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German Pages 283 [284] Year 1968
ARBEITEN ZUR FRÜHMITTELALTERFORSCHUNG
ARBEITEN ZUR FRÜHMITTELALTERFORSCHUNG Schriftenreihe des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster In Zusammenarbeit mit
Hans Belting, Hugo Borger, William Foerstef, Dietrich Hofmann, Karl Josef Narr und Karl Schmid
herausgegeben von
KARL HAUCK
4. BAND
BERLIN 1968
WALTER DE GRUYTER & CO. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit & Comp.
MISERIAE REGUM Untersuchungen zum Krisen- und Todesgedanken in den herrschaftstheologischen Vorstellungen der ottonisch-salischen Zeit
von
LOTHAR BORNSCHEUER
BERLIN 1968
WALTER DE GRUYTER & CO. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp.
Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung Volkswagenwerk
D 6 ©
Archiv-Nr. 45 90 68/2 Copyright 1968 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sdie Verlagshandlung
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handlung
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Georg Reimer
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Karl J . Trübner
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Veit & Comp.
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Printed in Germany
J . Guttentag, VerlagsbuchAlle Rechte des Nachdrucks
einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: Thormann Sc Goetsch, Berlin 44
MEINEN ELTERN
Vorwort Diese Arbeit lag im Sommersemester 1967 der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation vor. Ihre Aufnahme in die Schriftenreihe des Instituts für Frühmittelalterforschung verpflichtet mich den Herausgebern zu großem Dank. Für die Gewährung unentbehrlicher Druckkostenzuschüsse gilt mein Dank ferner dem Herrn Kurator der Westfälischen Wilhelms-Universität sowie der Senatskommission für die Vergabe der Stipendien der Stiftung Volkswagenwerk. Die Arbeit wurde angeregt und in kritischer Diskussion begleitet von Herrn Prof. Dr. Karl Hauck, dessen Wohlwollen ich darüber hinaus eine entscheidende innere und äußere Förderung meines Studienganges verdanke. — Das Korreferat der Dissertation übernahm Herr Prof. Dr. Karl Schmid; hierfür wie für seine freundliche Gesprächsbereitschaft danke ich ihm herzlich. Bei der Herstellung des Manuskripts und der Korrektur der Druckfahnen leistete meine Frau unermüdliche Hilfe. Für weitere Mithilfe beim Korrekturlesen habe ich den Herren M. Balzer, W. Monschein und Chr. Schneider sehr zu danken. Während des Umbruchs wurde mir die neue Arbeit von Konrad Hoffmann, Taufsymbolik im mittelalterlichen Herrscherbild (Bonner Beiträge zur Kunstwissenschaft 9, 1968) bekannt. Obwohl eine kritische Berücksichtigung ihrer Ergebnisse nicht mehr möglich ist, sei auf die Berührungspunkte bei den Problemen der HiskiaPlatte der Reichskrone, des Lotharkreuzes und etwa der Miniatur des Kaisers Heinrich (Cod. Vat. Ottob. lat. 74) hingewiesen. Die Arbeit ergänzt die vorliegenden Untersuchungen auch insofern, als sie die fruchtbare Frage nach der „Bedeutung der Taufsymbolik für die mittelalterliche Herrschaftsidee" auf den „breiten religionsgeschichtlichen Hintergrund der ,Reinigung beim Herrschaftsantritt'" (S. 10) bezogen weiß. L. B.
Inhaltsverzeichnis Einführung I. Die Krisen- und Todeserfahrung im Spiegel der dynastisch geprägten Historiographie 1. Die heils-geschichtliche Panegyrik Widukinds
1
16 16
a) Der panegyrische und der tragische Aspekt in Widukinds sächsischer Reichsgeschichte als Forschungsproblem b) Die innere Krise des Reiches und ihre Uberwindung unter Otto I. (941) . . c) Die Schlachtkrise vor dem Lechfeldsieg d) Ottos I. „Todeskrankheit" und Gottesgnaden-Erlebnis 958 e) Ottos I. Tod f) Schluß: Widukinds heils-geschichtliche Deutung der ottonischen Krisenerfahrungen
38
2. Das herrschaftstheologische Heiligungsideal in Odilos AdelheidEpitaphium
41
a) Zur Neuedition durch Herbert Paulhart b) Die zäsurbildende Funktion der Herrschertode in der Biographie Adelheids c) Adelheids passio-sublimatio-Sdiicksal als Form dynastiegeschichtlicher Herrschaftsheiligung d) Hagiographisches und herrschaftstheologisches Heiligungsideal — Zum Einfluß des Hieronymus
3. Die herrschaftstheologischen Légitimations Vorstellungen in der Vita Mahthildis posterior a) Die historiographische Problematik der Mathildenviten in der Forschungsdiskussion b) dignitas und humilitas — Zur Entwicklung eines herrschaftstheologischen Gedankens c) humiliatio und exaltatio — Die heinricianische Herrschaftslegitimation vor dem Hintergrund der dynastischen Krisenerfahrungen d) Das herrscherliche Totengedächtnis
4. Die Seelensorge Thietmars a) Die historiographische Zäsurfunktion des Herrschertodes im reichsgeschichtlichen Horizont der Chronik b) Todeserlebnis und Sündenbewußtsein c) Heinrichs I. Bußfertigkeit d) Ottos I. Lechfeld-Prostration und Tod e) Ottos II. und Ottos III. „klagenswerte" Todesfälle f) Schluß
16 18 22 28 35
41 44 48 52
60 60 68 76 93
103 103 109 112 114 116 119
X
Inhaltsverzeichnis
II. Die Krisen- und Todeserfahrung im Spiegel der Herrscherbiographie 1. Adalbolds Lebensbeschreibung Heinrichs II.: Der Dienst am Toten als Legitimation des Nachfolgers a) b) c) d) e) f)
Zum historischen Rang Adalbolds und seiner Herrscherbiographie Praelocutio und Exposition Heinrichs II. Nachfolgeanspruch Heinrichs II. humanitas-ße-wußtsein Zusammenfassung Ergänzung: Der Todesgedanke in der Heinrich-Legende
2. Wipos Lebensbeschreibung Konrads II.: Leid und Glanz des Herrschertodes
122
122 122 125 127 131 136 138
140
a) Wipos pädagogisch-panegyrische Intention b) Konrads II. Tod c) Versus pro obitu Chuonradi imperatoris
140 142 145
3. Die Lebensbeschreibung Heinrichs IV.: Ein Herrscherleben als tragedia
149
a) b) c) d)
Zur Thematik und Gestalt Heinrichs IV. Herrschaftstragik Das herrschaftstheologische Idealporträt Heinrichs IV Zum fortuna-hegrifi
III. Der Krisen- und Todesgedanke in dem Verfassungszusammenhang von Herrschertod, Interregnum und Thronfolge 1. Leos von Vercelli Versus de Ottone et Heinrico a) b) c) d)
Vorbemerkungen Der Hymnus als Einheit Zum Forschungsstand Die herrschaftstheologische Interregnumvorstellung
2. "Wipos Gesta Chuonradi II imperatoris, Kapitel 1 und 2 a) Zum Forschungsstand b) Die Interregnumkrise c) Die electio idonea
169 169 169 170 176 178
183 183 186 191
3. Der deutsche Königskrönungsordo und Wipos Krönungsbericht zum Jahre 1024 — Die Herrscherweihe als christomimetische humiliatio-exaltatio a) Die Prostrationsvorschrift des Ordo b) Wipos humiliatio-exaltatio-Predigt c) Das humiliatio-exaltatio-Theologumenon
149 152 156 164
im Krönungsordo
194 194 197 200
Inhaltsverzeichnis
IV. Der christomimetische Todesgedanke in Bestattungszeremoniell Insigniensymbolik 1. Die Herrscherbestattung a) Die Osterbestattung Ottos I I I b) Rudolfs von Rheinfelden Bestattung „im Kreuz"
2. Die Krone des Vicarius Christi und des Gekreuzigten a) Die Hiskia-Platte der Reichskrone (nach 973) b) Die salischen Grabkronen c) Die ikonographische „Bekrönung" des Gekreuzigten
XI
und 208 208 208 211
213 213 220 223
3. Das Lotharkreuz — Sinnbild der herrscherlichen Imitatio des Gekreuzigten 232 Rückblick
240
Anhang I
243
Anhang II
246
Abkürzungen
249
Quellen
251
Darstellungen
253
Stichwortregister
269
Einführung Die Mediävistik des vergangenen Halbjahrhunderts hat sich im Rahmen der europäischen Monarchieforschung auch dem Problemkreis des deutschen Königund Kaisertums intensiv gewidmet. Dabei galt dem Geschehen von Wahl und Weihe ein vorrangiges Forschungsinteresse,1 das anläßlich der tausendsten Wiederkehr des römischen Krönungstages Ottos des Großen erneut sichtbar geworden ist.2 Als Nachfahre der großen positivistischen Staatsrechtsforschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts 3 hatte Heinrich Mitteis in der Königswahl-Forschung eine Synthese geboten, die sich — trotz einer prinzipiellen Offenheit gegenüber dem von Otto Brunner kritisch betonten politischen Verfassungscharakter mittelalterlicher „Staatlichkeit" 4 — bewußt „streng auf die R e c h t s g r u n d l a g e n der deutschen Königswahl" beschränken wollte. 5 Ohne daher darauf zu verzichten, den Prozeß der Herrschererhebung als einen ganzheitlichen „staatsrechtlichen Vorgang" aufzufassen, erkannte ihn Mitteis als einen „sich stufenweise verwirklichenden Akt", innerhalb dessen die „Wahl" selbst nur „ein Glied in einer ganzen Kette von Handlungen, die alle zusammen zur Thronerhebung des deutschen Königs notwendig waren", darstellt.® „Nicht bloß das, was man im engeren Sinne die ,Wahl' nennen könnte, gehört in diesen Bereich, sondern auch alle sonstigen weltlichen Thronerhebungsakte, die geistliche Salbung und Krönung, die — oft nicht genügend gewürdigte — Erlangung der Reichsinsignien, endlich aber auch die faktische, reale Machtergreifung im Reich, ohne die keiner der vorhin genannten Teilakte wirklich zum Herrscher zu machen vermag. Zu ihr gehören teilweise wieder sogenannte Nachwahlen' zur Gewinnung der bisher noch Zögernden, und, wo sie fehlen, tritt die symbolische Handlung des Königsrittes an ihre Stelle."7 Die Diskussion um den begrifflichen und sachlichen Umfang, den Vorrang Jeder im Anmerkungsteil ohne nähere Angaben aufgeführte Verfassername (oder Sammeltitel) verweist auf einen Titel im Literaturverzeichnis; Vorname und Erscheinungsjahr werden nur dann beigefügt, wenn Verwechslungen auszuschließen sind. 1 Die einschlägige Literatur findet man in reicher Auswahl zusammengestellt in der Neuausgabe des Werkes von KERN 1954 S. 373 ff. sowie bei CONRAD S. 101 ff., 228 f. und 236 f. Vgl. neben den in der folgenden Anm. genannten Beiträgen auch GIESEY 1961, DE ROQUEFEUIL-ANDUZE, H . H O F F M A N N 1 9 6 2 , NITSCHKE 1 9 6 2 , G R U N D M A N N 1 9 6 4 , HALLINGER 1 9 6 5 u n d i n d e r B y z a n t i -
nistik OSTROGORSKY s o w i e CHRISTOPHILOPULU mit der Besprechung v o n J. KARAYANNOPULOS ( B Z 5 0 , 1 9 5 7 ) S . 4 6 7 ff.
* V g l . Festschrift 1962 B d . 1 u n d R e n o v a t i o Imperii, ferner AUBIN, BEUMANN 1 9 6 2 — 6 3 , BÜTTNER 1 9 6 2 , G R U N D M A N N 1 9 6 2 ( 1 ) , KELLER 1 9 6 4 , K . SCHMID 1 9 6 4 ( 2 ) . 3
Z u r K r i t i k v g l . BRUNNER 1 9 5 9 S . 1 1 1 ff. u n d D E N S . 1 9 5 6 .
4
V g l . MITTEIS 1 9 4 1 — 5 6 S . 2 0 ff., D E N S . 1 9 4 4 S . 1 1 ff. u n d 1 9 6 2 S . V I I .
5
MITTEIS 1 9 4 4 S . 1 3 .
• Ebd. S. 15. 7 Ebd. S. 48. 1
Frühmittelalterforsdiung 4
2
Einführung
oder die konstitutive Funktion und schließlich um den historischen Wandel einzelner Akte dieser „Handlungskette" setzte sich zwar angeregt fort, 8 doch schien Mitteis einen theoretisch umfassenden Gesamtplan auch für die nicht streng rechtsgeschichtlich orientierte Erforschung der mittelalterlichen Herrschererhebung entworfen zu haben. 9 Denn das Problem der „Handlungskette" blieb wie bei Mitteis in der Forschung weiter ein Problem der „Thronerhebung" bzw. des Thronfolgers; nur im Zusammenhang einer Designation oder einer frühzeitigen Mitherrschaft des Sohnes10 fällt von hier aus normalerweise Licht auf den alten König, um dessen Nachfolge es geht. Indem wir das Augenmerk auf den Thronvorgänger lenken, ordnen wir die Handlungskette der Thronerhebung in den größeren Rahmen des H e r r s c h e r w e c h s e l s ein. Dieser kann schon zu Lebzeiten des alten Königs beginnen, sei es, wie bei den erwähnten Formen einer Designation oder Mitregentschaft, mit dessen Einverständnis, sei es, wie in den unterschiedlichen Fällen Childerichs III./ Pippins des Jüngeren und Heinrichs IV./Heinrichs V., mit einer Gegenkönigwahl. Spätestens und in einem akuten Stadium setzt jeder Herrscherwechsel mit dem endgültigen Abtreten des bisherigen Throninhabers ein, gewöhnlich mit seinem altersbedingten Tod. 11 Der Augenblick des Königstodes mit seinen zeremoniellen Formen 12 und vor allem mit seiner praktischen und ideellen Relevanz für die Existenz der Monarchie während des Interregnums wurde bislang noch nicht ins volle Licht der Forschung gerückt.13 Zweifellos aber berührt das Ereignis des Herrschertodes als Gegenereignis zur Thronerhebung mit der gleichen Unmittelbarkeit wie diese die politisch-rechtliche Struktur der Monarchie als Dauerinstitution. 14 8
D i e Literatur ist genannt bei SCHLESINGER 1 9 5 8 — 6 3 S. 88 f. A n m . 1, vgl. auch K . SCHMID 1964
9
V g l . zuletzt R . SCHMIDT S. 97 ff. Dasselbe gilt f ü r die P a p s t w a h l , d a z u H . - G . KRAUSE S. 35 f.
10
V g l . B E C K E R , O H N S O R G E 1 9 4 7 , D E N S . 1 9 5 0 — 5 8 S . 2 6 1 ff.; D Ö L G E R , b e s . S . 1 8 2 ü b e r d i e i n B y -
(2) S. 85 ff.
z a n z neben der „ p r i m ä r e n Nachfolgesicherung" durch Erhebung z u m Mitkaiser allmählich entwickelten „ S y s t e m e v o n Hierarchien ,präsumptiver Nachfolger* *'; vgl. auch KARAYANNOPULOS (wie oben A n m . 1) S. 471 f. 11
V g l . demgegenüber z u m Absetzungsredit
KERN 1954 S. 51 f., z u m Widerstandsrecht
ebd.
S . 138 ff., bes. S. 146 ff., außerdem ROGGE. "
D i e Ü b e r l i e f e r u n g z u m f r ü h - u n d hochmittelalterlichen Herrscherbegräbnis harrt im U n t e r schied zur spätmittelalterlichen Fürsten- und Herrscherbestattung noch weitgehend der B e a r b e i t u n g . V g l . R U L A N D , S C H Ä F E R , J O R D E N , H O F M E I S T E R , B A D E R , D E E R 1 9 5 2 S . 1 1 ff. u n d D E N S . 1 9 5 9 , S ' J A C O B , K A N T O R O W I C Z 1 9 5 7 S . 5 4 5 f . (s. v . f u n e r a l c e r e m o n i e s ) , G I E S E Y 1 9 6 0 , B R A N D E N -
BURG (von B. ist nodi eine umfangreichere Publikation z u m mittelalterlichen Herrscherbegräbnis z u erwarten), GRASS S. 28 ff., BRÜCKNER. — V g l . ferner z u m spätantiken Bestattungswesen STOMMEL
1954
(1) Sp.
2 0 0 ff., z u m
frühchristlichen B r a u c h KOLLWITZ
1954
Sp.
208
ff.
und
KÖTTING 1965, z u m byzantinischen Zeremoniell TREITINGER S. 155 ff., KUKULES mit der Anzeige v o n F. DÖLGER ( B Z 40, 1940) S. 288, GRIERSON. ZU den allgemeinen mittelalterlichen T o d e s v o r s t e l l u n g e n s e i e n g e n a n n t : R E H M , J . A . F I S C H E R , K L E I N S T Ü C K , R U D O L F b e s . S . 1 1 ff., S T U I B E R ,
SANDERS, K . SCHMID—J. WOLLASCH. V g l . auch die unten A n m . 64 angeführte Literatur. ls 14
V g l . BEUMANN 1956 sowie die unten A n m . 14, 20 und 48 genannte Literatur. Z u diesem P r o b l e m vgl. H . KRAUSE 1958, besonders die Abschnitte 3 a — c S. 217 ff., außerdem WOLFF-WINDEGG S. 58
ff.
Einführung
3
Um das Gemeinte zu verdeutlichen, seien verschiedenartige geschichtliche Verständnismöglichkeiten des Königstodes vor Augen geführt. In den Anfängen der abendländischen Monarchie, dem unruhevollen Zeitalter der Völkerwanderungen, des Zusammenbruchs des römischen Weltreiches und des Aufstiegs gentiler Kleinreiche in der europäischen Randzone der spätantiken Koine konnte der Tod eines Königs die Existenz seines gesamten Herrschaftsverbandes in Frage stellen. Das intakte Königtum hatte hier oft eine lebenswichtige Funktion für das ideelle Selbstverständnis und für die politische Selbstbehauptung eines Stammes. „Als um 497 der Alamannenkönig gegen Chlodwig fällt, wird dies mit dem Verlust der Selbständigkeit gleichgesetzt... Der Verlust des Königsheils ist in diesen Fällen gleichbedeutend mit Selbstaufgabe." 15 Ein Beispiel für eine ganz entgegengesetzte Auffassung über die Bedeutung des Königstodes für die Idee und die Existenz des monarchischen Staatswesens läßt sich in der Spätphase der europäischen Monarchie beobachten. Als in Deutschland ein verlorener nationaler Großkrieg den Untergang des modernen Hohenzollern-Kaisertums und mit ihm auch der alten deutschen Fürstentümer nach sich zog, wurde von manchem Monarchisten im Tode Wilhelms II. nicht nur der ehrenvollste „königliche Abgang" erblickt, sondern zugleich eine Chance, die Monarchie in Deutschland überhaupt lebendig zu erhalten. Nachdem dem preußischen Kaiser selbst, trotz seiner romantischen Charakterneigungen, ein pseudo-archaisch gedachter Opfertod für seine Monarchie äußerst fern gelegen und er auf Lebensdauer ein privates Exil gewählt hatte, 16 hat man gemeint, eben damit habe „das deutsche Volk insgesamt das lebendige Symbol seines politischen Daseins verloren." 17 In der Tat sollte in den späteren geschichtlichen Wechselfällen auf die Krise des monarchischen Staatsgefühls in Deutschland eine wachsende Krise des allgemeinen geschichtlich-politischen Selbstverständnisses und nach einer Phase der nationalen Hypertrophie am Ende die Zerschlagung der historisch gewachsenen staatlichen Existenzgemeinschaft: folgen; nur wird man in dieser komplexen geschichtlichen Entwicklung nicht notwendig die romantische Vorstellung eines rettenden „Königsopfers" Wilhelms II. bestätigt sehen wollen. Markante Gegenbeispiele zu der hier angedeuteten Problematik des Herrschertodes in weitläufigen historischen Umbruchsituationen und in Katastrophenzeiten der monarchischen Staatlichkeit bieten etwa die archaischen Sakralmonarchien der vorderorientalischen Hochkulturen, in denen wir festen Ubergangs15
16
WENSKUS 1961 S. 68; diese Auffassung bestreitet GRAUS (Histórica 7, 1963 S. 187) in seiner Besprechung des Buches von W. V g l . KAEHLER S . 2 8 0 f f . , 2 9 5 f f . u n d MICHAELIS ( m i t d e n Z u s c h r i f t e n v o n SETHE u n d
ebd. 17
S. 701
KAEHLER
ff.).
K . D . ERDMANN i n GEBHARDT 4 S. 80, z i t i e r t v o n KAEHLER S. 2 9 5 ; v g l . d i e e b d . S. 2 8 1 f . z i t i e r t e
ähnlich lautende Diagnose von J. ZIEKURSCH (1930): „Als der Kaiser nach Holland ging, tötete er die Monarchie in Deutschland." K. D. ERDMANN (GWU 13, 1962) S. 57 gegenüber KAEHLER: „ . . . mir scheint, Ziekursch hat recht, wenn er in seiner Politischen Geschichte des zweiten deutschen Kaiserreichs den unterbliebenen Königstod beklagt." — KAEHLER negierte die Frage, ob ein Selbstopfer Wilhelms II. eine politisch sinnvolle und wirksame Alternative bedeutet hätte und schloß sich angesichts der „allgemeinen Resignation im deutschen Fürstenstand" einem Ausspruch Metternichs von 1848 an: „Verschwinden Monarchien, so geschieht es, weil sie sich selbst aufgeben" (S. 295). l*
Einführung
4
zeremoniellen von den Bestattungs- zu den Krönungsfeierlichkeiten begegnen, so daß der Gedanke der Unsterblichkeit der Monarchie bzw. die Vorstellung einer zyklischen Wiederkehr ihres irdischen Trägers sinnfällig vor Augen tritt. 18 Einer ähnlichen Vorstellung begegnet man in dem bekannten spätmittelalterlichen französischen Grab- und Proklamationsruf: „Le roi est mort, vive le roi!" Diesem Ruf lag die Vorstellung zugrunde, daß der Herrschaftsbeginn des erbberechtigten Nachfolgers nicht erst von seiner Weihe datiere, sondern spätestens von der Bestattung des Vorgängers („Le mort saisit le vif" 1 0 ), eine Anschauung, die sich seit dem Spätmittelalter gemeinsam mit der nicht nur in Frankreich gültigen staatsrechtlichen Doktrin entwickelte: „Le roi ne meurt pas", 20 und die sich zu der Konsequenz steigerte, daß man den verstorbenen Herrscher bis zum Augenblick der Bestattung fiktiv als lebend betrachtete und behandelte. Es erhebt sich unter diesen Gesichtspunkten die Frage, wieweit man schon im früheren Mittelalter Formen eines Übergangszeremoniells oder wenigstens einer Ubergangsidee kannte, die den Gesamtprozeß des Herrscherwechsels mit den verschiedenen Phasen des Herrschertodes, des (möglichen) Interregnums und der Herrsdhaftserneuerung umgriffen und so die kritische Phase des Herrschaftsvakuums zu bannen vermocht hätte. Hat man überhaupt von der Möglichkeit einer Krisenerfahrung im Falle eines mittelalterlichen Herrschertodes zu sprechen? Ist nicht vielmehr eine solche Akzentuierung der „irdischen" Verfassung des Königtums jenem herrschaftstheologischen Vorstellungskreis über die irdisch-himmlische Heilsmonarchie, dessen Ideengut in ottonisch-salischer Zeit kulminierte, wesensfremd? Welche Rolle spielten in dieser Hoch-Zeit des frühmittelalterlichen Monarchiegedankens der Herrschertod und der tote Herrscher im Bewußtsein der Zeitgenossen, nicht zuletzt der Könige selbst? Um unseren Frageansatz weiter zu veranschaulichen, wollen wir in lockerer Reihe einige Beispiele aus verschiedenen zeitlichen und räumlichen Bereichen der mittelalterlichen Monarchie betrachten. Nach Widukinds Schilderung vom Ende Ottos I. folgte der nächtlichen Totenfeier für den am Abend Verstorbenen sogleich am nächsten Morgen die Bestätigungshuldigung für den schon früher gekrönten Otto II., so daß dieser die Überführung des Vaters nach Magdeburg in der wesentlichen Eigenschaft des „endgültig zur Herrschaft Erwählten" leitete: Igitur ab integro ab omni populo electus in principem transtulit corpus patris in civitatem ... Magathaburg.21 Mit der electus-Formel faßt Widukind alle früheren Erhebungsakte zusammen, die er unmittelbar zuvor rekapituliert. Widukind spricht so dem Nachfolger 18
Eine allgemeine Ausgangsposition für diese Frage bietet der Kongreßband La Regalità Sacra. Zur Verschmelzung von Krönungs- und Bestattungsritual FAIRMAN S. 94 ff. Über babylonische und indische Parallelen WOLFF-WINDEGG S. 61 ff., zu den vorderorientalischen Sakralmonarchien auch FRANKFORT Teil I I I : The Passing of Kingship.
10
SCHRAMM 1 9 6 0 B d . 1 S . 2 5 9 f f . , KANTOROWICZ 1 9 5 7 S . 4 0 9 f f . , GIESEY 1 9 6 0 p a s s i m . V g l . a u c h d i e
ältere Arbeit von GEIGER S. 13, 15. 20
KANTOROWICZ 1957 Kapitel 7 : The King never dies S. 314 ff., bes. S. 334 ff., GIESEY 1960 Kapi-
"
WidukindS. 153, 20 ff.
tel 10: The King never dies. The Ceremonial Interregnum S. 177 ff.
Einführung
5
„das volle Wirksamwerden von dessen Königsherrschaft" erst und sogleich im Augenblick des Todes des Thronvorgängers zu. 22 Im grammatikalischen wie im sachlichen Sinne erscheint der ab integro electus als das handelnde „Subjekt" der Totentranslation, so daß diese zum ersten offiziellen Akt des Thronfolgers und zum eigentlichen Spiegel der Herrschaftsübertragung wird. Den Brauch, daß der Thronfolger den Kondukt des Vorgängers persönlich anführt, daß er den Sarg wohl gar mit eigenen Händen tragen hilft und für eine würdige Bestattung und Seelgerätstiftung sorgt, bestätigen auch die Berichte Adalbolds und Wipos über die Bemühungen Heinrichs (II.) und Heinrichs III. um die Leichname Ottos III. bzw. Konrads II. 23 Heinrich II. hatte seine intensive Fürsorge um den Verstorbenen geradezu dafür nutzen können, seinen umstrittenen Nachfolgeanspruch demonstrativ zur Geltung zu bringen. 24 Dieses Beispiel zeigt, daß die Fürsorge für den verstorbenen Herrscher einen, wenn nicht d e n ersten H a u p t a k t des Thronfolge-Prozesses darstellt und nicht nur als eine natürliche Pietätspflicht des Sohnes gegenüber dem Vater anzusehen ist, sosehr diese auch bei den zahlreichen dynastischen Herrschaftsfolgen auf dem deutschen Thron mit zu berücksichtigen bleibt. 25 Ohne eine unmittelbare Entwicklungskontinuität zur späteren mitteleuropäischen Monarchie postulieren zu wollen, sei der Hinweis auf das altnordische Erbrecht erlaubt, nach welchem mit der Ererbung der Hausgewalt die „Pflicht des Totenkults" gegeben war; 2 6 der Hochsitz galt als „gemeinsamer Ehren- und Ruhesitz für die Lebenden wie für die Toten", 27 und zumal der Erbantritt eines Jarls oder Königs wurzelte im Zeremoniell des Ahnenkults. 28 Nach de Vries gehören „in mehreren Uberlieferungen... das alte Königsgrab und der Krönungsstein zusammen". 29 „Der nordische König auf seinem Ahnengrab", so fügt de Vries in diesem Zusammenhang hinzu, „mahnt uns an die Verbindung von Thron und Grab in griechischen religiösen Vorstellungen". Das Gleiche gilt für den Kisten-Thron des altägyptischen Königtums, der, am heiligsten Tempelort als Thron des Gottes aufgestellt, ebenso „Haus der Ewigkeit" wie „Grab" genannt wurde. 30 Einer entfernt verwandten Form der archaischen Verehrung eines normativen „Über-Ichs" — sei es eines heroischen „Spitzenahns", 81 sei es eines geheiligten 12
23 24 25 28
Vgl. K. SCHMID 1964 (2) S. 95 ff. (hier zitiert S. 97) mit neuen Gesichtspunkten über den Thronwechsel in der Darstellung Widukinds, die der Idee eines Mitkönigtums bzw. eines Mitkaisertums widerspricht. Dazu unten S. 130 und 144. Vgl. unten S. 129 ff. Vgl. unten S. 144 f. PLANITZ—ECKHARDT S. 56, vgl. CONRAD S. 42: „Der gekorene Erbe mußte für den Erblasser die Totenopfer ausrichten."
