistische Sprachrohr der radikalen, parteiungebundenen Linken in Berlin dar und wurde mit dem Ziel geschaffen, eine politische Gegenöffentlichkeit zu etablieren. Vgl. ANDRESEN, Knut/MOHR, Markus/ RÜBNER, Markus: Agit 883 zwischen Politik, Subkultur und Staat. In: Rotaprint 25 (Hg.): Agit 883. Revolte. Underground in Westberlin 1969-1972, Hamburg/Berlin 2006, S. 1746, hier S. 17 und S. 22. 53 | Kontaktanzeige, Rubrik ›Fundgrube‹, von B. Schibrowski. In: Agit 883, Nr. 19, 19. Juni 1969, S. 3, unter: www.agit883.infopartisan.net/(abgerufen am 16. August 2013).

7. Sexualität

7.3 D as E nde der romantischen L iebe ? Das historisch entstandene Kulturmuster der romantischen Liebe besitzt in der Diskursgeschichte der Liebe eine exponierte Stellung und wirkt bis in die Gegenwart fort.54 An der Ausbreitung des romantischen Liebesideals in alle Milieus gegenwärtiger westlicher Gesellschaften zeige sich, so der Paar- und Geschlechtersoziologe Holger Herma, dessen enormer Kulturerfolg als moderne Glücksverheißung.55 Bevor der Frage nachgegangen werden kann, ob die sexualrevolutionären Vertreter der bundesdeutschen 68er-Bewegung dem Liebescode der Romantik in ihren Beziehungsstrukturen tatsächlich ein Ende setzten, müssen die Spezifika des kulturellen Programmes kurz erläutert werden: Der Begriff ›Romantik‹ beschreibt eine zwischen den Jahren 1790 und 1830 anzusiedelnde kulturelle Epoche, eine literarische Gattung sowie eine Lebensphilosophie, die auch eine spezifische Geisteshaltung beinhaltete. Die romantische Bewegung prägte einen distinkten kollektiven Seelenzustand, der sich von der Rationalität der Aufklärung abgrenzte, und läutete die Hegemonie eines von Gefühlsreichtum und Sehnsucht dominierten emotionalen Stils ein.56 Dabei wird romantische Liebe als innerer Gefühlszustand der affektiven Zuneigung zwischen Mann und Frau begriffen, der sexuelle Leidenschaft und geistige Seelenfreundschaft vereint. Darüber hinaus geht der heteronormative romantische Liebescode von einer Einheit von Liebe und Ehe aus. Im Gegensatz zur Vernunftehe gilt Liebe als einzig legitime Begründung zur Ehe. Letzte Vollendung erhält eine durch die Ehe besiegelte Liebesbeziehung durch die Elternschaft. Großer Wert wird bei dem Ideal der romantischen Liebe dementsprechend auf die Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit und Dauerhaftigkeit der Bindung im Sinne ewiger Treue gelegt. Was den romantischen Liebescode des Weiteren auszeichnet, ist der hohe Individualitätsanspruch, den die Liebenden aneinander stellen. Durch die Verbindung zweier einzigartiger Individuen gewinnt die Beziehung Einmaligkeit. Im kulturellen Liebesdiskurs der Romantik gilt die Liebe als die wichtigste Angelegenheit im Leben von Mann und Frau, unabhängig von den potentiell beschränkenden Faktoren der politischen, sozialen oder ökonomischen Umwelt des Paares. Das ursprüngliche romantische Liebesideal fokussiert außerdem auf das Liebesglück zweier egalitärer und autonomer Partner, die nicht unter dem Einfluss einer hierarchischen Geschlechterordnung stehen.57 Erst mit der zunehmenden Polarisierung 54 | Vgl. LENZ, Karl: Soziologie der Zweierbeziehung. Eine Einführung, 4. Aufl., Wiesbaden 2009, S. 275; Vgl. REDDY, William M.: The Making of Romantic Love. Longing and Sexuality in Europe, South Asia, and Japan, 900-1200 CE, Chicago 2012, S. 18. 55  |  Vgl. HERMA, Holger: Liebe und Authentizität. Generationswandel in Paarbeziehungen, Wiesbaden 2009, S. 30. 56 | Vgl. GLEISS, Irma: Der romantische Liebesentwurf. In: Journal für Psychologie 15 (2007), Heft 1, S. 1-28, hier S. 2ff. 57 | Vgl. LENZ, Soziologie der Zweierbeziehung, S. 276ff.

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der Geschlechtscharaktere gegen Ende des 19. Jahrhunderts bildete das romantische Liebesideal dann das emotionale wie ideologische Bindeglied zwischen der öffentlichen männlichen Erwerbswelt und der häuslichen weiblichen Familiensphäre. Das romantische Liebesideal wurde in die geschlechterkomplementäre Arbeits- und Aufgabenteilung des Bürgertums eingeschrieben.58 Für Mann und Frau galten fortan verschiedene normative Verhaltensspielräume, was voreheliche Beziehungserfahrungen anbetraf. Das weibliche Geschlecht war verpflichtet, auf die wahre Liebe, den ›einzig Richtigen‹ zu warten und bis dahin seine sexuelle Unschuld zu bewahren. Dieselbe Tugendhaftigkeit war für Männer nicht vorgesehen, für das männliche Geschlecht wurde es als gesellschaftlich legitim erachtet, sich vor der Liebesheirat ›die Hörner abzustoßen‹.59 In der kollektiven Gefühlskultur der maskulin codierten bundesdeutschen 68er-Bewegung erfuhr das romantische Liebesideal, mit dem sich die bürgerliche Mehrheitsgesellschaft identifizierte, erwartungsgemäß Missbilligung. Es widersprach bereits den emotionalen Standards der studentischen Protestszene, in jemanden verliebt zu sein. Das Frankfurter SDS-Mitglied Ulrike Heider erinnert sich an die zaghaften Annäherungen eines männlichen Verehrers, dem es die zeitgenössischen milieuspezifischen Gefühlsregeln nicht erlaubten, seine Liebe für sie offen zu gestehen: »,Ich glaube, ich hab mich ein bisschen auf Dich fixiert‹, sagte der Genosse Sander im zeitüblichen, antiromantischen Vokabular und legte vorsichtig den Arm um mich.«60 Die statt ›ich bin ich dich verliebt‹ benutzte Formulierung ›ich bin auf dich fixiert‹ drückt aus, dass in den Kreisen der Protestbewegung die Schwärmerei und Zuneigung zu einem speziellen Individuum als bürgerliche Verfehlung und pathologisches Gefühlsmuster betrachtet wurde, das unweigerlich zur Anbahnung unfreier Zweierbeziehungen führte. Die Idealisierung des Liebesobjektes, die Suche nach ›dem Richtigen‹ oder ›der Richtigen‹ hatte bei den ›68ern‹, die kollektive Strukturen den Zweierbeziehungen vorzogen, keinen Platz. Formen der geschlechtsspezifischen Galanterie, des männlichen Werbens um die Gunst einer Frau durch bestimmte ritualisierte Umgangs- und Höflichkeitsformen, waren bei den linksstehenden Protestierenden ebenfalls als kontrarevolutionär verpönt: »Wie einst bei den russischen Nihilisten […] galt einer, der Frauen in den Mantel half, ihnen die Hand küsste oder den Stuhl unter den Hintern schob, als verlogener Charmeur. Eine Frau, die sich vom Verehrer zum Essen einladen ließ oder Blumengebinde erwartete, war altmodisch und unemanzipiert.« 61

58 | Vgl. HERMA: Liebe und Authentizität, S. 30. 59 | Vgl. LENZ, Soziologie der Zweierbeziehung, S. 283f. 60 | HEIDER, Keine Ruhe vor dem Sturm, S. 92. 61 | HEIDER, Keine Ruhe vor dem Sturm, S. 118.

7. Sexualität

Geschlechterstereotype Verhaltensweisen, die beinhalteten, dass der Mann als aktiver Eroberer das Herz der Dame zu gewinnen versucht, und diese bei Gefallen passiv die Annehmlichkeiten des Werbens genießt, wurden demzufolge als unaufrichtig und unzeitgemäß abgelehnt.62 Vertreter der kulturrevolutionären 68er-Bewegung vermuteten, dass sich hinter der Erhöhung der Frau im Rahmen des intensiven Werbens eine Strategie des Mannes verbarg, diese für sich zu gewinnen und geschlechterrollentypisch unterzuordnen.63 Der normative Gefühlsstil des maskulin codierten linksalternativen Protestmilieus sah es für Männer deshalb vor, im Kontakt mit dem weiblichen Geschlecht auf betont schmeichelhafte und übertrieben zuvorkommende und charmante Umgangsformen bewusst zu verzichten. Gemäß Jürgen Theweleit bevorzugte seine Generation »Frauen, die nicht mit Ehegerede zu erobern waren, sondern mit Unbekümmertheit, Frechheit, Wissen […].«64 Im Protestmilieu von ›1968‹ galten Treueschwüre und Liebesgeflüster demnach als bürgerlich-repressiv. Die im romantischen Liebesideal postulierte Einheit von Liebe, Ehe und Elternschaft war den linksstehenden Oppositionellen ebenfalls ein Gräuel. Sie betrachteten die Ehe und die klassische Kleinfamilie als bürgerliche Zwangsinstitutionen. Die Idee einer gefühlsbetonten Paarbeziehung zwischen zwei Individuen, die sich gefunden haben und die Ehe sowohl als Krönung ihrer dauerhaften Liebe, als auch zur Schaffung einer materiellen Basis für die Familiengründung eingehen, wurde als Farce abgetan.65 In der emotionalen Norm der bürgerlichen Liebesheirat sahen sie die Basis einer unfreien kapitalistisch und autoritär strukturierten Gesellschaft, wie die 68er-Aktivistin Ulrike Heider anmerkt: »Die Zwangsgemeinschaft sexuell frustrierter, zerstrittener und strafend erziehender Eltern mit ihren Opfern, den Kindern, galt als Brutstätte faschismusanfälliger Mentalität.«66 Volkhard Brandes, der in den Jahren der außerparlamentarischen Bewegung seine Gedanken in einem Tagebuch festhielt und seine Emotionen häufig in Gedichten ausdrückte, beschreibt seinen Widerwillen gegen die gesell-

62  |  Das bereits in der romantisch geprägten Ritterkultur des Mittelalters vorzufindende höfische Liebesritual, das im ergebenen Werben um die Zuneigung einer Dame Ausdruck fand, wies Männern wie Frauen strikte bipolar ausgerichtete Verhaltensmuster zu. Indem die männlichen Kavaliere die Angebetete umschmeichelten und damit auf ein Podest hoben, unterwarfen sie die Frau jedoch vielmehr ihrer Kontrolle und ihrem Willen, wie der Emotionshistoriker William M. Reddy festhält. Vgl. REDDY, The Making of Romantic Love, S. 21. 63 | Vgl. REDDY, The Making of Romantic Love, S. 21. 64 | THEWELEIT, Klaus: Salzen und Entsalzen. Wechsel der sexuellen Phantasien einer Generation. In: Ders. (Hg.): Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge, Frankfurt a.M./Basel 1998, S. 101-160, hier S. 113. 65 | Vgl. HERMA, Liebe und Authentizität, S. 30. 66 | HEIDER, Keine Ruhe vor dem Sturm, S. 59.

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schaftlich erwartete Männerrolle als Versorger und Oberhaupt einer Familie, wie folgt: »Soll ich heiraten? Eine Frau meinem geringen Besitz hinzufügen Und vor aller Welt sagen: Meine Frau? Mich väterlich den Kindern widmen, Schaukelpferd sein und ein Töpfchen bedienen? Soll ich das? […] Ich pflege Beziehungen zu feindlichen Kreisen. Es stinkt nach Hegel, Bakunin und Marx. Und dann diese nächtlichen Damenbesuche, […].« 67

In diesem zeitgenössischen Zeugnis offenbart Brandes seine Weigerung, der hegemonial männlichen Norm des verantwortungsbewussten, treusorgenden Ehemanns und Vaters nachzukommen. Die Genderhistorikerin Alice Echols merkt an, dass die männlichen Vertreter der Neuen Linken in den späten 1960er Jahren gegen die domestizierte Männlichkeit der Väter rebellierten. In den Jahren des Wirtschaftswunders, in denen die Vertreter der 68er-Generation heranwuchsen, zeigte sich der gesamtgesellschaftliche Trend zum Rückzug ins Private, weshalb die ›68er‹ ihre Eltern fast ausschließlich in den starren, geschlechterstereotypen Rollen des Familienernährers und der Hausfrau wahrgenommen hatten.68 Wie sich dem Gedicht des jungen 68er-Aktivisten entnehmen lässt, zog dieser dem konventionellen Lebensweg als Ehemann und Vater die politische Aktivität als Oppositioneller und ein offenes Liebesleben mit wechselnden Frauenbekanntschaften vor. Brandes kontrastiert in seiner Darstellung die Langeweile und die innere Leere, die er mit der traditionellen Männerrolle der Nachkriegszeit in Verbindung bringt, mit dem spannenden, freien und sexuell erfüllenden Leben als politischer Dissident. In der maskulin codierten Protestkultur der westdeutschen 68er-Bewegung wurde eine dauerhafte, stabile Zweierbeziehung nicht als erstrebenswertes Lebensziel betrachtet. Der romantische Glaube, dass die Liebe zwei Menschen auf eine positive Art und Weise ein Leben lang aneinander bindet, lag den ›68ern‹ fern. Insofern war das konventionelle Beziehungsleben des verheirateten außerparlamentarischen Wortführers Rudi Dutschke in den Augen der antiautoritären Protestgemeinschaft nicht mit dessen politischem Engagement vereinbar. Dutschkes Ehefrau Gretchen Dutschke-Klotz berichtet, dass die Entscheidung 67 | BRANDES, Wie der Stein ins Rollen kam, S. 109f. 68  |  Vgl. ECHOLS, Alice: Shaky Ground. The ’60s and Its Aftershocks, New York 2002, S. 71.

7. Sexualität

des prominenten, studentischen Anführers zur Heirat im antiautoritären Milieu keine Akzeptanz erfuhr. Die vorwiegend männlichen Mitglieder des SDS, so Dutschke-Klotz, fanden es außerdem ›unmöglich‹, als das Ehepaar auch noch ein Kind bekam.69 Es herrschte die Meinung vor, dass es wichtiger sei, für die herbeigesehnte Revolution zu kämpfen, anstatt »kleinfamiliären Nestbau«70 zu betreiben, wie der Kommunarde Dieter Kunzelmann Rudi und Gretchen Dutschke vorwarf. Dutschke-Klotz erinnert sich, dass feste Bindungen und Ehen im Protestmilieu von ›1968‹ nicht gerne gesehen waren: »Die Männer hatten Freundinnen. Einige hatten sich in ihrer vorpolitischen Zeit verheiratet, was gerade noch zu entschuldigen war.«71 Anscheinend definierten die männlichen Protestierenden ihre Prioritäten im Leben eindeutig: Für sie war die politische Aktivität Lebensmittelpunkt und Bezugspunkt ihrer maskulinen Identität. Erfüllung wurde nicht primär in einer Liebesbeziehung gesucht, wie es der Liebescode der Romantik vorschreibt. Das normative Gefühlsprogramm der maskulin codierten 68er-Bewegung als emotionale Gemeinschaft weist von daher eine Entemotionalisierung von Paarbeziehungen auf. An der romantischen Vorstellung von Liebe als kraftvolle, einzigartige und wahrhaftige Emotion, die zwei Personen dauerhaft vereint, wurde nicht festgehalten. »Überhaupt jemanden zu lieben war« gemäß Gretchen Dutschke-Klotz’ Dafürhalten im männlichen dominierten Protestmilieu von ›1968‹ »irgendwie falsch.«72 Wenn schon die feste Beziehung mit einer »Frau als Anhängsel, als Klette eine erstickende Vorstellung«73 für manche Mitglieder der oppositionellen Jugendbewegung der späten 1960er Jahre darstellte, so fühlten sie sich emotional außer Stande, für ein Kind zu sorgen. Dagmar Pryztulla sah sich gezwungen, aus der Kommune I auszuziehen, als sie von dem Kommunarden Dieter Kunzelmann schwanger war. Dieser drängte auf Abtreibung, weil er, wie er erklärte, »das Kind, das sie erwartete, nicht haben wollte, da [er] aufgrund [s]einer Perspektive keine Verantwortung zu übernehmen bereit war.«74 Obgleich eine Abtreibung ohne medizinische Indikation in den späten 1960er Jahren illegal war, wurde nicht vor der Maßnahme zurückgescheut. Die Koppelung der Elternschaft an das romantische Liebesideal hatte in der oppositionellen Szene keinen Bestand. Für die Protestierenden stellte es keinen ethischen oder emotionalen Tabubruch dar, eine Schwangerschaft aus Gründen des persönlichen Freiheitsstrebens abzubrechen. Auch Volkhard Brandes berichtet, wie er es in den Jahren des Protests ganz allein seiner Partnerin überließ, das gemeinsame Kind abzutreiben:

69 | Vgl. DUTSCHKE-KLOTZ, ›Jemanden zu lieben war irgendwie falsch‹, S. 284ff. 70 | KUNZELMANN, Leisten Sie keinen Widerstand!, S. 50. 71 | DUTSCHKE-KLOTZ, Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben, S. 81. 72 | DUTSCHKE-KLOTZ, ›Jemanden zu lieben war irgendwie falsch‹, S. 286. 73 | BRANDES, Wie der Stein ins Rollen kam, S. 110. 74 | KUNZELMANN, Leisten Sie keinen Widerstand!, S. 70.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er »C. ist schwanger, treibt ab. Ich mache die Augen zu, will davon möglichst wenig sehen, überlasse alles C. Nur kein Kind – das erscheint mir als das Ende meines Aufbruchs, als Kapitulation und Rückkehr in all die Fesseln, die ich gerade abgeworfen habe. Ich bin erleichtert, daß es endet, ohne daß es Folgen für mich hat.« 75

Im autobiografischen Narrativ Brandes lässt sich zwar erkennen, dass der junge Oppositionelle aufgrund des Schwangerschaftsabbruches seiner Freundin moralische Bedenken und ein schlechtes Gewissen verspürte, die Erleichterung über den Erhalt seiner Eigenständigkeit und Unabhängigkeit jedoch das dominierende Gefühl für ihn war. Die benannten Aktivisten der 68er-Bewegung traten zwar für freie Sexualität mit wechselnden Partnern ein, zeigten sich aber nicht bereit, verantwortungsbewusst mit der Möglichkeit einer Schwangerschaft umzugehen. Ob die von den Protagonisten der Protestbewegung postulierte Auflösung bürgerlicher, am romantischen Liebesideal orientierter Beziehungsstrukturen und die Forderung nach ›freier Liebe‹ auf Kosten der Frauen ging und zu Gunsten der Männer ausfiel, soll deshalb im Folgenden näher betrachtet werden.

7.4 S e xuelle R e volution nur für M änner ? Vom Boulevardmagazin Pardon auf ihre promisken Sexualpraktiken angesprochen, erklärten die männlichen Mitglieder der Kommune I, auf welche Art und Weise sie angeblich ihre zahlreichen Sexualpartnerinnen gefügig machten: »Es ist wie bei der Pferdedressur. Erst muß einer das Tier einreiten, dann steht es allen zur Verfügung. Erst ist es Liebe oder so etwas Ähnliches, nachher nur noch Lust. Der Trick ist einfach: Man macht ein Mädchen verliebt, schläft mit ihr und markiert nach einer Weile den Enttäuschten oder Desinteressierten. Dann überlässt man die der Aufmerksamkeit der anderen und das Ding ist gelaufen. So ist sie vollwertiges Mitglied.« 76

Der wohl satirisch gemeinte Beitrag, der nichtsdestotrotz an Sexismus, Chauvinismus und Misogynie kaum zu überbieten ist, macht unverhohlen deutlich, dass die männlichen Kommunarden die Initiatoren und Profiteure des kulturrevolutionären Imperativs freier Sexualität waren. Es wird als geschickte Strategie dargestellt, potentiellen Sexualpartnerinnen vorzuspielen, in sie verliebt zu sein, um das Ziel des persönlichen sexuellen Lustgewinnes zu erreichen und die vorgetäuschte Bindung dann alsbald wieder zu lösen. Die männlichen Bewohner der Kommune I lassen dabei anklingen, dass das weibliche Geschlecht noch dem Ideal der romantischen Liebe verhaftet wäre, wohingegen sie selbst die neue 75 | BRANDES, Wie der Stein ins Rollen kam, S. 112. 76  |  Kommune I, in: Pardon, Nr. 8/1967, S. 22, zitiert nach: KOENEN, Das rote Jahrzehnt, S. 159.

7. Sexualität

linksalternative Norm ›freier Liebe‹ bereits voll und ganz verinnerlicht hätten. Sie geben an, bewusst mit den Gefühlen ihrer Partnerinnen zu spielen und die Frauen zur eigenen sexuellen Befriedigung auszunutzen und zu überlisten. Insofern liegt die Vermutung nahe, dass die sexuelle Befreiung in Theorie und Praxis der maskulin codierten bundesdeutschen 68er-Bewegung ein Konzept darstellte, das primär den Vorstellungen und Bedürfnissen heterosexueller Männer entgegenkam. In diesem Zusammenhang geht der Erziehungswissenschaftler Ulf PreussLausitz davon aus, dass es für das männliche Geschlecht schon immer mit Prestige verbunden war, mit weiblichen Eroberungen zu renommieren, und dass die ›68er‹ dies nun »mit dem Gestus der Emanzipierten« tun konnten.77 Der im Protestmilieu von ›1968‹ weit verbreitete Slogan ›Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment‹, der Frauen zu Sexualobjekten der männlichen Polit-Aktivisten degradierte, offenbart ebenfalls den männlichen Blickwinkel der sogenannten Sexuellen Revolution. Für die Ausbildung einer maskulinen Protestidentität waren das Ausleben von freier Sexualität und vor allem das öffentliche Reden darüber von maßgeblicher Bedeutung. In zahlreichen Statements lösten die überwiegend männlichen ›68er‹ Sexualität von Gefühlen wie Liebe, Verbundenheit und Vertrauen und verstanden diese rein genital.78 Das kollektive Gefühlsrepertoire der maskulin codierten bundesdeutschen 68er-Bewegung zeichnete sich durch ein entemotionalisiertes Verständnis von Sexualität aus, wie auch ein Blick auf verschiedene von Männern inserierte Kontaktanzeigen gegen Ende der 1960er Jahre erkennen lässt. In der anarchistischen Zeitung Agit 883, die aus den linksalternativen Kreisen Berlins hervorging, finden sich im Jahr 1969 zahlreiche szenetypische Inserate, die das Ideal der befreiten Sexualität als männliches Konzept erscheinen lassen. So suchte etwa ein »Jüngling mit Orgasmusschwierigkeiten […] täglich [eine] neue Partnerin«79, während ein anderer Genosse speziell auf eine »Sportlehrerin als Partnerin für Kamasutratechniken«80 aus war. Unverhohlen gaben junge Männer in kurzen, prägnanten Anzeigen zu, dass es ihnen bei der Anbahnung eines Kontaktes mit einer Frau ausschließlich um sexuelle Erfüllung ging. Die Inserierenden priesen ihre individuellen Qualitäten und positiven Eigenschaften nicht wie in herkömmlichen bür77 | Vgl. PREUSS-LAUSITZ, Ulf: Vom gepanzerten zum sinnstiftenden Körper. In: Ders./ Peter Büchner/Marina Fischer-Kowalski u.a. (Hg.): Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. Zur Sozialisationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, 2. Aufl., Weinheim/Basel 1989, S. 89-106, hier S. 98f. 78  |  Vgl. KOCH, Friedrich: Sexualität und Erziehung. Zwischen Tabu, repressiver Entsublimierung und Emanzipation. In: Bernhard Armin/Wolfgang Klein (Hg.): 1968 und die neue Restauration, Frankfurt a.M. 2009, S. 117-134, hier S. 121. 79 | Kontaktanzeige, Rubrik ›Fundgrube‹, von H. J. Kress. In: Agit 883, Nr. 19, 19. Juni 1969, S. 3, unter: www.agit883.infopartisan.net/(abgerufen am 16. August 2013). 80 | Kontaktanzeige, Rubrik ›Fundgrube‹, anonym. In: Agit 883, Nr. 18, 12. Juni 1969, S. 3, unter: www.agit883.infopartisan.net/(abgerufen am 16. August 2013).

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gerlichen Blättern an, um das Interesse des weiblichen Geschlechts zu wecken, sondern kamen direkt auf den Punkt. In der Agit 883 war ein weiteres männliches Mitglied der linken Protestszene auf der Suche nach einer »emanzipierte[n] Genossin zum gemeins[amen] Lustgewinn«81, was in seiner Offenheit und Direktheit unter Umständen auch bei Frauen der linken Szene einen abschreckenden Eindruck hinterließ. Wenig charmant wirkt auch die Anzeige: »2 Typen suchen 2 Genossinnen, […] die mit uns in Kneipen ziehen, saufen, tanzen und ins Bett gehen […].«82 Die zitierten Anzeigen sprechen das weibliche Geschlecht nicht auf der zwischenmenschlich-emotionalen, sondern ausschließlich auf der sexuellen Ebene an. Mit dem authentisch-ironischen Stil der Inserate versuchten die jungen Oppositionellen, sich von der Oberflächlichkeit und Heuchelei des bürgerlich-romantischen Werbens abzugrenzen.83 »Lust und Nähe wurden auf Sexualität reduziert, Emotionalität verdrängt«84, so auch der Historiker Stefan Micheler über das Sexualitätsverständnis der männlich dominierten 68er-Bewegung, bei dem sexuelle Extensivität die emotionale Intensivität von Beziehungen ersetzen sollte.85 In der Agit 883 lassen sich vergleichbare inserierte Anbahnungen zum Sexualkontakt von weiblicher Seite nicht vorfinden, was die aktive, unverblümte Suche nach Partnerinnen zur ›freien Liebe‹ als männliches Streben offenbart. Der SDS-Aktivist Reimut Reiche, der in den Jahren des Protests selbst die sexuelle Emanzipation als gesellschaftliche Befreiungsstrategie angepriesen hatte, räumt retrospektiv ein, dass die sexualrevolutionäre Maxime befreiter Sexualität den männlichen Polit-Aktivisten schlichtweg dazu diente, ihren sexuellen Erfolg beim weiblichen Geschlecht zu steigern. Laut Reiche musste die ›freie Liebe‹ Ende der 1960er Jahre »wohl auch herhalten – man kann es fast nur in Begriffen der Primatologie ausdrücken –, um den SDS-Männchen Zugang zum Koitus mit den stets knappen SDS-Weibchen zu verschaffen […].«86 Er unterstellt den männlichen Protagonisten der Revolte – zu denen er selbst gehörte – die sexuelle Revolution nicht nur zu rein politischen Zwecken propagiert zu haben, sondern auch um Frauen aus dem linksalternativen Milieu als willige Sexualpartnerinnen zu gewinnen. In der Hypersexualisierung der männlichen ›68er‹ sieht das ehemalige Freiburger SDS-Mitglied Klaus Theweleit zudem einen Versuch der jungen Generation, sich von dem Körperbild und den sexuellen Praktiken der Vätergeneration

81 | Kontaktanzeige, Rubrik ›Fundgrube‹, anonym, In: Agit 883, Nr. 18, 12. Juni 1969, S. 3, unter: www.agit883.infopartisan.net/(abgerufen am 16. August 2013). 82  |  Kontaktanzeige, Rubrik ›Fundgrube‹, von Peter Mai. In: Agit 883, Nr. 43, 4. Dezember 1969, S. 3, unter: www.agit883.infopartisan.net/(abgerufen am 16. August 2013). 83 | Vgl. REICHARDT, Von ›Beziehungskisten‹ und ›offener Sexualität‹, S. 275. 84  |  MICHELER, Stefan: Der Sexualitätsdiskurs in der deutschen Studierendenbewegung der 1960er Jahre. In: Zeitschrift für Sexualforschung 13 (2000), Heft 1, S. 1-39, hier S. 16. 85 | Vgl. MICHELER, Der Sexualitätsdiskurs, S. 16. 86 | REICHE, Sexuelle Revolution – Erinnerung, S. 60f.

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abzugrenzen.87 Theweleit kritisiert in seinem Opus magnum Männerphantasien die körperliche und emotionale Begrenztheit des soldatischen Mannes im Faschismus, der gemäß seiner Deutung Ekel vor Sexualität und Weiblichkeit verspürte. Die jungen Oppositionellen wollten nicht mehr wie ihre Väter als gefühlloser und lustfeindlicher »Panzer durch die menschliche Beziehungswelt« fahren und wandten sich von dem »gepanzerte[n] Mann, jene[m] Typus Mann, aus dem Hitler und seinesgleichen immer wieder ihre nekrophilen Untergangsarmeen rekrutierten«88 ab. Indem die Protestierenden ihre Rebellion sexuell aufluden und scheinbar ständig hinter ›Sex‹ her waren, wollten sie eine ›andere‹ Sexualität und ein ›anderes‹ Körpergefühl entwickeln, die sich von der verklemmten Sexualmoral der Eltern deutlich unterschieden.89 Zu dem Schluss, dass weibliche und männliche Mitglieder der bundesdeutschen 68er-Bewegung durchaus unterschiedliche ›Lesarten‹ der Sexuellen Revolution besaßen, ist die Historikerin Kristina Schulz gekommen.90 In den Zeugnissen weiblicher ›68erinnen‹ wird die männerzentrierte Körperlichkeit der Sexuellen Revolution häufig zu einem negativen Bezugspunkt.91 So gibt beispielsweise die ehemalige Kommunardin Dagmar Pryztulla an, dass das Primat der Luststeigerung durch Promiskuität in der Kommune I ausschließlich von den männlichen Mitbewohnern verwirklicht wurde. Gemäß Pryztulla hatten nur die Männer Beziehungen mit rasch wechselnden Sexualpartnerinnen. Als Grund für dieses Ungleichgewicht führt sie an, dass die Kommunardinnen emotional zu sehr an dem Partner hingen, mit dem sie in die Wohngemeinschaft eingezogen waren.92 Für die weiblichen Mitbewohnerinnen war die entemotionalisierte Sexualität auf Geheiß der Männer scheinbar nicht umsetzbar und widersprach ihren sexuellen und emotionalen Bedürfnissen. Pryztulla erklärt zudem, dass die dominanten männlichen Mitbewohner keine anderen Männer in der Kommune I geduldet hätten.93 Die kulturrevolutionären Kommune-Bewohner legten bezüglich sexueller Verhaltensspielräume offenbar eine geschlechterstereotype Doppelmoral an den Tag. Auch in der Kommune II erhielten bezeichnenderweise die Paarbeziehungen erst dann »den entscheidenden Sprung, als die Frauen mit 87  |  Vgl. THEWELEIT, Klaus: …ein Aspirin von der Größe der Sonne, Freiburg 1990, S. 56f. 88 | BRANDES, Wie der Stein ins Rollen kam, S. 110. 89 | Vgl. HERZOG, Antifaschistische Körper, S. 548ff. 90  |  Vgl. SCHULZ, Kristina: 1968: Lesarten der ›sexuellen Revolution‹. In: Matthias Frese/ Julia Paulus/Karl Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 44), 2. Aufl., Paderborn/München 2005, S. 121-133, hier S. 121. 91 | Vgl. SCHULZ, 1968: Lesarten der ›sexuellen Revolution‹, S. 132. 92 | Vgl. PRZY TULLA, ›Niemand ahnte, dass wir ein ziemlich verklemmter Haufen waren‹, S. 209. 93 | Vgl. PRZY TULLA, ›Niemand ahnte, dass wir ein ziemlich verklemmter Haufen waren‹, S. 209.

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jemand anderem aus der Gruppe schliefen.«94 Wie es scheint, wurde in den sexualrevolutionären Kommunen mit zweierlei Maß gemessen, was die Akzeptanz sexueller Freizügigkeit bei Männern und Frauen betraf. Als ›Opfer‹ der zeitgenössischen, milieuspezifischen männlichen Einstellung zur Sexualität betrachtet sich die an den Protesten von ›1968‹ aktiv beteiligte Sarah Haffner. Die Aktionskünstlerin beschreibt die vorherrschende Vorstellung von sexueller Freiheit als körperliche und seelische Zumutung für Frauen: »Durch die sexuelle Revolution geriet man sehr stark unter Druck, Sachen zu machen, die man vorher nicht so ohne weiters gemacht hätte, immer in dem Gefühl, ›wenn du das nicht machst, bist du ’ne Bürgerliche!‹ Es gab ja die Pille, und dadurch wurden Dinge möglich, die vorher mit ziemlich viel Angst besetzt waren. Eigentlich stellte ich mir Beziehungen anders vor, aber Beziehungen hießen damals nur abfällig ›Beziehungskiste‹ und waren etwas Bürgerliches […] die sexuelle Revolution ging absolut auf Kosten der Frauen.« 95

Die neue Promiskuitätsnorm erlebte Haffner nicht als befreiend und beglückend, sondern als unangenehm und bedrückend. Sie schildert die Jahre der Sexuellen Revolution als eine schmerzliche und verwirrende Zeit des Unbehagens und der Verunsicherung, in denen sie häufig an Liebeskummer litt.96 Die in der Protestgemeinschaft vorherrschende Geringschätzung von Bindungsbereitschaft konnte sie nicht teilen. Anstatt frei und unbekümmert zu einem positiven Umgang mit der eigenen sexuellen Lust zu gelangen und sexuelle Erfahrungen sammeln zu können, bedeutete die sexuelle Revolution für Haffner eine neue Form der Bevormundung. Um den kollektiven Sexual- und Gefühlsnormen der maskulin dominierten Protestkultur zu entsprechen, ließ sie sich als junge Frau zu eigentlich unerwünschten sexuellen Handlungen hinreißen. Sie meinte, dass ein bewegtes Sexualleben von ihr erwartet wurde, um dazuzugehören und akzeptiert zu werden. Der Widerspruch zwischen dem normativ gültigen emotionalen Haushalt der männlich codierten Bewegung und ihrem persönlichen Empfinden verursachte bei Haffner gemäß des Theoriemodells William M. Reddys emotionales Leiden.97 Die ›freie Liebe‹ als Leidenserfahrung einer Mitbewohnerin schildert auch eine junge Frau, die die Zeit des antiautoritären Protests in einer linksalternativen Berliner Kommune verbracht hat, in einem anonymen Bericht: »Für Hedda, […] schien es eine Frage der Geltung und des gesellschaftlichen Prestiges zu sein, immer wieder neue Freunde mitzubringen und nach einer Nacht oder einigen Nächten 94 | KOMMUNE 2, Versuch der Revolutionierung, S. 46. 95 | HAFFNER, Sarah: ›Diese Frauen waren der revolutionärste Teil dieser etwas revolutionären Bewegung‹. In: Ute Kätzel (Hg.): Die 68erinnen. Porträt einer rebellischen Frauengeneration, Königstein 2008, S. 141-159, hier S. 151f. 96 | Vgl. HAFFNER, ›Diese Frauen waren der revolutionärste Teil…‹, S. 152. 97 | Vgl. REDDY, The Navigation of Feeling, S. 129.

7. Sexualität wieder abzuschieben. Mit Männern zu spielen und sie nach Belieben zu ›vernaschen‹, hat offensichtlich ihr Selbstgefühl aufbessern sollen. Daß dieser Versuch kläglich scheiterte, bewies eines Tages ihr Gang in die Sprechstunde eines Psychotherapeuten.« 98

Der Versuch der Kommunardin Hedda, sich durch häufig wechselnde Sexualpartner in der Protestszene von ›1968‹ Geltung zu verschaffen und zugleich ein glückliches, befreites Selbstgefühl zu erreichen, misslang. Es war der jungen Genossin nicht möglich, ihre raschen, anonymen und entemotionalisierten Sexualkontakte psychisch zu verarbeiten, weshalb sie professionelle psychotherapeutische Hilfe suchte. Die These, dass es sich bei der Sexuellen Revolution der bundesdeutschen 68er-Bewegung um ein emotionales Konzept handelte, das Männern mehr entgegenkam als Frauen, scheint auch durch dieses Zeugnis bestätigt. Positive Einschätzungen zur Praxis der befreiten Liebe im linken Protestmilieu der späten 1960er Jahre von Seiten weiblicher Protestaktivistinnen sind kaum zu finden. Einigkeit herrscht unter den Protagonistinnen der 68er-Bewegung, dass die »kurzzeitige Kultur ›Jede mit jedem‹ die Frauen überfordert hat.«99 Die von der maskulin codierten 68er-Bewegung propagierte sexuelle Revolution beinhaltete jedoch nicht nur ein männliches, sondern auch ein heterosexuelles Sexualitätsverständnis. Ähnlich wie die Gleichberechtigung von Frauen im linken Protestmilieu von ›1968‹ als Nebenwiderspruch abgetan wurde, stellte auch das Eintreten für gleichgeschlechtliche Liebe kein zentrales Anliegen auf der politischen Agenda der Protestierenden dar. In zeitgenössischen und retrospektiven Quellen zur bundesdeutschen 68er-Bewegung und deren Sexualordnung wird Homosexualität, die bis ins Jahr 1969 straf bar war100, so gut wie nicht thematisiert.101 Auch die sexualrevolutionären Schriften Wilhelm Reichs, die von den jungen Oppositionellen massenhaft rezipiert wurden, folgten ausschließlich dem heteronormativen Paradigma.102 Befreite, entmoralisierte Sexualität für Homose98 | RIEDEN, Ich lebte in einer Kommune, S. 11. 99  |  Tissy Bruns, in: HANNOVER/SCHNIBBEN, I can’t get no, S. 210. 100 | Am 25. Juni 1969 fand die erste gesetzliche Novellierung der §§ 175, 175a StGB seit dem Jahr 1935 statt. Die bedeutendste Neuerung des Ersten Strafrechtsreformgesetzes bestand in der Entkriminalisierung einfacher Homosexualität. Vgl. SCHÄFER, Christian: Das Ringen um § 175 StGB während der Post-Adenauer-Ära – Der überfällige Wandel einer Sitten- zu einer Jugendschutzvorschrift. In: Andreas Pretzel/Volker Weiß (Hg.): Ohnmacht und Aufbegehren. Homosexuelle Männer in der frühen Bundesrepublik (Geschichte der Homosexuellen in Deutschland nach 1945, Bd. 1), Hamburg 2010, S. 198-209, hier S. 200ff. 101 | Vgl. FEDDERSEN, Jan: Queer leben – ist das schon politisch? Anmerkungen zu Bürgerrechtlichkeit, Queer Politics und anderssexuellen Performativitäten. In: Barbara Höll/ Klaus Lederer/Bodo Niendel (Hg.): queer.macht.politik. Schauplätze gesellschaftlicher Veränderung, Hamburg 2013, S. 232-249, hier S. 241. 102 | Vgl. WAGENKNECHT, Peter: Was ist Heteronormativität? Zur Geschichte und Gehalt des Begriffs. In: Jutta Hartmann/Christian Klesse/Ders. (Hg.): Heteronormativität.

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xuelle wurde im Umfeld der antiautoritären Bewegung nicht lauthals und explizit gefordert. Wie unsicher sich ein homosexueller junger Mann im libertären Umfeld der 68er-Revolte in Bezug auf seine Sexualität und deren Akzeptanz fühlte, zeigt eine Anzeige, die 1969 in der Zeitschrift Agit 883 geschaltet wurde: »Ich bin ein junger, homosexueller, politisch tätiger Genosse. Ich weiß nicht, wie ihr das aufnehmen werdet, bitte tut das. […] Ich leide sehr unter Einsamkeit […]. Ich glaube, ich hätte auch das Recht zu ›menschlichen Beziehungen‹, nur, daß ich nicht weiß, welche Genossen und welche Kommune mir Freundlichkeit entgegenbringen würde.« 103

Innerhalb der maskulin codierten Protestbewegung scheint der homosexuelle Genosse eine Randexistenz geführt zu haben. Er klagt über Einsamkeit und weiß nicht, ob die Mitglieder der linksalternativen Szene seine sexuelle Orientierung positiv und tolerant aufnehmen. Die kulturrevolutionären ›68er‹ propagierten keine offene Solidarität mit Homosexuellen, zeigten sich aufgrund ihrer emanzipierten, freiheitlichen Grundeinstellung aber zumeist auch nicht offen homophob. Das Motto der im Jahr 1968 in Westdeutschland neukonstituierten Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) »Wir reden der Homosexualität nicht das Wort«104, war wohl auch für die Einstellung der 68er-Bewegung zur Homosexualität zutreffend. Die Vertreter der studentischen Protestbewegung hatten zwar gemeinhin nichts gegen gleichgeschlechtliche Sexualität, setzten sich aber auch nicht aktiv gegen die gesellschaftliche Diskriminierung und Stigmatisierung der sexuellen Minderheit ein.105 Erst die Schwulenbewegung, die in der Bundesrepublik ihre Initialzündung mit Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt im Jahr 1971 erfuhr, kämpfte für die Rechte Homosexueller.106 Dementsprechend weist sich die sexuelle Revolution als ein Konzept aus, das tendenziell auf heterosexuelle männliche Bedürfnisse und Emotionen ausgerichtet war.

Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht, Wiesbaden 2007, S. 17-34, hier S. 21f. 103  |  Kontaktanzeige, Rubrik ›Fundgrube‹, anonym. In: Agit 883, Nr. 32, 18. September 1969, S. 3, unter: www.agit883.infopartisan.net/(abgerufen am 16. August 2013). 104  |  Matthias Kleij, in: HANNOVER/SCHNIBBEN: I can’t get no, S. 251. 105 | In einer Umfrage zum Sexualverhalten von Studenten aus dem Jahr 1966 gaben drei Viertel der Befragten an, Homosexualität zu billigen. Trotz des Anspruchs der ›68er‹, sich sexuellen Minderheiten gegenüber tolerant zu geben, kam es im realen Umgang laut Steffen Micheler durchaus zur Diskriminierung von homosexuellen Männern und Frauen. Vgl. MICHELER, Der Sexualitätsdiskurs, S. 30. 106 | Vgl. FORSBACH, Die 68er und die Medizin, S. 153.

