Militär und Kriegsvölkerrecht: Rechtsnorm, Fachdiskurs und Kriegspraxis in Deutschland 1899-1940. Herausgegeben in Verbindung mit dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin 9783486708547, 9783486582062

Wehrmacht in der NS-Diktatur Wehrmacht in der NS-Diktatur Andreas Toppe geht in seiner aus dem Wehrmachtsprojekt des I

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German Pages 467 [468] Year 2008

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Militär und Kriegsvölkerrecht: Rechtsnorm, Fachdiskurs und Kriegspraxis in Deutschland 1899-1940. Herausgegeben in Verbindung mit dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin
 9783486708547, 9783486582062

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Andreas Toppe Militär und Kriegsvölkerrecht

Herausgeben in Verbindung mit dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

R. Oldenbourg Verlag München 2008

Andreas Toppe

Militär und Kriegsvölkerrecht Rechtsnorm, Fachdiskurs und Kriegspraxis in Deutschland 1899-1940

R. Oldenbourg Verlag München 2008

Gedruckt mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2008 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Umschlagabbildung: „Flugzeugbesatzungen sprechen vor der Presse über völkerrechtswidriges Verhalten der Gegner"; o.O., o.D. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Bindung: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach ISBN 978-3-486-58206-2

Inhaltsverzeichnis Vorwort

7

Einleitung

9

1. Fragestellung und Ansatz 2. Forschungsstand 3. Quellenlage I. Das Kriegsrecht in Deutschland von 1899/1907 bis 1933 1. Der totale Krieg 2. Grundlagen des Völkerrechts

9 17 24 27 27 35

Die Quellen des Völkerrechts (35) - Das Subjekt des Völkerrechts (45) — lus ad bellum und ius in bello: Die Lehre vom gerechten Krieg (49)

3. Die Rechtslage des Partisanenkrieges

63

Vorüberlegungen (63) - Der rechtliche Status des Kombattanten (67) - Der Volkskrieg nach Art. 2 HLKO (73) - Rechtliche Konsequenzen illegaler Kriegsteilnahme (85) - Kriegsrechtsfalle aus dem Ersten Weltkrieg (103)

4. Die Grundlagen des Besatzungsrechts

139

Annexion und Debellation (139) - Die Verwaltung besetzter Gebiete (142) - Die wirtschaftliche Nutzung besetzter Gebiete (155) - Geiselund Repressalmaßnahmen (164)

II. Die Einrichtungen des Völkerrechts 1. Die Rechtsabteilungen der Wehrmacht 2. Die Einrichtungen der Rechtswissenschaft 3. Die Rezeption des Kriegsrechts in der Wehrmacht

185 185 206 222

Die Ausbildung der Heeresrichter (222) - Die Unterweisung von Generalstabsoffizieren, Offizieren und Mannschaften (251)

III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht 1939/40 1. Rahmenbedingungen 2. Der Kombattantenstatus

281 281 286

Der Polenfeldzug (286) - Freischärler (293) - Die strafrechtliche Ahndung von Kriegsverbrechen (326)

3. Die Besatzungspolitik in Polen aus völkerrechtlicher Sicht

397

Die Besatzungsverwaltung (397) - Geisel- und Repressalmaßnahmen in Polen (417)

Zusammenfassung

427

6

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungen

437

Quellen- und Uteratur

439

Personenregister

463

Vorwort Die vorliegende Studie ging aus dem Projekt des Instituts für Zeitgeschichte „Wehrmacht in der nationalsozialistischen Diktatur" hervor. Als gleichsam unbestelltes Feld war es an der Zeit, dieses gern umgangene Thema zu bearbeiten, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und Prioritäten wie Perzeptionen zu prüfen. Zwangsläufig mußten angesichts der Komplexität und Vielschichtigkeit des gewählten Gegenstandes viele der schnell anwachsenden Fragen unberücksichtigt bleiben. Meine Studie bildet somit den Versuch, ersten wichtigen Fragen historisch wie rechtlich auf den Grund zu gehen und zufriedenstellende Antworten zu finden. Begleitet wurde das Vorhaben von meinem Doktorvater Prof. Dr. Andreas Wirsching, quasi einem Zeugen der Aufs und Abs meiner zahlreichen Auseinandersetzungen, dem ich an dieser Stelle für seine Unterstützung herzlich danken möchte. Die Dissertation reichte ich schließlich im April 2004 an der Philologisch-Historischen Fakultät der Universität Augsburg ein. Zugleich bin ich zu großem Dank verpflichtet dem Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Horst Möller, sowie seinem Stellvertreter, Herrn Prof. Dr. Udo Wengst, für die Bereitstellung der notwendigen Forschungsmittel aber auch für zahlreiche fachliche Anregungen. Während meiner Archivrecherchen erfuhr ich stets ein offenes Ohr für meine Fragen und „eigenwilligen" Themenstellungen. Namentlich hervorgehoben seien hier vor allem der Leiter des früheren Bundesarchivs-Zentralnachweisstelle in Aachen Kornelimünster, Herr Ronald Meens, und der ehemalige Leitende Archivdirektor des Bundesarchivs-Militärarchiv in Freiburg i.Br., Herr Oberst a.D. u. d.R Dr. Manfred Kehrig. Viele Mitarbeiter des Instituts haben meine Forschungen begleitet, machten Einwendungen und lenkten meine Aufmerksamkeit auf vernachlässigte Fragen oder übersehene Studien. Zu ihnen gehörten u.a. Herr PD Dr. Johannes Hürter, Herr Dr. Dieter Pohl und Herr Dr. Peter Lieb. Ihnen allen gilt mein Dank, ganz besonders aber Herrn Dr. Jürgen Zarusky. Die Finanzierung des Druckkostenzuschusses für die Publikation meiner Dissertation ermöglichte die Friedrich-Ebert-Stiftung. Zu dieser Förderung trugen vor allem Herr Altoberbürgermeister, Bundesminister a.D., Dr. Hans-Jochen Vogel, Herr Dr. Roland Schmidt, geschäftsführendes Vorstandsmitglied, sowie Herr Prof. Dr. Dieter Dowe, Leiter des Historischen Forschungszentrums Sozial- und Zeitgeschichte bei. Ihnen sei an dieser Stelle mein herzlichster Dank ausgesprochen. Meiner Lektoratstätigkeit nahm sich geduldig Frau Gabriele Jaroschka vom Oldenbourg Wissenschaftsverlag an, mit ihr konnte ich letzte nervende und ärgerliche Hindernisse aus dem Weg räumen. Auch ihr ein ausdrücklicher Dank! Ein Dissertationsvorhaben läuft nicht unbemerkt an Freunden, Bekannten und Verwandten vorbei. So entspannen sich während meiner Studien und Niederschrift zunehmend heftige Diskussionen über unterschiedlichste Themen meiner Arbeit. Aus ihnen konnte ich Denkanstöße aber ebenso Bekräftigungen gewinnen. In Erinnerung an lange, kontroverse Nächte sei daher gedankt Herrn Bernhard Kliegl, M.A., Herrn Dr. Michael Schoierer, Herrn Christian Veh, M.A., Herrn Andreas Nagel, M.A., sowie meinem Schwager, Herrn Dr. Harald Siebert. Zu guter Letzt gedenke ich

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Vorwort

meinem wohlwollendem „Hausgeist", Frau Michaela Leipski, die in den letzten Wochen meiner Niederschrift eine unverzichtbare und stützende Konstante gewesen ist. Andreas Toppe Augsburg, 23. Mai 2007

Für Ferdinand Geb. am 12. Mai 2007

Einleitung 1. Fragestellung und Ansatz Ohne Zweifel bilden die deutschen Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges heute einen zentralen Gegenstand der historischen Forschung. Sie stehen im Blickpunkt des öffentlichen Interesses, wie zahlreiche Dokumentationen und Diskussionssendungen im deutschen Fernsehen belegen. Jedoch findet eine Auseinandersetzung mit dem damals geltenden Kriegsrecht in der Geschichtswissenschaft bisher nur am Rande statt. Dieses Defizit ist erstaunlich, denn schließlich lieferte dieser internationale Regelkodex erst die Kriterien, anhand derer die zahllosen Verbrechen, die das Dritte Reich und seine Armee während der Jahre 1939 bis 1945 verübt hatten, als solche erkannt und damit sanktioniert werden konnten. Selbst die von Jan Philipp Reemtsma und Hannes Heer Mitte der neunziger Jahre organisierte „Wehrmachtsausstellung" bestätigt diesen Befund 1 . Zwar hat sie die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkrieges wieder ins Zentrum der öffentlichen Diskussion gerückt, doch hat diese auch deutlich gemacht, daß die deutschen Kriegsverbrechen hauptsächlich nach den moralischen Kategorien der „Nachgeborenen" bewertet werden, nicht aber nach den damals herrschenden Maßstäben des international gültigen Kriegs- und Völkerrechts. Die Defizite völkerrechtlicher Grundlagen in Wissenschaft und Diskussion wurden denn auch im Fortgang der Kontroversen über eine sachlich korrekte Verortung der Wehrmacht in der Geschichte spürbar 2 . Die zweite Wehrmachtsausstellung trug diesem Faktum insofern Rechnung, als sie ihrem umfassenden Ausstellungskatalog einleitend ein Kapitel dem Völkerrecht widmete. Auszugsweise zeigte sie grundlegende Vorschriften der Haager Landkriegsordnung von 1907 sowie der Genfer Konvention von 1929 und stellte ihnen Rechtsvorschriften des Dritten Reiches gegenüber 3 . Zudem versah sie einzelne Institutionen des Krieges mit völkerrechtlichen Kommentaren 4 . Darüber hinaus unterliegt das Thema „Kriegsverbrechen der Wehrmacht" einer zusätzlichen Sensibilisierung, ausgelöst durch Rechtsfragen der Gegenwart infolge der amerikanischen Kriege in Afghanistan und Irak. Sie warfen neue Fragen auf und potenzierten das Interesse über das höchst komplexe Gebiet des Rechts im Kriege und schufen damit zugleich Querverbindungen zwischen dem Gestern und Heute 5 . 1 So auch den hierzu veröffentlichten Sammelband: Hannes Heer, Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Hamburg 1995. 2 Als Beispiel siehe: Hans-Günther Thiele (Hrsg.), Die Wehrmachtsausstellung. Dokumentation einer Kontroverse, Bremen 1997. 3 Vgl. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Verbrechen der Wehrmacht. Dimension des Vernichtungskrieges 1941-1944. Ausstellungskatalog, Hamburg 2002, S. 15-33. 4 Z.B. über das Thema der Geisel- und Repressalmaßnahmen, vgl. ebd., S. 507. 5 Siehe beispielsweise hierzu die Diskussion über den Rechtsstatus der „Gefangenen" auf Guantanamo: Thomas Kleine-Brockhoff, „Sowjetische Scheußlichkeit". Bush will Terroristen vor ein Militärtribunal stellen, in: Die Zeit, Nr. 48, 22. November 2001, S. 10; Fritjof Meyer, Gerhard Spörl, Die Käfige von Guantanamo, in: Der Spiegel 5 (2002), S. 120-124; Christian Schmidt-Häuer, Supermacht gegen Welttribunal. Die U N O stellt Milosevic vor Gericht -

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Einleitung

Für das Verhalten der Akteure im Zweiten Weltkrieg waren zunächst die Normen internationaler Kodifikationen ausschlaggebend. Sie waren konstitutiv für ihr Rechtsbzw. Unrechtsbewußtsein. Beinahe alle Staaten, die am Zweiten Weltkrieg teilnahmen, hatten sich auf diesen Kodex geeinigt, so nach Beginn des deutschen Angriffs auch die Sowjetunion. Das häufig vorgebrachte Faktum, das Kriegsrecht des Zweiten Weltkrieges habe etliche Lücken und juristische Unklarheiten aufgewiesen, bietet indes keinen Grund, die deutschen Greueltaten in irgendeiner Form zu relativieren oder gar zu entschuldigen. Auch diese ungeregelt gebliebenen Bereiche kriegerischer Akte suchte die Haager Landkriegsordnung rechtlich einzubinden; in ihrer Präambel hieß es, „daß in den Fällen, die in den Bestimmungen (...) nicht einbegriffen sind, die Bevölkerung und die Kriegführenden unter dem Schutze und der Herrschaft der Grundsätze des Völkerrechts bleiben, wie sie sich ergeben aus den unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens" 6 . Daß die deutschen Streitkräfte diese Regeln internationalen Rechts modifizierten, ignorierten oder ganz außer Kraft setzten, war bereits Teil der Anklage in den Nürnberger Prozessen. Doch tauchen immer neue Quellen auf, erscheinen immer neue Arbeiten, die diese katastrophale Bilanz in immer neuen Facetten bestätigen. Allerdings finden sich bisweilen auch Gegenbeispiele, die zeigen, daß die Wehrmacht, die geschriebenen und ungeschriebenen Bestimmungen des Krieges durchaus beachten konnte. Schon diese Widersprüche waren wohl mitverantwortlich für die erbitterten Diskussionen während der ersten Wehrmachtausstellung. Berichte über den Krieg in Polen oder in der Sowjetunion schienen kaum demjenigen zu entsprechen, was Veteranen im Westen oder in Nordafrika erlebt hatten. Angesichts dieser Gegensätze liegt es nahe, einmal der Frage nachzugehen, wie es denn generell mit der Rezeption von Kriegs- und Völkerrecht durch die Wehrmacht bestellt war. Es bietet sich an, diese Frage in drei Teilschritten zu untersuchen: /. Wie sahen bis %-ur Jahreswende 1938/39 die Normen des international gültigen Kriegs- und Völkerrechts ausi 2. Welche Einrichtungen der Rechtswissenschaft und der Wehrmacht waren für sie zuständig? Wie wurden diese Regeln von der Wehrmacht rezipiert? 3. Und schließlich: Wie wurde das Kriegsrecht von der Wehrmacht angewendet? 1) Im ersten Kapitel der vorliegenden Studie werden die historisch-rechtlichen Rahmenbedingungen rekonstruiert, welche die verschiedenen verantwortlichen Entscheidungsträger innerhalb der Wehrmacht zu beachten hatten. Es ist damit insofern das zentrale Kapitel dieser Arbeit, als es die Grundlagen schafft, die zur Bewertung der Wehrmacht und ihrer Handlungen unabdingbar sind. Dabei handelt es sich nicht so sehr um einen Überblick über das gesamte, damals gültige Kriegsrecht, als vielmehr um eine detaillierte Vorstellung einzelner Normen, welche für die Diskussion über die Kriegsverbrechen der Wehrmacht von besonderer Relevanz sind. Das erste Kapitel befaßt sich daher nur mit den Normen des Landkriegsrechts, wie sie in der Haager

Amerika macht dem Völkerrecht den Prozeß, in: Die Zeit, Nr. 7, 7. Februar 2002, S. 4; Thomas Assheuer, Rechtlos im Niemandsland, in: ebd, S. 29; Constanze Stelzenmüller, Justizfarce im Niemandsland, in: Die Zeit, Nr. 32, 31. Juli 2003, S. 5. 6 Vgl. RGBl. 1910, S. 109.