27
OLIVECRONA S . 1 5 A n m . 2 3 .
28
Ebd. S. 14 f. mit Anm. 23.
29
D E VRIES 1 9 5 6 S. 3 4 6 , v g l . DENS. 1 9 6 0 S. 1 2 1 , f e r n e r MEIER S. 9 1 ff., 1 4 9 ff. u n d
bestätigend
SPROCKHOFF S . 3 2 4 f . , s o w i e J A N K U H N i n S C H R A M M 1 9 5 4 — 5 6 B d . 1 S . 1 0 1 A n m . 1 m i t w e i t e r e r
Literatur. 30
V g l . KRISTENSEN S . 9 f f . ( H i n w e i s b e i DE V R I E S 1 9 5 6 S . 3 4 7 ) .
31
Z u diesem Begriff K . HAUCK 1 9 6 0 (1) S. 9 7 ff., DERS. 1964 S. 10 ff.
6
Einführung
Herrschaftsgründers — begegnet man in teils fiktiven Abstammungsnachweisen und in der normativ-geschichtlichen Verehrung des „großen Karl" vom 10. Jahrhundert an bei zahlreichen Herrscherhäusern Europas.32 Seit Otto I. 33 brachte man den Wunsch nach Erneuerung der karolingischen Reichsherrschaft dadurch zum Ausdruck, daß der Coronandus an der Karlsgrablege zu Aachen, im alten fränkischen Gewand, zu Beginn der Weihe- und Inthronisationshandlungen unter Akklamationen jenen Thron im Atrium des Münsters bestieg, mit dem seit kurzem das Grab Karls sogar in eine unmittelbare lokale Verbindung gebracht wird.34 Mit welchen Lokalisierungsproblemen der Begriff des solium regium auch immer verbunden bleibt, in jedem Fall bezeugt uns Thietmar, daß Karls des Großen Gebeine seit Ottos III. ungewöhnlicher Graböffnung in nächster Nähe zum „Thronort" v o r g e s t e l l t wurden: Karoli ce saris ossa... in solio inventa sunt regio.** Auch bleibt bei aller Skepsis gegenüber den im frühen 11. Jahrhundert aufgezeichneten Nachrichten des Pfalzgrafen Otto von Lomello, der den Chronisten in Novalese seine persönliche Teilnahme an der Graböffnung versichert haben soll, bemerkenswert, daß Karl der Große schon damals eine heiligengleiche Verehrung genoß, die sich mit der Vorstellung verknüpfte, daß dieser große Kaiser in seiner Gruft „wie ein Lebender auf einem Thron sitzend" ruhe.36 Ein anderes bedeutendes Beispiel für die mittelalterliche Verehrung eines geheiligten „großen Toten" am Ort seines Grabes stellt die Grablege des Heiligen Petrus in Rom dar, die sich als „heiliger Stuhl" der einen successio apostolica zum Mittelpunkt eines monarchischen Episkopats entwickelte.37 Seit altersher wird der Gedanke einer wirklichen Nachfolge des normbildenden Vorgängers und Thronbegründers im päpstlichen Krönungszeremoniell dadurch versinnbildlicht, daß das Pallium des zum Papst Erwählten während der Nacht vor dem Krönungstag auf dem Sarkophag Petri aufbewahrt wird, um dem Coronandus gleichsam die persönliche Weihe des Toten zukommen zu lassen, zu dessen Grab er sich bis heute unmittelbar vor der Weihehandlung persönlich hinabbegibt.38 Neben den hier ausschnitthaft beleuchteten Möglichkeiten, die Nachfolge eines Verstorbenen zu demonstrieren oder einen großen Toten als HerrschaftsVgl. allgemein FOLZ 1950; zu der dort S. 97 Anm. 4 ausgeklammerten fiktiven Karls-„Genealogie" Adalbolds für Heinrich II. vgl. unten S. 128 f. 83 Zur liudolfingischen Aachen-Politik v o r Otto I. K. HAUCK 1967 (2), bes. S. 50 f. zu den Aachen-Festen Heinrichs I. 34 Vgl. BEUMANN 1967. Gegen die These von KREUSCH, daß Karl die Aachener Pfalzkirche schon als eigene Grabkirche konzipiert habe, OSWALD S. 14. 35 Thietmar S. 184, 33 ff. 3® Chronicon Novaliciense 111,32 S. 197: non enim iacebat, ut mos est aliorum defunctorum Corpora, sed in quandam cathedram ceu vivus residebat. 37 W. BREUNING (LThK 9, 2 1964) Sp. 1140 ff.; zur Begriffsbildung „Heiliger Stuhl" BATTIFOL. 38 Vgl. EICHMANN 1951. Zwischen Kyrie und Gloria schreitet der Electus aus der Sakristei zum Petrusgrab, von dort „zu der sedes, d. i. hier wohl zum Hauptaltar über der confessio", empor (S. 8). „Das Pallium hat die Nadit über auf dem Leib des heiligen Petrus gelegen, da hat sich eine geheimnisvolle Verbindung vollzogen, so daß das Pallium gewissermaßen das Pallium S. Petri geworden ist; es wurde fingiert, daß Petrus sein eigenes Pallium hergibt." (S. 12 Anm. 45). 32
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gründer und normensetzenden Herrschafts-,.Ahnen" am O r t seines Grabes verehrungsvoll in exemplarischer Nachfolge neu zu „vergegenwärtigen", ist andererseits auch die Frage nach dem Todesgedanken als solchem, besonders nach dem Gedanken an den eigenen Tod im Bewußtsein eines Thronfolgers zu konkretisieren. „Wenn heute noch in der Krönungsmesse des Papstes der Zug, ehe er beim Altar über dem Grab des hl. Petrus ankommt, dreimal H a l t macht, wobei jedesmal ein Zeremoniar mit einem Büschel Werg an den Papst herantritt, dieses verbrennt und singt: Sande Pater, sie transit gloria mundi, so lebt hier", nach den Worten Otto Treitingers, „noch Zeremonie und Symbolik, die uns Petrus Damiani fast genau so vom byzantinischen Kaiserhof berichtet." 39 Durch den byzantinischen Krönungsbrauch wurde das Vergänglichkeits- und mortalitas-Bewußtsein im Thronfolger noch nachdrücklicher wachgerufen, wenn nach der Segnung (die die abendländische Salbungsweihe ersetzte) und nach einer Predigt des Patriarchen von Konstantinopel über die Vergänglichkeit alles Irdischen (!) der gerade gekrönte Kaiser allererst von seinen Hofsteinmetzen gefragt wurde: „Wem will deine Herrlichkeit dein Grab herzurichten befehlen?" 40 Auf besondere Weise traf man im angelsächsischen Krönungsbrauch Vorsorge f ü r das Begräbnis des Thronfolgers, wenn die durch das Salböl kostbar gewordenen Untergewänder Heinrichs des Jüngeren (1170—1183) zur späteren Verwendung als Totenkleider aufgehoben wurden. 41 Die Westminsterabtei selbst war zugleich zentrale Krönungsstätte und H o r t des Insignienschatzes wie Grablege der englischen Monarchie. In dem ältesten erhaltenen Königsdiplom Karls des Großen verband sich mit einer Schenkung an St. Denis, wo der Vater bestattet lag, zugleich eine Vorsorge f ü r die geplante eigene Bestattung am gleichen Ort. Der darin möglicherweise erkennbare Wunsch nach einer dynastischen Grablege ist allerdings vor einer derartigen Gründung durch die Salier in Speyer nicht zu verallgemeinern. Wurde doch Karl der Große selbst am Ende nicht in St. Denis, sondern — nach manchen Zweifeln der Verantwortlichen — in seiner Aachener Hauptkirche beigesetzt. Bis zur salischen Grablege in Speyer fällt das Bemühen jedes einzelnen Herrschers um eine persönliche und möglichst würdige kirchliche Grablege in die Augen, 42 was auch in der zeitgenössischen Historiographie stets rühmend vermerkt wird. Wir brechen mit diesen Hinweisen ab, da die aus verschiedenen Zeiten und Räumen der mittelalterlichen Monarchie herausgegriffenen Einzelbeispiele schon jetzt das Interesse voll zu rechtfertigen scheinen, im Vorstellungsbereich der theokratischen Heilsmonarchie des Mittelalters stärker als bisher auch den Komplex des Herrschertodes, des toten Herrschers, des „großen Toten" und schließlich allgemein den „Todesgedanken im Herrschaftsbewußtsein" zu berücksichtigen. Haben wir bisher im wesentlichen den verstorbenen Herrscher als Quelle einer ideellen Legitimation des Thronfolgers in den Blick gerückt, so ist im folgenden 59
TREITINGER S. 148; z u m Wergverbrennen auch SCHRAMM 1958 S. 86 mit A n m . 6 u n d 7.
40
TREITINGER S. 1 4 7 .
41
V g l . SCHRAMM 1 9 3 7 S. 1 3 4 m i t A n m . 3 z u S. 1 2 6 .
42
Vgl. unten S. 121.
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der Gegenaspekt: der Herrschertod als Unheilerfahrung, zu betrachten. Es ist zu prüfen, ob und in welchem Maße schon der Normalfall des durch die Grenze des menschlichen Lebens bedingten Herrschertodes die allgemeinen Normen der monarchischen „Verfassung" zu beeinträchtigen vermochte. Versteht man unter der „Verfassung" der mittelalterlichen Monarchie in der Formulierung Carl Schmitts mit Otto Brunner den „konkreten Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung", 43 so zielt unsere eigene Frage vornehmlich auf das zeitgenössische Herrschafts- und R e c h t s - B e w u ß t s e i n , und zwar methodisch auf die literarische Spiegelung der von ihm geprägten komplexen Verfassungswirklichkeit. Mit der Blickschärfe des Wegbereiters hat Fritz Kern in seiner unter dem Titel „Recht und Verfassung im Mittelalter" erschienenen Abhandlung, wenn auch nur anmerkungsweise, das Problem des Herrscherwechsels als Forschungsaufgabe zur Sprache gebracht: „Man kann nicht von mittelalterlicher Verfassung handeln, ohne der ihr unvermeidlichen Einrichtung des I n t e r r e g n u m s zu gedenken. Es entsteht aus der monarchischen Staatsform einerseits, dem Mangel einer von der Verfassung vorgeschriebenen festen Thronfolgeordnung anderseits. Nur durch die Wahl des Nachfolgers bei Lebzeiten des Vorgängers konnte man der Unbequemlichkeit des Interregnums entgehen... Das Interregnum gilt als Unglück: wenn die Tätigkeit des Monarchen in der Aufrechterhaltung von Recht und Frieden besteht, so muß beim Fehlen des Monarchen notwendig Unfriede und Unrecht überwuchern." 44 Trotz aller gebotenen Einschränkungen gegenüber Kerns Terminologie 45 bleibt sein Hinweis auf das Interregnum als Strukturproblem der mittelalterlichen Monarchie förderlich genug, da wir heute in der allgemeinen historischen wie auch in der rechtshistorischen Forschung unter dem Stichwort „Interregnum" so gut wie ausschließlich auf jene besondere, durch ein Doppelkönigtum verursachte längere Reichskrise im 13. Jahrhundert zwischen den Epochen staufischer und habsburgischer Reichsherrschaft stoßen. 46 Es mag an dem Vor-Urteil des neuzeitlichen Rechtspositivismus gegenüber jeder Art von „Ausnahmezustand" liegen,47 daß die im Jahre 1892 von Heinrich Triepel veröffentlichte „staatsrechtliche Untersuchung" über das europäische Interregnum ein vereinzelter und in seiner Konzeption heute nicht mehr brauch43
C . SCHMITT 1 9 2 8 S. 4 , BRUNNER 1 9 5 6 S. 6 .
44
KERN 1 9 1 9 S. 5 2 A n m . 2 , v g l . DENS. 1 9 5 4 S. 7 A n m . 1 2 u n d S. 2 6 7 f. s o w i e TRIEPEL S. 2 1 .
45
Formulierungen wie „Einrichtung des Interregnums" und „von der Verfassung vorgeschriebene feste Thronfolgeordnung" weisen immer noch auf ein positivistisches „Staatsrechts"-Denken, dessen Dogmatik gerade KERN im allgemeinen für die mittelalterlichen Rechtsvorstellungen überwunden hat.
46
Vgl. W. HOPPE in RÖSSLER—FRANZ S. 4 5 1 : „Nach der Meinung Joh. Hallers müßte man anstatt von einem Interregnum, ein Ausdruck, der sich freilich völlig eingebürgert hat, besser von einer Zeit des Doppelkönigtums sprechen." Vgl. ferner MITTEIS 1944 S. 236 (Registerstichwort) und CONRAD S. 470 (Registerstichwort). Als verfassungstheoretischen Begriff behandeln das Interregnum außer KERN (wie oben Anm. 44), jedoch nur für die spätmittelalterliche Monarchie Westeuropas, KANTOROWICZ 1957 Kapitel 7 und GIESEY 1960 Kapitel 10.
47
Vgl. dazu unten S. 181 f.
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barer monographischer Versuch geblieben ist. 48 Die singulare Beachtung des sogenannten Interregnums im 13. Jahrhundert mag andererseits auf dem nicht gerechtfertigten Eindruck beruhen, daß seit karolingischer Zeit kein Herrscher- bzw. Dynastienwechsel eine bedeutende Krisenphase der zentralen Reichsgewalt heraufbeschworen habe. Demgegenüber ist die Frage zu stellen, ob man nicht beispielsweise alle jene das Reich tief schwächenden Begleiterscheinungen und Folgen der Minderjährigkeitsregierung Heinrichs IV. gleichfalls mit einem gewissen Recht als „Interregnum"-Phänomene nach dem Tode Heinrichs III. bezeichnen müßte. 49 Allein im Hinblick auf die von uns ins Auge gefaßte, normalerweise nur kurzfristige Thronvakanz während des generationenbedingten Herrscherwechsels ist zu betonen, daß sich selbst in der Zeit der ottonischen Reichsbildung und der salischen Reichsblüte, also von Heinrich I. bis zu Heinrich V., von insgesamt acht Thronwechseln mit Sicherheit nur zwei — der von Otto I. auf Otto II. und der von Konrad II. auf Heinridi III. — ohne innere Auseinandersetzungen und Krisenfolgen vollzogen haben. Man hat sich insbesondere des politischen Fiaskos im Jahre 1002 zu erinnern oder des von Wipo ins Grundsätzliche gewendeten Beispiels der Pavesen, die beim Tode Heinrichs II. die für die Reichsverwaltung in Italien nicht unbedeutende Pfalz in ihren Stadtmauern niedergerissen hatten, was — in der stilisierenden Sicht Wipos — zu einer verfassungstheoretischen Diskussion zwischen ihnen und Konrad II. über den ideellen Bestand der Reichsrechte in der Zeit des üblichen Interregnums nach dem Tode eines Herrschers geführt hat. 50 Gerd Teilenbach bemerkte einmal, es sei in der hochmittelalterlichen Geschichte immer wieder zu beobachten, „wie ein Thronwechsel Angriffe hervorruft; besonders eindrucksvoll war es bei Otto I., Otto II. und Heinrich VI." 5 1 D a ß wir neben Angriffen von außen auch im Reich selbst bei solchen Gelegenheiten mit den verschiedensten Formen spontaner Gewaltanwendungen zu rechnen haben, lassen besonders deutlich die Interregnumwirren beim Tode Heinrichs VI. erkennen, deren typischen Charakter Karl Hauck unter dem Begriff der licentia seviendi hervorgehoben hat. Ein falsches Gerücht vom Tode Heinrichs VI., kurz vor dessen wirklichem Ableben, habe, wie uns die Kölner Königschronik mitteilt, „böse und schädliche Menschen allerorten wie rasende Wölfe zu Raub und Plünderung angestachelt. Erst die Kunde, daß der Kaiser noch lebe, habe ihrem zügellosen Treiben ein Ende gemacht: a seviendi licentia repressi sunt. Mit der Wortfügung von der seviendi licentia gibt der Chronist den Blick darauf frei, daß der Herrschertod zeitweilig das sonst geltende Recht aufhob. Das war eine so alte Regel, daß wir dafür mancherlei Belege besitzen." 52 48
Indem TRIEPEL „Souverän" als „Nichtunterthan" definiert und diesen säkularisierten Begriff auf die theokratische Monarchie des Mittelalters überträgt, wird seine Arbeit für den Mediävisten uninteressant. Vgl. demgegenüber unten S. 181 f. 4 » Vgl. unten Kapitel III, 1, d und III, 2, b. 50 Vgl. unten S. 183 ff. 51 TELLENBACH S. 47. Wenn auch „der Papstwechsel von jeher Krisen heraufgeführt hatte" (H.-G. KRAUSE S. 57), so sind hierfür die besonderen politischen Spannungsmomente in Rom zwischen den stets rivalisierenden Adelsgeschlechtern und der kaiserlichen Partei mit zu berücksichtigen. "
K . HAUCK 1 9 6 3 (1) S . 1 4 7 f.
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Wo lagen die Gründe solch negativer Auswirkungen des Todes eines Königs? Abgesehen von dem weiten geschichtlichen Horizont der „periods of licence" und der „Anarchie nach dem Herrschertod als altem Menschheitsgedanken" 53 sind der tiefgehende Nachfolgestreit und die Fehdewirren nach dem Tode Heinrichs VI., um nur diese Folgen unseres Beispielfalles zu nennen, aus verschiedenen Gründen „für die mittelalterliche Vorstellung vom Wesen der Monarchie" 54 aufschlußreich. Erstens war die Monarchie in Deutschland bis zur Goldenen Bulle durch den von Kern hervorgehobenen „Mangel einer festen Thronfolgeordnung" und eines ausgebildeten Reichsvikariatsrechts 55 im Falle eines Herrscherwechsels ständig in ihrer Kontinuität bedroht, und zwar nicht wegen des Fehlens, sondern wegen der Fülle und des heterogenen Nebeneinanders verschiedenartiger Legitimationsprinzipien, was sich in der „Handlungskette" der Thronerhebung spiegelt. Geblütsrecht und freie Wahl, archaische Dynastieheiligkeit und christliche Salbungsweihe überlagerten sich ohne eindeutige Prärogativen. Zum andern widersprach dem monarchischen Prinzip entschieden das mittelalterliche Institut der Selbsthilfe, insbesondere in der Form der Fehde, „die Recht und Macht zugleich ist". 56 Diese Selbsthilfe trat natürlicherweise in dem Augenblick, da der oberste Friedensgarant starb, mit gesteigertem Anspruch in Aktion. So dominant die Friedensidee in den verfassungstheoretischen Vorstellungen des mittelalterlichen Königtums als Inbegriff einer christlichen Rechtsauffassung hervortritt, so verbreitet blieb das aus einem alten Wertsystem überkommene Fehderecht als praktische Norm des politischen Handelns, was nicht ausschloß, daß das Prinzip der „rechten Gewalt" angesichts ihrer Folgen im Bewußtsein der Zeitgenossen selbst als „Unglück" galt. 57 War doch das „Schaden trachten" mit „Raub und Brand" ein Hauptmittel der Fehdeführung. 58 Wenn sich seit den Saliern die Reichsgewalt bemühte, durch die Verkündung von Reichsfriedensordnungen das Recht der Fehdeführung einzuschränken,59 gab gerade der Tod eines Königs den Lokalgewalten immer wieder Fehdefreiheit mit einem unbestimmbaren Spielraum der licentia seviendi. Wieweit hierbei die Gewalt den Weg des geltenden „Rechts" zuweilen verließ, vor allem in einer Zeit, in der man weder wie noch im 11. Jahrhundert „die Absage als objektives Zeichen des Beginns einer Fehde" noch „ein übergeordnetes, staatliches Gericht" kannte, das jederzeit „den objektiven und subjektiven Tatbestand" hätte feststellen können, ist, zumal auf dem Boden der mittelalterlichen Gottesurteil-Vorstellung, die das Recht dem Erfolgreichen zuspricht, grundsätzlich oft schwer zu entscheiden.60 Drittens liegt ein wesentlicher Grund für den Umbruchcharakter eines Herrscherwechsels zumindest bis in das 11. Jahrhundert hinein in der frühVgl. ebd. S. 148 Anm. 95 und jetzt bestätigend HORNUNG S. 27 f. M
V g l . K . HAUCK 1963 (1) S. 147.
»
Vgl. d a z u CONRAD S. 226 ff.
«• BRUNNER 1 9 5 6 S . 1 7 f., v g l . DENS. 1 9 5 9 S . 1 0 6 ff. 57
BRUNNER 1 9 5 9 S . 1 0 6 u n d 1 1 0 .
M
Ebd. S. 7 9 . GERNHUBER S. 25 ff. und 41 ff. Zur kirchlichen Gottesfriedensbewegung auf französischem Boden seit dem späten 10. Jahrhundert H. HOFFMANN 1964.
59
V g l . GERNHUBER S . 28 f., H . HOFFMANN 1 9 6 4 S . 1 2 f .
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feudalen Personalstruktur des die Reichsherrschaft tragenden Führungsadels. Karl Schmid hat dargelegt, wie entscheidend es im früheren Mittelalter für den monarchischen Herrschaftsaufbau war, „wenn der König über einen eigenen, ihm getreuen, möglichst durch ihn selbst emporgeführten Adel verfügte". „Daher wandelte sich die Führungsschicht im Reiche beinahe von König zu König; immer wieder veränderte sich die Gruppe der Adelsfamilien, denen es aufgetragen war, die Königsherrschaft zu stützen." 61 Diese adelsgeschichtliche Beobachtung erhellt ein typisches Klagemotiv des frühmittelalterlichen Herrscher-Planctus, daß nämlich mit dem (großen) König jeweils eine ganze Führungsschicht dahingehe: nobilitas mit late, mit cesar caput mundi et cum illo plures summi.*2 Zur Verwirklichung der Friedensidee, die seit ottonischer Zeit an Lebendigkeit gewann, bis sie unter Heinrich IV. während der tiefsten Krise der deutschen Reichsherrschaft zur ersten gesetzlichen Verkündung eines Reichslandfriedens führte (1103), 63 standen dem Königtum also nur eingeschränkte Möglichkeiten zur Verfügung. Angesichts dieses Umstandes erhebt sich die Frage, welche Verfassungsvorstellungen die Friedens- und Heilsmonarchie in der Zeit ihrer prinzipiellen Funktionsunfähigkeit (wie im Interregnum) oder in anderen historischen Krisenaugenblicken legitimierten. Der Eindruck, daß die Erfahrung von Herrschaftskrisen im Spiel der politischen Kräfte aus dem Kreis der zeitgenössischen Gottesgnaden-Vorstellungen verdrängt geblieben sei, könnte sich schon allein angesichts der Tatsache aufdrängen, daß es während des frühen und hohen Mittelalters keine ausgeprägte Tradition jenes literarischen Genos gab, das das Unglück und den Untergang der Großen dieser Welt mahnend vor Augen führte: des Genos der „Exitus illustrium virorum". 64 Diese Gattung stammt aus der stoisch-frühchristlichen Polemik gegen die Monarchie,65 läßt sich seit dem frühen 13. Jahrhundert volkssprachlich als „Klage um den toten Herrn" weiterverfolgen 66 und taucht als Form der Ver"
K . SCHMID 1 9 5 9 S . 19 u n d 2 1 .
Wipo S. 61, 1 ff., vgl. dazu unten S. 145. Hier ist an das allgemeine Klagemotiv „omnia simul perierunt cum illo" zu erinnern, das sich auch etwa in Epitaphien für Bischöfe und Äbte findet (freundlicher Hinweis von Herrn Dr. von Moos). " D a z u GERNHUBER S. 81 ff. 62
M
Z u m m i t t e l a l t e r l i c h e n H e r r s c h e r e p i t a p h i u m v g l . HENGSTL, FERNIS, COHEN, BITTNER b e s . S . 1 1 3 f., 1 3 1 f . , 1 5 0 ff., SZÖV£RFFY 1 S . 4 7 A n m . 2 7 ; 2 S . 7 3 ff. —
F . SCHNEIDER S . 1 6 0 f . m i t
Anm.
•5
S. 264 zu Papstepitaphien des 10./11. Jahrhunderts, HUG zur Heiligenbiographie, in welcher der Tod „Krönung, lang erwartete, ersehnte, wohl vorbereitete, erzielte Höhe des Lebens" bedeutet (S .70), STOECKLE S. 81 ff. über das intensivierte Erlebnis des „eigenen Todes" in benediktinischen Frauenviten des sächsischen Raumes im 9.—11. Jahrhundert. — Eine Form der historiographischen Akzentuierung des Herrscherendes werden wir, außerhalb der Gattungen des Epitaphium und der Biographie, in Widukinds und Thietmars Geschichtswerken insofern kennenlernen, als hier der Herrschertod ein dominierendes chronographisches Zäsurprinzip darstellt, wie es sich z. B. schon in den Historien Gregors von Tours nachweisen läßt und wofür ein Einfluß vom Genos der „Exitus illustrium virorum" (dazu im folgenden) vielleicht nicht auszuschließen ist. RONCONI mit weiterer Literatur.
"
FERNIS.
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gänglichkeitspredigt im Zusammenhang mit der Vorstellung vom kreisenden Rad der Fortuna endgültig seit Boccaccios „De casibus virorum illustrium" (1355/60) im Spätmittelalter wieder auf, bis an der Schwelle zur Neuzeit die Königsdramen Shakespeares das Thema zur großen Geschichtstragödie steigerten. 67 O h n e den antimonarchischen Affekt der „Exitus illustrium virorum" findet sich ein „barocker" Katalog über herrscherliche Todesfälle in einem Epitaphium des Hieronymus, und zwar als Amplifikation der konsolatorischen Zeitklage: congratulandum ei (sc. mortuo) quod de tantis malis euaserit.68 An dem hervorragenden Beispiel der miseriae regum veranschaulichte Hieronymus, dem der Bestand des römischen Reiches am Herzen lag, den allgemeinen fragilis humanae condicionis status,69 und in dieser unprätentiösen Form lebte der Gedanke, daß der Tod keine Schranke zwischen Hoch und Niedrig kenne, in mittelalterlichen Totenklagen fort. 70 Der hieronymianischen Vergänglichkeitsmahnung entnehmen wir das Stichwort unserer Leitfrage, ob überhaupt und in welchem Sinne das Bewußtsein von den miseriae regum, das in der Spätantike und im Spätmittelalter eine eigene Gattung zu prägen vermochte, auch in der ottonisch-frühsalischen Blütezeit der frühmittelalterlichen Monarchie über die engere Konsolationstopik hinaus lebendig war und den splendor imperii71 im monarchischen Selbstverständnis und in den Herrschaftsvorstellungen der Zeitgenossen zu beeinträchtigen imstande war. 72 Sollte doch diese Blütezeit der frühmittelalterlichen Monarchie mit dem persönlichen Schicksal Heinrichs IV. ein höchst unglückliches Ende finden, dessen Tragik sich in der anonymen Lebensbeschreibung des Königs ebenso erschütternd spiegelt wie in seinen eigenen hilfesuchenden Klagebriefen aus seinem letzten Lebensjahr, in denen der vielgeprüfte Herrscher das Ende seines „tragischen Leids" herbeisehnt: Sed iam tempus est tarn longe nostrarum miseriarum tragedie finem imponere.™ Mit dem Auseinandertreten von Regnum und Sacerdotium im Zeitalter des sogenannten Investiturstreits zerbrach eine „archaisch" zu nennende Epoche politisch-rechtlich-religiöser Wirklichkeitsverhältnisse und Vorstellungen. 74 Diese 67
V g l . SCHIRMER, b e s . S . 1 3 ff.
• 8 Hieronymus ep. 60 Kapitel 15 f., Lettres Bd. 3 S. 105 ff. (vgl. die folgende Anm.). ,9 Ebd. S. 105, 4 ff., 106,4 ff.: Verum quid ago medens dolori quem iam reor et tempore et ratione sedatum, ac non potius replico tibi uicinas regum miserias et nostri temporis calamitates, ut non tarn plangendus sit qui hac luce caruerit, quam congratulandum ei quod de tantis malis euaserit? ... Dicat aliquis: ,regum talis condicio est, feriuntque summos fulgura montes' . . . Non calamitates miserorum, sed fragilem humanae condicionis narro statum — horret animus temporum nostrorum ruinas prosequi... 70
V g l . HENGSTL S. 1 5 4 .