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7.5  V erklemmtheit und E ifersucht Die von der 68er-Bewegung proklamierte Norm entprivatisierter Intimität und befreiter Liebe überforderte jedoch nicht nur weibliche Mitglieder des Protestmilieus körperlich und emotional, auch manchen männlichen Polit-Aktivisten gelang es nicht, ihre sexuellen Gepflogenheiten der neuen Promiskuitätsnorm anzupassen. Schamgefühle und Eifersucht standen dem entspannten und beglückenden Ausleben freier Sexualität entgegen, wie zahlreiche Angehörige des linken Protestmilieus im Nachhinein berichten. Der studentische Wortführer Daniel Cohn-Bendit gibt an, dass seiner Erfahrung nach die 68er-Generation größtenteils sexuell gehemmt war, wobei er sich davon auch selbst nicht ausnimmt: »[…] ich war natürlich auch verklemmt, aber gleichzeitig gehörte ich zur libertären Strömung, die diese Erfahrung, das Wilde, die freie Liebe, bewusst machen wollte. Das war anstrengend.«107 Er beschreibt das emotionale Dilemma eines jungen Rebellen, der dem sexualrevolutionären Anspruch von wilder, hemmungsloser Sexualität gerecht werden wollte, zugleich aber gegen die eigenen Schamgefühle ankämpfen musste. Cohn-Bendit bezeichnet die gängigen Sexualregeln der maskulin codierten 68er-Bewegung als anstrengend und deutet an, dass ihn die Umsetzung des bewegungsinternen Ideals entemotionalisierter und entromantisierter ›freier Liebe‹ Überwindung gekostet hat. Susanne SchunterKleemann, die als aktives Mitglied im SDS Berlin an der bundesdeutschen 68erBewegung teilgenommen hat, pflichtet Cohn-Bendits Einschätzung bei, dass auch männliche Protestierende ihre Probleme mit der befreiten Sexualität hatten: »Die Männer waren zwar intellektuell oder satirisch gut drauf, aber im Bett oft verklemmt und gehemmt. Sie redeten im Grunde viel mehr darüber, als dass sie es tatsächlich praktizierten.«108 Laut der SDS-Aktivistin fiel es den männlichen ›68ern‹ leichter, ungeniert und öffentlich in einem gesellschaftskritischen Gestus über ›freie Liebe‹ zu sprechen, als der kollektiv geforderten Prämisse eines offenen Sexuallebens in der Praxis nachzukommen. Betrachtet man statistische Daten zum Sexualverhalten Studierender während der sogenannten Sexwelle, zeigt sich, dass sie die Bevölkerungsschicht darstellten, deren sexuelle Praxis sich am raschesten änderte. In den späten 1960er Jahren kam es im studentischen Milieu zu einer deutlichen Vorverlegung sexueller Aktivitäten, die Zahl der Koitushäufigkeit und der Sexualpartner nahm zu und voreheliche Virginität stellte keinen positiven Wert mehr dar. Damit waren die Studierenden aber keine Vorreiter in Sachen sexueller Revolution, sondern eher Nachzügler. Die Veränderungen im Sexualverhalten hatten in anderen Bevölkerungsgruppen, wie etwa der Arbeiterschicht, bereits früher eingesetzt. Bis in die 1960er Jahre hinein blieben Personen, die studierten, länger in ihre Familien integriert und machten erst 107  |  Daniel Cohn-Bendit im Spiegel-Gespräch: ›Jetzt kommt das Endspiel‹. In: Der Spiegel, Ausgabe vom 2. April 2012, Nr. 14, S. 20-23, hier S. 21. 108 | SCHUNTER-KLEEMANN, ›Wir waren Akteurinnen und nicht etwa die Anhängsel‹, S. 112.

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später sexuelle Erfahrungen als ihre Altersgenossen aus anderen gesellschaftlichen Schichten.109 Zur Zeit der sexualrevolutionären Politik der 68er-Bewegung ging also tatsächlich ein merklicher Wandel in der sexuellen Praxis der Studentenschaft einher. Wie es scheint, hinkten jedoch die moralischen Werte und emotionalen Befindlichkeiten der rebellierenden jungen Menschen hinter der rasanten Liberalisierung ihres Sexualverhaltens her. Vor allem männliche Mitglieder der Protestszene fanden laut Volkhard Brandes die Aussicht auf ein freies Sexualleben mit wechselnden Partnerinnen durchaus verlockend und anziehend, waren aber zu befangen und gehemmt, um dem Ruf der sexuellen Revolution bedenkenlos zu folgen: »›Wer einmal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment‹, war einer dieser aufreizenden Losungen, die damals in der sozialistischen Männerwelt die Runde machten. Das hätte ich, um ehrlich zu sein, auch gerne mal versucht. Tat es aber nicht. Hatte stattdessen mehr oder weniger dauerhafte Beziehungen; von Zeit zu Zeit auch kleine, zumeist verheimlichte und mit schlechtem Gewissen ausgelebte Seitensprünge.« 110

Sexualmoralische Motive hinderten den 68er-Aktivisten daran, die attraktiv anmutende befreite Sexualität zu praktizieren. Seitensprünge verursachten bei ihm ein schlechtes Gewissen und wurden vor der jeweiligen Partnerin geheim gehalten, was den linksalternativen Idealvorstellungen einer von Schuld- und Schamgefühlen befreiten Sexualität zuwiderlief. Der junge Oppositionelle schien den Wert partnerschaftlicher Treue mehr oder minder verinnerlicht zu haben, obwohl das Bedürfnis nach monogamer Paarbindung im linken Protestmilieu als bürgerlich verpönt war. Offenbar konnten sich Mitglieder der antiautoritären Bewegung, wie Brandes, nicht vollständig von den gesamtgesellschaftlich vorherrschenden sexualmoralischen Wertmaßstäben loslösen. Häufig stand auch das Gefühl der Eifersucht der sexualrevolutionären Beziehungsmobilität im Weg. Freie Sexualität mit wechselnden Partnern ging im hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieu der späten 1960er Jahre »manchmal nicht ohne Zank, Tränen und Proteste ab.«111 Keineswegs war den bundesdeutschen ›68ern‹ die Sorge um die Treue des Partners/der Partnerin und die Befürchtung, diesen/diese an einen ›Rivalen‹/eine ›Rivalin‹ zu verlieren, fremd. Die begründete oder auch unbegründete Angst, die Anerkennung, Zuneigung und Aufmerksamkeit einer geliebten Person an einen Dritten zu verlieren, ist mit dem romantischen Liebesideal verknüpft, das von einer besonderen, individuellen Verbindung zweier Liebender ausgeht.112 Der Kommunarde Ulrich Enzensberger berichtet, dass selbst 109 | Vgl. EDER, Kultur der Begierde, 233ff. 110 | BRANDES, Wie der Stein ins Rollen kam, S. 152. 111 | RIEDEN, Ich lebte in einer Kommune, S. 14f. 112  |  Vgl. HOPFENSITZ, Astrid: Eifersucht: Eine Leidenschaft, die Leiden schafft. In: Uwe Mummert/Friedrich L. Sell (Hg.): Emotionen, Markt und Moral (Kulturelle Ökonomik, Bd. 7), Münster 2005, S. 233-254, hier S. 234.

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in der kulturrevolutionären Kommune I die »Aufhebung der erotischen Besitzansprüche« und »die Verwandlung der Gruppe in eine zärtliche Kohorte nicht glücken«113 wollten. Sich in Beziehungsfragen aufgeschlossen, tolerant und liberal zu geben und Eifersucht nicht offen zu zeigen, entsprach dem kollektiven emotionalen Stil der linken Protestgemeinde. Enzensberger berichtet, das Gefühl der Eifersucht unterdrückt zu haben, um sich der bewegungsinternen Gefühlsnorm anzupassen: »Ich versuchte, meine Eifersucht abzulegen, meine Besitzansprüche. Aber es ging nur scheinbar gut. Unter einer frommen Maske entfalteten sich die Machtgelüste um so stärker.«114 Der Bewohner der Kommune I assoziiert partnerschaftliche Treue und Verbundenheit mit dem Wunsch, Macht und Kontrolle über eine Bezugsperson auszuüben. Folgt man dem Psychiater und Neurologen Andreas Marneros, der sich mit der Bedeutung von Eifersucht als Motiv für Straftaten auseinandergesetzt hat, so ist eine stabile Partnerschaft aber vor allem als eine Ressource der Selbstdefinition zu betrachten. Für jemanden interessant, wertvoll und sexuell attraktiv zu sein, produziert und bestätigt positive Aspekte des eigenen Selbstverständnisses. Der Verlust einer stabilen Beziehung bedeutet deshalb nicht nur den Verlust einer geliebten Bezugsperson, sondern auch die Gefahr des Verlusts des eigenen Selbst. Hinter der erotisch motivierten Eifersucht verstecken sich neben Gefühlen der Wut, Trauer, Verzweiflung und Kränkung also auch Selbstzweifel.115 Es ist anzunehmen, dass Mitgliedern der 68er-Bewegung die Umsetzung des Konzepts der ›freien Liebe‹ deswegen so schwer fiel, da dieses auf die Aufhebung von stabilen emotionalen Bindungen zu Liebespartnern abzielte. Die Akteure des Protests schienen zu unterschätzen, wie wichtig ein partnerschaftliches Vertrauensverhältnis als positiver Bezugspunkt auch für das eigene Selbstverständnis war. Die Tatsache, dass das Gefühl der Eifersucht in den zwischenmenschlichen Beziehungen im Umfeld der Protestbewegung seine Relevanz nicht verlor, zeigt, dass eine emotionale Überwindung romantischer, monogam ausgerichteter Paarbeziehungen nicht erreicht werden konnte. So erinnert sich auch der Pädagoge Lutz von Werder, der sich gegen Ende der 1960er Jahre in der Kinderladenbewegung116 engagierte, an die instabilen Bezie113 | ENZENSBERGER, Die Jahre der Kommune I, S. 109. 114 | ENZENSBERGER, Die Jahre der Kommune I, S. 314f. 115 | Vgl. MARNEROS, Andreas: Affekttaten und Impulstaten. Forensische Beurteilung von Affekttaten, Stuttgart 2007, S. 60. 116 | Im Umfeld der 68er-Bewegung entwickelten sozialrevolutionäre Gruppierungen neue Konzepte antiautoritärer, repressionsfreier Erziehung. Eine Chance zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse wurde in der Erziehung von Kindern zur Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit gesehen. Der Anfang der Kinderladenbewegung ist in den Jahren 1967 und 1968 zu verorten, als in Frankfurt, Berlin und Stuttgart unabhängig voneinander die ersten drei sozialistischen ›Kinderläden‹ entstanden. In Räumen ehemaliger Ladenwohnungen gründeten Eltern aus dem linksalternativen Milieu Kindergruppen, wobei sie die Kinderbetreuung und -erziehung (manchmal in Zusammenarbeit mit pädagogi-

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hungen junger Paare innerhalb der linken Protestgemeinde: »Es kam zu Seitensprüngen, […] zu Beziehungsexperimenten. Es gab dabei erhebliche Reibungen. Man hat sich da Belastungen unterworfen, die einen ständig in Atem hielten.«117 Gemäß von Werder führte das von den ›68ern‹ propagierte Promiskuitätsideal gehäuft zu Konflikten und komplizierten, unglücklichen Beziehungsstrukturen. Festzuhalten bleibt, dass das sexualrevolutionäre Gebot der ›freien Liebe‹ zwar dem normativ gültigen kollektiven Gefühlsprogramm der maskulin codierten antiautoritären Bewegung entsprach, in der Realität jedoch häufig mit der emotionalen Konstitution einzelner Akteure kollidierte. Gefühle der Scham und der Eifersucht verhinderten, dass offene Sexualität – wie die politische Ideologie es vorsah – als beglückende Befreiung von gesellschaftlich auferlegten Fesseln erlebt werden konnte.

7.6 P olitisierter G eschlechterk ampf Während männliche Protagonisten der 68er-Bewegung ihre Probleme mit der befreiten Liebe – wenn überhaupt – erst aus der Retrospektive äußerten, zeigten einige Frauen der antiautoritären Szene ihre Unzufriedenheit mit dem maskulin geprägten Konzept der sexuellen Revolution und den gängigen Mustern linksalternativer Liebesverhältnisse bereits gegen Ende der 1960er Jahre. Am Thema Sexualität entzündete sich im Umfeld der studentischen Oppositionsbewegung, angestoßen von Seiten emanzipierter Frauen, ein politisierter Geschlechterkampf. Die männlichen Vertreter der 68er-Bewegung pflegten ihre Liebesbeziehungen an ihren rebellischen, antiautoritären Lebensstil anzupassen. Dabei nahmen sie bewusst Abstand vom Lebensalltag ihrer Väter und verweigerten sich der traditionellen Männerrolle als Ehemann und Familienvater. Die klassische Geschlechterhierarchie im Sinne maskuliner Hegemonie stellten sie jedoch nicht in Frage.118 Um es mit den zynischen Worten des Pädagogen Ulf Preuss-Lausitz auszudrücken, drängten sie ihre Freundinnen nicht mehr in die Rolle »des Heimchens am Herd«, sondern in die »der munteren, unbeschwerten Beischläferin, deren politische Rolle im Tippen und Vervielfältigen der Reden ihrer Liebhaber zu bestehen hatte.«119 Wie frühere ›68erinnen‹ berichten, war die politische Einflussmacht von Frauen im oppositionellen Milieu stark durch den Status des jeweiligen Freundes oder Ehemannes determiniert. Was Frauen im SDS sagten oder schem Fachpersonal) selbst übernahmen. Durch die neue, kollektive Art der Kinderbetreuung sollten kleinfamiliäre Strukturen und traditionelle Erziehungsnormen, die auf Ordnung und Gehorsam basierten, zurückgedrängt werden. Vgl. ISELER, Katharina: Kinderläden: Fallstudien zum Fortbestand sozialpädagogischer Organisationen (Erlanger Beiträge zur Pädagogik, Bd. 9), Münster 2010, S. 26ff. 117 | VON WERDER, Die Auseinandersetzung mit der Realität, S. 14. 118 | Vgl. EVANS, Sons, Daughters, and Patriarchy, S. 332. 119 | PREUSS-LAUSITZ, Vom gepanzerten zum sinnstiftenden Körper, S. 99.

7. Sexualität

taten, wurde dem Mann zugeschrieben, mit dem sie liiert oder verheiratet waren, so die 68er-Aktivistin und spätere Mitbegründerin der Neuen Frauenbewegung Annemarie Tröger.120 Insofern führte für politisch engagierte Frauen, wie auch Inga Buhmann berichtet, der einzige Weg, sich Respekt und Gehör in der männlich dominierten Bewegung zu verschaffen, über sexuelle oder partnerschaftliche Kontakte mit einem angesehenen und einflussreichen Revolutionär. Im Umfeld des intellektuell-politisch ausgerichteten SDS in Frankfurt musste sich laut Buhmann jedes neu hinzukommende weibliche Mitglied »entweder sehr schnell einen Obermacker als festen Freund angeln oder sich emanzipiert gebend durch die Betten schlafen, um ein bißchen Zärtlichkeit und Anerkennung zu finden.«121 In dieser Aussage kritisiert sie die von den männlichen Genossen lancierten Beziehungsstrukturen als gefühlsarm und distanziert und prangert die Unterordnung des weiblichen Geschlechts in der linken Protestszene von ›1968‹ an. Die Position der Frau, so auch Buhmanns Tenor, wurde in der patriarchal strukturierten Protestbewegung über ihr sexuelles Verhältnis zu einem Mann definiert. Weibliche Protestteilnehmerinnen fühlten sich innerhalb der männlich dominierten Bewegung nicht ernstgenommen und degradiert, was für sie in »unerträgliche Frustration und kollektive Empörung«122 mündete. Im Umfeld der Berliner Kinderladenbewegung schlossen sich emanzipierte Frauen, die auch dem SDS angehörten, deshalb zum Aktionsrat zur Befreiung der Frau zusammen. Die Gründung der feministischen Gruppe, die den Beginn der Neuen Frauenbewegung einläutete, basierte auf dem emotionalen Dissens mit der maskulin codierten Protest- und Gefühlskultur der 68er-Bewegung, wie Helke Sander im Februar 1968 festhielt: »[…] jede denkende Frau ist zumindest emotionell mit diesem System fertig, weil sie spürt, dass dieses System niemals in der Lage ist, irgendwelche ihrer Bedürfnisse auch nur annähernd zu befriedigen.«123 Als Sander auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS am 13. September 1968 in Frankfurt das Konzept des Aktionsrates zur Befreiung der Frau vorstellte und Kritik an der patriarchalen Geschlechterordnung des studentischen Verbandes übte, überging das ausschließlich männlich besetzte Gremium mit einer Mischung aus Irritation und Desinteresse den Beitrag, ohne weiter darüber zu sprechen.124 »Wir waren baff, stimmten 120  |  Annemarie Tröger, in: LÖNNENDONKER, Linksintellektueller Aufbruch, S. 215ff. 121 | Vgl. BUHMANN, Ich habe mir eine Geschichte geschrieben, S. 164. 122 | Papier, Analyse und Strategie der Frauenemanzipationsbewegung. Zur politischen Situation des Aktionsrates in Berlin. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 239 (Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, 1968– 1969). 123  |  Papier, Helke Sander: 1. Versuch, die wichtigsten Fragen zu finden, Februar 1968. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 239 (Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, 1968–1969). 124  |  Helke Sander ging in ihrer Rede auf die Lage (studierender) Frauen mit Kindern ein und definierte diese Gruppe als revolutionäres Subjekt. Ihrer Meinung nach könnten Frauen, die unter der mehrfachen Belastung gesellschaftlicher Pflichten litten, am einfachsten politisiert werden, weil für sie die gesellschaftlichen Widersprüche am offensichtlichsten

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halbherzig zu und verschoben die Diskussion darüber […]«125, erinnert sich Peter Schneider über die Unfähigkeit der männlichen SDS-Mitglieder, auf das Anliegen der Frauen einzugehen.126 Empört über diese Missachtung begann die Aktivistin Sigrid Damm-Rüdiger, die ihre Genossin Sander zur Delegiertenkonferenz begleitet hatte, aus Protest mit Tomaten auf das Rednerpult zu werfen. Eine davon traf den SDS-Wortführer Hans-Jürgen Krahl, der gerade am Podium stand und im Begriff war, mit dem nächsten Tagesordnungspunkt fortzufahren. DammRüdiger bezeichnete Krahl in ihrer Rage als ›Konterrevolutionär‹ und ›Agent des Klassenfeindes‹. Nach diesem Eklat wurden in vielen bundesdeutschen Universitätsstädten feministische Frauenkreise, beziehungsweise sogenannte Weiberräte, gegründet, die die Gleichberechtigung der Geschlechter thematisch in das linksalternative Milieu tragen sollten.127 Krisenhafte Geschlechterverhältnisse kündigten sich an, zumal die männlichen Genossen überfordert oder nicht dazu bereit waren, sich mit der Wut und Frustration der weiblichen SDS-Mitglieder auseinanderzusetzen. Lediglich der Aktivist Reimut Reiche trug den wohlgemeinten Rat an die Vertreterinnen des Aktionsrates zur Befreiung der Frau heran, »zur Durchsetzung ihres berechtigten Anliegens den Genossen im Verband ›temporär den Geschlechtsverkehr zu verweigern‹.«128 Damit reduzierte Reiche die Rolle der Frau im SDS wiederum auf die sexuelle Beziehung zu einem Mann. Sein Vorschlag wurde von den Aktivistinnen als Versuch gedeutet, die Frauenfrage in den privaten Bereich zu verlegen und aus der öffentlichen Diskussion herauszuhalten. Ihre Forderung nach einer gleichberechtigten Stellung als politische Akteurinnen innerhalb der außerparlamentarischen Bewegung sahen sie dadurch erneut missachtet. seien. Der Aktionsrat, so Sander, wolle im Rahmen von Kinderläden durch antiautoritäre Erziehung zur Schaffung einer befreiten Gesellschaft beitragen. Dementsprechend bekräftigte sie in ihrem Vortrag, das linke Revolutionsverständnis, das Private müsse politisch werden. Sie bot den Genossen eine Zusammenarbeit an und forderte sie dazu auf, gemeinsam zu diskutieren und zu Lösungen zu kommen. Falls diese nicht dazu bereit seien, die Frauenfrage in ihr politisches Programm aufzunehmen, drohte Sander jedoch, dass der Aktionsrat sich vom SDS separieren würde. Vgl. SCHMINCKE, Imke: Von der Politisierung des Privatlebens zum neuen Frauenbewusstsein: Körperlichkeit und Subjektivierung von Weiblichkeit in der Neuen Frauenbewegung Westdeutschlands. In: Julia Paulus/Eva-Maria Silies/Kerstin Wolff (Hg.): Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte. Neue Perspektiven auf die Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 2012, S. 297-317, hier S. 301f. 125 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 219. 126  |  Nicht alle anwesenden Frauen reagierten positiv auf Helke Sanders Rede. Manche fühlten sich peinlich berührt und waren selbst nicht bereit, auf das heikle Thema der Geschlechterfrage einzugehen. Vgl. KÄTZEL, Frauenrolle und Frauenbewusstsein, S. 332. 127 | Vgl. SCHULZ, Der lange Atem der Provokation, S. 82ff. 128 | Protokoll, 2. Jour fixe über DK Sonnabend: Zur Behandlung der Emanzipationsdebatte auf der DK, 21. September 1968. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 239 (Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, 1968–1969).

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Die Frauen, die im Jahr 1968 ein feministisches Bewusstsein entwickelten, taten ihren Protest gegen die geschlechterungleichen Machtstrukturen im SDS jedoch ebenfalls auf einer sexuell konnotierten Ebene über eine Kritik an dem männlich geprägten Konzept der sexuellen Revolution kund. Während der Fortsetzung der 23. SDS-Delegiertenkonferenz, vom 17. bis 19. November 1968 in Hannover, brachte der Frankfurter Weiberrat ein als ›Rechenschaftsbericht‹ betiteltes Flugblatt in Umlauf.129 In spöttisch-wütender Manier kritisierten die Mitglieder der feministischen Gruppe die Machoattitüden der SDS-Männer und persiflierten den sexualisierten Jargon, wie er im männlich dominierten antiautoritären Lager zur damaligen Zeit üblich war: »Wir machen das Maul nicht auf! Wenn wir es doch aufmachen, kommt nichts raus! Wenn wir es auflassen, wird es uns gestopft: mit kleinbürgerlichen Schwänzen, sozialistischem Bumszwang, sozialistischen Kindern, Liebe, sozialistischer Geworfenheit, Schwulst, sozialistischer potenter Geilheit, sozialistischem intellektuellem Pathos, sozialistischen Lebenshilfen, revolutionärem Gefummel, sexualrationellen Argumenten, gesamtgesellschaftlichem Orgasmus, sozialistischem Emanzipationsausgleich – GELABER! Wenn’s uns mal hochkommt, folgt: sozialistisches Schulterklopfen, väterliche Betulichkeit; dann werden wir ernst genommen, dann sind wir wundersam, erstaunlich, wir werden gelobt, dann dürfen wir an den Stammtisch, dann sind wir identisch; dann tippen wir, verteilen Flugblätter, malen Wandzeitungen, lecken Briefmarken: wir werden theoretisch angeturnt! Kotzen wir’s öffentlich aus: wir sind penisneidisch, frustriert, hysterisch, verklemmt, asexuell, lesbisch, frigid, zukurzgekommen, irrational, penisneidisch, lustfeindlich, hart, viril, spitzig, zickig, wir kompensieren, wir überkompensieren, sind penisneidisch, penisneidisch, penisneidisch, penisneidisch, penisneidisch. Frauen sind a n d e r s! Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!« 130

Der Frankfurter Weiberrat ließ sich in dem Flugblatt auf sarkastische und provokante Art und Weise über die autoritären Verhaltensweisen ihrer männlichen Genossen aus und nahm die klischeehafte, aus untergeordneten Hilfsdiensten bestehende Funktion der Frau innerhalb der 68er-Bewegung aufs Korn.131 Im Mittelpunkt des 129 | Während das Flugblatt verteilt wurde, hielt Mona Steffen einen Vortrag mit dem Titel ›Genossen, Ihr habt die Chance verpasst…‹, in dem sie die Ignoranz der männlichen Genossen in Bezug auf die Frauenfrage im SDS ankreidete und eine organisatorische Separierung der engagierten Frauen ankündigte. Monika Steffen, in: Django und die Tradition. Die letzte SDS-Delegiertenkonferenz, Hannover 1968. In: Frank Wolff/Eberhard Windaus (Hg.): Studentenbewegung 1967-69. Protokolle und Materialien, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1977, S. 171-232, hier S. 220ff. 130 | Flugblatt, Rechenschaftsbericht des Weiberrates der Gruppe Frankfurt. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 239 (Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, 1968– 1969). 131 | Vgl. LENZ, Ilse: Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, 2. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 62.

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Textes stand die Kritik der Frauen an der neuen Sexualmoral der linken Männer und dem zum Politikum erhobenen ›sozialistischen Bumszwang‹. Die Verfasserinnen des Flugblattes kreideten an, dass die Männerriege des SDS sich als aufgeschlossene und liberale revolutionäre Bewegung verstand, ihr Benehmen dem weiblichen Geschlecht gegenüber hingegen in reaktionären, bürgerlichen und patriarchalen Strukturen verhaftet blieb. Sie listeten eine Vielzahl von Adjektiven auf, mit denen sie von Männern bedacht wurden, wenn sie sich deren sexuellen Ansprüchen verweigerten.132 Mit der Forderung ›Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!‹ machten die Frauen des Frankfurter Weiberrates unmissverständlich klar, dass sie nicht mehr bereit waren, die sexuelle und soziale Unterdrückung der Männer weiterhin zu dulden. In der Befreiung von der nach männlichen Prinzipien geprägten Sexualität sahen sie die allgemeine Befreiung von Herrschaft. Die von den emanzipierten Frauen ironisch geforderte Kastration ihrer männlichen Genossen wurde durch eine provokante Zeichnung vervollständigt. Zu sehen war auf dem Flugblatt eine nackte, als Hexe stilisierte Frau, die sich mit einem Beil in der Hand auf einer Liege räkelte. Über ihr hingen abgehackte Penisse, befestigt auf Holzbrettchen, wie Hirschgeweihe. Die ›Jagdtrophäen‹ waren mit den Namen prominenter SDS-Mitglieder versehen. Gemäß der Frankfurter Aktivistin Mona Steffen sollte der »Leser des Blattes analog zum Klischee des männlichen ›Schürzenjägers‹ eine weibliche ›Penisjägerin‹ assoziieren.«133 Passend dazu bezeichneten sich die weiblichen SDS-Mitglieder als ›penisneidisch‹134, ein aus der Freud’schen Psychoanalyse entlehnter Terminus. Im linksalternativen Milieu wurde der Begriff, vom psychoanalytischen Ursprungskontext entfremdet, für intellektuell und politisch autonome Frauen benutzt, die in das männlich dominierte Terrain der Politik eindrangen.135 Die Selbstironisierung der Frauen sollte bei den Genossen eine kritische Selbstreflexion auslösen und eine gemeinsame Diskussion über die realen Unterdrückungserfahrungen von Frauen im antiautoritären Protestmilieu einleiten.136 Gleichzeitig musste die symbolische ›Entmannung‹ der männlichen SDS-Größen als Drohung des Frankfurter Weiberrates verstanden werden, sich künftig aktiv und kämpferisch gegen patriarchale Strukturen zur Wehr zu setzen. 132 | Vgl. MICHELER, Der Sexualitätsdiskurs, S. 25. 133 | STEFFEN, SDS, Weiberräte, Feminismus, S. 132. 134 | Das von Sigmund Freud geprägte psychoanalytische Konzept des Penisneides brachte ihm scharfe Kritik von allen Seiten ein. Insbesondere feministische Gruppierungen widersprachen Freuds negativer, defizitär konnotierter Definition von weiblicher Sexualität, die er in seinem Erklärungsmodell auf das Gefühl des Neides auf den patriarchalisch idealisierten Penis reduziert. Vgl. HEENEN-WOLFF, Susann: Psychoanalyse und Freiheit, Frankfurt a.M. 2010, S. 120. 135 | Vgl. LENZ, Die Neue Frauenbewegung in Deutschland, S. 62. 136 | Vgl. Papier, Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, Gruppe Frankfurt. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 239 (Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, 1968– 969).

7. Sexualität

Abbildung 8: Karikatur zum ›Rechenschaftsbericht des Weiberrates der Gruppe Frankfurt‹

Die Rechnung der weiblichen SDS-Mitglieder ging nicht auf, enttäuscht mussten sie beobachten, dass die Männer laut Mona Steffen »aufgescheucht und panisch, ja mit echter Angst auf das satirisch gemeinte Flugblatt«137 reagierten. Bei einem Angriff auf ihre sexuelle und soziale Potenz verstanden sie keinen Spaß. Christian Semler empörte sich offen über den »kleinbürgerlichen feministischen Aktionswahn«138 der protestierenden Frauen. Der Genosse Reiner Geulen blockte 137 | STEFFEN, SDS, Weiberräte, Feminismus, S. 133. 138 | Christian Semler, in: Django und die Tradition. Die letzte SDS-Delegiertenkonferenz, S. 226.

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die Frauenfrage ab und äußerte: »Über die Emanzipation der Frauen zu reden, das können wir bürgerlichen Soziologen überlassen […].«139 Die Polit-Aktivisten schienen von der kämpferischen Flugblatt-Aktion überrumpelt zu sein und fühlten sich in die Defensive gedrängt. Verschiedene männliche SDS-Mitglieder, darunter Joscha Schmierer forderten, die Diskussion über den despektierlich als Pseudo-Aktion bezeichneten Protest der Frauen augenblicklich wieder zu beenden und zur Hochschulpolitik zurückzukommen.140 Er riet den Verteilerinnen des Flugblattes »sich endlich selber […] ernst [zu] nehmen«141 und zu lernen, sich in politischen Debatten inhaltlich durchzusetzen. Die männlichen Verbandsmitglieder zeigten sich, so Heide Berndts Eindruck, schockiert über das freche und ›ordinäre‹ Verhalten der Frauen: »[…] es war eine gräßliche Erschütterung, und ich höre noch manche Genossen, die einfach nur japsten und ›unerhört‹ sagten […].«142 Aus einem Protokoll der Delegiertenkonferenz geht hervor, wie die Veranstaltung im Chaos endete und schließlich abgebrochen wurde. Zuvor meldete sich jedoch noch Reinhold Oberlercher und zog das Flugblatt des Frankfurter Weiberrates ins Lächerliche: »Also, Genossen, mein Schwanz soll auch abgehackt werden. Und ich finde das also ’ne ziemliche Schweinerei von den Frauen (Gelächter) – Augenblick! Statt meinen Schwanz abhacken zu lassen, möchte ich ihn natürlich lieber in die Scheiden der Genossinnen stecken, das ist ’nen [sic!] ganz natürliches Bedürfnis.« 143

Mit dieser Aussage stellte der SDS-Funktionär das männliche Verlangen nach freier Sexualität als legitimes und naturgegebenes Bedürfnis dar und konterkarierte die Kritik der Frauen am maskulin geprägten Prinzip der sexuellen Revolution. Es gelang den männlichen ›68ern‹ nicht, konstruktiv mit den Vorwürfen der aufgebrachten, unzufriedenen Frauen umzugehen und Empathie für deren Situation aufzubringen. Die angegriffenen Genossen erwiderten den aufgestauten Zorn und die barsch artikulierte Empörung von weiblicher Seite mit Gefühlen der Abwehr und Angst. »Äußern Frauen lauthals Wut, Aggression oder Zorn«, so die Soziologin Annette Schnabel, verstoßen sie gegen Gefühlsregeln, die bis heute für das weibliche Geschlecht gelten und »müssen mit Verwunderung, Unver-

139  |  Reiner Geulen, in: Django und die Tradition. Die letzte SDS-Delegiertenkonferenz, S. 229. 140 | Vgl. Joscha Schmierer, in: Django und die Tradition. Die letzte SDS-Delegiertenkonferenz, S. 230. 141 | Joscha Schmierer, in: Django und die Tradition. Die letzte SDS-Delegiertenkonferenz, S. 230. 142  |  Heide Berndt zitiert nach: FORSBACH, Die 68er und die Medizin, S. 155. 143 | Reinhold Oberlercher, in: Django und die Tradition. Die letzte SDS-Delegiertenkonferenz, S. 224.

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ständnis und Ablehnung durch ihre jeweiligen Interaktionspartner rechnen.«144 Insofern war die emotionale Kultur der 68er-Bewegung durch erhebliche Konflikte in der Sexual- und Geschlechterordnung erschüttert. Da eine Integration der Frauenfrage in den SDS missglückte, organisierten sich die Frauengruppen bald separat ohne Männer. Obwohl sich die universitär angesiedelten ›Weiberräte‹ mit dem Zerfall der antiautoritären Bewegung und dem SDS im Jahr 1970 ebenfalls auflösten, bestimmten deren Initiatorinnen die zu Beginn der 1970er Jahre erstarkende zweite Welle der deutschen Frauenbewegung maßgeblich.145 Innerhalb der Neuen Frauenbewegung blieben sexuelle Herrschaft und Gewalt zentrale Inhalte. Themen wie Vergewaltigung, Abtreibung, Prostitution, Kindesmissbrauch, Pornografie und sexuelle Belästigung dominierten die politische Agenda weiblicher Selbstbestimmung.146 Alice Schwarzer zeigte in ihrem heftig diskutierten Bestseller Der ›Kleine Unterschied‹ und seine Folgen die Machtdimensionen von Heterosexualität auf.147 Ausgehend von der Rebellion der ›68erinnen‹ gegen das männlich geprägte Konzept offener Sexualität und die daraus entstandenen politisierten Geschlechterkämpfe entwickelte sich gemäß Dagmar Herzog innerhalb der linksalternativen Szenerie der 1970er und 1980er Jahre eine schwerwiegende und anhaltende »emotionale Notlage«148. Krisenhafte und unglückliche Liebes- und Sexualbeziehungen waren weithin verbreitet, so die Geschlechterhistorikerin.149 Das Aushandeln neuer Partnerschaftsformen und die Überwindung traditioneller Geschlechterrollen in den Jahrzehnten nach ›1968‹ sollte sich als konfliktreich, anstrengend und emotional aufreibend herausstellen.150

7.7  Z wischenresümee Die Protagonisten der bundesdeutschen 68er-Bewegung betrachteten die Sexualpolitik des Nationalsozialismus als besonders sexualfeindlich und schenkten der These des Psychoanalytikers und Sexualforschers Wilhelm Reich Glauben, dass unfreie, repressive gesellschaftliche Ordnungen aus Triebverzicht entstünden. Von daher erhoben sie Sexualität zum Politikum und propagierten die revolutionäre Kraft der ›freien Liebe‹. Die jungen Oppositionellen waren der Meinung, dass die hegemoniale Gefühlskultur der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft 144 | SCHNABEL, Annette: Die Rationalität der Emotionen. Die deutsche Frauenbewegung als soziale Bewegung im Blickfeld der Theorie rationaler Wahl, Wiesbaden 2003, S. 267. 145 | Vgl. STEFFEN, SDS, Weiberräte, Feminismus, S. 135. 146 | Vgl. SCHMIDT, Sexualität, S. 55. 147  |  Siehe: SCHWARZER, Alice: Der ›kleine Unterschied‹ und seine Folgen. Frauen über sich. Beginn einer Befreiung, Frankfurt a.M. 1975. 148 | HERZOG, Die Politisierung der Lust, S. 287. 149 | Vgl. HERZOG, Die Politisierung der Lust, S. 287. 150 | Vgl. REICHARDT, Von ›Beziehungskisten‹ und ›offener Sexualität‹, S. 267ff.

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in Sachen Sexualität von Scham und Angst bestimmt war. Zur Überwindung dieses kollektiven Zustandes ›emotionaler Deformation‹ müsse Sexualität frei von moralischen Zwängen ausgelebt werden, was wiederum zu einer friedlicheren und gerechteren Gesellschaftsform führe. In kulturrevolutionären Kommunen versuchten Mitglieder der linken Protestszene die Intimsphäre zur Schaffung einer (sexuell) befreiten Gesellschaft aufzuheben und eine ›erotische Atmosphäre allgemeiner Zärtlichkeit‹ herzustellen. Sexualität sollte sich nicht mehr als höchstpersönliches Geheimnis zweier Personen diskret hinter verschlossenen Türen abspielen, sondern kollektiviert werden. Damit war nicht nur der Verzicht auf monogame Paarbeziehungen zugunsten promisker Sexualpraktiken gemeint, sondern vor allem eine sprachinflationäre Enttabuisierung von Sexualität. Im revolutionären Milieu von ›1968‹ erhielt das Reden über intime Sorgen und sexuelle Nöte einen revolutionären Anstrich. Der normative emotionale Stil der Protestbewegung forderte vom Einzelnen eine radikale, öffentliche Expression subjektiver Eindrücke, Assoziationen und Gefühle, was Liebeskummer, Beziehungsstreitigkeiten und sexuelle Unzulänglichkeiten betraf. In der hedonistischen Selbstverwirklichungsszene galt es auch für Männer keineswegs als Makel oder Tabu, in aller Öffentlichkeit Hilfe in Liebesdingen zu suchen, zumal die ›Heilung‹ sexueller Probleme im offenen Aussprechen und intensiven Ausleben sexueller Wünsche und Bedürfnisse gesehen wurde. Darüber hinaus war die maskulin codierte 68er-Bewegung als Gefühlsgemeinschaft von einer Zurückweisung des romantischen Liebesideals geprägt, mit dem sich die bundesdeutsche Mehrheitsgesellschaft identifizierte. Verliebte Treuschwüre und geschlechtsspezifische Formen der Galanterie waren im linksalternativen Protestmilieu als unaufrichtig und kontrarevolutionär verpönt. Hinter dem Kulturmuster der romantischen Liebe, das die Einheit von Liebe und Sexualität postuliert und die Krönung der gefühlsbetonten Paarbeziehung in der Ehe und Elternschaft sieht, vermuteten die ›68er‹ die ideologische und institutionelle Basis autoritärer, kapitalistisch strukturierter Gesellschaften. Die Oppositionellen zogen deshalb der bürgerlichen Männerrolle als verantwortungsbewusstes Oberhaupt einer Familie das Leben ungebundener politischer Aktivisten mit wechselnden, unverbindlichen Frauenbekanntschaften vor. Das normative Gefühlsprogramm der männlich dominierten Protestbewegung zeichnete sich also durch eine Entemotionalisierung von Paarbeziehungen und sexuellen Kontakten aus. Konstitutiv für die Entwicklung einer maskulinen Protestidentität war das öffentliche Bekenntnis zur rein genital verstandenen freien Sexualität, losgelöst von der Emotion der Liebe zu einer auserwählten Lebenspartnerin. In der Anbahnung von Kontakten mit dem weiblichen Geschlecht vergeudeten die jungen Revolteure deshalb keine Zeit darauf, sich auf zwischenmenschlich-emotionaler Ebene kennenzulernen, mit revolutionärem Gestus forderten sie unverblümt Geschlechtsverkehr als Akt der gesellschaftlichen Befreiung. Das Primat der Luststeigerung durch Promiskuität ist von daher als ein männlich geprägtes Konzept zu begreifen. ›Freie Liebe‹ auf Geheiß der Männer widersprach jedoch

7. Sexualität

den sexuellen und emotionalen Bedürfnissen zahlreicher weiblicher Protestaktivistinnen. Frauen litten unter dem Druck, sich den männlichen codierten Gefühlsnormen der politischen Bewegung anpassen zu müssen. Es gelang ihnen nicht, unbekümmert und frei zu einem positiven, beglückenden Umgang mit der eigenen Sexualität zu gelangen. Sie fühlten sich durch das Gebot der sexuellen Revolution bevormundet und ausgenutzt. Zumeist erst aus der Retrospektive berichten auch männliche Vertreter der 68er-Bewegung, ihre Probleme mit den linksalternativen Sexual- und Beziehungsregeln gehabt zu haben. Entgegen dem nach außen hin postulierten sexualrevolutionären Anspruch der Antiautoritären, alle Hemmungen und Schamgefühle ungeniert fallen zu lassen, konnten sich auch männliche Aktivisten nicht gänzlich von sexualmoralischen Bedenken befreien. In der Sorge um die Treue des Sexualpartners blieben die ›68er‹ häufig den konservativen Wertmaßstäben des ›Establishments‹ verhangen. Das Gefühl der erotisch motivierten Eifersucht zu unterdrücken, um sich den bewegungsinternen Gefühlsnormen entsprechend aufgeschlossen, liberal und tolerant zu geben, gelang oft nicht. Es fiel den Protagonisten der 68er-Revolte schwer, die emotional mit Stabilität, Selbstbestätigung und Verbundenheit verknüpften monogamen Liebesbeziehungen aufzugeben. Am Thema der Sexualität entzündete sich in den späten 1960er Jahren im Umfeld der antiautoritären Bewegung ein politisierter Geschlechterkampf. Weibliche Mitglieder des linken Protestmilieus fühlten sich innerhalb der maskulin codierten 68er-Bewegung zu Sexualobjekten degradiert und für niedere Hilfsdienste ausgenutzt. Wütend und frustriert darüber, dass ihre politische Einflussmacht sich über die sexuelle Beziehung zu einem Mann definierte, machten sie es sich zum Ziel, als gleichberechtigte Aktivistinnen ernstgenommen zu werden. Ihre Kritik an den patriarchalen Strukturen des SDS äußerten die Frauen, die ein feministisches Bewusstsein entwickelt hatten, auf einer sexualisierten Ebene. Sie artikulierten ihre Empörung über das männlich geprägte Konzept der ›freien Liebe‹ laut und öffentlich und drohten den männlichen ›68ern‹ auf satirische Art und Weise mit Kastration. Eine konstruktive gemeinsame Diskussion über Frauenfragen konnte damit nicht herbeigeführt werden. Die Männer reagierten mit Angst und Aggression auf den weiblichen Angriff auf ihre sexuelle und soziale Potenz und fühlten sich ihrerseits beleidigt und missverstanden. Insofern zeichnete sich die Gefühlskultur der bundesdeutschen 68er-Bewegung durch beträchtliche Konflikte in der Sexual- und Geschlechterordnung aus.