1. Fragestellung und Ansat^

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Landkriegsordnung und der Genfer Konvendon niedergelegt worden sind. Die Regeln des See- und Luftkriegsrechts werden nicht berücksichtigt. Um Rechtsinterpretationen und Entscheidungen von Generalen, Offizieren und ihren Rechtsberatern angemessen nachvollziehen zu können, ist ein Rekurs auf die Zeit des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik unerläßlich. In dieser Zeit waren viele von ihnen ausgebildet worden und hatten ihre ersten Berufserfahrungen gesammelt. Für viele Juristen und Soldaten bedeutete der Erste Weltkrieg eine erste entscheidende Zäsur, eine zweite und nachhaltigere die Konfrontation mit den eigenen Kriegsverbrechen und den folgenden Kriegsverbrecherprozessen nach 1918. Die Frage über Kontinuität und Diskontinuität im völkerrechtlichen und speziell im kriegsrechtlichen Denken deutscher Rechtsgelehrter und Militärs ist daher nur allzu berechtigt, die Rückschau auf die Haltung Deutschlands seit der ersten Haager Friedenskonferenz im Jahre 1899 nur konsequent7. Diejenigen völkerrechtlichen Bestimmungen, die im Zentrum der Kontroversen um rechtswidrige Befehle und Kriegsverbrechen der Wehrmacht stehen, sollen daher eingehend vorgestellt werden: - Der rechtliche Status des Kombattanten und Nichtkombattanten. - Damit verbunden die rechtliche Stellung des Partisanen. - Wesentliche Bestimmungen des Besatzungsrechts. - Der rechtliche Komplex der Geisel- und Repressalmaßnahmen. - Die Rechtsansprüche des Kriegsgefangenen bei Strafgerichtsverfahren. Die Darlegung der entsprechenden kriegsrechtlichen Normen erfolgt auf dem Wege einer Auseinandersetzung mit den betreffenden Rechtsinterpretationen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Sie werden ergänzt durch einige Beispiele zur Rechtspraxis im Ersten Weltkrieg, so daß ein Vergleich zwischen den Rechtsauffassungen des „kaiserlichen" Heeres und der Wehrmacht möglich wird. Hierzu werden Publikationen maßgebender deutscher Juristen und Militärs ausgewertet sowie Erlasse und Befehle der kaiserlichen Regierung bzw. ihrer Befehlshaber. Eine interessante Ergänzung bilden hierzu die völkerrechtlichen Entschließungen und Gutachten des dritten Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages aus den Jahren 1919 bis 1928. Auf Beschluß der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung vom 30. September 1919 gegründet, war dem dritten Untersuchungsausschuß die Aufgabe übertragen worden, die militärischen Maßnahmen im Kriege auf ihre Vereinbarkeit mit dem geltenden Völkerrecht zu überprüfen. Seine rechtliche Aufarbeitung der deutschen Kriegführung und seine Stellungnahmen zu den verschiedensten Rechtsfragen gegenüber einer internationalen Öffentlichkeit bieten die Gelegenheit, gleichsam den letzten Stand der Völkerrechtslehre in Deutschland vor

Da die Haager Landkriegsordnung von 1899 nahezu identisch ist mit jener von 1907, wird, um Verwirrungen zu vermeiden, ausnahmslos auf die zweite Haager Landkriegsordnung, die im Jahre 1 9 1 0 im Reichsgesetzblatt abgedruckt worden ist, Bezug genommen. Die zweite Haager Landkriegsordnung enthielt zusätzlich den Art. 23h, welcher für die folgenden Untersuchungen nicht von Bedeutung ist. Darüber hinaus war die zweite Landkriegsordnung in das IV. Haager Abkommen von 1907 eingebettet, das entsprechend im Jahre 1899 fehlte. 7

12

Umleitung

1933 zu erkunden 8 . Auch die Urteile aus den deutschen Kriegsverbrecherprozessen, die das Reichsgericht zu Leipzig im Jahre 1921 auf Druck der Alliierten durchgeführt hatte, sollen in die Untersuchung miteinfließen. Sie sind nicht nur deshalb bedeutsam, weil erstmals in der modernen Geschichte Europas das höchste Gericht eines Staates, wenn auch unter Zwang, über seine eigene Armee rechtlich zu befinden hatte, sondern weil es in einigen wenigen seiner Urteile auf Grund einer eindeutigen Faktenlage nicht mehr umhin kam, den Rechtsbruch zu erkennen und diesen unter den objektiven Leitsätzen des Völkerrechts zu verorten 9 . Als Orientierungsrahmen für die Bewertung von Interpretationen kriegsrechtlicher Begriffe und Regeln dienen die hierzu in Frage kommenden Urteile der Nürnberger Prozesse sowie ausgewählte Abhandlungen Schweizer und angelsächsischer Völkerrechtler. Hierbei sollen allerdings nicht deutsche Juristen gegen jene anderer Länder ausgespielt werden, denn selten verfügte ein Staat über eine homogene in sich geschlossene Völkerrechtslehre. Rechtsauffassungen unterschiedlicher ja gegensätzlicher Art verliefen oftmals quer durch die Nationen, wenngleich sich in bestimmten Rechtsfragen mehrheitsfähige Positionen herauskristallisierten. Lassa Oppenheim beispielsweise, unbestritten eine maßgebende Institution in der britischen Völkerrechtslehre, zitierte nicht selten den „Großvater des deutschen Kriegsvölkerrechts" Christian Meurer. Dieser wiederum bediente sich gerne bei seinem französischen Kollegen Bonfils. Die gestellte Aufgabe verlangt also ein Doppeltes: Es sollen mögliche entscheidende Unterschiede in der deutschen Völkerrechtswissenschaft im Vergleich zu jener der übrigen Nationen herausgearbeitet und die Handhabung der Völkerrechtssätze durch die deutschen Militärs geprüft werden. Hinter dieser historischen Rechtsbetrachtung steht schließlich die kaum einzulösende Frage: Wer schafft das Recht? Die militärische Praxis oder der zivilisatorische Erkenntnisprozeß? 2) Im zweiten Kapitel sollen Einrichtungen der Wehrmacht, des Heeres und der Rechtswissenschaft vorgestellt werden, die sich mit völkerrechtlichen Fragen zu befassen hatten. Im Vordergrund stehen dabei der organisatorische Aufbau, ihre Aufgaben und Kompetenzen, die Nennung ihrer wichtigsten Mitglieder und die Darstellung ihrer Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen und Einrichtungen. Aus ihren Aktennotizen, Gutachten, Publikationen sowie den Sitzungsprotokollen der von ihnen mitbegründeten Kriegsrechts-Ausschüsse sollen schließlich die Schwerpunkte ihrer Rechtspolitik und ihre Auffassungen über gewichtige Fragen des Kriegsrechts offengelegt werden. In den Blickpunkt rückt dabei natürlich die Frage nach ihrer rechtswissenschaftlichen Orientierung: Kam es nach 1933 zu einer merklichen Abkehr von den bisherigen Auffassungen? Unterlagen ihre Arbeiten Einlüssen der nationalsozialistischen Rechtsideologie? Und welchen Stellenwert besaßen ihre Rechtsgutachten bei der Befehlsgebung der Oberbefehlshaber und der kommandierenden Generale? Die genannten Fragen betreffen konsequenterweise auch den dritten Hauptteil dieser Arbeit, welcher sich mit der Rechtspraxis im Zweiten Weltkrieg befassen will. Siehe hierzu auch: Ulrich Heinemann, Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983, besonders S. 155-218. 9 Siehe hierzu vor allem: Gerd Hankel, Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg, Hamburg 2003. 8

1. Fragestellung und Ansät%

13

Mit Beginn des Krieges entwickelte sich eine institutionelle Vernetzung zwischen Militär, Rechtswissenschaft und Auswärtigen Amt, um völkerrechtliche Aufgaben und Probleme diskutieren und bewältigen zu können. Ausbau und Schaffung völkerrechtlicher Beratungsstellen und Diskussionsforen erfolgten dabei auf unterschiedlichen Organisationsebenen. Hervorzuheben ist hierbei besonders das Zusammenwirken zwischen der Völkerrechtsgruppe im Amt Ausland/Abwehr beim Oberkomando der Wehrmacht (OKW) und dem „Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht" der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Uber die verschiedenen Abteilungen des Amtes Ausland/Abwehr sowie über den Direktor des Instituts, Prof. Viktor Bruns, führten Verbindungen zur Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes unter Dr. Friedrich W. Gaus und zu Reichsminister Hans Frank, Vorsitzender der „Akademie für Deutsches Recht" und seit Ende Oktober 1939 Generalgouverneur von Polen. Sie manifestierten sich in der Gründung diverser Ausschüsse, wie den „Kriegsrechtlichen Studienausschüssen" unter Beteiligung der „Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften" oder dem „Ausschuß für Völkerrecht", die von Hans Franks Akademie ins Leben gerufen wurden. Im Ausschuß für Völkerrecht trafen schließlich die Mitarbeiter Viktor Bruns' auf jene des „Instituts für Auswärtige Politik", das unter Leitung von Prof. Friedrich Berber gestanden hatte. Berber selbst wiederum galt als engster Vertrauter des Außenministers Joachim von Ribbentrop. Nach dem Sieg über Frankreich gründeten die Mitglieder der Völkerrechtsgruppe und des Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht den „Vorausschuß Kriegsrecht", der unter die Leitung von Admiral a.D. Walter Gladisch, Reichskommissar am Oberprisenhof, gestellt wurde. Diesem Ausschuß war schließlich vom Chef OKW, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, die Aufgabe übertragen worden, ein neues Kriegsrecht auszuarbeiten, das alle drei Waffengattungen zu berücksichtigen hatte und nach einem deutschen Sieg der Weltöffentlichkeit präsentiert werden sollte. Ein ehrgeiziges Projekt, dessen Realisation freilich Flickwerk bleiben mußte. Eine Instituition für sich bildete demgegenüber die Wehrmachtrechtsabteilung im OKW unter General-Oberstabsrichter Dr. Rudolf Lehmann, welche nur lose Kontakte zur Völkerrechtsgruppe unterhielt. Ebenso wie die Völkerrechtsgruppe war sie, neben anderen Aufgaben, für die Bearbeitung von Völkerrechtsfragen zuständig. Bei diffizielen Rechtsproblemen traf Lehmann oftmals auch Rücksprache mit dem Chef der Gruppe Rechtswesen (Gruppe III) im Oberkommando des Heeres (OKH), Generalrichter Dr. Erich Lattmann. Lehmanns Rechtsgutachten und Lehrmaterialien bildeten in vielen Fällen eine maßgebliche Grundlage für die Abfassung von Befehlen und Verordnungen. Neben der Völkerrechtsgruppe bildete somit das „Gespann" Lehmann/Lattmann eine entscheidende Instanz für die Haltung der Wehrmacht gegenüber völkerrechtlichen Belangen. Neben den Ausschüssen nutzten die Referenten der betreffenden Wehrmachtabteilungen und die Wissenschaftlichen Mitarbeiter der Institute und Akademien die Möglichkeit, in verschiedenen Fachzeitschriften ihre Auffassungen zu spezifischen Themen des Kriegsrechts kundzutun. Unter den Autoren befanden sich beispielsweise Alfons Fonck, Werner Hülle, Helmuth James Graf von Moltke, Ernst Schmitz oder Alfons Waltzog. Ihre Artikel und Aufsätze erschienen u.a. in der Zeitschrift „Deutsches Recht" (DR), der „Zeitschrift für Wehrrecht" oder der „Zeitschrift für ausländisches öffendiches Recht und Völkerrecht" (ZaöRV). Die Auswertung der

14 genannten Zeitschriften bietet indes eine zusätzliche Möglichkeit, unter dem Blickwinkel der oben gestellten Fragen die Haltung der Rechtsberater aus Militär und Wissenschaft gegenüber dem Kriegsrecht zu erforschen. Der Vorstellung der einzelnen Tätigkeitsbereiche von Rechtsabteilungen der Wehrmacht schließen sich zwangsläufig Fragen über Ausbildung und Kenntnisstand auf dem Gebiete des Völkerrechts sowohl bei Heeresrichtern, Offizieren als auch bei den einfachen Mannschaftssoldaten an. Was konnte ein Soldat der Wehrmacht über das Kriegsrecht wissen? Was ein hochrangiger Offizier? Und stimmte ihr Wissen mit den international mehrheitsfähigen Positionen der Völkerrechtswissenschaft überein? Zur Beantwortung dieser Fragen sollen in einem ersten Schritt die Ausbildung der Heersrichter untersucht werden und in einem zweiten die Unterweisung von Generalstabsoffizieren und Offizieren sowie von den einfachen Soldaten. Denn die Heeresrichter, welche in der Abteilung III bei den Kommandostäben der Armeen und Divisionen integriert waren, besaßen ihrerseits eine beratende Funktion bei den Befehlshabern vor allem in strafrechtlichen und völkerrechtlichen Belangen. Auch wenn ihre Einflußmöglichkeiten nicht überschätzt werden dürfen, so konnten auch sie als Korrektiv in die eine oder andere Richtung wirken, wenn ihr vorgesetzter Befehlshaber eine entsprechende Auskünft in völkerrechtlichen Fragen wünschte. Als Verhandlungsleiter in Kriegsgerichtsverfahren besaßen sie darüber hinaus die hohe Verantwortung, gegebenenfalls die Normen des Völkerrechts in ihren Urteilen umsetzen zu müssen. Neben der Wehrmachtrechtsabteilung war für die Ausbildung der Heeresrichter vor allem der Chef des Heeresjustizwesens und der Chef der Heeresrechtsabteilung im Allgemeinen Heersamt (AHA), Generalstabsrichter Dr. Otto Neumann zuständig. Seine Richtlinien und Unterrichtsmaterialien müssen daher ebenso wie jene von Rudolf Lehmann genau untersucht werden in Hinblick auf Kontinuität und Diskontinuität in der Interpretation völkerrechtlicher Grundsätze, analog zu den im ersten Kapitel behandelten Rechtsgebieten. Auch gilt es, die rechtlichen Konsequenzen aus der Gesetzgebung des Dritten Reiches für die Rechtsprechung der Heeresrichter in ihren wesentlichen Bereichen aufzuzeigen. Schließlich erhebt sich an dieser Stelle die Befürchtung, daß allein auf Grund der von der nationalsozialistischen Regierung gesetzten Normen die Wehrmacht nicht mehr in der Lage gewesen war, die Normen des Völkerrechts einzuhalten. Eine annähernd rechtskonforme Kriegführung setzt eine möglichst breite Kenntnis des internationalen Kriegsrechts voraus und den Willen diese Regeln auch zu beachten. Diese Prämisse richtet sich zunächst an die Regierung eines Staates, welcher als Subjekt des Völkerrechts der Haftungspflicht für alle Rechtsverletzungen seiner Streitkräfte unterliegt. Desweiteren wendet sie sich an die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen und Armeen, welche in Deutschland im Auftrag des Oberbefehlshabers des Heeres im Operationsgebiet die vollziehende Gewalt ausübten. Diese umfaßte die gesamte Staatsgewalt, einschließlich des Rechts zur Gesetzgebung 10 . Damit war die Unterweisung der Generalstabsoffiziere in die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konventionen für das Dritte Reich ein notwendiges Gebot. Im letzten Abschnitt des zweiten Kapitels werden daher zu10 Vgl. H. Dv. g92 (Heeresdruckvorschrift). Handbuch für den Generalsstabsdienst im Kriege, Teil 1, Berlin 1939, S. 117.

1. Fragestellung

undΛηίαϊζ

15

nächst die Lehrpläne der Kriegsakademie des Heeres und der Wehrmachtakademie auf ihre Fächerverteilung und Lehrinhalte hin eingesehen werden, um den Stellenwert des Faches „Völkerrecht" in der Ausbildung der Generalstabsoffiziere zu ermitteln. In Anknüpfung an die Erörterungen im ersten Kapitel werden dann Vorlesungsmanuskripte nach der inhaltlichen Auseinandersetzung des Kriegsrechts untersucht. Damit sollen auch hier wieder Kontinuitäten als auch Kontinuitätsbrüche in der Völker— und Kriegsrechtslehre der Wehrmacht herausgearbeitet werden. Dieselben Gesichtspunkte gelten schließlich für die kriegsrechtliche Ausbildung des Offiziersanwärters sowie des einfachen Berufssoldaten an den Heeresfachschulen und anderen zuständigen Einrichtungen. Analog zu den obigen Fragestellungen sollen dazu die entsprechenden Heeresdruckvorschriften und verschiedenen Schulungsmaterialien herangezogen werden. Die Auswertung der Unterichtsmaterialien, Vortragsmanuskripte und Richtlinien wird endlich erweisen, ob die Wehrmacht über ein kohärentes Rechtsbild des Krieges verfügte und welche Lehren sie aus der Kriegführung des Ersten Weltkrieges gezogen hatte. Denn eine Bekräftigung der völkerrechtlichen Normen reicht bei weitem nicht aus, eine annähernd völkerrechtskonforme Kriegführung zu garantieren. Völkerrecht bedeutet Kommunikation, bedeutet Diskurs in Gegenwart einer internationalen Weltöffentlichkeit. Kritik setzt Einsicht in eigene Verfehlungen voraus und zugleich die volle Anerkennung der bestehenden positiv-rechtlichen Verträge sowie der gewohnheitsrechtlichen Regeln. Kriegsziele und Kriegführung stehen in unmittelbarem Zusammenhang. Als militärisches Exekutivorgan der Regierung des Dritten Reiches war die Wehrmacht eingebettet in die verfassungsrechtlichen Strukturen des nationalsozialistischen Staates. Dessen außenpolitische Ziele und allgemeine Rechtsvorstellungen ließen sich kaum mit den bestehenden völkerrechtlichen Verträgen und Vereinbarungen in Einklang bringen, wie allein die innere Rechtsausbildung sowohl institutionell als auch materiell-rechtlich unschwer zu erkennen gab. Zudem muß neben der strukturellen auch die intentionale Verflechtung berücksichtigt werden, welche beginnend mit einer oftmals einseitigen Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges durch die militärischen Eliten und einer hieraus folgenden Glorifizierung des sogenannten „Frontkämpfertums" geistige Parallelen zum Nationalsozialismus beförderte. Ideen, wie die des „politischen Kämpfers", schienen alles andere zu implizieren, als die Realisation eines auf den rechtlichen Grundlagen des Kombattantenstatus aufgebauten Soldatentums. 3) Die Ergebnisse und Erörterungen in den beiden ersten Hauptteilen dieser Arbeit leiten schließlich über zum dritten Themenkomplex der Rechtspraxis und damit zur Handhabung des Kriegsrechts durch die Wehrmacht. Im Zentrum der Untersuchung steht dabei die Frage des Kombattantenstatus dargelegt am Beispiel des Krieges gegen Polen. Hierdurch wird die Möglichkeit geschaffen, alle relevanten das Kriegsrecht betreffende Fragen und Probleme zu diskutieren, wie sie in der Sekundärliteratur meistens anhand der Kriege in Serbien und in der Sowjetunion aufgeworfen werden. Die vorliegende Arbeit unterstellt damit, daß es eine rechtliche Zäsur in der Kriegführung während der Jahre 1939 bis 1945 nicht gegeben hat. Vielmehr legen Erlasse, Verordnungen und Befehle aus den Friedensjahren wie auch aus der ersten Kriegsphase eine Rechtsauffassung offen, die grundlegend einen „Handlungsrahmen" für die gesamte Dauer des Krieges bildeten. Damit sollen Eskalationen und Radikalisierungen in der Kriegführung keineswegs geleugnet oder ausgeblendet wer-