71
Nach WOLFRAM 1963 S. 11 f. wurde gerade in ottonischer Zeit „zum ersten Male in der mittellateinischen Literatur des Reichsgebietes vom Glanz des Reiches gesprochen". Vgl. KALLFELZ S. 67 ff. über die „Einstellung zu Glück und Leiden" in der Adelsethik des 10. und 11. Jahrhunderts. Die ethische Qualität des Leidens bei K. nur gestreift. — Zum Selbstverständnis der ottonisch-salischen Zeit vgl. vor allem VON DEN STEINEN 1956 und 1964. Heinrich IV., Briefe Nr. 37 S. 50, 22 f.; vgl. S. 47,5.9 f. und Nr. 38 S. 51, 16 ff., Nr. 39 S. 52, 16 ff. Vgl. H. KRAUSE 1965 passim, hier S. 98.
71
73
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entziehen sich noch in ottonisch-salischer Zeit weitgehend einer systematisch-begrifflichen Durchdringung. Insbesondere ist die Frage nach den frühmittelalterlichen H e r r s c h a f t s -Vorstellungen eine Frage nach einem vorrationalen Ideenkomplex; alle herrschaftstheoretischen Argumente der Zeit zielen auf eine religiöse Legitimation. Zu den „herrschaftstheologischen" Vorstellungen rechnen wir grundsätzlich ebenso das vorchristlich-ethnische Charisma-Denken wie die Tugendkataloge der christlichen Fürstenspiegel oder den kirchlichen Idoneitäts- und Amtsgedanken, 75 schließlich und vor allem den Vorstellungsbereich der sogenannten „politischen Theologie" bzw. der „politischen Religiosität". Wir halten diese beiden Begriffsbildungen allerdings gleichermaßen für unglücklich und wählen statt dessen den Begriff „Herrschaftstheologie", da wohl das Phänomen der Herrschaft (potestas/dignitas), nicht aber die neuzeitlich-säkularisierte Kategorie des „Politischen" dem Mittelalter selbst bewußt gewesen ist. 76 Dieses Bewußtsein entbehrt, um es abermals zu betonen, noch im 11. Jahrhundert einer verbindlichen Begrifflichkeit und Systematik, so daß auch der Begriff „Herrschaftstheologie" nur als ein terminologischer Behelf gelten kann, der abkürzend jenen Reflexionsraum bezeichnet, in welchem Macht und Herrscheramt als religiöses bzw. theologisches Problem diskutiert werden. Wenn man trotz dieser gebotenen Einschränkungen geradezu von einer „sächsisch-salischen Königschristologie" gesprochen hat, 77 so ist damit zwar prägnant die strenge Christus-Orientierung der herrschaftstheologischen Vorstellungen im 10. und 11. Jahrhundert charakterisiert, jedoch in verfänglicher Weise ein Hauptbegriff der dogmatischen Theologie in Anspruch genommen. Die Wesensgrenze zwischen der deitas Christi und der humanitas seines Vicarius stand,
75
Z u d e n v o r c h r i s t l i c h e n V o r s t e l l u n g e n v g l . BOSL i n R Ö S S L E R — F R A N Z S . 4 0 4 ff., D E N S . 1 9 6 4
(Re-
g i s t e r s t i c h w o r t „ H e i l " ) , K . H A U C K 1 9 6 0 ( 1 ) , WENSKUS 1 9 6 1 b e s . S. 3 0 5 ff., P R I N Z b e s . S. 4 8 9 ff.
Skeptisch gegenüber einem vorchristlichen „Sakralkönigtum" dagegen BAETKE und GRAUS (dieser bes. S. 313 ff.). Z u r c h r i s t l i c h e n V o r s t e l l u n g s t r a d i t i o n v g l . BERGES, K E R N 1 9 5 4 S . 4 6 ff., E W I G 1 9 5 6 S . 7 f f . u n d BUSCHMANN. n
Den Begriff „politische Theologie" prägte vermutlich zuerst C. SCHMITT 1 9 2 2 — 3 4 für das Phänomen der Säkularisierung staatstheoretischer Begriffe seit dem 16. Jahrhundert. PETERSON übernahm 1935 den Begriff für die spätantike Reichstheologie, ließ ihn jedoch nicht mehr für das Mittelalter gelten: „Wir haben hier den Versuch gemacht, an einem konkreten Beispiel" (nämlich an der Theologie Augustins) „die theologische Unmöglichkeit einer politischen Theologie' zu erweisen." (S. 98 f.) In diesem Sinne schließt auch EHRHARDT 1959 in seinem Werk über die „Politische Metaphysik von Solon bis Augustin" den letzteren aus. Für die byzantinische Entwicklung schloß sich auch TREITINGER S. 44 f. der Auffassung PETERSONS an. — Positiv verstanden dagegen für das christliche Mittelalter den Begriff „politische Theologie" weiterhin DEER 1955 und KANTOROWICZ 1957, wie jeweils der Untertitel dieser beiden Arbeiten zeigt; ebenso auch DÜRIG einmal S. 184, hier jedoch zugleich mehrfach die Wendung „Herrschertheologie". — Nachdem sich schon Goethe im Rückblick auf die Krönung Josephs II. des Ausdrucks „politisch-religiöse Feierlichkeit" bedient hat (Dichtung und Wahrheit, 5. Buch), wurde der Begriff „politische Religiosität" für mittelalterliche Verhältnisse populär durch HEER. Die von uns gewählte Begriffsbildung „Herrschafts t h e o l o g i e " bürgerten Begriff „Geschichtstheologie".
77
KOST S. 5 4
ff.
versteht sich als Analogon zu dem einge-
14
Einführung
zumindest in den westlichen Herrschaftsvorstellungen, niemals zur Diskussion. Die herrschaftstheologische Korrelation zwischen Christus und seinem irdischen Stellvertreter wird in ottonisch-salischer Zeit im wesentlichen als ein Verhältnis der imitatio verstanden; neben ihr tritt die — theologiegeschichtlich bedeutsame — Vorstellung der „Abbildlichkeit" (imago) bzw. der Gottesebenbildlichkeit wenig hervor.78 Obwohl der zeitgenössische Königskrönungsordo für dieses Verhältnis — und zwar im Hinblick auf den christus Domini-Namen — einmal den seltenen typus-Begriff (typum in nomine) verwendet, wollen wir den Begriff „typologisch" im Anschluß an die auf ihn gerichtete neuere Bedeutungsforschung aus unserer Terminologie ausklammern. Untersuchungen zur ottonisch-salischen Herrschaftstheologie haben es nicht wie jene Forschungen mit der mittelalterlichen Exegese der im eigentlichen Sinne „christologischen", d. h. biblisch begründeten und sich steigernd erfüllenden „inneren" Heilsgeschichte zu tun, sondern im Horizont der praktischen Heilssuche, diesseits einer reflektierten Geschichtstheologie (!), so gut wie ausschließlich mit dem „geschichtlichen Phänomen der Imitatio", dem — in christologisch-eschatologischer Sicht — „das Moment der Steigerung abgeht". 79 Immerhin verpflichteten die herrschaftstheologischen Vorstellungen der ottonisch-salischen Zeit den irdischen Hüter der Christenheit zu einem v o r b i l d l i c h - e x e m p l a r i s c h e n Habitus praktischer Christomimesis. In einem Zeitalter, dem in diesem Sinne „das Königtum als Faktum der Heilsgeschichte" gilt,80 ist im literarischen Bereich nur mit Vorsicht eine grundsätzliche Scheidung „hagiographischer" und „profangeschichtlicher" Herrschaftsdeutung zu treffen. Wenn Helmut Beumann eine solche Antithetik dennoch für die mittelalterliche Historiographie entworfen hat, soweit diese als „Quelle für die Ideengeschichte des Königtums" befragt werde,81 so verbirgt sich u. E. hinter dem gattungsgeschichtlichen Differenzierungsversuch ein zentrales h e r r s c h a f t s t h e o l o g i s c h e s P r o b l e m : das gespannte Habitus-Verhältnis zwischen christlich-frommer humilitas und herrscherlich-repräsentativer dignitas. Das Odium jedes Herrschaftsanspruchs, der christliche Vorwurf der superbiaelatio, ist durch das Christus-Wort begründet: Quia omnis qui se exaltat humiliabitur, et qui se humiliât exaltabitur (Luk. 14,11). Hiernach erscheint es auf den ersten Blick überzeugend, wenn man strenggenommen von der „theologischen Unmöglichkeit einer politischen Theologie"', 82 d. h. von der Unmöglichkeit einer theologischen Rechtfertigung irdischer Herrschaftsansprüche im christlichen Mittelalter, gesprochen hat. 78
Zu den Vorstellungselementen der Imitatio und der Abbildlichkeit in der ottonisch-salisdien Vikariatstheologie DÜRIG.
70
OHLY 1966 S. 365, vgl. DENS. 1958 und 1968, ferner AUERBACH 1944 (wo statt des griechischen fypos-Begriffs der lateinische figura-Begriff und davon abgeleitet die geschichtstheologische „Figuraldeutung" diskutiert sind). Zum typus-Bcgriff im deutschen Krönungsordo vgl. VOGEL-ELZE I S. 256, 11 ff. Von einer „typologischen Stellvertretung" (Christi durch seinen vicarius) spricht DÜRIG S. 1 8 4 .
80
BERGES S. 2 4 ff.
81
BEUMANN 1955—62 S. 40 ff. PETERSON, zitiert oben Anm. 76.
88
Einführung
15
Nun verweist das zitierte biblische Wort unmittelbar auf das H e r r s c h a f t s t h e o l o g u m e n o n Christi selbst, das in dem von Paulus überlieferten Christus-Hymnus am konzentriertesten formuliert ist: Hoc enim sentite in vobis, quod et in Christo Iesu qui, cum in forma Dei esset, non rapinam arbitratus est (Ausschluß der superbia-Kategorie) esse se aequalem Deo, sed semetipsum exinanivit, formam servi accipiens, in similitudinem hominum factus et habitu inventus ut homo. Humiiiavit semetipsum factus obediens usque ad mortem, mortem autem crucis; propter quod et De us exaltavit illum, et donavit illi nomen quod est super omne nomen, ut in nomine Iesu omne genu flectatur caelestium terrestrium et infernorum, et omnis lingua confiteatur quia Dominus lesus Christus in gloria est Dei Patris (Phil. 2,5 ff.).83 Wir haben diesen frühchristlichen Hymnus deswegen ausführlich zitiert, weil uns das christologische Herrschaftstheologumenon (humiliatio ad mortem crucis — exaltatio ad dextram Dei) im Zusammenhang unserer Frage nach der herrschaftstheologischen Rechtfertigung der Krisenerfahrungen und des Todesgedankens noch wiederholt zu beschäftigen hat. Da im übrigen keine geschlossene Herrschafts- und Verfassungs-„Theorie" bzw. -„Theologie" der ottonisch-salischen Monarchie zu erwarten ist, bemühen wir uns lediglich, Krisen- und Todesfälle der Könige im Spiegel einiger hofnaher zeitgenössischer Hauptzeugnisse, und zwar vor dem Hintergrund der herrschaftstheologischen Vorstellungen jedes Einzelwerkes, zu verfolgen. Unsere Quellenauswahl, deren Schwergewicht in der spätottonisch-frühsalischen Zeit liegt, besitzt nur exemplarischen Charakter und ließe sich vielfach erweitern. Umkreis und Eindringlichkeit unserer Diskussion richten sich jeweils nach dem Charakter des einzelnen Zeugnisses. Trotz der thematischen Streuung des Quellenmaterials meinen wir, eine bestimmte herrschaftstheologische Grundvorstellung der ottonisch-salischen Zeit erarbeiten und durch eine ergänzende Betrachtung einiger zeremonieller und ikonographischer Erscheinungen und offizieller Herrschaftszeichen bestätigen zu können.
8S
Vgl. die forschungsgeschichtliche und exegetische Diskussion bei KÄSEMANN; zum christologischen humiliatio-exaltatio-Theologumenon SCHWEIZER. Den Sinn des rapina-Stichworts (griech. ¿¡3jtaY|x6$) dürfte EHRHARDT 1948/49 richtig gedeutet haben: „Es handelt sich um die Aufstellung der ethischen Alternative Räuber oder Heiland, vor der sich jede Herrschaft befindet." (S. 1 0 8 ) ; anders KÄSEMANN S. 6 9 f., der die Wendung non rapinam arbitratus est dem Jargon zuordnet: „etwas für ein gefundenes Fressen halten".
I.
Die Krisen- und Todeserfahrung im Spiegel der dynastisch geprägten Historiographie 1. D I E H E I L S - G E S C H I C H T L I C H E P A N E G Y R I K
WIDUKINDS
a) Der panegyrische und der tragische Aspekt in Widukinds sächsischer Reichsgeschichte als Forschungsproblem Die herrscherliche Krisenerfahrung spielt in Widukinds Geschichtserzählung über den wechselvollen sächsisch-liudolfingischen Aufstieg zu einem imperialen Königtum eine nicht unerhebliche Rolle. Neben Todes- und Krankheitsfällen waren es in erster Linie politische Gegner, die das sächsische Königtum gefährdeten, unter ihnen neben den äußeren Reichsfeinden wie den Ungarn vor allem jene Männer, die selbst dem liudolfingischen Hause angehörten und in der Zeit Ottos I. die gefahrvollsten inneren Konfliktsituationen heraufführten. 8 4 Den Umstand, daß ein der Kaisertochter gewidmetes Werk die ottonischen Herrschaftskrisen nicht verschweigt, hat man angesichts einer komplizierten Textüberlieferung mit der Annahme zu erklären versucht, Widukind habe seinen ursprünglichen Entwurf einer „sächsischen Volksgeschichte" erst anläßlich der Widmung an Mathilde überarbeitet und „panegyrisch-höfisch" stilisiert. 85 Viele Stellen, an denen Widukind ausführlich über allgemein sächsische Ereignisse und Heldentaten „in einer von Parteiungen zerklüfteten Zeit" und in diesem Rahmen auch über „innenpolitische Konflikte" und heroische Gegner der Krone berichtet, empfand man als Widerspruch zum „Programm einer Geschichte der Liudolfinger". 8 0 Man postulierte daher eine nicht auf die liudolfingische Dynastie bezogene Erstfassung. Helmut Beumann führte den von ihm selbst nur für gering gehaltenen zeitlichen Abstand zwischen den beiden Frühredaktionen von 967/ 968 8 7 auf einen „Gegensatz zweier verschiedener literarischer Intentionen, einer historischen und einer panegyrischen", zurück. 88 Über das Ende der Widmungs84
Zu den in der Thronfolgeordnung von 936 selbst begründeten liudolfingischen Familienkonf l i k t e n K . SCHMID 1 9 6 4 ( 2 ) .
85
BEUMANN 1 9 5 0 S . 8 f . ; 3 4 f f . ; LINTZEL 1 9 3 8 — 6 1 S . 3 1 6 ff., b e s . S . 3 3 1 — 3 3 6 ä u ß e r t sich in d i e s e m
86
BEUMANN 1 9 5 0 S . 2 2 , 9 7 f .
87
Während K . HAUCK 1953 Sp. 947 f. die im ganzen schon von STENGEL 1941 (1960 S. 328 ff. in wenig veränderter Form wiederholt) vorgetragenen und von BEUMANN 1950 differenzierter erhärteten Datierungsargumente bestätigte, hielt LINTZEL 1953—61 S. 348, 1955—61 S. 584 Anm. 5 im Anschluß an BLOCH eine Frühredaktion von 957/58 weiter für möglich. BEUMANN 1950 S. 191. STENGEL 1960 S. 339 Anm. 57 möchte gegen die Annahme eines Nebeneinanders zweier verschiedener Fassungen immer noch die Möglichkeit offenhalten, „daß Widukind . . . sein Werk buchweise . . . herausgegeben hat".
Punkt vorsichtiger und weniger detailliert als B., doch grundsätzlich ähnlich.
88
Die heils-geschichtliche Panegyrik Widukinds
17
fassung etwa, an dem Widukind auf die Rebellion Wichmanns zurückblickt: „Das war das Ende Wichmanns, und so endigten fast alle, die die Waffen erhoben haben gegen den Kaiser, deinen Vater" — über diesen frühen Schlußsatz urteilte Beumann: „Nicht um diese Behauptung zu belegen, hat Widukind anläßlich der Widmung dem Rebellen die Züge des tragischen Heros verliehen; vielmehr sah er sich genötigt, jenes Raisonnement anzufügen, das der Episode nachträglich eine panegyrische Funktion erteilen konnte." 89 Schon Martin Lintzel hatte nicht das liudolfingische Herrscherhaus, sondern das „sächsische Volk" als den wahren „Helden" des Widukindschen Werkes betrachtet. 90 Widukinds Stellung zum Königshaus sah Lintzel „abgesehen davon, daß seine grundsätzliche Treue zur Krone feststand, weniger durch ein politisches als durch ein menschliches Interesse bedingt". Daher komme es dem mehr nach Art des „Epikers" als des „politischen Historikers" erzählenden Geschichtsschreiber bei einem „unbestechlichen Sinn für Gerechtigkeit" und f ü r „Objektivität" „nicht so sehr auf die Herausarbeitung der politischen Gegensätze als auf die Gestaltung der menschlichen Konflikte und ihrer Tragik" an. 91 Im Gegensatz zu Lintzel und Beumann vertrat Karl Hauck die Uberzeugung, daß Widukind sein „Leitthema, Geschichte des liudolfingischen Hauses als Geschichte des sächsischen Stammes zu schreiben," von der Klosterfassung zur Widmungsfassung nicht grundsätzlich geändert, sondern lediglich dem Wechsel des Publikums gemäß zusätzlich gerechtfertigt habe. 92 So konnte Hauck sehr viel konsequenter darauf verweisen, „welche einzigartige Bedeutung Widukind als t r a g i s c h e m Geschichtserzähler des Hochmittelalters zukommt. Dem Geist des Hildebrandsliedes nahe stellt Widukind im dritten Buch die Kämpfe zwischen Otto dem Großen auf der einen, Liudolf, Konrad dem Roten und auch Wichmann auf der anderen Seite dar, nachdem er im zweiten Buch die tragischen Kämpfe zwischen Otto und seinen Brüdern geschildert h a t . . . Der Sachsengeschichte Widukinds als liudolfingischer Hausüberlieferung gemäß sind nicht nur die Buchschlüsse des ersten (Tod Heinrichs I.) und zweiten Buches (Tod Ediths), sondern auch des dritten in der Fassung von 967/968 (Tod Wichmanns) 93 und in der Fassung letzter H a n d nach 973 (Tod Mathildes und Ottos des Großen)." 94 Indem hier die Konflikte und Daseinskrisen im liudolfingischen Herrscherhaus gerade mit dem Blick auf Widukinds dynastisch gebundene Erzählperspektive ernstgenommen werden, ist man versucht, hinter dem „tragischen" Wesenszug 95 eine geradezu fatalistische Geschichtsperspektive zu vermuten und diese als Widerspruch zu der panegyrischen Topik der Vorreden und anderer Werkstellen zu empfinden. Damit ist das Problem angedeutet, das sich uns stellt, wenn wir nach der 88
BEUMANN 1 9 4 8 — 6 1 S. 1 4 0 .
"
LINTZEL 1 9 3 8 — 6 1 S. 3 3 5 f.
91
Ebd. S. 334 f. Über Widukind als Epiker BEUMANN 1950 S. 51 ff., zum tragischen Aspekt S. 173.
"
K . HAUCK 1 9 5 3 S p . 9 4 9 f.
93
Daß Wichmann Ottos I. Vetter und Adoptivsohn gewesen ist (vgl. Widukind 111,50), hat
94
K . HAUCK 1 9 5 4 — 6 1 S. 175 f., v g l . DENS. 1 9 5 3 Sp. 9 5 0 f.
K. HAUCK 1953 Sp. 951 betont. 95
Zum Begriff des „Tragischen" im Mittelalter vgl. K. HAUCK 1954—61 S. 175 Anm. 23 und DENS. 1 9 6 0 (3), f e r n e r MACKENSEN u n d SZÖVERFFY 2 S. 7 3 ff.
2
Frühmittelaicerforsdiung 4
18
Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
Bedeutung der ottonischen Krisen- und Todeserfahrungen in Widukinds Sachsengeschichte fragen. Wir wollen die Relationen zwischen dem „dynastisch"-„panegyrischen" und dem „tragischen" Aspekt an solchen ausgewählten Stellen aus der Geschichte des ottonischen Herrschaftsaufbaus zu bestimmen versuchen, an denen es jeweils um eine schwere Herrschafts- und Lebensgefährdung Ottos des Großen und, im letzten Fall, um seinen Tod geht. b) Die innere Krise des Reiches und ihre Uberwindung unter Otto I. (941) 96 Nachdem Widukind in der langen Kapitelreihe 11,3—30 wechselweise einerseits von den Aufständen Thankmars und Heinrichs d. J . im Bunde mit den Herzögen Eberhard von Franken und Giselbert von Lothringen und andererseits von den wiederholten Bedrohungen der Ostgrenze des Reiches durch die slavischen Grenzvölker in den späten 30er Jahren berichtet hat, hören wir im Kapitel 11,31 von Heinrichs d. J. letztem Versuch im Jahre 941, seinem Bruder Krone und Leben zu rauben, sowie von der einem Wunder gleichen Rettung des Königs, „den immer die höchste Gottheit beschützte".97 Diesen Punkt der Darstellung hat Beumann mit folgenden Worten charakterisiert: „Damit sind die inneren Wirren beendet. Von Ottos Versöhnung mit dem Bruder am Weihnachtsfest 941 zu Frankfurt erfahren wir nichts. Dennoch markiert Widukind den Einschnitt deutlich: ein annalistisches Kapitel über als Vorzeichen gedeutete Naturerscheinungen bringt den Fluß der Darstellung zum Stokk e n . . . Mit Ottos Eingreifen in Burgund kommt Außenpolitik zur Sprache, und mit der gleichen Wendung, die schon bei Heinrich I. diesen Wechsel gekennzeichnet hatte, leitet Widukind auch jetzt dazu über: Rex autem de die in diem proficiens paterno regno nequaquam est contentus... Indem so zu den Erfolgen im Inneren äußere treten, ist ein Höhepunkt erreicht, dem Widukind den stärksten Akzent verleiht mit Mitteln, die wir bereits von ihm kennen: Hinweis auf die pax und Blick auf das Herrscherhaus."98 Zu Beginn von Kapitel 11,36 leitet Widukind die Versöhnung der königlichen Brüder und ihr literarisches Porträt ein mit den alttestamentlich gefärbten Worten: Igitur cum omnia regna coram eo silerent et potestati ipsius omnes hostes cederent..Das bezieht sich nicht nur auf die in Kapitel 35 berichteten außenpolitischen Erfolge, sondern auch auf Ottos I., in den Kapiteln 33 und 34 knapp angedeutete, menschenkundige „neue Herrschaftsverteilung im Reich" in den 40er Jahren.100 Der äußere Einschnitt, den das Kapitel 11,32 „markiert", ist damit deutlich. Auf der Wende der 941 beendeten ersten langen Krisenphase des ottonischen Herrschaftsaufbaus blickt Widukind in einem annalistisch gehaltenen Kapitel 86
V g l . K . SCHMID 1 9 6 4 ( 2 ) S . 1 4 9 ff.
•7 Widukind II, 31 S. 9 2 , 1 6 : Semper
se protegente
summa
divinitate.
Die Widukind-Ausgabe im
folgenden mit einfacher Seiten- und Zeilenangabe zitiert. 98
BEUMANN 1950 S. 91. Zu Widukinds pax-Vorstellungen
vgl. unten S. 28 mit Anm. 158.
«» S . 9 5 , 3 f . , v g l . P . H I R S C H e b d . A n m . 2 . 100
K . SCHMID 1 9 6 4 ( 2 ) S . 1 5 4 f . ; z u W i d u k i n d BEUMANN 1 9 5 0 S . 9 1 .
Die heils-geschichtliche Panegyrik Widukinds
19
auf die Katastrophen und Wundererscheinungen dieses Jahres zurück, ehe er im folgenden den neuen Aufschwung des Königtums Ottos I. rühmt. Sehen wir uns nun das Kapitel 11,32 näher an. Eo anno et portenta quaedam apparuere, scilicet cometae. Nam a quinta decima Kalendas Novembris usque in ipsas Kalendas visae sunt. Quibus visis multi mortales territi aut nimiam pestilentiam vel certe regni mutationem metuebant; quoniam quidem ante regis Heinrici excessum multa prodigia monstrata sunt, ita ut solis splendor forinsecus aere absque nubilo pene nullus appareret, intrinsecus autem per fenestras domorum rubeus tamquam sanguis infunderetur. Möns quoque, ubi ipse rerum dominus sepultus est, fama prodidit, quia multis in locis flammas evomeret.. ,101 Widukind erinnert an Kometenerscheinungen, die viele Menschen eine furchtbare Seuche oder doch „mit Gewißheit" eine mutatio regni befürchten ließen. Denn auch dem Tode Heinrichs I. seien viele unnatürliche Vorzeichen vorausgegangen. Davon hören wir allerdings, nachdem der Thronwechsel 936 scheinbar in aller Ruhe und Sicherheit vollzogen worden war,102 hier zum erstenmal, so daß wir dieser Mitteilung an eben dieser Stelle eine besondere Funktion zuschreiben müssen. Diese Bedeutung ist nicht schwer zu erkennen. Mit Hilfe von Visionen, Gerüchten, Erinnerungen und Katastrophennachrichten (letztere am Ende des Kapitels)103 bringt Widukind offensichtlich das ganze Ausmaß der im letzten Jahr gesteigerten Gefährdung der ottonischen Reichsherrschaft zu Bewußtsein. Stärkstes Symbol ist die Sonnenfinsternis, die das Ende des Vaters angezeigt habe104 — für die heilsmagischen Vorstellungen jener Zeit, zum Teil in Analogie zu den biblisch berichteten Naturvorgängen beim Tode Jesu,105 ein kosmischer Begleitschatten zur Verdunkelung des Herrscherschicksals. „Denn die drohende Gefahr einer mutatio regni löste die kosmische Verankerung der irdischen Herrschaft . . . Auch dann, wenn ein guter König aus dem Leben scheidet, erlischt der Glanz des himmlischen Segens wie der Glanz der sichtbaren Sonne. Dafür leuchten andere, ,neue' Lichter einer unholden Welt." 106 Solche Vorstellungen über 101
S. 93, 9 ff.; P. HIRSCH 1931 S. 91: „In diesem Jahre erschienen auch einige Zeichen. Es ließen sich nämlich Kometen sehen vom achtzehnten Oktober bis zum ersten November. Viele Menschen wurden durch ihre Erscheinung erschreckt und befürchteten entweder eine furchtbare Seuche oder doch einen Wechsel der Regierung, denn auch vor König Heinrichs Heimgang hatten sich viele Wunder gezeigt, wie daß der Glanz der Sonne im Freien bei heiterem Himmel fast ganz verschwand, inwendig aber durch die Fenster der Häuser rot wie Blut leuchtete. Auch der Berg, wo der großmäditige Herr begraben ist, spie, wie das Gerücht ging, an vielen Orten Flammen aus."
Daß Widukind über den Thronwechsel von 936 ohne jede Krisennadiricht berichtet, entspricht der Tatsache, daß die Thronfolgekrise erst später voll ausbrach (vgl. K. SCHMID 1964 (2) S. 151 sowie unten Anm. 212). 103 S. 94, 3 f.: Sed cometas inundatio nimia inundationemque boum pestilentia subsecuta est. 104 Daß hier eine bewußte oder unbewußte zeitliche Raffung (Widukinds oder seiner Zeitgenossen) vorliegt, geht aus P. HIRSCHS Text-Anm. 4 auf S. 93 hervor (eine in ganz Mitteleuropa gut sichtbare zentrale Sonnenfinsternis wird auf den 16. April 934 datiert, die nächste, mehr in Südeuropa wahrnehmbare, auf den 19. Juli 939). 105 Vgl. e twa Ambrosius, Oratio de obitu Theodosii: Ipsa igitur excessum eius elementa moerebant. Coelum tenebris obductum, aerperpeti horrens caligine, terra quatiebatur motibus, replebatur aquarum alluvionibus ... (Opera VII S. 103 f.). Vgl. auch HENGSTL S. 103 f. 102
108
2»
WOLFRAM 1 9 6 3 S. 1 3 6 f.