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8. Gewalt

In den späten 1960er Jahren entwickelte sich politische Gewalt aus der Interaktion zwischen den Protagonisten der 68er-Bewegung und dem bundesdeutschen Staat in Prozessen der Eskalation. ›Politische Gewalt‹ wird im Folgenden als die rücksichtslose Anwendung physischer Kraft definiert, die darauf abzielt, einem mehr oder weniger sichtbaren politischen Gegner Schaden zuzufügen und politische Ziele durchzusetzen. Im Rahmen heftiger politischer Auseinandersetzungen kann Gewalt zufällig oder beabsichtigt entstehen, wobei unter politischer Gewalt gemeinhin Verhaltensweisen verstanden werden, die die Definition von legitimen politischen Aktionen verletzen.1 Die Bewegungsforschung versucht zwischen instrumenteller, zweckorientiert eingesetzter Gewalt und expressiver, von emotionalen Bedürfnissen geleiteten und damit nicht strategischen Intentionen folgender Gewalt zu unterscheiden.2 In der vorliegenden Studie wird davon ausgegangen, dass Emotionen immer »eine zentrale Rolle in den Entscheidungsmodalitäten« spielen, »sich für oder gegen die Anwendung von Gewalt«3 zu entscheiden. Das Zusammenspiel von Emotionsempfinden und der Ausübung physischer Gewalt findet zudem in einem geschlechtlichen Ordnungsrahmen statt, in dem Gewalt als „,legitime‹ Jedermanns-Ressource begriffen wird, nicht jedoch als eine legitime ›Jedefrau-Ressource‹«.4 Die mit der Verletzungsmacht verknüpften Aggres1  |  Vgl. DELLA PORTA, Donatella: Gewalt und die Neue Linke. In: Wilhelm Heitmeyer/John Hagan (Hg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 479500, hier S. 479. 2  |  Vgl. GILCHER-HOLTEY, Ingrid: Transformation durch Subversion: Die Neue Linke und die Gewaltfrage. In: Freia Anders/Dies. (Hg.): Herausforderungen des staatlichen Gewaltmonopols. Recht und politisch motivierte Gewalt am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a M. 2010, S. 198-220, hier S. 207. 3 | VON SCHEVE, Christian/FÜCKER, Sonja: Emotionen. In: Christian Gudehus/Michaela Christ (Hg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch mit 7 Abbildungen, Stuttgart 2013, S. 197-202, hier S. 197. 4  |  MEUSER, Michael: Geschlecht. In: Christian Gudehus/Michaela Christ (Hg.): Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch mit 7 Abbildungen, Stuttgart 2013, S. 209-213, hier

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sionsgefühle »gehen mit Aktivität, Gewalt und Destruktion einher, die in unserer Kultur männlich kodiert sind«5 so die Geschlechterforscherin Sylka Scholz über den Zusammenhang von Männlichkeit, Gewalt und Emotionen. Zu Beginn der Proteste bestanden die am häufigsten von der studentischen Bewegung angewandten Aktionsformen in gewaltfreien Besetzungen von universitären Räumlichkeiten und öffentlichen Demonstrationen. Neben diesen klassischen demokratischen Mobilisierungsformen wandten die antiautoritären Protestteilnehmer konfrontative Strategien des zivilen Ungehorsams an, bei denen in öffentliche Abläufe, Verfahren und Handlungsschemata eingegriffen und die soziale Ordnung gestört wurde. Bewusst verzichteten die Akteure dabei auf eine Schädigung von Sachen oder Personen. Mit ihrer im Laufe des Protestgeschehens entwickelten Provokationstaktik bewegten sich die Protestierenden immer häufiger an der Grenze zur Illegalität. Sie versuchten die Staatsgewalt zu gewaltsamen Reaktionen zu verleiten, überschritten die Gewaltschwelle aber selbst zumeist nicht. Auf Massendemonstrationen, die bald schon nicht mehr nur an den Universitäten, sondern auch auf der Straße stattfanden, kam es immer häufiger zu spontanen Gewalttaten, vor allem, wenn die Polizei eingriff. Gegen Ende der Mobilisierungsphase eskalierten die Konfrontationen zwischen den Demonstranten und der Polizei auf zum Teil gewalttätige Art und Weise. Einzelne, ungeplante Gewalthandlungen, die als Verteidigung gegen die Angriffe der Staatsmacht gerechtfertigt wurden, steigerten sich in geplante Gewaltakte. Analysiert werden soll deshalb, inwiefern die maskulin codierte Protestszene kollektive Gewalt als adäquates und legitimes Mittel oppositioneller Politik betrachtete. Welche Rolle Emotionen bei der gewaltsamen Radikalisierung der Bewegung spielten und welche Gefühle die Ausübung revolutionärer Gewalt bei den Protestteilnehmern erzeugte, ist Gegenstand der Analyse. Für die Vergemeinschaftung der 68er-Bewegung als überwiegend homosozial strukturierte Gruppierung mit einem kollektiven Gefühlshaushalt, so meine These, wirkte gewaltsames Protesthandeln, zumindest vorübergehend, integrierend, identitätsstiftend und mobilisierend.

S. 213. Gewaltsames Handeln entspricht laut dem Geschlechtersoziologen Michael Meuser der Strukturlogik hegemonialer Männlichkeit als ultima ratio, wenn die kulturelle Hegemonie versagt. Männliches Gewalthandeln kann also als eine kulturell legitime Praxis der Geschlechtsdarstellung dienen. Weibliches Gewalthandeln steht hingegen im Widerspruch zur tradierten Geschlechterordnung. Demnach muss Gewalt als eine geschlechtsgebundene Handlungsressource betrachtet werden. Vgl. MEUSER, Michael: Gewalt, hegemoniale Männlichkeit und ›doing masculinity‹. In: Kriminologisches Journal 31 (1999), Beiheft 7, S. 49-65, hier S. 54f. 5 | Vgl. SCHOLZ, Sylka: Gewaltgefühle. Überlegungen zum Zusammenhang von Männlichkeit, Gewalt und Emotionen. In: Feministische Studien 26 (2008), Heft 1, S. 106-121, hier S. 116.

8. Gewalt

8.1 A bneigung gegen militärische G e walt Die jungen Polit-Aktivisten der 68er-Bewegung empfanden tiefe Abneigung gegen das soldatisch geprägte Männerbild ihrer Väter und verurteilten deren Beteiligung an den Verbrechen des gewaltsamen NS-Regimes scharf.6 Sie erlebten, wie stark sich die militärische Sozialisation der älteren Männergeneration auch im Zivilleben auf deren gesamtes Denken, Fühlen und Handeln auswirkte. Der ehemalige Schüleraktivist Reinhard Kahl erinnert sich beispielsweise eindrücklich daran, dass in den Nachkriegsjahren seine männlichen Lehrer allesamt der Zeit des deutschen Militarismus nachtrauerten: »Studienrat Schincke erzählte, […] eine geschlagene Lateinstunde, wie er als deutscher Offizier die dummen Russen von hinten mit dem Essigschwamm packte und gefangen nahm. Ein grauer Mathematiklehrer schwärmte von preußischen Offizieren und ging, dabei leichte und manchmal harte Kopfnüsse verteilend, durch die Reihen und fand sich ganz toll. Herr Kaiser im Rollstuhl dagegen war tatsächlich noch Monarchist, während Herr Grotefend ganz offen der Napola […], einer besonders strengen Eliteschule der Nazis, nachtrauerte. […] im Sportunterricht wurde nachgeholt, was ›deutsche Jungs‹ hart machte.« 7

Gemäß Kahl schwärmten in seiner Jugend alle erwachsenen Männer in seinem Nahraum von verklärten Kriegsabenteuern und soldatischen Tugenden. Seine Lehrer hatten die seit der Einführung der Wehrpflicht in Preußen gegen Ende des 19. Jahrhunderts virulente Idee vom Militär als Schule der männlichen Nation und identitätsbildenden Männerraum verinnerlicht und verknüpften Männlichkeit primär mit Wehrhaftigkeit.8 Laut dem führenden Protagonisten der Schülerbewegung versuchten die militaristisch sozialisierten älteren Männer der jungen Generation auch nach der Kriegsniederlage des Zweiten Weltkrieges Werte wie Härte, Gehorsam und Disziplin zu vermitteln, die sie einst selbst in ihrer militärischen Lauf bahn eingeimpft bekommen hatten. Sie wirkten auf ihre Schüler einschüchternd, autoritär und übertrieben streng. Dieses aggressive Männlichkeitsideal der Weltkriegsgenerationen, das sich auf Kämpfen und Töten konzentrierte und strikte Selbstzucht beinhaltete, war der nachkommenden Generation zuwider. Wie die Untersuchung des emotionalen Habitus der maskulin codierten Protestszene ergeben hat, lehnten die jungen Männer den strammen und zackigen Gestus der Kriegsgeneration ab und entwickelten ein lässiges, entspanntes Körpergefühl.9 Im Tugendkatalog der 68er-Bewegung verloren traditionell als ›männlich‹ bewertete Eigenschaften wie Härte und Askese an Relevanz, während

6  |  Siehe: Kapitel 5. Generationenkonflikte, S. 179-208. 7 | KAHL, Arko und Demo, S. 56f. 8  |  Vgl. FREVERT, Soldaten, Staatsbürger, S. 81. 9  |  Siehe: Kapitel 4.1.1. Lässigkeit, S. 146-150.

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›weiblich‹ konnotierte Charakteristika wie Emotionalität, Genussfähigkeit, Toleranz und Soziabilität in den Vordergrund traten.10 Viele junge Männer, die der antiautoritären Bewegung angehörten, trugen zur Delegitimierung des Militärischen und zur Zivilisierung von Männlichkeit in der Nachkriegszeit bei, indem sie Kampagnen zur Verweigerung des Wehrdienstes initiierten und unterstützten. Der SDS propagierte die Kriegsdienstverweigerung unter dem Motto »Tragt die Unruhe in die Bundeswehr«.11 Mit Flugblattaktionen vor Kasernen und Gymnasien versuchten die Protestierenden, aus der Ablehnung des Wehrdienstes ein Massenphänomen zu erzeugen. Zudem sollten antiautoritär gesinnte Genossen die Bundeswehr unterlaufen und subversiv Kritik in die Institution hineintragen. Ziel dieser Aktionen war die systematische Schwächung und Destabilisierung des bundesdeutschen Militärappartes, den die ›68er‹ als einen integralen Bestandteil der autoritären Machtsicherung eines ›spätkapitalistisch-imperialistischen Systems‹ betrachteten.12 Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung war bereits in dem im Jahr 1949 verabschiedeten Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland als Grundrecht festgelegt worden. Die Regierung Adenauers hatte das Wehrpflichtgesetz 1956 jedoch um den einschränkenden Passus ergänzt, dass bei der Verweigerung des Wehrdienstes ein ziviler Ersatzdienst geleistet werden musste. In dem juristisch-formalen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung bezogen sich die Protestierenden nun nicht mehr nur auf sozialethische oder christliche Gewissensgründe, sondern auf das politische Motiv des Widerstands. Im Jahr 1968 stieg die Zahl der Kriegsdienstverweigerungen erstmals rasant an, mehr als 11.000 junge Männer lehnten den von ihnen geforderten Dienst an der Waffe ab.13 Dieser deutliche Anstieg von Personen, die den Wehrdienst verweigerten, stand in engen Zusammenhang mit dem Protest der maskulin codierten 68er-Bewegung gegen autoritäre Strukturen und traditionelle Männerrollen. Die zentralen Gründe für die Ablehnung des Wehrdienstes aus Sicht der linksalternativen Protestler lassen sich einem Flugblatt der Internationale der Kriegsdienstverweigerer München aus dem Jahr 1968 entnehmen:

10 | Vgl. SIEGFRIED, Time Is on My Side, S. 256. 11 | Bundesvorstand SDS: Presseerklärung. Tragt die Unruhe in die Bundeswehr, 19. Dezember 1968. In: SDS-Info, Jg. 2, Nr. 3, 8. Januar 1969, S. 25. In: IfZ Archiv, Dn 012. 12 | Vgl. BERNHARD, Patrick: An der ›Friedensfront‹. Die APO, der Zivildienst und der gesellschaftliche Aufbruch der sechziger Jahre. In: Christina von Hodenberg/Detlef Siegfried (Hg.): Wo ›1968‹ liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2006, S. 164200, hier S. 164. 13 | Vgl. BERNHARD, An der ›Friedensfront‹, S. 165.

8. Gewalt »Weil Du als Soldat deine Würde verlierst. Weil Dir als Soldat die freie Entscheidung genommen wird. Weil Du als Soldat den Tod organisierst. Weil Du als Soldat für den Profit der Industrie verheizt wirst. Weil Dir als Soldat ein Loch durch den Kopf geschossen wird.« 14

Die Verfasser des Flugblattes befanden die kritiklose Verpflichtung von Soldaten zum Töten auf Befehl als würdelose Hörigkeit. Zudem gingen sie davon aus, dass sich der in der Bundeswehr vermittelte Antikommunismus und die Erziehung zum unbedingten Gehorsam über die Dienstzeit hinaus fortsetzen und strategisch von Staat und Wirtschaft genutzt würden, um disziplinierte und angepasste Bürger heranzuziehen.15 Sich für das Vaterland zu opfern, stellte in den Augen der Kriegsdienstverweigerer ebenfalls keine moralische Tugend mehr dar. Für die Männer der Protestbewegung, die gesteigerten Wert auf individuelle Freiheit, demokratische Partizipation und Selbstentfaltung legten und die mit dem pazifistischen, von der U.S.-amerikanischen Hippiebewegung entlehnten Motto ›Make Love, Not War‹ liebäugelten, war die Bundeswehr als eine Organisation, die auf einem hierarchischen Befehlssystem basierte, kein geeigneter Ort. Militärischer Drill, so die Auffassung der ›68er‹, würde einen ›autoritären Charakter‹ formen. Durch die angestrebte Unterminierung der Bundeswehr brachen die jungen Oppositionellen scheinbar mit der Herausbildung und Aufrechterhaltung einer Form von Männlichkeit, die Gewalt als angemessene Art und Weise der Auseinandersetzung propagierte und legitimierte. »Körperliche Gewalt war uns extrem zuwider […]«, erklärt der Kommunarde Ulrich Enzensberger und das, obwohl seiner Erfahrung nach Kriegsdienstverweigerer in den 1960er Jahren von der Mehrheitsgesellschaft oftmals als »pervers bis geistig minderbemittelt abgestempelt«16 wurden. In der Tat mussten Zivildienstleistende sich zu dieser Zeit häufig vorwerfen lassen, sie seien ›unmännliche Feiglinge‹ und ›Drückeberger‹, die lieber ›Frauendienste‹ wie Pflegeaufgaben übernehmen würden, anstatt sich im Militär zu ›richtigen Männern‹ machen zu lassen.17 Aus dieser Reaktion lässt sich erkennen, dass auch in den Nachkriegsjahrzehnten das gesamtgesellschaftliche Ideal hegemonialer Männlichkeit mit der Fähigkeit, sich wenn nötig, kämpferisch zur Wehr setzen zu können, verbunden blieb. Die Ablehnung der militaristisch geprägten Männlichkeit der Vätergeneration und die massenhafte Verweigerung des Wehrdienstes durch die Vertreter der 68er-Bewegung ließen sich als Hinweise auf eine friedfertige Protestkultur deuten, in der die Anwendung körperlicher Gewalt zur Durchsetzung von Protestzielen grundsätzlich verpönt war. Verstießen aggressive affektive Tendenzen

14 | Flugblatt, Internationale der Kriegsdienstverweigerer München: Kriegsdienstverweigerung – warum? In: AdMA, Archiv 451. 15 | Vgl. Flugblatt, Kriegsdienstverweigerung – warum? In: AdMA, Archiv 451. 16 | ENZENSBERGER, Die Jahre der Kommune I, S. 188. 17 | Vgl. BERNHARD, An der ›Friedensfront‹, S. 169.

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jedoch tatsächlich gegen die kollektive emotionale Ordnung der männlich dominierten 68er-Bewegung?

8.2 F aszination an re volutionärer ›G egenge walt‹ Innerhalb der linksalternativen Protestszene war paradoxerweise eine Gleichzeitigkeit von Gewaltablehnung und -affinität zu beobachten. Abscheu vor Krieg und Waffen, Wut auf die Politik des bundesdeutschen Staates und Begeisterung für kriegerische Gewalt in der ›Dritten Welt‹ war für die Protagonisten des antiautoritären Milieus durchaus rational und emotional miteinander vereinbar, wie der ehemalige SDS-Aktivist Klaus Theweleit bestätigt: »[…] neben der gewaltbereiten Wut auf diesen Staat, [lag] ein klarer Pazifismus in der Waagschale. Die 60er Generation war die erste bewußte nicht-soldatische in Deutschland seit Urzeiten; scharf eingestellt gegen Krieg. Daß unterdrückte Völker sich von ihren […] Unterdrückern nur mit Waffengewalt befreien könnten, war ein Satz, der trotzdem galt; […] Es änderte nichts an der Tatsache, daß die meisten derer, die so argumentierten […] Waffen haßten.«18

Für die Anhänger der linken Protestszene bedeutete es keinen Widerspruch gegen die militaristische Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands zu protestieren und gleichzeitig den Guerillakrieg in Südamerika, Asien und Afrika als legitim und notwendig einzuordnen. Den entscheidenden Unterschied zwischen den militärischen Aktionen westlicher Regierungen und dem Partisanenkrieg der ›Dritten Welt‹ sahen sie in der Frage der moralischen Gerechtigkeit. Während die Protestierenden die vergangenen und zeitgenössischen Kriege und Militäreinsätze westlicher Nationen allesamt als aggressive imperialistische Bestrebungen verdammten, rechtfertigten sie die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges einsetzenden kommunistischen Befreiungsbewegungen ehemaliger Kolonialvölker als ein zulässiges Auf begehren gegen eine Jahrhunderte andauernde Situation inhumaner Unterdrückung. Die linksstehenden Aktivisten erschufen den »Mythos der Gegengewalt«.19 In dem 1968 erschienenen Sprachführer durch die Revolution wurde dementsprechend unterschieden »zwischen der unterdrückenden (repressiven) Gewalt der Herrschenden und der befreienden (emanzipatorischen) Gewalt der Beherrschten. Die Gewalt der Auf begehrenden ist im Grunde Gegen-

18 | THEWELEIT, Klaus: Bemerkungen zum RAF-Gespenst. ›Abstrakter Radikalismus‹ und Kunst. In: Ders. (Hg.): Ghosts. Drei leicht inkorrekte Vorträge, Frankfurt a.M./Basel 1998, S. 17-99, hier S. 38. 19 | RABEHL, Bernd: Am Ende der Utopie. Die politische Geschichte der Freien Universität Berlin, Berlin 1988, S. 284.

8. Gewalt

gewalt.«20 Folglich verurteilte die maskulin codierte bundesdeutsche 68er-Bewegung die Anwendung von Gewalt also keineswegs grundsätzlich. Es kam für sie nur darauf an, wer zu welchem Zweck gewalttätig handelte. Wie der Männerhistoriker Ernst Hanisch anmerkt, identifizierten sich die männlichen Revolteure von ›1968‹ durchaus mit einem kämpferischen, aggressiven Männlichkeitsideal. Es wurden lediglich die »Helden des Militärs […] vom Podest gestoßen und durch Helden des Partisanenkampfes ersetzt.«21 Sämtliche Revolutionstheorien des 20. Jahrhunderts und alle ›Klassiker‹ des modernen Partisanenkrieges kamen in Form von Neuauflagen, Reprints oder Raubdrucken auf den Büchertisch der Protestbewegung und wurden mit Begeisterung gelesen und zitiert.22 »Jemand, der in Sachen Revolution tätig war, war ein Idol«23, erinnert sich der APO-Aktivist Claus Peter Müller-Thurau an die Verehrung revolutionärer Autoritäten. Wie sehr die antiautoritären Oppositionellen den Lehren revolutionärer Theoretiker und kommunistischer Autokraten huldigten, beweist ein zeitgenössisches Flugblatt, auf dem zu lesen ist: »Wir wollen wissen, was richtig und falsch ist. Das lernen wir, wenn wir die Genossen studieren, die in den letzten 150 Jahren die proletarische Revolution erfolgreich geführt haben: MARX, ENGELS, LENIN, STALIN, MAO TSE-TUNG.« 24

Demnach suchten die Aktivisten der bundesdeutschen 68er-Bewegung in der Vergangenheit nach real existierenden Spuren einer revolutionären Weltbewegung und bedienten sich diverser ideologischer Systeme, die ihre prinzipielle Gegnerschaft gegen die herrschende Gesellschaft zum Ausdruck bringen sollten.25 Dabei störte sich die rebellierende Jugend nicht daran, dass ihre erwählten Vorbilder allesamt revolutionäre Gewalt propagierten. Bereits Karl Marx und Friedrich Engels vertraten die Meinung, dass die Arbeiterklasse in einer Geschichte sich ablösender Gewaltverhältnisse auf dem Weg zur Revolution das Recht zur kollektiven Gewaltausübung hätte. Die autoritären Sowjetherrscher Wladimir Iljitsch Lenin und Josef Stalin und der chinesische Diktator Mao Tse-Tung initiierten jedoch den Einsatz brutaler Terror- und Verfolgungsmaßnahmen gegen kontrarevolutionär verstandene Kräfte im eigenen Land und schreckten nicht davor zurück, den ›Klassenfeind‹ in menschenfeindlichen Strafarbeitslagern zu internieren und zu ermorden. Obwohl sich die Vertreter der studentischen Protestbewegung als ›antiautoritär‹ verstanden und äußerst sensibel auf jede Form von gesellschaft20 | KOPLIN, Sprachführer durch die Revolution, S. 30f. 21 | HANISCH, Männlichkeiten, S. 116. 22 | Vgl. LANGGUTH, Mythos ’68, S. 62. 23  |  Claus Peter Müller-Thurau, in: MÜNDEMANN, Die 68er, S. 148. 24 | ›Alle reden von Schulung…‹, Flugblatt zu einer Sitzung des Basisgruppenrates, 22. Mai 1969. In: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 2. Bd., S. 634. 25 | Vgl. KOENEN, Rotwelsch und Zeichensprache, S. 262.

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licher und politischer ›Repression‹ in ihrem Alltagsleben reagierten, blendeten sie offenbar die eklatanten Verletzungen von Menschen- und Grundrechten aus, die sich die totalitären Regimes in großem Stile zu Schulden kommen ließen. Auf der Suche nach passenden revolutionären Theorien und historischen Anknüpfungspunkten, um ihrer »eigenen Existenz durch Verankerung in der Geschichte Gewicht und ›Realität‹ zu verleihen«26, verloren sie außer Augen, dass sie unter anderem inhuman und unterdrückerisch agierende Diktatoren bewunderten. Das Pathos kulturrevolutionärer und antiimperialistischer Entschlossenheit im Kampf gegen den kapitalistischen Weltfeind, den die mythisch verklärten Widerständler ausstrahlten, faszinierte die jungen Männer der linken Protestszene und korrespondierte mit deren Welt- und Lebensgefühl. Von daher stürmten die linksstehenden Polit-Aktivisten »den Fundus der Geschichte, liehen sich heroische Kostüme aus, hängten sich Lenin-Mäntel um und klebten sich Marx-Bärte auf.«27 Der Berufsrevolutionär entwickelte sich in der männlich dominierten Protestszene zum alternativen Männlichkeitsideal. In diesem Zusammenhang hat der Kulturphilosoph Dieter Thomä recht treffend beobachtet, dass die Jugendrevolte alte Männer verehrte: »Die Bewegung, die aufgebrochen war, sich der Kontrolle ihrer diskreditierten Väter zu entziehen, suchte sich jetzt Überväter – und wurde bei Großvaterfiguren fündig.«28 Da die militärisch geprägte Vätergeneration durch ihre vermeintlichen Verstrickungen in das faschistische NS-System keine Vorbildfunktion für die ›68er‹ hatte, fanden die jungen Oppositionellen ihre Idole in einer noch älteren Männergeneration, die sich jedoch nicht minder kämpferisch und gewalttätig gerierte. Wie der SDSAktivist Reimut Reiche im Jahr 1968 feststellte, litt die maskulin codierte antiautoritäre Bewegung »an einem Mangel an rational akzeptablen und gleichzeitig emotional ansprechenden Identifikationsvorbildern […] im eigenen Land.«29 Offenbar fühlten sich die Protagonisten der 68er-Generation verloren und entwurzelt, da sie nicht mit Stolz auf die unmittelbare Vergangenheit ihres Heimatlandes zurückblicken konnten. Er fragte: »Mit welcher kämpferischen, aktuellen oder historischen politischen Bewegung […] sollen wir uns identifizieren […]?«30 Aus Reiches rhetorischer Frage geht hervor, dass die 68er-Bewegung auf ihrer verzweifelten Suche nach Traditionen durchaus bewusst nach ›kämpferischen‹ Vorbildern Ausschau gehalten hat. Neben den großväterlichen Helden spielte der kubanische Guerillero Che Guevara für die Neue Linke aufgrund seines frühen Todes die Rolle des ›vergötterten großen Bruders‹.31 Der Rebellenführer propagierte die Strategie einer sub26 | KOENEN, Rotwelsch und Zeichensprache, S. 264. 27 | KAHL, Arko und Demo, S. 75. 28 | THOMÄ, Väter, S. 78. 29 | REICHE, Verteidigung der ›neuen Sensibilität‹, S. 99. 30 | REICHE, Verteidigung der ›neuen Sensibilität‹, S. 99. 31 | Vgl. THOMÄ, Väter, S. 79.

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versiven Guerillakriegsführung, bei der Teile der Bevölkerung bewaffnet werden und im Untergrund kämpfen, als wichtigste Kampfform der sozialistischen Weltrevolution.32 Das Berliner Oberbaumblatt, ein Sprachrohr der linksalternativen Protestszene, druckte im Jahr 1967 eine Erklärung Regis Debrays ab, worin der Kampfgenosse Che Guevaras die Unsterblichkeit des im revolutionären Kampf gestorbenen Rebellenführers glorifizierte: »Zuerst will ich aber klarstellen, daß der Tod von Che Guevara nicht das Ende des antiimperialistischen Kampfes ist, sondern sein Beginn, insofern er unwiderruflich diesem Kampf sein Banner gegeben hat, denn Che ist nicht zu töten: als Vorbild und Führer ist er unsterblich, im Herzen eines jeden Revolutionärs wird er leben. Ein Che ist tot, andere werden jetzt aus der Aktion geboren […].« 33

Che Guevara wird in der Zeitschrift, die sich an die Vertreter der bundesdeutschen außerparlamentarischen Opposition richtete, als selbstloser, aufopferungsbereiter und kompromissloser Guerillakämpfer der Herzen verherrlicht. Jeder, der sich revolutionär betätigt, so die Aussage des Textes, wird selbst zu einem ›Che‹, einem Helden der Revolution. Viele Mitglieder der antiautoritären Szene, die in westlichen Demokratien lebten, glaubten in ihrer bedingungslosen Solidarität mit den Widerstandbewegungen der ›Dritten Welt‹, auch selbst gegen einen globalen Manipulations- und Unterdrückungszusammenhang ankämpfen zu müssen.34 Die maskulin codierte Protestbewegung war empfänglich für derartige weltrevolutionäre Phrasen, weil sie die Mischung aus Militanz und moralischer Rechtschaffenheit, die Guevaras Kampf gegen die scheinbar übermächtigen kolonialen Unterdrücker umgab, äußerst anziehend fand. Da sich die bundesdeutschen ›68er‹ selbst als radikale Minderheit fühlten, die den überlegenen staatlichen Machtmitteln gegenüberstand, fiel eine positive Identifikation leicht. Die Guerillataktik verleitete die Vertreter des linken Gegenmilieus zu Gewaltphantasien, wie ein Blick in das Tagebuch des Studentenführers Peter Schneider vom 1. März 1968 zeigt. Darin legte der junge ›68er‹ dar, warum ihm die Strategie des gewaltsamen Guerillakampfes so anziehend erschien. In seiner Phantasie übertrug er den Partisanenkrieg vom Dschungel Vietnams auf die großstädtische Kulisse Berlins: »Was mir so gefällt; daß die Vietcong die schlimmsten alpträume des spießers wahrmachen. Sich in tunneln wie die maulwürfe in das feindliche lager einschleichen […]; mit blät32 | ,Guerilla‹ bedeutet im Spanischen ›Kleinkrieg‹ und beschreibt eine spezielle Form des militärischen Kampfes mit bandenähnlichen Kampftruppen. 33 | Erklärung von Regis Debray an das Militärgericht in Camiri zur Todesnachricht von Che Guevara. In: Oberbaumblatt, Wochenblatt in Berlin, Nr. 7, 14. November 1967, S. 1. In: IfZ Archiv, ED 328/1. 34  |  Christian Semler, in: COHN-BENDIT, Wir haben sie so geliebt, S. 114.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er tern an den helmen hinter den Saigoner büschen und bäumen lauern und ahnungslose […] passanten mit dem maschinengewehr erwarten; im treppenhaus der amerikanischen botschaft pistolenduelle inszenieren. Ja, wir werden als die lang erwarteten mörder unter den ehebetten deutscher beamter liegen, und was da nachts um zwei vor dem fenster raschelt, das sind unsere lunten. Wenn immer ein knall die nachbarn aus dem schlaf schreckt, wird es nicht der ziegel vom dach, sondern ein schuß gewesen sein […].« 35

In diesem zeitgenössischen Zeugnis bezog sich Schneider darauf, dass es einigen Kämpfern des Vietcongs im Januar 1968 für wenige Stunden gelungen war, die amerikanische Botschaft in Saigon zu besetzen. Für die Bundesrepublik schwebte ihm ein fast schon terroristisches Szenario vor, bei dem das ›Establishment‹ in Angst und Schrecken versetzt werden sollte. Er sprach von feindlichen Lagern, Maschinengewehren, Pistolenduellen, Mördern, Lunten, Schüssen, einer Atmosphäre der omnipräsenten Bedrohung des deutschen ›Spießers‹. Der Verfasser des Tagebucheintrages war vom Guerillakampf fasziniert, da dieser eine effektive Waffe der Schwachen darstellt. Der Guerillakrieg folgt einer militärischen Strategie, die es kleinen, unterlegenen Kampfeinheiten möglich macht, durch nadelstichartige, subversive Überraschungsangriffe aus dem Hinterhalt militärische Siege zu erzielen und den Gegner langfristig zu zermürben. Anders als bei großen Heeren, die in klassischen Feldschlachten nur durch die strikte Befolgung einer hierarchischen Befehlsstruktur strategisch koordiniert werden können, agieren die bandenartigen Guerillatruppen flexibel und selbstständig. Im Gegensatz zu Soldaten einer nationalen Armee, die sich durch Uniformen und militärische Verhaltenscodizes als reguläre Kriegsteilnehmer zu erkennen geben, verbergen die Guerilleros ihre Identität als Kombattanten und ziehen sich immer wieder im Schutz der Berge oder des Dschungels zurück, um von dort aus ihre militärischen Operationen zu planen. Diese Art des kämpferischen Widerstandes begeisterte die Protagonisten der 68er-Bewegung, weil sie in der Guerillataktik eine Anleitung sahen, wie es einer kleinen gesellschaftlichen Gruppe gelingen kann, die herrschenden Machtverhältnisse zu unterlaufen. Zudem gefiel es den Vertretern des antiautoritären Milieus, dass Guerillakämpfer relativ eigenständig und egalitär in einer kleinen Truppe agierten, ohne Befehlen von oben unreflektiert Folge leisten zu müssen, wie es in großen staatlichen Militärapparaten üblich ist.36 Vor der Tatsache, dass die Guerillataktik sich durch uneingeschränkte Waffengewalt und einen aggressiven Angriffscharakter auszeichnete, schreckten die Protagonisten der bundesdeutschen 68er-Bewegung keineswegs zurück, wie die ausgeprägte zeitgenössische Gewaltphantasie Peter Schneiders beweist. Auf der 22. Delegiertenkonferenz des SDS am 5. September 1967 legten die studentischen Wortführer Hans-Jürgen-Krahl und Rudi Dutschke ihre Überle35 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 260. 36 | Vgl. HEUSER, Beatrice: Rebellen – Partisanen – Guerilleros. Asymmetrische Kriege von der Antike bis heute, Paderborn 2013, S. 15ff.

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gungen zu einer »Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit« dar und konstatierten, dass zur Revolutionierung der bestehenden Verhältnisse die Entwicklung einer »Guerilla-Mentalität« nötig sei.37 Dies war nicht als direkte Aufforderung der beiden SDS-Größen zu verstehen, mit dem bewaffneten Guerillakrieg in der Bundesrepublik zu beginnen, sondern als Appell, sich auf der Bewusstseinsebene den Guerilleros anzunähern. Sie übernahmen Che Guevaras Prämisse, dass eine kleine Zahl von Guerillakämpfern sich auf der Basis von Voluntarismus in der Aktion vervielfachen und ein ganzes Volk zum Befreiungskampf bewegen könne.38 Die führenden Persönlichkeiten der maskulin codierten 68er-Bewegung erklärten den unbeugsamen Willen zur wichtigsten Voraussetzung für einen erfolgreichen Systemumsturz. Sie übernahmen »eine politische Moral kompromissloser Politik«39 von den Befreiungskämpfern der ›Dritten Welt‹ und schrieben insofern die Nähe zur revolutionären Gewalt in den emotionalen Habitus des Protestkollektivs ein, auch wenn sie nicht offen zu gewaltsamen Protestmitteln aufriefen. Für zahlreiche Aktivisten der bundesdeutschen Protestbewegung führte der Weg zur physischen Gewalt über das von Dutschke und Krahl postulierte Gefühl der mentalen Verbundenheit mit den Befreiungsbewegungen der ›Dritten Welt‹. Das ehemalige SDS-Mitglied Thomas Mitscherlich räumt ein, dass es ihm leichter fiel, die Anwendung von militärischen Überlegungen auf das zeitgenössische Protestgeschehen zu rechtfertigen, wenn er sie affektiv mit der ethischen Rechtschaffenheit kolonialer Unabhängigkeitskriege verknüpfte. In den Jahren des Protests kam er zu dem Umkehrschluss: Wenn der Befreiungskrieg an sich »[…] gerecht und damit moralisch nicht verwerflich ist, so ist das eigene strategische Denken, das oft einen militärischen Charakter angenommen hat, auch nicht verwerflich.«40 Die Identifikation mit den Partisanenkämpfern Südamerikas und Asiens verführte auch Joschka Fischer, der sich innerhalb der Frankfurter Studentenbewegung engagierte, dazu, auf Demonstrationen gewalttätig zu handeln: »Nachdem ich lange Zeit Schläge eingesteckt hatte, habe ich mit einem gewissen Vergnügen zurückgeschlagen, wie man das als Typ halt gemacht hat. Ich habe auf diese Art meine Courage bewiesen, und ich bin bestärkt worden durch Menschen, die ich bewunderte: Che Guevara, die Kämpfer im Vietcong.« 41

37  |  Vgl. DUTSCHKE/KRAHL, Organisationsreferat auf der XXII. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, In: Kraushaar, Frankfurter Schule und Studentenbewegung, 2. Bd., S. 290. 38 | Vgl. GILCHER-HOLTEY, Transformation durch Subversion, S. 211f. 39 | KRAHL, Hans-Jürgen: Angaben zur Person II, Improvisierte Rede vor Gericht anlässlich des Senghor-Prozesses. In: Lutz Schulenburg (Hg.): Das Leben ändern, die Welt verändern! 1968. Dokumente und Berichte, Hamburg 1998, S. 389-393, hier S. 391. 40  |  Vgl. Thomas Mitscherlich, in: LÖNNENDONKER, Linksintellektueller Aufbruch, S. 175. 41  |  Joschka Fischer, in: COHN-BENDIT, Wir haben sie so geliebt, S. 232.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er

Fischer erklärt, dass er den Mut, seine pazifistische Grundhaltung aufzugeben und körperliche Gewalt zum Einsatz zu bringen, über die Bewunderung der tapferen und unbeugsamen Guerilleros erlangt hat. Das Zuschlagen hat ihm laut eigener Aussage Freude und Genugtuung bereitet, war also mit dem euphorischen Gefühl verbunden, heldenhaft und moralisch rechtschaffen zu agieren. Wie ein Guerillero ›zurückzuschlagen‹, entwickelte sich innerhalb der maskulin geprägten bundesdeutschen 68er-Bewegung gemäß Fischer zu einer kulturell legitimen, als besonders männlich begriffenen Verhaltensweise. Wehrhaftigkeit, Härte und Stärke als stereotyp männliche Idealeigenschaften waren auch in der linken Protestszene keineswegs obsolet geworden. Das kriegerische Männlichkeitsideal des todesverachtenden Guerillakämpfers unterschied sich, was die Einstellung zur Anwendung von Gewalt anging, im Grunde nicht von dem soldatisch-militaristischen Männerbild der väterlichen Kriegsgeneration, auch wenn die ›68er‹ dieses entschieden ablehnten.42 Aus der Retrospektive stellt der linksalternative Aktivist Gernot Folkers fest, dass seine Generation derselben »verquaste[n] Männlichkeits- und Heldenideologie« folgte, »die schon unsere Väter in den Krieg geführt hatte«.43 Der Partisanengestus, den die 68er-Revolutionäre an den Tag legten, kann deshalb durchaus als »ein Stück fantastisch nachgeholte[] Weltkriegserfahrung«44 interpretiert werden. Das Ausleben aggressiver und destruktiver emotionaler Impulse gehörte zum normativen kollektiven Gefühlshaushalt der männlich dominierten 68er-Bewegung. Gewaltbereitschaft und -affinität waren eng mit der Vorstellung einer rechtschaffenen Befreiung aus abstrakten imperialistischen Unterdrückungszusammenhängen verbunden. Revolutionäre Gewalt wurde als Gegengewalt verklärt.

8.3 F reude am S tr assenk ampf Die Strategie der antiautoritären Bewegung, mit ungewöhnlichen, überraschenden Protestaktionen den bürgerlichen Ruf nach Ruhe und Ordnung zu stören, und sich in aller Öffentlichkeit bewusst auffällig, unangepasst und herausfordernd zu benehmen, beinhaltete einen aufregenden Erlebnischarakter, erzeugte große Aufmerksamkeit und linderte das Gefühl der rebellierenden Jugend, nicht gehört zu werden.45 Da Provokation von Unberechenbarkeit lebt, lässt sie sich 42 | Vgl. PILZWEGER, Stefanie: Terroristische Selbstinszenierung und massenmediale Fremddarstellung der Männlichkeiten in der Roten Armee Fraktion. In: Irene BandhauerSchöffmann/Dirk van Laak (Hg.): Der Linksterrorismus der 1970er Jahre und die Ordnung der Geschlechter (Giessen Contributions to the Study of Culture, Bd. 9), S. 49-73, hier S. 56ff. 43 | FOLKERS, Die Studentenbewegung und die Gewalt, S. 27. 44 | Vgl. KOENEN, Rotwelsch und Zeichensprache, S. 269. 45  |  Siehe: Kapitel 4.2. Aktionistische Protestinszenierungen, S. 163-175.

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jedoch kaum wiederholen. Wer einmal überrascht wurde, erhöht seine Aufmerksamkeit und ist für die Zukunft gewarnt, weshalb nachfolgende Provokationen schlechtere Aussichten haben.46 Folglich gerieten die Aktivisten der 68er-Bewegung unter den Druck, die Qualität des Normbruches sukzessiv steigern zu müssen, um ihren Protestzielen mit provokanten Aktionen weiterhin breites öffentliches Gehör verschaffen zu können. Bei dem Versuch, die Staatsmacht zu aggressiven und brutalen Reaktionen zu reizen, um sie moralisch zu diskreditieren, gingen die Provokateure immer weiter. »[W]ir dachten, die Zuspitzung von Militanz ist die Garantie für Aufmerksamkeit«47, so der Schluss des führenden Schüleraktivisten Robert Bücking. Dies führte dazu, dass die »Grenzen zwischen Provokation, Rüpelhaftigkeit und Gewalttätigkeit«48 im Verhalten der jungen Revolteure verschwammen, was auch die Polizisten, als Vertreter der vollziehenden Staatsgewalt, zu ›härteren Bandagen‹ greifen ließ. Illegales, aggressives Handeln war für viele Protagonisten des antiautoritären Protests emotional positiv besetzt, da es häufig aus den gewitzten und kreativen aktionistischen Protestformen hervorging, mit denen die Bewegung große Erfolge feierte. Der APO-Aktivist Volkhard Brandes berichtet von einem »prickelnde[n] Spiel mit der revolutionären Gewalt«49, und der studentische Wortführer Daniel Cohn-Bendit gesteht ein, gegen Ende der 1960er Jahre »salopp, geradezu leichtfertig, geradezu überschwenglich und lustvoll mit einer gewissen Form von Straßen- und Massenmilitanz umgegangen«50 zu sein. Wie sich rund um das Jahr ›1968‹ humoristische und provokante Protestaktionen mit der Ausübung körperlicher Gewalt vermengten, lässt sich einem von Fritz Teufel verfassten Flugblatt entnehmen: »Ich habe […] zugesehen, wie Hühnereier, Farbeier, Farbbeutel, Tomaten, Rauchkerzen, Argumente, Steine, Polizisten, Stinkbomben, Knallkörper geworfen wurden und habe mich daraufhin keineswegs protestierend entfernt, da ich das Werfen mit diesen Gegenständen dem Anlaß angemessen fand.« 51

Der Kommunarde macht sich mit diesem Flugblatt über die Anstrengungen der bundesdeutschen Justiz lustig, Demonstranten für das aus seiner Perspektive ›harmlose‹ Werfen mit Gegenständen belangen zu wollen. Dazu hat er eine Art vorgefertigtes Formular entworfen, das es den Protestierenden erleichtern soll, ihre ›Untaten‹ und die dafür benutzten Wurfgeschosse selbst zur Anzeige zu bringen. Er parodiert einen amtsdeutschen-bürokratischen Sprachstil und erklärt 46 | Vgl. PARIS, Stachel und Speer, S. 60. 47  |  Robert Bücking, in: HANNOVER/SCHNIBBEN, I can’t get no, S. 79. 48 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 202. 49 | BRANDES, Wie der Stein ins Rollen kam, S. 164. 50  |  Daniel Cohn-Bendit, in: SCHAUER, Prima Klima, S. 17. 51 | Flugblatt, Selbstanzeige. In: IfZ Archiv, ED 328/5.