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Einleitung

den. Vielmehr war die Möglichkeit ihrer Realisation, auch unter dem Blickwinkel des „totalen Krieges", bereits in den Rechtsvorgaben der Regierung des Dritten Reiches und der Wehrmacht enthalten. Der faktische Verlauf des Krieges hing schließlich von verschiedenen Faktoren ab, wie z.B. der zeitlichen Dauer einzelner Feldzüge oder der Perzeption des jeweiligen Kriegsgegners im Sinne einer völkischen Ideologie. Die Frage des Kombattantenstatus lenkt den Blick auf ein rechtlich weites bzw. komplexes Feld der Kriegführung. Sie betrifft nicht nur die Rechte des regulären Soldaten, sondern sie schließt die Rechte und Pflichten der Zivilbevölkerung des feindlichen Staates mit ein. Hierzu gehören die unterschiedlichen Facetten ziviler Widerstandsakte und ebenso der Umgang mit den Straftaten der eigenen wie der feindlichen Soldaten. Sie führt schließlich hinaus auf das äußerst sensible Gebiet der Geisel- und Repressalmaßnahmen, auf das die Wehrmacht besonders häufig in Reaktion auf eine als illegal betrachtete zivile Kampfteilnahme zurückgreifen sollte. Die tatsächliche Handhabung der hier umrissenen Rechtsnormen offenbart nicht nur die generelle Haltung gegenüber den Regeln des Völkerrechts, sondern verweist darüber hinaus auf den Kriegsgrund, genauer auf die Kriegsziele, die sich in der Besatzungspolitik niederschlagen und im Falle Polens zu einer völlig neuartigen Form der Besatzungsverwaltung führten. Die Interpretation und Anwendung der kriegsrechtlichen Normen durch die Wehrmacht werden primär auf der Grundlage von Befehlen und Kriegsgerichtsverfahren untersucht. Dabei bildet die Frage nach der „geistigen Orientierung" in der Abfassung von Befehlen ein Erkenntnis leitendes Interesse. Waren rechtliche Auffassungen des Ersten Weltkrieges noch in den Köpfen der Befehlshaber präsent? Inwieweit wurden Ausbildungsrichtlinien und Verordnungen aus der Friedenszeit berücksichtigt? Welche Rolle spielte die nationalsozialistische Ideologie? Unter den gleichen Gesichtspunken müssen auch die Urteile der Militär- und Zivilgerichte bewertet werden. In diesem Zusammenhang gilt es zwei Aspekte zu beachten: Die Urteile der Richter bewegten sich auf völkerrechtlicher Ebene. Allein in Ermangelung eines internationalen Strafrechts waren sie gezwungen auf das nationale, d.h. das deutsche Strafrecht zurückzugreifen. Damit standen das deutsche Militärstrafgesetzbuch sowie das deutsche Strafgesetzbuch im Hinblick auf den Prüfstand des Völkerrechts. Die Diskussion hierüber setzt notwendigerweise im ersten Kapitel ein und wird bis zum dritten weitergeführt. Für die Urteilspraxis ist aber des weiteren relevant, inwieweit die deutschen Militär- und Zivilrichter die jeweiligen Straftaten einer rechtlich einwandfreien Würdigung unterzogen haben und diese den entsprechenden gesetzlichen Strafnormen zuordneten. Denn die Konfrontation mit Straftaten, welche von weltanschaulichen Motiven geleitet waren, brachte schließlich die realen „Rechtsverhältnisse" im Krieg gegen Polen zum Vorschein, welche mit dem Begriff der „Kollision der Normen" umschrieben werden können. Hiermit soll die Widersprüchlichkeit bzw. die "Inkonsistenz" der Normen auf dem polnischen Kriegsschauplatz deutlich gemacht werden, die einen wesentlichen Indikator für „Anomie" bilden11. In letzter Konse11 Michael Schoierer definiert den Begriff „Anomie" auf der Grundlage der Forschungen der Soziologen Robert K. Merton und Peter Waldmann u.a. folgendermaßen: Fehlende sprachliche Eindeutigkeit sozialer Normen und inkonsistente, d.h. sich widersprechende Normen. Vgl. ders., Demokratisierung und soziale Anomie nach der NS-Diktatur, in: Peter Waldmann (Hrsg.), Diktatur, Demokratisierung und soziale Anomie, München 2003, S. 338.

1. Fragestellung und Ansati^

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quenz konnte die damit einhergehende Normerosion die völlige Auflösung rechtlicher Verhältnisse bedeuten. Mit dem Begriff der Anomie korrespondiert schließlich der Begriff des „Ausnahmezustandes", der bereits im Ersten Weltkrieg in der militärischen und juristischen Diskussion als Rechtsfigur zur Durchsetzung rechtswidriger Maßnahmen erörtert worden war. Für das Verhalten der Oberbefehlshaber und ihrer Divisionskommandeure sowie der Heeresrichter in kriegsrechtlichen Belangen ist zu berücksichtigen, daß neben der materiell-rechtlichen Konfrontation auch eine institutionelle, in Gestalt der WaffenSS und der zu Einsatzgruppen zusammengeschlossenen Polizeiverbände, existierte. So schob sich auf dem polnischen Kriegsschauplatz neben das Militär das „Zivile", das die ursprünglich allein der Wehrmacht zustehende Kommandogewalt aufsprengen sollte. Im Hinblick auf den Kombattantenstatus bedeutete dies für die Wehrmacht gemäß der Haager Landkriegsordnung eine zusätzliche Verantwortung, der sie letzdich nicht gerecht werden konnte oder wollte. Um ein möglichst vollständiges Bild über die Rechtsvorstellungen der Wehrmacht in den hier skizzierten Themenbereichen zu erhalten, werden begleitend zu den Befehlen der Oberbefehlshaber und den Kriegsgerichtsverfahren Anmerkungen und Aufsätze von Heeresrichtern aus den verschiedenen Fachzeitschriften in die rechtshistorische Diskussion mitaufgenommen. Hervorzuheben ist hierbei Kriegsgerichtsrat Prof. Walter Schätzel, der als Heeresrichter sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg eingesetzt worden war. Seine rechtswissenschaftlichen Beiträge bilden daher eine wertvolle Grundlage, um Kontinuitäten oder mögliche Wandlungen in der deutschen Völkerrechtsauffassung darzulegen. Zudem geben die Vorträge und Kommentare der Referenten und Rechtsgelehrten auf den Tagungen der Kriegsrechtsausschüsse weitere Anhaltspunkte zur Klärung der vorstehenden Rechtsfragen.

2. Forschungsstand In der Geschichte des Völkerrechts sind die Nürnberger Prozesse der erste große Versuch, Kriegs verbrechen durch ein internationales Tribunal strafrechtlich zu ahnden und damit sowohl die deutsche wie die internationale Öffentlichkeit mit diesen Verbrechen zu konfrontieren. Die teilweise edierten Prozeßunterlagen - Ermittlungsakten, Beweisdokumente und Prozeßprotokolle — bilden für die historische Forschung eine unschätzbare Quelle zur Rekonstruktion und Analyse nationalsozialistischer Herrschaftsausübung 12 . Darüber hinaus dokumentieren die Nürnberger Prozesse selbst einen Bewußtseinswandel in der Entwicklung des Völkerrechts, wie er mit der Erklärung von St. James-Palace vom 13. Januar 1942 eingeleitet und in der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 sowie in dem Londoner Viermächte-Abkommen vom 8. August 1945 erstmals positiv-rechtlich zum Ausdruck kam13. 12 Vgl. Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (IMI), Bd. I-XLII, Nürnberg 1947-1949. 13 Vgl. Lothar Kettenacker, Die Behandlung der Kriegsverbrecher als anglo-amerikanisches Rechtsproblem, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943-1952, Frankfurt a.M. 1999, S. 17-31.

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Einleitung

Anhand der Nürnberger Prozeßunterlagen läßt sich die Spannbreite völkerrechtlicher Argumentation ermessen aber auch die Grenzen ihrer Geltung. Aus ihnen können Informationen und Einsichten über die unterschiedlichsten Bereiche des Völkerrechts gewonnen werden, beginnend mit Fragen über das Verhältnis zwischen Landesrecht und Internationalem Recht oder verfahrensrechtlichen Problemen bis hin zu Fragen einzelner Normen des Kriegsrechts selbst. Skepsis scheint naturgemäß gegenüber den Plädoyers der deutschen Verteidiger angebracht sowie gegenüber verschiedenen rechtswissenschaftlichen Abhandlungen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, da ihre Argumentation häufig weniger von den Prinzipien der Rechtsfindung als von denen vordergründiger politischer Interessen geprägt war. Dazu gehörte auch die Leugnung historischer Fakten und damit verbunden eine juristisch oftmals unhaltbare Auslegung des Völkerrechts 14 . Mit dem „Ulmer Einsatzkommando-Prozeß" Ende 1958 und dem Frankfurter Auschwitz-Prozeß in den frühen sechziger Jahren bot sich in Deutschland die Möglichkeit, durch das Zusammenwirken von Juristen und Historikern zu einem differenzierteren Urteil über die NS- und Kriegsverbrechen 15 zu gelangen. So enthalten die Rechtsgutachten der von den Landesjustizverwaltungen 1958 gegründeten Ludwigsburger Zentralen Stelle u.a. detaillierte Informationen über die Begriffsbestimmungen und die rechtliche Tragweite einzelner Artikel des Kriegsrechts unter Berücksichtigung der Rechtsprechung alliierter und deutscher Gerichte 16 . Die zahlreichen Studien und Dokumentationen von Historikern, auch jene des Instituts für Zeitgeschichte, die in diesem Zusammenhang entstanden sind, schenkten dem Themenbereich „Völ-

14 Siehe hierzu u.a.: Hans Laternser, Verteidigung deutscher Soldaten. Plädoyers vor alliierten Gerichten, Hamburg 1950; ebenso die Abhandlung des ehemaligen Chefjuristen von IGFarben, August von Knieriem, Nürnberg. Rechtliche und menschliche Probleme, Stuttgart 1953; auch die Schrift des Hamburger Professors Rudolf Laun, Die Haager Landkriegsordnung. Das Übereinkommen über die Gesetze und Gebräuche des Krieges, Hannover 1950, muß hierzu gezählt werden, da Laun das Thema fast ausschließlich dazu benutzt, die Legitimität des Nürnberger Militärtribunals zu bestreiten. 15 Unter Kriegsverbrechen sind ganz allgemein Rechtsverletzungen zu verstehen, welche zuvorderst das internationale Kriegsrecht betreffen. Dies bedeutet, zur Begehung von Kriegsverbrechen ist der Kriegszustand grundlegende Voraussetzung. Für die NS-Verbrechen bildet dieser hingegen keine Prämisse, sie sind allerdings historisch-zeitlich bedingt auf die Jahre 1933-1945 begrenzt. Zudem kann Opfer eines Kriegsverbrechens nur der Angehörige der gegnerischen Konfliktspartei sein, während NS-Verbrechen auch deutsche Opfer miteinbeziehen. Kriegsverbrechen können somit erst mit dem 1. September 1939 begangen worden sein. Im Hinblick auf die deutsche Kriegführung und Besatzungspolitik ist es aber in vielen Fällen nicht mehr möglich, zwischen diesen beiden Begriffen eine klare Trennlinie aufrechtzuerhalten, so daß NS-Verbrechen und Kriegsverbrechen notgedrungen ineinander laufen. Vgl. Heinz Artzt, Zur Abgrenzung von Kriegsverbrechen und NS-Verbrechen, in: Adalbert Rückerl (Hrsg.), NS-Prozesse. Nach 25 Jahren Strafverfolgung. Möglichkeiten - Grenzen - Ergebnisse, Karlsruhe 1971, S. 63-194. 16 Siehe u.a.: Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg (Hrsg.), Geisel- und Partisanentötungen im Zweiten Weltkrieg. Hinweise zur rechtlichen Beurteilung, Ludwigsburg 1968. Zu den deutschen NS- und Kriegsverbrecherprozessen siehe: Heribert Ostendorf, Die widersprüchlichen - Auswirkungen der Nürnberger Prozesse auf die westdeutsche Justiz, in: Gerd Hankel, Gerhard Stuby (Hrsg.), Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen. Zum Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen, Hamburg 1995, S. 73—97.

2. Forschungsstand

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kerrecht in der Wehrmacht" freilich nur vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit; in ihrem Zentrum stand vielmehr die Genese der verbrecherischen Befehle 17 . Auch in der 1978 von Christian Streit veröffentlichten Studie, die sich mit dem Massensterben und der Ausbeutung sowjetischer Kriegsgefangener befaßt, werden völkerrechtliche Fragen nur am Rande behandelt. Allerdings rekonstruiert Streit die Mitverantwortung der Rechtsabteilungen von OKW und OKH bei der Herausgabe völkerrechtswidriger Befehle und legt darüber hinaus in einem eigenen Kapitel die Bemühungen des Internationalen Roten Kreuzes dar, Deutschland zur Einhaltung des internationalen Kriegsrechts auf dem sowjetischen Kriegsschauplatz zu verpflichten18. Der Pionierstudie Christian Streits folgten zahlreiche Forschungsarbeiten und Dokumentationen, welche nun präzisere Vorstellungen der Verbrechen des SS- und Polizeiapparats sowie der Wehrmacht vermittelten 19 . Selten wurde in diesen Arbeiten jedoch das damals geltende Völkerrecht eingehend auseinandergesetzt; die Frage, an welchen Stellen des kodifizierten Kriegsrechts Deutschland und die Wehrmacht geltende Bestimmungen außerachtließen, blieb ungeklärt. Wenig ergiebig ist daher die Dissertation von Hermann Dieter Betz aus dem Jahre 197020. In seiner Arbeit fehlen eine ausgewogene Erläuterung des Kriegsrechts und seiner umstrittenen „Grauzonen" sowie eine sachgerechte Beschreibung der Organisationsstruktur und personellen Zusammensetzung der verschiedenen Rechtsabteilungen und Referate von OKW und OKH. Statt dessen widmet sich Betz der Genese wichtiger rechtswidriger Befehle, wie dem Kommissarbefehl, dem Gerichtsbarkeitserlaß und dem Kommandobefehl, um sie dann einer völkerrechtlichen Würdigung zu unterziehen. Dabei stützt er seine Ausführungen all zu häufig auf Aussagen von Angehörigen des OKW im Hauptkriegsverbrecherprozeß und im sogenannten OKW-Prozeß (Fall 12) sowie auf Memoiren deutscher Generale. In seiner rechtlichen Argumentation greift Betz zudem leider kritiklos auf die Interpretationen von August von Knieriem zurück. Bei diesem insgesamt methodisch sehr fragwürdigem Vorgehen muß Betz abschließend hinsichtlich der Haltung des OKW zum Völkerrecht zu einem unhaltbaren Urteil gelangen.

17 Vgl. Hans-Adolf Jacobsen, Kommissarbefehl und Massenexekution sowjetischer Kriegsgefangener, in: Anatomie des SS-Staates. Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, München 1 9 9 4 (6. Aufl.), S. 4 4 9 - 5 4 4 ; Heinrich Uhlig, Der verbrecherische Befehl. Eine Diskussion und ihre historisch-dokumentarischen Grundlagen, in: Europäische Publikation e.V. (Hrsg.), Vollmacht des Gewissens, Bd. II, Frankfurt a.M. 1965, S. 2 8 9 - 3 4 7 ; Helmut Krausnick, Kommissarbefehl und „Gerichtsbarkeitserlaß Barbarossa" in neuer Sicht, in: V f Z 25 (1977), S. 6 8 2 738. 18 Vgl. Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1 9 4 1 - 1 9 4 5 , Bonn 1997 (3. Aufl.), S. 2 2 4 - 2 3 7 . " U.a. seien hier genannt: Alfred Streim, Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im „Fall Barbarossa". Eine Dokumentation unter Berücksichtigung der Unterlagen deutscher Strafverfolgungsbehörden und der Materialien der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen, Heidelberg 1 9 8 1 ; Helmut Krausnick, Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des S D 1 9 3 8 - 1 9 4 2 , Stuttgart 1981. 2 0 Vgl. Hermann Dieter Betz, Das O K W und seine Haltung zum Landkriegsvölkerrecht im Zweiten Weltkrieg, Würzburg 1970 (Diss.). Zu Betz siehe auch: Streit, Keine Kameraden, S. 308 Anm. 4.