20
Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
Naturerscheinungen, „die den Tod eines Königs oder eine Landplage zu verkünden pflegen" (Gregor von Tours), lassen sich in zahlreichen Beispielen seit der Antike verfolgen.107 Schreckenerregende Himmelserscheinungen, die Erinnerung an das Erlebnis der (wohl mit der Sonnenfinsternis zusammenhängenden) eigenartigen blutroten Lichtverhältnisse sowie die Vision zahlreicher neuer Flammenerscheinungen im Jahre 941 am Quedlinburger Burgberg, auf dem Heinrich I. bestattet lag,108 dienen Widukind zur Beschwörung der mutatio regni, die angeblich viele in diesem Jahre „mit Gewißheit" erwartet hatten. Noch ein weiteres Wunder erzählt Widukind in dem Kapitel 11,32. „Einem Manne wurde die linke Hand, die ihm mit dem Schwerte abgehauen war, nachdem fast ein volles Jahr verflossen war, im Schlafe unversehrt wiedergegeben; zum Zeichen des Wunders behielt derselbe als Merkmal eine blutrote Linie an der Stelle der Verbindung." 109 Wir lassen es dahingestellt, wieweit Widukind die Absicht hatte, analog zu dem symbolischen Charakter der Lichtvisionen und -erinnerungen in der Wundergeschichte von der wiederangewachsenen Hand auf die Versöhnung der beiden königlichen Brüder am Ende des Jahres 941 („nachdem fast ein volles Jahr verflossen war"!) anzuspielen. Das Heilungswunder als solches entbehrt jedenfalls offenbar ebenso wie die merkwürdigen Lichterscheinungen nicht einer symbolischen Bedeutung für das Gesamtgeschehen. Da wir eine sinnbildliche Auffassung von Naturerscheinungen (z. B. Sonnenaufgang), in denen sich göttliche Wahrheiten oder Heilszwecke offenbaren, besonders solche, die die sächsische Monarchie betreffen, bei Widukind auch sonst finden,110 darf in den verschiedenen Wundererscheinungen des Zäsurkapitels II, 32 wohl eine Spiegelung der SchicksalsW e n d e erblickt werden, die das Jahr 941 für das ottonische Königtum heraufgeführt hatte. Mit dem Kapitel 11,32 verebbt der reißende Strom der Bedrohungen, und vor uns taucht bald in lebensvoller Nähe das großgemalte Bild der königlichen Per107
Gregor von Tours, Historiae IX, 5: Et multa alia signa apparuerunt, quae aut regis obitum adnunciare solent aut regiones excidium. (SS rer. Mer. I, 1 S. 416, 19 f.); V, 18 erwähnt Gregor z. B. ein solches Himmelszeichen, das 577 den Tod Merowechs angekündigt habe (ebd. S. 223 f.). Vgl. GRAUS S. 383 f. Es sei außerdem noch hingewiesen auf das 32. Kapitel in Einhards Karlsvita und auf die Gesta Caroli Magni des Poeta Saxo Teil V, Vers 601 ff. (PL 4 , 1 S. 69). los Weder die Übersetzung von mons als „Grabhügel" (WOLFRAM 1963 S. 137) noch der Gedanke, es handele sich bei Widukind II, 32 um „ein Derivat des Glaubens, daß der Herrscher gar nicht gestorben sei", sondern nur „im Berg" schlafe (GRAUS S. 533, PAULSEN S. 168), überzeugt im Falle des Quedlinburger Burgbergs, auf dem Heinrichs I. Grabkirche steht. 108 P. HIRSCH 1931 S. 91 f.; vgl. Widukind S. 93, 19 ff.: Hominis etiam cuiusdam manus sinistra ferro amputata post annum fere integrum restituta est ei dormienti, qui pro signo miraculi sanguinea linea loco coniunctionis notabatur. Ebd. S. 93 Anm. 6: „Nach Flodoard 9 4 4 . . . wäre dieses Wunder nicht z. Z. von Heinrichs I. Ableben, sondern 8 Jahre darauf geschehen." Auch in diesem Fall scheint also eine Stilisierungstendenz vorzuliegen (vgl. oben Anm. 104). 110 Vgl. unten S. 24 u. 31, außerdem BEUMANN 1950 S. 86 mit Anm. 5 und S. 158 Anm. 4 zu Widukind I, 11 S. 19, 25 (donec aurora rutilans surgit et incruentam declarat victoriam) und I, 36 S. 53 7 ff. nach Luk. 2, 9 (faciei — sc. Dei — claritas atque serenitas circumfulsit illos). Vgl. auch III, 76 S. 153, 15 die Bestätigungswahl Ottos II. am neuen Morgen nach dem Tode Ottos I. in der Nacht, dazu unten S. 37.
21
Die heils-geschichtliche Panegyrik Widukinds son auf
( 1 1 , 3 6 ) , d e s opere
omniurn
mortalium
constantissimus.U1
„In
der
Un-
erschütterlichkeit seines Herrschers in den höchsten Krisen hat Widukind", wie Beumann vermutet, „offensichtlich einen individuellen Wesenszug herausgearbeitet . . . Ottos Ansprache auf dem Lechfeld im kritischen Augenblick der Schlacht spiegelt die gleiche Haltung." 1 1 2 Uber diese Lechfeldkrise werden wir in unserem zweiten Beispielfall noch ausführlich sprechen. Ottos I. Porträt wollen wir hier weder vollständig noch auch nur in seinen wesentlichen Zügen nachzeichnen. Neben dem Hinweis auf den planvollen Ort dieses Porträts im größeren Darstellungszusammenhang als Ruhepunkt nach der Rettung sollen allein zwei Einzelheiten herausgehoben werden. Erstens finden wir in dem persönlichen Anblick dieses Herrschers, „dessen gewaltiger Körperbau schon allein die ganze königliche Dignität vor Augen führen konnte", 1 1 3 und zwar in seinen „funkelnden und wie der Blitz widerstrahlenden Augen", 1 1 4 jenen vollen Splendor des herrscherlichen Heils wieder, dessen Verfinsterung mancher in Erinnerung an den T o d Heinrichs I. im Jahre 941 zum zweiten Male befürchten zu müssen glaubte. Zweitens kann, da bislang nicht darauf geachtet worden ist, eine andere Heilssymbolik des Porträts nicht übergangen werden. Wenn Widukind den Herrscher rühmt, er habe noch im Schlafe gesprochen, so daß man meinen konnte, „er habe immer gewacht", 1 1 5 und wenn er an späterer Stelle des Porträts Ottos Brusthaar ausdrücklich mit der Mähne eines Löwen vergleicht, 116 so fühlt man sich an die Löwen-Allegorie am Eingang des Physiologus erinnert, dessen Kenntnis im Mittelalter verbreitet war. Dort werden drei Naturen des „Königs der Tiere" erklärt, von denen uns die zweite interessieren muß: „Wenn der Löwe schlummert in seiner Höhle, so ist's doch eher ein Wachen; denn geöffnet bleiben seine Augen. Dies bezeugt auch Salomon im Hohenlied, sagend: Ich schlafe, aber mein H e r z wacht" (Cant. 5,2). Hierauf folgt der typologische Kern der Allegorie: „Denn die Leiblichkeit des Herrn schläft am Kreuz, seine Göttlichkeit aber wacht, sitzend zur Rechten des Vaters. Siehe der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht, sagt der Prophet" (Ps. 121,4). 1 1 7 Man kann sich nur schwer vor111 112
II, 36 S. 96, 7 f. BEUMANN 1950 S. 120. Vgl. ebd. S. 151 f., 236 f., 249 f. sowie Widukind I, 12 S. 21, 3 ff. über die Siegerehrung des altsächsischen dux H a t h a g a t : ducem in caelum attolunt, divinum ei animum inesse caelestemque virtutem acclamantes, qui sua constantia tantam eos egerit perficere victoriam. Zur „göttlichen Herkunft der S t a n d h a f t i g k e i t " zitiert NITSCHKE 1962 S. 46 Anm. 82 aus Liudprand, Antapodosis IV, 24 S. 117: Rex denique tantam suorum constantiam non sine divino instinctu esse consideramus. Diese Stelle spricht in der T a t d a f ü r , „daß die constantia doch keine so .eindeutig immanente' Eigenschaft war, wie B e u m a n n . . . meint." ( N . ebd., vgl. BEUMANN 1950 S. 237).
113
S. 97, 2 ff.: Accessit ad haec et moles corporis, omnem regiam ostendens dignitatem . . .
114
S. 97, 4: oculi rutilantes. Möglicherweise spielt für Widukind bei diesem Porträtzug ein sinnbildlicher Bezug zwischen den oculi rutilantes und der aurora rutilans (wie oben Anm. 110) eine Rolle.
115
S. 96, 9 ff.: dormiendi vigilare aestimes.
119
S. 97, 6 f. mit Anlehnung an Plinius: Pectus leoninis quibusdam sparsum iubis. Physiologus S. 3 f., vgl. GRILLMEIER S. 84, d a z u STOMMELS Besprechung S. 127 ff.
117
parcus et inter dormiendum
Semper aliquid loquens, quo eum
(JbAC
Semper
1, 1958)
22
Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
stellen, daß Widukind diesen Symbolismus des christusbezogenen „Wachens" nicht gekannt hat; zumindest waren ihm die entsprechenden alttestamentlichen "Worte geläufig. 118 Der heilssymbolische Hintergrund der hier genannten Details leuchtet besonders ein, wenn man in den entsprechenden Zügen Einhards Porträt von K a r l dem Großen, das Widukind bekannt war, 1 1 9 vergleicht. D o r t bleibt die Charakteristik der „übergroßen und lebendig bewegten Augen", der „Schultern und der Brust, die im Winter mit einem aus Fischotter- oder Zobelpelz verfertigten Rock bekleidet waren" (!), sowie des mehrfachen nächtlichen Aufwachens und Aufstehens völlig realistisch. 120 Zusammenfassend haben wir das Kapitel 11,32 als eine Zäsur zu bezeichnen, die in annalistischer Form und mit Wundererscheinungen, die schon von vielen Zeitgenossen auf das Geschick des Reiches bezogen wurden, den Wendepunkt markiert, den das J a h r 941 in der Geschichte des ottonischen Herrschaftsaufbaus bedeutet. D a ß diese Wende Widukind als eine durch die, Otto den Großen „immer beschützende, höchste Gottheit" gefügte Heilswende erschien, spricht der Geschichtsschreiber in verschieden deutlichen Bildern und Worten aus. Die von Widukind akzentuierte Wende des Jahres 941 entbehrt nicht einer gewissen historischen Relevanz. K a r l Schmid hat dargelegt, wie eng „die innere Krise des Reiches und deren Uberwindung" mit der neuartigen Thronfolgeordnung von 936 und den sich aus ihr ergebenden Prinzipien einer „neuen Herrschaftsverteilung im Reich" zusammenhingen. „Konnte Otto I. nach seiner Thronbesteigung die Kluft, die zwischen ihm und seinen vom Königtum ausgeschlossenen Brüdern aufgebrochen war, schon nicht mehr beseitigen, so mußte er alles daransetzen, sie wenigstens zu überbrücken. Otto stand als König vor einer A u f gabe, von deren Lösung nichts weniger als der Fortbestand der Herrschaft des neuen Königshauses, ja der Fortbestand des Reiches abhing. D a ß er trotz des unbeugsamen Willens, sie zu bewältigen, beinahe gescheitert ist, darf gewiß als ein Gradmesser d a f ü r angesehen werden, wie schwierig sie gewesen ist." 1 2 1 In Widukinds heilssymbolischer Rühmung spiegelt sich das Ende dieser ersten schweren Phase der Nachfolgeauseinandersetzungen — „eine der zukunftsträchtigsten Leistungen" Ottos des Großen! 1 2 2 c) Die Schlachtkrise vor dem Lechfeldsieg Die epochale Bedeutung des Ungarnsieges von 955 für die Festigung der ottonischen Reichsherrschaft wurde ebenso schon von den Zeitgenossen erkannt wie
118
119
J
"
112
Zum Löwen als „Wächter des Grabes, des Thrones, des Tores, des Portales", als „Wächter des Heiligtums" und „Sinnbild der vigilantia spiritualis" im Hinbiidt auf die zitierte PhysiologusStelle PAUISEN S. 95 f. P. HIRSCH 1935 S. X V verweist gerade für die „Personen- und Charakterschilderung Ottos" auf Einhards Karlsvita. Vgl. auch BEUMANN 1952—62 S. 27 ff. Einhard, Vita Karoli, K a p . 22—24. K . SCHMID 1 9 6 4 (2) S . 1 5 2 .
Ebd. S. 1 5 6 .
Die heils-geschichtliche Panegyrik Widukinds
23
von der Forschung bestätigt.123 Der Glanz dieses Sieges hat besonders Widukind so inspiriert, daß seine Schilderung der Lechfeldschlacht als ein Höhepunkt seiner Darstellungskunst bezeichnet werden darf. 124 Noch jüngst ist die allgemeine literarische Spiegelung des Lechfeldsieges in ottonischer Zeit für die „Vorstellung eines unmittelbaren Gottesgnadentums" mit folgenden Worten in Anspruch genommen worden: „In seinen Erfolgen zeigt Otto d. Gr., daß er von Gott selbst zum Imperator eingesetzt war; seine virtus bestätigt sich, der virtus des Heiligen vergleichbar, in seinen Taten als unmittelbar von Gott verliehene Kraft. Der Sieg über die Ungarn, die antiqui bostes, die Feinde der Christenheit, wurde als Sieg des Gottesreiches empfunden. Deshalb konnte man ihn als triumphus bezeichnen. Wie die Triumphe der Heiligen, so waren auch die Siege über die Widersacher der Kirche, der Christenheit, in gewisser Weise die Wiederholung des einen Triumphes Christi und unmittelbar von Gott verliehen."125 Wir wollen prüfen, wieweit diese Auffassung eines „unmittelbaren Gottesgnadentums" auch für Widukinds Darstellung des Lechfeldsieges zutrifft. Die Antwort auf unsere Frage ist zwar seit Walther Bulsts Besprechung der Widukind-Ubersetzung Paul Hirschs vorbereitet, aber noch nicht konsequent genug ausgesprochen worden.128 Einen Hauptdiskussionspunkt bildete für Bulst der Umstand, daß Widukind seinen Bericht der Schlacht am 10. August 955 durch einen Einschub (III, 45.46 Anfang) zweigeteilt hat.127 In Kapitel 44 hören wir von der planvollen Ordnung und dem Aufmarsch des deutschen Heeres in acht hintereinander gestaffelten und einzeln angeführten Heergruppen sowie von der List der Ungarn, das deutsche Heer zu umgehen, mit Geschick von hinten anzugreifen und die drei letzten Schlachtreihen nacheinander zu zerschlagen. „Angesichts dieses bedrohlich ungünstigen Standes der Schlacht", als Otto I. mit seinen Elitetruppen (5. Heergruppe) plötzlich selbst in verkehrter Ordnung vor dem Feind steht, entschließt sich der König, die vierte, fränkische Abteilung unter Herzog Konrad nach hinten zu ziehen. „Dieser gelingt es in überraschendem Gegenangriff, den Ungarn ihre Gefangenen und ihre Beute wieder zu entreißen, die Räubernden teils zu zersprengen, die übrigen zu zersdhlagen. Als Sieger kehrt Herzog Konrad zurück; mirumque in modum, cunctantibus ueteranis militibus gloria victoriae assuetis, cum nouo milite et fere bellandi ignaro triumphum peregit. Mit dieser Reflexion ,gemischter Stimmung' schließt Widukind das Kam
V g l . STENGEL 1 9 1 0 S . 1 7 ff., in N e u b e a r b e i t u n g
1 9 6 5 S . 1 ff., bes. S . 5 6 ff., BULST 1 9 3 4 S . 1 8 8 ,
K . HAUCK 1950 S. 232 ff., ferner die anläßlich der Tausendjahrfeier der Lechfeldschladit erschienenen Betrachtungen und Abhandlungen von APPELT 1955, EBERL, BOGYAY bes. S. 54 ff. 114
V g l . BEUMANN 1 9 5 0 S . 8 3 f. KELLER 1 9 6 4 S . 3 4 8 f.
126
Zu dem von KELLER ins Auge gefaßten Christus-Bezug des Lechfeld-S i e g e r s vgl. schon K . HAUCK 1950 S. 235: „Wir wissen nicht, wie betont römisch-byzantinisch, wie weit verdiristlicht dieser triumphus vor sich gegangen ist, indem Otto etwa als christusgleicher acerrimus bellator, wie uns die vita Matkildis nahelegen könnte, gefeiert wurde." Die von BULST herausgearbeitete Ledifeld-K r i s e ist bislang, soweit ich sehe, nicht für das Verständnis der Gottesgnadenvorstellung Widukinds fruchtbar gemacht worden.
1,7
V g l . P . HIRSCH 1 9 3 5 S. 1 2 6 A n m . 1, BEUMANN 1 9 5 0 S. 8 3 .
24
Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
pitel. Nicht minder deutlich", so schreibt Bulst weiter, „setzt das folgende (45) ein, von dem unglücklichen Slavenzug der Sachsen unter Thiadrik: Dum ea geruntur in Boioaria etc. Die sich anschließenden Sätze sind unverständig davon ab- und dem 46. Kapitel zugeteilt worden, welches nun beginnt: Ingens interea pauor omnem Saxoniam trepidam pro rege et exercitu eins pro hac re aduersa (sc. Tbiadrici) inuasit. terrebant nos preterea portenta inusitata etc.: Die um den König und sein Heer (wie der Leser weiß, mit Recht!) besorgten Sachsen befällt vollends bleiche Angst nach Thiadriks Niederlage; dazu kommen böse Vorzeichen, einzeln aufgezählte und andere dictu horrenda et propterea nobis pretereunda."129 Die Digression beendend fährt Widukind in der eigentlichen Schlachtschilderung fort: „In der Erkenntnis, daß die ganze Schwere des Kampfes (d. i. der entscheidende Kampf) unter unglücklichen Umständen jetzt bevorstehe" — so lautet die gewichtige neue Ubersetzung Bulsts129 — hält Otto I., „um den Mut und die Gesinnung des Heeres zu stärken, eine kurze Ansprache, die ihre Höhe erreicht in den Worten: Melius bello, si finis adiacet, milites mei, gloriose moriamur, quam subiecti hostibus uitam seruiliter ducamus... Darauf ergreift Otto Schild und heilige Reichslanze und sprengt als erster gegen die Feinde." „Es folgt die Erzählung der Flucht und Verfolgung der Ungarn, von Herzog Konrads Tode, der Gefangennahme und Hinrichtung dreier ungarischer Führer", 130 darauf die glanzvolle Ehrung des Heer-Königs: Triumpho celebri rex factus gloriosus ab exercitu pater patriae imperatorque appellatus est... (III, 49). 131 „Der Gedankengang Widukinds in diesen Kapiteln ist deutlich: Beginn des Kampfes bei Augsburg mit einer Niederlage; in Sachsen Sorge um den König und sein Heer, erst recht nach Thiadriks Unglück, dazu portenta inusitata-, Sorge des Königs selber um den Ausgang der Schlacht nach dem bösen Anfang — zu dem auch das cunctari der Veteranen gehört; man ist versucht, auch dieses als von Widukind als portentum gemeint zu verstehen, vielleicht nicht gegen den Sinn des 10. Jahrhunderts — es war ein ,Zeichen', magisch oder empirisch verstanden." 132 Wir berufen uns darum so ausführlich auf Interpretation und Ubersetzung der Kapitel 111,44 ff. durch Bulst, weil von ihm zum erstenmal gegen die noch von Hirsch vertretene ältere Auffassung 133 erkannt und erklärt worden ist, daß Widukind den Lechfeldbericht nicht kunstlos zerrissen hat. Bulst sah ihn vielmehr, in „Stimmungseinklang" mit dem kritischen Verlauf der Schlacht, durch andere Nachrichten „erzählerisch geistvoll ausgeglichen", wo Widukind selbst vielleicht
128
129
BULST 1 9 3 4 S . 1 8 9 .
Es handelt sich um eine Neuübersetzung des Ausdrucks ex adverso
(S. 127, 6), vgl. dazu
BEUMANN 1 9 5 0 S. 8 4 .
Die ältere Lesung lautete: „Als nun der König erkannte, daß er jetzt die ganze Wucht des Kampfes von vorne zu bestehen haben werde . . .", P. HIRSCH 1931 S. 126. Dieser älteren Übersetzung folgen, ohne BULST ZU berücksichtigen, noch APPELT 1955 S. 43 („Frontalangriff") und EBERL S. 36 f., dieser bei dem anspruchsvollen Versuch, Ort und Verlauf der Schlacht exakt zu bestimmen. 130
BULST 1 9 3 4 S . 1 8 9 .
131
S. 128, 23 f.
132
BULST 1 9 3 4 S . 1 9 0 .
133
P . HIRSCH 1 9 3 5 S . 1 2 6 A n m . 1 .
Die heils-geschichtliche Panegyrik Widukinds
25
von dem eigentlichen Kampfgeschehen nichts Genaueres zu berichten wußte.134 Wichtig ist uns auch Bulsts Deutung der portenta, die — wie in der Situation von 941! — den Hauptdarstellungsgang in bestimmter Weise symbolisieren: wieder kündigen sie einen spannungsreichen und gefahrvollen Schicksalsaugenblick des Königs an. Vor allem die Schlachtrede Ottos I. weist, wie später auch Beumann betonte, „deutlich auf die Krisis hin, ist nur aus ihr zu verstehen und erhält durch sie ihre kompositorische Funktion. Zu dieser Krisenstimmung paßt aber sowohl die Niederlage Thiadriks als auch die ungewöhnlichen portenta, die die Sachsen obendrein erschrecken. Erst das persönliche Eingreifen des Herrschers mit der heiligen Lanze in den Kampf bringt die Peripetie." 135 Daß es Otto mit seinen Elitetruppen gelingt, den anfänglich noch starken Widerstand der Ungarn zu brechen und bald den vollen Sieg zu erringen, ist angesichts der „Krisis", die den Mittelpunkt des Lechfeldberichtes darstellt, nunmehr in der Tat nur als die Wirkung einer „von Gott verliehenen Kraft" 136 zu begreifen, — wofür der nach dem Sieg triumphal geehrte Herrscher sogleich in allen Kirchen des Reiches Dank- und Lob-Gottesdienste darzubringen befahl.137 Das Erlebnis der wunderbaren „Peripetie", der rettenden Hilfe Gottes nach seiner Anrufung durch den betenden König im Augenblick der größten Not, 138 bildet den Höhepunkt des Geschehens. Es war unsere Absicht, das Bild, das sich die Widukindforschung seit Bulst schon bisher von der „Krisenstimmung" während der Lechfeldschlacht gemacht hat, in seinen vollen Konturen nachzuzeichnen, um die starke thematische Kontrastfunktion der Krisenstimmung gegenüber der späteren Siegesfreude sichtbar werden zu lassen. Man kann der „Vorstellung eines unmittelbaren Gottesgnadentums",139 von der man mit Recht auch bei Widukinds Schilderung der Lechfeldschlacht sprechen darf, nicht wirklich gerecht werden, übersieht man den heilsgeschichtlichen Wesenszug der erlösenden „Peripetie" und ihres Erlebniskontrastes zwischen der anfänglichen Krise und dem späteren triumphalen Sieg. Damit differenziert sich aber unsere Auffassung von dem „unmittelbaren Gottesgnadentum" in ottonischer Zeit wesentlich, insofern der Charakter des „Gnaden"-Erlebnisses das herrscherliche Bewußtsein eigener virtus entschieden 134
BULST 1 9 3 4 S. 1 9 0 , v g l . S. 1 8 7 .
135
BEUMANN 1 9 5 0 S . 8 4 .
136
138
KELLER, zit. oben S. 23 vor Anm. 125. S. 128, 24 ff.: decretis proinde konoribus et dignis laudibus summae divinitati per singulas ecclesias, et hoc idem sanctae matri eius per nuntios demandans. Zum summa divinitas-Begriß vgl. BEUMANN 1950 S. 244; vgl. auch Widukind II, 31 S. 9 2 , 1 6 : Semper se protegente summa divinitate. BEUMANN beruft sich 1950 S. 248 auf LINTZEL 1938—61 S. 323 f., und dieser verweist auf RÖPKE 1867 S. 70 ff. in der Auffassung, daß Widukinds „rationaler Wirklichkeitssinn" ihn davor bewahrt habe, „der Einwirkung Gottes die Züge des Wunders zu verleihen", obwohl BEUMANN ebenso wie LINTZEL sieht, daß Gott — in den Augen Widukinds — oftmals „in das politische Geschehen zugunsten des Herrschers" eingreift. U. E. erhellt gerade die Akzentuierung der W e n d e des Geschehens den göttlichen Eingriff. Vgl. auch unten Anm. 148 und 151.
139
Wie oben Anm. 136.
137
26
Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
übertrifft. Der Schlachtsieg hat angesichts einer Darstellung wie derjenigen Widukinds nicht eigentlich als Ottos Erfolg zu gelten, sondern als ein göttlicher Gnadenakt in einem Augenblick menschlicher Ohnmacht. Man hat daher sehr genau zu unterscheiden zwischen angeborenem „Königsheil" 140 und verliehenem „Gottes-Gnadentum", sobald man die herrschaftstheologische Intention der Widukindschen Krisendarstellung erkennt. Schon in anderen Kämpfen hatte Otto I. nach Widukind die schlachtentscheidende Hilfe Gottes in Krisenaugenblicken erfahren können. „Im zweiten Buch stellen Schlacht und Niederlage der Sachsen gegen Boleslav von Böhmen und die Vergeltung durch den König (936) eine formale Einheit dar." 141 Den Wendepunkt dieses Krieges (II, 3.4) bezeichnet Widukind mit den Worten: Rex autem audito huiuscemodi nuntio (gemeint ist die Nachricht von den schweren sächsischen Niederlagen) minime turbatur, sed divina virtute roboratus cum omni exercitu intrat terminos barbarorum ad refrenandam illorum saevitiam.U2 Wir hatten schon oben auf den Wesenszug der „Unerschütterlichkeit" Ottos I. hinzuweisen, die die dignitas regia kennzeichnet und die gerade in den Krisenaugenblicken seine heilskräftige, himmlisch begnadete virtus bezeugt. 143 Auch in der Schlacht bei Birten (939) kommt es zu einer Krise, als der König plötzlich die Nachricht vom raschen Nahen der Rebellen auf der anderen Seite des Rheins (Heinrich und Giselbert) vernimmt und sich selbst mit seinen Truppen unversehens vom Hauptteil seines Heeres auf dem jenseitigen Ufer getrennt sieht: Rex autem bis auditis dolorem animi motu corporis non celabat, eo quod non adessent naves,per quas Renum transcendere posset... Unde adDeum supplices expandens manus rex ait: ,Deus, inquit, omnium rerum auctor et rector (!), respice populum tuum, cui me preesse voluisti, ut, ereptus ab inimicis, sciant omnes gentes ullum mortalium tuae dispositioni (!) contraire non posse, qui omnia potes et vivis et regnas in aeternum'.Ui Wie in allen anderen Fällen (936, 941, 955) richtet sich auch 939 der Blick in dem Notaugenblick der Schlacht zum Himmel, 145 womit zugleich die Peripetie erreicht ist. Mit einer solchen Auffassung steht Widukind in nichts der spätottonisch-salischen Gottesgnadenidee nach, wie wir sie etwa in folgenden Worten Berns von Reichenau an den siegreichen Heinrich III. ausgesprochen finden: per illum (sc. Christum) ubique pugnando triumphatis ac coronam victoriae domum reportatis, ita ut cum populo vobis commisso audire valeatis a Domino: Dominus pugnabit pro vobis, vos tacebitis'.. .146 140
Vgl. B o s i wie oben Einführung Anm. 75, BEUMANN 1950, Registerstichwort „Heilsvorstellungen".
141
BEUMANN 1 9 5 0 S . 8 6 .
148
I I , 4 S . 7 0 , 4 ff. Vgl. oben S. 21. II, 17 S. 82, 5 fif. Vgl. BEUMANN 1950 S. 52 über Widukinds ausdrucksstarke Gestaltung des seelischen Geschehens. Bern, Briefe Nr. 27 S. 57 f.