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das Werfen von Gegenständen hochoffiziell als adäquates Mittel des spaßorientierten und provokanten Protests. Neben Argumenten, die niemandem körperliche Schmerzen bereiten, Eiern, Tomaten und Farbe, die das Opfer lediglich beschmutzen, reiht er Rauchkerzen, Stinkbomben oder Knallkörper, die den Gegner vorübergehend durch Rauch, laute Geräusche oder Gestank außer Gefecht setzen und nicht zuletzt Pflastersteine, mit denen der Getroffene schwer verletzt werden kann. Zwischen den verschiedenen Gegenständen nimmt Teufel irritierenderweise auch das Werfen von Polizisten in seine Auflistung auf, was diesen einen Objektstatus verleiht und sie damit herabwürdigt. Ob die Kategorisierung von Polizisten als Wurfgeschosse lediglich als Witz gemeint war, oder ob der Kommune-Bewohner damit den physischen Angriff auf Ordnungshüter legitimierte, bleibt unklar. Aus dem zeitgenössischen Zeugnis geht jedenfalls hervor, dass die Protestgemeinschaft dazu überging, gewaltlose und gewaltsame Protestmittel unauffällig und selbstverständlich miteinander zu vermischen. Unter dem Titel Misslungene Proben des akademischen Proletariats für den gehobenen Aufstand beschrieb der SDS Frankfurt den Verlauf einer Demonstration im April 1967, bei der es zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Die Verfasser des Beitrages, der im verbandsinternen Informationsblatt SDS-Korrespondenz bundesweit vervielfältigt wurde, beschreiben die Ausschreitungen und gewaltsamen Konfrontationen als eine Art Spiel, das den Teilnehmern großes Vergnügen bereitete: »Kurze Sitzstreiks auf der Straße, die spätestens dann zu Ende gingen, wenn die Polizei in bedrohliche Nähe kam, und kollaborierende Beamte, die laufend mitten auf der Straße wendeten, legten mit einiger Perfektion den Verkehr lahm. Das löste die Spannung […] und machte Spaß. […] Zur nächsten Keilerei kam’s an der Hauptwache, als eine größere Gruppe zwischen Bauzaun und Mauer von zwei Seiten von Polizisten bedrängt wurde und nicht ausweichen konnte. […] Eine zweite Gruppe spielte weiter vor, stoppte den Verkehr und ließ die Wagen pulkweise unter ihren Transparenten durchfahren, als sie sahen, daß dadurch die Polizeiwagen gehindert wurden, zu ihnen durchzudringen (die riesige Baustelle an der Hauptwache eröffnete uns einige wunderbare Möglichkeiten.)« 52

In dem subjektiven Erlebnisbericht wird das Szenario einer Demonstration beschrieben, die vollkommen aus dem Ruder gelaufen ist. Unorganisierte Unruhen entstehen, die Polizei versucht, den chaotischen Zuständen ein Ende zu setzen, während die Protestteilnehmer versuchen, diese mit aller Mühe aufrechtzuerhalten. Sich von den Ordnungshütern jagen zu lassen, ihnen immer wieder im letzten Moment zu entkommen und sie mit geschickten Manövern auszutricksen, wird als Spaß dargestellt. Die Gefahr, körperlich verletzt und festgenommen zu 52 | SDS Frankfurt: Misslungene Proben des akademischen Proletariats für den gehobenen Aufstand, 23. April 1967. In: SDS-Korrespondenz, Nr. 7, Mai 1967, S. 24-27, hier S. 25. In: IfZ Archiv, Dn 012.

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werden, war für die Mitglieder der maskulin dominierten 68er-Bewegung, wie es scheint, kein Hemmnis, sondern vielmehr Anreiz, an den Konfrontationen mit der Staatsgewalt teilzunehmen. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen werden in dem zitierten Bericht verharmlosend als ›Keilerei‹ bezeichnet, was den Eindruck eines ungefährlichen Kräftemessens zwischen Männern im gegenseitigen Einvernehmen impliziert. Reziproke physische Aggressionen unter jungen Männern besitzen in der Tat meist einen kompetitiven Charakter, dienen der Festigung einer oftmals fragilen maskulinen Identität sowie der Regulierung homosozialer Beziehungen und damit auch der mann-männlichen Vergemeinschaftung.53 Die Ausübung von Gewalt wird in überwiegend männlichen Gruppen wie der maskulin codierten Protestbewegung von ›1968‹ deshalb häufig als »lustvoll, elementar und faszinierend erlebt«54, der erhöhte Adrenalinausstoß erzeugt Hochgefühle. Betrachtet man eine Aussage von Claus Peter Thurau, der in Hamburg an den antiautoritären Protesten beteiligt war, so erhärtet sich die Annahme, dass gewaltsame Konflikte mit der Polizei für die jungen Oppositionellen die Funktion erfüllten, Männlichkeit zu demonstrieren und zu inszenieren: »Es war ein herrliches Gefühl, als man sich auf dem Campus mit der Polizei gekabbelt hat: Wir standen oben im Philosophen-Turm im ersten Stock und haben die mit Sand gefüllten Kästen für Aschenbecher runtergekippt, und die unten haben mit Schläuchen gespritzt. Hinterher saß man dann – und das war das Erbauliche – in der Kneipe, und wer besonders klitschnaß war, bekam natürlich den größten Applaus, und wir sonnten uns in diesem gemeinsamen Erlebnis.« 55

Die Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Studenten identifiziert Thurau als ›Kabbelei‹. Die Wahl dieses Begriffes, der für einen nicht ernstzunehmenden Streit, beziehungsweise eine harmlose Rangelei steht, drückt aus, dass auch er die tätlichen Konfrontationen mit den Gesetzeshütern lediglich als kleine Machtprobe betrachtet hat. Thuraus autobiografischer Bericht zeigt auf, dass gewaltsames Protestverhalten im oppositionellen Milieu zu den »ernsten Spielen des Wettbewerbs«56 unter Männern zählte, in denen gemäß Pierre Bourdieu der maskuline Habitus hergestellt wird. Der Aktivist beschreibt eine intensive Gruppendynamik, die mit den gewalttätigen Aktionen verbunden war: Derjenige, der den Wasserwerfern der Polizei besonders tapfer und unerschrocken getrotzt hatte, wurde anschließend in der Kneipe von den anderen gefeiert. In der Gefühls53  |  Vgl. LEIMKÜHLER-MÖLLER, Anne-Maria: Psychosoziale Determinanten männlicher Aggression und Gewalt. In: Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie 11 (2010), Heft 2, S. 70-77, hier S. 72. 54 | LEIMKÜHLER-MÖLLER, Psychosoziale Determinanten, S. 72. 55  |  Claus Peter Müller-Thurau, in: MÜNDEMANN, Die 68er, S. 144f. 56 | Vgl. BOURDIEU, Die männliche Herrschaft, in: Dölling/Krais, S. 203.

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kultur der ›68er‹ wurde der Einsatz von Gewalt im Namen der Revolution durch Lob und Anerkennung also normativ unterstützt. Die Vertreter der männlich dominierten 68er-Bewegung konnten durch die Teilnahme an gewaltsamen Protesten vor den Genossen ›ihren Mann stehen‹ und ein solidarisches Gemeinschaftsgefühl erzeugen. Außerdem diente Gewalt in der linksalternativen Protestszene zum individuellen Statusgewinn. Als eine Art männlichen Initiationsritus beschreibt Cordt Schnibben seinen ersten Kontakt mit polizeilicher Gewalt auf einer Demonstration. Den ersten Schlag mit dem Gummiknüppel habe das Mitglied der Bremer Schülerbewegung als »Ritterschlag«57 empfunden. Er nennt nicht Furcht oder Wut als emotionale Reaktion auf die Erfahrung körperlicher Gewalt, sondern gibt an, »wie beseelt« nach diesem »schönen Erlebnis«58 gewesen zu sein. Aus Schnibbens Schilderung spricht das stolze Gefühl, erst durch gewaltsame Interaktion mit der zu bekämpfenden Staatsmacht zum vollwertigen Mitglied der Protestbewegung geworden zu sein. Kurz nach dem Erleben von körperlicher Gewalt, so Schnibben, ging er auch selbst dazu über, erstmals gewaltsam zu handeln und Steine auf die Polizei zu werfen. »Von diesem Tag an habe ich gewusst, okay, das ist das Spiel, so läuft das, und habe das auch genossen, diese Aktion.«59 Demzufolge nahm der Schüleraktivist gewalttätige Konfrontationen mit der Polizei als lebendig, aktiv und spielerisch wahr und verband diese mit einem Gefühl des Wohlbehagens und Vergnügens. Demzufolge beinhaltete das Verständnis hegemonialer Männlichkeit im männlich dominierten linken Gegenmilieu die Fähigkeit und Bereitschaft zum gewaltsamen Protesthandeln. Im bewegungsinternen Sprachgebrauch entwickelte sich für die Umschreibung des idealen maskulinen Habitus ein Wort, »das von allen positiv verwendet wurde: Militanz.«60 Unter dem Begriff ›Militanz‹ lassen sich die Attribute aggressiv, kampf bereit, angriffslustig, rabiat, herausfordernd und draufgängerisch subsumieren. Wie der 68er-Aktivist Gernot Folkers anmerkt, sollte ›militant‹ in der Protestsprache manchmal auch einfach nur ›entschieden‹ bedeuten, dennoch konnte man nicht militant sein, wenn man Gewalt ablehnte.61 Das Bild vom »militantesten Genossen, der auf der Rednerbühne seinen ›Mann‹ stand, Rektorate stürmte und den Wasserwerfern der Berliner Polizei noch bei fünf Grad unter Null die Brust bot«62, galt in der Protestkultur von ›1968‹ als hegemonial männlich. In diesem Sinne zerstreute auch der studentische Wortführer Rudi Dutschke die Sorgen von Freunden um seine körperliche Unversehrtheit mit dem Argument: »Bisher konnte ich mich auf meine Beine 57  |  Cord Schnibben, in: HANNOVER/SCHNIBBEN, I can’t get no, S. 78. 58  |  Cord Schnibben, in: HANNOVER/SCHNIBBEN, I can’t get no, S. 78. 59  |  Cord Schnibben, in: HANNOVER/SCHNIBBEN, I can’t get no, S. 78. 60 | FOLKERS, Die Studentenbewegung und die Gewalt, S. 24. 61 | Vgl. FOLKERS, Die Studentenbewegung und die Gewalt, S. 24. 62 | SCHNEIDER, Den Kopf verkehrt aufgesetzt, S. 149.

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und Fäuste, vom Maul ganz zu schweigen, verlassen.«63 Neben der Kunst, eloquente, mitreißende Reden zu halten und überzeugend zu diskutieren, schätzte Dutschke die körperliche Fähigkeit, sich zu wehren und unter Umständen auch anzugreifen, hoch ein. Insgesamt lässt sich die Einschätzung Gerd Koenens teilen, » dass die geforderte Militanz auf der Straße eine Menge blutiger Köpfe und Nasen brachte, aber überwiegend doch den Charakter spielerischer Simulation beibehielt«.64 Was für viele Protagonisten der bundesdeutschen 68er-Bewegung als ein vermeintlich harmloser ›Flirt‹ mit der revolutionären Gewalt begann und affektiv mit Vergnügen verbunden war, verlor im Laufe der Protestereignisse jedoch schon bald seine Leichtigkeit und Lustbetontheit.

8.4 A ngst und O pfer -S ein Der gewaltsame Tod des Studenten Benno Ohnesorg auf einer Demonstration gegen den Staatsbesuch des Schahs von Persien am 2. Juni 1967 in Berlin markierte eine erste Welle der Radikalisierung der Studentenbewegung. Wie öffentlich angekündigt, stand an diesem Abend der Besuch einer Aufführung in der Deutschen Oper auf dem Programm des Schahs und seiner Frau. Von daher versammelten sich auf dem Opernplatz zahlreiche Schaulustige, aber auch Mitglieder der studentischen Bewegung, die gekommen waren, um gegen die Menschenrechtsverletzungen des despotischen persischen Regimes zu protestieren. Als der Schah schließlich eintraf, skandierten die Protestierenden Parolen, einige warfen mit Eiern, Tomaten oder Farbbeuteln. Um den Schah bei seiner Auslandsreise zu unterstützen und seinen öffentlichen Auftritt mit Jubel zu begleiten, waren neben zahlreichen Leibwächtern zusätzliche Anhänger des Schahs, sogenannte ›Jubelperser‹, angereist. Diese reagierten extrem gewalttätig auf die Protestaktionen der deutschen Demonstranten und schlugen mit Holzknüppeln, Schlagringen und Eisenstangen brutal auf die jungen Menschen ein. Anstatt die persischen Schläger davon abzuhalten oder sie festzunehmen, sah die deutsche Polizei tatenlos zu. Unter den Demonstrierenden brach Panik aus, viele wollten den Opernvorplatz verlassen, andere setzten sich spontan auf die Straße nieder. Die Polizei versuchte den Platz zu räumen und setzte dazu Schlagstöcke, Tränengas und Wasserwerfer ein. Fliehende Protestteilnehmer wurden zum Teil von Polizeihunden zurückgedrängt und eingekesselt. Diese unverhältnismäßig gewaltsame Reaktion der Ordnungsmacht führte dazu, dass viele Vertreter der 68er-Bewegung verletzt und festgenommen wurden. Der Student Benno Ohnesorg nahm in diesem Gewaltszenario eher einen unbeteiligten Beobachterposten ein. Er sah, wie mehre63 | Rudi Dutschke, in: DUTSCHKE-KLOTZ: Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben, S. 190. 64 | KOENEN, Der Muff von tausend Jahren, S. 154.

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re Protestierende von der Polizei in einen Innenhof gejagt und dort verprügelt wurden. Auf diese Weise zog er offenbar die Aufmerksamkeit der Beamten auf sich und geriet mit diesen in eine Auseinandersetzung, die später nicht genau rekonstruiert werden konnte. Dabei wurde ihm von dem Zivilpolizisten Karl-Heinz Kurras aus nächster Nähe tödlich in den Hinterkopf geschossen.65 Der Berliner Polizei gelang es am 2. Juni 1967 trotz zahlenmäßiger Übermacht und überlegener Ausstattung nicht, die aufgebrachten Studenten mit angemessenen Mitteln in Zaum zu halten. Durch eine defizitäre, beziehungsweise fehlende Einsatzstrategie verursachten die Gesetzeshüter eine gewaltsame Straßenschlacht. Tatsächlich war das polizeiliche Vorgehen in den späten 1960er Jahren nicht eindeutig definiert, was daran lag, dass Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg in vier Besatzungszonen unterteilt war. Zwischen Berliner Polizei und den alliierten Militärs hatte nie eine eindeutige Aufgabenverteilung stattgefunden. Dies führte zu unheilvollen Ausnahme- und Notwehrregelungen, die für die ausführende Gewalt einen undefinierten Handlungsspielraum schufen.66 Zudem erhielten Polizeibeamte im West-Berlin der Nachkriegszeit eine paramilitärische Schulung, die durch starre Freund-Feind-Schemata geprägt war und oppositionelles Verhalten unumgänglich als kommunistische Subversion einordnete. Den Beamten wurde in ihrer Ausbildung die Furcht vor der ›akuten Masse‹ eingebläut. Aufgebrachten Menschenmengen wurde aus polizeipsychologischer Sicht ein sehr hohes irrationales Gefahrenpotential zugeschrieben. Von daher lernten die Polizisten, in einer solchen Situation nicht lange abzuwägen, da davon ausgegangen wurde, dass Chaos und Anarchie unabwendbar wären, sobald der passende Interventionspunkt einmal verpasst war. Auch die Rädelsführerorientierung der Polizeiausbildung, die im raschen, harten und rücksichtslosen Vorgehen gegen Leitfiguren bestand, trägt zur Erklärung bei, warum das Verhalten der Ordnungshüter am 2. Juni 1967 unverhältnismäßig und zum Teil sogar brutal ausfiel.67 Oskar Negt, der in den Jahren des Protests als Assistent von Jürgen Habermas arbeitete und langjähriges Mitglied im SDS war, nennt Fassungslosigkeit als erste emotionale Reaktion auf das übertrieben gewaltsame Agieren der Polizei. »Dieses Institutionensystem«, so Negt, » enthüllt plötzlich ein Ausmaß von Gewalt, von dem viele, die selbst gar nicht mit der Außerparlamentarischen Opposition sympathisieren, aufs Höchste überrascht und betroffen sind.«68 Die Unverhältnismäßigkeit der Gewalt von polizeilicher Seite, mit der nicht gerechnet worden war, verstärkte die Zweifel an der Rechtmäßigkeit der staatlichen Autorität, die viele 65 | Kurras gab an, aus Notwehr gehandelt zu haben. Gemäß seiner Aussage wollte er nur Warnschüsse abgeben. Er wurde der fahrlässigen Tötung angeklagt und trotz fortbestehender Zweifel an der Richtigkeit seiner Darstellung freigesprochen. 66  |  Vgl. LINDNER, Werner: Jugendprotest seit den fünfziger Jahren: Dissens und kultureller Eigensinn (Studien zur Jugendforschung, Bd. 17), Opladen 1996, S. 195. 67 | Vgl. LINDNER, Jugendprotest seit den fünfziger Jahren, S. 196ff. 68 | NEGT, Achtundsechzig, S. 60.

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linksstehende Studenten ohnehin schon hegten. »Immer mehr entlarven sich die ›demokratischen‹ politischen Institutionen in ihrer Demokratiefeindlichkeit und Gewalttätigkeit«69, stellten die Berliner Studentenverbände SDS und LSD nach dem überraschenden und traumatischen Erlebnis massiver physischer Gewalt fest. Seit der gewaltsamen Tötung Benno Ohnesorgs war die kollektive Gefühlslage der antiautoritären Szene bestimmt von der »Furcht, Opfer eines um sich schlagenden Staatsapparates zu werden.«70 Der Vorsitzende des AStA der FU Berlin Knut Nevermann veröffentlichte noch im Jahr 1967 ein Buch über die Ereignisse des 2. Juni, in dem er Aussagen von Augenzeugen, sowie Stellungnahmen und Reden öffentlicher Vertreter zusammenfasste. Mit dieser Publikation sollte der unangemessen brutale Einsatz der Ordnungsmacht gegen die Protestierenden dokumentiert und gegen Presseberichte und Aussagen von konservativen Politikern angegangen werden, die die Studenten als linksradikale Minderheit und gefährliche Randalierer sahen und diesen die ausschließliche Schuld an der Gewalteskalation gaben.71 Der Gewinn aus dem Verkauf der Veröffentlichung kam der Witwe Ohnesorgs und den anderen ›Opfern‹ der Ereignisse des 2. Juni zugute. In der Tat fühlten sich die Mitglieder der 68er-Bewegung von einem für sie unberechenbar gewordenen, gewaltsamen Staat in die Rolle ohnmächtiger Opfer versetzt, wie Nevermann folgendermaßen auf den Punkt brachte: »Angst, Verzweiflung, Abscheu über die Brutalität. Schläge, Stöße, Tritte, Mißhandlungen wehrloser, blutender, am Boden liegender Demonstranten. Eine Kesselschlacht der Polizei vor der Deutschen Oper. Ein Kessel voller Panik, Entsetzen, hysterischer Zusammenbrüche. Ein toter Student.« 72

Der APO-Aktivist, der Erlebnisberichte von zahlreichen Demonstrationsteilnehmern protokollierte, nennt Angst, Verzweiflung, Abscheu, Panik, Entsetzen und Hysterie als die vorherrschenden Gefühle, die die Protestierenden am 2. Juni 1967 verspürten. Das emotionale Erleben von körperlicher Gewalt und existentieller Bedrohung trug für die Vertreter der 68er-Bewegung Züge eines kollektiven Traumas. Das Vertrauen in einen Staat, dessen Aufgabe an sich darin bestand, seine Bürger zu schützen, war endgültig verloren. Stattdessen kristallisierte sich 69 | Flugblatt, SDS Berlin/LSD Berlin: Auf welcher Seite steht der Terror? In: AdMA, Archiv 451. 70 | Flugblatt, Allgemeiner Studentenausschuß FU Berlin: Aktionsformen der Linken, 11. Februar 1969. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, AStA der FU, Flugblätter, getrennt nach AStA-Referaten, 1968-1969. 71  |  Vgl. NEVERMANN, Knut: Einführung. In: Ders./Verband Deutscher Studentenschaften (Hg.): Der 2. Juni 1967. Studenten zwischen Notstand und Demokratie. Dokumente zu den Ereignissen anläßlich des Schah-Besuchs, Köln 1967, S. 6-11, hier S. 7ff. 72 | NEVERMANN, Einführung, S. 6.

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die bundesdeutsche Staatsmacht als Gegner heraus, der die eigene körperliche Unversehrtheit mit Gewaltmitteln bedrohte. Auf einer Trauerkundgebung an der FU Berlin sprach Nevermann das Gefühl aus, das die linke Protestszene als emotionale Gemeinschaft in den Tagen nach dem Tod Benno Ohnesorgs prägte: »Er wurde getötet als einer von uns, die wir unsere Meinung äußern wollten. Es hätte jeden anderen von uns treffen können.«73 Durch den gewaltsamen Tod eines Kommilitonen erfuhren die Mitglieder der Protestbewegung Todesnähe. Das Erlebnis der Möglichkeit des eigenen Todes versperrt sich normalerweise der Wahrnehmung, wurde jedoch bei den Protestteilnehmern durch das empathische Erleben der Erschießung Ohnesorgs freigesetzt.74 Das schmerzliche Gefühl des Bewusstwerdens des Todes als unabweisbare Begrenzung des eigenen Lebens verstärkte sich unter den Protagonisten der 68er-Bewegung, als am 11. April 1968 ein Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke verübt wurde. Der Arbeiter Josef Bachmann machte sich an diesem Tag mit dem Zug von München auf den Weg nach Berlin mit dem Ziel, Rudi Dutschke zu finden und zu ermorden. Auf dem Kurfürstendamm in der Nähe des SDS-Büros traf er den Gesuchten schließlich an, wie er vor einer Apotheke auf seinem Fahrrad saß und auf deren Öffnung wartete. Bachmann fragte Dutschke: ›Sind sie Rudi Dutschke?‹. Als dieser mit ›ja‹ antwortete, beschimpfte er ihn als ›dreckiges Kommunistenschwein‹ und zielte mit einer Pistole aus nächster Nähe auf Dutschkes Gesicht. Er traf ihn in die Wange. Als Dutschke bereits am Boden lag, feuerte Bachmann zwei weitere Patronen auf den Verletzten ab, die eine in die Schläfe, die andere in die Schulter. Der Gewalttäter trug einen Zeitungsausschnitt der rechtsradikalen Deutschen Nationalzeitung bei sich, auf deren Titelblatt zu lesen war: ›Stoppt Dutschke jetzt! Sonst gibt es Bürgerkrieg‹. Ein weiterer Zeitungsausschnitt, der bei dem Attentäter gefunden wurde, berichtete über die Ermordung des amerikanischen Bürgerrechtsaktivisten Martin Luther King vom 4. April 1968.75 Bachmann, der aus der rechtsradikalen Szene stammte, wollte sich ein Beispiel an dem rechtsextremen und rassistisch motivierten Attentat von Memphis nehmen. Der studentische Wortführer Dutschke überlebte den Anschlag, musste sich aber in einer langen Zeit der Genesung sein durch die massiven Kopfverletzungen verloren gegangenes Sprachvermögen und Gedächtnis mühsam wieder aneignen.76 73 | NEVERMANN, Knut: Rede auf der Trauerkundgebung der FU am 8. Juni. In: Ders./ Verband Deutscher Studentenschaften (Hg.): Der 2. Juni 1967. Studenten zwischen Notstand und Demokratie. Dokumente zu den Ereignissen anläßlich des Schah-Besuchs, Köln 1967, S. 35-37, hier S. 37. 74 | Vgl. GIESEN, Generation und Trauma, S. 63. 75 | Vgl. MÜLLER, Michael Ludwig: Berlin 1968 – die andere Perspektive, Berlin 2008, S. 237ff. 76 | Josef Bachmann gab vor Gericht an, aus Hass gegen die kommunistische Protestbewegung gehandelt zu haben. Er wurde im März 1969 zu sieben Jahren Haft verurteilt und

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Die linksorientierten Protestteilnehmer sahen sich bereits vor dem Attentat auf Rudi Dutschke als eine unterdrückte Minderheit, die einem bedrohlichen ›Pogrom-Klima‹ ausgesetzt war. Die ablehnende, antikommunistische Haltung, die ihnen von Seiten der Mehrheitsgesellschaft immer häufiger entgegenschlug, interpretierten sie als Produkt der manipulativen, aufhetzenden Berichterstattung der national-konservativ ausgerichteten Springer-Presse. Durch den heimtückischen, politisch motivierten Anschlag auf Dutschke als prominente Führungsund Identifikationsfigur der Studentenbewegung, sahen die 68er-Aktivisten ihre These vom Springer-Verlag als Aggressor bestätigt. ›Bild schoss mit!‹, hieß es im Umfeld der Protestbewegung. Die Schuld an der weiteren Gewalteskalation wiesen die Protestierenden damit der polemischen und antistudentischen Agitation der auflagenstarken Tageszeitung Bild zu. Einigkeit herrschte bei den linksstehenden Studenten darüber, dass die Kugeln auf Rudi Dutschke aus der Pistole Josef Bachmanns gegen die gesamte Bewegung gerichtet waren. »Unter vielen Oppositionellen entstand ausgesprochene Panik, weil jeder fürchtete, er könnte der nächste Tote sein«77, erinnert sich der Kommunarde Dieter Kunzelmann. Der Slogan ›Heute Dutschke, morgen wir‹, verdeutlicht zum einen, dass die Bedrohung durch einen Feind bewegungsintern mobilisierend und einigend wirkte, und zeigt zum anderen, dass die kollektive emotionale Konstitution der Protestierenden zusehends von der existentiellen Angst geprägt war, tödlicher Gewalt zum Opfer zu fallen. Das Empfinden von Leid, Schmerz, Kummer und Verlust im Zuge eines kollektiven Traumas eint Gemeinschaften und spielt eine bedeutende Rolle bei der Legitimation von Gewalt, so die Politologen Emma Hutchison und Roland Bleiker, die zur Korrelation von Emotionen und politischer Gewalt forschen.78 Insbesondere das Gefühl der Angst wird laut Hutchison und Bleiker von politischen Gruppierungen häufig geschürt, um den Einsatz von Gewalt zu rechtfertigen.79 Im Falle der bundesdeutschen 68er-Bewegung diente die Furcht, als Mitglied einer verfolgten Minderheit Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, als Motiv, um selbst gewaltsam aktiv zu werden, wie der Protestteilnehmer Bommi Baumann anführt:

nahm sich im Februar 1970 in seiner Gefängniszelle das Leben. Rudi Dutschke starb im Jahr 1979 an den Spätfolgen der Schussverletzungen. Vgl. MÜLLER, Berlin 1968, S. 240. 77 | KUNZELMANN, Leisten Sie keinen Widerstand!, S. 84. 78 | Vgl. HUTCHISON, Emma/BLEIKER, Roland: Ungendering the Links between Emotions and Violence: Towards a Political Appreciation of Empathy and Compassion. In: Linda Åhäll/Laura J. Shepherd (Hg.): Gender, Agency and Political Violence, Houndmills/Basingstoke/Hampshire 2012, S. 151-168, hier S. 154. 79 | Vgl. HUTCHISON/BLEIKER, Ungendering the Links, S. 155.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er »Die Kugel war genauso gegen dich, da haben sie das erste Mal nun voll auf dich geschossen. […] Da war natürlich klar, jetzt zuhauen, kein Pardon mehr geben. Deshalb sind wir denn auch gleich auf dieses Springer-Hochhaus zu und haben Steine rin [sic!] geschmissen.« 80

Das kollektive Erleben von Verletzungsoffenheit durch den Tod eines führenden Mitglieds der 68er-Bewegung, war für Baumann Grund genug, um kompromisslos zurückzuschlagen. Laut dem Aggressionsforscher Klaus Wahl ist es nicht unwahrscheinlich, dass Gefühle der Angst und der Bedrohung reaktive Aggression auslösen.81 Da der verletzungsoffene Opfer-Status geschlechterstereotyp als ›weiblich‹ eingeordnet wird, ist die Anwendung von körperlicher Gewalt auch als eine wichtige Ressource zur Reinszenierung von Männlichkeit zu betrachten.82 Noch am Abend des Attentats auf Rudi Dutschke versuchten Mitglieder der 68er-Bewegung die morgendliche Auslieferung von Springer-Zeitungen zu verhindern, wobei es zu massiven Auseinandersetzungen mit der Polizei kam. Für die männlich dominierte 68er-Bewegung bedeuteten die gewaltsam ablaufenden Demonstrationen gegen das Verlagshaus Axel Springer die Wiederherstellung ›männlicher‹ Verletzungsmacht.

8.5 W ut und H ass Die Nachricht vom Attentat auf Rudi Dutschke ließ innerhalb der antiautoritären Protestbewegung archaische Gefühle aufkeimen, die den emotionalen Nährboden für Gewaltakte bildeten. »Aus […] vagem Unbehagen wurde gezieltes Mißtrauen, aus Mißtrauen wurde Zorn, aus Zorn wurde schließlich Haß.«83 Auf diese Weise beschreibt der SDS-Aktivist Peter Schneider die sukzessive Steigerung des kollektiven Aggressionspotentials. Wie die Botschaft, dass Rudi Dutschke von einem politischen Gegner lebensgefährlich verletzt wurde, in der linken Protestszene unmittelbar starke Hassgefühle entfesselte, bezeugt auch die Erinnerung des Kommunarden Ulrich Enzensberger. Er beschreibt die spontane Reaktion der Kommune I, als diese vom Anschlag auf ihren Genossen erfuhr, folgendermaßen: »Es war ein hysterisches Lachen. Ein Schleier wurde weggerissen, eine Tür ging auf. Mit einem Schlag offenbarte sich das logische Resultat einer jahrelangen Eskalation. […] Ich fürchte, ich empfand in diesem Augenblick kein Mitleid für den um sein Leben ringenden Rudi. Wir waren fixiert auf den Schuldigen […].« 84 80 | BAUMANN, Wie alles anfing, S. 38. 81 | Vgl. WAHL, Klaus: Aggression und Gewalt. Ein biologischer, psychologischer und sozialwissenschaftlicher Überblick, Heidelberg 2009, S. 78. 82 | Vgl. SCHOLZ, Gewaltgefühle, S. 107. 83 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 165. 84 | ENZENSBERGER, Die Jahre der Kommune I, S. 275f.

8. Gewalt

Für die Kommunarden war die Botschaft, dass Rudi Dutschke nach einem Attentat um sein Leben kämpfte, zugleich Schock und langgehegte Befürchtung. Die ungewöhnliche, affektive Resonanz, hysterisch zu lachen, als sie von der lebensgefährlichen Verletzung ihres Freundes benachrichtigt wurden, anstatt erschüttert zu sein und zu trauern, verletzte konventionelle Gefühlsregeln. Dieses vermeintlich unangebrachte Verhalten der Kommune-Bewohner ist als eine emotionale Übersprungshandlung zu deuten, hinter der sich der schwelende Zorn auf das empfundene ›Unrechtsregime‹ des bundesdeutschen Staates verbarg. Die Nachricht von dem Anschlag auf den studentischen Wortführer führte zum unmittelbaren Ausbruch von Wut und dem starken Verlangen, Rache zu üben. Gemäß Michael Schneider widersprach es dem kollektiven Gefühlsprogramm der maskulin codierten Protestgemeinde, den Gefühlen der Trauer und des Schmerzes durch Tränen Ausdruck zu verleihen. Er gibt an, sein Bedürfnis zu weinen, unterdrückt zu haben, um den emotionalen Normen der Bewegung Folge zu leisten: »Niemand weinte, auch ich nicht, obwohl mir danach zumute war. […] Auch auf der anschließenden machtvollen Demonstration durch die Berliner Innenstadt sah man kaum Tränen, nur geballte Fäuste, die ›Rache schworen‹.«85 Dem emotionalen Habitus des männlichen ›68ers‹ entsprach es demnach, in dieser Situation keine Schwäche und Verwundbarkeit zu zeigen. Unter der althergebrachten Prämisse traditioneller männlicher Sozialisation ›Männer weinen nicht‹ transportierten die Protestierenden ihre emotionale Aufgebrachtheit bezüglich des Anschlags auf Rudi Dutschke mit einem entschlossenen, unversöhnlichen und gewaltbereiten Gestus. Zahlreiche Mitglieder der Protestbewegung trafen sich im Audimax der Technischen Universität Berlin und waren laut Dieter Kunzelmann absolut einer Meinung, wie sie auf das Attentat reagierten sollten: »Nicht das übliche ellenlange Palaver. Allen war klar, was zu geschehen hatte. […] Über die Selbstverständlichkeit des ›Wir stürmen‹ hinaus blieb alles im Dunkel der Nacht.«86 Der Kommunarde berichtet, dass entgegen des gewohnten Vorgehens der studentischen Aktivisten alle Schritte ausführlich und kontrovers zu diskutieren und zu planen, eine intuitive Einigkeit darüber herrschte, den zum Feind erklärten Springer-Verlag zur Verantwortung zu ziehen. »[V]oller Wut und Verzweiflung«87 marschierten die jungen Oppositionellen anschließend mit brennenden Fackeln zum Springer-Haus und skandierten dabei ›Mörder-Mörder!‹. Bei dem Versuch, sich gewaltsam Zugang zu dem Verlagsgebäude zu verschaffen, kam es wiederum zu massiven Ausschreitungen zwischen den Demonstranten und der Polizei. Die Protestierenden warfen Scheiben ein, hinderten Auslieferungswagen an der Weiterfahrt und setzten parkende Springer-Transporter in Brand. Nicht nur in Berlin, auch in Frankfurt und Hamburg fanden Protestkundgebungen vor Ge85 | SCHNEIDER, Den Kopf verkehrt aufgesetzt, S. 149f. 86 | KUNZELMANN, Leisten Sie keinen Widerstand!, S. 95f. 87 | ENZENSBERGER, Die Jahre der Kommune I, S. 276.

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bäuden des Springer-Imperiums statt. In den folgenden Tagen weitete sich der wütende Protest der studentischen Bewegung in siebenundzwanzig Städten zu den sogenannten ›Osterunruhen‹ aus. Dabei unterstützten auch Teilnehmer des traditionellen Ostermarsches gegen Abrüstung Blockaden, Kundgebungen und Aktionen, die einen Auslieferungs-Stopp von Springer-Zeitungen mittels Gewalt erwirken sollten. Bürgerkriegsähnliche Kampfsituationen waren zu verzeichnen, die Polizei sicherte die bundesdeutschen Springer-Filialen mit Hundertschaften, Panzerautos und Wasserwerfern ab.88 Innerhalb der Protestszene entwickelte sich zunehmend eine ›Wir gegen die anderen‹-Mentalität. Eine stärkere bewegungsinterne Solidarität ging mit einem stärkeren Hass auf die Gegner einher.89 Von daher schlussfolgert die Soziologin Donatella della Porta über den Zusammenhang von Emotionen und der Radikalisierung der bundesdeutschen 68er-Bewegung: »Die Gewaltakzeptanz der Aktivisten wuchs mit ihrer emotionalen Investition in die Politik und ihre emotionale Investition wuchs mit ihrer Gewalterfahrung.«90 Das Kölner SDS-Mitglied Rainer Kippe bestätigt die These der Sozialwissenschaftlerin, wenn er über seine emotionalen Motive spricht, die für ihn den Ausschlag zum Gewalthandeln gaben: »Da fühlst du die Ohnmacht gegen diesen übermächtigen Staatsapparat, der völlig willkürlich handelt. […] Du wirst zusammengeschlagen, eingesperrt, die können dich auch totschlagen. Dutschke haben sie in den Kopf geschossen. Dann sagst du, die haben Waffen, jetzt wende ich gegen diese Ohnmacht Gewalt an wie ein Fanal.« 91

Als emotionalen Entstehungskontext für die individuelle Entscheidung zum gewalttätigen Protest beschreibt der SDS-Aktivist die Wahrnehmung eines allgegenwärtigen Klimas der Gewalt, das durch das oftmals überzogene Eingreifen der Polizei entstand. Als sich die Lage zwischen Demonstranten und Vertretern der Staatsmacht immer weiter zuspitzte, gewann das Gewalthandeln eine gewisse Eigendynamik. Um der empfundenen Ohnmacht entgegenzuwirken, sah Kippe kein anderes Mittel der politischen Auseinandersetzung mehr als den bedingungslosen Einsatz physischer Gewalt. Das Gefühl, im Recht zu sein und Rechtsverletzungen von staatlicher Seite zu beobachten, stärkte die Selbstsicherheit der Protestierenden und ermutigte sie dazu, dem empfundenen Unrecht auch auf gewaltsame Art und Weise entgegenzutreten.92

88 | Vgl. LINDNER, Jugendprotest seit den fünfziger Jahren, S. 206ff. 89  |  Vgl. DELLA PORTA, Gewalt und die Neue Linke, S. 491. 90 | DELLA PORTA, Gewalt und die Neue Linke, S. 491. 91 | KIPPE, Rainer: Wenn du etwas Praktisches ganz unten machst, kannst du immer etwas verändern. In: Karl-Heinz Heinemann/Thomas Jainter (Hg.): Ein langer Marsch. 1968 und die Folgen, Köln 1993, S. 84-95, hier S. 87. 92 | Vgl. RAHBEL/FUHRMANN/KNOLL, Die Provokationselite.

8. Gewalt

Die Teilnahme an gewalttätigen Zusammenstößen mit Vertretern der verhassten Staatsgewalt militarisierte die Einstellung der Aktivisten. Obwohl sich nur eine vergleichsweise kleine Gruppe regelmäßig und aktiv an den Straßenkämpfen beteiligte, so stießen im männlich dominierten antiautoritären Protestmilieu »alle Aktionen samt ihren gewalttätigen Auswüchsen auf breite Akzeptanz.«93 Nach den massiven Unruhen im Frühjahr 1968 waren viele Protestaktivisten festgenommen und verurteilt worden, andere warteten noch auf ihre Strafverfahren wegen Demonstrationsdelikten. Die ›68er‹ deuteten das massive juristische Vorgehen des bundesdeutschen Staates gegen sie als weiteren Beweis seines unterdrückerischen, gewaltsamen Charakters. Insofern erfuhr die soziale Bewegung eine neue Welle der Mobilisierung und Solidarisierung. Das Gewaltpotential unter den linksstehenden Protestierenden stieg, da sich diese nach Revanche für das erlittene Unrecht sehnten. Am 4. November 1968 ereignete sich in Berlin erneut ein gewaltsamer Konflikt zwischen der 68er-Bewegung und der Polizei, bei dem eine weitere Stufe der Militanz erreicht wurde. Anlass des Protests war ein von der Generalstaatsanwaltschaft eingeleitetes Ehrengerichtsverfahren gegen den APO-Anwalt Horst Mahler. Dieser hatte nach dem Attentat auf Rudi Dutschke den Protestmarsch auf das Springer-Haus in Berlin angeführt, bei dem es zu Gewaltausbrüchen gekommen war. Mahler drohte bei Verurteilung der Ausschluss aus der Anwaltschaft. Während des Verfahrens, das im Landgericht am Tegeler Weg stattfand, versammelten sich die Protestierenden zunächst vor den Polizeisperren. Unter den Demonstrierenden befanden sich neben Studenten erstmals zahlreiche Arbeiter sowie Mitglieder der gewaltbereiten Rocker-Szene.94 Zufällig parkte plötzlich ganz in der Nähe ein Lastwagen, der graue Vierkantsteine geladen hatte. Die Protestteilnehmer nahmen die unverhoffte Chance wahr, kletterten auf die Ladefläche des Lkws und öffneten diese, so dass die Steine herunterfielen. Neben mitgebrachten Rauchkerzen, Knallkörpern, Flaschen und weiteren aus dem Gehsteig gerissenen Pflastersteinen dienten die Vierkantsteine den Protestierenden für mindestens eine Stunde als Waffen gegen die überrumpelten Ordnungshüter, die nun einem gewaltigen Hagel aus Wurfgeschossen ausgesetzt waren. Die Polizisten waren nicht auf das Ausmaß der Militanz und Gewaltbereitschaft der Protestierenden vorbereitet und befanden sich deutlich in der Minderzahl. Einem der Aktivisten gelang es vorübergehend sogar, einen polizeilichen Wasserwerfer in seine Gewalt zu bringen und den Wasserstrahl auf die Vertreter der Staatsmacht zu richten. Die angegriffenen Polizisten begannen, in die 93 | FOLKERS, Die Studentenbewegung und die Gewalt, S. 20. 94 | Die gesellschaftlich marginalisierten Mitglieder der Rocker-Subkultur neigten durch die Erfahrung eines von Ausgrenzung und Misserfolg geprägten Alltags zu latenter Aggressivität. Über ihre Affinität zu körperlichen Auseinandersetzungen zeigten sie sich in der ›Schlacht am Tegeler Weg‹ nur vorübergehend solidarisch mit den studentisch dominierten Protesten der 68er-Bewegung gegen das ›Establishment‹. Vgl. LINDNER, Jugendprotest seit den fünfziger Jahren, S. 231.