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Einleitung

Einen kleinen Einblick in die Organisationsstruktur einer Völkerrechtsabteilung im Oberkommando der Wehrmacht und über deren personellen Verteilung gewährt Ger van Roon in seinen beiden Biographien über Helmuth James Graf von Moltke 21 . Auf Grund seines biographischen Interesses an der Person Moltkes bleibt Roon aber eine wirklich stringente Darstellung und Bewertung über dessen Tätigkeit als Völkerrechtler schuldig. Ein reichhaltiges Quellen- und Informationsmaterial über Organisation und Personen bietet Alfred Maurice de Zayas in seiner Studie über die Wehrmacht-UntersuchungssteUe, welche der Wehrmachtrechtsabteilung angegliedert war 22 . Seine ausführlichen und faktenreichen Beschreibungen über Aufgaben und Tätigkeit der Untersuchungsstelle bieten dem Leser ein kompaktes Bild über die Vielschichtigkeit völkerrechtlicher Probleme im Zweiten Weltrieg. Doch ebenso wie bei Hermann Dieter Betz unterliegen die Ausführungen von Zayas einer höchst zweifelhaften Methodik. So werden Befehle und Gerichtsurteile zitiert aber nicht kommentiert. Artikel der Haager Landkriegsordnung und Genfer Konvention werden nicht genannt und nicht erklärt. Die Rechtsfindungen deutscher Sonder- und Kriegsgerichte werden daher nicht hinterfragt, ebensowenig Verfahrensvorschriften und Gerichtinstitutionen, wie es beispielsweise bei den Prozessen gegen polnische Kriegsgefangene erforderlich gewesen wäre. Aus dem bloßen Vorhandensein von Völkerrechtsabteilungen und Gerichtsurteilen schafft Zayas ein Instrumentarium, mittels dessen er die letztlich schon in den Nürnberger Prozessen gewonnenen Erkenntnisse über die Wehrmacht zu relativieren sucht. Dieses Bestreben wird beispielsweise in seiner Rezension über Christian Streits Studie sichtbar, in der er unter dem fragwürdigen Verweis auf „einige hundert" eidesstattlicher Aussagen deutscher Generale aus den Nürnberger Prozessen dem Autor vorwarf, „vornehmlich die Anklageseite" zu vetreten, und sein Buch deshalb als „einseitig" verurteilte 23 . Die Bewertung deutscher Kriegsgerichtsverfahren bedarf einer detaillierten Auseinandersetzung von Artikeln, Gesetzen und Rechtsfiguren. Sie dient dazu Rechtsvorstellungen zu erhellen und politische Zielsetzungen zu erkennen. Dieser schwierigen Aufgabe unterzog sich die historische Forschung intensiv bei der Auswertung von Urteilen gegen Straftaten deutscher Soldaten, die vornehmlich Fälle von Fahnenfllucht, Desertion und Wehrkraftzersetzung zum Gegestand hatten. Hierzu gehören u.a. die Arbeiten von Manfred Messerschmidt, Norbert Haase und Franz W

Vgl. Ger van Roon, Graf Moltke als Völkerrechtler, in: V f Z 18 (1970), S. 1 2 - 6 1 ; ders., Helmuth James Graf von Moltke als Völkerrechtler 1 9 0 7 - 1 9 4 5 , in: ZaöRV 47 (1987), S. 7 4 0 - 7 5 4 . 22 Vgl. Alfred Maurice de Zayas, Die Wehrmacht-Untersuchungsstelle. Deutsche Ermittlungen über alliierte Völkerrechtsverletzungen im Zweiten Weltkrieg, München 1980. 23 Vgl. Alfred Maurice de Zayas, Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1 9 4 1 - 1 9 4 5 , in: HZ 232 (1981), S. 497—4-98. 21

2. Forschungsstand

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Seidler 24 . Eine Studie über Urteile deutscher Wehrmachtgerichte, die unter den Gesetzen des Völkerrechts standen, legte erstmals Jürgen Thomas im Jahre 1990 vor 2 5 . Gestützt auf Kriegsgerichtsurteile der deutschen Marine befaßt sich Thomas eingehend mit den Rechtsinhalten von Strafgesetzen und Rechtsdeutungen, die in den Verfahren gegen zivile Widerstandsakten in den besetzten Westgebieten von den Marinerichtern vorgebracht wurden. Anders als Zayas gelangt er zu einem äußerst kritischen Befund, der u.a. bestimmte stets wiederkehrende Rechtsformeln in den Gerichtsurteilen erkennt, die mit den Normen des internationalen Kriegsrechts nicht mehr zu vereinbaren waren. Hierunter fallt besonders die Problematik der Umsetzung völkerrechtlicher Normen in landesrechtliche, ein Thema, das in der vorliegenden Arbeit einen großen Stellenwert besitzt. Die Bedeutung dieser Rechtsfrage wird schließlich ein weiteres Mal sichtbar in der Studie Birgitt Becks, die den Rechtsbereich der Ahndung und Aburteulung sexueller Straftaten durch die deutschen Wehrmachtgerichte anhand von 178 Verfahren nach qualitativen Gesichtspunkten hin untersucht hat 26 . Vor dem Hintergrund der durch die Wehrmachtausstellung ausgelösten Debatten über die Kriegsverbrechen der deutschen Armeen und den hieraus notwendig erkannten Defiziten erschienen zu Beginn des neuen Jahrtausends zwei umfassende Sammelbände, die sich dem T h e m a „Kriegsverbrechen" allgemein für das 20. Jahrhundert anzunehmen suchten. Die Initiatoren dieser gewaltigen Aufgabe waren Wolfram Wette und Gerd R. Ueberschär sowie Franz W. Seidler und Alfred Maurice de Zayas 27 . Im ersten, 43 Aufsätze umfassenden Band, fällt allein bei der Lektüre des Inhaltsverzeichnisses die nahezu völlige Abwesenheit völkerrechtlicher

Vgl. Manfred Messerschmidt, Fritz Wüllner, Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden-Baden 1987; Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933-1945, Paderborn, München, Wien, Zürich 2005; Norbert Haase, Deutsche Deserteure, Berlin 1987; Franz W. Seidler, Das Justizwesen der Wehrmacht, in: Hans Poeppel, Wilhelm-Karl Prinz von Preußen, Karl-Günther von Hase (Hrsg.), Die Soldaten der Wehrmacht, München 1998, S. 361-404. 2 5 Vgl· Jürgen Thomas, Wehrmachtjustiz und Widerstandsbekämpfung. Das Wirken der ordentlichen deutschen Militärjustiz in den besetzten deutschen Westgebieten 1940-45 unter rechtshistorischen Aspekten, Baden-Baden 1990. In seiner neuesten Studie setzt sich Messerschmidt eingehend mit dem Thema „Verfahren gegen Zivilpersonen und Kriegsgefangene" (Kapitel VI) auseinander. Jedoch fehlt in seiner Analyse die erforderliche völkerrechtliche Einbettung der behandelten Gerichtsprozesse. Zudem stützt sich Messerschmidt in seiner Urteilsbildung auf eine rein quantitative Auswertung von überlieferten Urteilsstatistiken. Eine qualitative, d.h. eine auf Rechtssätze und deren Interpretation beruhende Erforschung deutscher Rechtsanwendung, wie sie Thomas vornimmt, wird von Messerschmidt stark vernachlässigt. Vgl. Messerschmidt, Wehrmachtjustiz (2005), S. 233-320. Auch führen unbegründete, pauschale Annahmen Messerschmidts zu falschen Prämissen, wie z.B. der vorbehaldosen Gleichstellung von „Partisanen" und Kombattanten. Komplexe, vielschichtige Rechtsfragen gehen hierdurch verloren, deren Aufbereitung erst die jeweilige Rechtsauffassung der Wehrmacht offen gelegt hätte. Vgl. ebd., S. 298 und S. 317. 26 Vgl. Birgitt Beck, Wehrmacht und sexuelle Gewalt. Sexualverbrechen vor deutschen Militärgerichten 1939-1945, Paderborn, München, Wien, Zürich 2004. 27 Vgl. Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001; Franz W. Seidler, Alfred Maurice de Zayas (Hrsg.), Kriegsverbrechen in Europa und im Nahen Osten im 20. Jahrhundert, Hamburg, Berlin, Bonn 2002. 24

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Einleitung

Themenstellungen auf, welche ohnehin auf Grund der knapp bemessenen Seitenzahlen für den jeweiligen Autor in einem detaillierten Diskurs schwerlich zu leisten gewesen wäre. Die Begrenzung auf das primär Faktische wird einleitend durch die Herausgeber mit dem Diktum erklärt, Historiker dürften sich „bei ihren Forschungen und Darstellungen nicht durch juristische Definitionen einschränken lassen" 28 . Damit erhebt sich die Frage, woran soll sich ein Historiker in seiner Analyse orientieren, wenn nicht an internationale und nationale Verträge, Gesetze und Richtlinien, die eben dezidiert den Handlungsrahmen vorgaben für die Entscheidungen der jeweiligen handelnden Akteure? Unterschiedliche Interpretationen kriegsrechtlicher Normen, politische Vorgaben und individuelle Intentionen von Politikern, Militärs und Juristen heben in diesem Bereich die Geschichtswissenschaft auf eine Art „MetaMeta-Ebene", die eine annähernd befriedigende Aufarbeitung nur in einer intensiven und detaillreichen Kommunikation ermöglicht. Der einzige Beitrag des Sammelbandes, der sich ausschließlich mit dem internationalen Kriegsrecht befaßt, stammt von Jost Dülffer 29 . In weiten Teilen an Manfred Messerschmidts Aufsatz über die „Kriegsnotwendigkeit" in der Tradition deutscher Militärs 30 orientiert, vermittelt Dülffers Aufsatz nicht nur einen chaotischen, sondern auch falschen Eindruck über das damalige Kriegsrecht infolge einer schlampigen Recherche und Redaktion. So werden Artikel der Haager Landkriegsordnung (HLKO) verwechselt, wie z.B. Art. 1 mit Art. 24 HLKO oder Art. 3 des IV. Haager Abkommens mit Art. 3 HLKO, oder Rechtsinhalte falsch wiedergegeben wie im Falle des Art. 50 HLKO, der für die Frage der Repressalmaßnahmen von erheblicher Bedeutung ist. Auch in der Behandlung des Themas „Bestrafung von Kriegsverbrechen" streut Dülffer falsche Informationen ein, so durch Erwähnung des BriandKellogg-Paktes von 1928, der die Unterzeichnerstaaten zur Kriegsächtung (ius ad bellum) verpflichtete und „Kriegsverbrechen" (ius in bello) nicht zum Gegenstand hatte31. Darüber hinaus ist zu bedauern, daß die folgenden Beiträge an Dülffers Aufsatz in der Regel nicht mehr anknüpfen, und damit die Frage der Handhabung des Kriegsrechts durch die Wehrmacht oder andere Armeen meist in der faktischen Wiedergabe von Befehlen und Ereignissen ohne Einbeziehung kriegsrechtlicher Normen vollziehen 32 . Vgl. Gerd R. Ueberschär, Wolfram Wette, Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert als Problem der Geschichtsschreibung, in: dies. (Hrsg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001, S. 11. 29 Vgl. Jost Dülffer, Regeln im Krieg? Kriegsverbrechen und die Haager Friedenskonferenzen, in: Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001, S. 35—49. 30 Vgl. Manfred Messerschmidt, Völkerrecht und „Kriegsnotwendigkeit" in der deutschen militärischen Tradition seit den Einigungskriegen, in: German Studies Review 6 (1983), S. 237— 269. 31 Die schlampige Redaktion setzt sich im gesamten Band weiter fort, wie z.B. der Titel des Beitrages von Winfried Vogel belegt: ders., Kriegsverbrechen der Wehrmacht und der Bundeswehr. Manfred Messerschmidt und die Vermittlung bitterer Wahrheiten, in: Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001, S. 533— 543. 32 Eine Ausnahme bildet u.a.: Gerd Hankel, Deutsche Kriegsverbrechen des Weltkrieges 1914— 18 vor deutschen Gerichten, in: Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001, S. 85-98. 28

2. Forschungsstand

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Der zweite Sammelband ist als Nachschlagewerk zu bestimmten Kriegs- und Rechtsthemen konzipiert und enthält 140 Einzelbeiträge ausgehend von den Konzentrationslagern im Burenkrieg bis zum Massaker von Racak. Allein die gebotene Kürze der Beiträge, die zum Teil nicht einmal eine Seite umfassen, macht es nahezu unmöglich dem jeweils behandelten Thema oder Ereignis gerecht zu werden. Viele Artikel kommen daher ganz ohne Erklärungen zum Kriegsrecht aus33. Auch Beiträge, welche für die vorliegende Arbeit von großem Interesse wären, müssen enttäuschen. Hierzu zählt u.a. der Aufsatz von Horst Rohde über die deutschen Kriegsverbrechen in Polen34, in dem er den Fokus zu stark auf die Proteste deutscher Generale, insbesondere von General Johannes Blaskowitz, gegen die Schikanen und Terrorakte von Polizei und SS richtet. Der Haltung der Wehrmacht gegenüber vermeintlichen oder tatsächlichen zivilen Widerstandsakten räumt er hingegen nur vier Zeilen ein mit dem Kommentar, daß die deutschen Soldaten „in vielen Fällen überzogen reagierten". Eben hier wäre aber der Punkt gewesen, genauer Rechtsgrundlagen und Rechtsauffassungen darzulegen, um jene überzogenen Reaktionen verstehen und einordnen zu können. Demgegenüber führt Norbert Zielinski über den Spezialfall der polnischen Postverteidiger in Danzig eine rein juristische Auseinandersetzung 35 . In seiner Interpretation des Rechtsproblems bleibt Zielinski aber ganz auf der Linie der damaligen deutschen Argumentation, ohne Kritiken und Einwände wie beispielsweise von Dieter Schenk 36 , den er in seinem Literaturanhang aufführt, zu berücksichtigen. In seiner Bewertung des rechtlich komplizierten Falles kommt Zielinski daher zu einem unhaltbaren Ergebnis. Auch muß im Gesamt über den Sammelband von Seidler und Zayas konstatiert werden, daß er auf Grund seiner themarischen Zusammenstellung und der inhaltlichen Ausarbeitung nicht frei von eindeutig politischen Tendenzen ist. Im Gegensatz zu Horst Rohdes Verharmlosung der Wehrmachtsverbrechen gibt Jochen Böhler der Kriegführung der Wehrmacht in Polen den eindeutigen Begriff des Vernichtungskrieges 37 . Mit z.T. neuen Quellenfunden und Dokumenten belegt er zahlreiche Übergriffe und Ausschreitungen gegen Kriegsgefangene und Zivilisten, beschreibt Morde und Brandschatzungen unter dem Deckmantel der Freischärlerbekämpfung. Doch bleibt in seiner Analyse die völkerrechtliche Verortung der Wehrmacht merklich unterbelichtet. Ursprung und Motive einer menschenverachtenden Rechtsauffassung werden nicht erklärt, das notwendige Gegenbild einer rechtskonVgl. u.a. Horst Boog, Bombardierung der polnischen Grenzstadt Wielun am 1. September 1939, in: Franz W. Seidler, Alfred Maurice de Zayas (Hrsg.), Kriegsverbrechen in Europa und im Nahen Osten im 20. Jahrhundert, Hamburg, Berlin, Bonn 2002, S. 136; Helmut Schmoekel, Kaperung heimkehrender deutscher Handelsschiffe nach Kriegsbeginn, in: ebd., S. 145f. 34 Vgl. Horst Rohde, Deutsche Kriegsverbrechen in Polen 1939, in: Franz W. Seidler, Alfred Maurice de Zayas (Hrsg.), Kriegsverbrechen in Europa und im Nahen Osten im 20. Jahrhundert, Hamburg, Berlin, Bonn 2002, S. 143-145. 35 Vgl. Norbert Zielinski, Verteidigung der polnischen Post in Danzig am 1. 9. 1939, in: Franz W. Seidler, Alfred Maurice de Zayas (Hrsg.), Kriegsverbrechen in Europa und im Nahen Osten im 20. Jahrhundert, Hamburg, Berlin, Bonn 2002, S. 136-138. 36 Vgl. Dieter Schenk, Die Post von Danzig. Geschichte eines deutschen Justizmords, Reinbek bei Hamburg 1995. 37 Vgl. Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt a.M. 2006. 33

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Umleitung

formen Kriegführung wird nicht vorgestellt. Gleichwohl bilden Böhlers Ausführungen eine wichtige Ergänzung zu den Studien Helmut Krausnicks.