143 144 145
14(
Die heils-geschichtliche Panegyrik Widukinds
27
W ä h r e n d sich 9 3 6 u n d 9 5 5 die H i l f e G o t t e s in O t t o s p e r s ö n l i c h e m A n g r i f f u n d Sieg w i r k s a m w i d e r s p i e g e l t , b e s c h w ö r t d e r K ö n i g 9 3 9 u n d , w i e w i r noch sehen w e r d e n , auch 9 5 8 , als er a n einer schweren K r a n k h e i t d a r n i e d e r l i e g t , 1 4 7 die H e i l s w e n d e v o r n e h m l i c h durch sein herrscherliches G e b e t a n d e n A l l m ä c h t i g e n . 1 4 8 D i e H o f f n u n g a u f göttliche E r r e t t u n g v o r d e m F e i n d spricht z w a r auch aus jener
Rede
Heinrichs
I.,
die
zum
Beschluß
des
Ungarnzuges
im
Jahre
933
f ü h r t e . 1 4 9 D o c h g e s t a l t e t W i d u k i n d m i t d e n M i t t e l n des E p i k e r s offensichtlich e r s t f ü r O t t o I . d e n E r f a h r u n g s t y p u s d e r sichtbaren H e i l s w e n d e , 1 5 0 d e r a u f d e m e r l e b n i s s t a r k e n G e g e n s a t z zwischen einer tiefen K r i s e n s t i m m u n g , die sich bis z u r momentanen Todeserwartung
verdüstern
gestimmten Heilserlebnis beruht.
kann,151
und
dem
folgenden
hoch-
152
147 Vgl j e n folgenden Abschnitt. 148
LINTZEL 1956—61 S. 417 nahm zwar Ottos I. Gebet während der Schlacht bei Birten zur Kenntnis, meinte jedoch, in Widukinds Augen sei die positive Schlachtentscheidung durch die günstige Topographie und die sächsische Kampfeslist begründet. Erst Liudprand habe in seiner Darstellung die Birtener Schlacht durch Ottos Gebet, „d. h. durch ein Wunder", entschieden gesehen, — obwohl Liudprand noch besser als Widukind „die Wahrheit" hätte wissen können. Damit ist für beide Schriftsteller die Mentalität des 10. Jahrhunderts, um die es LINTZEL in diesem Fall ausdrücklich geht, verkannt. Vgl. auch unten S. 64 f.
149
I, 38 S. 55, 16 fF.: Thesaurum divinis officiis sanctificatum tollamne et dabo pro nostra redemptione Dei inimicis? an certe addam cultui divino pecunia honorem, ut ab ipso potius redimamur, qui vere noster extat creator pariter et redemptor? Eine Schlacht-Peripetie wie in den Kämpfen Ottos I. findet sich in denen Heinrichs I. nicht (z. B. bei Lenzen und Riade), obwohl auch diese Siege als Heilsereignisse gefeiert werden, vgl. I, 36 S. 53, 10 und I, 38 S. 57, 21 f. — Zu den christomimetischen Zügen im Bilde Heinrichs vgl. unten S. 33. Vgl. HAINER S. 95, 98, 100 f. zu dem „Stilmittel des Kontrastes", besonders des „Stimmungskontrastes" im Augenblick einer „Peripetie" auf dem Höhepunkt von Schlachtschilderungen Lamperts von Hersfeld. Dieses Gestaltungsprinzip hob H. als ein Kennzeichen epischer Geschichtserzählung hervor, die er auch bei Widukind mit Erfolg nachwies (S. 39 ff., vgl. dazu
150
BEUMANN 1 9 5 0 S . 5 1 ff., K . HAUCK 1 9 5 3 S p . 9 5 2 ) . 151
158
Diese Erwartung ist für den gespannten Leser bzw. Hörer Widukinds z. B. gegeben, wenn von Heinrichs d. J . Mordplan die Rede ist (II, 31 S. 92, 14) oder wenn sich die Krise 955 noch durch portenta inusitata . . . et alia multa ... dictu horrenda verschärft (III, 46 S. 127, 1 ff.). Vgl. schließlich vor allem die Todeserwartung 958, dazu unten S. 29 f. Es kommt uns nicht so sehr auf die Glaubwürdigkeit der von Widukind ausgemalten EreignisStimmungen an, als vielmehr auf W.s erzählerische Absicht. Um sie zu erkennen, haben wir die halbwahren oder rein gerüchtweise verbreiteten und von W. als solche gekennzeichneten Nachrichten (!) durchaus als interesse- und spannungerzeugende Elemente des Geschichtserzählers ernstzunehmen. — Dieser Darstellungscharakter widerlegt übrigens die Ansicht, W. zeichne sich durch eine „rationalistische Art, die Welt zu sehen" (LINTZEL 1938—61 S. 323) aus oder durch das Bemühen, „die historische Wahrheit im absoluten Sinne anzustreben" (BEUMANN 1 9 5 0 S. 6 0 ) . BEUMANN 1950 S. 84 hielt es für beachtlich, daß Widukind „mit dem Gewissen des Historikers eine dem sächsischen Stammesstolz abträgliche Episode" kunstvoll in die Stimmungskurve des Lechfeldberichtes einzufügen verstanden habe. Wir haben versucht und wollen weiter erhellen, daß derartige Krisensituationen in Widukinds Augen durchaus nicht „abträglich" sind, sondern im Gegenteil für das sächsisch-liudolfingische „Gottes-Gnadentum" charakteristisch und — als Bewährungsprobe seiner Heilsfunktion — konstitutiv.
28
Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
d) Ottos I. „Todeskrankheit" und Gottesgnaden-Erlebnis (958) Das dritte Buch setzt in den beiden ersten Werkfassungen von 967/68 mit der Designation Liudolfs durch Otto I. ein und neigt sich nach der Geschichte seines Aufstandes und des Lechfeldsieges zum Ende mit seinem Tod im Jahre 957 (111,57), der von Otto tief betrauert wurde (111,58). In den beiden nächsten Kapiteln kommen die Nachrichten über Wichmanns heimliche Rückkehr nach Sachsen aus der Verbannung und seinen verräterischen Treueid hinzu (111,59.60), der Auftakt zum „Abschluß" des dritten Buches im engeren Sinn: Wichmanns rebellische Züge in den Jahren 963—967 (111,64—69); als Unruhestifter ist er schon seit dem 24. Kapitel des dritten Buches und als Empörer gegen den König seit dem 50. Kapitel bekannt. 153 Seitdem nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht worden ist, daß Wichmann Ottos des Großen Vetter und Adoptivsohn war, 154 muß die letzte Auseinandersetzung in der sächsischen Heimat des Königshauses ebenso „tragisch" für die Krone wie für den Rebellen erscheinen.155 Einen Schlüssel zum Verständnis des Untergangs Wichmanns gibt Widukinds talisque Omletzter Satz der Widmungsfassung in die Hand: Is finis Wicbmanno, nibus fere, qui contra imperatorem arma sumpserunt (patrem tuum), über den Hauck schrieb: „Diese wunderbar knappe Formel der Legitimität am Ende einer Herrscherdarstellung, die durch zwei Bücher hindurch in erster Linie von Aufständen gegen den Herrscher berichten mußte, kann wirkungsvoller kaum gedacht werden." 156 Der Schlußsatz korrespondiert mit der Reimzeile am Anfang der letzten Kapitelgruppe: At finis civilis belli terminus sit libelli,157 die Beumann als schlußbildenden Akzent für die „dispositionelle Funktion des Friedensgedankens" 158 in Widukinds Werk verstanden hat, eines Friedensgedankens, der im Dienst der liudolfingischen Herrschaftspanegyrik steht.159 Unser Hauptinteresse gilt nun der Frage, welche Bedeutung dem „tragischen" Aspekt am Schluß der ersten Werkfassung zukommt, wenn er schließlich doch die „Legitimität", die Friedensherrschaft und die Siegmächtigkeit des ottonischen Königtums nicht zu beeinträchtigen vermag. Wir versuchen diese Frage dadurch zu beantworten, daß wir die von den Wichmann-Kapiteln 111,59—60 und 111,64—69 eingeschlossenen Kapitel 111,61—63 in die Diskussion des ersten Werkabschlusses einbeziehen. 160 153
154 155
Den übergreifenden Bogen der Wichmann-Thematik von III, 59 bis 69 sah schon LINTZEL 1938 bis 1961 S. 334: „Die Geschichte Wichmanns nimmt in der Darstellung der Jahre 958" ( = III, 59. 60) „bis 968 den breitesten Raum ein, alles andere tritt neben ihr zurück." Vgl. oben Anm. 93. V g l . LINTZEL 1 9 3 8 — 6 1
S . 3 3 4 f . , BEUMANN 1 9 5 0 S . 4 5 , 9 9 f . , 1 5 2 ,
1 7 3 u n d K . HAUCK
1953
Sp. 9 5 7 . 156
K . H A U C K e b d . S p . 9 5 3 , v g l . BEUMANN, z i t . o b e n S . 1 7 v o r A n m . 8 9 .
157
S. 1 3 9 , 4.
158
BEUMANN 1950 S. 87 ff., vgl. ebd. S. 2 1 2 ff. Skeptisch gegenüber der „dispositionellen Funktion des Friedensgedankens" in Widukinds Werk K. HAUCK 1953 Sp. 952.
159 VGI_ BEUMANN, z i t . o b e n S . 1 8 v o r A n m . 9 8 . 160
Zur Entstehung von III, 63—69 vgl. gegenüber BEUMANN 1950 S. 200 f., DEMS. in seiner Besprechung der Abhandlungen STENGELS (ZKG 73, 1962) S. 375 sowie K. HAUCK 1953 Sp. 950 f. STENGEL 1 9 6 0 S . 3 3 0 f . u n d DENS. 1 9 6 5 S . 6 7 A n m . 7 3 .
Die heils-geschichtliche Panegyrik Widukinds
29
Beumann hat in der gesamten Kapitelgruppe 111,59—62 nur „dürftige", „unbedeutende" und „ephemere" Nachrichten zum Jahre 958 erblicken können. 181 Wenn diese Kapitel in der Tat gegenüber den extensiven Berichten über Liudolfs und Konrads d. R. Aufstände und den Lechfeldsieg in den Jahren 953—955 (111,13—53) und über das Ende Wichmanns in den Jahren 963—967 (111,64 bis 69) überaus „knapp gehalten" sind, 162 so muß doch geprüft werden, ob sie inhaltlich und im Rahmen der Gesamtdisposition des dritten Buchschlusses (von 967/68) auch so „unbedeutend" sind, wie es zunächst scheinen mag. Immerhin erzählen die Kapitel 59—62 nicht weniger knapp als die Kapitel 57—58; der hier berichtete Tod Liudolfs ist jedoch in seinem thematischen Gewicht bislang nicht in Frage gestellt worden. 163 Zweitens wird u. E. die erzählerische Funktion der Nachrichten über die Rückkehr Wichmanns unterschätzt (Kapitel 59—60), sieht man sie nicht im Gesamtzusammenhang der Schlußperiode (besonders mit den Kapiteln 64—69). Zur Trauer um den dem Vater zuletzt treu und tatkräftig zur Seite stehenden Sohn Liudolf 164 und zum Wissen um die Heimkehr des rebellischen Adoptivsohns gesellt sich 958 (111,61—62) neues Unheil: eine todbringende Seuche in der Bevölkerung, die in Teilen des Reiches eine Bußstimmung auslöste, 165 und eine schwere Erkrankung des Königs selbst! Damit steht nach Widukinds Darstellung das ottonische Königtum plötzlich an einem Abgrund seiner Existenz. Wenden wir uns nach diesem Blick auf die verschiedenartigen Krisenaspekte des Jahres 958 den Kapiteln 111,61—63 näher zu. Ähnlich wie f ü r das Jahr 941 berichtet Widukind in einem annalistischen Rückblick von Wunderzeichen, — die übrigens auch 955 den Krisenaugenblick während der Lechfeldschlacht „signalisierten". 958 wurden auf den Kleidern vieler Menschen kreuzförmige Flecken gesehen, die die einen zu „heilsamer Furcht" und Buße trieben; andere bezogen die Zeichen auf die folgende lepra, die viele Menschen dahinraffte. Die Klügeren jedoch verkündeten später, das Kreuzeszeichen habe „Wohlergehen und Sieg" angezeigt, Signum crucis salutem
Widukind rückblickend an.
166
victoriamque
prefigurasse,
u n d diesen schließt sich
Denn: „in jener Zeit begann der Imperator selbst
" » BEUMANN 1 9 5 0 S. 1 7 9 , v g l . S . 1 8 5 . 192
Ebd. S. 1 7 9 . 163 YGI BLOCH 1913 S. 105 und BEUMANN 1950 S. 179, der trotz seiner Kritik an BLOCHS Frühdatierung der Erstfassung in die Jahre 957/58 schreibt: „Widukind hat das erste Buch mit dem Tod Heinrichs I., das zweite mit dem der Edgitha wirkungsvoll schließen lassen. Es hätte nahe gelegen, auch dem dritten Buch einen solchen Schluß zu geben. Da bot sich der Tod Liudolfs, den Widukind in den Kapiteln III 57—58 berichtet." 164 Zum Liudolfschen Aufstand zuletzt NAUMANN. Vgl. KÖPKE - DÜMMLER S. 290 f. zur Trauer über Liudolfs Tod. Man kann die Trauer im Königshaus um so weniger unterschätzen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Adelheid schon ihren ältesten, 952 geborenen Sohn im frühesten Alter und den Zweitgeborenen (Brun) zwei Tage nach Liudolfs Tod verloren hat. D a ß der dreijährige Otto (II.) dem gleichen Schicksal entgehen würde, blieb für Ottos I. Thronfolgepläne im Jahre 958 eine schwache Hoffnung. 165 KÖPKE - DÜMMLER S. 298 f.: „Man veranstaltete hie und da Prozessionen, z . B . zu St. Omer am 22. Januar . . . " 169 D a ß Widukind die verschiedenen Deutungen nicht gleichzeitig, sondern nur von einem späteren Gesichtspunkt aus verfaßt haben kann, stellte BEUMANN 1950 S. 185 f. gegenüber BLOCHS und LINTZELS Frühdatierungen des Kapitels III, 62 klar.
30
Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
zu erkranken, doch genas er von der Krankheit durch die Verdienste der Heiligen, denen er treu und beständig Verehrung erwies, und vor allem durch den Schutz des berühmten Märtyrers Veit, ,zu dem er seinen Mund geöffnet hatte'. 167 Und er wurde der Welt wie die hellstrahlende Sonne nach der Nacht zur Zier und Freude aller wiedergeschenkt." (111,62) „Nachdem dann alle Verhältnisse in ganz Franken und Sachsen und bei den ringsum benachbarten Völkern in Ordnung gebracht waren, beschloß er, nach Rom zu ziehen . . ( I I I , 6 3 ) . 1 6 8 Ohne daß Widukind genauer sagt, um welche Krankheit es sich bei Otto I. gehandelt hat, muß man sie, zumal vor dem Hintergrund der verbreiteten Seuche und Bußstimmung nach den Kreuzesflecken, nach menschlichem Ermessen für unheilbar angesehen haben, wenn ihre Heilung dem herrscherlichen Gebet und den Verdiensten der Heiligen zugeschrieben und damit für wunderbar gehalten wurde 189 . Die Nennung des hl. Veit verdient einige Aufmerksamkeit und deutet den größeren geschichtlichen Rahmen an, in dem Widukind die Rettung des Herrschers sieht. Denn es ist, wie schon Lintzel bemerkt hat, „das einzige Mal, daß der Klosterheilige nach dem Lobpreis, der ihm im ersten Buch gespendet wird, wieder auftritt." 1 7 0 So gewichtig diese Feststellung ist, so wenig kann man mit Lintzel den Eindruck teilen, „daß Widukind mit seiner Behauptung, die Macht und das Aufblühen des Sachsenvolkes hänge mit St. Veits Translation zusammen, ihm (gemeint ist der hl. Veit) nur eine etwas überschwengliche literarische Huldigung erweisen, aber nicht etwa ein Glaubensbekenntnis oder eine Überzeugung aussprechen wollte." 171 Damit wird die Bedeutung des Kapitels 111,62 mit der zweiten Nennung des Heiligen allzu gering eingeschätzt. Denn die Wiedergesundung Ottos I. in einem solchen Augenblick der Daseinsbedrohung ist zweifellos ein entscheidender Teil der gesamten Hilfe, die der hl. Veit in Widukinds Augen beim Aufbau der sächsisch-liudolfingischen Reichsherrschaft geleistet hat. Diese Auffassung wird auch durch eine textliche Nähe zwischen dem Kapitel 111,63 und dem Kapitel 1,34 bekräftigt, in dem wir die von Lintzel angesprochene
187
168
S. 137 Anm. 1 verweist P. HIRSCH auf Jes. 5 3 , 7 und Apg. 8 , 3 2 (non aperuit os suum). „Ähnlich lauten zahlreiche Vulgata-Stellen." Unter diesen sind besonders hervorzuheben Eccl. 39, 6 ff.: Cor suum tradet ad vigilandum diliculo ad Dominum qui fecit illum (vgl. Widukind I I I , 75 S. 152, 19 ff. und S. 153, 5 f.!), et in conspectu Altissimi deprecabitur. Aperiet os suum in oratione, et pro delictis suis deprecabitur. sowie Hiob 33, 2: Ecce aperui os meum, loquator lingua mea in faucibus meis im Unterschied zu Hiob 3, 1: Post haec aperuit lob os suum, et maledixit diei suo ... III, 62: Eo tempore Imperator et ipse aegrotare coepit, sed meritis sanctorum, quibus fidele iugiter obsequium prebet, maximeque patrocinio incliti martyris Viti, cui aperuit os suum, de infirmitate convalescit et mundo ut sol lucidissimus post tenebras ad omnem decorem et delicias condonatur. III, 63: Rebus igitur rite compositis per omnem Franciam Saxoniamque et vicinos circumquaque gentes, Romam statuens proficisci.. . (S. 137).
1,8
Daß Otto I. 958 „durch einen Heiligen vor dem T o d e bewahrt worden" sei (Sperrung von mir), setzen — soweit ich sehe, zum erstenmal — auch SCHRAMM und DECKER - HAUFF voraus, allerdings ohne nähere Begründung (in SCHRAMM 1954—56 Bd. 2 S. 616).
170
LINTZEL 1 9 3 8 — 6 1 S. 322.
171
Ebd.
Die heils-geschichtliche Panegyrik Widukinds
31
Geschichte des Klosterheiligen und der später so folgenreichen Translation seiner Gebeine aus dem Westfrankenreich nach dem sächsischen Corvey hören: et ut legatus Karoli confessus est, ex hoc res Francorum coeperunt minui, Saxonum vero crescere, donec dilatatae ipsa sua iam magnitudine laborant, ut videmus in amore mundi et totius orbis capite, patre tuo, cuius potentiae maiestatem non solum Germania, Italia atque Gallia, sed tota fere Europa non sustinet.172 In diesen Worten über die mächtige Hilfe des Klosterheiligen und fiktiven Reichspatrons beim sächsisch-liudolfingischen Herrschaftsaufstieg blickt Widukind voraus auf die unter Otto dem Großen vollendete dilatatio des Reiches, die Widukind im Kapitel 111,63 im Kontrast zu dem Krisenjahr 958 von der Italienpolitik der sechziger Jahre rühmt: imperiumque cum filio quam magnif ice dilataverit, nostrae tenuitatis non est edicere}73 Es sind die Siegeszüge in die Lombardei, nach Rom und bis in das griechische Süditalien, die in Widukinds Augen das Reich bis an die Grenzen „fast ganz Europas" und damit bis an die Grenzen des für die sächsische Herrschaft Erträglichen ausdehnen.174 Sowohl die Grundlegung wie die Vollendung dieser dilatatio dankt Widukind der Heilskraft des hl. Veit! Das heils-geschichtliche Licht, das die Nennung des Heiligen auf das Gebetswunder und die siegreiche letzte Erweiterung nach der Daseinskrise von 958 wirft, erhellt Widukind weiterhin sowohl durch die signum crwcis-Typologie, deren Christusbezug evident ist, wie durch die Lichtmetapher: mundo ut sol lucidissimus post tenebras ad omnem decorem et delicias condonatur."s Diese heilssymbolische Lichtmetaphorik — an sich ein archetypisches Element panegyrischer Herrscher-Apotheose178 — hat Keller zu den „latenten Christusvergleichen" in Widukinds Werk gezählt.177 Sie ist wörtlich der Widmungslaudatio zum dritten Buch an die Kaisertochter Mathilde zu vergleichen (imperiale decus, quod te ut serenissimum splendorem gemmamque lucidissimam mundo effudit)™ und stellt ein Gegenstück zu der im Jahre 941 in Erinnerung gerufenen Sonnenfinsternis dar, die man als Vorzeichen für den Tod Heinrichs I. gedeutet hatte, — was im Hinblick auf Luk. 23,44 f. (et tenebrae factae sunt in universam terram... Et obscuratus est sol...) gleichfalls als ein latenter Christusbezug betrachtet werden darf. Im Zusammenhang der Ereignisse des Jahres 941 172
173
174 175 178
I, 34 S. 48, 8 fi. Der kritische Ton gegenüber dem Wachstum der in Rom gekrönten res Saxonum ist unüberhörbar. S. 138, 2 ff. Vgl. auch die beiden anderen verwandten Stichworte in diesen Zusammenhängen: I, 34 S. 48, 13 Colito itaque tantum patronum, III, 62 S. 137, 7 f. fidele iugiter obsequium prebet, maximeque patrocinio incliti martyris Viti sowie I, 35 S. 48, 21 f. quanta prudentia (sc. Heinrici) vigilaverit in munienda patria et in expugnando barbaras nationes, supra nostrum est virtutem edicere, III, 63 S. 138, 2 ff. ergo qualiter... imperiumque . .. dilataverit, nostrae tenuitatis non est edicere (Hinweis S. 138 Anm. 3 durch P. HIRSCH). Zum Zusammenhang der beiden letzten Stellen aus anderen Gründen BEUMANN 1950 S. 197. Vgl. oben Anm. 172. S. 137, 9 f. Vgl. z. B. KANTOROWICZ 1927—31 Hauptbd. S. 629, Ergbd. S. 251; vgl. auch oben S. 19.
177
KELLER 1 9 6 4 S. 3 4 8 .
178
S. 100,17 f.
32
Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
fanden wir den Splendor der herrscherlichen Dignität bald konkret in dem persönlichen Anblick Ottos I. zum Zeichen der unversehrten Beständigkeit seiner Würde wieder. 179 Diesmal vermag ähnlich konkret das im Goslarer Rammeisberg neu erschlossene Silber 180 den „sonnengleichen" Neuaufgang des liudolfingischen Königtums nach dem Krisenjahr 958 bildhaft widerzuspiegeln und zu versinnbildlichen. Die heils-geschichtliche Perspektive des „Goldenen Zeitalters", die sich hier andeutet, bestätigt uns übrigens Thietmar in seiner bis 973 an Widukinds Werk orientierten Chronik vollauf: Temporibus suis (sc. Ottonis I) aureum illuxit seculum; apud nos inventa est primum vena argenti... Wenn Thietmar noch h i n z u f ü g t : . . . devictus est quoque Wigmannus,181 so geht daraus hervor, daß schon er die Wichmann-Geschichte als den dunklen Hintergrund der Heils-Erfahrung Ottos I. im Jahre 958 im Auge behielt. 182 Eine offenkundigere Parallele für den sowohl 941 wie 958 nach der Krise neugewonnenen Höhepunkt der ottonischen Reichsherrschaft gibt sich darin zu erkennen, daß Widukind diesen in beiden Fällen durch den „Ubergang zur imperialen Außenpolitik" kennzeichnet. 183 Wenn er in Kapitel 111,63 die ganze Italienpolitik der Jahre 961—968 auch „in zwei Sätze zusammengerafft" 184 und durch sein beredtes Schweigen die römische Kaiserkrönung sogar kritisiert hat, 185 so hat Widukind doch die Italienzüge der sechziger Jahre als solche nicht einfach verurteilt, vielmehr, die römische Krönung ausgenommen, als Gelegenheit zur letzten siegreichen Vollendung der dilatatio imperii voll anerkannt. 186 Diese Auffassung läßt sich durch den Hinweis stärken, daß Widukind bekanntlich als einziger unmittelbarer Zeitgenosse den Romzugsplan Heinrichs I. überliefert (1,40), was darauf schließen läßt, daß er die liudolfingischen Rom- und Italienzüge, gleichsam als eine Leistungsprobe, vor allem als Heerfahrten betrachtete, daneben vermutlich auch als eine Fortsetzung der politischen Romwallfahrt des Vorfahren Liudolf. 187 Ein Rückverweis auf den ehemaligen Plan Heinrichs I. besteht überdies in Kapitel 111,63 selbst, und zwar durch eine textliche Verwandtschaft mit der f r ü heren Stelle. 111,63 beginnt mit den oben übersetzten Worten: 188 Rebus igitur rite compositis per omnem Franciam Saxoniamque et vicinos circumquaque gente s, Rom am statuens proficisci, Longobardiam perrexit... In 170 180 181 182
Vgl. oben S. 21. S. 138,2. Thietmar II, 13 S. 52, 26 f. Vgl. oben S. 28 f.
183
BEUMANN 1 9 5 0 S. 91 f.
184
Ebd. S. 179. Vgl. ebd. S. 261 ff. und 245 Anra. 1. Vgl. oben S. 31 vor Anm. 172.
185 186 187
V g l . S. 5 9
Anm. 4
(P. HIRSCH),
ERDMANN
1951
S. 44, BEUMANN
1950
S. 2 4 5
A n m . 1.
Widu-
kinds Nachricht wurde schon von Thietmar 1,15 S. 22, 8 ff. zu einer Büß- und Pilgerfahrt Heinrichs I. umgedeutet (dazu unten S. 112 f.). Den ausschließlichen Charakter der Pilgerreise nach dem Beispiel Liudolfs, des Großvaters Heinrichs I. (Widukind I, 16 S. 26, 3 f.), betont SMIDT S. 9 3 188
ff.
S. 137, 11 ff. Vgl. oben S. 30 vor Anm. 168.
Die heils-geschichtliche P a n e g y r i k Widukinds
33
1,40 lesen wir: Perdomitis itaque cunctis circumquaque gentibus, postremo Rom am proficisci statuit.. .189 Aufgrund dieser Textverwandtschaft hat Beumann auf eine Parallelisierung zwischen „Ottos Rompolitik" und dem „einstigen Plan des Vaters" geschlossen.160 Diese Parallele läßt sich noch differenzieren, beachtet man zugleich den Unterschied, der inhaltlich zwischen beiden Stellen besteht. Denn der im angeführten Zitat aus Kapitel 1,40 mit Beumann abgebrochene Satz fährt unmittelbar fort: correptus iter intermisit. Was dieser Nachsatz im Ver... sed infirmitate gleich zu 111,63 bedeutet, ersieht man vollends aus der (von Beumann nicht berücksichtigten) zweiten Wendung am Anfang von 111,63 (Rebus igitur rite compositis), die gleichfalls am Ende des ersten Buches, und zwar in dem letzten Kapitel 1,41, wörtlich zu lesen ist: Testamento itaque legitime facto et rebus omnibus rite compositis, defunctus est ipse.m Der Anfangssatz von 111,63 nimmt also gerade jene zwei Wendungen auf, die in Kapitel 1,40 und 1,41 den beiden Nachrichten von Heinrichs I. Erkranken und Tod voranstehen. Widukind bringt damit zum Ausdruck, daß es nichts mehr als Heinrichs I. Todeskrankheit war, die seinen Romzug vereitelt hatte, daß es dagegen im Falle Ottos I. gerade der Romzug ist, der die Genesung von der „Todeskrankheit" krönt! Die „ordentliche Regelung aller Verhältnisse" betrifft im Falle des todkranken Heinrich die letzten testamentarischen Verfügungen über Besitz und Herrschaft, insbesondere über die Sicherung der Thronfolge. 192 Nach Ottos I. Lebenskrise im Jahre 958 dient jedoch dieselbe Wendung Widukind dazu, den neuen Macht- und Herrschaftsaufschwung anzukündigen. Die Verwandtschaft zwischen dem Schluß des ersten Buches und dem letzten Teil des dritten Buches in den Frühfassungen läßt also gerade aufgrund der bestehenden Verweisungen die Steigerung erkennen, die der sächsisch-liudolfingischen Monarchie unter Otto I., „dem Größeren", 193 über den Vater hinaus möglich war, obwohl schon diesem von Widukind gewisse christomimetische Züge verliehen werden.194 Eine tödliche Lebenskrise, die Heinrich I. die Erfüllung des letzten Herrschaftsplanes verwehrte, verwandelte sich für den Sohn im „Zeichen des Kreuzes" zu einer persönlichen und herrscherlichen „Heils"-Erfahrung (Signum crucis salutem victoriamque prefigurasse)\1K Diesem Gedanken der Herrschaftssteigerung von Heinrich I. zu Otto I. sind wir insofern auch schon in der Situation von 941 begegnet, als die gleichen prodigia, die sich in der Erinnerung mit dem Ende Heinrichs so fest verbanden, daß manche „mit Gewißheit" einen neuen Todesfall auf dem Thron befürchteten, im Falle Ottos zwar auch eine schwere Lebens- und Herrschaftsgefährdung anzeigten, aber doch zugleich auch, wie sich später herausstellte, deren glückliche Ab189
S. 5 9 , 9 ff.
190
BEUMANN 1 9 5 0 S. 9 2 . Romam
191
S. 60, 5.
proficisci
192
Ober die Neuartigkeit dieser Thronfolge IC. SCHMID 1 9 6 4 ( 2 ) . (sc. Ileinricus)
statuit liest m a n übrigens auch I I I , 9 S. 109, 8.