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Defensive gedrängt, damit, Steine zurückzuwerfen und setzten erstmals Tränengas ein, während die Demonstrierenden versuchten, Sperrgitter niederzureißen und in das Landgericht einzudringen. Dies konnte letzten Endes durch die zur Verstärkung gerufene berittene Polizei verhindert werden.95 Dennoch bewertete die Protestbewegung die sogenannte ›Schlacht am Tegeler Weg‹ als bedeutenden erstmaligen Sieg im Straßenkampf, wie das ehemalige SDS-Mitglied Klaus Hartung aus der Retrospektive angibt: Es gelang, »[…] die Polizei mehrfach zurückzuschlagen. Am Schluß waren zehnmal mehr Polizisten verletzt als Genossen. In militärischen Kategorien hatten wir den ersten Sieg auf der Straße errungen.«96 Die Mitglieder der maskulin codierten 68er-Bewegung, die ihre Vätergeneration für ihre militärische Karriere verachteten, feierten nun voller Stolz ihre eigenen ›militärischen Siege‹. Die jungen Oppositionellen hatten es geschafft, sich aus dem Opferstatus zu befreien, indem sie ihre Gegner durch den massiven Einsatz von Gewalt verängstigen, verletzen und vorübergehend in die Flucht schlagen konnten. Ein männlicher Polit-Aktivist namens Edwin, der in der ›Schlacht am Tegeler Weg‹ teilgenommen hat, beschreibt ein überwältigendes Hochgefühl nach dem Gewalterlebnis: »Ich kann mich da noch gut daran erinnern, wie die Polizisten abgehauen sind. Und das war ein solches Machtgefühl. Zu sagen, dass wir es endlich geschafft haben, mal nicht verdroschen zu werden, sondern es denen mal gezeigt zu haben.« 97

Aus dem Bericht des ›68ers‹ gehen keinerlei Mitleid oder Bedauern für die möglichen körperlichen und psychischen Leiden und Verletzungen der Opfer hervor, sondern lediglich Schadenfreude, sowie Triumph- und Überlegenheitsgefühle. Die Protestierenden tauschten das altbekannte Gefühl der Ohnmacht und Unterlegenheit gegen das Erleben von kraftvoller Handlungs- und Verletzungsmacht. Das reflexive Bewusstsein, zum Täter geworden zu sein, beziehungsweise sich durch aggressives und gewalttätiges Verhalten moralisch und rechtlich selbst schuldig gemacht zu haben, fehlte den Bewegten von ›1968‹ in diesem Moment. Die Anwendung von Gewalt diente den Protestierenden zur Befriedigung ihres Revanchebedürfnisses, zur Steigerung ihres Selbstwertgefühls und zur Erzeugung von Macht- und Lustgewinn.98 95 | Vgl. MÜLLER, Berlin 1968, S. 288ff. 96 | HARTUNG, Klaus: Versuch, die Krise der antiautoritären Bewegung wieder zur Sprache zu bringen. In: Kursbuch 48 (1977), S. 14-43, hier S. 30. 97 | Zeitzeuge Edwin zitiert nach: LIND, Carmen: Gewalterfahrung. 2. Juni als Wendepunkt der 68er Bewegung. In: Falk Blask/Thomas Friedrich (Hg.): zweitausend8undsechzig (Berliner Blätter, Ethnographische und ethnologische Beiträge, Heft 48), Münster 2008, S. 145-159, S. 155. 98  |  Vgl. VON SCHEVE/FÜCKER, Emotionen, S. 198.

8. Gewalt

Die ›Schlacht am Tegeler Weg‹ markiert in der Bewegungsforschung zur 68er-Revolte den Übergang von spontaner zu geplanter Gewalt von Seiten der Protestaktivisten. Das führende SDS-Mitglied Christian Semler schildert diesbezüglich: »[…] mir [war] von vornherein klar, daß ich eben so militant wie möglich vorgehen würde […].«99 Nach dem Motto ›Macht kaputt, was euch kaputt macht‹, wurde physische Gewalt zu diesem Zeitpunkt im Verständnis mancher sich radikalisierender Trägergruppen der Revolte endgültig zum probaten und einzig verheißungsvollen Mittel des politischen Protests. Der Einsatz von ›symbolischer Gewalt‹ im Sinne begrenzter Regelverletzung steigerte sich zunächst zur ›Gewalt gegen Sachen‹ und schließlich zur ›Gewalt gegen Personen‹. Es entwickelte sich der Fehlschluss, »daß das Militantere auch das politisch Richtigere sei«.100 Viele Protagonisten der 68er-Bewegung ließen ihren gegen die Staatsmacht gerichteten Aggressionen nun freien Lauf. Sie besuchten die Demonstration am Tegeler Weg gemäß Klaus Hartung bereits mit der festen Intention, eine Straßenschlacht mit der Polizei anzuzetteln: »Wir hatten uns auf einen Angriff vorbereitet, mit Helmen und Stöcken. Die ersten Reihen für den Sturm auf die Polizeibarriere waren festgelegt.«101 Die gewaltbereiten Demonstranten hatten sich also mit schützenden Kopf bedeckungen, Bewaffnung und strategischer Aufstellung für den Kampf gerüstet. In der antiautoritären Protestszene kursierten im Zuge der zunehmenden Radikalisierung immer häufiger Tipps zur idealen Ausrüstung für den Straßenkampf in Form von Flugblättern. Im verbandseigenen Informationsblatt des SDS, SDS Info, findet sich ein Beitrag der Republikanischen Hilfe – einer Rechtshilfeorganisation der Außerparlamentarischen Opposition – in dem unter anderem auf das empfohlene Verhalten bei Demonstrationen eingegangen wird: »Entsprechende Kleidung: wasserdicht, gegen Schläge gepolstert, Kopfschutz (Helme, besond. Motorradhelme), dicke Handschuhe (um Tränengaspatronen zurückwerfen zu können, Hamburger Reiter102 wegziehen zu können, die Bullen schlagen dann meistens auf die Finger), zitronengetränkte Tücher gegen Tränengas, adäquate Verteidigungsmittel.« 103

Die in der linksalternativen Szene als angemessen geltende Protestausrüstung offenbarte die Absicht, gewalttätig zu handeln und den Gegner willkürlich körperlich zu verletzen. Ferner verrieten Anleitungen zum Bau von Bomben und 99  |  Christian Semler, in: Django und die Tradition. Die letzte SDS-Delegiertenkonferenz, S. 176. 100 | HARTUNG, Versuch, S. 36. 101 | HARTUNG, Versuch, S. 30. 102  |  ›Hamburger Reiter‹ sind Polizeigitter, die zu temporären Absperrungen bei Demonstrationen eingesetzt werden. 103 | Republikanische Hilfe: Verhalten bei Demonstrationen, Festnahmen, Prozessen und in der Haft. In: SDS Info, 2. Jg., Nr. 7/8, 20. Februar 1969, S. 48-53, hier S. 49. In: IfZ Archiv, Dn 012.

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Molotowcocktails, die im antiautoritären Milieu die Runde machten, das Maß der gewaltsamen Radikalisierung.104 Die Euphorie des vermeintliches Sieges der ›Schlacht am Tegeler Weg‹ beflügelte die Mitglieder des SDS und ließ sie auf der kurz darauf stattfindenden Delegiertenkonferenz in Hannover zu dem Schluss kommen, es sei ein »[…] strategisches Erfordernis […], im Bewußtsein der Studenten eine neue Phase von Militanz [zu] legitimieren […].«105 Der SDS-Funktionär Christian Semler sprach sich dafür aus, Gewalthandeln in das Protestrepertoire der Bewegung aufzunehmen: »Und was wir daraus lernen, aus dieser Demonstration, ist das, daß wir […] solche Aktionen […] planen können und daß wir auch den Einsatz von Gewalt planen können.«106 Im fortgeschrittenen Stadium der Protestverlaufs waren eine endgültige Enttabuisierung von Gewalt und eine zunehmende Erosion rechtsstaatlichen Denkens zu beobachten.107 Die maskulin codierte 68er-Bewegung als emotionale Gemeinschaft legitimierte also Gewalt initiierende und begünstigende destruktive Gefühle des Hasses und des Zorns als Bestandteil ihres kollektiven emotionalen Repertoires. Das Thema Gewalt dominierte fortan nicht nur die Diskussion innerhalb der Protestgemeinschaft, sondern auch die öffentliche Darstellung der Bewegung, was zu Ungunsten der politischen Inhalte ausfiel. Laut Wolfgang Kraushaar war die gestiegene Militanz »ein Indiz für die allmählich schwindende politische Dimension der Rebellion.«108 Gewaltbereite Akteure drängten sich in den Vordergrund, während politische Zielsetzungen aus dem Blickfeld gerieten und eine allgemeine Orientierungslosigkeit um sich griff. Die Protestbewegung büßte ihre Kohäsionskraft ein, neue gewaltaffine linksradikale Randgruppen bildeten sich heraus, die das südamerikanische Modell der Stadtguerilla in der Bundesrepublik verwirklichen wollten.109 Linksextremistische Gruppen wie die Tupamaros Westberlin oder der Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen zeichneten sich durch die Romantisierung von Kriminalität und ein überschäumendes Aggressions- und Destruktionspotential aus, das sich in Hassgefühlen und Eliminierungsfantasien gegenüber der Polizei ausdrückte.110 Terrorgruppen wie die Bewegung 2. Juni und die Rote Armee Fraktion gingen in den Untergrund, um eine 104 | Vgl. LINDNER, Jugendprotest seit den fünfziger Jahren, S. 225. 105 | Jürgen Krahl, in: Django und die Tradition. Die letzte SDS-Delegiertenkonferenz, S. 175. 106  |  Christian Semler, in: Django und die Tradition. Die letzte SDS-Delegiertenkonferenz, S. 176. 107 | Vgl. LANGGUTH, Mythos ’68, S. 104. 108 | KRAUSHAAR, Wolfgang: Blues, Haschrebellen, Tupamaros und Bewegung 2. Juni. In: Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hg.): 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart/Weimar 2007, S. 261-277, hier S. 264. 109 | Vgl. KRAUSHAAR, Blues, S. 264. 110 | Vgl. KRAUSHAAR, Blues, S. 270.

8. Gewalt

revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft mit Waffengewalt zu erzwingen. Wie unter anderem der Politikwissenschaftler Gerd Langguth nachgezeichnet hat, ebnete die Gewaltkultur und -rhetorik der 68er-Bewegung den Weg zum Linksterrorismus der 1970er Jahre.111 Dieser darf zwar nicht monokausal als unmittelbares Produkt und integrativer Bestandteil der studentischen Protestbewegung betrachtet werden, dennoch muss festgehalten werden, dass die Rebellion von ›1968‹ ein emotionales Klima schuf, in dem die Hemmschwelle für politisches Gewalthandeln sank.112 Laut dem APO-Aktivisten Volkhard Brandes war für viele Anhänger des linksoppositionellen Protestmilieus der Übergang vom politischen Protest zur terroristischen Gewalt zumindest auf der Gefühlsebene nachvollziehbar: »Für wen, der damals dabei war, war denn jener Schritt, den dann doch nur wenige taten, wirklich so unvorstellbar? Die Wut, der Haß und die Power trieben uns doch alle in Situationen, in denen Entscheidungen auf uns zukamen, die wir uns wenig früher kaum hätten vorstellen können. […] Manch einer liebäugelte mit der Gewalt – wenn es auch meist beim Gedanken blieb.« 113

Obgleich ein überwiegender Großteil der Protestteilnehmer von ›1968‹ nicht den Weg in den militanten Untergrund wählte und sich von den menschenverachtenden Gewaltakten linksterroristischer Gruppierungen distanzierte, waren es laut Brandes wohlbekannte Wut- und Hassgefühle, die Mitglieder der antiautoritären Szene zumindest über ein Bekenntnis zur politischen Gewalt nachdenken ließen.

8.6  Z wischenresümee Die Aktivisten der männlich dominierten 68er-Bewegung waren in ihrem Empfinden, was Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung betraf, zutiefst zwiegespalten. Zum einen war ihnen das aggressive, auf militärischen Drill und soldatischen Gehorsam ausgerichtete Männlichkeitsideal ihrer kriegerisch sozialisierten Vätergeneration zuwider, zum anderen zeigten sie sich fasziniert von den nicht minder gewaltsam agierenden Befreiungskämpfern der ›Dritten Welt‹. Die ›68er‹ verweigerten massenhaft den Wehrdienst und initiierten Kampagnen zur Kriegsdienstverweigerung, weil sie die Bundeswehr als Gewaltapparat eines imperialistischen Systems betrachteten. In den Unabhängigkeitsbewegungen ehemaliger Kolonialvölker sahen sie hingegen ein legitimes Auf begehren gegen 111 | Vgl. LANGGUTH, Mythos ’68, S. 88; Vgl. KAILITZ, Susanne: Von den Worten zu den Waffen? Frankfurter Schule, Studentenbewegung, RAF und die Gewaltfrage, Wiesbaden 2007, S. 1 und S. 70. 112 | Vgl. GILCHER-HOLTEY, Die 68er-Bewegung, S. 123f. 113 | BRANDES, Wie der Stein ins Rollen kam, S. 164.

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die inhumane Unterdrückung imperialistischer Aggressoren. Sie unterschieden zwischen ›repressiver Gewalt der Herrschenden‹ und ›befreiender Gewalt der Beherrschten‹ und schufen damit einen Mythos revolutionärer Gegengewalt. Insofern war die bundesdeutsche 68er-Bewegung keine pazifistische Protestbewegung, in deren kollektiver Emotionskultur aggressive und destruktive Gewaltgefühle verpönt waren. Die überwiegend männlichen Protestteilnehmer verklärten sozialistische Revolutionsführer und todesverachtende Guerillakämpfer zu Helden und fanden in ihnen Identifikationsvorbilder. Tradierte maskuline Attribute wie Entschlossenheit, Härte, Stärke und Wehrhaftigkeit blieben in den emotionalen Habitus der jungen Oppositionellen eingeschrieben. Durch ihre bedingungslose Solidarisierung mit kolonialen Befreiungsbewegungen verloren sie außer Augen, dass sie zum Teil inhuman agierende Diktatoren wie Mao Tse-Tung verehrten, die ›kontrarevolutionäre Kräfte‹ in ihrem Land brutalen Unterdrückungsmaßnahmen aussetzten. Die Protestbewegung fühlte sich als verfolgte Minderheit, die dem Gewaltmonopol der bundesdeutschen Staatsmacht ohnmächtig gegenüberstand. Von daher konnte sie sich für die Strategie des Guerillakampfes begeistern, die es kleinen Kampftruppen ermöglicht, durch nadelstichartige, subversive Überraschungsangriffe militärische Siege gegenüber einem überlegenen Gegner zu erzielen. Anders als große staatliche Militärapparate, die nur durch ein hierarchisches Befehlssystem und strikten Gehorsam funktionieren, zeichnen sich die bandenartigen Guerillagruppen durch Flexibilität und Eigenständigkeit aus, was den auf Freiheit und Partizipation gepolten Antiautoritären entgegenkam. Die Entscheidung zahlreicher ›68er‹, auf Demonstrationen selbst gewaltsam zu agieren, wurde befördert durch ein Gefühl der Verbundenheit mit den moralisch rechtschaffenen Guerilleros der ›Dritten Welt‹. Den Mitgliedern der antiautoritären Protestszene gelang es mithilfe einer provokativen Demonstrationsstrategie, sich Gehör für ihre politischen Ziele zu verschaffen. Sie gerieten jedoch unter Druck, die Qualität des Normbruches ihrer Protestaktionen sukzessive steigern zu müssen, um die öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Anliegen weiterhin aufrecht zu erhalten. Die kreativen und gewitzten aktionistischen Protestformen mischten sich deshalb zusehends mit illegalen und aggressiven Verhaltensweisen. Die männlichen Protestteilnehmer sahen physische Konfrontationen mit der Polizei als ein kompetitives Kräftemessen zwischen Männern und erlebten diese emotional als lustvoll und erfüllend. In der maskulin codierten Protestgemeinde dienten gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht, die zunächst verharmlosend ›Keilereien‹ oder ›Kabbeleien‹ genannt wurden, zur Demonstration von Männlichkeit und als Mittel homosozialer Vergemeinschaftung. Es bildete sich ein linksalternatives Männlichkeitsideal heraus, das sich durch herausforderndes, draufgängerisches und angriffslustiges Protestverhalten auszeichnete. Die zur Norm erhobene männliche Militanz auf Demonstrationen war durch einen spielerischen, vergnüglichen und lustbetonten Charakter geprägt. Der geradezu leichtfertige und überschwängliche Umgang mit politischer Gewalt änderte sich, als der Student Benno Ohnesorg auf einer

8. Gewalt

Demonstration gegen den Staatsbesuch des persischen Schahs von einem Polizisten erschossen wurde. Das unverhältnismäßige harte und gewalttätige Vorgehen der Ordnungshüter gegenüber den Demonstrierenden am 2. Juni 1967 machte die Aktivisten der außerparlamentarischen Bewegung fassungslos und zutiefst betroffen und bestätigte deren Zweifel an der Rechtmäßigkeit der staatlichen Autorität. Durch die Erfahrung massiver körperlicher Gewalt und den gewaltsamen Tod eines Kommilitonen erfuhren die linksstehenden Studenten ein kollektives Trauma. Schmerzhaft wurde ihnen die eigene Sterblichkeit bewusst. Die Protestbewegung als emotionale Gemeinschaft war fortan geprägt von einem Gefühl der existentiellen Bedrohung, das noch einmal neu entfacht wurde, als der Studentenführer Rudi Dutschke am 11. April 1968 einem politisch motivierten Attentat zum Opfer fiel. Bei der Legitimation von Gewalt spielten innerhalb der 68erBewegung kollektive Emotionen des Schmerzes, des Verlustes, des Leidens und vor allem auch der Angst eine große Rolle. Im Kreis der jungen Oppositionellen fürchtete jeder, das nächste Mordopfer zu sein. Das Gefühl der Bedrohung löste bei den Protestierenden reaktive Aggressionen aus und wurde von der antiautoritären Bewegung zudem bewusst geschürt und instrumentalisiert, um die Anwendung körperlicher Gewalt ihrerseits als Gegenwehr zu rechtfertigen. Da Verletzungsoffenheit kulturell weiblich codiert ist, nutzte die männlich dominierte Bewegung Gewalt als Ressource zur Wiederherstellung von Handlungs- und Verletzungsmacht. Der Anschlag auf Rudi Dutschke entfesselte innerhalb der Protestgemeinde schwelende Gefühle der Wut und des Hasses, die Eingang in das normative Emotionsrepertoire der Bewegung fanden. Die Polit-Aktivisten schworen Rache und stürmten Niederlassungen der Springer-Presse, deren aufhetzender, antistudentischer Berichterstattung sie die Schuld an dem Attentat gaben. Dementsprechend entwickelten sie immer starrer und rigider werdende Freund-Feind-Schemata. Außerdem militarisierten die gewaltsamen Zusammenstöße mit den Vertretern der Staatsmacht die Protagonisten der 68er-Bewegung. Eine endgültige Enttabuisierung von Gewalt und der Übergang von spontaner zu geplanter Gewalt von Seiten der Protestierenden fanden am 4. November 1968 im Rahmen der sogenannten ›Schlacht am Tegeler Weg‹ statt. In dieser zum Straßenkampf eskalierenden Protestveranstaltung war die Polizei nicht auf die enorme Gewaltbereitschaft der Demonstrationsteilnehmer vorbereitet, was dazu führte, dass die ›68er‹ ihrem Empfinden nach erstmals einen ›militärischen Sieg‹ hatten erringen können. Es gelang den Oppositionellen, die Polizisten zurückzudrängen und zahlreiche Beamte zu verletzen. Die Protestaktivisten triumphierten und verspürten neben Schadenfreude vor allem Machtgefühle. Im Zuge dieser Gewalteskalation schwand das rechtsstaatliche Denken sowie das moralische Unrechtsbewusstsein bei den Bewegten von ›1968‹. Das Thema Gewalt dominierte nach der ›Schlacht am Tegeler Weg‹ die bewegungsinterne Diskussion und die öffentliche Darstellung der 68er-Bewegung zusehends, was sich negativ auf die politischen Inhalte auswirkte, die dadurch aus dem Blickfeld gerieten. Obgleich nur einzelne Mitglieder der antiautoritären

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Protestbewegung in den Linksterrorismus abdrifteten, schuf die linke Szene in den späten 1960er Jahren ein emotionales Klima, das politisches Gewalthandeln gegen den bundesdeutschen Staat förderte.

9. Scheitern

Der revolutionäre Elan der Protestierenden begann nach den Osterunruhen im April 1968 allmählich zu erlahmen. Trotz des massiven Widerstands der außerparlamentarischen Opposition verabschiedete die große Koalition am 30. Mai 1968 die Notstandsgesetze, mittels derer in Krisensituationen die Grundrechte der deutschen Bürger eingeschränkt werden konnten. Gerade die Proteste der studentischen Bewegung, die sich nach dem Attentat auf Rudi Dutschke zu gewaltsamen Ausschreitungen entwickelt hatten, bestätigten das Vorhaben des Bundestages, die Notstandsverfassung zum Schutz der rechtsstaatlichen Ordnung auf den Weg zu bringen. Über diesen herben politischen Rückschlag hinaus hatte die Bewegung mit dem lebensgefährlich verletzten Rudi Dutschke eine charismatische Führungsfigur verloren. Der Höhepunkt der Revolte war gegen Ende des Jahres 1968 bereits überschritten. Die Ausstrahlungskraft der Bewegung ließ nach, zumal die einstmals gleichgerichteten Ziele vielen Anhängern immer diffuser und unerreichbarer erschienen. Je mehr sich die 68er-Bewegung dazu gezwungen sah, »einen positiven Entwurf vorzulegen, was sie an die Stelle der abgelehnten Ordnung setzen will, umso mehr war sie mit Richtungskämpfen, mit sich selbst beschäftigt.«1 Die Rebellion, die von ihrer nicht-institutionalisierten Spontanität gelebt hatte, büßte mit der Zeit an Integrationsfähigkeit ein. Für zahlreiche Mitläufer besaß der antiautoritäre Protest nur Modecharakter und verlor nach einigen politischen Misserfolgen schnell seinen Reiz, nicht wenige Mitglieder der linken Protestszene wandten sich auch aufgrund der zunehmenden Gewaltsamkeit der Protestaktionen ab.2 Im September 1969 kam es darüber hinaus zu einem Regierungswechsel. Willy Brandt wurde mit dem Appell Mehr Demokratie wagen zum Bundeskanzler einer sozialliberalen Koalition, die in den Folgejahren eine der wichtigsten Leitlinien der 68er-Bewegung aufgriff, nämlich die Partizipationschancen der Bürger zu erweitern. Der Regierungswechsel zeigte den Anhängern des linken Protestmilieus, dass das politische System der Bundesrepublik doch nicht so un1 | LANGGUTH, Mythos ’68, S. 108. 2 | Vgl. LANGGUTH, Mythos ’68, S. 108.

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beweglich und reformresistent war, wie angenommen. Willy Brandt stellte eine Identifikationsfigur für viele idealistische junge Menschen dar, weshalb es der SPD in der Folgezeit gelang, einen Teil der Aktivisten und Sympathisanten der Protestbewegung für sich zu gewinnen.3 Im Zuge veränderter Ausgangsbedingungen hatte die 68er-Bewegung in ihrer Funktion als politischer und emotionaler Gegenpol zum herrschenden System ausgedient. In der Auseinandersetzung mit der Organisationsfrage und angesichts ideologischer Streitpunkte zerfiel die außerparlamentarische Bewegung in den Jahren 1969 und 1970 schließlich in rivalisierende Parteien, Sekten, Gruppen und Subkulturen.4 Der einstige Motor der studentischen Protestbewegung, der SDS, war nur noch eine inhaltsleere Hülle, als er im Jahr 1970 offiziell aufgelöst wurde. Was der sukzessive Zerfall der antiautoritären Bewegung und das allmähliche Bewusstwerden des politischen Scheiterns für die kollektive Gefühlswelt der Protestierenden bedeutete, soll nun im Zentrum der Analyse stehen. Zum Abschluss der vorliegenden Studie ist es von Interesse, wie die Mitglieder der maskulin codierten 68er-Bewegung den Wert und Nutzen ihrer Tätigkeit im Namen der Revolution bewerteten und mit welchen Emotionen sie nach dem Ende der Revolte von ›1968‹ in die Zukunft sahen. Um zu eruieren, wie die jungen Oppositionellen die Auflösung des Protestkollektivs emotional verarbeiteten, ist ein Blick in das Umfeld der Neuen Linken in den 1970er Jahren unablässig.

9.1 E rschöpfung Diejenigen Protestaktivisten, die zum harten Kern der männlich dominierten 68er-Bewegung gehörten, widmeten einem Großteil ihrer Zeit und Energie der politischen Arbeit. Das Bild des entschlossenen Berufsrevolutionärs dominierte die hegemoniale Männlichkeitsnorm der linken Protestszene, weshalb die jungen Männer einen unermüdlichen und tatkräftigen Einsatz für die politischen Ziele der Bewegung als ihre moralische Pflicht und oberste Handlungsmaxime begriffen. Für die studentischen Aktivisten bedeutete der rastlose politische Einsatz, gemäß Klaus Theweleit, einen körperlichen, geistigen und emotionalen Kraftakt: »Diese Art Leben ist sehr auszehrend. Wenn man das zwei bis drei Jahre macht, AktionsLeben in permanenter Selbstüberforderung […], gelangt man an die Grenze psychischer und physischer Zusammenbrüche. Das Studium war für viele sowieso aufgegeben, […] die meisten Linken hatten längst ›ihre Akte‹, man wußte […] man wird nicht mehr Lehrer oder Professor, Staatsbeamter […].« 5

3 | Vgl. GILCHER-HOLTEY, Die 68er-Bewegung, S. 116. 4 | Vgl. GILCHER-HOLTEY, Die 68er-Bewegung, S. 95. 5 | THEWELEIT, Bemerkungen zum RAF-Gespenst, S. 28.

9. Scheitern

Das Freiburger SDS-Mitglied beschreibt das Leben als aktiver ›68er‹ als anstrengend, aufreibend und zermürbend. Wie er angibt, hatten sich viele engagierte Protestteilnehmer rasch von ihrem geordneten bürgerlichen Leben verabschiedet und ihre Hochschulausbildung abgebrochen. Da die meisten aktiven Mitglieder der antiautoritären Bewegung im Laufe der Zeit mit dem Gesetz in Konflikt geraten und wegen Demonstrationsdelikten belangt worden waren, war ihnen laut Theweleit bewusst, dass ihnen eine Karriere im Staatsdienst ohnehin verwehrt bleiben würde. Tatsächlich beschloss Bundeskanzler Willy Brandt zusammen mit den Regierungschefs der Länder im Jahr 1972 Grundsätze über die Mitgliedschaft von Beamten in extremen Organisationen. Der heftig umstrittene Radikalenerlass legalisierte eine Überprüfung der Verfassungstreue von Personen, die sich auf Stellen im öffentlichen Dienst bewarben. Der Vorwurf des verfassungsfeindlichen Agierens machte es für zahlreiche ehemalige Mitglieder der 68er-Bewegung in den 1970er Jahren unmöglich, in den gewünschten Beruf einzutreten.6 Theweleit zeichnet das Bild einer Generation, die die Aussicht auf einen künftigen Lebensweg innerhalb des Systems bereits aufgegeben hatte. Der Wille, die bestehenden Verhältnisse umzuwälzen, war für die Protagonisten der Protestbewegung spätestens gegen Ende des Jahres 1968 mit dem Bewusstsein vermischt, dass ein erfüllendes Leben im Rahmen der vorherrschenden Ordnung für sie unmöglich geworden war. In diesem Zusammenhang räumt der führende SDS-Aktivist Peter Schneider ein, sich »tagsüber in der Gruppe kampf bereit und euphorisch« gegeben zu haben und nachts unter »Depressionen und Alpträumen«7 gelitten zu haben. Wie es scheint, führte Schneider ein Doppelleben, indem er vor seinen Genossen Stärke, Leidenschaft und Entschlossenheit demonstrierte, obwohl er sich, wenn er allein war, ängstlich, bedrückt und mutlos fühlte. Von der im linksalternativen Protestmilieu gültigen Emotionsordnung ging ein normierender Druck aus, keine Schwäche zu zeigen und nicht am revolutionären Sieg zu zweifeln. Dieser verursachte bei einzelnen Protestaktivisten, wie bei Schneider, offenbar emotionales Leiden: Das SDS-Mitglied konnte seine authentischen Gefühle des Trübsinns und der Angst nicht vor seinen Mitstreitern offenbaren und musste dem Kollektiv stattdessen ein bewegungskonformes Gefühlsrepertoire vorspielen. Ähnlich ging es in dieser Hinsicht dem Kommunarden Ulrich Enzensberger. Obwohl er vollkommen erschöpft war, fühlte er sich vor allem von seinem Mitbewohner Dieter Kunzelmann dazu genötigt, den aktionistischen Protestalltag unbeirrt weiterzuführen: »[…] ich wurde dieser dauernden Verpflichtungen überdrüssig. Diese ewigen Aktionen, Dieter, der Unermüdliche. Auch ihm zuliebe hatte ich immer weiter mitgemacht, auch aus Angst vor seiner sonst drohenden eisigen Verach-

6 | Vgl. RIGOLL, Dominik: Staatsschutz in Westdeutschland: von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr, Göttingen 2013, S. 342f. 7 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 261.

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tung.«8 Für Enzensberger wurde die politische Aktion mit der Zeit zur lästigen Pflicht. Der Grund, warum er nicht seiner körperlichen und seelischen Verfassung entsprechend, ausstieg, lag für den Bewohner der Kommune I ebenfalls in der Furcht, gegen das bewegungsinterne Gefühlsprogramm zu verstoßen und vom Protestkollektiv für abweichende Gefühlsäußerungen verachtet zu werden. Viele junge Männer, die der bundesdeutschen 68er-Bewegung angehörten, so das APO-Mitglied Lutz von Werder, »[…] haben kostenlos […] 12, 14 Stunden am Tag gearbeitet, haben sich medizinisch schlecht versorgt und sind auch körperlich runtergekommen.«9 Wie der rezente Diskurs der Männergesundheitsforschung kenntlich macht, ist Männlichkeit, was den Umgang mit Gesundheit betrifft, kontraproduktiv. Männer gehen schonungsloser mit ihrer Gesundheit um, was sich unter anderem mit der Erfüllung einer tradierten Geschlechterrolle erklären lässt, die mit Belastbarkeit, Tapferkeit und Härte assoziiert ist. Ein empfindsames, sensibles Gespür für Körpersignale wird hingegen stereotyp dem angeblich gefühlsbegabteren weiblichen Geschlecht zugeschrieben. Männliche Identität ist soziokulturell mit physischer Stärke, intellektueller Leistungsfähigkeit sowie Macht und Kontrolle gleichgesetzt, weshalb es sich für das männliche Geschlecht schwieriger gestaltet, körperliche und seelische Schmerzen und Gebrechen einzuräumen. Gesundheitliche Beschwerden werden von Männern häufiger ignoriert und abgewehrt.10 Ein ungenügendes Körperbewusstsein charakterisierte auch die Mitglieder der männlich dominierten Revolte von ›1968‹ in einer für sie enorm belastenden Lebenssituation. Als die politische Bewegung bereits im Zerfall begriffen war, verleugneten sie ihre Müdigkeit und Kraftlosigkeit und investierten ihre versiegende Energie trotzdem eisern in den Protest: »Ein wachsender Teil der APO verwandte immer mehr Anstrengung darauf, an der Revolution festzuhalten, die immer unwahrscheinlicher wurde. Verzweifelt versuchten viele, ihrem moralischen Anspruch an sich selbst gerecht zu werden […]. Momente der Schwäche, Anflüge von Kapitulation mußten verheimlicht, versteckt werden […].« 11

8 | ENZENSBERGER, Die Jahre der Kommune I, S. 220f. 9 | VON WERDER, Die Auseinandersetzung mit der Realität, S. 27. 10 | Vgl. FALTERMAIER, Toni: Männliche Identität und Gesundheit. Warum Gesundheit von Männern? In: Thomas Altgeld (Hg.): Männergesundheit. Neue Herausforderungen für Gesundheitsförderung und Prävention, Weinheim/München 2004, S. 11-34, hier S. 20f. Männergesundheit und Frauengesundheit weisen statistisch eindeutige geschlechtsspezifische Unterschiede auf. Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass Männergesundheit alters-, schicht- und regionalspezifisch sowie historisch variiert. Es existiert kein einheitliches männliches Gesundheitsverhalten. Vgl. DINGES, Martin: Männergesundheit in Deutschland: Historische Aspekte. In: Günther H. Jacobi (Hg.): Praxis der Männergesundheit, Stuttgart 2003, S. 24-33, hier S. 24. 11 | ENZENSBERGER, Die Jahre der Kommune I, S. 363.

9. Scheitern

Das körperriskante Handeln der männlichen ›68er‹ war demzufolge in einen kollektiv-kompetitiven Rahmen eingebunden. Aufzugeben war für die Protestaktivisten nicht möglich, weil sie fürchteten, sich sonst vor den Genossen als schwach und ›unmännlich‹ zu diskreditieren. Die Protest- und Gefühlskultur der bundesdeutschen 68er-Bewegung war laut Dieter Kunzelmann von immer krampfhafteren und verzweifelteren Versuchen gekennzeichnet, »[…] die Realität der Auflösung, des Zerfalls, der Trennungen, der Niederlagen zu negieren oder zu verdrängen.«12 Obwohl das Durchhalten und Weitermachen den Mitgliedern der linken Protestszene ab dem Herbst 1968 häufig nur noch qualvoll und wenig erfolgversprechend erschien, wollten sie die Tatsachen, dass sie von ihren kurzfristigen politischen Zielen keines erfolgreich umsetzen hatten können und die Bewegung insgesamt unter einem Kräfteschwund litt, nicht wahrhaben. Von weiblicher Seite ernteten die unnachgiebigen Genossen Unverständnis für die Unfähigkeit, sich ihre Erschöpfung und Entkräftung einzugestehen. Helke Sander warf den männlichen SDS-Mitgliedern im September 1968 auf der 23. SDSDelegiertenkonferenz vor: »Warum sagt ihr nicht endlich, dass ihr kaputt seid vom letzten Jahr, dass ihr nicht wisst, wie ihr den Stress länger ertragen könnt, euch in politischen Aktionen körperlich und geistig zu verausgaben, ohne damit einen Lustgewinn zu verbinden.«13 Damit sprach Sander aus, was die männlichen Polit-Funktionäre nicht zugeben konnten: Der Protest hatte für sie den lustvollen, euphorischen und enthusiastischen Charakter verloren und war zur unbefriedigenden Belastung geworden.

9.2 E rnüchterung und E nt täuschung Nach einer Phase der Verdrängung machte sich bei zahlreichen Protestaktivisten allmählich Ernüchterung breit. Eine »Entzauberung«14 der revolutionären Träume ging vonstatten. Dieter Kunzelmann führt an, dass das Gefühl der Desillusionierung das erste Mal nach den Osterunruhen Eingang in das kollektive Gefühlsprogramm der bundesdeutschen 68er-Bewegung fand. Er schildert den schmerzhaften Prozess der Ernüchterung als ein Aufwachen: »Und als sie [die Bewegung] nach Ostern aufwachte aus dem Rausch der Straßenschlachten, […] mußte sie ernüchtert feststellen: das Alltagsleben der Stadt nahm seinen gewohnt enervierenden Verlauf, und unter dem aufgerissenen Straßenpflaster fand sich keineswegs der Strand, der eine Ankunft an neuen Ufern verhieß. In jedem von uns war nach den Schüs-

12 | KUNZELMANN, Leisten Sie keinen Widerstand!, S. 112. 13 | Helke Sander, Rede auf der 23. SDS-Delegiertenkonferenz in Frankfurt. In: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 239 (Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, 1968– 1969). 14 | FREI, 1968, S. 143.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er sen auf Rudi und durch den vergeblichen Ansturm auf ein System, das diese Schüsse möglich gemacht hatte, etwas zerbrochen.« 15

Demnach wurde es den Protestierenden im Laufe der immer gewaltsamer ausfallenden Auseinandersetzungen mit der Polizei bewusst, dass sie dem bundesdeutschen Staatsapparat letzten Endes doch machtlos gegenüber standen und ihre leidenschaftlichen Bemühungen, das bestehende System radikal zu verändern, vergebens gewesen waren. Das Empfinden von Ohnmacht und das Bewusstwerden des politischen Misserfolgs haben laut Kunzelmann im Inneren der Revolteure etwas zerstört: Das von Optimismus, Tatkraft und Euphorie getragene Gefühl, die Revolution stünde vor der Tür, welches den linksstehenden jungen Menschen als emotionale Triebkraft zum Auf begehren gedient hatte, war ihnen abhanden gekommen. Sie wurden ungeduldig und nervös, da sie trotz ihrer immensen Anstrengungen keine unmittelbaren Veränderungen ihres sozialen Umfelds spüren und beobachten konnten. Stattdessen mussten sie mitansehen, wie die von ihnen bekämpfte gesellschaftliche und politische Ordnung in ihrer alltäglichen Selbstverständlichkeit ungestört fortbestand. Die große Enttäuschung der Protestaktivisten, so auch Michael Schneider, »bestand darin, daß unser kurzer politischer Kraftakt von zwei, drei Jahren nicht ausgereicht hatte, um die ›versteinerten Verhältnisse‹ dieser Republik ›zum Tanzen zu bringen‹.«16 Die Anhänger der 68erBewegung hatten ihr politisches Engagement auf die siegessichere Gewissheit gegründet, ihre Zukunft selbst aktiv gestalten und einen historisch bedeutsamen Wandel in Gang setzen zu können. In ihrem utopischen Zukunftspathos verhangen, hatten sie lange Zeit nicht realisiert, dass sie sich ihre politischen Ziele von Anfang an unerreichbar hoch gesteckt hatten. Insofern waren die Mitglieder der antiautoritären Protestgemeinde auch nicht auf die unweigerlich folgenden Gefühle der Enttäuschung und Ernüchterung vorbereitet, die das Eingeständnis gescheiterter Hoffnungen schließlich mit sich brachte. »Der Anschein, der einzige Ausweg sei die Revolution, verflog«17 endgültig im Herbst 1969, als die von den linken Studenten verhasste Große Koalition von einer reformwilligen sozialliberalen Regierung abgelöst wurde. Anstatt den politischen Richtungswechsel als Stärkung und Liberalisierung der repräsentativen Demokratie zu interpretieren und als politischen Erfolg zu verbuchen, verloren die Bewegten von ›1968‹ mit der konservativen Großen Koalition ihren klar definierten politischen Gegner. Die erneuerte parlamentarische Demokratie machte eine außerparlamentarische Opposition überflüssig. Viele linksalternative PolitAktivisten sahen sich durch die veränderten politischen Ausgangsbedingungen ihrer verheißungsvollen Utopie einer revolutionären Umwälzung der bundesdeutschen Gesellschaft beraubt. Der Abschied vom Glauben an eine bevorstehende 15 | KUNZELMANN, Leisten Sie keinen Widerstand!, S. 99. 16 | SCHNEIDER, Den Kopf verkehrt aufgesetzt, S. 153. 17 | ENZENSBERGER, Die Jahre der Kommune I, S. 357.

9. Scheitern

Revolution löste laut Rolf Trommershäuser, einem linksorientierten Theologen, der die Jahre des Protests als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bochum verbrachte, bei vielen ›68ern‹ eine Lebenskrise aus: »Wir haben viele Dinge revolutionär dargestellt, die in Wirklichkeit mit Revolution nichts zu tun hatten. Und diese psychotischen Strukturen und dieses Gefangensein darin, das empfinde ich als die enttäuschendste, schmerzlichste und bedauernswerteste Phase meines Lebens und von allen von uns.« 18

Aus der Rückschau kennzeichnet Trommershäuser seine Fixierung auf einen revolutionären Umsturz der bestehenden Ordnung als die emotional qual- und kummervollste Zeit seines gesamten Lebens. Das ›Gefangensein‹ in der Vorstellung, die Revolution würde kommen, machte es für die Mitglieder der linken Protestgemeinde so schwierig und schmerzhaft, sich von dieser innerweltlichen Utopie zu lösen. Die Enttäuschung über das erwartungswidrige Ausbleiben der Revolution war für die Protagonisten der antiautoritären Rebellion maßlos. Es »stellte sich ein tiefer Frust ein«, erklärt der ehemalige APO-Aktivist Matthias Sesselmann »[i]ch musste einsehen, daß meine Versuche, die Gesellschaft zu verändern, fehlgeschlagen waren.«19 Ein diffuses Unbehagen und ein »Gefühl der Niederlage«20 charakterisierte in den Jahren 1969 und 1970 das Gefühlsprogramm der in Auflösung begriffenen Protestbewegung. »Das Modewort«, das sich gemäß dem Münchner SDS-Mitglied Herbert Röttgen in dieser Zeit herauskristallisierte und die Neue Linke bis in die 1970er Jahre hinein charakterisieren sollte »[…] hieß Frustration und keiner, der es nicht täglich zu fühlen bekam […].«21 Unzufriedenheit, Hoffnungslosigkeit, Resignation und Niedergeschlagenheit fanden Einzug in den kollektiven emotionalen Stil der linken Protestszene.

9.3 E ntsolidarisierung Auf der 23. und letzten SDS-Delegiertenkonferenz in Hannover kamen die Mitglieder des studentischen Verbandes nicht umhin, festzustellen, dass der SDS in Begriff war, sich auseinanderzudividieren. »Überall sehen wir Destruktionserscheinungen, Zersetzungserscheinungen, die Gruppen fliegen auseinander

18 | TROMMERSHÄUSER, Rolf: Die elementarsten Lebensmöglichkeiten wurden infrage gestellt. In: Karl-Heinz Heinemann/Thomas Jainter (Hg.): Ein langer Marsch. 1968 und die Folgen, Köln 1993, S. 54-61, hier S. 58. 19 | SESSELMANN, Von der APO zum Opa, S. 87. 20 | ENZENSBERGER, Die Jahre der Kommune I, S. 359. 21 | RÖT TGEN/RABE, Vulkantänze, S. 30.