3. Quellenlage Zur Erforschung des Themas bietet sich ein reichhaltiges aber weit verstreutes Aktenmaterial an. Im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin, früher Bonn, sind im Bestand „Völkerrecht/Kriegsrecht" relevante Akten der Rechtsabteilung einzusehen. Neben Rechtsgutachten des Völkerrechtsreferats der Rechtsabteilung bilden vor allem die überlieferten Akten „Strafverfahren gegen Kriegsgefangene" aus diesem Bestand einen unschätzbaren Wert, da sie einen Überblick in die deutsche Rechtspraxis in Gerichtsverfahren gegen Kriegsgefangene der Westalliierten gewähren. Zur Aufarbeitung der deutschen Rechtsentwicklung in der Zwischenkriegszeit lassen sich aus dem Bestand „Friedensvertrag" Erkenntnisse über die Auseinandersetzung deutscher Völkerrechder und Militärs mit den Kriegsverbrechen des Ersten Weltkrieges gewinnen. Im Bundesarchiv Berlin kann aus den überlieferten Dokumenten der Rechtsabteilung des Reichsjustizministeriums (R 22) zu dem hier interessierenden Thema nur wenig Informationsmaterial entnommen werden. Dagegen erweisen sich die Sitzungsprotokolle des Ausschussses für Völkerrecht der Akademie für Deutsches Recht (R 61) als herausragende Quelle zur Bestimmung deutscher Rechtsauffassungen während des Zweiten Weltkrieges. Ebenso liegen Dokumente über Institute und Gesellschaften in den Beständen R 3001 und R 3013 vor, die zusätzliche Erkenntnisse über die Rechtswissenschaft in der Zwischenkriegszeit erbringen. Zudem lagert in Berlin ein Teilbestand der Akten des Auswärtigen Amtes (R 901). Die Unterlagen der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes bilden auch hier eine interessante Quelle z.B. über Kriegsrechts fälle aus dem Ersten Weltkrieg. Zur Erforschung der Völkerrechtsauffassung der Wehrmacht stellen die Bestände des Bundesarchiv-Militärarchivs in Freiburg i.Br. eine wichtige Grundlage dar. Bei den Recherchen wurden nicht allein die Akten der Rechtsabteilungen der Wehrmacht und des Heeres herangezogen, sondern auch die anderer Abteilungen, teilweise auch die Akten von Heeresgruppen und Armeen. Die Unterlagen der Wehrmachtrechtsabteilung und der Wehrmachtuntersuchungsstelle (RW 2) enthalten umfangreiches Material über Kriegsrechtsverletzungen der Gegner, das zum Teil in den sogenannten „Weißbüchern" des Auswärtigen Amtes und des OKW der internationalen Öffentlichkeit präsentiert wurde. Darüber hinaus befinden sich im Bestand RW 2 einige Rechtsgutachten und Urteilsstatistiken der Wehrmachtrechtsabteilung sowie Lehrmaterialien für die Ausbildung der Heeresrichter, die zusammen mit den Dokumenten der Amtsgruppe „Heeresrechtswesen", welche dem Chef der Heeresrüstung und des Ersatzheeres (RH 14) unterstellt war, ergiebige Aufschlüsse über den Wissensstand in völkerrechtlichen Fragen innerhalb der Wehrmacht geben. Der Bestand „Oberkommando der Wehrmacht" (RW 4), der vor allem Akten umfaßt, welche die Wehrmacht als ganzes betreffen, bietet Informationen zur Organisationsstruktur der Rechtsabteilungen im OKW, welche ergänzt werden können durch Materialen des Bestandes „Amt Ausland/Abwehr" (RW 5). Zudem enthält der Be-

3. Quellenlage

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stand RW 4 die von Rudolf Lehmann herausgegebenen „Kriegsrechtsfalle", die ein bedeutendes Dokument nicht nur im Hinblick auf die Ausbildung, sondern auch für die rechtliche Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges bilden. Aus der Aktenüberlieferung des Heeres sind für das gestellte Thema besonders die des „Oberbefehlshaber des Heeres" (RH 1), des „Generalstabs des Heeres" (RH 2) sowie der „Kommandanturen der Militärverwaltung" (RH 36) relevant. So lassen sich aus dem Bestand RH 2 Daten über Organisation und Ausbildung entnehmen, während die Bestände RH 1 und RH 36 u.a. grundlegende Befehle für die Kriegführung aufweisen, welche verschiedene Bereiche des Kriegsrechts betreffen. Kenntnisse über Wissensstand und Interpretation kriegsrechtlicher Bestimmungen können desweiteren aus der „Handakte Gladisch" (RM 8/1314—1336) gewonnen werden. Diese besitzt Briefwechsel der Völkerrechtsgruppe des Amtes Ausland/Abwehr mit dem Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht der Kaiser-WilhelmGesellschaft sowie mit anderen Abteilungen der Wehrmacht. Zudem verdienen die Sitzungsprotokolle des „Vorausschusses Kriegsrecht", das unter Leitung von Admiral Gladisch stand, Erwähnung, auch wenn dessen Augenmerk primär dem Seekriegsund Handelsrecht galt. Über die personellen Verbindungen der Völkerrechtsgruppe und des genannten Ausschusses geben die Personalakten von Helmuth James Graf von Moltke, Ernst Schmitz und von Viktor Bruns aus dem Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin weitere interessante Anhaltspunkte. Im Bundesarchiv-Zentralnachweisstelle in Aachen/Kornelimünster lagern sowohl die Personalakten von Heeresrichtern und Wehrmachtbeamten als auch die Prozeßakten der Wehrmachtgerichte. Der erste Bestand liefert weitere Informationen über die Organisationsstruktur der Rechtsabteilungen der Wehrmacht und ihrer personellen Zusammensetzung. Darüber hinaus gibt er Möglichkeiten, einige Rückschlüsse über Ausbildung, Prägung und rechtspolitische Überzeugung der betreffenden Rechtsberater und Heeresrichter zu ziehen. Aus dem zweiten Bestand wurden einige Gerichtsurteile gegen deutsche Soldaten aufgefunden, die unter den Gesichtspunkten des Völkerrechts von gewichtiger Bedeutung sind. Sie stammen, was an sich schon eine kleine Sensation ist, mehrheitlich aus dem sowjetischen Kriegsschauplatz. Sie werden aber zum Vergleich von Urteilsbegründungen aber auch zur Verdeutlichung rechtlicher wie sachthematischer Probleme und Fragestellungen in die vorliegende Arbeit mitaufgenommen. Das Archiv des Instituts für Zeitgeschichte in München verfügt über umfangreiche Aktenbestände zu den Nürnberger Prozessen. Für die vorliegende Arbeit wurden vor allem die Dokumente zum Nürnberger OKW-Prozeß (Fall 12) eingesehen. Hierzu gehören u.a. die auf Mikrofilm gesicherten NOKW-Akten (MA-1564) und die Protokolle aus dem Prozeß, „Records of the United States Nuernberg War Crimes Trials. United States of America ν. Wilhelm Leeb et al. (case XII)", welche unter der Bestandsnummer MB 31/1-69 verzeichnet sind. Hieraus wurde die Vernehmung von Dr. Rudolf Lehmann ausgewählt. Zusätzlich wurden biographische Stellungnahmen aus der Sammlung Zeugenschriftentum (ZS) herangezogen.

I. Das Kriegsrecht in Deutschland 1899 bis 1933 1. Der totale Krieg „Herr General, haben Sie in der Schule je etwas vom Völkerrecht gehört? Ich nicht. Völkerrecht ist etwas, das gibt es nur in der Zeitung." 38 Diese Antwort des Generals der Flieger und Wehrmachtbefehlshabers in den Niederlanden, Friedrich Christian Christiansen, auf die Frage des Oberbefehlshabers der niederländischen Streitkräfte, General Winkelman, die deutsche Wehrmacht werde sich doch an das Völkerrecht halten, war symptomatisch für die traditionelle Auffassung zahlreicher deutscher Militärs und Politiker über den Krieg an sich, über Kriegsziele und Kriegführung 39 . Die Realität des Krieges und damit insbesondere seine „Eigengesetzlichkeit" ließen in ihren Augen eine generelle Verbindlichkeit von Rechtsnormen nicht zu. „Not kennt kein Gebot" lautete der Kernsatz der programmatischen Rede des deutschen Reichskanzlers Bethmann-Hollweg vom 4. August 1914, in der er die Neutralitätsverletzung gegenüber Belgien zu rechtfertigen suchte 40 . Der Krieg in seiner Entstehung oftmals als ein nicht einzudämmendes „Naturgesetz" betrachtet 41 , wurde in seiner Austragung primär als gesetzlicher Ausnahmezustand begriffen. Völkerrechtswidrige Kriegshandlungen konnten deshalb mit unscharfen Schlagworten wie Staatsnotstand, Kriegsnotwendigkeit, militärische Notwendigkeit oder schlicht Notwehr scheinbar legitimiert und staatlichen Interessen dienstbar gemacht werden. Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, aber auch der Grenzschlachten in Oberschlesien, der Kriege in China, Spanien oder in Abessinien wirkten somit bestätigend auf jene, die seit jeher die Ohnmacht des Völkerrechts in Krisenzeiten konstatiert hatten. Bereits der Erste Weltkrieg zeitigte die Konsequenz, daß der moderne Krieg mit den Mitteln der „europäischen Kriegskunst" des 18. und 19. Jahrhunderts nicht mehr zu führen war. Die Ausweitung des Krieges auf die wirtschaftlichen Ressourcen des Gegners ließ eine Unterscheidung zwischen Front und Hinterland sinnlos werden. Der räumlich begrenzte Krieg abseits des zivilen Alltags gehörte endgültig der Vergangenheit an. Erste Vorboten einer in alle Lebensbereiche einer Gesellschaft hineinreichenden Kriegführung waren der amerikanische Bürgerkrieg 1861—1865 und der 38 Zitiert aus: Helmuth James Graf von Moltke. Briefe an Freya 1 9 3 9 - 1 9 4 5 , hrsg. von Beate Ruhm von Oppen, München 1995, S. 487 (Brief vom 5. 6. 1943). 39 Moltke, dem Christiansen in süffisantem Ton während eines Abendessens aus seinen ersten Diensttagen in den Niederlanden erzählte, schätzte diesen zwar als einen „überdurchschnittlich intelligenten" Mann, sah aber seine Inkompetenz als Wehrmachtsbefehlshaber besonders darin, daß er von den hohen Fragen der Politik und der Kriegführung nichts wußte, „weil er die Fragestellung garnicht (sie) kennt. Er ist davon ganz unberührt." Er „hat überhaupt nicht bemerkt, daß er dabei einen vollkommenen Bericht über die Gründe gegeben hat, warum die Sache in Holland schiefgehen mußte. Das konnte garnicht gutgehen." Siehe: ebd., S. 486.

Vgl. Josef L. Kunz, Belgien, in: Karl Strupp (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Bd. 1, Berlin, Leipzig 1924, S. 124. 41 Vgl. Manfred Messerschmidt, Völkerrecht und „Kriegsnotwendigkeit" in der deutschen militärischen Tradition seit den Einigungskriegen, in: German Studies Review 6 (1983), S. 238ff. 40

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I. Das Kriegsrecht in Deutschland 1899 bis 1933

deutsch-französische Krieg 1870/71. Doch erst der technologische Fortschritt der Jahrhundertwende, insbesondere die Entwicklung der Luft- und Panzerwaffe, machte Industrieanlagen, Kraftwerke, Depots und Umschlagplätze zu lohnenden und schnell erreichbaren Angriffszielen. In zunehmendem Maße mußten auf beiden Seiten Kriegskonzeptionen von Militärstrategen den Produktionszahlen und Rohstoffvorkommen Rechnung tragen. Allein der ökonomische Faktor bewirkte eine Veränderung militärischer Ziele: Die Vernichtung oder Eroberung der Wirtschaftszentren des Feindes wurden eine unabdingbare Voraussetzung für die Zerschlagung seiner Streitkräfte. Der Zivilist, zum militärischen Objekt erhoben, war den Notwendigkeiten des Krieges schutzlos ausgeliefert. Solche Reflexionen über den Ersten Weltkrieg bildeten schließlich die Grundlage für eine Radikalisierung der deutschen Militärdoktrin. Anknüpfend an die bisherige Prämisse des Notrechts 42 wurde der moderne Krieg von vielen Militärs und Veteranen als ein das gesamte Volk betreffenden Existenzkampf begriffen, der den rücksichtslosen Einsatz aller Mittel gegen den Feind legitimierte43. So schrieb beispielsweise im Jahre 1925 George Soldan, ein Mitarbeiter des Reichsarchivs: „Der moderne Existenzkampf von Völkern kennt keine Bindung an Vereinbarungen und Paragraphen, er kennt aber auch keine Moral." 44 Bedeutete die Betonung der militärischen Notwendigkeit in der älteren, hegelianisch geprägten Doktrin primär einen rechtlichen Vorbehalt, deren subjektives Ermessen allerdings die Gefahr der Eskalation barg, forderte nun eine Vielzahl militärtheoretischer Autoren die Beseitigung sämtlicher völkerrechtlicher Schranken als Grundbedingung künftiger Kriegführung. Entsprechend verlangte u.a. General a.D. Buchfinck 1929, daß der Krieg der Zukunft sich aller erdenklichen Mittel zu bedienen habe, ungeachtet der bestehenden völkerrechtlichen Normen, denn „je energischer die eine Partei die Kampfmittel der neuen Zeit zur Geltung bringt, je skrupelloser sie sich über alle Grenzen hinwegsetzt, die bis dahin eine herkömmliche Anschauung vom Kriegs- und Völkerrecht gezogen hatte, desto stärker wird ihre Überlegenheit sich auswirken." 45 Ein „Kampfmittel der neuen Zeit" war ohne Zweifel der pausenlose Einsatz der Propaganda, wie sie bereits im Ersten Weltkrieg von der Entente besonders wirksam zur Diffamierung der Mittelmächte vorgeführt wurde. Die gezielte psychologische Einwirkung auf die öffentliche Meinung zwang die Gegner nicht nur zu Gegenmaßnahmen auf der zwischenstaatlichen Ebene, sondern auch zu einer verstärkten „Aufklärungsarbeit" unter den Fronttruppen zur Hebung der Kampfmoral und zur Abwehr der Feindpropaganda. Hatte die Oberste Heeresleitung (OHL) dieses neue Feld der Kriegführung lange Zeit vernachlässigt und erst sehr spät seine Bedeutung erkannt46, so avancierten Propaganda und „Wehrerziehung" im Dritten Reich zu einem 42

Vgl. Christian Meurer, Das Kriegsrecht der Haager Konferenz, München 1907, S. 12f.

Vgl. Johannes Hürter, „Es herrschen Sitten und Gebräuche, genauso wie im 30-Jährigen Krieg." Das erste Jahr des deutsch-sowjetischen Krieges in Dokumenten des Generals Gotthard Heinrici, in: V£Z 48 (2000), S. 345. 4 4 Zitiert aus: Gerhard Förster, Totaler Krieg und Blitzkrieg. Die Theorie des totalen Krieges und des Blitzkrieges in der Militärdoktrin des faschistischen Deutschlands am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, Berlin (Ost) 1967, S. 73. 45 Zitiert aus: ebd., S. 73. 46 Vgl. Stefan Kestler, „Vaterländischer Unterricht" als Teilaspekt der deutschen Truppenaufklärung während des Ersten Weltkrieges, in: Historische Mitteilungen 7 (1994), S. 2 2 8 - 2 4 3 . 43

1. Der totale Krieg

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Grundpfeiler einer nunmehr ideologisch aufgeladenen Militärdoktrin. Ihre Funktion bestand vor allem in der geistigen Vorbereitung auf einen kommenden Krieg. Die psychologische Kriegführung mußte gewonnen sein, bevor der eigentliche Waffengang begann 47 . Erste Schritte auf diesem Gebiet unternahm Reichswehrminister General Werner von Blomberg im April 1934, als er die monatliche Herausgabe der „Richtlinien für den Unterricht über politische Tagesfragen" als Leitfaden für den „nationalpolitischen Unterricht" an den Heeresfachschulen verordnete. Damit schuf er zugleich die Basis für eine ideologische Zusammenarbeit von Wehrmacht und NSDAP 48 . Die „Teilidentität von Zielen und Vorstellungen" zwischen großen Teilen des Offizierskorps und der Partei49, die u.a. in einem Anti-Versailles-Komplex, in der Ablehnung des Parlamentarismus und in antibolschewistischen wie antisemitischen Ressentiments wurzelten, spiegelte sich ebenso in staatsrechtlichen Auffassungen wider. Die von Hitler geprägte Formel von den „zwei Säulen" des Staates — Wehrmacht und Partei — sollte auch nach dem Willen verschiedener Militärs Ausgangspunkt eines neuen Selbstverständnisses der sich wandelnden Reichswehr sein. Besonders der häufig beklagte Zusammenbruch der „Heimatfront" 1917/18 und der demgegenüber ständig beschworene Frontkämpfergeist, der sich u.a. in einer Flut von (Erlebnis-) Romanen und sogenannten deutschen Utopien 50 niederschlug, beförderten Vorstellungen von einem Staatsbild, welche die Einheit zwischen Wehrerziehung und politischer Erziehung in einer straff geführten „Volksgemeinschaft" als Konsequenz der Niederlage betonten. Admiral Wilhelm Franz Canaris, der in der „totalen Natur" des Nationalsozialismus die Essenz des Fronterlebnisses erblickte, faßte 1938 die Aufgaben der Wehrmacht im NS-Staat in vier „Grundsätzen" zusammen: „I. Die deutsche Wehrmacht hat Vorbild in der Verwirklichung der nationalsozialistischen Weltanschauung zu sein. Vgl. A. Blau, Die geistige Kriegführung im Rahmen der Gesamtkriegführung, in: Jahrbuch für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften 1939, Hamburg 1939, S. 95f. 48 Vgl. Manfred Messerschmidt, Politische Erziehung der Wehrmacht - Scheitern einer Strategie, in: ders. (Hrsg.), Militärgeschichtliche Aspekte der Entwicklung des deutschen Nationalsozialismus, Düsseldorf 1988, S. 132f. 4» Vgl. ebd., S. 130 50 Die Verherrlichung des Frontkämpfers, die schon im Weltkrieg einsetzte, schuf nicht nur den Mythos des heroischen deutschen Soldaten, sondern verstieg sich auch in apokalyptischen Visionen, die nach dem Vorbild Nietzsches die Notwendigkeit von Leid, Kampf und „nur" scheinbarem Tod eine „unwirkliche Zeit" überwinden halfen. Der Blick zurück in eine vergangene Welt und die Hinwendung zum Tode, beides wesentliche Elemente der nationalsozialistischen Ideologie, standen nicht nur sinnbildlich für die Ablehnung der Weimarer Republik, sondern auch für eine Verweigerung der gebotenen Aufarbeitung des Kriegsgeschehens und seiner Ursachen: „Die Toten sind in Wirklichkeit gar nicht tot, sie steigen aus ihren Gräbern und besuchen uns nachts in unseren Träumen. Die glorreich Gefallenen kommen in uns selbst wieder zum Leben. Sie helfen mit, die unveränderliche Seele des Menschen, das heißt sein inneres Wesen, zu formen und so ein deutsches Wunder zu verwirklichen. Was ist dieses Wunder? Es ist der Glaube, daß Deutschland nicht besiegt wurde und daß die Zeit gekommen ist, das Reich wiederaufzubauen und seine verlorene Ehre wiederherzustellen." Zitiert aus: George L. Mosse, Tod, Zeit und Geschichte. Die völkische Utopie der Überwindung, in: Reinhold Grimm, Jost Hermand (Hrsg.), Deutsches utopisches Denken im 20. Jahrhundert, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1974, S. 55. 47

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I. Das Kriegsrecht in Deutsch land 1899 bis 1933