193
I, 41 S. 60, 8 f . : relinquens
194
Vgl. BEUMANN 1 9 5 0 S. 1 3 6 f., 2 4 4 ; die christomimetischen Züge lassen sich schwerlich als „säku-
filium sibi ipsi
maiorem.
larisierende T y p o l o g i e " bezeichnen. Vgl. auch oben A n m . 112. 195
3
S. 137, 4. Frühmittelalterforsdiung 4
34
Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
wendung. 196 941 und 958 erschienen also im Rüdsblick auf das Schicksal des ersten sächsischen Königs die Herrschafts- und Daseinskrisen Ottos zunächst als tödliche Gefährdungen, ehe beide Male die wunderbare Rettung folgte. Wir beschließen unsere Diskussion von 111,61—63, indem wir zu der Frage nach der Schlußperiode der beiden ersten Werkfassungen zurückkehren. Nachdem wir die genannten Kapitel als ein bemerkenswertes Zeugnis f ü r Widukinds heilsgeschichtliche Deutung des ottonischen Herrschaftsaufstiegs kennengelernt haben, wird auch die „Legitimitäts"-Formel am Ende der im engeren Sinne „abschließenden" Wichmann-Kapitel 111,64—69 zusätzlich beleuchtet. Denn der Sieg über die Wichmannrebellion vermag den Heils-Charakter des ottonischen Königtums noch einmal exemplarisch und „pointenhaft" zu veranschaulichen, 197 nachdem Widukind Otto I. unmittelbar vor den Krisenkapiteln 111,57 ff. (im Kapitel 111,56) im Rückblick auf den Lechfeldsieg mit spätantik-frühchristlichen Vorstellungselementen des Ö E L O ; aviqo108 in einem christlichen Messias-Habitus gerühmt hat (omniumque circumquaque Christianorum in illo res atque spes sitae) und nachdem sich die Otto den Großen „immer beschützende höchste Gottheit" 1 9 9 in dem vom „Signum crucis präfigurierten" Heilungs- und Heilswunder von 958 so eindrucksvoll offenbart hat. Die Wichmann-Kapitel 111,59.60 und 111,64—69 erweisen sich so als der episch einkleidende, thematisch dramatisierende Kontrasthintergrund f ü r die Heilserfahrung von 958 wie für die pointenhafte Legitimitätsformel. Damit läßt uns unser dritter Beispielfall noch sehr viel klarer als die beiden ersten die heils-geschichtliche Perspektive in Widukinds Sachsen- und Liudolfingergeschichte sehen. Die signum crucis-Formel enthält den deutlichsten aller Christusvergleiche dieses Werkes. Hatten schon die portenta in allen drei Beispielfällen als Sinnbilder der Gesamtsituation jeweils den dunkelsten Erwartungshorizont aufgerissen und das Schlimmste befürchten lassen, so liegt die Substanz der signum crwcis-Deutung in dem vollen Erlebnis der d e n T o d überwindenden Gnade Gottes. So fiktiv und momentan die Unheil- und Todeserwartungen in den erörterten Situationen von 941, 955 und 958 sind, ist doch die Richtung, in die Widukind durch jede Art von Nachrichten die Stimmung des Lesers zu lenken bemüht ist, stets die gleiche. Gemeinsam ist allen drei Fällen der Kontrast zwischen einem vorgängigen düsteren Erwartungshorizont und dem tatsächlich folgenden Heilstriumph des Herrschers, der nichts anderes als die Erfahrung der Gnade Gottes in den Augenblicken persönlicher Schwäche und Lebensgefährdung bedeutet. Diese dialektische Entsprechung zwischen irdischem Unheil und göttlichem Heil, zwischen menschlicher Todesbedrohung und gnadenvoller Errettung ist ein bisher wenig beachteter Wesenszug der „Gottesgnaden"-Vorstellungen in ottonischsalischer Zeit.
190
Vgl. oben S. 19 f.
107
K . HAUCK 1 9 5 3 Sp. 9 5 3 f. V g l . BEUMANN 1 9 5 0 S. 101, 1 5 3 , 1 6 2 .
188
V g l . d a z u K . H A U C K 1 9 6 3 (2) S. 5 2 f.
» • Wie oben Anm. 97.
Die heils-geschichtliche Panegyrik Widukinds
35
Ehe wir versuchen, in Widukinds Werk den „tragischen" 200 und den heilsgeschichtlichen Aspekt gegeneinander abzugrenzen, muß ein Blick auf Widukinds Darstellung des Todes Ottos des Großen von Interesse sein. e) Ottos I . T o d In einer Ergänzung seines Werkes hat Widukind die Geschichte des sächsischliudolfingischen Herrschaftsaufstiegs bis zum Tode Otto des Großen im Jahre 973 fortgeführt und damit die schon eingangs erwähnte zäsurbildende Funktion von Todesfällen im liudolfingischen Herrscherhaus konsequent zur Geltung gebracht.201 Parallel zu der gleichzeitig entstehenden älteren Mathildenvita berichtet Widukind, Ottos Sohn Wilhelm, Erzbischof in Mainz, eben noch als Reichsverweser während des letzten Italienzuges des Kaisers gerühmt, sei in Erwartung des Todes der Königinmutter Mathilde noch vor deren Ableben selbst gestorben.202 Wohl unter dem Einfluß der Mathildenvita folgt ein hagiographischer Einschub über die Königin, der mit einer Vision ihres glorreichen, von zahllosen Engeln begleiteten Himmelsweges schließt.203 Diesen verklärenden Auftakt zum Sterben des Kaisers verstärken im nächsten Kapitel (111,75) weitere Todes- und Krisennachrichten: Igitur Imperator, audita morte matris et filii*0* caeterorumque principalium virorum — nam et Gero, vir magnus et potens, iam antea defunctus est —, iudicavit... patriam remeare. Pulsavit quoque fama eum, quasi plerique Saxonum rebellare voluissent; quod quia inutile erat, nec relatione dignurn arbitramur... Tristis autem illa loca perambulat obitu optimi viri ducis Herimanni.. .205 Es ist nach Widukinds Darstellung neben dem Tod der Mutter, des Reichsverwesers Wilhelm und mancher anderer bedeutender Reichsfürsten auch das „Gerücht" von einer sächsischen Rebellion, so indiskutabel das (zumal nach dem Untergang Wichmanns!) zu sein scheint, das Otto aus Italien zurückruft. 206 Um so triumphaler und festlicher läßt Widukind die Rückkehr des Kaisers nach Deutschland und Sachsen erscheinen: Egressus est itaque de Italia cum magna gloria, capto rege Longobardorum, superatis Graecis victisque Sarracenis, cum victricibus alis Galliam ingressus est, inde Germaniam transiturus et proximum pascha loco celebri Quidilingaburg celebraturus; ubi diversarum gentium multitudo conveniens, restitu200
Vgl. oben S. 17 f. Vgl. oben S. 17 vor Anm. 93 und 94. I0S III, 74 S. 150, 7 ff. 103 S. 151,10 ff. Zum Einfluß der älteren Mathildenvita BEUMANN 1948 S. 25, 1950 S. 256 ff. 204 Zu der Formel rex audito nuntio vgl. oben S. 26 vor Anm. 142 und vor Anm. 144 (hier: rex autem his auditis). 105 S. 151, 21 ff.; 152, 12 f. 2 0 ' KÖPKE - DÜMMLER S. 498 Anm. 2 (hier mit der Möglichkeit eines falschen Gerüchts vom Tode Ottos I. gerechnet), SMIDT S. 104 ff. und STENGEL 1965 S. 81 ff. erörtern die denkbaren Ursachen solcher Gerüchte. 201
i*
Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
36
tum patriae cum filio cum magno gaudio c e le b r ab ant. Manens autem ibi decem et Septem non amplius diebus, descendit inde, ascensionem Domini apud Mesburg celebraturus ... Post susceptos ab Africa legatos eum regio honore et munere visitantes secum fecit manere .. .207 In einer kunstvoll gestalteten Schlußkomposition, die hier nicht weiter analysiert werden kann, wechseln die zitierten Krisen- und Triumphnachrichten kontrapunktisch miteinander ab. Die Heimkehr des Triumphators und "WeltvölkerKönigs 208 — „dem Vaterland zusammen mit dem Sohn wiedergeschenkt" 209 — gewinnt im Kontrast zu der Krisen-Fama einen messianischen Zug. Dieser letzte, durch Feste gekrönte adventus in patria210 ist ein Gegenstück zu dem in Widukinds Augen das ottonische Kaisertum begründenden triumpbus celeber nach dem Lechfeldsieg mit seiner pater ^¿in^e-Akklamation. 2 1 1 U n d wenn sich Otto an der Festtafel in Memleben zu seinem letzten Mahl in herrscherlicher Heiterkeit (laetus et hilaris) niederläßt, so erinnert dies an das die Herrschaftsübernahme einst beschließende Krönungsmahl in Aachen. 212 Indem Otto den letzten Festtag unter fortwährendem Gottesdienst verbringt, verwandeln sich seine Ermüdung, sein Erkranken, sein Niedersinken und sein Tod nach der letzten Stärkung mit dem Sakrament zur erhaben-stillen Heimkehr des Herrschers zum creator omnium. Dieses Sterben cum magna tranquillitate ist der feierliche Ruhepunkt einer planvoll geschilderten Festszene. Cum esset iam sero, nuntiatur populo mors eius,213 Die hiernach veranstaltete Totenfeier, von der wir durch Thietmar wissen, daß dies die EingeweideMT
S. 152,4 ff. Zu Widukinds hegemonialer Herrschaftsvorstellung vgl. BEUMANN 1950 S. 259 ff. "» S. 152,9. 110 Von der herrscherlichen Heimkehr nach Sachsen bzw. in die patria spricht Widukind mehrfach, und zwar meistens im Sinne einer triumphalen Heimkehr (vgl. S. 51, 3; 54, 8; 71, 14; 89, 5; 109, 5; 123, 6; 143, 19). — Auch sterben die liudolfingischen Herrscher, wie schon Konrad I., in patria sua (zu Konrad I. vgl. I, 25 S. 37, 13 ff.). Das bringt Widukind im Falle Heinrichs I. durch den verhinderten, im Falle Ottos I. durch den vollendeten Romzug zu Bewußtsein (I, 40 S. 59, 10 f.: postremo Romam proficisci statuit, sed injirmitate correptus iter intermisit; III, 75 S. 151, 23 ff.: iudicavit. . . patriam remeare). — Das Gleiche gilt weiter für Konrad d. R., der auf dem Lechfeld fällt, von dem Otto I. vorher gesagt hatte: in terra mea et regno meo (III, 46 S. 127, 12). Liudolf stirbt zwar in Italien, aber nach Widukind doch nur, „weil er den Freunden (!) die Treue halten wollte" (II, 57 S. 135, 23 ff.). Und ähnlich stirbt der Rebell Wichmann, indem er zumindest noch patria voce sein letztes Gebet aushaucht (III, 69 S. 145, 21 f.). — Zu Widukinds paina-Begriff BACH S. 56 f., vgl. ferner KANTOROWICZ 1950—65, DENS. 1957 S. 232 ff.; zum spirituellen Motiv „Tod als Heimkehr" in der mittelalterlichen Totenklage 808
HENGSTL S. 1 6 3 . 111
Zu den historischen Zügen dieses triumphus K. HAUCK 1950 S. 232 ff. und 1963 (2) S. 52 f. (Tradition der fleiog avrig-Rühmung), BEUMANN 1962—63 S. 29, skeptischer STENGEL 1965 S. 5 8 .
112
213
S. 152, 23 f., vgl. S. 67, 12: cum omni hilaritate dimisit multitudinem. — Vgl. ferner S. 66, 25 f. ad mensam . . . resedit und S. 152, 24; S. 66, 14 f. primumque Dei ministris, viduis ac pupillis manum misericordiae porrigas (Krönungsworte) und S. 152, 21 f. pauperibus iuxta morem manus porrexit. Eine gemeinsame Neuuntersuchung des Berichtes Widukinds über Ottos I. Königskrönung durch K. SCHMID und H . KELLER kündigt letzterer DA 22, 1966 S. 370 Anm. 115 an. S. 153, 7. Vgl. Mk. 15, 42: Et cum iam sero esset factum . . . venit.
Die heils-geschichtliche Panegyrik Widukinds
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bestattung in der Memlebener Pfalzkirche war,214 stellt Widukind in lebendigem Gegensatz zu der Stille des Sterbens als einen nächtlichen Laudatio-Wettstreit des anwesenden Populus dar. Noch einmal wird Otto I. triumphal als Völker-König und siegreicher Glaubenskämpfer gerühmt, und schon am nächsten Morgen wird der Sohn als Thronfolger in Huldigungsakten und mit Treueiden bestätigt. Der Leichenkondukt unter seiner Leitung wird gewissermaßen zu seinem eigenen ersten Einholungszug in der neuen Würde des Alleinkönigtums215 und damit die Totentranslation zu einem sichtbaren Akt des Herrschaftswechsels. Widukind beschließt sein Werk mit der chronikalisch gehaltenen Notiz: Itaque defunctus est Nonis Maii, quarta feria ante pentecosten, Imperator Romanorum, rex gentium, divinarum humanarumque rerum multa ac gloriosa saeculis relinquens monimenta.216 Wir hören in den beiden Schlußkapiteln kein Wort der Klage über den Tod Ottos I. 217 Das fällt um so mehr auf, als Widukind planctus und lacrimae in allen anderen Todesfällen, mit Ausnahme des Todes Wichmanns, geradezu formelhaft erwähnt.218 An die Stelle der Klage tritt die gesteigerte Laudatio. Mit hoher kompositorischer Kunst und vielen rühmenden Worten hat Widukind abermals vor einem anfänglich bedrohlich heraufziehenden Horizont von Unglücksfällen das Ende Ottos des Großen zu einem in religiöser Andacht verbrachten letzten Festereignis stilisiert, in das die Gewißheit des krisenlosen Thronwechsels einbezogen ist. Die Nacht des Todes wird vom Glanz des Ruhmes und des ottonischen Gottesgnadentums überstrahlt, und mit dem neuen Morgen vollzieht sich in spontanen Bestätigungshuldigungen für Otto II. der Neuaufgang des liudolfingischen Königtums — ut sol lucidissimus post tenebras.219 Als „Hoffnung der einen ganzen Christenheit" — eine letzte latente Weltheiland-Stilisierung220 — erneuert Otto II. die liudolfingische Heilsmonarchie. Indem Widukind mit einem Ausblick auf die „zahlreichen und rühmlichen Denkmäler" schließt, die der große Völker-König durch seine Leistungen in „himmlischen und menschlichen Dingen", d.h. vor Gott und den Menschen hinterlassen habe,221 fügt sich das eigene Geschichtswerk dieser monimenta-Reihe an. 114
215 118 217 218 2LE
820
Thietmar II, 43 S. 92, 11 ff.: Sequenti vero nocte viscera eius soluta in ecclesia sancte Mariae sunt tumulata. Zur Fehlinterpretation der Memlebener Eingeweidebestattung als „germanischer Totenehrung" durch PLASSMANN vgl. unten Anhang I. Vgl. oben S. 4 f. S. 154, 2 ff. Vgl. zu diesem Faktum unten Anhang I. I, 25 S. 3 8 , 1 7 f.; I, 41 S. 61, 1 f.; II, 41 S. 1 0 0 , 1 ; III, 47 S. 128, 18; III, 57 S. 135, 29. WOLFRAM 1963 S. 147 ff. hat darauf aufmerksam gemacht, welche Rolle „Morgenfrühe und Sonnenaufgang" in der Geschichte des abendländischen Adventus- und Krönungszeremoniells spielen. Hier ist ein Beispiel mehr. (Vgl. audi oben Anm. 110). Wörtlich : spei unicae totius ecclesiae S. 153, 17; vgl. III, 12 S. 111, 1 f.: quem (sc. Otto II) iam post patrem dominum ac imperatorem universus sperat orbis, ferner III, 56 S. 135, 21 f.: omniumque circumquaque Christianorum in ilio (sc. Otto I) res atque spes sitae, dazu BEUMANN 1 9 5 0 S. 2 6 2 .
221
P. HIRSCH 1931 übersetzt S. 150: „in kirchlichen wie in weltlichen Dingen". Vgl. oben den Text vor Anm. 2 1 6 .
38
Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
f) Schluß: Widukinds heils-geschichtliche Deutung der ottonischen Krisenerfahrungen Wir haben in mehreren Beispielfällen aus dem Leben Ottos des Großen verfolgen können, daß auch die dunkelsten Schicksalsaugenblicke des liudolfingischen Herrscherhauses Widukind dazu dienen, die Entwicklung der ottonischen Monarchie zu rühmen. Die dramatische Perspektive dieser Panegyrik hat verschiedene Seiten. Die wiederholten, noch in den Zeiten Ottos II. und Ottos III. aufgebrochenen liudolfingischen Familienkonflikte haben auch andere ottonischen Geschichtsschreiber wie z. B. den unbekannten Verfasser der jüngeren Mathildenvita in Atem gehalten und zu einer eigenen heilsgeschichtlichen Deutung der liudolfingischen Monarchie veranlaßt. 222 Allein bei Widukind gewinnt die m e n s c h l i c h e Seite dieser Konflikte, die heroische Kampfgesinnung der Familienangehörigen im gegenseitigen Streit, einen selbständigen und „tragisch" zu nennenden Zug. Damit steht Widukinds Werk in einer Reihe anderer Geschichtserzählungen über Vater-Sohn-Konflikte wie jene zwischen Hildebrand und Hadubrand, Konrad II. und Herzog Ernst, Heinrich IV. und Heinrich V. 223 Insofern alle diese Kämpfe bzw. „Rebellionen" der Söhne in einem eigenen Kreis freundschaftsbedingter oder gar vasallitischer Treuebindungen wurzeln, 224 gewinnen diese Familienkonflikte durch die Diastase der sich überschneidenden Rechtsverhältnisse auch im r e c h t l i c h e n Sinne einen „tragischen" Charakter. Solche „tragisch" erscheinenden Rechtswidersprüche wurden durch das mittelalterliche Personal- und Fehderecht begünstigt, obwohl der Entfaltung einer echten tragischen Auffassung die dem Mittelalter gleichfalls eigene Gottesurteil-Vorstellung entschieden entgegenstand, die jede natürliche oder bewußt herbeigeführte Konfliktentscheidung am Ende als gottgewollt annehmbar machte. Neben der menschlichen und der rechtlichen Seite der Konflikte ist das e t h i s c h e Selbstverständnis der Streitenden zu charakterisieren, da gerade bei Widukind noch eine vorchristlich-archaische Auffassung „tragischer" Kampfesnot und -notwendigkeit nachzuklingen scheint. Auf dem Höhepunkt der Lechfeldrede schreibt Widukind Otto die Worte zu: Melius bello, si finis adiacet, milites met, gloriose moriamur, quam subiecti hostibus vitam serviliter ducamus.225 222 223 224
225
Darüber unten Kapitel I, 3, c. Vgl. K. HAUCK 1953 Sp. 957 und zu Heinrich IV./Heinrich V. unten S. 155 f. Vgl. Widukind im Falle Liudolfs 111,18 S. 114, 7 f f . : Illi autern iuramentis vicariis obligati et quodammodo arte antiqui hostis constricti und III, 57 S. 135, 23 f.: cum fidem vult servare amicis. — Bei Wipo findet sich eine interessante Diskussion über Recht und Grenzen der Schwurbrüderschaft mit Herzog Ernst (Gesta Chuonradi Kapitel 30 S. 39 f.). Zur Schwurbrüderschaft oppositioneller Kreise mit Heinrich V. vgl. Vita Heinrici IV Kapitel 9 S. 29, 24 ff. — Vgl. in diesem Zusammenhang bei HELFENSTEIN S. 41 ff. den Versuch, den im Mittelalter vielfadi zu beobachtenden „Aufstand der Söhne gegen die Väter" von brauchtümlichen männerbündischen Traditionen aus zu erhellen. S. 127,18 ff. Vgl. oben S. 24 nach Anm. 129.
Die heils-geschichtliche Panegyrik Widukinds
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Dieser todesmutige Freiheitswille, der schon in antiker und stoischer Ethik hervortritt, 226 hat in Widukinds Werk seine Geschichte. Als archaisches Bekenntnis eines „zur Tragik drängenden Ethos" 227 hat man ihn im Munde jener sächsischen Abgesandten verstanden, die dem Frankenkönig Theuderich ihre Kampffreundschaft gegen die Thüringer antrugen, 228 und im gleichen Geist hören wir ihn aus dem Munde des greisen sächsischen Landnahmeführers und -siegers Hathagat vor der entscheidungsvollen Thüringerschlacht.229 Mit einem gewissen Recht konnte man für die sächsische Frühzeit beiWidukind von einem „naiv-elementaren Utilitarismus" einer vorchristlichen Kampfmoral sprechen.230 In Anlehnung an Sallustsche Worte aus dessen Schrift über die catilinarische Verschwörung (!) (Memor pristinae virtutis ac nobilitatis)2^ taucht das Ethos der Vorfahren wieder auf bei zwei Rebellen gegen Otto den Großen, einem Erich, der ein Hauptbeteiligter an Heinrichs d. J . letztem Aufstand im Jahre 941 gewesen ist, und bei Wichmann, im letzten Kapitel des dritten Buches der beiden Frühfassungen. 232 Während Erich, ein fortissimus optimusque,233 mit seinem stolzen Todesmut, der die Ergebung verwirft, noch durchaus die Gesinnung der Vorfahren verwirklicht, die „in der Bewahrung der Ehre so etwas wie Sieg auch im Untergang" kannten, 234 — während später auch Wipo den Herzog Ernst mit den gleichen Gedanken in den Tod gehen läßt (deliberans melius esse honeste mori quam turpiter vivere),235 — übergibt Wichmann nach langjährigem Widerstand im letzten Augenblick, als er von der Überzahl der Barbaren besiegt und schon tödlich verletzt ist, sein Schwert und bekennt seine Ergebung, die er zuvor
826
Vgl. GRAUS S. 274 Anm. 483 sowie zur Sophokleischen Tragödie SCHADEWALDT.
227
K . HAUCK 1 9 5 3 S p . 9 5 5 .
228
I, 9 S. 15, 12 ff.: et ecce assumus parati ad. omne quodcumque tibi voluntas suggesserit, parati, ut aut hostes tuos vincamus aut, si fortuna aliud iusserit, pro te moriamur. Aliam enim causam nullam Saxonibus esse scias, nisi vincere velie aut certe vivere notte. Neque enim gratiam maiorem amicis exhibere possumus, quam ut pro eis mortem contempnamus.
229
I, 11 S. 19, 2 ff. : Certare scio, fugere ignoro nec valeo. Si fata non sinunt ultra vivere, liceat saltem, quod michi dulcissimum est, cum amicis occumbere. Exempli michi paternae virtutis sunt amicorum corpora circa nos prostrata, qui maluerunt mori quam vinci, inpigras animas amittere quam coram inimicis loco cedere. Sed quid necesse habeo exhortationem protrahere tantisper de contemptu mortis?
230
BEUMANN 1 9 5 0 S . 1 1 2 .
231
Zur „tragischen Geschichtsauffassung" Sallusts, insbes. in der Catilina-Schrift, vgl. LEEMANN; vgl. auch BEUMANN 1950 S. 94 ff., bes. S. 99 f. Zu Erich vgl. II, 31 S. 93, 2 f.: memor pristinae virtutis ac nobilitatis elegit mori quam inimicorum dominationi subici. Zu der Sallustschen Wendung memor pristinae virtutis (S. 93 Anm. 1) vgl. auch oben Anm. 229; zu Wichmann vgl. III, 69 S. 145, 10 ff.: Ille, licet in ultima necessitate sit constitutus, non inmemor pristinae nobilitatis ac virtutis, dedignatus est talibus manum dare, petit tarnen ... S. 92, 24 f.: Inter quos erat primus in caeteris omnium bonarum virtutum rebus absque hac noxa fortissimus optimusque Erich. — Während BEUMANN 1950 S. 37 die Laudatio S. 116, 11 ff. auf Wichmann bezieht, was diesem einen ähnlichen Rang wie Erich verleihen würde, sieht P. HIRSCH 1931 S. 115 in Wichmanns Onkel Hermann das Subjekt des fraglichen Satzes, was als das Richtigere erscheint. Zu Erichs bonae virtutes vgl. das Hathagat-Lob bei Widukind S. 1 8 , 1 8 f.
232
233
231
K . HAUCK 1 9 5 3 S p . 9 5 5 .
235
Wipo, Gesta Chuonradi II Kapitel 38 S. 46, 1 f.
40
Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
— non inmemor pristinae nobilitatis ac virtutis! — noch ausdrücklich verachtet hatte. Er bittet, sein Schwert Otto dem Großen zu senden und bekundet damit, daß er dessen „Legitimität" 236 mit seinem letzten Atemzug doch noch anzuerkennen bereit ist. Wichmanns Tod erfüllt daher nicht mehr das heroische Ethos der Vorfahren, da sich am Ende die Gesinnung wandelt und Wichmann dem Gegner huldigt. Wichmanns Tod bedeutet vielmehr eine endgültige Anerkennung der ottonischen Herrschaftsmacht, um die diese gegen zahlreiche äußere und innere Widerstände hatte kämpfen müssen. Nach dem dramatisch und spät errungenen Bekenntnis Wichmanns gibt es gegen die ottonische Reichsherrschaft kein echtes WiderstandsR e c h t mehr. Im Verfolg des alten Ethos melius moriamur, quam subiecti hostibus vitam serviliter ducamus ist zu erkennen, daß in Widukinds Werk die bewußt erlebte Entscheidungssituation zwischen Leben und Tod f ü r die sächsisdi-liudolfingische Geschichte eine Daseinserfahrung seit den frühesten und bis in die jüngsten Zeiten darstellt. Der schrittweise errungene politische Triumph der ottonischen Monarchie bedeutet hierbei gegenüber dem frühsächsischen Kampfesethos den zunehmenden Legitimitätsbeweis eines neuen „ Gottesgnaden tums" und mit ihm eine Uberwindung jener alten, im eigentlichen Sinne „tragischen" Lebenshaltung, deren bedingungslose Todesbereitschaft zwar ethisch-religiös, doch nicht metaphysisch bedingt ist, da sie im Gegensatz zur transzendentalen Gerichts- und Heilserwartung des christlichen Glaubens schon die letzte und höchste Existenzentscheidung einschließt.237 Für das ottonische Herrschaftsbewußtsein tritt bei Widukind an die Stelle der archaisch-heroischen Kampfesethik eine neue heils-geschichtliche und zuweilen christusbildliche Herrschaftsdeutung. Sie wird beispielhaft sichtbar, indem Widukind Ottos I. letzte und schwerste persönliche Krisenerfahrung, die „Todeskrankheit" von 958, im Zeichen des Kreuzes zu begreifen sucht, das dem H e r r scher — in stilisierendem Bezug auf Christi Sieg über den Tod durch die passio mortis — „Wohlergehen und Sieg" verkündet habe. Diese signum cracz'i-Deutung erschließt sinnfälliger als alle anderen „latenten Christusvergleiche" in Widukinds Werk den heils-geschichtlichen Aspekt des ottonischen Herrschaftsaufstiegs durch Krisenerfahrungen hindurch. Im „Zeichen des Kreuzes" wird der Frieden zum notwendigen Telos aller discordiae,33S der 236 237
Vgl. oben S. 28 vor Anm. 156. Zum Ethos in Widukinds Persönlichkeitsschilderung BEUMANN 1950 S. 107 ff. und 138 f. Als Parallelen zu der Losung melius mori quam servire vgl. neben dem „Tod oder Sieg"-Gedanken bei Lampert von Hersfeld (dazu DIEFFENBACHER S. 76, HAINER S. 89) besonders die Schlachtermahnung des Bretonen Vurfand bei Regino von Prüm a. 874: Melius nobiliter mori, quam ignominia vitam servare; neque enim salus est in multitudine, sed potius in Deo. (Chronik S. 107). Der wörtliche Anklang an die Worte Ottos I. auf dem Lechfeld bestärkt die ältere Vermutung, daß Widukind einiges aus Reginos Werk gekannt habe (vgl. BEUMANN 1950 S. 29 f.). Zu den sich bei beiden Geschichtsschreibern z. T. berührenden Vorstellungen über jortuna, virtus, Providentia Dei, hegemoniales Vielvölkerkönigtum und Romkaisertum vgl. BEUMANN 1950 S. 123 ff., 236 ff. und LÖWE 1952—61 passim, zu dem vergleichbaren Einfluß altheroischer Adelsethik und gewisser epischer Züge der „Heldensage" HAINER S. 39 ff., 109 ff., B E U M A N N 1 9 5 0 S . 5 1 ff., L Ö W E 1 9 5 2 — 6 1 S . 9 5
238
ff.