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[…]«22, konstatierte ein deprimierter Genosse. Obwohl der SDS sich Ende des Jahres 1968 über große mediale Aufmerksamkeit und einen Zustrom sympathisierender Studentenmassen freuen konnte, gelang es ihm nicht, die große Zahl an Neuankömmlingen zu integrieren und die dadurch entstehende Fülle an Diskussionsthemen zu bändigen. Bei der Suche nach einer neuen Organisationsform zeigten sich die studentischen Polit-Aktivisten überfordert, dem SDS war es nicht länger möglich, seinen Status als Führungszentrum der 68er-Bewegung aufrechtzuerhalten.23 Hinzu kam, dass innerhalb des Verbandes und der gesamten linken Protestszene mittlerweile ganz unterschiedliche Vorstellungen von ›richtiger‹ Politik vorherrschten, wie unter anderem Volkhard Brandes’ autobiografischem Narrativ zu entnehmen ist: »Unsere Differenzen waren nicht mehr nur kontroverse Standpunkte im Diskussionsmarathon; sie führten auch zu unterschiedlichen Organisations- und Praxisansätzen.«24 Demnach entstanden im antiautoritären Protestmilieu unüberwindbare ideologische Spaltungen, die eine Formulierung gemeinsamer politischer Ziele und einer zentralen politischen Strategie nicht mehr zuließen. Im Jahr 1969 bildeten sich noch unter dem Dach des SDS verschiedene miteinander konkurrierende Projekte und politische Richtungen heraus, die eine offizielle Auflösung des Verbandes am 21. März 1970 unumgänglich machten. In dieser Zeit verlagerten die linksstehenden Studierenden ihre Aufmerksamkeit auf die Arbeiterklasse, deren politische Mobilisierung bisher nicht gelungen war. Sie distanzierten sich vom Universitätsmilieu und entdeckten die Basis-, Betriebs- und Stadtteilarbeit als neue Praxisgebiete für sich. Eine Welle politischer Neugründungen war die unmittelbare Folge des Entsolidarisierungsprozesses der bundesdeutschen 68er-Bewegung. Die Neue Linke zersplitterte in Hunderte rivalisierende Bünde und Parteien. Dabei schlossen sich einige ehemalige ›68er‹ der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) nahestehenden Organisationen an, manche entschieden sich für trotzkistisch inspirierte Gruppierungen, wieder andere sahen ihre vorübergehende politische Erfüllung im Rahmen dogmatisch-maoistisch ausgerichteter K-Gruppen. Diejenigen, die keiner Parteiorganisation beitreten wollten, agierten unabhängig als undogmatische Linkssozialisten und initiierten in der Tradition der Protestbewegung einzelne politische Kampagnen und Projekte.25 Die Fraktionierung der Neuen 22 | Unbekannter Sprecher, in: Django und die Tradition. Die letzte SDS-Delegiertenkonferenz, S. 193. 23 | Vgl. STEFFEN, SDS, Weiberräte, Feminismus, S. 129. 24 | BRANDES, Wie der Stein ins Rollen kam, S. 178. 25  |  Zahlreiche Mitglieder der 68er-Bewegung wandten sich auch der systemimmanenten Parteienpolitik zu, traten zumeist den Jungsozialisten bei und starteten unter Mitnahme ihres linksliberalen Gedankengutes eine ›bürgerliche‹ Karriere. Darüber hinaus entwickelte sich zu Beginn der 1970er Jahre ein subkulturelles Aussteigertum, das häufig Mitglieder der Kommunebewegung anzog und Themen wie den bewusstseinserweiternden Drogenkonsum oder das Wohnen auf dem Land aufgriff. Mit dem Zerfall der 68er-Bewegung entstanden

9. Scheitern

Linken leistete der Entstehung von Hierarchien Vorschub zwischen den Organisationen, die noch in Verbindung mit der Mehrheitsgesellschaft standen, und denen, die sich radikal davon abgekapselt hatten.26 Zu Beginn der 1970er-Jahre basierten die ideologischen Differenzen der zahlreichen linksradikalen Gruppierungen hauptsächlich auf den Fragen, wie die Arbeiterklasse, beziehungsweise auch die Gewerkschaften zu gewinnen seien und wann der richtige Zeitpunkt zur Herausbildung einer kommunistischen Partei als ›Vorhut der Arbeiterklasse‹ gekommen sei.27 Aus der 68er-Bewegung, die für wenige Jahre erfolgreich die Funktion eines einenden Sammelbeckens unterschiedlicher linker Strömungen erfüllte, entwickelte sich in den Jahren 1969 und 1970, mit den Worten Gerd Koenens ausgedrückt, eine »Armada neulinker Gruppen«.28 Laut dem ehemaligen SDSMitglied waren es gar nicht so sehr die ideologischen Spezifika, die die jungen Polit-Aktivisten bewog, einer bestimmten Fraktion beizutreten, sondern hauptsächlich das Bedürfnis, auch nach dem schmerzlichen Ende der 68er-Bewegung weiterhin einer Gemeinschaft anzugehören: »Warum wurde jemand also ausgerechnet Trotzkist, Leninist, Stalinist, Maoist, DKPist, Castrist, Anarchist, Syndikalist oder sonst etwas? […] Schwerlich nur wegen der abstrakten Überzeugungskraft, der speziellen Doktrin […]. Vielmehr standen diese Optionen unter dem Wunsch oder geradezu dem Gesetz der Gemeinschaftsbildung, die sich auch als Angst äußerte, den Anschluß zu verlieren.« 29

Die Zeiten, in denen die antiautoritäre Protestbewegung als eingeschworene emotionale Gemeinde unter dem Kampf begriff der Solidarität Gefühle der Zusammengehörigkeit, Loyalität, Harmonie, Verbundenheit und Empathie gefeiert hatte, waren zu Ende. Was in den Jahren des Zerfalls die auseinanderdriftenden Mitglieder der 68er-Bewegung jedoch nach wie vor verband, war die Furcht, politisch wie persönlich einsam und isoliert zu sein, wie neben Koenen auch der APO-Aktivist Rainer Kippe bestätigt: »Der ganze SDS verflüchtigte sich auf einmal […] Da standest du ganz allein. Das ist schwer.«30 Nach der überwältigenden Gemeinschaftseuphorie von ›1968‹ bestand eine allgemeine Sehnsucht, die bereits erfahrenen enthusiastischen Gefühle des bedingungslosen Zusammenhalts wieder aufleben zu lassen. Da die neu gegründeten Organisationen jedoch allesamt darauf aus waren, ein eigenständiges aussagekräftiges politisches Profil zu zudem anarchistische Gruppierungen, von denen manche gewaltaffin waren, sowie linksterroristische Vereinigungen. Vgl. LANGGUTH, Mythos ’68, S. 110-142. 26 | Vgl. RABEHL, Zur archaischen Inszenierung linksradikaler Politik, S. 61. 27 | Vgl. LANGGUTH, Mythos ’68, S. 111. 28 | KOENEN, Das rote Jahrzehnt, S. 260. 29 | KOENEN, Das rote Jahrzehnt, S. 261. 30 | KIPPE, Wenn du etwas Praktisches ganz unten machst, S. 86.

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gewinnen, grenzten sie sich mit aller Macht voneinander ab. Dies führte zu einer angespannten, wenig freundschaftlichen Atmosphäre zwischen den konkurrierenden Bünden. Obwohl viele der aus dem Boden geschossenen sektiererischen Kleinstgruppen durchaus ideologische Gemeinsamkeiten aufwiesen, standen sie einander abweisend, wenn nicht gar feindlich gegenüber. Eine Politik der friedlichen Koexistenz wurde von den unterschiedlichen Fraktionen als Verrat an der sozialistischen Weltrevolution betrachtet und somit strategisch abgelehnt.31 Als die Jahre der harmonischen Verbrüderungen in der linken Szene vorbei waren, entstand eine »gefährliche Sprachlosigkeit« zwischen den Genossen, was in den Augen des ehemaligen SDS-Aktivisten Tillmann Fichter in eine »menschliche Katastrophe«32 mündete. Die einst so kommunikationsfreudigen Anhänger der 68er-Bewegung, die wenige Monate zuvor noch alles ausdiskutieren, reflektieren und einer bedingungslosen Kritik unterziehen wollten, hatten einander plötzlich nichts mehr zu sagen. Eckhard Siepmann erinnert sich, dass in den Jahren 1969 und 1970 eine Atmosphäre des gegenseitigen Unverständnisses und Argwohns das linke Milieu beherrschte: »Eine zentrifugale Bewegung, die den SDS in nichts auflöste, zersplitterte den projektierten Neuen Menschen in voneinander isolierte Über-Ich und Es-Bereiche und hinterließ, […] eine Wüste, in der keiner mehr den anderen verstand, jeder jeden verdächtigte und kein theoretischer Stein mehr auf dem anderen stand.« 33

In einem psychologisierenden Jargon beschreibt Siepmann die Zersplitterung der Protestbewegung als einen unheilvollen und unaufhaltsamen Prozess, der das gemeinsame kulturrevolutionäre Projekt des Neuen Menschen als Grundlage einer befreiten Gesellschaft zerstörte. Die utopische Idee, einen Menschentypus zu schaffen, der ein sensibilisiertes Gespür für moralisches Unrecht und ein gesteigertes Empathie-Empfinden für sein gesellschaftliches Umfeld aufweist, sah er mit der um sich greifenden Entfremdung innerhalb der Neuen Linken als gescheitert an. Siepmann klagt an, dass die rezeptive Offenheit, Sensibilität und Fantasie, die das emotionale Repertoire der Antiautoritären seiner Meinung nach bereits bestimmt hatte, durch den Zerfall der Bewegung in zerstrittene Gruppierungen wieder verloren gegangen war. Die Fähigkeit, einander zu verstehen und gemeinsam für ein Ziel einzutreten, schien den Protestierenden im Jahr 1969 abhanden gekommen zu sein. Mit der politischen Fraktionierung befand sich auch die kollektive normativ gültige Protest- und Gefühlskultur der bundesdeutschen 68er-Bewegung in Auf31 | Vgl. LANGGUTH, Mythos ’68, S. 118. 32  |  Tillmann Fichter, in: LÖNNENDONKER, Linksintellektueller Aufbruch, S. 202. 33 | SIEPMANN, Eckhard: 1969 – Die große Sonnenfinsternis. In: Ders./Irene Lusk/ Jürgen Holtfreter u.a. (Hg.): CheSchahShit. Die Sechziger Jahre zwischen Cocktail und Molotow, Reinbek 1986, S. 338-340, hier S. 338.

9. Scheitern

lösung, wobei der schmerzhafte Verlust des einst so stark wahrgenommenen Zusammengehörigkeitsgefühls eine der letzten Emotionen darstellte, die den Anhängern der Protestbewegung gemein war. Freunde wurden plötzlich zu Feinden, wie der ehemalige SDS-Angehörige Klaus Theweleit mit Wehmut beschreibt: »Entscheidend für die Tiefe des Bruchs war dabei persönliches Verhalten: die Leute, die sich abtrennten und K-Gruppler wurden, kannten einen nicht mehr, von einem Tag auf den anderen. ›Genossen‹, für die man sich am Tag vorher bedenkenlos eingesetzt hätte […] dieselben Leute verhielten sich mit einem Mal als ›Feinde‹ […].« 34

Der einstige studentische Aktivist gibt an, dass bei der Zersplitterung der 68erBewegung in hunderte orthodox- und prokommunistische Gruppierungen die persönlichen Verhältnisse zwischen ehemaligen Genossen abrupt abkühlten und sogar feindselig wurden. Aus Theweleits autobiografischem Bericht ist abzulesen, wie fassungslos und verletzt er von dem abweisenden Verhalten einstiger Mitstreiter war. Anhänger der 68er-Bewegung, die sich auf freundschaftlicher, ideeller und politischer Ebene tief miteinander verbunden gefühlt hatten, brachen im Zuge des Zerfalls der Bewegung den Kontakt zueinander häufig überstürzt ab. Aus den lebensgeschichtlichen Erinnerungen zahlreicher APO-Aktivisten geht hervor, dass derartige Überwerfungen, Entzweiungen und Trennungen im linken Milieu der frühen 1970er Jahre weit verbreitet waren. Oftmals grüßten sich die einstigen Genossen nicht mal mehr, wenn sie sich zufällig begegneten und wichen, um ein Aufeinandertreffen zu vermeiden, sogar auf die andere Straßenseite aus, stellt Siegward Lönnendonker zu Beginn einer Konferenz ehemaliger ›68er‹ im Jahr 1998 mit Bedauern fest.35 An die Stelle des von den Protestierenden einst frenetisch gepriesenen uneingeschränkten gegenseitigen Beistands und Zusammenhalts traten mit der Auflösung der sozialen Bewegung Ausgrenzung, Isolation und Einsamkeit. Asoziale und elitäre Verhaltensweisen bestimmten laut dem Zeitgenossen Bernd Rabehl die von Machtansprüchen getriebenen, selbsternannten Avantgarden.36 Obwohl die unterschiedlichen Gruppierungen der Neuen Linken in den frühen 1970er Jahren nicht mehr unter einem einheitlichen Gefühlsprogramm zusammengefasst werden können, so prägte dennoch eine kollektive Erschütterung die emotionale Konstitution der ehemaligen ›68er‹. Ein Großteil der auseinandergehenden Aktivisten litt unter der überraschend schnell und jäh vor sich gehenden Entsolidarisierung der antiautoritären Opposition. Ihren Kummer über den abrupten Rückgang von Einigkeit und Verbundenheit innerhalb der Neuen Linken räumten die Vertreter der maskulin codierten Protestbewegung jedoch 34 | THEWELEIT, Bemerkungen zum RAF-Gespenst, S. 29. 35 | Vgl. LÖNNENDONKER, Siegward: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Linksintellektueller Aufbruch, S. 1-4, hier S. 1. 36 | Vgl. RABEHL, Zur archaischen Inszenierung linksradikaler Politik, S. 61.

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erst aus der Retrospektive ein. Unter dem zeitgenössischen Druck, sich einem speziellen politischen Bündnis anzuschließen, wagten die Mitglieder der linken Szene nicht, Emotionen der Trauer und Traurigkeit zu zeigen. Trübsinn und Niedergeschlagenheit zu äußern widersprach dem männlichen Ideal des entschlossenen, kämpferischen Revolutionärs, das auch im linken Politmilieu der 1970er Jahre seine Gültigkeit nicht verlor. In der männlich dominierten Welt der linksradikalen Kaderparteien wurden männliche Emotionen verschwiegen und anders, als es in Teilen der 68er-Bewegung üblich war, in die Privatsphäre verbannt.37 Bernd Rabehl beschreibt die unerwartete Entfremdung der Protestszene als »[…] ein Trauma für viele: Daß dieser SDS, diese Gruppierung die doch gemeinsam gekämpft hat, scheinbar gemeinsame Ideale hatte, gemeinsame libidinöse Bindungen […] plötzlich solidaritätsunfähig wird, Leute ausgrenzt, im Stich lässt und kaputt macht […]«38, war für die Anhänger der antiautoritären Protestbewegung nur schwer zu verstehen und zu verarbeiten. Trotzdem vermochten es die PolitAktivisten zu Zeiten der Fraktionierung nicht, gegen den Verlust persönlicher Freundschaften und politischer Solidarität anzukämpfen. Sie entschieden sich auf der Suche nach Nähe und Gemeinschaft mehrheitlich für die emotionale Strategie, sich ganz und gar einer neuen Gruppierung ihrer Wahl zuzuwenden, um das Gefühl des politischen wie individuellen ›Verlassen-Werdens‹ abzustreifen. Als die 68er-Bewegung ihren Höhepunkt noch nicht überschritten hatte, hatten die Protestierenden Solidarität zum politischen Allheilmittel gegen die inhuman und repressiv empfundene kapitalistische Staatsordnung verklärt. Sie hatten in den Jahren der Rebellion die von Optimismus getragene Ansicht geteilt, dass das Gefühl der Zusammengehörigkeit die Welt verändern könne. Gemeinsam, so hatte der pathetische Impetus der Protestierenden gelautet, würden sie es schaffen, die verhasste bestehende Ordnung zu revolutionieren. Mit dem für die jungen Oppositionellen unerwartet raschen Ende der Protestbewegung schlug das Gefühl der Omnipotenz in Resignation und Verzweiflung um. Entmutigt stellt der ehemalige SDS-Angehörige und Kommunarde Eckhard Siepmann unter dem bezeichnenden Titel 1969 – Die große Sonnenfinsternis fest, welche verheerenden Folgen der Verlust von Solidarität für die Neue Linke seiner Meinung nach hatte: »Die Zersplitterung der Antiautoritären […] gab dem ›Establishment‹ das Zeichen für das langersehnte Herausholen des großen Knüppels. Mit Mord und Totschlag, Gefängnis und einer endlosen Kette von Berufsverboten wurde der zunächst begeisterte und später verzweifelte Versuch geahndet, die Versprechungen der bürgerlichen Gesellschaft, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, hier und jetzt gleich zu verwirklichen.« 39

37 | Vgl. REIMANN, Machismo und Coolness, S. 243. 38  |  Bernd Rabehl, in: LÖNNENDONKER, Linksintellektueller Aufbruch, S. 321f. 39 | SIEPMANN, 1969 – Die große Sonnenfinsternis, S. 340.

9. Scheitern

Erst als die linke Protestgemeinde sich uneinig und zerstritten zeigte, argumentiert Siepmann vorwurfsvoll, war es dem bundesdeutschen Staat möglich, massiv gegen die geschwächte linke Opposition vorzugehen. Er klagt nicht nur die in seinen Augen brutale und unrechtmäßige polizeiliche und juristische Verfolgung ehemaliger Protestaktivisten in den 1970er Jahren an, sondern auch den mangelnden Zusammenhalt in den eigenen Reihen. Das Statement des ehemaligen SDS-Aktivisten repräsentiert die Frustration und Enttäuschung zahlreicher ehemaliger ›68er‹ über die Unfähigkeit der Neuen Linken, dauerhaft solidarisch zu handeln, und die verpasste Chance, die bestehenden Verhältnisse zum Besseren zu verändern.

9.4 D epression und M el ancholie Im Anschluss an das Jahr »1969 […] stürzte die Protestbewegung in eine tiefe Existenzkrise«40, von der sie sich so schnell nicht wieder erholen sollte. Die ehemaligen Protagonisten der 68er-Revolte waren sich in der desolaten Bewertung ihres politischen Engagements als »Total-Niederlage«41 einig. Aus diesem Bewusstsein des Scheiterns und Versagens manifestierte sich, gemäß Siegward Lönnendonker, in den Folgejahren eine dauerhafte und allgegenwärtige »Katerstimmung«42 innerhalb der Neuen Linken. In einer Flugschrift aus dem Jahr 1978 mit dem Titel 10 Jahre APO heißt es über das kollektive Grundgefühl in der linken Politszene: »1970 war’s ja schon nicht mehr so toll und inzwischen hat der Katzenjammer der Resignation die Linken so plattgewalzt, daß sie durch ihre dogmatischen Sehschlitze nicht einmal merken, was um sie herum vorgeht.«43 Die unbekannten Autoren der Schrift, die sich als parteiungebundene Linkssozialisten zu erkennen geben, beklagen, dass sich die größtenteils dogmatisch ausgerichteten linksradikalen Nachfolgeorganisationen der 68er-Bewegung durch die tiefsitzende Enttäuschungserfahrung in einen wirklichkeitsfremden Radikalismus verrannt und von der Realpolitik abgeschottet hätten. Sie attestieren der linken Politszene eine gravierende Krise, da ihr die Fähigkeit, effektiv Politik zu betreiben, abhanden gekommen sei. Die Hoffnung der zu Beginn der 1970er Jahre neu gegründeten linken Kleinparteien, eine revolutionäre Arbeiterbewegung von außen entfachen zu können, erwies sich rasch als trügerisch. Ein ebenfalls anonymes Autorenkollektiv aus dem Milieu der K-Gruppen bestätigt, dass das Gefühl »mit seiner ganzen Existenz in eine politische Sackgasse geraten zu sein«, zeitgenössisch weit verbreitet war und sich viele politische Akti40 | BIELING, Die Tränen der Revolution, S. 43. 41 | THEWELEIT, Bemerkungen zum RAF-Gespenst, S. 30. 42 | LÖNNENDONKER, Vorwort, S. 1f. 43 | Flugschrift, 10 Jahre APO. Wir sind alle vom 2. Juni, 1978, S. 2. In: AdMA, Archiv 451.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er

visten »als Opfer einer Vergangenheit« sahen, »die sie verdrängten«.44 Über den unrühmlichen Zerfall der Studentenbewegung und die damit einhergehenden Empfindungen wurde in der männlich dominierten K-Gruppen-Szene in der Regel nicht offen gesprochen – und wenn, dann »höchstens am Biertisch und […] in Zoten«.45 Die Neue Linke blockierte sich in Folge der unverarbeiteten Niederlage der gescheiterten Revolution also lange Jahre politisch selbst, was zu einer Art Winterschlaf der oppositionellen Linken in der Bundesrepublik führte.46 Ein weiterer Versuch der kritischen Selbstreflexion aus dem Jahr 1978 stammt von dem ehemaligen SDS-Mitglied Klaus Hartung, der die Befindlichkeiten der Neuen Linken treffend mit dem Begriff der »linke[n] Melancholie«47 umschreibt. Die ehemaligen Bewegten von ›1968‹ teilten, so Hartung in Anlehnung an Sigmund Freuds Melancholie-Definition, ein »Gefühl des unbekannten Verlustes«48, nämlich die enttäuschte Hoffnung der ausgebliebenen Revolution und des abrupten Zusammenbruchs der Revolte. Zudem waren zahlreiche Anhänger der 68er-Bewegung vom Radikalenerlass betroffen, den sie nicht nur als massive Einschränkung ihrer Berufswahl, sondern auch als großangelegte »Hexenjagd auf die Neue Linke«49 erlebten. Sie sahen sich der Unterdrückung und Überwachung eines allmächtigen Staates ausgesetzt und lebten in der ständigen Furcht, wegen ihrer politischen Gesinnung zum Verfassungsfeind erklärt zu werden. Während, wie eine Untersuchung des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler ergeben hat, die im linken Politmilieu allgegenwärtige Atmosphäre von Frustration, Resignation und Perspektivlosigkeit für manche ein Motiv zum Eintritt in den Terrorismus darstellte50, fühlten sich andere Politiktreibende der Neuen Linken durch den Terror gewalttätiger linksextremer Gruppierungen politisch diskreditiert. Im öffentlichen Diskurs herrschte in den 1970er Jahren die Meinung vor, der 44 | AUTORENKOLLEKTIV: Vorwort. In: Dass. (Hg.): Wir warn die stärkste der Partein… Erfahrungsberichte aus der Welt der K-Gruppen, Berlin 1977, S. 5-7, hier S. 5. 45 | AUTORENKOLLEKTIV, Vorwort, S. 5. 46 | Vgl. REIMANN, Abschiedsbriefe der Bewegung, S. 278f. 47 | HARTUNG, Klaus: Über die langandauernde Jugend im linken Getto. Lebensalter und Politik – Aus der Sicht eines 38jährigen. In: Kursbuch 54 (1978), S. 174-188, hier S. 178. Zur kulturhistorischen Entwicklung der Melancholie in der erneuerten Moderne nach 1945 siehe: WEBER, Wolfgang E. J.: Melancholie. Historische und aktuelle Dimensionen eines psychokulturellen Komplexes. In: Alfred Bellebaum/Robert Hettlage (Hg.): Missvergnügen. Zur kulturellen Bedeutung von Betrübnis, Verdruss und schlechter Laune, Wiesbaden 2012, S. 61-94, hier S. 83ff. 48 | HARTUNG, Über die langandauernde Jugend im linken Getto, S. 178. 49 | HARTUNG, Über die langandauernde Jugend im linken Getto, S. 182. 50 | Vgl. MÜNKLER, Herfried: Sehnsucht nach dem Ausnahmezustand: Die Faszination des Untergrunds und ihre Demontage durch die Strategie des Terrors. In: Wolfgang Kraushaar (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, Hamburg 2006, S. 1211-1226, hier S. 1215ff.

9. Scheitern

aufkommende Linksterrorismus sei eine unmittelbare Folge der studentischen Proteste von ›1968‹ und läge dementsprechend in der Verantwortlichkeit der ehemaligen Protestaktivisten. Die einstige Protestgeneration war oftmals dem Pauschalvorwurf des Sympathisantentums ausgesetzt. Sich in den 1970er Jahren öffentlich als ›links‹ zu bekennen, wurde dementsprechend von den Betreffenden als existentielles Risiko wahrgenommen.51 Die Neue Linke fühlte sich unter dem Druck der politischen Kontrolle an den Rand der Gesellschaft gedrängt, von dem aus sie sich kein politisches Gehör verschaffen konnte. Von daher definiert Hartung die zeitgenössisch virulente ›linke Melancholie‹ als emotionale Gemengelage aus narzisstischer Kränkung über das politische Scheitern, unüberwindbarer Verdrossenheit über die abhanden gekommene politische Handlungsfähigkeit und einer von Pessimismus und Ratlosigkeit geprägten Zukunftserwartung.52 Charakteristisch für die melancholische Generationserfahrung der ›68er‹ war dementsprechend auch die emotionale Konstitution von Rainer Langhans, wie er sie nach dem Ende der studentischen Opposition beschreibt: »Als die Bewegung zusammenbrach, hatte ich das gleiche Problem wie viele andere – nämlich, zu überleben. Ich wollte keineswegs mehr in meinen alten Körper und die alte trostlose Welt zurück, wo jeder einem nur sagt: Was willst du hier eigentlich? Du gehörst nicht zu uns, du gehörst nirgendwohin.« 53

Langhans erlebte den Zerfall der 68er-Bewegung als eine existentiell bedrohliche Situation. Während er sich vor Beginn des antiautoritären Protests in der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft als Außenseiter gefühlt hatte, meinte er in der linken Protestgemeinde unter Gleichgesinnten eine neue Heimat gefunden zu haben. Die Aussicht, nach der Auflösung der Protestbewegung wieder in die Mitte der verhassten bürgerlichen Gesellschaft zurückkehren zu müssen, war für den ehemaligen Kommune-Bewohner, der Selbstverwirklichung in einem kulturrevolutionären Lebensstil gesucht hatte, unvorstellbar geworden. Aus seinem autobiografischen Narrativ lässt sich ablesen, dass er seine Identität ausschließlich über die Zugehörigkeit zur 68er-Bewegung definiert hatte und der Zerfall derselben für ihn deshalb einem drohenden Identitätsverlust gleichkam. Mit dem Wegfall des für ihn unersetzbaren Lebensmittelpunktes und identitären Bezugs51  |  Angesichts der Gefahr durch den Linksterrorismus entstand in großen Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft ein verstärktes ›Wir-Gefühl‹. Die Neue Linke fühlte sich jedoch von dieser identitätsstiftenden Geschlossenheit eher bedroht. Vgl. WEINHAUER, Klaus: Terrorismus und Kommunikation. Forschungsstand und -perspektiven zum bundesdeutschen Linksterrorismus der 1970er Jahre. In: Nicole Colin/Beatrice de Graaf/Jacco Pekelder u.a. (Hg.): Der ›Deutsche Herbst‹ und die RAF in Politik, Medien und Kunst. Nationale und internationale Perspektiven, Bielefeld 2008, S. 109-123, hier 117. 52 | Vgl. HARTUNG, Über die langandauernde Jugend im linken Getto, S. 177ff. 53 | LANGHANS, Ich bin’s, S. 8f.

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rahmens, gewann Langhans das Gefühl, sein Leben sei zu Ende. Der einstige Kommunarde fühlte sich nicht nur verloren, sondern auch wie paralysiert. »Ich wusste einfach nicht mehr weiter«54, erinnert er sich. Langhans war mit dem Empfinden von Orientierungslosigkeit und Sinnverlust nicht allein, als sich das linke Protestmilieu aufgelöst hatte. »Wie viele meiner Generationsgenossen, […] fiel ich in ein tiefes Loch«, räumt auch der studentische Wortführer Peter Schneider ein. »Ich war unendlich weit davon entfernt, zu wissen, was ich tun sollte«55, schildert er seine Verzeiflung. Unsicherheit, Unentschlossenheit und Niedergeschlagenheit dominierten demzufolge das Gefühls- und Seelenleben zahlreicher ehemaliger Bestreiter der 68er-Bewegung in den 1970er Jahren. Die Aktivisten der männlich codierten Protestbewegung büßten nach der gescheiterten Revolte ihre männlichen Potenzphantasien und ihren kulturrevolutionären Machismo ein und entwickelten sich zu frustrierten, schwermütigen Veteranen.56 Der Zusammenhang von Männlichkeit und Melancholie ist eng verbunden mit Implikationen von Macht, Herrschaft und Gewalt, konstatiert der Erziehungswissenschaftler und Geschlechterforscher Edgar J. Forster: »Der Mann […] ist Verlierer in einem Spiel, das er ›eigentlich‹ gewinnen müßte, und die Trauer des Melancholikers gilt dem Verlust des ›Sieges‹.«57 Melancholie, so Forster weiter, könne als das Elend gedeutet werden, des Triumphes der Herrschaft beraubt worden zu sein.58 In diesem Sinne ist die Tristesse, die der männlich dominierten Neuen Linken in den 1970er Jahren anhaftete, auch als eine geschlechterspezifische Erfahrung zu deuten. Die ehemaligen ›68er‹ mussten sich eingestehen, dass es ihnen nicht gelungen war, dem männlichen Imperativ der Herrschaft zu folgen und als junge tatkräftige Generation die politische Macht an sich zu reißen. Für nicht wenige Protestierende führten das unerwartete Ende der Bewegung, der ausbleibende politische Erfolg und die damit verbundenen Gefühle des Scheiterns sogar zu einer depressiven Erkrankung. Laut dem Schüleraktivisten 54 | LANGHANS, Ich bin’s, S. 135. 55 | SCHNEIDER, Rebellion und Wahn, S. 349. 56 | Vgl. REIMANN, Machismo und Coolness, S. 244ff. 57  |  FORSTER, Edgar J.: Unmännliche Männlichkeit. Melancholie – ›Geschlecht‹ – Verausgabung, Wien/Köln/Weimar u.a. 1998, S. 33. 58 | Im 19. Jahrhundert galt Melancholie – als Pendant zur Hysterie – als ein typisch männliches Leiden. Es wurde davon ausgegangen, dass durch den Widerspruch zwischen der individuellen männlichen Selbsterfahrung und dem Patriarchat melancholische Leiden an der Welt entstünden. Forster betrachtet männliche Melancholie deshalb als eine paradoxe Verlustgeschichte von Privilegierten, da Männer auf der Gewinnerseite der symbolischen Geschlechterordnung stehen. Nur derjenige kann einen Verlust beklagen, der zuvor etwas besessen hat, beziehungsweise davon überzeugt ist, dass es ihm zugestanden hätte. Die maskulin codierte Melancholie beschreibt gemäß Forster eine privilegierte Männlichkeit in der Krise. Vgl. FORSTER, Unmännliche Männlichkeit, S. 32f.

9. Scheitern

Christoph Köhler »hatte jeder Zweite eine psychische Krise«59, der sich aktiv an dem utopischen Projekt ›1968‹ beteiligt hatte. Depressivität entwickelt sich im Verständnis des Psychologen Matthias Berking immer dann, wenn Menschen Verluste und Misserfolge generalisieren und ein Gefühl der Ohnmacht in Bezug auf eine Situation erleben, die sie selbst verschuldet haben, aber nicht aus eigener Kraft verändern können. Als emotionale Hauptdimensionen von Depressivität können deshalb Hilflosigkeit, Wertlosigkeit und Hoffnungslosigkeit betrachtet werden,60 die auch das düstere Klima innerhalb der Neuen Linken in den 1970er Jahren auszeichneten. »Alles brach über mir zusammen«, beschreibt Christoph Köhler seinen zerrütteten seelischen Zustand im Anschluss an den Zerfall der 68er-Bewegung. »Das war […] nicht mehr: Ich bin der Größte, ich kann die Welt verändern […], sondern ich lag im Bett. Ich war sehr pessimistisch, sehr vorsichtig […].«61 Der einstige Protestteilnehmer schildert Niedergedrücktheit, Interesseund Freudlosigkeit sowie Energie-, Kraft- und Antriebslosigkeit, die klassischen Kernsymptome einer depressiven Erkrankung.62 Die Diskrepanz zwischen vergangenen Gefühlen der Handlungsmächtigkeit, Tatkraft und Überlegenheit und dem späteren Erleben von Ohnmacht und Stagnation bescherte zahlreichen ehemaligen ›68ern‹ das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die in der binären Geschlechterordnung weiblich codierten Attribute wie Introvertiertheit, Passivität, Schwäche und Angst dominierten das emotionale Repertoire der männlichen Revolutionäre, was sich als Zeichen einer Krise der Männlichkeit in der Neuen Linken interpretieren lässt.63 Die Umsetzung des in der linksradikalen Politszene der 1970er Jahre vorherrschenden Verständnisses hegemonialer Männlichkeit war für die ihr zugehörigen Individuen in unerreichbar weite Ferne gerückt. Eine Kluft zwischen der Norm des heroischen Berufsrevolutionärs, einem starken, autonomen, ungebrochenen Mann, und der Alltagswelt des betrübten Protestveteranen, der sein Versagen und seine Machtlosigkeit ständig vor Augen hatte, tat sich auf.64 Die depressive Verstimmung im linken Politmilieu hatte schwerwiegende Folgen: Nicht allen Mitgliedern der einstigen Protestgeneration gelang es, in ein geordnetes Lebens zurückzufinden, beziehungsweise 59  |  Christoph Köhler, in: HANNOVER/SCHNIBBEN, I can’t get no, S. 208. 60  |  Vgl. BERKING, Matthias: Training emotionaler Kompetenzen, 2. Aufl., Berlin/Heidelberg 2010, S. 170. 61  |  Christoph Köhler, in: HANNOVER/SCHNIBBEN, I can’t get no, S. 208. 62  |  Vgl. HEGERL, Ulrich/ALTHAUS, David/REINERS, Holger: Das Rätsel Depression. Eine Krankheit wird entschlüsselt, 2. Aufl., München 2006, S. 17ff. 63 | Vgl. TEUBER, Nadine: Das Geschlecht der Depression. ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ in der Konzeptualisierung depressiver Störungen, Bielefeld 2011, S. 244f. 64 | Zum Konzept der Krisenhaftigkeit und -anfälligkeit des männlichen Herrschaftsmonopols siehe: OPITZ-BELAKHAL, Claudia: ›Krise der Männlichkeit‹ – ein nützliches Konzept der Geschlechtergeschichte? In: L’homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 19 (2008), Heft 2, S. 31-49.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er

nach dem Ende der 68er-Bewegung einen neuen Lebenssinn zu sehen. »Einige brachen rettungslos[] zusammen, soffen sich zu Tode, ein paar brachten sich um […]«65, so Klaus Theweleit über die Häufung von psychischen und körperlichen Krankheiten, Alkoholismus und Selbstmorden in der Neuen Linken. Michael Schneider, der seine lebensgeschichtlichen Eindrücke bezüglich des linken Politmilieus der 1970er Jahre nicht umsonst unter dem Titel Die melancholische Linke niedergeschrieben hat, spricht von einer »epidemisch um sich greifende[n] Bewußtseinsverdüsterung und Willenslähmung«66. Weltschmerz beherrschte das Leben der einstigen Revolutionäre, wie Schneider ausführt: »In dem Maße aber, wie die Solidarität in den eigenen Reihen zerbrach und sich politische und Lebensutopien im ideologischen Nebel der siebziger Jahre wieder auflösten, gewannen die im Rausche kollektiver Verbrüderung zeitweilig zurückgedrängten, apokryphen Seiten ihres Lebensgefühls wieder die Oberhand; der alte ›Mehltau‹ senkte sich auf die Gemüter. Und großes Wehklagen über die ›Ohnmacht des einzelnen gegenüber dem Staat‹, die ›Einsamkeit des Menschen‹, die ›Sinnlosigkeit des Daseins‹, über den Tod, das Nichts […] setzte ein.« 67

Unter den ehemaligen Anhängern der 68er-Bewegung war in dem Jahrzehnt nach der Revolte der Glaube an den Sinn der menschlichen Existenz und der gesellschaftlichen Entwicklung im Ganzen massiv erschüttert. Die Zuversicht bezüglich der Veränderbarkeit der eigenen Zukunft war einem Gefühl der Ohnmacht gewichen und der als unerschütterlich und rauschhaft erlebte Zusammenhalt Gleichgesinnter hatte sich wider Erwarten als flüchtig erwiesen. Das Vertrauen in staatliche Institutionen war nachhaltig zerstört, zumal der bundesdeutsche Staat in den 1970er Jahren fortschrittliche Reformprojekte ruhen ließ und zur Bekämpfung des Terrorismus auf den Ausbau von Gesetzen und Investitionen in die innere Sicherheit setzte.68 »Gerade diese Generation erlebte das Aufeinandertreffen verschiedenster Sinndefizite: Utopieverlust, Bindungsverlust [und] Weltbildverlust […]«69, konstatiert der Sozialwissenschaftler Werner Linder. Im Jahr 1977, während des sogenannten ›Deutschen Herbstes‹, korrespondierte die angsterfüllte Zeitstimmung der Neuen Linken vorübergehend mit der emotionalen Atmosphäre der gesamten bundesdeutschen Gesellschaft.70 Der 65 | THEWELEIT, Bemerkungen zum RAF-Gespenst, S. 30. 66 | SCHNEIDER, Den Kopf verkehrt aufgesetzt, S. 58. 67 | SCHNEIDER, Den Kopf verkehrt aufgesetzt, S. 57. 68 | Vgl. LINDNER, Jugendprotest seit den fünfziger Jahren, S. 257. 69 | LINDNER, Jugendprotest seit den fünfziger Jahren, S. 258. 70 | Die Formel ›Deutscher Herbst‹ steht synonym für die Zeitspanne zwischen der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die RAF am 5. September 1977 und dessen Ermordung am 19. Oktober 1977. Dazwischen lagen die Entführung des Lufthansa-Flugzeuges Landshut durch die palästinensische Terrorgruppe Volkfront zur

9. Scheitern

Begriff, der die Hochphase des Linksterrorismus umschreibt, steht für eine der schwersten staatlichen Krisen der bundesdeutschen Geschichte und spielt mit der symbolischen Bedeutung der herbstlichen Jahreszeit für eine triste, niedergedrückte Stimmung. Die unbehagliche gesellschaftliche Atmosphäre – eine »beinah rilkehaft-melancholische Gruppenphantasie«71 – war von Terrorprävention und Terrorangst geprägt. Polizeipräsenz, Straßensperren, Observierung, Rasterfahndung, elektronische Datenerfassung, Personenkontrollen waren die Schlüsselworte in der zeitgenössischen Diskussion um den Überwachungsstaat. Für die Anhänger der Neuen Linken erwies sich dieses Szenario als Albtraum, sie fühlten sich umso mehr als politische Außenseiter stigmatisiert und in ihrem Dasein bedroht. »Die[] Sicherheit ist uns abhanden gekommen«, lautete deshalb das resignierte Resümee Volkhard Brandes, einem Vertreter der einst so optimistischen Protestgeneration, »[d]ie Angst vor der Zukunft ist heute größer als die Hoffnung.«72

9.5  Z wischenresümee Gegen Ende des Jahres 1968 hatte die antiautoritäre Revolte ihren Höhepunkt bereits überschritten. Kurzfristig sichtbare politische Erfolge blieben aus, stattdessen gestalteten sich die Zusammenstöße zwischen den Protestierenden und der Polizei immer gewaltsamer. Die Bewegung verlor ihre Leichtigkeit und Spontanität, sie büßte an Kohäsionskraft ein und der Protestgeneration fiel es immer schwerer, an gemeinsamen Zielen festzuhalten. Obwohl der rastlose politische Aktivismus für die männlichen Politfunktionäre eine zunehmend belastende Lebenssituation darstellte und zur unbefriedigenden, lästigen Pflicht wurde, investierten sie ihre versiegende Energie zunächst weiter eisern in den Protest. Innerhalb der maskulin codierten linken Protestgemeinde kam es einem Verstoß gegen die kollektiv gültigen Emotionsnormen gleich, die Revolution in Zweifel zu ziehen und Erschöpfung einzugestehen. Die männlichen ›68er‹ legten ein körperriskantes Verhalten an den Tag, indem sie physische und psychische Beschwerden angesichts ihres pausenlosen politischen Engagements ignorierten, um vor ihren Genossen nicht als schwach und effeminiert dazustehen. Sie verdrängten krampfhaft die unweigerliche Tatsache, dass die politische Bewegung ihrem Ende nahe kam, bis sich schließlich eine Welle der schmerzhaften ErnüchBefreiung Palästinas, die mit der Befreiung der Geiseln in Mogadischu endete, und die sogenannte Todesnacht in Stammheim, in der die führenden Köpfe der ersten RAF-Generation Suizid begingen. Der Begriff ist kurz nach den Ereignissen entstanden. Siehe: BOZAT, Tatjana/KIDERLEN, Elisabeth/WOLFF, Frank (Hg.): Ein deutscher Herbst, Zustände, Dokumente, Berichte, Kommentare, Frankfurt 1978. 71 | THEWELEIT, Bemerkungen zum RAF-Gespenst, S. 73. 72 | BRANDES, Wie der Stein ins Rollen kam, S. 195.