II. Die deutsche Wehrmacht hat Vorbild für die Verwirklichung des unverfälschten Führergedankens zu sein. III. Die deutsche Wehrmacht hat eine große Erziehungsschule für die junge Mannschaft des Staates zu sein. IV. Die deutsche Wehrmacht hat die Volksgemeinschaft in vorbildlicher Form zu verkörpern." 51 Die von Partei und Wehrmacht forcierte Kriegsvorbereitung zur Gewinnung neuen Lebensraumes bewirkte eine Ausrichtung der Politik auf die Notwendigkeiten des Krieges. Dem „totalen Staat" entsprach der auf Erich Ludendorff zurückgehende Begriff des „totalen Krieges" 52 , der alle wesentlichen Faktoren älterer und neuerer Militärdoktrin in sich vereinigte. Nach Generalleutnant a. D. Adalbert von Taysen, seit 1935 Leiter der Arbeitsgemeinschaft „Wehrverkehrsfragen" in der „Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften", trug der „naturgewollte" Krieg der Völker" wieder die „Züge seiner rauhen Urform, des rücksichtslosen Kampfes aller gegen alle." Maßnahmen der Konfliktregulierung und Kriegsverhütung verstießen gegen das Naturgesetz der Auslese und Arterhaltung, denn der Krieg fördere schließlich „die Entwicklung des Kraftvollen und Gesunden und macht den Weg frei für neues Leben." Der Pazifismus, erwachsen „aus einer egoistischen Überschätzung des Lebens", stehe deshalb dem „hohen sittlichen Wert der Opferbereitschaft (...) fremd und verständnislos gegenüber." 53 Das wohl wichtigste Dokument für die Fixierung der Militärdoktrin des Dritten Reiches war die Denkschrift des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) vom 4. April 1938 über die „Kriegführung als Problem der Organisation" mit dem Anhang „Was ist der Krieg der Zukunft?". Der Autor, Alfred Jodl, General der Artillerie und Chef des Wehrmachtführungsstabes im OKW, faßte darin alle bekannten Paradigmen künftiger Kriegsszenarien zusammen: Der „hohe sittliche Zweck gibt dem Kriege sein totales Gepräge und seine ethische Berechtigung. (...) Am Ende eines verlorenen Krieges droht nicht nur die Schädigung, sondern die Vernichtung von Staat und Volk. Damit wird der heutige Krieg zu einem Staatsnotstand und zu einem Existenzkampf jedes einzelnen. (...) Der Krieg wird mit allen Mitteln geführt; nicht nur mit der Waffe, sondern auch mit den Mitteln der Propaganda und der Wirtschaft. Er richtet sich gegen die feindliche Wehrmacht, gegen die materiellen Kraftquellen des Feindes und die seelischen Kräfte seines Volkes. Das Leitmotiv seiner Führung muß sein: Not kennt kein Gebot." 54 Auch in anderen Ländern führten die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges zu einer Radikalisierung ihrer Militärdoktrin. So begriff beispielsweise die britische Luftkriegsdoktrin, deren Grundgedanken auf den langjährigen Chief of Staff der Royal Wilhelm Franz Canaris, Politik und Wehrmacht, in: Richard Donnevert (Hrsg.), Wehrmacht und Partei, Leipzig 1938, S. 44. 52 Vgl. Carl Schmitt, Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat (1937), in: ders. (Hrsg.), Positionen und Begriffe. Im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1 9 2 3 - 1 9 3 9 , Hamburg 1940, S. 2 3 5 239. Vgl. auch: Hürter, Sitten, S. 338. 53 Adelbert von Taysen, Krieg, in: Hermann Franke (Hrsg.), Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften, Band 1: Wehrpolitik und Kriegsführung, im Auftrage der Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften, Berlin, Leipzig 1936, S. 171 und S. 173. 54 Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (IMT), Bd. XXXVIII, S. 48/49. Siehe dazu auch: Förster, Totaler Krieg, S. 64 ff. 51

1. Der totale Krieg

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Air Force, Lord Hugh Trenchard, zurückgingen, den Krieg als „nationale Angelegenheit", der einer „gesamtnationalen Anstrengung" und zwar aller industriellen, wirtschaftlichen, finanziellen, moralischen und militärischen Ressourcen bedürfe. Unter den Ressourcen einer Gesellschaft besaß in der britischen Militärdoktrin deren Willenskraft bzw. Moral oberste Priorität. Für sie war die Willenskraft einer Nation die Grundlage aller Kriegsanstrengungen, „denn durch den Willen des Volkes wird die Regierung ermächtigt, die anderen Kraftquellen für die Kriegführung einzusetzen. (...) Eine Nation ist geschlagen, wenn Volk oder Regierung keinen eigenen Willen zur Verfolgung ihres Kriegszieles mehr haben." 55 Dieses Ziel könne demnach herbeigeführt werden durch die Ausschaltung der feindlichen Streitkräfte, aber auch durch Hungerblockaden, Unruhen und Kriegsmüdigkeit in der Bevölkerung. Gemäß dieser Maxime wurde schließlich der „strategische Terrorbombenkrieg" als eine der wirksamsten Methoden zur Zerschlagung des Gegners erachtet. Selbst der Völkerrechtsexperte im britischen Luftfahrtministerium, James Molony Spaight, rechtfertigte diese Strategie mit den Worten: „Die Moral der Bevölkerung muß gebrochen werden. Dazu sind die Großstädte geeignet, legt sie deshalb in Trümmer." 56 Wie sind nun diese Aussagen über den Krieg der Zukunft zu verstehen? Sie alle enthalten in mehr oder weniger großer Deutlichkeit, sei es als Postulat oder als bloßes Faktum, die Regellosigkeit künftiger Kriegführung. Formulieren diese Doktrinen nun aber Visionen bzw. Ängste, beschreiben sie nur das mutmaßliche Ausufern moderner Kriege, oder sind sie Ausdruck des politischen Willens? Die Interpretation von Aussagen einzelner „Experten" über Formen und Ziele künftiger Kriege darf schließlich die verfassungsrechtliche Verortung bzw. Funktion der Militärs in den jeweiligen Staaten ebensowenig außer Acht lassen, wie Position und Entscheidungsbefugnis der zitierten Autoren. Auch durfte die Ohnmacht des einzelnen gegenüber einem schier unaufhaltsamen Technisierungs- und Zivilisationsprozeß nicht darüber hinweg täuschen, daß es stets in der Verantwortung der betreffenden Funktionseliten lag, in welchem Gewände sich ein neuer Krieg zeigte. Kriegsverbrechen ging meist ein politischer Wille voraus: „Oft wird behauptet, die Tendenz zum Mißbrauch beruhe auf der fortschreitenden Technisierung, ja sie sei dadurch zwangsläufig. Der wahre Grund dürfte aber weit eher die Re-Barbarisierung des Kriegszweckes sein."57 Keineswegs bestand im Dritten Reich bzw. in der deutschen Wehrmacht Einmütigkeit darüber, in welchen Formen ein künftiger Krieg auszutragen sei. Die Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen aber auch Zweifel an der Fähigkeit der deutschen Volkswirtschaft einen totalen Vernichtungskrieg durchzustehen, ließen bereits in den zwanziger Jahren in der militärtheoretischen Literatur strategische Konzeptionen eines „schnellen" bzw. „kurzen Krieges" heranreifen, deren Grundüberlegungen schon im sog. „Schlieffen-Plan" angelegt waren58. Entsprechend fehlte es auch nicht

55 Zitiert aus: Horst Boog, Völkerrecht und Menschlichkeit im Luftkrieg, in: Hans Poeppel, Wilhelm-Karl Prinz von Preußen, Karl Günther von Hase (Hrsg.), Die Soldaten der Wehrmacht, München 1998, S. 267. 56 Ziüert aus: ebd., S. 266; ebenso: Gerhard L. Binz, Die Martens'sehe Klausel, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau 10 (1960), S. 148. 57 Binz, Martens'sehe Klausel, S. 139. 58 Vgl. Förster, Totaler Krieg, S. 80 und S. 83.

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I. Das Kriegsrecht in Deutschland 1899 bis 1933

an Stimmen, die vor einem völligen „Totalitätswahn" 59 warnten und besonders auf die unabsehbaren politischen wie militärischen Folgen einer rechdosen Kriegführung im Angesicht der öffentlichen Meinung und des neutralen Auslandes hinwiesen 60 . Freilich entsprangen derartige Mahnungen meist nicht aus Liebe zum Völkerrecht oder gar aus Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, sondern sie verfolgten einzig den Zweck der Selbsterhaltung. Auch die Arbeitsgemeinschaft „Kriegsphilosophie" der Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften gelangte im Winter 1936/37 zu dem Ergebnis, daß dem totalen Krieg auf Grund der „nicht zu beseitigenden Gegengewichte" in der Ausübung der kriegerischen Gewalt Schranken gesetzt seien und sogar „mit Rücksicht auf die Möglichkeit friedlichen Zusammenlebens der Völker nach dem Kriege gesetzt werden müssen." 61 Unausgesprochen lag in diesen Sätzen auch der Appell an die Politik, in der Formulierung der Kriegsziele und -zwecke den Boden von Moral und Kriegsethik nicht zu verlassen. Die geforderte Anpassung der Kriegsziele und militärischen Maßnahmen an das Völkerrecht und damit an die öffentliche Meinung folgte daher der jeder kriegerischen Auseinandersetzung innewohnenden Dialektik von Aktion und Reaktion und muß lediglich als ein Schutzmechanismus begriffen werden, der sowohl die eigenen Truppen vor unverhältnismäßigen Rückschlägen bewahren 62 , als auch ein Überleben des politischen Systems in der Zukunft garantieren sollte. In diesem Sinne betonte der Leiter der Arbeitsgemeinschaft „Kriegsphilosophie", Karl Linnebach: „Wir dürfen zwar niemals die Gefahr aus dem Auge verlieren, daß möglicherweise ein Krieg in der Form asiatischer Kriegführung, die vor keiner Grausamkeit zurückschreckt, gegen uns geführt werden kann; wir dürfen uns aber dadurch nicht zu dem voreiligen Schluß verleiten lassen, daß wir den Krieg unsererseits nun ebenfalls auf diese Art führen müssen. Maßgebend muß für uns bei der Anwendung der kriegerischen Gewalt die Zweckmäßigkeit, namentlich auch die militärische Zweckmäßigkeit sein und bleiben." 63 Allein in der funktionalen Ausrichtung des Kriegszwecks, der Wahrung des eigenen Interesses durch Abwägung militärischer Kräfteverhältnisse und besonders durch Beobachtung der neutralen Mächte bestand somit die Anerkenntnis des Völkerrechts als normativer Ordnung. Der Schweizer Völkerrechtler Professor Max Huber faßte diesen Effekt kurz und prägnant in einem Satz zusammen: Das Völkerrecht „wirkt durch seine blosse Existenz." 64 Auch die propagandistische Instrumentalisierung des Völkerrechts, wie beispielsweise im Ersten Weltkrieg, steht dieser Feststellung in keiner Weise entgegen. Wer Kriegsverbrechen der Feindseite in der Öffentlichkeit vehement anklagt, geht zumindest langfristig gesehen eine SelbstverpflichVgl. Hans-Heinrich Ambrosius, Zur Totalität des Zukunftkrieges, in: Wissen und Wehr 18 (1937), S. 191. 60 Vgl. Eckhardt, Das Völkerrecht im modernen Kriege, in: Jahrbuch für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften 1937/38, Hamburg 1938, S. 72. 61 Karl Linnebach, [Bericht der Arbeitsgemeinschaft Kriegsphilosophie], in: Jahrbuch für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften 1936/37, Hamburg 1938, S. 230. ω Vgl. Eckhardt, Völkerrecht, S. 72. « Linnebach, Bericht, S. 230. 6 4 Max Huber, Die Fortbildung des Völkerrechts auf dem Gebiete des Prozeß- und Landkriegsrechts durch die II. Internationale Friedenskonferenz im Haag 1907, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band II, 1908, S. 473. 59

1. Oer totale Krieg

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tung ein. Oberst a.D. Dr. jur. Alfons Fonck, bis 1937 Leiter des Völkerrechtsreferats im Reichskriegsministerium, gab daher seiner Hoffnung Ausdruck, daß es jeder militärische Führer bei den im Kriege zu treffenden Maßnahmen vermeiden werde, „dem Gegner eine billige Handhabe zu Angriffen wegen Verletzung des Völkerrechts zu bieten. Andererseits wird er die Gelegenheit zu Angriffen auf den Gegner wegen gleicher Verstöße auszunutzen verstehen müssen. Allein schon diese beiden Erfordernisse machen es für jeden zukünftigen Führer zur Pflicht, sich mit den Festsetzungen des Kriegsvölkerrechts vertraut zu machen, ganz abgesehen davon, daß die Kenntnis dieser Vorschriften aus militärischen, wie rein menschlichen Gründen unentbehrlich ist."65 Aus den zahllosen Kriegsverbrechen des Ersten Weltkrieges zogen viele Militärs und Juristen die Konsequenz, die völkerrechtlichen Normen im Kriege für bedeutungslos zu erklären. Doch lag dieser allzu voreiligen Schlußfolgerung eine verzerrte Wahrnehmung zu Grunde. Denn keine Kriegspartei wird ihren Rechtsbruch öffentlich eingestehen; genau aber hierin zeigen sich wiederum Kenntnis und Akzeptanz des Völkerrechts. So hatte schon im Jahre 1914 der Geheime Justizrat, Professor Ernst Zitelmann, über die Geltung des Völkerrechts im Kriege geschrieben: „Jeder Staat, auch wenn er selbst noch so völkerrechtswidrig verfahrt, bestreitet das doch, er bestreitet die Tatsachen, die ihm als Völkerrechtsbruch vorgeworfen werden, und sucht sich dadurch von dem Vorwurf rein zu waschen, leugnet also nicht das Bestehen der Rechtssätze, sondern die Tatsache ihrer Verletzung. In alledem liegt eine fortdauernde, ganz bestimmte und unzweideutige Anerkennung, daß das Völkerrecht fortdauernd verbindliche Kraft habe." 66 Diese Auffassung mochte vielfach all jenen nicht einleuchten, die furchtbarste Ausschreitungen im Kriege erlebt hatten. Gegenüber der subjektiven Erfahrung der Totalisierung des Krieges, die Mannschaften zu reinem Zahlen- bzw. Menschenmaterial herabwürdigte, erschien die objektive Existenz des als abstrakt und realitätsfern empfundenen Völkerrechts nichts weiter als eine Groteske zu sein. Doch übersahen solche Gedanken nicht nur jene Situationen, in denen das Völkerrecht seinen Zweck erfüllte, sondern auch, daß mit der räumlichen Entgrenzung des Krieges dieser nicht mehr eine alleinige Angelegenheit von Militärs und Regierung war. Die damalige Diskussion über das Für und Wider eines totalen Krieges verdeutlicht einmal mehr, daß der völkerrechtliche Diskurs ein langwieriger Prozeß ist, der vor dem Hintergrund unterschiedlicher Staatensysteme wie den nationalen ErfahrunAlfons Fonck, Völkerrecht und Zukunftskrieg, in: Militärwissenschaftliche Rundschau 2 (1937), S. 520f. 66 Ernst Zitelmann, Haben wir noch ein Völkerrecht?, Bonn 1914, S. 15. Siehe auch: Linnebach, Bericht, S. 230. Aus rechtsphilosophischer Sicht bemerkte der österreichische Völkerrechtler, Professor Josef L. Kunz, hierzu: „Das Argument, daß das Kriegsrecht gebrochen werde, verkennt das Wesen jeder Rechtsordnung, die als normative Ordnung ein Sollen statuiert, das notwendig in Spannung steht zum Sein (...) und daher die Möglichkeit einer Rechtsverletzung begrifflich voraussetzt. Wenn das Recht nicht gebrochen werden könnte, wurden wir kein Recht brauchen. Niemand hat aber noch vorgeschlagen, das Strafrecht abzuschaffen, weil es gebrochen werden wird. Es ist auch nicht richtig zu glauben, daß nur das Kriegsrecht gebrochen werde. Im großen und ganzen wurde das Kriegsrecht wahrscheinlich im selben Maße eingehalten wie viele Normen des innerstaatlichen Rechts." Siehe: Josef L. Kunz, Kriegsrecht und Neutralitätsrecht, Wien 1935, S. 15f. 65

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gen und entsprechender individueller Sensibilisierungen begriffen werden muß. Die Pläne von Wehrmacht und Partei zur Führung künftiger Kriege, die Erprobung neuer Waffensysteme und Taktiken in Manövern stellten streng genommen vorerst noch keine Verletzung des Völkerrechts dar. Erst der politische Wille sollte über Anlaß, Ziel und Form eines künftigen Krieges entscheiden und sich dabei der rechtlichen und moralischen Kritik einer internationalen Öffentlichkeit aussetzen. Aus der deutschen militärtheoretischen Literatur der Zwischenkriegszeit ließ sich zunächst nur eine äußerst ambivalente, um nicht zu sagen paradoxe Haltung gegenüber dem Kriegsrecht herauslesen. Theorien des totalen Krieges abseits jeglichen Rechts standen skeptische und sachgerechte Überlegungen zu künftigen militärischen Auseinandersetzungen gegenüber. Diese Widersprüche kamen sogar im „Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften" der Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften zum Vorschein, in dem Taysens Bekenntnis zum Vernichtungskrieg ebenso zu finden ist, wie die langen Erläuterungen Alfons Foncks zu Kriegsrecht und Völkerrecht. 67 Auch die bereits erwähnte Denkschrift des OKW vom 4. April 1938 war nicht frei von gegensätzlichen Positionen. So verlangte Jodl, daß der Führer des Waffenkrieges in der Lage sein müsse, „die Fragen des Kriegs- und Völkerrechts" zu beurteilen. Darüber hinaus verwies er auf die Einrichtung der Wehrmachtrechtsabteilung im OKW, die „die notwendige Einheitlichkeit bei Rechtsfragen innerhalb der 3 Wehrmachtteile" sicherstellen sollte68. Über die Interpretation und Umsetzung kriegsrechtlicher Bestimmungen sowie über die generelle Methode der Rechtsauslegung war damit in Jodls Papier freilich noch nichts ausgesagt. Angesichts einer stetigen Aushöhlung des Rechts im nationalsozialistischen Deutschland mochte auch die Schaffung der Wehrmachtrechtsabteilung im OKW keineswegs beruhigend wirken, konnten doch durch Okkupation nur allzu leicht innerstaatliche Rechtsverhältnisse auf andere Länder übertragen werden. Zudem mußte sich die ambivalente Haltung gegenüber dem Kriegsrecht verheerend auswirken, sobald die rassenideologische Lehre des Nationalsozialismus zur Leitlinie für Kriegsziele und Kriegführung werden sollte. Völlig zu Recht kam bereits im Jahre 1924 der 3. Untersuchungsausschuß des deutschen Reichstages zu dem Ergebnis: "(...) an dem psychologischen Zusammenhang zwischen der theoretischen Wertung des Kriegsrechts in Friedenszeiten und seiner praktischen Handhabung im Kriege kann grundsätzlich nicht gezweifelt werden." 69

67 Vgl. Alfons Fonck, Kriegsrecht, in: Hermann Franke (Hrsg.), Handbuch der neuzeitlichen Wehrwissenschaften, Band 1: Wehrpolitik und Kriegsführung, im Auftrage der Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften, Berlin, Leipzig 1936, S. 2 2 9 - 2 4 0 ; ders., Völkerrecht, in: ebd., S. 666-667. ω Vgl. IMT, Bd. XXXVIII, S. 37 und S. 45. 69 Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1 9 1 9 - 1 9 2 8 . Dritte Reihe Völkerrecht im Weltkrieg, Band 1, hrsg. von Johannes Bell, Berlin 1927, S. 21.