Discordia ist auch in den Mathildenviten ein Hauptstichwort der dynastischen Krisenerfahrung. Zu pax und discordia in Widukinds Werk BEUMANN 1950 S. 213 ff. und oben Anm. 158.
Das herrschaftstheologische Heiligungsideal in Odilos Adelheid-Epitaphium
41
Sieg zum notwendigen Telos aller Kampfgefahren, das Heil zum Telos jeder N o t schlechthin.239 Das bedeutet andererseits, daß das Wesen der göttlichen Gnadenwirkung in dem errungenen Sieg, Frieden und Heil gerade angesichts des vorangehenden menschlichen Noterlebnisses erst im vollen Ausmaß zu ermessen ist. Darin zeichnet sich eine „Gottes-Gnaden"-Vorstellung ab, die im Unterschied zu der spätantiken und absolutistischen „Gottesgnadentum"-Vorstellung 2 4 0 das h e r r s c h e r l i c h e O h n m a c h t s b e w u ß t s e i n und eo ipso das Bewußtsein von der allein entscheidenden göttlichen Ubermacht konstitutiv einschließt. Diesen Gedanken der „Rettung aus der N o t " hat man bislang bei der Frage nach dem frühmittelalterlichen „Gottesgnadentum" wenig berücksichtigt und stattdessen vor allem immer wieder Züge eines archaischen Erfolgsdenkens betont, sowohl im Hinblick auf die vorchristlichen Charisma-Vorstellungen wie im Hinblick auf den kirchlichen Idoneitätsgedanken. 241 Unsere Untersuchungen gelten demgegenüber jenem spezifisch christlichen „Gottes-Gnaden"-Gedanken, der den Herrscher in persönlichen und allgemeinpolitischen Krisensituationen die „Not-Wendigkeit" der göttlichen Hilfe erfahren läßt. Kein geringeres Zeugnis als die „Reichskrone" versinnbildlicht mit der Hiskia-Bildplatte den Typus des Königs, der die Gnade erwirken konnte, durch Gottes ungewöhnlichen Ratschluß eine Errettung vom drohenden Tode und eine exemplarische Verlängerung seines Lebens zu gewinnen. Am Ende unseres Untersuchungsganges wird über die allgemeine Heilsidee, die darin zum Ausdruck kommt, noch näher zu sprechen sein. Um die Tragweite der in Widukinds Werk dargelegten „Gottes-Gnaden"-Idee von vornherein nicht zu unterschätzen, sei schon jetzt darauf aufmerksam gemacht, daß gerade Widukinds bedeutendste Nachricht einer N o t - und Heilserfahrung Ottos I., der für das Jahr 958 im signum crucis gedeuteten Lebenskrise, in einem unmittelbaren geistigen Zusammenhang mit der Hiskia-Platte zu sehen ist; spricht doch alles dafür, daß die Kronenplatte, die die 15jährige Lebensverlängerung des alttestamentlichen Königs Hiskia thematisiert und wörtlich auf einem Schriftband zitiert, nach dem Tode Ottos I. (15 Jahre nach jener „Todeskrankheit" von 958!) als ein direktes Exemplum für den „großen O t t o " konzipiert worden ist. 242
2. D A S H E R R S C H A F T S T H E O L O G I S C H E H E I L I G U N G S I D E A L IN ODILOS ADELHEID-EPITAPHIUM
a) Zur Neuedition durch Herbert Paulhart Die Neuedition des „Epitaphium domine Adelheide auguste" Odilos von Cluny durch Herbert Paulhart (1962) fußt gegenüber der letzten kritischen Ausgabe von Georg Heinrich Pertz (1841), die sich auf zehn Handschriften aus drei 239
BEUMANN 1950 S. 90 kennzeichnete die pax damit, daß Widukind sie „meist als siegreichen Frieden" verstehe. In der Tat gehört die Mühsal des Kampfes und der Krisenüberwindung zu W.s Vorstellungen vom ottonischen Gottesgnadentum wesentlich hinzu.
240
V g l . ENSSLIN.
241
Vgl. die oben Anm. 75 und 77 genannte Literatur. Vgl. dazu unten Kapitel IV, 2, a S. 213 ff.
242
42
Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
Uberlieferungsgruppen stützte, 243 auf sechs weiteren Handschriften, darunter einer frühen des 12. Jahrhunderts (S l) 244 , mit deren Hilfe Paulhart vor allem eine ursprünglichere Kapiteleinteilung gewinnen konnte: 245 das Exordium gliederte er neu auf in Widmungsbrief und Prolog, und beide hob er ab von den 22 Kapiteln der eigentlichen Erzählung (29, 7 ff.). 2 4 6 Damit ist eine neue Grundlage geschaffen für eine noch immer ausstehende Analyse des schmalen Werkes, das Odilo in der Frühzeit seines Abbatiats zum rühmenden Gedächtnis der persönlich verehrten Kaiserin Adelheid verfaßte. Die im Epitaphium von Odilo selbst immer wieder versicherte Nähe seiner selbst wie seines Vorgängers Majolus zu Adelheid 247 macht dieses Schriftstück, das sich der Autor zum Vortrag vor Königinnen und Kaiserinnen wünschte (27,13 ff.), zu einem authentischen Denkmal der hofnahen Geisteswelt Clunys um die Jahrtausendwende. Die Frage nach der Abfassungszeit, die man allgemein „kurz nach Adelheids T o d " (16. Dezember 999) ansetzt, 248 ist zunächst dahin zu beantworten, daß ein in der älteren Forschung so beliebtes Urteil wie das der „Unmittelbarkeit der Darstellung" im Sinne eines angeblich sichtbaren „persönlichen Erlebens" des Autors 249 als kritisches Argument zumeist problematisch ist, weil eine solche Betrachtung die nicht selbstverständliche Annahme einer vom Mittelalter bis in die Neuzeit gleichgebliebenen menschlichen Erlebnis- und Ausdrucksfähigkeit voraussetzt. Ein nicht psychologisch, sondern stilistisch verstandenes Kriterium der „Unmittelbarkeit" im Sinne eines unverwechselbaren persönlichen Stils und im Gegensatz zu topisch-formaler Stilisierung ist dagegen von vielen Faktoren der literargeschichtlichen Tradition abhängig, die jeweils an erster Stelle zu erörtern wären. Im Falle des Adelheid-Epitaphium schränkt sich zudem die vermeintliche Nähe der Abfassung zum Tod der Kaiserin im Jahre 999 dadurch ein, daß Adelheids „prophetische" Klage über den zukünftigen Untergang Ottos I I I . und vieler seiner Gefährten in Italien und die „prophetische" Hoffnung, daß sie selbst dieses Unglück nicht mehr erleben möge (40,22 ff.), für Odilo doch wohl erst nach Ottos I I I . wirklichem Tod in Italien möglich und sinnvoll gewesen sind. Dieser terminus post ist in der Forschung bislang fast ganz unberücksichtigt geblieben.250 243 244
SS 4 S. 633 ff. PAULHARTS Edition wird im folgenden auch im Text mit einfacher Seiten- und Zeilenangabe zitiert; vgl. die Besprechung VON DEN STEINENS (HZ 199, 1964 S. 226 f.) und zu Odilo jetzt HOURLIER.
245
PAULHART 1 9 6 2 S. 1 7 u n d 2 1 .
246
PAULHART 1 9 6 0 .
247
S. 33, 3 ff.; 34, 7; 36, 19; 41, 13 ff.; 42, 8.
248
V g l . PERTZ S S 4 S. 6 3 4 , 4 2 ff., RINGHOLZ 1 8 8 5 S. 6 3 , MANITIUS 2 S. 1 4 0 , ERDMANN 1 9 4 3 S. 4 3 4 ,
HUG, Quellenverzeichnis s. v. „Adelheid", PAULHART 1962 S. 9 f., VON DEN STEINEN (wie oben Anm. 244) S. 227. — Merkwürdig die Datierung des Epitaphium auf 1039 bei MÜTHERICH S. 61. 248
PAULHART 1962 S. 9. Die gleiche psychologische Argumentation werden wir im Falle der Versus Leos von Vercelli zurückzuweisen haben (vgl. unten S. 176 f.). — Zur Topik antik-frühdiristlicher Konsolations- und Epitaphium-Tradition WINTER S. 3 ff. und FAVEZ S. 23 ff.
250
Die einzige mir bekannte Ausnahme bildet die entsprechende Datierungsvermutung bei STOECKLE Anm. 429. Mit dem neuen Datierungsvorschlag korrigiert sich eine von der alten Frühdatierung abhängige Stelle in der Übersetzung bei HÜFFER - WATTENBACH S. 4. Die Bemerkung propter rem noviter inceptam (S. 28, 12), mit der Odilo einem möglichen Tadel an seinem
Das herrschaftstheologische Heiligungsideal in Odilos Adelheid-Epitaphium
43
Da im Epitaphium ferner jeder Hinweis auf den Herrschaftsantritt Heinrichs II. fehlt, wird der Zeitraum zwischen Ottos III. Tod am 23. Januar und der Mainzer Krönung Heinrichs II. am 6. ¡7. Juni 1002 als die wahrscheinlichste Abfassungszeit gelten müssen. Die neugewonnene Summenzahl von 22 Kapiteln führte Paulhart auf Odilos Wertschätzung des Hieronymus, im besonderen auf die Kenntnis von dessen „Praefatio in libros Samuel et Malachiam" zurück, in welcher Hieronymus über den Litteralsinn der 22 reflektiert.251 Für eine Analyse der gesamten Epitaphium-Thematik ist man allerdings Odilos erklärter Orientierung an den Frauennekrologen des Hieronymus (28,19 ff.) bislang noch zu wenig nachgegangen, obwohl hier eine erhebliche, teils unmittelbare, teils umdeutende Abhängigkeit vorliegt, die wir von unserer spezifischen Fragestellung aus nur in begrenztem Rahmen berühren können. Eine thematische Dreiteilung der Schrift nach dem allgemeinen Schema der Sueton-Biographien: „Abstammung und Jugend", „Höhe des Lebens der Kaiserin" und „Krankheit, Ende und Abgang", wie sie Paulhart vorgeschlagen hat,252 würde zu einer erheblichen Ungleichheit der jeweiligen Abschnitte führen, wenn man von einem vorbereitenden „Jugend-Abschnitt" und von e i n e r „Höhe des Lebens" überhaupt sprechen will, nachdem schon im dritten Satz des ersten Kapitels der erste frühe Witwenstand Adelheids zur Sprache kommt und sich ihre weitere Lebenskurve in einem noch näher zu diskutierenden mehrfachen Auf- und Abstieg fortentwickelt. Der Vorblick auf Adelheids Tod beginnt außerdem schon im zehnten Kapitel und erfüllt von hier an eine leitmotivische Funktion.253
stilus pauper rhetorisch zu begegnen sucht, wird statt „wegen des v o r s c h n e l l angegriffenen Stoffes" doch wohl als alter Aufmerksamkeitstopos (vgl. LAUSBERG § 270) und vor allem im Sinne der von Hieronymus mehrfach variierten Wendung rem novam loquar (ep. 55 Kap. 5, LETTRES B d . 3 S. 4 8 , 2 7 , H i n w e i s PAULHARTS S. 2 8 A n m . 5 ; e p . 7 7 K a p . 1, B d . 4 S . 4 0 , 1 1 ; e p . 1 2 3
Kap. 1, Bd. 7 S. 74, 3; ep. 127 Kap. 5, Bd. 7 S. 140, 27 f.) wörtlich zu übersetzen sein: „wegen des e r s t m a l s aufgegriffenen Stoffes". 251
MPL 28 Sp.593 ff., dazu PAULHART 1960 S. 247 ff. Die Annahme, daß Odilo diese Praefatio des Hieronymus gekannt habe, bestätigt sich über die allgemeinen Erwägungen PAULHARTS hinaus insofern, als Hieronymus in jener Praefatio, in der er die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets in unmittelbaren Sinnbezug zu verschiedenen Buch- und Kapitelverhältnissen des Alten Testaments setzt, auch das in 22 Kapitel gegliederte „Carmen de muliere forte" aus der zweiten Hälfte des letzten Salomo-Spruches (Prov. 31 Kapitel 10—31) erwähnt (a. a. O. Sp. 597) und als Odilo im vierten Kapitel des Adelheid-Epitaphium den Kern dieses Carmen (Kapitel 20—29) als sein bei weitem längstes Bibelexzerpt zitiert.
M>
PAULHART 1962 S. 12. Einen begründeteren Dreigliederungsversuch findet man schon bei PERTZ S S 4 S. 6 3 4 A n m . 2 — 4 ,
RINGHOLZ
1885
S. 6 2 f. u n d
MANITIUS B d . 2 S . 1 4 0 :
Kapitel
1—8
( = Edition PAULHART 1—8 einschließlich Vorrede): Lebensschicksale; Kapitel 9—12 ( = Ed. P. 9—11): Gute Werke; Kapitel 13—23 ( = Ed. P. 12—22): Letztes Lebensjahr. Letzte Reise. Vgl. unten S. 44 unsere eigene vereinfachende Zweiteilung der Schrift. Um unseres Hauptthemas willen verzichten wir auf eine Differenzierung der zweiten Werkhälfte, obwohl Adelheids Stationenreise im letzten Lebensjahr als Pendant zu der Reise der hl. Paula, von der uns Hieronymus in deren Epitaphium berichtet (vgl. unten Anhang II Nr. 8 und 9), eigene Aufmerksamkeit verdient. 253
Vgl. unten Anm. 275.
44
Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
Warum schließlich die Martinsvita des Sulpicius Severus eine A u f b a u Vorlage gewesen sein könnte, wird von Paulhart nicht näher erläutert. 254 Während Paulhart ferner das Epitaphium als eine „Lebensbeschreibung" der Kaiserin betrachtete, mit welcher Odilo „ein geschlossenes und überzeugendes Bild von ihrem Lebensweg" entwerfe, 255 bemerkte von den Steinen zutreffend: „Epitaphium = Nachruf nannte Odilo von Cluny mit Recht den Gedenkaufsatz . . . An eine eigentliche ,Lebensbeschreibung' (wie man die Schrift gewöhnlich nennt) hat er nicht gedacht; er ordnet seine wenigen biographischen Angaben, wie bei Nachrufen üblich, dem Zwecke der Ehrung unter. Insonderheit stellt er Adelheid als eine Heilige hin." 256 Welches Gewicht Odilos panegyrisch-heiligender Nachruf nun für unsere Frage nach der literarischen Spiegelung der herrschaftsgeschichtlichen Krisenerfahrung und des Herrschertodes besitzt, soll eine kursorische Thema-Analyse erweisen. Die verkürzte Perspektive, in der die von Adelheid erlebte, zum Teil tatkräftig mitbestimmte ottonische Haus- und Reichsgeschichte während eines halben Jahrhunderts vor Augen geführt wird, verdient deswegen grundsätzlich unsere Aufmerksamkeit, weil über den „Epitaphium"-Charakter als solchen und über den schon angedeuteten kürzlichen Tod Ottos III. hinaus vor allem Adelheids Erlebnis der Todesfälle ihrer beiden Gemahle und ihres kaiserlichen Sohnes im ersten Teil des Werkes starke Akzente setzt. Wir wollen diesem ersten dynastiegeschichtlichen Teil der Schrift (Kapitel 1—8/9) zunächst beschreibend nachgehen, sodann seinen herrschaftstheologischen Hintergrund zu erhellen versuchen und schließlich das Frömmigkeitsideal, das Odilo im zweiten Hauptteil des Werkes am Beispiel seiner Kaiserin entfaltet (Kapitel 10—22), gegen den hagiographischen Einfluß des Hieronymus abgrenzen. b) Die zäsurbildende Funktion der Herrschertode in der Biographie Adelheids Das erste Kapitel skizziert einleitend Adelheids Abstammung von einem „königlichen und frommen Geschlecht",257 ihre „durch die Gnade Gottes erlangte königliche Vermählung" mit Lothar von Italien, die Heirat ihrer Tochter Emma mit dem französischen König Lothar und das Ende von deren nach dem ersten eigenen Regierungsjahr kinderlos verstorbenem, „mit königlichem Zeremoniell" bestattetem Sohn Ludwig V. (dem letzten französischen Karolinger), schließlich den frühen Tod von Adelheids Gemahl Lothar selbst; — ein knapper genealogischer Abriß der italisch-französischen Familiengeschichte also, dessen Funktion es ist, den ersten „königlichen" Lebenskreis Adelheids zu umreißen und einzugrenzen; 254
255
PAULHART 1 9 6 2 S . 1 2 .
Ebd. S. 13. SSA V O N D E N STEINEN (wie oben Anm. 244) S. 227. 257 S. 29, 7 ff.: Hec regio ac religioso stemmate orta cum adhuc esset iuvencula et sextum decimum etatis sue ageret annum, Deo donante adepta est regale matrimonium, iuncta scilicet regi Lothario Hugonis ditissimi regis Italici filio. Ex cuius contubernio filiam habuit, ex qua Lotharius rex Francorum Ludouicum regem genuit, qui sine liberis mortuus regio more Compendio dinoscitur fuisse sepultus.
Das herrschaftstheologische Heiligungsideal in Odilos Adelheid-Epitaphium
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dem dient sowohl der Vorblick auf den Tod ihres Enkels wie das klare Wort über die Auswirkung des Todes ihres Gemahls Lothar: Lothario ... defuncto remannt ipsa viduata viro, privata regno, destituta maritali consilio. (30, 1 ff.) Adelheids königlichen Lebenskreis haben wir damit verlassen. Odilo fährt fort: Affuit ei persecutio mordax, que solet pur gare electos veluti aurum fornax (30, 3 f.) (Sap. 3, 6), ohne vorerst zu klären, um welche Verfolgung und Vertreibung aus dem Regnum es sich handelt. Nicht um eigener Schuld willen sei eine sogar körperlich spürbare Läuterungsprüfung über die Königin gekommen, sondern dank der göttlichen Vorsehung, die die jugendliche Witwe vor incentiva carnis libido (30, 8) habe bewahren wollen. Bedeutungsvoller als diese auf Hieronymus zurückweisende moralische Begründung 258 ist, wie noch zu zeigen sein wird, das folgende Argument: Castigat Dominus omnem filium quem recipit (Hebr. 12, 6). Adelheid habe später, so schreibt Odilo weiter, Gott vielfach d a f ü r gedankt und den Familienangehörigen oft erzählt: quanta et qualia tunc temporis passa fuerat et quam misericorditer eam Dominus de manibus inimicorum suorum liberaverat (30,13 ff.). So teilt sich das erste Kapitel einerseits in die knappe und starke Betonung der k ö n i g l i c h e n Herkunft und frühen Würde, andererseits in die mehr als doppelt so lange Würdigung der dem Tod des Gemahls Lothar folgenden passio Adelheids. Die Darstellung dieses Leidens erschöpft sich zunächst in allgemeinen moralisch und theologisch deutenden Worten. Es kommt Odilo nicht so sehr auf die historische Realität als vielmehr auf die Heilsbedeutung des harten Schicksalsschlages an. Die passio der Königin wird im wesentlichen als Prüfungszeit der Auserwählten verstanden. Erst das zweite Kapitel berichtet, welche tatsächlichen Leiden Adelheid habe ertragen müssen. Nach dem Rückanschluß Postquam enim mortuus est Lotharius. vir eius... (30,18) 259 spricht Odilo von dem Gegenkönigtum Berengars II., der ohne weitere historisch-politische Reflexionen zum persönlichen Peiniger Adelheids verteufelt wird: innocens capta, diversis angustiata cruciatibus,280 capillis cesarie detractis, pugnis frequenter exagitata et calcibus, una tantum comite famula ad ultimum tetris inclusa carceribus; liberata divinitus, postmodum ordinante Deo imperialibus est sublimata culminibus. (30, 20 ff.)
258
259 260
S T O E C K L E Anm. 434 hat zu der Wendung incentiva carnis libido auf Hieronymus ep. 123 hingewiesen (Ad Geruchiam de monogamia, vgl. bes. Kap. 10, Lettres Bd. 7 S. 84, 29 carnis incentiua). Die Kenntnis dieses Briefes läßt sich auch deswegen voraussetzen, weil Odilo im folgenden gleich zweimal 1. Tim. 5, 6 (vivens vidua in deliciis mortua) zitiert (S. 30, 9 und 30, 16), ein Zitat, dem wir bei Hieronymus a. a. O. S. 76, 4 f. begegnen; zu weiteren Parallelen zwischen beiden Schriften vgl. oben Anm. 250, unten Anm. 280 sowie Anhang II Nr. 2 und 5. S T O E C K L E S. 100 weist mit Recht darauf hin, wie wenig Hieronymus' Warnung vor einer zweiten Heirat der jungen Witwe Geruchia in eine Adelheid-Biographie paßt. Zur Parallele im Paula-Epitaphium vgl. unten Anhang II Nr. 5. Schon der Ausdruck cruciatibus könnte einen christomimetischen Leidenshinweis beinhalten. Vgl. weiter unten vor Anm. 263 und Anhang II Nr. 7.
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Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
Der märtyrerhaften Erniedrigung der Königin stellt Odilo scharf kontrastierend den Vorblick auf ihre glückliche Flucht und Erhöhung zur deutschen Kaiserin gegenüber — immerhin ein erheblicher historischer Sprung. Ebenso allgemein und unanschaulich wie zum Beginn der persecutio leitet Odilo zu ihrem Ende über, und es scheint ihm in erster Linie darauf anzukommen, in der sublimatio zum Kaisertum die vorangestellte Leidensdeutung (Sap. 3,6; Hebr. 12,6) zu bestätigen. Im Mittelpunkt der folgenden Erzählung über Adelheids Fludit steht die in biblischem Bezug gesehene Szene ihrer Bewirtung durch einen piscator, — sicut ipse, a quo mittebatur ... Christus (31,14 f.)261 —, der die durch Tage und Nächte ohne Nahrung gebliebene Königin mit Fischen und Wasser stärkt. Erst das dritte Kapitel spricht in knappen Andeutungen von der tatsächlichen Rettung Adelheids mit Hilfe „eines gewissen Geistlichen" und durch „ein Heer" auf „eine gewisse uneinnehmbare Burg" (31,22 ff.), um darauf in stärkster Raffung um so hymnischer noch einmal die Erhöhung Adelheids zur Kaiserwürde zu rühmen: Postea enim consultu Italicorum principum preveniente gratia Dei de solio regni ad arcem pervenit imperii. Hec enim augustarum omnium augustissima nominari et venerari est digna ... (32,1 ff.). Es folgt eine Strophe über Adelheid als einzigartige Mehrerin des Reiches und als eigentliche Kaisermacherin Ottos I. in Rom. Das vierte Kapitel fügt dem Hymnus auf das hohe Geblüt (nobilitas carnis) in stark rhythmischen Sätzen und mit einem umfangreichen Zitat aus dem Carmen de muliere forti (Spr. 31,20 ff.) das Lob der nobilitas mentis hinzu, am Ende in biblischer Prophetie den Ruhm der multorum imperatorum genitrix (33,9), die ihre Kindeskinder bis ins dritte Glied sehen sollte (Tob. 9,11). Mit dem Selbstzeugnis Hec enim, que de ea dicimus, non modo auditu, sed et visu et experimento cognovimus (33, 3 f.) bekräftigt Odilo seine Laudatio der auf den Gipfel irdischer Größe gelangten Adelheid. Halten wir an dieser Stelle inne. Die historische Substanz, die die ersten vier Kapitel umspannen, ist in wenigen Fakten verdichtet: Adelheids Vermählung mit Lothar von Italien und die mit Ludwig V. endende italisch-französische Familiengeschichte, die viermonatige Gefangenschaft nach Lothars Tod und Berengars Thronusurpation262 sowie die geglückte Flucht im Jahre 951, schließlich der gemeinsame Weg mit dem zweiten Gemahl zum römisch-deutschen Kaisertum, womit sich übrigens dessen Lebens- und Herrschaftsgeschichte und also auch Adelheids Mitregentschaft an der Seite Ottos I. erschöpfen. Das fünfte Kapitel setzt schon mit Ottos Tod ein! 261 262
Zur Parallele im Paula-Epitaphium s. unten Anhang II, 7. HIESTAND S. 204 über Adelheids Designationsrecht und den dadurch bedingten Usurpationscharakter des Königtums Berengars II. Vgl. andererseits BÜTTNER 1962 S. 6 1 : „Primär für die Begründung des Königtums in Italien aber waren bei Otto I. die Eroberung und Besitznahme der wichtigsten Gebiete und Plätze Oberitaliens, nicht etwa die Heirat und die mit ihr wahrscheinlich verbundenen Erbgesichtspunkte."
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Im Mittelpunkt der Königs- und Kaiserjahre Adelheids steht der Wendepunkt des Jahres 951 (de solio regni ad arcem imperii). Der italische Königsthron repräsentiert die mit dem Enkel aussterbende italisch-französische Linie, der Kaiserthron biblisdien Segen, — obwohl doch auch die ottonische Sohnes- und Thronfolge im dritten Glied enden sollte! Der in den leuchtendsten Farben ausgemalte Aufstieg zur ersten Dame des ottonischen Kaiserhauses bzw. gar zur Kaisermacherin selbst kontrastiert — und darauf kommt es Odilo offensichtlich entscheidend an — eindrucksvoll mit der drastisch veranschaulichten persecutio mordax, die Adelheids Schicksalswende kennzeichnet und die Odilo als den Passio-Weg der Gotterwählten deutet. Den christomimetischen Heilscharakter dieser schicksalhaften passio-sublimatio Adelheids deutet Odilo nicht nur durch das Wort aus dem Hebräerbrief an, das dem Zitat Spr. 3, 12 (Quem enim diligit Dominus corripit et quasi pater in filio suo complacet) in den herrschaftstheologischen Legitimationsvorstellungen der jüngeren Mathildenvita, Adalbolds und Wipos zu vergleichen ist,263 sondern auch durch die sinnbildliche Fischerszene. Betrachten wir nunmehr die nächsten Erzählabschnitte. Im fünften Kapitel lesen wir nach dem Einleitungssatz Postquam enim augustissimus Otto universe carnis ingressus est viam, augusta cum filio Romani imperii feliciter diu gubernavit monarchiam (33, 13 ff.), daß trotz des glücklichen Beginns bald discordiae zwischen der Kaiserin und ihrem Sohn gesät worden seien und eine neue Leidenszeit für Adelheid begonnen habe: Si commendaremus litteris, quanta et qualia passa fuerit tunc temporis, derogare videremur speciem tanti generis (33, 18 ff.). Mit wörtlichen Parallelen zum ersten Erzählabschnitt (Postquam enim mortuus est Lotharius . . . 30,18; quanta et qualia tunc temporis passa fuerat... 30,13) folgen also auch nach dem Tode des zweiten Gemahls für Adelheid vielfache passiones. Während ihr beim erstenmal das italische Regnum zwangsweise genommen wurde, verläßt sie diesmal von sich aus, „dem Zorne Gottes Raum gebend" (33, 22), das eigene Reich, um sich von ihrem Bruder in Burgund ehrenvoll aufnehmen zu lassen. Das sechste Kapitel bringt die Versöhnung des reuevollen Otto II. und der verzeihenden Mutter. In gegenseitig tiefer Prostration begrüßen sich beide in Pavia und bleiben fortan in „dauerndem Frieden" verbunden. Uber den historisch-politischen Hintergrund der hier berichteten Entzweiung zwischen Kaiser und Kaiserinmutter erfahren wir wiederum nichts. Man hat vermutet, daß die Auseinandersetzungen zwischen Otto II. und Lothar von Frankreich, Adelheids Schwiegersohn, den eigentlichen Anlaß gegeben haben.264 Wichtiger ist in unserem Zusammenhang die Erzählung der Entzweiung und Versöhnung als solche, mit der sich Odilos Nachrichten zur gesamten Regierungszeit Ottos II. erschöpfen. Obwohl die Spannungen und zeitweilig starken Entfremdungen zwischen Mutter und Sohn wohl auch auf vermögensrechtliche Differenzen in der Frage der Wittumsverwaltung seit dem Tod Ottos I. zurückzu263
Vgl. oben S. 45 sowie unten S. 241 Anm. 341.
SM
K . U H U R Z S . 1 1 0 A n m . 2 0 , F . E R N S T i n GEBHARDT B d . 1 S . 1 9 4 .