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Emotionale Strukturen der 68er

terung ihren Weg in das Protestmilieu von ›1968‹ bahnte. Maßlos war die Enttäuschung der desillusionierten Oppositionellen, als sie begriffen, dass es ihnen nicht gelungen war, die bestehenden Verhältnisse in kurzer Zeit radikal umzuwälzen. Als im Herbst 1969 eine reformwillige sozialliberale Regierung die verhasste Große Koalition ablöste, erodierte zudem das klar definierte Feindbild der Protestierenden und der außerparlamentarischen Bewegung schien es, als verlöre sie ihre Existenzberechtigung. Angesichts der bitter enttäuschten utopischen Zukunftserwartung machte sich im kollektiven Emotionshaushalt der zerfallenden 68er-Bewegung Unzufriedenheit, Hoffnungslosigkeit und Frustration breit. Auf der Suche nach einer neuen Organisationsform zerstritten sich die Mitglieder des SDS heillos und entwickelten ganz unterschiedliche Politikansätze, so dass eine Auflösung des organisatorischen und ideellen Zentrums der 68erBewegung nicht lange auf sich warten ließ. Indessen war die bundesdeutsche Neue Linke in hunderte konkurrierende Parteien, Bünde und Sekten zersplittert. Obgleich sich der Fokus der ideologisch fraktionierten linksradikalen Nachfolgeorganisationen der antiautoritären Bewegung insgesamt auf die Mobilisierung der Arbeiterklasse verlagert hatte, standen sich die neulinken Gruppen, jeweils darum bemüht, ein eigenständiges politisches Profil zu gewinnen, feindlich gegenüber. In der Angst, allein und isoliert zurückzubleiben, schlossen sich die linken Aktivisten rasch einem neu gegründeten Bund an. Der abrupte Verlust von politischer Solidarität und persönlichen Freundschaften war für die ehemaligen Anhänger der 68er-Bewegung äußerst schmerzlich und trug traumatische Züge. Eine Erschütterung über die jähen, unversöhnlichen Trennungen und feindseligen Abgrenzungen, die dem Zusammenbruch der Protestgemeinde folgten, prägte die in Auflösung begriffene kollektive Gefühlsordnung der linken Szene nachhaltig. In den 1970er Jahren blickten die Vertreter der linken Politszene auf die antiautoritäre Rebellion als katastrophalen Misserfolg zurück, den sie nicht verarbeiten und überwinden konnten. Melancholie charakterisierte fortan die emotionale Atmosphäre innerhalb der Neuen Linken, die sich zu diesem Zeitpunkt größtenteils in dogmatische, wirklichkeitsfremde Politikansätze verrannt und von der Mehrheitsgesellschaft radikal abgeschottet hatte. Durch den Radikalenerlass und den aufkommenden Linksterrorismus sah sich die einstige Protestgeneration in den 1970er Jahren gesellschaftlich wie politisch stigmatisiert und marginalisiert. In ihrer Verdrossenheit über die abhanden gekommene politische Handlungsmacht blickten sie voller Ratlosigkeit und Schwermut in die Zukunft. Das Ende der 68er-Bewegung war für viele Protestteilnehmer einem Identitätsverlust gleichgekommen. Aus retrospektiven autobiografischen Narrativen früherer Polit-Aktivisten geht hervor, dass die Diskrepanz zwischen dem Empfinden von Euphorie, Entschlossenheit und Omnipotenz zu Zeiten der 68er-Bewegung und dem Erleben von Unsicherheit, Ohnmacht und Antriebslosigkeit nach deren Zerfall in einer Häufung depressiver Erkrankungen endete. Eine Krise der Männlichkeit lässt sich für die Neue Linke der 1970er Jahren auch insofern diagnostizieren, als dass geschlechterstereotyp

9. Scheitern

weiblich konnotierte Eigenschaften wie Passivität, Introvertiertheit, Niedergedrücktheit und Angst das Seelenleben der betrübten Protestveteranen dominierten. Im Jahrzehnt nach der 68er-Revolte fühlten sich die männlichen Vertreter der Neuen Linken ihrer kulturrevolutionären Potenzphantasien beraubt, sie waren nicht mehr ideell oder politisch, sondern nur noch in ihrem Weltschmerz vereint. Glaubten die Akteure von ›1968‹ zu Beginn der Revolte noch, durch die Freisetzung und Artikulation von Emotionen könne die Welt verändert und verbessert werden, so war ihr Gefühlsrepertoire nach dem Scheitern der Revolution ganz im Gegenteil dazu von Weltflucht und Innerlichkeit geprägt.

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Ergebnisse

1. Zusammenfassung

Wie die vorliegende Studie gezeigt hat, spielten kollektive Emotionen eine bedeutende Rolle bei der Entstehung, in der Hochphase und dem Niedergang der bundesdeutschen 68er-Bewegung und haben einen hohen Erklärungswert zur wissenschaftlichen Entschlüsselung des Phänomens ›1968‹. In ihrer Rebellion gegen die Normen und Werte der Mehrheitskultur bildeten die Protestaktivisten distinkte emotionale Stile und Standards heraus und schlossen sich zu einer emotionalen Gemeinschaft zusammen. Da es sich bei der zeitgenössischen Protestgemeinde um eine stark von männlichen Akteuren dominierte Szene handelte, brachte diese nicht nur eine subkulturelle, generationsspezifische Gefühlskultur hervor, sondern auch ein von der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft abweichendes Verständnis von hegemonialer Männlichkeit. Diese beiden Entwicklungslinien können nur im gegenseitigen Zusammenspiel betrachtet werden: Wie die Protagonisten der maskulin codierten 68er-Bewegung Emotionen erlebten und zum Ausdruck brachten, war untrennbar mit der Inszenierung von männlicher Geschlechtszugehörigkeit verknüpft. Die zumeist männlichen Politaktivisten bildeten im gemeinsamen Kampf für die Revolutionierung der bestehenden Verhältnisse einen kollektiven Protesthabitus heraus, über den vergeschlechtlichte Gefühlslagen transportiert wurden. Im Rahmen meiner Untersuchung hat sich herauskristallisiert, dass bestimmte emotionale Dispositionen innerhalb der 68er-Bewegung Hochkonjunktur erfuhren und von den Mitgliedern der emotionalen Gemeinschaft intensiv und machtvoll erlebt wurden. Diese Gefühle wurden vom Kollektiv gutgeheißen, gefördert und zur Norm erhoben. Wer sie zum Ausdruck brachte, konnte sich der Zustimmung der Protestgemeinde sicher sein und seine ideelle Zugehörigkeit zur 68er-Bewegung öffentlich demonstrieren. Emotionen, die in der Gegenkultur als legitim und angebracht erachtet wurden, korrespondierten zugleich immer auch mit den in der linksorientierten Protestszene virulenten Vorstellungen idealer Männlichkeit. Genauso verhielt es sich auch mit emotionalen Lagen, die von den Mitgliedern der sozialen Bewegung abgelehnt, missbilligt oder gar verleugnet wurden. Verpönte Gefühle, die in den Augen des Protestkollektivs als inadäquat galten, wurden zumeist auch als unmännlich betrachtet. Wie diese

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Männlichkeit zwischen Gefühl und Revolution — Ergebnisse

Analyse bewiesen hat, erfolgte das Handeln der 68er-Generation als politischer Akteur nicht ausschließlich nach zweckrationalen Prinzipien, sondern war maßgeblich von kollektiven Emotionen begleitet und motiviert. In der Initialphase des Protests und bei der Aufrechterhaltung des Mobilisierungserfolgs der 68er-Bewegung waren die utopische Sehnsucht nach einer besseren Welt und der Glaube an die weltbewegende Kraft internationaler Solidarität von eminenter Bedeutung. Das euphorische Lebensgefühl durch bedingungslosen Zusammenhalt die unmittelbare Zukunft umfassend zu ändern und aktiv nach eigenem Geschmack gestalten zu können, spielten bei der Vergemeinschaftung der sozialen Bewegung eine mindestens ebenso große Rolle wie konkrete politische Zielsetzungen. Was in den späten 1960er Jahren viele junge Menschen vereinte, war die utopische Vision, dass in der Bundesrepublik Deutschland eine sozialistische Revolution vor der Tür stünde. Die traditionell-konservative Kultur der Adenauerzeit, in der das gesamtgesellschaftliche Bedürfnis nach Privatheit, Stabilität und Wohlstand gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse stagnieren ließ, erschien der 68er-Generation reaktionär und saturiert. Der Mangel an Idealismus und die Utopiemüdigkeit der politisch weitgehend desinteressierten Kriegsgeneration sowie deren vermeintliche Unfähigkeit, (politische) Emotionen öffentlich zu äußern, weckte bei den Töchtern und Söhnen das Bedürfnis, sämtliche gesellschaftliche Traditionsbestände radikal zu hinterfragen. Als Instrumentarium zur Entfesselung von aufgestauten Fortschrittsenergien und zur Herbeiführung des gewünschten revolutionären Umsturzes diente der studentischen Protestgeneration die totale, rücksichtslose Kritik alles Bestehenden im Sinne der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Gefühle der Negation und der Destruktion erfuhren in der kollektiven Gefühlskultur der bundesdeutschen 68er-Bewegung einen konjunkturellen Aufschwung, genauso wie hoffnungsvolle und zukunftsoptimistische Emotionen. Ohne konkrete Ideen für die Ausgestaltung einer künftigen Gesellschaft parat zu haben, zogen die ›68er‹ ihre revolutionäre Ungeduld aus dem Traum von einer repressionsfreien sozialen Ordnung und einem neuen befreiten Menschentypus, der sich durch eine veränderte emotionale Konstitution auszeichnen sollte. Dabei spielte das Konzept der Neuen Sensibilität von Herbert Marcuse eine große Rolle. Der Kulturphilosoph sah in der Befreiung vom stereotyp männlich verorteten Diktat der Vernunft und der Entwicklung einer weiblich assoziierten gesteigerten Empfindsamkeit die Basis einer Kulturrevolution. Dies ist als Hinweis zu werten, dass die offene, vorbehaltlose Artikulation von Emotionen, wie sie geschlechterstereotyp dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben wurde, im männlich dominierten Protestmilieu der antiautoritären Bewegung eine Aufwertung erfuhr. Die siegessichere Gewissheit Kraft des eigenen Willens einen historisch bedeutsamen Wandel herbeiführen zu können, erzeugte bei den ambitionierten Revolutionären jedoch auch Allmachts- und Größenphantasien. Angetrieben durch ein soziokulturell dem männlichen Geschlecht zugeschriebenes Streben nach Macht, war die Gefühlskultur der maskulin codierten Protest-

1. Zusammenfassung

bewegung von revolutionärem Übermut und übersteigertem Selbstbewusstsein gekennzeichnet. Die Unvereinbarkeit der unerreichbar hohen Erwartungen an die eigenen Fähigkeiten und die verschwindend geringe Chance auf die erfolgreiche Umsetzung einer Revolution stellte ein emotionales Dilemma für die Protestierenden dar. Eine potentielle Quelle von emotionalem Leid für den Einzelnen speiste sich aus dem vom Protestkollektiv ausgehenden normierenden Druck, das Unmögliche für möglich zu halten. In der Tradition der männlich dominierten sozialistischen Arbeiterbewegung erklärten die Protagonisten der maskulin codierten 68er-Bewegung Solidarität zum affektiven Fundament ihrer Gefühlskultur. Da Empfindung, Mitleid und Mitmenschlichkeit in der biopolaren Geschlechterordnung traditionell dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben wurden, entsprach der depersonalisierte Terminus der Solidarität, der vordergründig nicht auf Emotionen, sondern auf interessenspolitischer Vernunft basierte, der ›rationalen‹ maskulin codierten politisch-öffentlichen Sphäre. Mit dem Solidaritätsbegriff drückten die linksstehenden Protestaktivisten Gefühle der Zusammengehörigkeit, Empathie und Loyalität aus und beschrieben ihre politische und emotionale Haltung zu den strukturell benachteiligten ehemaligen Kolonialvölkern der ›Dritten Welt‹. Sie konstruierten das diffuse Bedrohungsszenario eines weltumspannenden Imperialismus, ausgehend von den westlichen Industrienationen, und verbanden so ihre eigene Rebellion für mehr Demokratie in der Bundesrepublik mit dem Kampf kommunistischer Befreiungsbewegungen in Afrika, Asien und Südamerika. Auf diese Art und Weise schufen die ›68er‹ eine universale Leidensgemeinschaft und verklärten ihre antiimperialistischen Bestrebungen zum Kampf für die Menschlichkeit und das Gute schlechthin. Mit ihrer pathetischen Forderung nach weltweiter Solidarität konnten sie sich ein wohliges und zufriedenes Gefühl von moralischer Integrität verschaffen und zugleich in exotischen Utopien schwelgen. Auf dem Weg der internationalen Solidarität vollzog sich auch eine bewegungsinterne Solidarität. Über die Wahrnehmung des Imperialismus als globale Gefahr gelang es der bis dahin ideologisch gespaltenen bundesdeutschen Neuen Linken, ihre politischen Differenzen zu überwinden und geschlossen gegen die weltweite Ausbeutung und Unterdrückung der ›Beherrschten‹ einzutreten. Die überwiegend männlichen Akteure der Protestbewegung verbrüderten sich und zelebrierten ihre neu entfachte Harmonie und männerbündische Gefühligkeit bei jeder sich bietenden öffentlichen Gelegenheit. Die Idee, durch uneingeschränkten Zusammenhalt die Welt zum Besseren zu verändern, führte dazu, dass Mitglieder der bundesdeutschen 68er-Bewegung, die sich auf lokaler Ebene für ein konkretes politisches Ziel der Protestgemeinschaft einsetzten, ihr Handeln zum heldenhaften, aufopferungsbereiten Kampf gegen das imperialistische System stilisieren konnten. Eine Abweichung vom emotionalen Imperativ der Solidarität verstieß dementsprechend gegen den Gefühlscodex der studentischen Bewegung. Wer sich nicht vorbehaltlos mit den Zielen der Bewegung solidarisierte, sondern seiner eigenen Wege ging, wurde von der Protestgemeinschaft harsch abgestraft,

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was die Nähe des Solidaritätsbegriffes zur Disziplinierung und Unterordnung aufzeigt. Mit der Etablierung einer Protestbewegung ging die Ausbildung einer unverkennbaren kollektiven Protestidentität männlicher Prägung einher, die auf gemeinsamen Handlungs-, Wahrnehmungs- und Gefühlsmustern beruhte und dem Transport kollektiver Emotionen diente. Habituelle Ausdrucksformen maskuliner Emotionalität lassen sich im linken Protestmilieu rund um das Jahr 1968 in der Kreation einer spezifischen Sprache des Protests, in der kulturrevolutionären Codierung von Kleidung und Frisuren und in der körperkommunikativen Selbstinszenierung im Rahmen öffentlichkeitswirksamer Protestaktionen ausmachen. Hegemoniale Männlichkeit wurde in der maskulin codierten 68er-Bewegung maßgeblich über sprachliche Ausdrucksfähigkeit erlangt. Die studentische Elite entwickelte einen komplexen, marxistisch gefärbten Wissensschaftsjargon und verwendete den fachakademischen Soziolekt wie eine Art männerbündische Geheimsprache als Mittel der emotionalen In- und Exklusion. Mit der auf den ersten Blick trocken, abstrakt und emotionslos wirkenden Politsprache lieferten sich die jungen Intellektuellen leidenschaftliche verbale Schlagabtausche mit politischen Gegnern und trugen in den eigenen Reihen erbitterte argumentative Wortgefechte um den Führungsanspruch innerhalb der Bewegung aus. Während die anspruchsvolle, mit wissenschaftlichen Zitaten und Fremdwörtern gespickte Diktion für die männlichen ›68er‹ mit Emotionen der Ermächtigung verbunden war, fühlten sich viele weibliche Protestteilnehmerinnen von der kompetitiv strukturierten maskulinen Diskussionskultur eingeschüchtert und verunsichert. Ebenfalls mit maskuliner Hegemonie assoziiert wurde in der linksalternativen Protestszene die Fähigkeit, das ›Establishment‹ durch einen innovativen, frechen und ironischen Sprachwitz zu verspotten und zu schockieren. Es entsprach dem Lebensgefühl der antiautoritären Oppositionellen, ihre politischen Botschaften auf Demonstrationsveranstaltungen in Form von eingängigen, humorvollen Reimen herauszuschreien und gesellschaftskritische, satirische Flugblätter in Umlauf zu bringen, die den Leser verblüfften, schmunzeln ließen oder auch empörten. Durch schöpferische Sprachkraft starke emotionale Reaktionen und somit eine gesteigerte Aufmerksamkeit für die Protestanliegen hervorzurufen zu können, erfreute und befriedigte die zuweilen schelmischen Protestaktivisten. Das kulturrevolutionäre Männlichkeitsideal und normative Gefühlsrepertoire der 68er-Bewegung waren darüber hinaus durch nonkonformes, antiautoritäres Verhalten und Aussehen geprägt. Um eine distinkte generationelle Identität herauszubilden und zur Schau zu stellen, lehnten die Mitglieder der linken Protestgemeinschaft althergebrachte Werte wie Ordnung, Disziplin und Angepasstheit grundsätzlich ab und versuchten mit aller Kraft, die Regeln und Normen der mehrheitlichen Gesellschaft zu brechen. Dabei spielte die Strategie der Provokation die zentrale Rolle: Die zumeist männlichen 68er-Aktivisten zielten darauf ab, diejenigen, die das System trugen und befürworteten, zu reizen, in einen offenen

1. Zusammenfassung

Konflikt hineinzuziehen und zu einer affektiven Reaktion zu zwingen, die sie moralisch diskreditierte. Die Protestierenden lehnten sich gegen die vestimentären Repräsentationsformen bürgerlicher Männlichkeit auf, indem sie sich von der förmlichen, akkuraten und dem Anlass angemessenen Herrenmode der 1960er Jahre lossagten und legere, zwanglose Alltagskleidung trugen, die manchmal achtlos, manchmal kreativ, exotisch und bunt zusammengestellt war. Wichtig war es den jungen Revolutionären, sich in ihrer saloppen Garderobe wohl und frei zu fühlen und selbstsichere Lässigkeit auszustrahlen. Als deutlichstes äußeres Bekenntnis zur außerparlamentarischen Bewegung und deren kollektivem emotionalen Haushalt galten lange Haare, die zeitgenössisch nur dem weiblichen Geschlecht gestattet waren, außerdem üppig sprießende Bärte, die gemeinhin als nachlässig und unmanierlich betrachtet wurden. Mit dem Gammel-Look als bewusstem Verstoß gegen Körperpflegestandards ironisierten die ›68er‹ das bürgerliche Verständnis von Anstand und guten Manieren. Einen draufgängerisch-militanten Habitus evozierten die jungen Oppositionellen mit einem militärisch und kommunistisch assoziierten Kleidungsstil nach dem Vorbild des Revolutionsführers Che Guevara. Die studentischen Aktivisten riefen mit ihrem normverletzenden Erscheinungsbild bei konservativen Mitbürgern Ablehnung und Empörung hervor. Indem sie sich selbst stigmatisierten, mussten sie damit rechnen ausgegrenzt, beschimpft, bedroht oder gar verprügelt zu werden. Dennoch trugen sie die antiautoritäre Gegenmode voller Stolz als Symbol ihrer radikaloppositionellen Gesinnung und provozierten feindliche Reaktionen bewusst, um den Durchschnittsbürger als autoritätshörig, intolerant und latent aggressiv zu entlarven. Die bis dahin in der Bundesrepublik unbekannten expressiven Protestformen der 68er-Bewegung, wie beispielsweise Sit-ins oder Happenings, folgten der Strategie symbolischer Regelverletzung. Durch provokative Überraschungseffekte verwandelten sie die tradierte Ordnung des öffentlichen Raumes in Chaos und verwirrten die staatliche Ordnungsmacht. Mit dem aktionistischen Protest gelang es der Protestszene erstmals, sich große öffentliche und mediale Aufmerksamkeit zu verschaffen, was das Gefühl der 68er-Generation linderte, politisch nicht gehört zu werden. Die Antiautoritären nahmen die kreativen Protestaktionen zusehends als lustbesetztes Vergnügen und spannendes Abenteuer wahr und entwickelten den sogenannten Spaß-Protest. Auf Demonstrationsveranstaltungen sollten ›unmännliche‹ Empfindungen wie Anspannung und lähmende Furcht, die eine unerschrockene, aktive und couragierte Beteiligung am Protestgeschehen hemmten, durch lustige, originelle und einfallsreiche Aktionen in Ausgelassenheit verwandelt werden. Darüber hinaus legten es die studentischen Politaktivisten darauf an, bei ihren politischen Gegnern negative Gefühle wie Wut und Hass hervorzurufen, indem sie diese in die Irre führten, ärgerten, auslachten und verspotteten. In einer bewusst herbeigeführten emotionalen Eskalation wollten sie die von der gezielten Provokation Betroffenen dazu zwingen, ihr wahres, vermeintlich ›böses‹ Gesicht zu zeigen. Die maskulin codierte 68er-Bewegung ver-

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vollkommnete das üblicherweise bereits in der männlichen Sozialisation erlernte Erproben riskanter Aktionen und spielerische Verärgern von Autoritäten in ihrer aktionistischen Protestkultur. Die Bewegten von ›1968‹ nutzten freches, respektloses und übermütiges Verhalten als politische Waffe und integrierten es in ihren kollektiven emotionalen Stil. Des Weiteren waren für zahlreiche Mitglieder der 68er-Generation die unaufgearbeitete nationalsozialistische Vergangenheit der Bundesrepublik und die individuellen Verstrickungen der Elterngeneration in die NS-Diktatur die emotionalen Beweggründe zum Protest. Die linksstehenden Studenten setzten sich intensiv mit der psychischen und emotionalen Konstitution der ›Täter-Generation‹ auseinander, die am Auf bau eines menschenverachtenden, repressiven Regimes beteiligt gewesen war. Den bedeutendsten Bezugspunkt für die Entwicklung eigener, ›moralisch überlegener‹ emotionaler Standards stellte für die Protestbewegung die als kalt und distanziert erlebte Gefühlskultur der kriegsbelasteten Elterngeneration dar. In geschlechtsstereotyper Weise schloss die männlich dominierte Protestbewegung die Täterrolle der Mütter aus und gab die Schuld an den Verbrechen des männerbündisch strukturierten NS-Systems ausschließlich den Vätern. Bei der Rebellion gegen die ›Nazi-Generation‹ handelte es sich also primär um einen Generationenkonflikt zwischen Vätern und Söhnen, der auf dem emotionalen Motiv des Misstrauens basierte. In autobiografischen Berichten beschreiben Protagonisten der 68er-Bewegung, dass ihre Väter beharrlich über ihre nationalsozialistische Vergangenheit und erlittene Traumata im Zweiten Weltkrieg schwiegen und sämtliche Fragen ihrer Söhne diesbezüglich abblockten. Die soldatisch sozialisierte Vätergeneration verbarg körperliche und seelische Schmerzen und ließ Gefühle, wie Angst, Scham oder Trauer, die als schwach und effeminiert galten, nicht zu. Eine gehemmte, von Sprachlosigkeit gekennzeichnete familiäre Atmosphäre stand einem vertrauensvollen, innigen Vater-Sohn-Verhältnis entgegen und führte dazu, dass Mitglieder der Protestgeneration sich für ihre Eltern schämten und sich emotional von ihnen abgrenzten. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich die politischen Karrieren einer nationalsozialistisch belasteten männlichen Führungselite häufig nahezu nahtlos fort, was die zuweilen paranoide Züge annehmende Angst der ›68er‹ bestärkte, in allen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens mit ehemaligen NS-Verbrechern konfrontiert zu sein. Die Befürchtung, bei dem bundesdeutschen Rechtsstaat handle es sich nach wie vor um ein latent faschistisches System und die Geschichte könne sich wiederholen, charakterisierte die antiautoritäre Bewegung als emotionale Gemeinschaft. Ein immer wiederkehrendes Topos in den lebensgeschichtlichen Narrativen von 68er-Aktivisten besteht zudem in der Stilisierung eines gewalttätigen Vaters als Metapher gesellschaftlicher Machtverhältnisse. In Anlehnung an die Studien der Frankfurter Schule über Autorität und Familie interpretierten die Protagonisten der Protestbewegung das Erleben körperlicher Gewalt durch den eigenen Vater als Sensibilisierung für die Beschaffenheit eines bestrafenden und autoritären

1. Zusammenfassung

›Vater-Staates‹. Die distanzierte, argwöhnische Haltung in Bezug auf reale und symbolische Väter fand auch auf diesem Wege Eingang in das kollektive Gefühlssystem der 68er-Bewegung und galt normierend als eine Pflichtübung für rebellierende Söhne. Im studentischen Protestmilieu war die Auffassung, dass die autoritätshörigen mentalen Dispositionen, die die Deutschen die NS-Diktatur unterstützen ließen, durch Erziehung und kindliche Identifikation auch auf die nachgeborene Generation übergegangen seien. Insofern schrieben sich die ›68er‹ selbst psychische Störungen und seelisches Leid zu und sahen in der Psychoanalyse, die im Nationalsozialismus als jüdische Wissenschaft verpönt war, das adäquate Mittel, um sich von den psychischen Altlasten des ›Faschismus‹ zu befreien. In Selbsterfahrungsgruppen versuchten Mitglieder der Protestgemeinde sich mittels einer psychoanalytischen Laienpraxis selbst zu heilen, indem sie unbewusste Fantasien, Gefühle und seelische Belastungen offenlegten. Obwohl zahlreiche intellektuelle SDS-Funktionäre der ›unmännlichen‹ Ergründung des innersten Gefühls- und Seelenlebens äußerst skeptisch und ablehnend begegneten, erfreute sich das Bild des sensiblen, empathischen Mannes großer Attraktivität in der Protestgemeinde. Vor allem die Kommune-Bewohner psychologisierten ihr Alltagsleben in erschöpfender Weise bis ins kleinste Detail. Ihr Anspruch, Ängste, Sorgen und psychische Nöte in Gruppensitzungen öffentlich zu machen, führte dazu, dass manche Teilnehmer sich nicht psychisch befreit, sondern unter Druck gesetzt fühlten. Dennoch entwickelten die Studierenden eine gesteigerte Wahrnehmung für psychische Belastung und Überforderung und schrieben den Universitäten mit ihrer elitären Ausrichtung auf Leistung, Konkurrenz und Erfolg ein pathogenes Klima zu. Im Rahmen einer politisch verstandenen Psychologie war das Aufdecken von seelischem Leid und die Zurückweisung des männlich assoziierten Leistungsimperativs auch für die männlichen Protestaktivisten nicht mehr mit dem Verlust von maskulinem Status verbunden. Manche ›68er‹ trugen ihre vermeintlichen Neurosen fast schon mit Stolz nach außen. Innerhalb der Protestgemeinde wurden diejenigen, die eine innere Revolution betrieben, oftmals als die authentischeren Revolutionäre betrachtet, da sie die passende psychische Konstitution besaßen, um auch eine äußere Revolution herbeizuführen. Überdies betrachtete die bundesdeutsche 68er-Bewegung die nationalsozialistische Sexualpolitik als besonders repressiv und übernahm die These des Psychoanalytikers Wilhelm Reich, dass die Unterdrückung von Sexualität zu einem Zustand ›emotionaler Deformation‹ führt und somit den Nährboden für Faschismus bildet. Die hegemoniale Gefühlskultur der postfaschistischen Nachkriegsgesellschaft war, was Sexualität betraf, in den Augen der jungen Oppositionellen nach wie vor von Angst, Scham und moralischen Zwängen bestimmt. Von daher machte die Protestgeneration Sexualität zum Politikum und propagierte ›freie Liebe‹ als die Basis einer friedlichen, gerechten Gesellschaftsordnung. Die kulturrevolutionäre Kommunebewegung startete den Versuch, in Wohnkollektiven

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die Intimsphäre aufzuheben und Sexualität zu kollektivieren. Durch promiskes Sexualverhalten, aber vor allem auch durch das ungenierte Reden über sexuelle Wünsche und Probleme sollte die Schaffung einer sexuell befreiten Gesellschaft herbeigeführt werden. Dementsprechend verlangten die kollektiven Gefühlnormen der linken Protestszene eine radikale, öffentliche Expression von intimen Emotionen. Gleichzeitig war die maskulin codierte 68er-Bewegung als Gefühlsgemeinschaft aber auch von einer Entemotionalisierung von Paarbeziehungen und sexuellen Kontakten geprägt. Die Kulturrevolutionäre lehnten das romantische Liebesideal ab, das die Einheit von Sexualität, Liebe, Ehe und Elternschaft propagierte, und feierten die Praxis ›freier Liebe‹ mit wechselnden, unverbindlichen Frauenbekanntschaften als revolutionären Akt. Das Primat der sexuellen Revolution, das die studentischen Aktivisten von den Verpflichtungen bürgerlicher Männlichkeit als Ehemann, Familienoberhaupt und Vater befreite und eine Luststeigerung durch Promiskuität versprach, kennzeichnen weibliche Mitglieder des antiautoritären Milieus als ein männlich geprägtes Konzept. Frauen fühlten sich durch das Gebot der ›freien Liebe‹, das häufig nicht ihren sexuellen und emotionalen Bedürfnissen entsprach, ausgenutzt und bevormundet. Im SDS führte die Wut einiger ›68erinnen‹ darüber, dass sie von männlichen Genossen zu Sexualobjekten degradiert wurden und politische Einflussmacht nur über den Freund oder Ehemann erlangen konnten, zu beträchtlichen emotionalen Konflikten zwischen den Geschlechtern. Retrospektive Zeugnisse belegen darüber hinaus, dass auch männliche Politaktivisten Probleme mit den sexualrevolutionären Emotionsregeln hatten: Gefühle wie Scham und Eifersucht, die in der linksorientierten Protestszene als ›bürgerlich‹ verpönt waren, ließen sich auch im Namen der Revolution nicht gänzlich unterdrücken. Zunächst verfolgten die Bewegten von ›1968‹ gewaltlose Strategien des zivilen Ungehorsams, bewegten sich mit ihrer Provokationstaktik allerdings immer öfter an der Grenze zur Illegalität und ließen sich auf Demonstrationsveranstaltungen schließlich zu spontanen Gewalttaten gegen die oftmals unverhältnismäßig hart durchgreifende Ordnungsmacht hinreißen. Für die Vergemeinschaftung der Protestbewegung als überwiegend homosozial strukturierte Gruppierung mit einem kollektiven emotionalen Haushalt, wirkte gewaltsames Protesthandeln als maskuline Handlungsressource vorübergehend integrierend, identitätsstiftend und mobilisierend. Als die Konfrontationen zwischen den Protestierenden und der Polizei dann aber zu regelrechten Straßenschlachten eskalierten, erwies sich das von Wut und Hass geleitete Gewalthandeln als demobilisierend und läutete das Ende der sozialen Bewegung ein. Der Protest verlor seine Spontanität und Leichtigkeit, zumal unmittelbare politische Erfolge ausblieben. Die 68er-Revolte als Protest- und Gefühlsgemeinschaft begann sich angesichts zunehmender ideologischer Streitigkeiten aufzulösen. Weltschmerz über die gescheitere Revolution war die letzte kollektive emotionale Disposition, die die ehemaligen ›68er‹ in den 1970er Jahren noch miteinander verband.

1. Zusammenfassung

Die Aktivisten der maskulin codierten Protestbewegung rechtfertigten gewaltsames Handeln als Mittel der politischen Auseinandersetzung mit dem Mythos revolutionärer Gegengewalt. Obwohl sie das militaristische Männlichkeitsbild ihrer Väter verabscheuten und als erste deutsche Männergeneration massenhaft den Wehrdienst verweigerten, waren sie fasziniert von den Unabhängigkeitskämpfen der ›Dritten Welt‹ und identifizierten sich mit dem gewaltbereiten Typus des Guerilleros. Die bundesdeutsche 68er-Bewegung imaginierte sich als verfolgte Minderheit, die keine andere Wahl hatte, als gegen das übermächtige Gewaltmonopol des bundesdeutschen Staates ›zurückzuschlagen‹. Destruktive und aggressive Gewaltgefühle wurden in der Emotionskultur der männlich geprägten Protestszene also keineswegs negiert. Zunächst gestaltete sich der Umgang mit politischer Gewalt im linken Protestmilieu geradezu leichtfertig, überschwänglich und lustvoll. Die männlichen Protestteilnehmer forderten Konfrontationen mit der Polizei heraus und erlebten diese als spielerische Machtproben unter Männern. Nach dem gewaltsamen Tod des Studenten Benno Ohnesorg und dem Attentat auf den SDS-Funktionär Rudi Dutschke waren die jungen Protestteilnehmer schmerzlich mit der eigentlichen Sterblichkeit konfrontiert und ein Gefühl der existentiellen Bedrohung fand Eingang in die kollektive Gefühlskultur der 68er-Bewegung. Die Befürchtung der traumatisierten Protestaktivisten, jeder von ihnen könne der nächste sein, entfesselte die Wut und den Hass der jungen Menschen auf die Staatsmacht und deren Vertreter und führte zu einer Eskalation der Gewalt. Die Protestierenden schworen Rache und nutzten Gewalthandeln zur Wiederherstellung von männlich assoziierter Handlungs- und Verletzungsmacht. Sie triumphierten, wenn sie in Straßenschlachten ›militärische Siege‹ gegen die Polizei erringen konnten und verloren dabei ihr moralisches Unrechtsbewusstsein. Insofern lässt sich resümieren, dass die antiautoritäre Bewegung der späten 1960er Jahre eine emotionale Atmosphäre schuf, die politische Gewalt gegen den Staat und somit eine Erosion rechtsstaatlichen Denkens förderte, obgleich in den Folgejahren nur vereinzelte ›68er‹ tatsächlich den Schritt in den linksterroristischen Untergrund wagten. Gegen Ende des Jahres 1968 hatte die außerparlamentarische Revolte ihren Höhepunkt überschritten und die Protestaktivisten waren von ihrem unermüdlichen politischen Engagement erschöpft, zumal es ihnen dämmerte, dass der von ihnen angestrebte gesellschaftliche Umsturz nicht gelingen würde. Unter den linksstehenden Studenten machte sich allmählich Ernüchterung breit, da trotz der enormen Anstrengungen konkrete politische Ziele nicht umgesetzt werden konnten. Dennoch verdrängten sie zunächst den Verlust ihrer utopischen Zukunftserwartungen und zogen die Revolution – zumindest öffentlich – nicht in Zweifel, um nicht gegen die kollektiven emotionalen Normen der Protestgemeinschaft zu verstoßen. Angesichts der zusehends von Frustration, Unzufriedenheit und Streitigkeiten bestimmten bewegungsinternen Atmosphäre fraktionierte sich die bundesdeutsche 68er-Bewegung ideologisch und zersplitterte im Jahr 1969 in zahlreiche Bünde und Parteien. Aus Angst, den politischen und sozia-

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len Anschluss zu verlieren, schlossen sich die meisten Antiautoritären einer der zahlreichen neugegründeten linksradikalen Gruppierungen an, die einander abweisend oder gar feindlich gegenüberstanden. Das Ende der 68er-Bewegung als emotionale Gemeinschaft war vom Trauma der Entsolidarisierung charakterisiert: Mit dem Verlust des politischen Zusammenhalts zerbrachen auch persönliche Freundschaften abrupt. In den 1970er Jahren war die linke Politszene von Verdrossenheit, Schwermut und Ratlosigkeit beherrscht. Die Mitglieder der männlich dominierten Neuen Linken interpretierten zum einen die 68er-Bewegung rückwirkend als desolate Niederlage und mussten zum anderen feststellen, dass sie sich mit ihren neuen dogmatisch ausgerichteten Politikansätzen von der mehrheitlichen Gesellschaft abgekapselt und handlungsunfähig gemacht hatten. Eine milieuspezifische ›linke Melancholie‹ bestimmte das Seelenleben der frustrierten Protestveteranen und eine Krise der Männlichkeit fand Einzug in die emotionale Kultur der Neuen Linken. Die einst so hoffnungsfrohen, euphorischen und siegesgewissen Protagonisten von ›1968‹ waren in den 1970er Jahren in einer kollektiven Gefühlslage gefangen, die von Passivität, Introvertiertheit und Angst geprägt war. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Mitglieder der 68er-Bewegung die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft als emotional verschlossen, verkümmert und unfrei betrachteten. In ihren Augen suchte die Mehrheitsgesellschaft ihr Glück in einer kleinbürgerlichen Wohlstandsexistenz, ohne das Trauma des Nationalsozialismus verarbeitet und sich mental von den autoritären Strukturen des totalitären Systems gelöst zu haben. Mit den Theoremen des Emotionshistorikers William M. Reddy gesprochen litt die junge Generation unter den geltenden Gefühlsregeln des hegemonialen emotionalen Regimes der Bundesrepublik Deutschland. Dementsprechend ist das emotionale Unbehagen der ›68er‹ als Ausgangspunkt für die Entstehung einer generationellen Revolte und somit als Motor des gesellschaftlichen und historischen Wandels zu betrachten. Die Vertreter der antiautoritären Protestbewegung entwickelten das politische Credo, dass die Freisetzung und Kommunikation von Gefühlen die bestehenden Verhältnisse zum Besseren verändern könne. Sie erklärten eine emotionale Befreiung zur Voraussetzung einer gesellschaftlichen Befreiung und setzten den Kampf für eine offenere, individuellere und von gesellschaftlichen Zwängen und Normen losgelösten Gefühlskultur auf ihre politische Agenda. Die studentische Protestgemeinschaft bildete eine emotionale Gemeinschaft im Sinne Barbara Rosenweins und schuf eine alternative emotionale Kultur, die jedoch ebenfalls nicht frei von normierenden Mechanismen war. Die Tatsache, dass eine von Männern dominierte politische Bewegung sich für eine Aufwertung von Emotionalität einsetzte, widersprach der althergebrachten geschlechterstereotypen diskursiven Verbindung von Männlichkeit und Rationalität. Obwohl Intellektualität im studentischen Protestmilieu von identitätsstiftender Bedeutung war, durchbrach die maskulin codierte 68er-Bewegung die bis dahin soziokulturell virulente Vorstellung, Politik sei ein vernunftorientier-

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tes Terrain, in dem Emotionen keine Rolle spielten. Die antiautoritären Aktivisten rebellierten gegen das bürgerliche Männlichkeitsideal ihrer Vätergeneration und lehnten ein auf Kontrolle, Gehorsam und Ordnung gepoltes Männerbild ab, das nur eine reduzierte Palette an Gefühlsäußerungen zuließ. Die grundsätzliche Hinwendung zur Emotionalität, wie sie in der traditionellen biopolaren Geschlechterordnung dem weiblichen Geschlecht zugeordnet wurde, bedeutete jedoch nicht, dass es sich bei der Protestbewegung von ›1968‹ um ein geschlechteregalitäres Milieu gehandelt hätte. Das Auf begehren der jungen Generation gegen die hegemonialen Männlichkeits- und Gefühlnormen der Mehrheitsgesellschaft beinhaltete keinen Verzicht auf maskuline Hegemonie. Frauen, die sich an den Protesten rund um das Jahr 1968 beteiligten, konnten die Protest- und Gefühlskultur der sozialen Bewegung nur in geringem Maße mitgestalten und hatten oftmals Probleme, sich den männlich geprägten emotionalen Normen unterzuordnen und anzupassen. In der von der maskulin codierten Protestgemeinde ausgehenden Definitionsmacht darüber, welche Gefühlsausdrücke innerhalb der linken Protestkultur ›erlaubt‹ und welche wiederum ›verboten‹ waren, spielten tradierte Vorstellungen hegemonialer Männlichkeit nach wie vor eine große Rolle. Prägend für die Emotionskultur der bundesdeutschen 68er-Bewegung waren persistente männliche Ideal-Eigenschaften wie Härte, Stärke, Potenz, Entschlossenheit und Aktivität. Zugleich fanden aber auch neue Attribute wie Sensibilität, Genussfreude, Expressivität und Lässigkeit Eingang in den männlichen Tugendkatalog der jungen Oppositionellen, der wiederum die Gefühlsnormen der sozialen Bewegung beeinflusste.

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2. Ausblick

Die vorliegende Untersuchung bereichert das geschichtswissenschaftliche Forschungsrepertoire zur bundesdeutschen 68er-Bewegung, indem sie erstmals die Kategorien ›Geschlecht‹ und ›Emotion‹ als theoretisch-methodische Analyseinstrumentarien systematisch zur Anwendung bringt. Sie leistet einen Beitrag zur bisher vernachlässigten Erforschung von Geschlechterverhältnissen in der studentischen Revolte von ›1968‹ und beantwortet aus männlichkeitshistorischer Perspektive die Frage, inwiefern soziokulturell virulente Männlichkeitsbilder und -normen eine von Männern dominierte Protestkultur prägen und beeinflussen. Wie sich in der Bundesrepublik tradierte Ideale und Vorstellungen von Maskulinität in der markanten gesellschaftlichen Umbruchsphase der späten 1960er Jahre veränderten, wird ebenfalls erhellt. Darüber hinaus bewegt sich die Studie auf dem noch recht jungen und deshalb überaus produktiven und innovativen Forschungsfeld der Emotionsgeschichte: Sie rückt die verhaltenssteuernde Rolle von Gefühlen und deren soziale Konstituierungsprozesse in das Zentrum des Forschungsinteresses, wodurch neue Erkenntnisse über das historische, politische und kulturelle Phänomen des antiautoritären Protestes rund um das Jahr 1968 gewonnen werden können. Bei der Analyse der bundesdeutschen 68er-Bewegung als maskulin codierte emotionale Gemeinschaft hat sich die Annahme verifiziert, dass die sozialen Konstruktionen von Gefühl und Geschlecht sehr eng miteinander verbunden sind und deshalb nur in wechselseitiger Berücksichtigung untersucht werden können: Die Darstellung und Wahrnehmung von männlicher Geschlechtszugehörigkeit spiegelt sich in der Art und Weise, wie kollektive Gefühle im Protestmilieu der Studentenbewegung empfunden und ausgedrückt wurden, unmittelbar wieder. Demzufolge haben sich Emotionen in dieser Forschungsarbeit als relevantes und omnipräsentes Element von Männlichkeit erwiesen, was die althergebrachte Verbindung von Maskulinität und Rationalität als geschlechterstereotypen Diskurs entlarvt. Insofern erscheint eine gesteigerte Aufmerksamkeit für Ausdrucksformen männlicher Emotionalität im Rahmen politikwissenschaftlicher und historischer Untersuchungen als eine fruchtbringende Forschungsperspektive. Gerade im Bereich der Politik, der im 20. Jahrhundert eindeutig als männliches

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und somit rationales Handlungsfeld codiert war, gilt es, den wissenschaftlichen Blickwinkel von der politischen Sachlichkeit hin auf die politische Qualität von Emotionen und Gefühlsmobilisierungen zu lenken. Die Fragen, wie Politik, Emotion und Geschlecht miteinander verflochten sind und inwiefern politische Kommunikation immer auch den Charakter von Gefühlspolitik besitzt, stellen Forschungsdesiderate dar, die sich nicht nur auf das spezifische Untersuchungsfeld des politischen Protests beschränken, sondern auf alle Themen der politischen Geschichte und Gegenwart zu beziehen sind. Vor dem Hintergrund der globalen Gleichzeitigkeit der studentischen Proteste von ›1968‹ und der regen Interaktion der jungen Oppositionellen über nationale Grenzen hinweg, darf künftig die Erforschung einer internationalen Gefühlskultur der 68er-Bewegung nicht ausbleiben. Die Frage, inwieweit die ›68er‹ als globale Generation auf der Basis eines weltweit verbreiteten gemeinsamen Lebensgefühls auch als globale emotionale Gemeinschaft begriffen werden kann, bleibt zu beantworten. Übereinstimmungen, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Gefühlskulturen der verschiedenen nationalen 68er-Bewegungen müssen herausgearbeitet werden. Da der generationellen Revolte von wissenschaftlicher und populärer Seite häufig bescheinigt wird, dass sie zwar kurzfristig politisch gescheitert, aber auf längere Sicht hin kulturell erfolgreich gewesen sei, ist ferner eine Untersuchung der längerfristigen Auswirkungen der gegenkulturellen Gefühlsnormen der ›68er‹ auf die hegemoniale Gefühlskultur der mehrheitlichen Gesellschaft von Interesse. Haben die studentischen Aktivisten gegen Ende der 1960er Jahre vielleicht nicht nur eine Kulturrevolution angestoßen, sondern auch eine Gefühlsrevolution ausgelöst und damit die emotionalen Standards der bundesdeutschen Gesellschaft nachhaltig verändert? Zum Abschluss der vorliegenden Studie spreche ich mich dafür aus, dass es künftig noch mehr Aufgabe der politischen Wissenschaften sein muss, die Rolle von kollektiven Gefühlen im Blickfeld zu haben, um vergangene wie aktuelle politische Ereignisse verstehen und künftige gesellschaftliche Entwicklungen einschätzen zu können. Die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit den emotionalen Repertoires früherer Gesellschaften regt zur selbstreflexiven Erörterung darüber an, welches Lebensgefühl und welche Emotionen für unsere heutige Gesellschaft charakteristisch sind und welche Gefühle aller Voraussicht nach in das kollektive Gedächtnis eingehen werden. Zudem kann die aufmerksame Analyse von gesamt- oder teilgesellschaftlichen emotionalen Stilen, Standards und Normen, so meine ich, wesentlich dazu beitragen, Entstehungskontexte und Motive sozialer und politischer Konflikte zu identifizieren, zu beurteilen und zu lösen.