2. Grundlagen des Völkerrechts

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2. Grundlagen des Völkerrechts Oie Quellen des Völkerrechts Laut Statut des Internationalen Gerichtshofes werden zu den Quellen des Völkerrechts gezählt: 1. Internationale Übereinkünfte allgemeiner oder besonderer Natur; 2. das internationale Gewohnheitsrecht; 3. anerkannte Rechtsgrundsätze; 4. richterliche Entscheidungen und die Lehrmeinung renommierter Völkerrechtler 70 . Die genannten Quellen dienen quasi als Rahmen, innerhalb dessen ein System des Völkerrechts aufgebaut werden kann. Sie beanspruchen aber keineswegs Vollständigkeit71. Im Zweiten Weltkrieg waren für das geltende Kriegsrecht als Quelle in erster Linie die betreffenden internationalen Kodifikationen und das Gewohnheitsrecht relevant. Richterliche Entscheidungen hingegen trugen zwar seit der Jahrhundertwende in internationalen Schiedsgerichtsverfahren zur Festigung völkerrechtlicher Normen bei, doch befaßten diese sich im allgemeinen nicht mit Fragen des Kriegsrechts. Die Urteile des Reichskriegsgerichts sowie des Reichsgerichts zu Leipzig in den Kriegsverbrecherprozessen sind daher zunächst nur als eine nationale Auslegung des damaligen Kriegsrechts zu begreifen 72 . Unklar blieb jedoch die rechtliche Einordnung von Vertragsentwürfen, wie z.B. den Haager Luftkriegsregeln von 1923. Für Josef L. Kunz zumindest bildeten Entwürfe und Konventionen, die nicht ratifiziert worden waren, ebenfalls eine Quelle des Völkerrechts 73 . Für die Landkriegführung waren im Zweiten Weltkrieg unbestritten folgende völkerrechtliche Verträge maßgebend: - Die Haager Konvention vom 29. Juli 1899 über die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges. - Das IV. Haager Abkommen vom 18. Oktober 1907, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges und der Anlage zum Abkommen: „Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkrieges" (Haager Landkriegsordnung). 7°

Vgl. BGBl. II. 1973, S. 519 (Art. 36). ^ Beispielsweise führte der amerikanische Militärgerichtshof V in seinem Urteil gegen die „Südostgenerale" als weitere Quelle des Völkerrechts den „diplomatischen Schriftverkehr" an; vgl. Martin Zöller, Kaszimierz Leszcynski (Hrsg.), Fall 7. Das Urteil im Geiselmordprozeß. Gefallt am 19. Februar 1948 vom Militärgerichtshof V der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin (Ost)1965, S. 81. 72 Nationale Gerichtsurteile benötigen, um als Quelle des Völkerrechts herangezogen werden zu können, eine breite internationale Akzeptanz, die sich z.B. auf nachfolgende Gerichtsverfahren aber auch Vereinbarungen auswirken. Selbst das Statut des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals vom 8. August 1945, dessen Katalog internationaler Straftatbestände Grundlage für die Prozesse und Urteilsfindung gegen deutsche Kriegsverbrecher war, fand auf Grund seiner temporären und personellen Beschränkung nicht Eingang in das positive Völkerrecht oder Völkergewohnheitsrecht. Vgl. Heiko Ahlbrecht, Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert. Unter besonderer Berücksichtigung der völkerrechtlichen Straftatbestände und der Bemühungen um einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof, Baden-Baden 1999, S. 95 und S. 125ff. "3 Vgl. Kunz, Kriegsrecht, S. 19f.

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- Das V. Haager Abkommen vom 18. Oktober 1907, betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkrieges. - Das Genfer Protokoll vom 17. Juni 1925, betreffend das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege. (Von USA und Japan nicht ratifiziert.) - Das Genfer Abkommen vom 27. Juli 1929 über die Behandlung der Kriegsgefangenen. - Das Genfer Abkommen vom 27. Juli 1929 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Heere im Felde74. Gemäß der rechtspositivistischen Lehre, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem auf dem europäischen Kontinent maßgebend war, sind die Normen des Völkerrechts das Ergebnis von Vereinbarungen zwischen Staaten. Diese können je nach Interesse und geographischer Lage der betreffenden Staaten bilateral oder multilateral ausfallen und sich auf die unterschiedlichsten Gebiete menschlichen Zusammenlebens erstrecken. Man denke beispielsweise an den „Weltpostvertrag" von 1878, das „Abkommen über den Eisenbahnfrachtverkehr" von 1890, an die Brüsseler Generalakte zur Unterdrückung des Sklavenhandels gleichen Datums oder an die Völkerbundsatzung von 1919. Abstrakt gesprochen, stellen diese Vereinbarungen „Willensakte" dar, die aus gesellschaftlichen Anschauungen und Forderungen entwickelt, in positives Recht umgesetzt wurden 75 . Doch bedeuten derartige Verträge keineswegs einen endgültigen Schlußpunkt in der Ausgestaltung internationaler Regelungen. Vielmehr bewirken ihre praktische Anwendung meist neue Bedürfnisse und Sensibilisierungen für Rechtslücken. Bilaterale Verträge, Zusatzabkommen, Schiedsverträge oder gar Reformen bisheriger Vereinbarungen sind oftmals die Folge. Je nach Anzahl der Vertragsstaaten wird in der Völkerrechtslehre von „allgemeinem", „gemeinem" oder „partikularem" Völkerrecht gesprochen 76 . Das „allgemeine Völkerrecht" setzt idealiter nicht nur die Zustimmung aller souveränen Staaten zu einem bestimmten Regelwerk voraus, sondern auch die Anerkenntnis einer einzigen Völkerrechtsdogmatik bzw. —ethik. Diese „Völkerrechtsverfassung" sah der österreichische Völkerrechder Alfred Verdroß in der kaiserlich-päpstlichen Ordnung des Mittelalters angelegt 77 . Heute darf der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 eine ähnliche Funktion zugeschrieben werden. So bestimmt Art. 13 Abs. l a der Charta: „Die Generalversammlung veranlaßt Untersuchungen und gibt EmpfehVgl. Betz, O K W , S. 59—61. Wie aus der Liste der Verträge schon zu erkennen ist, bildet das kodifizierte Kriegsrecht zwei große Unterteilungen: Das Genfer Recht und das Haager Recht. Gemäß der Maxime des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes erstreckt sich das Genfer Recht traditionsgemäß auf den Schutz sämtlicher Kriegsopfer und im weiteren Sinne auf den Schutz bestimmter hilfsbedürftiger Personen, wie Kinder und Greise. Das Haager Recht dagegen regelt in erster Linie die Führung von Feindseligkeiten. Vgl. Jean S. Pictet, Das Kriegsrecht, in: Revue Internationale de la Croix-Rouge XII (1961), deutsche Beilage, S. 158—162. 75 Vgl. Dionisio Anzilotti, Lehrbuch des Völkerrechts, Band 1 : Einfühung—Allgemeine Lehren, Berlin, Leipzig 1929, S. 48. 76 Vgl. ebd., S. 64f. Je nach rechtsphilosophischer Auffassung werden diese drei Begriffe im völkerrechtlichen Schrifttum unterschiedlich gebraucht. Differenzen treten in der Anwendung dieser Begriffe besonders zwischen Vertetern des Naturrechts und des Rechtspositivismus auf. 77 Vgl. Alfred Verdroß, Völkerrecht, allgemeines und partikulares, in: Karl Strupp (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Bd. 3, Berlin. Leipzig 1929, S. 182. 74

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lungen ab, um die internationale Zusammenarbeit auf politischem Gebiet zu fördern und die fortschreitende Entwicklung des Völkerrechts sowie seine Kodifizierung zu begünstigen." 78 Mit dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Ordnung jedenfalls war die Ausgestaltung des Völkerrechts allein Angelegenheit der Staaten. Einzig die wechselseitige Kontrolle innerhalb der Staatengemeinschaft sowie die im Zuge des Demokratisierungsprozesses in Europa sich etablierende öffentliche Meinung konnten als „regulatives Prinzip" im internationalen Staatenverkehr fungieren. 79 Unter das „gemeine Völkerrecht" fielen nach Verdroß all jene Verträge, „die für einen sehr großen Teil von Staaten, aber doch nicht schlechthin allgemein gelten." 80 Zu diesen Verträgen zählte Verdroß die Haager Landkriegsordnung, welche bis zum Jahr 1931 bereits von 28 Staaten ratifiziert worden war 81 . Auch die anderen Kriegsrechtskonventionen, wie beispielsweise die Genfer Konvention von 1929, stellten bestenfalls gemeines Völkerrecht dar. Sonderregelungen zwischen einigen wenigen Staaten, die partikulares Völkerrecht begründen könnten, traten bisher auf dem Gebiete des Kriegsrechts kaum in Erscheinung 82 , sind aber jederzeit möglich.

Charta der Vereinten Nationen (http:// www.un.org/Depts/german/charta.htm). S. 5. Vgl. Anzilotti, Lehrbuch, S. 32. Der Gedanke, daß Recht und Gesetz im zwischenstaatlichen Verkehr nur durch einen öffentlichen Diskurs, durch die Publizität von Verträgen und der Transparenz von Entscheidungen garantiert werden kann, war keineswegs erst eine Erkenntnis des 20. Jahrhunderts. Bereits im 18. Jahrhundert gab Immanuel Kant als Grundbedingung des Völkerrechts den sehr idealistischen aber dennoch notwendigen Leitsatz aus: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht." Siehe: Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795), in: ders., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosphie, Politik und Pädagogik, Bd. 1, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1977, S. 245. β" Verdroß, Völkerrecht, S. 182. 81 Die Haager Landkriegsordnung vom 18. Oktober 1907 wurde ratifiziert von den Vereingten Staaten von Amerika, Belgien, Bolivien, Brasilien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Guatemala, Haiti, Kuba, Liberia, Luxemburg, Mexiko, den Niederlanden, Nikaragua, Norwegen, Panama, Polen, Portugal, Rumänien, Salvador, Schweden, der Schweiz, und Siam (Thailand). Mit einem Vorbehalt ratifiziert wurde sie von Deutschland, Japan, Österreich-Ungarn und dem zaristischen Rußland. Lediglich unterzeichnet aber nicht ratifiziert hatten sie Argentinien, Bulgarien, Chile, Kolumbien, Dominikanische Republik, Ecuador, Griechenland, Italien, Paraguay, Persien, Jugoslavien, Türkei, Uruguay und Venezuela. Nicht anerkannt (wobei Staatsneugründungen berücksichtigt werden müssen) hatten sie zumindest bis 1931: Afghanistan, Ägypten, Albanien, China, Esdand, Finnland, Honduras, Island, der Kongo, Kostarika, Litauen, Lettland, Monaco, San Marino, Spanien, Tschechoslowakei und Ungarn. Vgl. Ernst Vanselow, Völkerrecht. Einführung in die Praxis der Staaten, Berlin 1931, S. 606-609. Die Vorbehalte Deutschlands, Österreich-Ungarns und Rußlands betrafen nicht die gesamte Haager Landkriegsordnung, sondern nur einzelne Artikel. Vgl. RGBl. 1910, S. 375-381. 82 Das partikulare Kriegsrecht darf wohl eher als Vorläufer bzw. Wegbereiter des gemeinen Kriegsrechts angesehen werden. So wurde beispielsweise im Freundschafts- und Handelsvertrag zwischen Preußen und den USA vom 10. September 1785 für den Fall eines Krieges der Schutz der Zivilbevölkerung (Art. 23) sowie die humane Behandlung der Kriegsgefangenen (Art. 24) garantiert. Vgl. Jürg. H. Schmid, Die völkerrechtliche Stellung der Partisanen im Kriege, Zürich 1979 (2. Aufl.), S. 20. Im Ersten Weltkrieg kam es zwischen dem Deutschen Kaiserreich einerseits, Großbritannien und Frankreich andererseits zu kriegsrechtlichen Vereinbarungen. Da diese aber einer zeitlichen Beschränkung unterlagen (nur für die Dauer des Krieges), können sie schwerlich geltendem partikularem Völkerrecht zugerechnet werden. 78

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Im Unterschied zu den anderen Kriegsrechtskonventionen verpflichtete das „Abkommen, betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges" vom 18. Oktober 1907 in Art. 1 die Vertragsstaaten „ihren Landheeren Verhaltungsmaßregeln" zu „geben, welche der dem vorliegendem Abkommen beigefügten Ordnung der Gesetze und Gebräuche des Landkriegs entsprechen." 83 Durch kaiserliche Order wurde deshalb in Deutschland über die Kriegsministerien der Bundesstaaten die Haager Landkriegsordnung beim Heer eingeführt. So wurde beispielsweise laut Verfügung des preußischen Kriegsministeriums vom 12. Dezember 1911 die Landkriegsordnung im vollen Wordaut als Anhang II der preußischen Felddienstordnung von 1908 beigegeben 84 . Ihre Veröffentlichung im Reichsgesetzblatt 1910 bedeutete allerdings nicht eine Transformation völkerrechtlicher Bestimmungen in nationales Recht, wie dies u.a. in Belgien vorgenommen wurde 85 , sondern stellte lediglich eine „Bekanntmachung" dar 86 . Nach Walter Schätzel, während des Ersten Weltkrieges Kriegsgerichtsrat, später Oberlandesgerichtsrat und Professor in Königsberg, war die Haager Landkriegsordnung nicht nur materielles (Völker-)Recht, sondern auf Grund ihrer Beigabe in der Felddienstordnung auch Befehl der höchsten Kommandogewalt 87 . Denkt man Schätzeis Ausführungen logisch zu Ende, so folgt daraus, daß die Nicht-Befolgung der Haager Landkriegsordnung allgemein als sanktionsbedürftig anzusehen ist und als solche auch anzuerkennen war 88 . Die unmittelbare Wirkung der Haager Landkriegsordnung auf die einzelnen Soldaten leitete Walter Schätzel aus ihrer rechtlichen Gleichstellung mit einem Befehl ab. Doch was passiert, wenn dieser Befehl ausbleibt? Welche Rechtswirkung besitzt die Haager Landkriegsordnung dann? Schätzel qualifizierte sie zwar als materielles Recht, doch vermochte er ihren „Rechtscharakter" nicht endgültig zu klären89. Die Frage nach der Rechtsverbindlichkeit der Haager Landkriegsordnung an sich ließ er schließ-

« RGBl. 1910, S. 124. Vgl. Das Werk des Untersuchungsausschusses, Band 1, S. 33. Großbritannien ließ am 28. November 1903 vom War Office durch Herausgabe der Schrift „The Laws and Customs of War" die Haager Landkriegsordnung der englischen Armee bekanntgeben. Darüberhinaus wurden die völkerrechtlichen Bestimmungen und Anschauungen des War Office in der englischen Felddienstordnung „Field Service Regulations" bearbeitet. Vgl. ebd., S. 34. 1914 wurden im Auftrag des britischen Kriegsministeriums erstmals die von Professor Lassa Oppenheim verfassten Erläuterungen über die Regeln der Landkriegsführung in das offizielle „Manual of Military Law" aufgenommen. Das Handbuch erschien in der Folgezeit in mehreren Auflagen und wurde regelmäßig aktualisiert. Vgl. Heinrich Albrecht Schütze, Die Repressalie. Unter besonderer Berücksichtigung der Kriegsverbrecherprozesse, Bonn 1950, S. 80. 85 Vgl. Walter Schätzel, Bestrafungen nach Kriegsbrauch, in: Archiv für Militärrecht 8 (1918), S. 16f. 86 Dies geht auch unmißverständlich aus der Inhaltsangabe zu den zwölf veröffentlichten Haager Abkommen vom 18. Oktober 1907 im Reichsgesetzblatt hervor; vgl. RGBl 1910, S. 5. 87 Wörtlich führte Schätzel hierzu aus: „Die Felddienstordnung ist eine Anweisung des Trägers der Kommandogewalt, ist also eine Art Befehl. Das Gleiche gilt von den Anhängen. Wenn dort Skizzen von Schützengräben sind, so ist damit befohlen, daß bei der Ausbildung die Schützengräben in dieser Form hergestellt werden. Und wenn die Landkriegsordnung (LKO) beigegeben ist, so folgt daraus, daß sie nach dem Willen des Kommandoträgers befolgt werden soll." Siehe: Schätzel, Bestrafungen, S. 16. 88 Vgl. Ahlbrecht, Strafgerichtsbarkeit, S. 30 Anm. 15. 89 Vgl. Schätzel, Bestrafungen, S. 16. 84