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Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
führen sind, 265 sieht Odilo die zweite Phase der passio und Rehabilitierung Adelheids nicht in einem so zwingenden Zusammenhang mit dem Herrschertod wie die erste passio-sublimatio nach dem Tode Lothars von Italien. Erst in einer dritten Situation wiederholt sich unter neuen Bedingungen noch einmal der erste Fall: eine neue passio als direkte Folge des neuen Herrschertodes (Ottos II.). Wie das zweite und f ü n f t e Kapitel setzt das siebente ein mit der Todesnachricht: Non post multum vero temporis único orbata filio, cui successit tertius ex Greca genitus Otto. Igitur (!) recidivis diu afflicta verberibus, non possumus enarrare per singula, quot et qualia post mortem filii sibi successerunt incommoda (35, 1 ff.). Die neuerliche Variation der aus den beiden ersten Fällen bekannten passio-Yorme\ quanta et qualia passa fuerat unterstreicht das Typushafte der D a r stellung, und Odilo hat die recidiva verbera zweifellos im Sinne des ersten Kapitels (verbera Domini 30, 8) als eine neue gottgewollte Prüfungszeit betrachtet wissen wollen. Es geht diesmal um die Spannungen zwischen Adelheid und ihrer kaiserlichen Schwiegertochter Theophanu, 266 die Odilo in einer f ü r ihn sehr ungewöhnlichen Polemik illa imperatrix Greca apostrophiert (35,4). Er begründet die Kränkungen, die Adelheid habe ertragen müssen, diesmal mit Theophanus persönlicher Herrschsucht und schreibt „der Griechin" das häßliche Wort zu: Si annum integrum supervixero, non dominabitur Adalheida in toto mundo, quod non possit circumdari palmo uno (35, 7 ff.). Durch Gottesurteil sei Theophanu binnen vier Wochen mit ihrem eigenen Tode bestraft worden: Greca imperatrix ab hac luce discessit, augusta Adalheida superstes felixque remansit (35, 10 f.). Zum drittenmal ist Adelheid nach einer Zeit der Demütigung als augusta rehabilitiert, deren Sorge der Staat dringend bedurft habe und durch deren Verdienst Otto III., unterstützt von den Reichsfürsten, die Kaiserwürde erlangt habe (35,13 ff.). c) Adelheids passio-sublimatio-Sdiicksa.1 als Form dynastiegeschichtlicher Herrschaftsheiligung In drei Abschnitten, jeder von der Nachricht eines Herrschertodes eingeleitet, erzählt Odilo aus Adelheids Leben drei Episoden während der Regierungszeiten der drei ersten Ottonen, in denen die Herrscherin jeweils eine Phase schwerer Bedrängnis und Rangeinbuße habe erleiden müssen, ehe sie als Hauptstütze der römisch-deutschen Reichsherrschaft anerkannt worden sei und in zwei Fällen gleichsam als „Kaisermacherin" habe wirksam werden können. Sehen wir von der freundschaftlich verehrenden Überhöhung des AdelheidBildes vorerst ab und stellen wir zunächst die Gegenfrage, in welchem Maße Odilos Darstellung der K r i s e n - Situationen den tatsächlichen Vorgängen gerecht wird. Man kann kaum sagen, die drei passiones seien gänzlich erfunden. An Adelheids Gefangenschaft bei Berengar ist nicht zu zweifeln, ebenso verbürgt sind ihre Aufenthalte bei ihrem Bruder in Burgund (u. a. in den kritischen Jahren 978 265
V g l . M . UHLIRZ 1 9 5 7 S. 9 3 .
268
V g l . M . U H L I R Z 1 9 5 4 S. 4 1 f., 8 5 , 1 0 5 , 1 4 1 f., D I E S . 1 9 5 7 S. 9 4 f .
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bis 980) und das mehr oder weniger offene Ringen zwischen ihr und der Schwiegertochter Theophanu um die persönlichen Nutzungsrechte an Reichsgut und Fiskus.267 Jedoch muß Odilos einseitige Akzentuierung dieser Widerstände, die Adelheids herrscherlicher Gestalt innerhalb jeder der drei ottonischen Regierungsperioden zeitweise entgegenstanden, auffallen, um so mehr, als Odilo von allen Zeitgenossen wohl die dramatischsten Züge überliefert. Gerade dieses Bild hat, da Odilo seine Zeugenschaft oft genug beteuert, in der Forschung starkes Echo gefunden, obwohl man im einzelnen oft keine konkrete Anschauung von den tatsächlichen Umständen und politischen Hintergründen zu gewinnen vermag. 268 In welchem Maße Odilo der Erinnerung der alternden Kaiserin selbst auch immer gefolgt sein mag, als er die Licht- und Schattenzonen ihres Lebens in solch dramatischer Weise herausarbeitete, — daß hinter der literarischen Gestaltung des Nachrufs in dem bislang betrachteten reichsgeschichtlichen Abschnitt ein bestimmtes panegyrisch-heiligendes Beweisthema steht, gibt der Verfasser klar zu erkennen. Denn zu dem Gedanken der oben zitierten Bibelworte des ersten Kapitels (Weish. 3, 6, Hebr. 12, 6) kehrt Odilo im achten Kapitel mit einer Gruppe weiterer biblischer Worte abschließend zurück (35,20 ff.): 269 „Existimo enim, quod non sunt condigne passiones huius temporis ad superventuram gloriam, que revelabitur in nobis" (Rom. 8, 18). Et alio loco: „Si compatimur, et conregnabimus" (2. Tim. 2, 12). Et iterum: „Si fuerimus socii passionum, erimus et consolationis" (2. Kor. 1,7). Mit drei paulinischen Worten hebt Odilo die transzendentale Heilsgewißheit Adelheids hervor und deutet ihre irdischen passiones christomimetisch als Vorzeichen himmlischer Herrlichkeit und Mitherrschaft. Das hier formulierte Beweisthema: Adelheid a l s H e r r s c h e r i n z u h e i l i g e n und in ihren passiones das Vorzeichen ihres himmlischen conregnare mit Christus zu begreifen, ist eben dadurch vorbereitet, daß uns Odilo diesen Heiligungsweg durch passio zur herrscherlichen Höhe gleich dreimal konkret auf Adelheids Lebensbahn vor Augen führt. Erkennt man diese panegyrisch-heiligende Stilisierungsabsicht, so mag man vom positivistischen Standpunkt aus im gleichen Maße gegenüber dem sachlichen Gewicht der pdsiio-Nachrichten skeptisch gestimmt werden wie gegenüber den panegyrisch-heiligenden Überhöhungen des Herrscherinnen-Porträts, so eindrucksvoll es in seinen Grundzügen auch immer ist. Der Ertrag des Epitaphium liegt in der Tat nicht in erster Linie auf dem Felde der historischen Sacherzählung, sondern in seinem ideengeschichtlichen Gehalt.
267
V g l . M . UHLIRZ 1 9 5 7 S. 9 4 f.
268
Zur Berengar-Gefangenschaft vgl. das weniger dramatische Zeugnis Hrotsvits, Gesta Ottonis Vers 467 ff. S. 217 ff., allgemein KÖPKE - DÜMMLER S. 191; zum Burgund-Aufenthalt 978—980 K. UHLIRZ S. 111 Anm. 20 („Außerdem läßt Odilos Bericht trotz aller Übertreibung auf eine tiefer gehende und länger dauernde E n t f r e m d u n g schließen."), referiert von PAULHART 1962 S. 33 Anm. 6; kritisch gegenüber Odilos negativem Theophanu-Urteil M. UHLIRZ 1954 S. 141 f. D a ß Adelheid von Berengar „in unwürdiger A r t " behandelt worden sei, nimmt auch SCHLESINGER 1953 S. 57 f. an. Vgl. schließlich die Gesamtwürdigung Adelheids bei M. UHLIRZ 1957 S. 315.
209
Vgl. unten S. 53.
4
Frühmittelalterforschung 4
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Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
In dieser Hinsicht kann nun Odilos Nachruf ebensowenig wie die zeitgenössische Vita Mahthildis posterior dem Verdikt verfallen, die ottonische Reichsgeschichte sei hier schlechthin „hagiographisch" übertüncht. Das Epitaphium unterliegt in dem bisher betrachteten ersten Hauptteil durchaus einer echten herrschaftsgeschichtlichen Dimension. Die historiographische Hauptperspektive richtet sich nach dem Vorspiel des italischen Königtums auf die ottonische Dynastie und ihre römisch-deutsche Reichsherrschaft, nicht eigentlich auf das deutsche „Königtum". 270 Die ottonische Haus- und Reichsgeschichte steht dabei völlig im Erlebnisraum der Kaiserin. Die reichsgeschichtlichen Zäsuren der Herrscherwechsel bedeuten zugleich Hauptzäsuren in Adelheids persönlichem Lebensschicksal, derart, daß jeder der Todesfälle auf dem Thron, die das eigentliche historiographische Gerüst des ersten Hauptteils bilden, weniger in seinen historisch-politischen Auswirkungen auf die allgemeine Entwicklung des Reiches, sondern vornehmlich in seinen Folgen f ü r Adelheids persönliche Herrschaftsstellung beleuchtet wird. Den beiden passiones, die die Kaiserin jeweils als d i r e k t e Nachwirkungen eines Herrschertodes (Lothars und Ottos II.) treffen, folgt mit der persönlichen Rehabilitierung Adelheids im einen Falle Ottos I., im andern Falle Ottos I I I . Erhöhung zum römischen Kaisertum. Beide Male gilt Adelheids eigene Wiedererhöhung als die Voraussetzung der folgenden ottonischen Kaiserkrönung. Im Falle Ottos II. war eine solche Stilisierung deswegen nicht möglich, weil Otto II. schon zu Lebzeiten des Vaters die römische Weihe empfangen hatte; allein in diesem Falle stellt Odilo Adelheids passio auch nicht als eine unmittelbare Folge des Todes Ottos I. hin, sondern rühmt im Gegenteil die zunächst glückliche gemeinsame Reichsregierung der Kaiserin mit ihrem Sohn (33,14 f.), wobei übrigens der Eindruck geweckt wird, als habe Adelheid anfangs eine Vormundschaft bzw. eine dominante Mitregentschaft ausgeübt, die erst allmählich durch Intrigen — die neue passio — zunichte geworden sei.271 Die spätere Versöhnung verleiht dem Kaiser Otto II. durch das neue Band „dauernden Friedens" (34,15) zwischen ihm und der Kaiserinmutter in Odilos Augen zweifellos erst seine volle innere Legitimität. So erscheint das imperiale Gottesgnadentum aller drei Ottonen in einer starken Abhängigkeit von der Rangstellung Adelheids. Passio von ihr zu nehmen wird hier zur Hauptaufgabe des jeweiligen Throninhabers; eines jeden Herrscherleben erschöpft und erfüllt sich nach Odilos Darstellung in der Rehabilitierung Adelheids. Eine solche Kongruenz zwischen dem Wohlergehen des Reiches und dem der Kaiserin Adelheid bestätigt nur, wie sehr Odilo mit dem Wort ernstmacht, dank dem Wirken der augustissima sei das Reich weit und breit aufgeblüht: per eam res publica longe lateque valebat (27,15 f.). In Adelheid sieht Odilo das römisch-deutsche Kaisertum der Ottonen in hervorragendem Maße repräsentiert, und das Romane rei publice... venerabile decus (28, 5 f.) wird zum eigentlichen H o r t der ottonischen Reichsherrschaft und ihres Gottesgnadentums, während Gatte, Sohn und Enkel einander folgen: in270 271
Zu Odilos Reichsvorstellungen ERDMANN 1943 S. 433 ff. PAULHART 1962 S. 33 Anm. 3: „Von einer Vormundschaft oder Mitregierung Adelheids kann nicht die Rede sein, gemeint ist wohl ihre Einflußnahme auf Entscheidungen und ihre zahlreichen Interventionen bei Schenkungen"; vgl. dazu M. UHLIRZ 1957 S. 93 Anm. 32.
Das herrschaftstheologische Heiligungsideal in Odilos Adelheid-Epitaphium
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primis cum cesare, deinde cum filio et filii filio, Ottonum videlicet augustorum et cesarum, Deo annuente possederat regna . . . (36, 6 ff.). Das Erlebnis wiederholten Todes auf dem ottonischen Thron vertieft sich noch durch den frühen Verlust des ersten Gemahls wie durch den Vorblick auf das Ende der französischen Nachkommen in der dritten Generation und auf den Untergang des ottonischen Enkels in jener schon erwähnten, ex eventu von Odilo der Kaiserin in den Mund gelegten „prophetischen" Klage: Quid faciam, Domine, vel quid dicam de illo seniore nostro et nepote meo? Peribunt, ut credo, in Italia multi cum eo. Peribit post ipsos, ut timeo, heu misera, auguste indolis Otto, remanebo omni humano destituta solacio. Absit, o Domine, rex seculorum, ut videam superstes tarn lugubre dispendium (40, 21 ff.). In der Interregnumsituation nach Ottos III. allzu frühem Tode272 stellt Odilos Epitaphium einen Nachruf auf die ganze, durch Adelheids Familienbande bewahrte, italisch-ottonische Herrschaftstradition dar, und aus dem krisenvollen Entstehungsaugenblick der Schrift mag sich die starke retrospektive Akzentuierung der früheren Todesfälle und ihrer teils unmittelbaren, teils mittelbaren negativen Auswirkungen erklären. Zu der natürlichen Hochschätzung des einen kontinuitätstiftenden Lebenslaufes gesellt sich die schon erörterte panegyrisch-heiligende Stilisierungsabsicht Odilos. Indem er das ottonische Reichsschicksal weitgehend mit Adelheids persönlichem Lebensschicksal gleichsetzt und das Wohl des Herrscherhauses und des Reiches mit dem Wohl der augustissima — unterbrochen von den Zäsuren der Herrschertode — steigen und fallen sieht, rückt die gesamte ottonische Dynastieund Herrschaftsgeschichte in den Horizont des Heiligungsweges der passio-sublimatio Adelheids. Die Intention, Adelheids Lebensheiligung durch passio herrschaftst h e o l o g i s c h und insbesondere christomimetisch zu stilisieren, wird nachdrücklich durch die Wahl des paulinischen Wortes 2. Tim. 2,12 sichtbar, eines locus classicus der christlichen Herrschaftstheologie273, wobei hier das biblische sustinebimus noch durch das stärkere compatimur ersetzt ist: S i compatimur, et conregnabimu 5.274 Hinter diesem Zitat zeichnet sich ebenso wie hinter dem oben zitierten Paulus-Wort Hebr. 12,6 das christologische Herrschaftstheologumenon ab, das für das heilsgeschichtliche Kondominium mit Christus den christomimetischen Königsweg der passio-sublimatio voraussetzt. Diesen Heilsgedanken erkennen wir als das in Variationen wiederholte Darstellungsschema der ersten, dynastiegeschichtlichen Werkhälfte des Adelheid-Epitaphium.
272
Vgl. oben S. 43.
273
Vgl. SCHRAMM 1922—23 S. 199 f. mit Anm. 187 ( =
274
Die gleiche Formulierung begegnet in einer Predigt Odilos („De resurrectione Domini", M P L 142 Sp. 1008 B).
4*
Exkurs IV S. 222 ff.), jetzt DENS. 1966.
52
Krisen- u n d T o d e s e r f a h r u n g in der dynastisch g e p r ä g t e n H i s t o r i o g r a p h i e
d) Hagiographisches und herrschaftstheologisches Heiligungsideal — Zum Einfluß des Hieronymus Gibt Odilo in den ersten acht Kapiteln vor dem Hintergrund der ottonischen Generationenwechsel einen stilisierten Aufriß der Lebensgeschichte Adelheids als augustissima, so im folgenden vor dem Hintergrund ihres eigenen, immer wieder angekündigten Todes 275 ein Gemälde ihrer herrscherlichen Werkfrömmigkeit, die sich vor allem in aufopfernder Kloster- und Armenfürsorge verwirklicht habe. Um das angedeutete christologische Theologumenon der passio-sublimatio (sc. ad regnum Dei) vollständiger zu würdigen, in dessen Zeichen das Schicksal Adelheids und „ihrer" ottonischen Reichsherrschaft in der ersten Epitaphiumhälfte herrschaftstheologisch gedeutet wird, ist auch der zweite Teil der Schrift zu berücksichtigen, in dem der gleiche christusbezogene Heilsgedanke nun nicht als heiligende Schicksalserfahrung, sondern als tatkräftiger Frömmigkeitshabitus der Kaiserin veranschaulicht wird. Wir treten damit in den thematischen Umkreis ein, in dem der starke literarische Einfluß der Briefnekrologe des Hieronymus zu diskutieren ist und damit die Frage nach der geistesgeschichtlichen Abhängigkeit bzw. Selbständigkeit Odilos gegenüber dem Kirchenvater. Wenn man auch keinen einzelnen Brief als d i e Vorlage Odilos ansprechen kann, sind doch in einigen der von ihm selbst anfangs genannten Gedächtnisschriften des Hieronymus, allen voran im Paula-Epitaphium (28,20 ff.), durchaus unmittelbare Quellen zu ermitteln, so daß man nicht durchweg von einer „Unbestimmbarkeit im einzelnen" 276 sprechen muß. Trotzdem ist zu prüfen, ob die zahlreich nachweisbaren Textparallelen etwas an Paulharts Gesamturteil ändern, daß das Adelheid-Epitaphium „durchgehend hieronymianischen Geist atmet, ohne gehaltlose Kopie zu sein". Vielmehr ist gerade darauf zu achten, in welchem Maße sich das strenge monastisch-gesellschaftsfeindliche Askese-Ideal des Hieronymus überhaupt mit den Vorstellungen des rex Oydelo Cluniacensis verträgt, der, wie sein Zeitgenosse Adalbero von Laon vom bischöflichen Stuhl herab satirisch kritisierte, alle gesellschaftlichen Standes- und Rangunterschiede und selbst die alte prototypische Grenze zwischen irdischem Kriegsvolk und militia Christi (man denke an die Martinsvita des Sulpicius) in einer neuartigen, ja revolutionären Gesellschaftsform einer Mönch-Monarchie aufhebe. 277 Ganz abgesehen von den zahllosen einzelnen Textabhängigkeiten, für die im Anhang eine Reihe von Nachweisen gegeben wird, 278 zeichnet sich ein umgreifen275
S. 37, 1; 37, 18; 38, 2 7 ; 41, 1 1 ; 42, 15 ff.; 43, 7 f.
276
PAULHART 1 9 6 2 S. 11, hier auch das f o l g e n d e Z i t a t .
277
C a r m e n ad R o t b e r t u m Vers 115 S. 140. V g l . z u A d a l b e r o s Gedicht HOURLIER S. 82 f. u n d 2 1 4 ff. u n d LEMARIGNIER S. 7 9 ff. m i t A n m . 5 3 (freundliche L i t . - H i n w e i s e v o n H e r r n D o z . D r . Joachim Wollasch). Z u der schon seit O d o s A b b a t i a t sich e n t w i c k e l n d e n cluniazensischen A d e l s e t h i k u n d ideellen V e r s c h m e l z u n g v o n militia
Christi
u n d militia
saecuLtris
v g l . FECHTER S. 50 fF., bes. S. 79 f. z u
A d a l b e r o s Gedicht. 278 Vg[_
unten
A n h a n g II. D i e nachstehenden Z i t a t e f o l g e n stets d e m T e x t des A d e l h e i d - E p i t a -
p h i u m . D i e H i e r o n y m u s - B r i e f e w e r d e n mit B a n d - , Seiten- u n d Z e i l e n a n g a b e der A u s g a b e v o n LABOURT zitiert.
Das herrschaftstheologische Heiligungsideal in Odilos Adelheid-Epitaphium
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der religiöser Vorstellungshorizont für das Adelheid-Epitaphium und f ü r die N e krologe des Hieronymus schon allein durch charakteristische gemeinsame Bibelzitate ab, so verbreitet sie im einzelnen auch im hagiographischen Schrifttum sind. Rom. 8,18 (Existimo enim, quod non sunt condtgne passiones huius temporis ad superventuram gloriam, que revelabitur in nobis) und 2. Kor. 1,7 (Si fuerimus socii passionum, erimus et consolationis), die schon aus dem 8. Kapitel des Adelheid-Epitaphium herangezogen wurden, folgen in der g l e i c h e n Reihenfolge im 18. und 19. Kapitel des Paula-Epitaphium. 2 7 9 Im 16. Kapitel des Paula-Epitaphium und im 11. Kapitel des Fabiola-Epitaphium begegnet das von Odilo im 10. Kapitel aufgenommene Zitat Luk. 16,9 (pauperes Christi et servos sibi acquisivit amicos, ut cum temporalia deficerent, in eterna tabernacula eam reciperent 37,19 f). 280 Am Ende des 19. Kapitels lesen wir bei Odilo Rom. 7,24 (Misera ego homo, quis me liberabit de corpore mortis huius 43, 4 f.), ein Wort, das Hieronymus im 21. Kapitel des Paula-Epitaphium verwendet. 281 Am Ende des 20. Kapitels des Adelheid-Epitaphium (44, 5) hören wir vom sequere agnum (Apk. 14,4), worauf Hieronymus mehrfach, u . a . im Paula-Epitaphium (22. Kapitel) anspielt. 282 Auf Phil. 1,23 (Cupio dissolvi et esse cum Christo), von Hieronymus am Anfang des Paula-Epitaphium und im Nepotianus-Nekrolog zitiert, 283 sowie auf Ps. 8 3 , 3 . 1 1 (desiderans videre diem unum nescientem occasum in atriis Domini super milia), von Hieronymus im 28. Kapitel des Paula-Epitaphium aufgenommen, 284 treffen wir im Einleitungssatz des 21. Kapitels des Adelheid-Epitaphium (44,7 ff.). Alle genannten biblischen, vornehmlich paulinischen Worte, die Odilo im Paula-Epitaphium lesen konnte und seiner eigenen Schrift einfügt, sprechen von einer starken Erlösungssehnsucht, von der Hoffnung auf die Tröstungen des H i m mels nach den passiones dieser Welt, von der rechten Vorsorge f ü r die eterna tabernacula durch irdische Fürsorge für die pauperes Christi (37,19; 43,13). Das Ideal der christomimetischen caritativa compassio (40, 6) auf Erden wird von Odilo am Ende soweit gesteigert, daß er den Tod Adelheids praktisch zurückführt auf einen solchen, „bis zum Tode gehorsamen" (Phil. 2,8!), selbstlos erniedrigenden Armendienst, — übrigens an einem Anniversarientag ihres Sohnes: 279
Bd. 5 S. 182, 25 ff., 183, 7 f. Zu diesen beiden Stellen vgl. oben S. 49. Rom. 8, 18 wird auch in dem Odilo bekannten Hieronymus-Brief N r . 22 zitiert (Bd. 1 S. 157, 24 f.), w o etwas früher zu lesen ist: qui conmortuus est Domino suo et conresurrexit (S. 156, 7 f.). Vgl. von hier aus Odilos Si compatimur, et conregnabimus. Hieronymus zitiert schließlich a. a. O. S. 157, 8 f. auch das für Odilos Epitaphium so programmatische Wort Hebr. 12, 6, vgl. oben S. 47 v o r Anm. 263 und S. 49 vor Anm. 269.
280
Bd. 5 S. 179, 10 ff. und Bd. 4 S. 51, 6 f. Vgl. außerdem den v o n Odilo auch anderwärts zitierten Brief Nr. 123 Bd. 7 S. 79, 25 f. (vgl. oben Anm. 258).
281
Bd. 5 S. 188, 28 f.
282
Bd. Bd. Nr. Bd.
283
284
5 S. 189, 10 f., vgl. unten Anhang II Nr. 10. 5 S. 159, 27 und ep. 60 Bd. 3 S. 95, 23, vgl. auch den von Odilo mehrfach zitierten Brief 22 Bd. 1 S. 126, 3. 5 S. 197, 22 f.
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Krisen- und Todeserfahrung in der dynastisch geprägten Historiographie
Et oblita infirmitatis sue super vires temptavit aggredi, singulis manu propria tribuit... In ipsa enim nocte a febre corripitur et per aliquot dies ingravescente mole infirmitatis ad extremum usque deducitur ... ( 4 3 , 1 6 f f . ) . 2 8 5 Auch diese Stelle weist auf das Paula- und das Fabiola-Epitaphium zurück. 286 Der hieronymianische Erlösungsgedanke gipfelt in der verklärenden, nichtbiblischen adventus ¿mim^ie-Vorstellung, die Odilo aus den Fabiola- und BlesillaEpitaphien übernommen hat: feliciter deposito carnis onere evolavit ad purum purissimi etheris fulgorem (44,12 f.). 287 Man muß der Passionsfrömmigkeit und der in ihr wurzelnden sozial-religiösen pauperes C/;n5 íi-Theologie (caritativa compassio), der gesteigerten Himmelssehnsucht und der ihr entwachsenden Todesmystik des Hieronymus eine echte Resonanz innerhalb der cluniazensischen Religiosität und zumal bei Odilo, dem Initiator des Allerseelenfestes, zuerkennen. 288 Trotz dieser verbindenden Sehnsucht nach dem himmlischen esse cum Christo entfernen sich die Heiligungsideale des Hieronymus und Odilos in den Vorstellungen über die Möglichkeiten und Grenzen einer praktischen Imitatio wesentlich. Die Differenz läßt sich schlagend am Beispiel der Klostergründungen Paulas und des Hieronymus in Bethlehem auf der einen Seite und Adelheids und Odilos auf der anderen Seite darlegen, was zuvor noch einige allgemeine Bemerkungen zum hieronymianischen Frömmigkeitsideal erfordert. 289 Die Predigt der paupertas Christi vor den Ohren des traditions- und besitzstolzen spätkaiserlichen Senatorenadels Roms steht im Hintergrund des Epitaphium, in dem Hieronymus die vorbildliche Christusnachfolge der reichen und hochadeligen Römerin Paula in der freiwilligen Strenge und äußeren Armut des 285
HÜFFER-WATTENBACH übersetzen enim zu „aber". Das wäre eine Bedeutungsausnahme f ü r diese von O d i l o vielfach u n d stets kausal-konsekutiv („denn", „nämlich") gebrauchte K o n j u n k tion (vgl. z. B. S. 28, 17; 28, 20; 29, 4; 30, 12; 30, 15; 30, 18; 31, 4 usw.). Im zitierten Zusammenhang erscheint daher Adelheids Tod als eine Folge ihrer sozialreligiösen Selbstaufopferung — im Sinne der imitatio usque ad mortem (Phil. 2, 8). 28« Oblita sexus et fragilitatis corporeae Bd. 5 S. 176, 5 f., ähnlich ep. 77 Bd. 4 S. 49, 27 (vgl. unten A n h a n g II N r . 9). 287
S8S
Fabiola-Epitaphium Bd. 4 S. 51, 8 f., an dieser Stelle unmittelbar zuvor zitiert Luk. 16, 9 (vgl. oben nach A n m . 280) u n d etwas später A p k . 1 4 , 4 (vgl. oben vor A n m . 282); Blesilla-Epitaphium Bd. 2 S. 72, 25 f. — Vgl. die Vision des Sulpicius Severus über die Himmelsentrückung des hl. Martin, Libri S. 143, 1 ff. u n d zur adventus ««¿wae-Vorstellung unten S. 101 f. V g l . FECHTER p a s s i m , bes. S. 2 2 ff., 4 4 f., 6 0 ff. E . WERNER 1 9 5 3 S. 36 f f . h a t sich d e n s o z i a l -
religiösen Anspruch der frühmittelalterlichen Herrschaftsethik mit den erheblichen Sozialleistungen gerade des Hochadels, die dem Totengedächtniswesen primär entsprangen, entgehen l a s s e n . V g l . WOLLASCH 1 9 6 7 S. 4 1 4 m i t A n m . 5 1 . W a s b e s a g t b e i WERNER a . a. O . S. 8 6 A n m . 4 4 2
der angeblich „rein benediktinische" pauper-Begriff Odilos? Vgl. DENS. 1956 u n d demgegenüber BOSL 1963—64 S. 123: „Das Bekenntnis zu paupertas u n d humilitas (abiectio) hat n u r f ü r die einen w a h r e n Sinn, die realiter weder pauperes noch humiles sind; die hochmittelalterliche Armutsbewegung ist von den mächtigen u n d reichen Oberschichten g e t r a g e n . . . " — D a H . HOFFMANN 1957 S. 44 den pauper Christi-Begriff noch f ü r ein Charakteristikum der „ G o r z e r " R e f o r m gehalten hatte, ist es um so mehr zu bedauern, d a ß das f ü r Odilo so wichtige P