Quellenverzeichnis A rchivquellen a) Freie Universität Berlin, Universitätsarchiv Sachthematische APO-Sammlung Sig 50 (SDS, Sammlung Staadt, SDS-Projekt) Sig. 239 (Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, 1968-1969) Sig. 257 (SDS, Flugschriften SDS/AStA – HD) Sig. 302 (SDS, Bundesvorstand, 23. Delegiertenkonferenz, 1968) Sig. 397 (SDS, Gruppen Frankfurt, Aufnahmeanträge/Mitgliedsbestätigungen) Sig. 389 (SDS, Gruppen Frankfurt, 1967-1968) Sig. 1382 (FU Flugblätter, Januar–März, 1968) Sig. 1384 (FU Flugblätter, Notstandsgesetzgebung, Institutsbesetzungen, Mai 1968) O. Sig. Sammlung Rainer Langhans O. Sig. Sammlung Horst Mahler O. Sig. Presse- und Informationsstelle der FUB, Flugblätter und -schriften, Mai/ Juni 1967 O. Sig. AStA der FU, Flugblätter, getrennt nach AStA-Referaten, 1968-1969

b) Archiv der Münchener Arbeiterbewegung, München Archiv 451 (Sammlung Christine Dombrowsky) Bestand nicht verzeichnet

c) Institut für Zeitgeschichte, Archiv, München ED 328 Sammlung Otto Friedrich Schlemper Dn 012 Druckschriftensammlung

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Bildnachweis

Abbildung 1: bpk/Kunstbibliothek, SMB/Bernard Larsson Abbildung 2: picture-alliance/dpa/Chris Hoffmann Abbildung 3: ullstein bild – Rudolf Dietrich Abbildung 4: ullstein bild – Wolfgang Kunz Abbildung 5: picture-alliance/dpa Abbildung 6: ullstein bild – Alex Waidmann Abbildung 7: ullstein bild – Henschel Abbildung 8: FU Berlin, UA, APO-Sammlung, Sig. 239 (Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, 1968-1969)

Chronik der Protestereignisse 1 1965 28. Februar Rudi Dutschke wird in den politischen Beirat des Berliner SDS gewählt und etabliert zusammen mit Dieter Kunzelmann und Bernd Rabehl, ebenfalls Mitglieder der Subversiven Aktion, eine antiautoritäre Fraktion des SDS. Im SDS München scheitern die Unterwanderungsabsichten durch die Subversive Aktion.

6. März Der SDS Berlin führt anlässlich der Ausstellung ›Südafrika gestern und heute‹ eine Demonstration gegen die südafrikanische Rassenpolitik durch.

7. Mai Mit dem Journalisten Erich Kuby soll im Audimax der FU Berlin eine Podiumsdiskussion zum Thema ›Restauration oder Neubeginn‹ stattfinden. Diese Veranstaltung muss in das Studentenhaus verlegt werden, da der Rektor der Universität ein Hausverbot gegen Kuby verhängt hat, nachdem sich dieser ›abfällig‹ über die FU geäußert hat. Diese Ereignisse lösen eine Welle studentischer Proteste und Institutsstreiks aus.

30. Mai In Bonn veranstaltet der SDS zusammen mit anderen Hochschulgruppen den Kongress ›Demokratie vor dem Notstand‹.

1 | Die in dieser Chronik aufgeführten Einzelereignisse der bundesdeutschen 68er-Bewegung orientieren sich an folgenden Darstellungen: KRAUSHAAR: 1968, S. 9-310; MÜNDEMANN, Die 68er, S. 220-231; LANGHANS, Rainer/RIT TER, Christa: K 1. Das Bilderbuch der Kommune, München 2008, S. 189-192; COHN-BENDIT/DAMMANN (Hg.): 1968. Die Revolte, S. 235-242; MOSLER, Was wir wollten, was wir wurden, S. 259-295.

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1. Juni Hans Markus Enzensberger und Karl Markus Michel geben die erste Ausgabe der Kulturzeitschrift Kursbuch heraus, die zu einem der wichtigsten Sprachrohre der antiautoritären Bewegung avanciert.

1. Juli Der Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) organisiert einen Protestmarsch gegen den Bildungsnotstand. Über 10.000 Studenten beteiligen sich daran.

19. September In Frankfurt am Main kommt es während einer Rede des Bundeskanzlers Ludwig Erhard im Rahmen der Bundestagswahl-Abschlusskundgebung zu Tumulten. Hunderte Studenten protestieren lauthals und tragen Transparente mit der Aufschrift ›Formierte Gesellschaft + Notstandsgesetze = CDU-Ständestaat‹.

13.-17. Dezember Der SDS Berlin veranstaltet eine Ausstellung über den Vietnamkrieg und sammelt Spenden für das Rote Kreuz Nordvietnams und des Vietcongs.

1966 5. Februar 2.500 Demonstranten protestieren in Berlin gegen den Vietnamkrieg und legen mit einem Sitzstreik den Verkehr lahm. Nach der Abschlusskundgebung ziehen ca. 500 Demonstranten weiter, bewerfen das Amerikahaus mit Eiern und setzen die amerikanische Flagge auf Halbmast. Der Senat der FU Berlin beschließt daraufhin, den Studenten keine Räume mehr für politische Veranstaltungen zu überlassen.

22. Mai An der Universität Frankfurt beginnt unter dem Motto ›Vietnam – Analyse eines Exempels‹ der erste Vietnamkongress des SDS. Mehr als 2.000 Studenten, Professoren und Gewerkschafter beteiligen sich daran. Juni SDS-Mitglieder aus München und Berlin diskutieren in Kochel am See über die Möglichkeiten des kulturrevolutionären Zusammenlebens in Wohnkollektiven. 22.-23. Juni An der FU Berlin unterbrechen 3.000 Studenten eine Sitzung des Akademischen Senates, um mit einem Sit-in für umfassende Hochschulreformen zu demonstrieren. Der Rektor wird von Studenten zu einer Diskussion über Zwangsexmatri-

Chronik der Protestereignisse

kulationen und das Raumvergabeverbot für politische Veranstaltungen aufgefordert. Die Aktion verläuft insofern erfolgreich, als dass der Akademische Senat das Raumverbot kurz darauf wieder aufhebt. 6. Juli In München finden Proteste gegen die Regierungsvorlage für ein Bayerisches Hochschulgesetzt statt. Die Studierenden sehen in dem Entwurf die Freiheit von universitärer Forschung und Lehre beeinträchtigt. 8. Juli Im Henry-Ford-Bau der FU Berlin kommt es zu einer Schlägerei zwischen linksstehenden Mitgliedern der 68er-Bewegung, die gegen den Vietnamkrieg protestieren, und Mitgliedern des CDU-nahen Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS). 2. August Aktivisten der Studentenbewegung erzwingen den Abbruch des rassistischen Filmes ›Africa Addio‹ im Berliner Astor-Kino. Die Polizei nimmt mehrere FUStudenten fest. 4. August Eine Demonstrationsveranstaltung des SDS Berlin gegen den Film ›Africa Addio‹ wird verboten. Trotzdem versammeln sich erneut ca. 1.000 Studenten vor dem Astor-Kino. Es kommt zu zahlreichen Verhaftungen durch die Polizei. 28.-30. Oktober In Frankfurt am Main findet der Kongress ›Notstand der Demokratie‹ statt, an dem über 5.000 Studenten, Gewerkschafter, SPD-Mitglieder und Professoren teilnehmen. Ernst Bloch und Hans Magnus Enzensberger gehören zu den Rednern. Zum Abschluss des Kongresses protestieren über 20.000 Menschen gegen die geplanten Notstandsgesetze. 18. November In München veranstalten Studenten und Schüler eine Demonstration gegen eine Wahlversammlung der rechtsextremen Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). 25. November 3.000 Schüler, Studenten und Gewerkschafter demonstrieren in Köln gegen die NPD mit den Transparenten ›Tausend Jahre waren genug‹. 26. November Die späteren Gründer der Kommune II sprengen eine Diskussion zwischen dem AStA und dem Rektor der FU Berlin über die Hochschulreform und verlesen das

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›Fachidioten‹-Flugblatt. Sie nennen sich ›Provisorisches Komitee zur Vorbereitung einer studentischen Selbstorganisation‹. 1. Dezember Kurt Georg Kiesinger wird zum Bundeskanzler einer Großen Koalition aus CDU/ CSU und SPD gewählt. In verschiedenen Großstädten demonstrieren SDP-Mitglieder, Gewerkschafter und Studenten gegen die Beteiligung der SPD.

3.-10. Dezember In Berlin veranstalten verschiedene Hochschulgruppen eine Vietnam-Woche.

10. Dezember Rudi Dutschke ruft auf der Abschlusskundgebung der Vietnam-Woche zur Gründung einer außerparlamentarischen Opposition auf. Spätere Mitglieder der Kommune I führen im Anschluss daran ein ›Weihnachtshappening‹ vor dem Café Kranzler durch. Sie verbrennen einen Weihnachtsbaum, der mit der U.S.-Flagge und Pappmaché-Köpfen von Walter Ulbricht und Lyndon B. Johnson geschmückt ist und singen dabei Weihnachtslieder. Die Polizei beendet die Aktion und nimmt Protestteilnehmer fest.

17. Dezember Der Berliner SDS organisiert eine offiziell nicht genehmigte ›Spaziergangsdemonstration‹ auf dem Kurfürstendamm. Demonstranten tarnen sich dabei als Fußgänger, verteilen in kleinen Gruppen Flugblätter, diskutieren mit Passanten und bilden auf ein vereinbartes Signal hin kurzfristig einen geschlossenen Demonstrationszug, der sich rasch wieder zerstreut. Die Polizei hat Schwierigkeiten, Demonstrationsteilnehmer und unbeteiligte Passanten auseinanderzuhalten.

1967 1. Januar Dieter Kunzelmann, Dagmar Seehuber, Hans-Joachim Hameister, Fritz Teufel, Volker Gebbert, Dorothea Ridder, Dagrun Enzensberger und Ulrich Enzensberger gründen die Kommune I in Berlin-Charlottenburg.

26. Januar Bei einer Hausdurchsuchung des Berliner SDS-Büros wird die SDS-Mitgliederkartei von der Politischen Polizei beschlagnahmt.

Chronik der Protestereignisse

28. Januar Gegen die Beschlagnahmung der SDS-Mitgliederkartei findet am Vormittag eine Demonstration mit 1.200 Teilnehmern und am Nachmittag eine Demonstration mit 2.000 Teilnehmern statt. Februar Die Kommune II wird geründet. Eike Hemmer, Eberhard Schulz, Jörg Schlotterer, Rainer Langhans, Jan-Carl Raspe, Marion Stergar, Christl Bookhagen und Dagmar Seehuber ziehen in das Berliner Wohnkollektiv ein. 22. Februar In München protestieren Studenten gegen die Erhöhung der Straßenbahntarife. 26. März Die ›Kampagne für Abrüstung‹ organisiert in Berlin einen Ostermarsch. 3.000 Demonstranten ziehen durch die Stadt. Nach der Schlusskundgebung machen sich ca. 150 der Protestierenden mit einer Vietcong-Fahne auf den Weg zum Amerikahaus und bewerfen dieses mit roten Farbbeuteln. 5. April In Berlin werden elf Mitglieder der Kommune I einen Tag vor dem Besuch des U.S.-amerikanischen Vize-Präsidenten Hubert Humphrey wegen des Verdachts eines Attentatsvorhabens festgenommen. Wie sich herausstellt, hatten die Kommunarden lediglich ein ›Pudding-Attentat‹ geplant. 6. April Während des Staatsbesuches von Hubert Humphrey im Schloss Charlottenburg demonstrieren 2.000 Studenten gegen den Vietnamkrieg. Der Fahrzeugkonvoi des U.S.-amerikanischen Vize-Präsidenten wird bei der Weiterfahrt mit Steinen und Flaschen beworfen. 19. April Mit einem nächtlichen Sit-in demonstrieren 2.000 Studenten gegen angekündigte Sanktionsmaßnahmen durch den Senat der FU Berlin. Der Rektor lässt die sitzenden Studenten um Mitternacht durch die Polizei aus dem Saal tragen und kündigt den beiden AStA-Vorsitzenden wegen ihrer Teilnahme am Sitzstreik das Dienstverhältnis. 30. April In Berlin wird als außeruniversitäre Einrichtung der APO der Republikanische Club unter anderem von Hans Magnus Enzensberger, Ekkehart Krippendorff und Klaus Meschkat gegründet.

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3. Mai Die Kommune I wird auf einer Landesvollversammlung des Berliner SDS ohne Anhörung ausgeschlossen. Sie hatte vor der Mensa der FU Berlin fünf durchnummerierte Flugblätter verteilt, die sie ohne vorherige Absprache mit ›SDS‹ unterzeichnet hatte. Den Kommunarden wird unberechenbarer, voluntaristischer Aktionismus unterstellt. 22. Mai Um gegen die bevorstehende Kürzung der Universitätsmittel zu protestieren, treten die Studenten der Universität Marburg in einen zwei Tage andauernden Generalstreik. 24. Mai Die Mitglieder der Kommune I verteilen provokante Flugblätter mit dem Titel ›Warum brennen die Berliner Kaufhäuser‹, in denen auf die Brandkatastrophe im Brüsseler Kaufhaus L’Innovation angespielt wird. 1. Juni Am Vortag des geplanten Staatsbesuches des Schahs von Persien hält Bahman Nirumand im Audimax der FU Berlin vor 3.000 Studenten eine Rede, in der er das Schah-Regime anprangert. 2. Juni Schon mittags demonstrieren Mitglieder der 68er-Bewegung vor dem Schöneberger Rathaus gegen den Schah-Besuch. Sogenannte ›Jubelperser‹ prügeln auf die Demonstranten ein, als diese mit Eiern und Rauchkerzen werfen. Die bundesdeutsche Polizei greift nicht ein. Am Abend kommt es vor der Deutschen Oper zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Dabei wird der Student Benno Ohnesorg von dem Zivilpolizisten Karl-Heinz Kurras erschossen. 3. Juni Der Regierende Bürgermeister Berlins Heinrich Albertz spricht ausschließlich den Demonstranten die Schuld für die Gewalteskalation der Schah-Demonstration zu und billigt das Verhalten der Polizei. Obwohl über Berlin ein generelles Demonstrationsverbot verhängt wird, treffen sich über 6.000 Studierende auf dem Campus. 6. Juni Gegen Rainer Langhans und Fritz Teufel beginnt in Berlin Moabit der medienwirksame ›Brandstifterprozess‹. Den Kommunarden wird vorgeworfen, mit ihren Flugblättern zur Kaufhaus-Thematik öffentlich zu menschengefährdender Brandstiftung aufgerufen zu haben.

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8. Juni Der Sarg Benno Ohnesorgs wird nach Hannover überführt. 15.000 Personen reihen sich in den Trauerzug ein. 9. Juni In der Niedersachsenhalle in Hannover findet der Kongress ›Hochschule und Demokratie – Bedingungen und Organisation des Widerstandes‹ mit über 5.000 Teilnehmern statt. Jürgen Habermas erhebt dort erstmals den Vorwurf eines ›linken Faschismus‹. 10.-12. Juni Herbert Marcuse, Professor für Sozialphilosophie an der U.S.-amerikanischen Brandeis-Universität und Gastprofessor an der FU Berlin, spricht vor ca. 3.000 Studenten. Er diskutiert über die Themenbereiche ›Das Ende der Utopie‹, ›Das Problem der Gewalt in der Opposition‹ und ›Moral und Politik in der Überflussgesellschaft‹. 18. Juni Schülergruppen aus 26 Städten gründen mit der Unterstützung des SDS das Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler (AUSS). 2. Juli Das AUSS fordert auf einer Konferenz in Frankfurt am Main Sexualaufklärung im Unterricht. 7. Juli Theodor W. Adorno hält an der Universität Frankfurt einen Vortrag über Goethes Iphigenie, ohne auf die aktuellen politischen Geschehnisse und den Tod Benno Ohnesorgs einzugehen. Daraufhin entrollt ein Teil der Studenten Spruchbänder, auf denen zu lesen ist: ›Berlins linke Faschisten grüßen Teddy, den Klassizisten‹. 9. August Die Kommune I veranstaltet eine ›Sargdemonstration‹ vor dem Schöneberger Rathaus, während eine offizielle Trauerfeier für den verstorbenen ehemaligen Reichspräsidenten Paul Löbe stattfindet. Dabei springt Fritz Teufel, mit einem Nachthemd bekleidet, aus einem von den anderen Kommunarden getragenen Sarg und verteilt Flugblätter. 19. August Aktivisten der 68er-Bewegung protestieren während einer amerikanischen Militärparade in Berlin-Neukölln gegen den Vietnamkrieg und werden von Passanten verprügelt.

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4.-8. September In Frankfurt am Main tagt die 22. Delegiertenkonferenz des SDS. Es wird eine Resolution zur Springer-Kampagne verabschiedet. 18. Oktober Auf der Frankfurter Buchmesse finden Demonstrationen gegen die Stände des Springer-Konzerns und die Militärdiktatur Griechenlands statt. 21. Oktober 7.000 Menschen beteiligen sich an einer von 33 verschiedenen Trägergruppen des Protests organisierten Vietnam-Demonstration in Berlin. Auch in Washington, London, Paris, Oslo, Rom, Amsterdam und Tokio kommt es am selben Tag zu Massendemonstrationen. 1. November Im Audimax der FU Berlin findet die Gründungsversammlung der ›Kritischen Universität‹ statt. Theorie und Praxis des gesamten Hochschulbetriebes sollen im Sinne einer Gegenuniversität umfunktioniert und demokratisiert werden. In über 30 Arbeitsgruppen beginnen die Studierenden mit der Selbstorganisation des Studiums.

9. November Die Studierenden der Universität Hamburg protestieren zur Amtseinführung des neuen Rektors gegen die Ordinarienuniversität. Die Studenten Gert Hinnerk Behlmer und Detlev Albers tragen ein Transparent mit der Aufschrift ›Unter den Talaren – Muff von tausend Jahren‹ vor dem Zug der Ordinarien her.

20. November Der Frankfurter SDS unterbricht einen für das Fernsehen aufgezeichneten Vortrag des SPD-Politikers Carlo Schmid und fordert von ihm eine Diskussion über die Notstandsgesetze.

21. November Der Polizeibeamte Karl-Heinz Kurras, der Benno Ohnesorg erschossen hat, wird vom Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung freigesprochen.

28. November Zur Prozesseröffnung gegen den Kommunarden Fritz Teufel, dem vorgeworfen wird, auf der Schah-Demonstration mit Steinen geworfen zu haben, demonstrieren ca. 1.000 Studenten vor dem Gerichtsgebäude.

Chronik der Protestereignisse

24. November Während der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz im Audimax der FU Berlin eine Rede hält, kommt es zu Tumulten und Prügeleien.

20. Dezember Innerhalb von vier Wochen haben 30.000 Studenten und Dozenten das Hochschulmanifest gegen die Notstandsgesetze unterzeichnet.

1968 5. Januar In Baden-Baden wollen rund 1.200 Schüler und Studenten den SDS-Wortführer Rudi Dutschke auf einer Diskussionsveranstaltung sprechen hören und versammeln sich im Kurgarten. Der Oberbürgermeister Ernst Schlapper weigert sich beharrlich, dafür einen Saal zur Verfügung zu stellen. Vor dem Kurhaus kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei, die die jungen Leute daran hindern will, das Kurhaus zu betreten. Dutschke ruft zu einem Protestzug zur Villa des Oberbürgermeisters auf.

6. Januar Mitglieder der Kommune I und des SDS demonstrieren am Eingang zum Palais am Funkturm gegen den ›Ball der Berliner Juristen‹. Sie werfen Schneebälle und Farbeier auf die ankommenden, festlich gekleideten Gäste. 9. Januar Große Teile der Studentenschaft rebellieren an der Universität Kiel gegen eine vom Kultusministerium erlassene Immatrikulationsordnung, nach der Studenten wegen der Überziehung von Prüfungsterminen ein Semester zwangsexmatrikuliert werden können. 10. Januar An der Universität München sprengen sechs Studenten Universitätsvorlesungen in Polizeiuniformen vom Kostümverleih. 15. Januar Auf der Diskussionsveranstaltung ›Freiheit für Griechenland‹ fordert Rudi Dutschke ca. 1.500 Studierende zum Protest gegen das Obristen-Regime auf, das durch einen Militärputsch an die Macht gekommen ist.

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15.-24. Januar In Bremen leisten bis zu 4.000 Schüler Widerstand gegen die geplante Erhöhung der Verkehrstarife. In Bochum, Göttingen, Oberhausen und Kiel finden im Frühjahr 1968 ähnliche Aktionen von Schülern statt. 23. Januar Im Amtsgericht Moabit findet ein Prozess gegen Mitglieder der Studentenbewegung statt, die gegen den rassistischen Film ›Africa addio‹ protestiert haben. Einer der Angeklagten überreicht dem Oberamtsrichter Kurt Gente, der früher Parteimitglied der NSDAP gewesen ist, ein Exemplar von Adolf Hitlers Mein Kampf. Es werden Flugblätter mit dem Titel ›Organisieren wir den Ungehorsam gegen die Nazigeneration!‹ verteilt. 1. Februar Die ›Kritische Universität‹ bereitet sich in einer abendlichen Veranstaltung im Audimax der TU Berlin auf das ›Springer-Tribunal‹ vor. Vor ca. 1.500 Teilnehmern zeigt Holger Meins einen Lehrfilm, wie man Molotow-Cocktails herstellt. Als Schlussbild erscheint eine Aufnahme des Springer-Hochhauses. 2. Februar In der Nacht werfen Mitglieder der Protestbewegung in sechs Berliner Stadtbezirken die Glasscheiben von Springer-Filialen mit Steinen ein. Einige Steine sind mit Flugblättern versehen, auf denen ›Enteignet Springer!‹ zu lesen ist. 4. Februar Studenten der Universität Bonn verschaffen sich im Rahmen eines Go-ins Zutritt zum Rektorat und schreiben unter die Unterschrift des Bundespräsidenten Heinrich Lübke im Goldenen Buch der Universität die Bezeichnung ›KZ-Baumeister‹. Die Protestierenden prangern damit an, dass Lübke angeblich im Nationalsozialismus einen architektonischen Plan für ein Konzentrationslager entworfen hat. 7. Februar In Freiburg stürmen rund 1.000 Studenten das Amtsgericht, um festgenommene Kommilitonen zu befreien. 15. Februar In Stuttgart ziehen ca. 2.500 Studenten, Assistenten und Professoren von verschiedenen baden-württembergischen Universitäten rund um die Bannmeile des Landtags und protestieren gegen die Verabschiedung eines neuen Hochschulgesetzes.

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17./18. Februar Im Audimax der TU Berlin findet auf Einladung des SDS der ›Internationale Vietnamkongress‹ statt. Es nehmen tausende Studenten und Delegationen aus vielen Nationen an der Konferenz teil, die sich den Widerstand gegen den Vietnamkrieg und den westlichen Imperialismus zum Thema macht. Zu Abschlusskundgebung findet ein Demonstrationszug von ca. 12.000 Protestteilnehmern durch die Berliner Innenstadt statt. 18. Februar Zum Jahrestag der Verhaftung der Geschwister Scholl werfen SDS-Mitglieder Hunderte von Flugblättern von der Empore der Universität München. Sie fordern die Wiederzulassung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). 21. Februar Der Berliner Senat mobilisiert zusammen mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und dem Springer-Konzern eine Gegendemonstration vor dem Schöneberger Rathaus. Die Devise der antikommunistischen Kundgebung, an der sich 80.000 Menschen beteiligen, lautet ›Berlin darf nicht Saigon werden‹. 29. Februar Auf dem Frankfurter Römerberg findet eine Kundgebung unter dem Motto ›Schluss mit dem Krieg in Vietnam‹ statt, an der sich ca. 6.000 Personen beteiligen. Als bekannt wird, dass der SDS-Sprecher Rudi Dutschke nicht auftreten kann, weil er bei seiner Ankunft vorsorglich von der Polizei am Flughafen festgenommen worden ist, ziehen 1.500 Protestteilnehmer zum Polizeipräsidium. 5. März Auf Einladung des AStA findet an der Universität Köln erstmals eine gemeinsame Protestveranstaltung von Arbeitern und Studenten statt. 20. März In Frankfurt am Main wird der Sozialistische Lehrerbund (SLB) gegründet. 22. März Fritz Teufel und Rainer Langhans werden im ›Brandstifterprozess‹ freigesprochen. 29.-31. März Auf einer außerordentlichen Delegiertenkonferenz des SDS prallen die Ansichten des traditionalistischen und des antiautoritären Flügels aufeinander. Der von den Traditionalisten beantragte Ausschluss von Rudi Dutschke wird schließlich zurückgezogen. Der studentische Wortführer erfährt Kritik aus den eigenen Reihen, weil er vom Wirtschaftsmagazin Capital für ein Interview 1.000 DM an-

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genommen hat. Außerdem ist Dutschkes Konterfei auf dem Titelblatt der Zeitschrift erschienen. 3. April Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Söhnlein und Thorwald Proll legen Brandsätze in zwei Frankfurter Kaufhäusern, um gegen die Konsumgesellschaft sowie die gesellschaftliche Gleichgültigkeit in Bezug auf den Vietnamkrieg zu protestieren. Als die Brandsätze explodieren, wird niemand verletzt, es entsteht aber ein hoher Sachschaden. Die Täter werden einen Tag nach dem Anschlag verhaftet. 11. April Der rechtsextremistische Einzeltäter Josef Bachmann verübt ein Attentat auf den SDS-Wortführer Rudi Dutschke und verletzt diesen lebensgefährlich. 11.-15. April Noch am Abend des Attentats versammeln sich im Audimax der TU Berlin etwa 2.500 Anhänger der außerparlamentarischen Opposition. Vor dem SpringerHochhaus kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Als Reaktion auf das Dutschke-Attentat entstehen in zahlreichen bundesdeutschen Städten schwere ›Osterunruhen‹, die zu regelrechten Straßenschlachten eskalieren. Die Wut von über 60.000 Demonstranten richtet sich gegen den SpringerVerlag, dessen antistudentische und antikommunistische Presse für den Angriff auf Dutschke verantwortlich gemacht wird. Vielerorts versuchen Demonstranten, die Auslieferung der Bild-Zeitung gewaltsam zu verhindern. Bundesweit verhaften 21.000 eingesetzte Polizisten über 1.000 Demonstranten. 23. April Nach den gewaltsamen Osterunruhen, die in München zwei Todesopfer gekostet haben, diskutieren bayerische Politiker mit APO-Vertretern. Dabei prallen die Positionen beider Seiten unverändert und hartnäckig aufeinander. 25. April In der überfüllten Heidelberger Stadthalle wird der Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger auf einer CDU-Wahlveranstaltung von lautstarken Sprechchören von Aktivisten der 68er-Bewegung empfangen. Trotz seiner anfänglichen Weigerung, mit den APO-Anhängern zu diskutieren, gibt er schließlich nach, um keine Tumulte auszulösen. 1. Mai In Hamburg wird der SDS-Sprecher Karl-Heinz Roth im Anschluss an eine Kundgebung von einer Sondereinsatztruppe der Polizei wegen verschiedener Demonstrationsdelikte festgenommen. Als er am darauffolgenden Tag auf freien

Chronik der Protestereignisse

Fuß gesetzt wird, taucht er trotz Haftbefehl unter. Damit beginnt ein monatelang andauerndes Verwirrspiel. Roth tritt immer wieder auf Demonstrationsveranstaltungen öffentlich auf und verschwindet wieder. Erst nach einem Jahr stellt er sich freiwillig. 9. Mai Der AStA der Universität Hamburg übermittelt der Staatsanwaltschaft 293 Selbstanzeigen von Studenten. Damit wollen sie gegen die Vermutung protestieren, bei den Demonstrationen der Ostertage von sogenannten ›Rädelsführern‹ angestiftet worden zu sein. 11. Mai Das Kuratorium ›Notstand der Demokratie‹ veranstaltet den Sternmarsch auf Bonn, an dem mehr als 60.000 Demonstranten teilnehmen. Der SDS ruft die Gewerkschaften ohne Erfolg zum Generalstreik auf. 13. Mai Über 4.000 Studierende versammeln sich im Audimax der FU Berlin, um einen Vortrag von Herbert Marcuse über das Thema ›Geschichte, Transzendenz und sozialer Wandel‹ zu hören. Während des Vortrages kommt es zu Zwischenrufen und Unmutsäußerungen. Einige Teilnehmer wollen mit dem Kulturphilosophen über die Revolution diskutieren, andere fordern konkrete Handlungsanleitungen von ihm. Als Tumulte entstehen, verlässt Marcuse den Saal. 14. Mai Mehreren hundert Studenten der Universität Kiel gelingt es mit einem Trick, den Festakt zur Rektoratsübergabe zu vereiteln. Mit dunklen Anzügen bekleidet, aber mit gefälschten Eintrittskarten, auf denen ›Eintrittskarten für die Verfolgung und Ermordung der Universitätswürde‹ zu lesen ist, verschaffen sie sich Eintritt in den Festsaal. Als die geladenen Gäste eintreffen, sind alle Sitzplätze bereits vergeben. Wegen Überfüllung wird der Saal geräumt. 15. Mai Anlässlich der zweiten Lesung der Notstandsgesetze im Bundestag besetzen an der Universität Frankfurt protestierende Studenten alle Eingänge. In Betrieben und Schulen werden zeitgleich ebenfalls Warnstreiks durchgeführt. Am 27. Mai lässt der Rektor die Universität präventiv für eine Woche schließen. Daraufhin besetzen ca. 2.000 Studenten das Rektorat und machen es zu ihrer Streikzentrale. 15.000 Menschen beteiligen sich an einem Demonstrationszug durch die Frankfurter Innenstadt. In den kommenden Tagen benennen die 68er-Aktivisten die ›Wolfgang-Goethe-Universität‹ in ›Karl-Marx-Universität‹ um und beginnen mit autonomen Seminaren zu den Themen des Protests.

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21. Mai Auf einer Versammlung der ›Kritischen Universität‹ an der FU Berlin berichtet der französische Studentenführer Daniel Cohn-Bendit über seine Erfahrungen während der Revolte in Nanterre und an der Sorbonne. 30. Mai Der Deutsche Bundestag verabschiedet die Notstandsgesetze. Trotz der massiven Proteste der außerparlamentarischen Bewegung treten die im Falle eines Notfalles die Grundrechte einschränkenden Gesetze wie geplant Ende Juni in Kraft. Mit dieser politischen Niederlage beginnt die 68er-Bewegung an Bedeutung zu verlieren. 1.-2. Juni Auf einem vom VDS organisierten Schüler- und Studentenkongress in Frankfurt am Main kommen nach der enttäuschenden Verabschiedung der Notstandsgesetze statt der erwarteten 10.000 lediglich 400 Teilnehmer. 13. Juni Auf einer Vollversammlung des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft der FU Berlin wird die von den Studenten geforderte drittelparitätische Institutssatzung angenommen. Gleichzeitig finden an zahlreichen bundesdeutschen Universitäten Institutsbesetzungen und Kämpfe um drittelparitätische Satzungen statt. 10. Juli Mehrere hundert Studenten demonstrieren gegen den Empfang zweier griechischer Universitätsrektoren zur 150-Jahr-Feier an der Universität Bonn. Einige Protestteilnehmer rammen mit einem Transportwagen die abgeschlossene Tür des Ehrensaales, in dem der Empfang stattfindet, um sich Einlass zu verschaffen. 17. Juli In Frankfurt am Main gründen Anwälte zusammen mit verschiedenen Trägergruppen der 68er-Bewegung das Kuratorium Republikanische Hilfe. Das Gremium ist zur juristischen Unterstützung von Demonstrationsteilnehmern gedacht, die immer häufiger wegen Landfriedensbruches und anderer Delikte angeklagt werden. 17. August Am 12. Jahrestag des KPD-Verbotes finden in zahlreichen bundesdeutschen Städten Demonstrationen für die Wiederzulassung der Partei statt. 4. September Bei einer Verhandlung im Moabiter Kriminalgericht kommt es zu einem Eklat. Der Angeklagte Karl-Heinz Pawla, ehemaliger FU-Student und Bewohner der

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Kommune I, der sich unter anderem wegen Hausfriedensbruches, Richterbeleidigung und grobem Unfug zu verantworten hat, verrichtet, um das Gericht zu provozieren, seine Notdurft im Gerichtssaal und benutzt Bögen der Anklageschrift als Toilettenpapier. 12. September Auf der 23. SDS-Delegiertenkonferenz kommt es zu internen Differenzen. Helke Sander stellt das Konzept des Aktionsrats zur Befreiung der Frauen vor und beschuldigt die männlichen Genossen des Chauvinismus. Sigrid Damm-Rüdiger, die sich über die allgemeine Missachtung des emanzipatorischen Anliegens durch die Männer des SDS empört, bewirft Hans-Jürgen Krahl mit einer Tomate. 22. September Vor der Paulskirche in Frankfurt am Main demonstrieren 2.000 Personen gegen die Verleihung des ›Friedenspreises des Deutschen Buchhandels‹ an den senegalesischen Staatspräsidenten und Schriftsteller Léopold Sédar Senghor. 25. September In Frankfurt am Main wird die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) gegründet. 12. Oktober 30 SDS-Frauen stürmen eine Feierstunde zum 50-jährigen Jubiläum des Frauenwahlrechts in der Frankfurter Paulskirche. Sie entrollen Spruchbänder mit den Aufschriften ›Emanzipation – Klassenkampf‹, ›Wo bleibt die Emanzipation des Mannes?‹ und ›Gleichheit hört beim Lohn auf‹. 31. Oktober Die Frankfurter Kaufhausbrandstifter Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Söhnlein und Thorwald Proll werden zu je drei Jahren Haft verurteilt. 4. November Aus Solidarität zu dem APO-Anwalt Horst Mahler, gegen den ein Ehrengerichtsverfahren angestrengt worden ist, demonstrieren 2.000 Personen vor dem Berliner Landgericht. Die Demonstrationsveranstaltung eskaliert gewaltsam, weshalb sie als ›Schlacht am Tegeler Weg‹ in die Geschichte der bundesdeutschen 68erBewegung eingeht. 17.-19. November Auf der Fortsetzung der 23. SDS-Delegiertenkonferenz in Hannover soll die bevorstehende Justizkampagne besprochen werden. Die fortgeschrittene Fraktionierung lässt eine plenare Diskussion nicht mehr zu. Der Frankfurter Weiberrat bringt ein Flugblatt mit der Forderung ›Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen!‹ in den Umlauf.

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6. Dezember Die Soziologie-Studenten der Universität Frankfurt solidarisieren sich mit den Studierenden der Erziehungswissenschaft, die gegen eine geplante Verkürzung des Lehrerstudiums protestieren. Gemeinsam wird für eine Neuorganisation des Studiums gestreikt und das Soziologische Seminar in ›Spartakus-Seminar‹ umgetauft. 12. Dezember Ursula Seppel, Studentin der Universität Hamburg, muss sich vor dem Amtsgericht wegen Hausfriedensbruches verantworten. Sie trägt eine durchsichtige schwarze Bluse, lehnt den Amtsgerichtsdirektor wegen Befangenheit ab und begibt sich dann zu einer Gruppe von Genossinnen des SDS-Arbeitskreises Emanzipation, die im Zuschauerraum warten. Die sechs Frauen entledigen sich ihrer Oberbekleidung und singen barbusig die von Bertolt Brecht gedichtete Ballade von den asexuellen Richtern. 24. Dezember Am Heiligen Abend demonstrieren 300 APO-Angehörige aus Solidarität mit den inhaftierten Genossen vor der Haftanstalt Tegel. Sie ziehen weiter zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und stören einen Gottesdienst, mit dem Plan, die Anwesenden in eine Diskussion über die Zustände im Tegeler Gefängnis zu verwickeln. 31. Dezember In Hamburg wird die maoistisch orientierte Kommunistische Partei Deutschlands/ Marxisten-Leninis-ten (KPD/ML) gegründet.

1969 12. Januar In Westhofen an der Ruhr gründen von SDS ausgeschlossene Studenten den Marxistischen Studentenbund Spartakus (MSB Spartakus), der eng mit der DKP verbunden ist.

30. Januar Der Versandhauschef Josef Neckermann veranstaltet am 36. Jahrestag der NSMachtergreifung ein Sporthilfekonzert mit dem Dirigenten und früheren NSDAP-Mitglied Herbert von Karajan, zu dem auch der Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und der Bundesinnenminister Ernst Benda geladen sind. Der SDS mobilisiert 1.500 Demonstranten, die gegen die von 2.000 Polizisten geschützte Veranstaltung protestieren.

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1. April In Offenbach wird unter dem Einfluss der sich mehrenden K-Gruppen das Sozialistische Büro gegründet, das sich um eine Vereinheitlichung der bundesdeutschen kommunistischen Kräfte bemüht.

29. April An der FU Berlin beginnt eine Serie von Vorlesungssprengungen an der Juristischen und Philosophischen Fakultät, die sich bis zum Ende des Semesters hinzieht.

7.-17. Juni In Hannover demonstrieren ca. 300 Jugendliche gegen die Pläne der Nahverkehrsbetriebe, ihre Beförderungstarife zu erhöhen, indem sie Straßenbahnschienen blockieren und im Rahmen der ›Rote-Punkt-Aktion‹ den Nahverkehr mit Privatautos autonom organisieren. Die Zahl der Demonstrierenden schwillt trotz des Einsatzes von Tränengas durch die Polizei und zahlreicher Verhaftungen am nächsten Tag auf 5.000 Protestteilnehmer an. Die Proteste können eine Tariferhöhung verhindern.

12. Juni An der FU Berlin formiert sich die Rote Zelle Germanistik (Rotzeg). Nach deren Vorbild konstituieren sich an anderen bundesdeutschen Universitäten weitere marxistisch-leninistische Hochschulzellen.

25. Juli Vor der Untersuchungshaftanstalt Berlin Moabit fordern 2.500 Demonstranten die Freilassung inhaftierter Bundeswehr-Deserteure.

1. August Ein neues Berliner Universitätsgesetz wird erlassen. Es reformiert die Ordinarienuniversität durch eine stärker demokratisch geprägte Verwaltungsstruktur mit paritätisch besetzten Universitätsgremien und einem gewählten Präsidenten.

21. Oktober Willy Brandt wird zum Bundeskanzler einer reformwilligen sozialliberalen Koalition gewählt. Damit ist die Große Koalition unter Kurt Georg Kiesinger, der die 68er-Bewegung ein Demokratiedefizit vorgeworfen hat, beendet.

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1970 7. Januar Die konstituierende Sitzung des Akademischen Senats der FU Berlin findet unter Vorsitz des FU-Präsidenten Rolf Kreibich statt. Dem Gremium gehören nach dem neuen Universitätsgesetz elf Hochschullehrer, sechs Wissenschaftliche Mitarbeiter, fünf Studenten und zwei Dienstkräfte an.

10. Februar Das frühere SDS-Bundesvorstandsmitglied Hans-Jürgen Krahl stirbt bei einem Autounfall. Noch während der Trauerfeier wird die Auflösung des SDS beschlossen.

24. Februar Josef Bachmann, der wegen seines Attentats auf Rudi Dutschke eine fünfjährige Haftstrafe absitzen muss, begeht in seiner Zelle Suizid.

21. März Angesichts des Zerfalls der Studentenbewegung in unzählige Splittergruppen gibt der SDS-Bundesvorstand seine offizielle Auflösung bekannt. In Heidelberg wird eine letzte SDS-Gruppe nach gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei verboten.

14. April Der inhaftierte Andreas Baader wird unter anderem von Ulrike Meinhof gewaltsam aus dem unter einem Vorwand besuchten ›Deutschen Zentralinstitut für Soziale Fragen‹ befreit. Die beiden gründen gemeinsam mit Gudrun Ensslin und Horst Mahler nach dem Vorbild der südamerikanischen Stadtguerilla die linksradikale Terrororganisation Rote Armee Fraktion (RAF).

Histoire Dietmar Hüser (Hg.) Populärkultur transnational Lesen, Hören, Sehen, Erleben im Europa der langen 1960er Jahre März 2016, ca. 320 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3133-3

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