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lieh unbeantwortet. Dieses Problem wirft somit die weitere Frage auf, wie die Verbindlichkeit des Völkerrechts ganz allgemein in der Rechtslehre seit der Jahrhundertwende gewertet wurde. Mit der Zunahme völkerrechtlicher Kodifikationen gewann generell die Frage nach dem Verhältnis zwischen Landesrecht und Völkerrecht im rechtswissenschaftlichen Schrifttum an erheblicher Aktualität, bewirkte doch fast jede neue Ratifikation internationaler Normen einen Eingriff in die staatliche Souveränität. Die damalige Diskussion über „Primat des Völkerrechts" oder „Primat des Staatsrechts" war somit auch für die Ausübung des Kriegsrechts von Bedeutung, vor allem in den Fällen, welche die militärische Notwendigkeit betrafen. Noch in den zwanziger Jahren war die Rechtskonstruktion vom „Primat des Staatsrechts" die herrschende Auffassung in der Völkerrechtslehre 90 . Diese Konstruktion schlug sich allerdings in zahlreichen Varianten nieder. Beispielsweise konnte nach britischem Verständnis das Völkerrecht nur dadurch nationale Verbindlichkeit erlangen, indem es durch „Adoption" Teil des common law wurde: „It (das Völkerrecht, Anm. des Verf.) cannot be regarded as binding upon the officers of any government considered in their relation to their own government except in so far as it has been adopted into the administrative law of the state." 91 Dieselbe Auslegung einer Konstruktion vom Primat des Staatsrechts schrieb Josef L. Kunz Art. 4 der Weimarer Verfassung zu92, welche die „allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts" als „bindende Bestandteile des deutschen Reichsrechts" definierte 93 . Im Gegensatz zu dieser Auffassung gab es in Deutschland immer noch zahlreiche rechtsphilosophische Strömungen, die der hegelianischen Tradition verhaftet, das Völkerrecht als „äußeres Staatsrecht" begriffen bzw. auf Grund des „staatlichen Souveränitätsdogmas" das Völkerrecht in letzter Konsequenz leugneten. Nach dieser Lehre ist das Völkerrecht an sich „Nicht-Recht". Erst durch seine Aufnahme in das Landesrecht wird es zu „Recht" gemacht. Diese freiwillige „Selbstverpflichtung" konnte ein Staat allerdings jederzeit aufheben, z.B. bei Vorliegen des Notstandes. 94 Grundlage solcher Anschauungen war u.a. Erich Kaufmanns Buch „Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sie stantibus" aus dem Jahre 1911, in dem er den imperialistischen Staat durch die Rückführung des Völkerrechts auf Macht und Krieg

90 Vgl. Josef L. Kunz, Landesrecht und Völkerrecht, in: Karl Strupp (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Bd. 1, Berlin, Leipzig 1924, S. 791. 91 F. J. Goodnow, Comparative administrative law, New York and London 1902, zitiert aus: Kunz, Landesrecht, S. 793. Gemäß dieser Rechtsauffassung wurden die Regeln der Haager Landkriegsordnung aber auch anderer Konventionen in die britische Felddienstordnung und in das Manual of Military Law eingearbeitet. In Deutschland wurden nur ganz bestimmte Regeln des Kriegsrechts in das Militärstrafgesetzbuch (z.B. Plünderung und Spionage) oder in die Heeresdienstvorschriften (z.B. Behandlung der Kriegsgefangenen) aufgenommen. Eine Dienstvorschrift, die das gesamte Kriegsrecht systematisch aufbereitete und erläuterte gab es weder im kaiserlichen Heer noch in der Reichswehr. 92 Vgl. ebd., S. 793. 93 Vgl. Ahlbrecht, Strafgerichtsbarkeit, S. 16. 94 Vgl. Kunz, Landesrecht, S. 791 f. Zur Theorie des „Außenstaatsrechts" siehe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Hamburg 1967 (4. Aufl.), S. 2 8 4 - 2 8 8 (§§ 330-340).

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rechtfertigte 95 . Vor dem Hintergrund einer starken Ablehnung des Versailler Vertrages in der deutschen Gesellschaft fielen derartige Gedanken abermals auf fruchtbaren Boden, wie es beispielsweise in Carl Schmitts Lehre des „Dezisionismus" unzweideutig zu erkennen ist. Seine Kemphilosophie lautete: „Auch die Rechtsordnung, wie jede Ordnung, beruht auf einer Entscheidung und nicht auf einer Norm." 96 Diese Entscheidung, so Schmitt, fußt nicht auf einem rationalen Gründungsverfahren, sondern entspringt aus einem normativen Nichts. In einer Welt, in der die „Völker sich nach dem Gegensatz von Freund und Feind gruppieren" und der Staat durch den Feind seine Legitimation erfährt, wird Schmitts Dezisionismus konkret greifbar: „Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, daß sie insbesondere auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug haben und behalten. Der Krieg folgt aus der Feindschaft, denn diese ist seinsmäßige Negierung eines anderen Seins."97 Der Nationalsozialismus schließlich besaß keine kohärente Theorie des Völkerrechts. Seine rassenideologischen Grundsätze bildeten nicht mehr als kompatible Versatzstücke an bisherigen meist reaktionären Völkerrechtslehren. Sein Versuch, als einzige Quelle des Völkerrechts „die übereinstimmende Willensrichtung sämtlicher Völker" zu etablieren, mußte notwendig an der postulierten rassischen Ungleichheit der Völker scheitern98. Die Frage der Anerkennung und Wirkung des geltenden Völkerrechts war daher in Theorie und Praxis primär von rein politischen bzw. opportunistischen Erwägungen abhängig. Konsequent führte während des Zweiten Weltkrieges Alfons Waltzog, Kriegsgerichtsrat der Luftwaffe, über die Verbindlichkeit des Völkerrechts aus: „Der Art. 4 der Weimarer RV war eine Schmälerung der deutschen Souveränität. Das Dritte Reich hat seine Staatshoheit uneingeschränkt von allen Fesseln nach innen und außen befreit. Der Art. 4 gehört zu den Bestimmungen der Weimarer Verfassung, die auch ohne ausdrückliche Aufhebung als mit dem inneren Wesen des Nationalsozialistischen Staates unvereinbar fortgefallen sind." 99 Die „Konstruktion vom Primat des Völkerrechts" fand in der Zwischenkriegszeit vor allem in Deutschland nur geringen Anklang. Zu ihren Vertretern gehörten u.a. Hans Kelsen, Alfred Verdroß und Josef L. Kunz. Mit Anleihen aus dem Naturrecht versteht diese Theorie das Völkerrecht als „überstaatliche Macht", denn nur diese Konstruktion ist in der Lage, sämtliche Rechtssätze in einem einheitlichen System des Rechts begreifen zu können. Voraussetzung dafür ist die Überwindung des staatlichen Souveränitätsdogmas, das willkürliche Rechtsinterpretationen und Entscheidungen niemals ausschließen kann100. Die damalige Diskussion um die Verbindlichkeit des Völkerrechts muß somit auch als Ablösungsprozeß vom üblichen Machtstaatsdenken gesehen werden. Walter Schätzel hatte als Kriegsgerichtsrat in zahllosen Militärgerichtsverfahren während des Ersten Weltkrieges die Problematik des Verhältnisses von Landesrecht und Völkerrecht täglich vor Augen, weshalb er auch die Haager Vgl. Eduard Bristier, Die Völkerrechtslehre des Nationalsozialismus, Zürich 1938, S. 62. Zitiert aus: Jean-Francois Kervegan, Politik und Vernünftigkeit. Anmerkungen zum Verhältnis zwischen Carl Schmitt und Hegel, in: Der Staat 27 (1988), S. 371. 97 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1932 (2. Aufl.), S. 33. 98 Vgl. Brisder, Völkerrechtslehre, S. 68f. 99 Alfons Waltzog, Recht der Landkriegsführung. Die wichtigsten Abkommen des Landkriegsrechts, Berlin 1942, S. 6. wo Vgl. Kunz, Landesrecht, S. 794f. 95 96

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Landkriegsordnung als materielles Recht bezeichnete. Auf Grund des vorherrschenden Souveränitätsdogmas vermochte er es aber offenbar nicht, zur Konzeption vom Primat des Völkerrechts vorzustoßen. Spätestens während des Zweiten Weltkrieges setzte in der internationalen Öffentlichkeit endgültig der geistige Wandel ein, dessen Resultate u.a. die Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 sowie das Londoner Abkommen zur Errichtung des Internationalen Militärgerichtshofs vom 8. August 1945 waren. Die Rückkehr zu naturrechtlichen Anschauungen bedingte zwangsläufig, daß abweichend vom rechtspositivistischen „Vereinbarungsgedanken" das Völkerrecht objektiven Charakter erlangt hatte. Völkerrechtliche Bestimmungen sind daher für die Staaten bindend, gleichgültig, ob sie den betreffenden Normen zugestimmt haben oder nicht: „Das aus der Staatssouveränität hergeleitete Prinzip, daß die Verbindlichkeit der völkerrechtlichen Normen für die Einzelstaaten aus ihrer ausdrücklichen oder stillschweigenden Zustimmung folgt, ist tatsächlich durch die Entwicklung überholt." 101 Mit der Kodifizierung der Haager Landkriegsordnung ist der Krieg von den meisten Staaten dieser Erde endgültig als eine Rechtsinstitution anerkannt worden. Die Haager Bestimmungen begründeten allerdings nicht neues Recht, sondern waren unmittelbar dem Kriegsgewohnheitsrecht entnommen. Leider deckten die positiven Regeln der Haager Landkriegsordnung nur einen Teilbereich des Kriegsrechts ab. Wesentliche Gebiete der Kriegführung, wie die Repressalie, das Geiselinstitut, die Behandlung von Freischärlern sowie auch das Völkerstrafrecht blieben Gewohnheitsrecht. Erst durch die vier Genfer Rot-Kreuz-Abkommen vom 12. August 1949 konnte in diesen wie auch in anderen Fragen eine erhebliche Erweiterung des kodifizierten Kriegsrechts erreicht werden. Auf Grund des öffentlichen und dynamischen Charakters des Völkerrechts aber wird das Kriegsrecht zwangsläufig stets eine Mischform aus positivem Recht und Gewohnheitsrecht darstellen. Gemäß der positivistischen Lehre war das Gewohnheitsrecht das Ergebnis von „stillschweigenden Vereinbarungen" der Staatengemeinschaft. Diese unausgesprochene Einigung über bestimmte Verhaltensregeln ergibt sich nach dieser Auffassung aus „konkludenten Handlungen" der Staaten. Dies bedeutet, wenn sich eine Handlung bzw. ein Verhalten unter denselben Verhältnissen immer wieder in gleicher Weise offenbart, spricht man von „Rechtsübung" oder besser von Gewohnheitsrecht 102 . Entsprechend entsteht das Kriegsgewohnheitsrecht durch lang dauernde „Übung" von „Kriegsbräuchen", denen meist ethische bzw. „ritterliche" Wertmaßstäbe zu Grunde liegen. Diese Übung erzeugt schließlich das „Bewußtsein der Rechtmäßigkeit

101 Schütze, Repressalie, S. 7. Entsprechend erkannte das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Art. 25 die vorrangige Geltung des Völkerrechts gegenüber dem Bundesrecht an. Vgl. Ahlbrecht, Strafgerichtsbarkeit, S. 16. Während der nationalsozialistischen Herrschaft hatte sich in vielen deutschen Widerstandskreisen ebenfalls diese Erkenntnis durchgesetzt. So forderte beispielsweise der ehemalige Chef des Generalstabes, General Ludwig Beck, im Jahre 1942 in einem Vortrag vor der Mittwochsgesellschaft unter Berufung auf Immanuel Kant, die Unterwerfung aller Staaten unter ein auf öffentliche Macht begründetes Völkerrecht. Vgl. Ludwig Beck, Die Lehre vom totalen Kriege. Eine kritische Auseinandersetzung, in: ders., Studien, hrsg. von Hans Speidel, Stuttgart 1955, S. 256. Vgl. Anzilotti, Lehrbuch, S. 55f.

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oder der Rechtsnotwendigkeit" und regelt so das Normverhalten der Kontrahenten im Kriege 1 0 3 . D o c h diese Betrachtung suggeriert, daß auf dem Wege der Induktion, d.h. durch „Sammlung" sich stets wiederholender einzelner Handlungen Recht geschaffen wird. Nach welchen Kriterien aber werden bei diesem Verfahren die „rechtskonformen" militärischen Maßnahmen von den „nonkonformen" selektiert und wer besitzt die Kompetenz hierzu? Eine Antwort hierauf kann letztlich nur darin gefunden werden, daß für die Anerkenntnis von Gewohnheitsrecht naturrechtliche Aspekte ausschlaggebend sind und darüber hinaus der öffentliche Diskurs zunehmend als „regulatives Prinzip" an Relevanz gewonnen hat. Häufig beklagte Unklarheiten und umstrittene Auslegungen des Gewohnheitsrechts sind des weiteren Belege dafür, daß die Annahme „ewig gleicher Handlungen unter annähernd gleichen Verhältnissen" allein zur Bildung von Gewohnheitsrecht nicht ausreichend und wohl auch unrealistisch ist. Einzig das Naturrecht als ein alle Staaten umfassendes einheitliches Rechtssystem kann als Orientierung bei der Fesdegung gewohnheitsrechtlicher Regeln dienen 104 . Dieser freilich etwas idealistische Grundgedanke war schon bei all jenen Autoren erkennbar, die wie J o s e f L. Kunz, davon ausgingen, daß die Haager Landkriegsordnung auch für jene Staaten Geltung besitze, die sie nicht ratifiziert haben, da das Kriegsgewohnheitsrecht für alle Staaten der Völkerrechtsgemeinschaft bindend sei 105 . Die Begriffe „Gewohnheitsrecht", „Kriegsbrauch" bzw. „Kriegsmanier" wurden im damaligen juristischen wie militärischen Schrifttum häufig uneinheitlich verwendet; Sätze wie „Kriegsgebrauch geht vor Kriegsmanier" erzeugten zusätzlich eine B e griffsverwirrung und machten eine kohärente Terminologie unmöglich. So verstanden einige Autoren, wie z.B. Walter Schätzel, unter „Kriegsbrauch" bzw. „Kriegsgebrauch" die Gesamtheit der kriegsrechtlichen Sätze, also das kodifizierte und das gewohnheitsrechtliche Reglement 1 0 6 . E b e n s o bildete für Karl Strupp der Kriegsbrauch nur jenen Teil des Kriegsrechts, der im Gegensatz zur bloßen Übung bzw. „Kriegsmanier" Rechtsverbindlichkeit besitzt, gleichgültig ob es sich dabei um postives Recht oder Gewohnheitsrecht handelte 107 . D e r Würzburger Professor Christian Meurer wiederum betrachtete den Kriegsbrauch als reine Übung: „Von einem blossen Gebrauch mag man so lange reden, als noch kein gesellschaftliches ,du sollst' an der Spitze der gleichmässigen Übung steht, also so lange, als der Brauch noch bloss auf allgemeine Menschlichkeits-, Schicklichkeits-, Sittlichkeits- oder Nützlichkeitsvorstellungen beruht. Aber mit der opinio necessitatis oder der Rechtspflichtvorstellung: >03 Vgl. Betz, OKW, S. 57. 104 Hierzu führte im Nürnberger Juristenprozeß (Fall 3) der amerikanische Militärgerichtshof in seinem Urteil aus: „Völkerrecht schreitet fort. Seine Wachstumsperiode fallt meist zusammen mit einer Periode der Unrast der Welt. Der Druck der Notwendigkeit fördert die Geltendmachung von Naturgesetz und Sittenlehre (...) und formt sie um in Gesetzregeln, die auf Grund des übereinstimmenden Willens der zivilisierten Menschheit in voller Absicht und ausdrücklich anerkannt werden." Siehe: Kurt Heinze, Karl Schilling (Hrsg.), Die Rechtsprechung der Nürnberger Militärtribunale. Sammlung der Rechtsthesen der Urteile und gesonderten Urteilsbegründungen der dreizehn Nürnberger Prozesse, Göttingen 1952, S. 37, Nr. 182. "»s Vgl. Kunz, Kriegsrecht, S. 21. 106 Vgl. Schätzel, Bestrafungen, S. 13. 107 Vgl. Karl Strupp, Kriegsrecht, Kriegsgebrauch, Kriegsmanier, Kriegsräson, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Bd. 1, Berlin, Leipzig 1924, S. 763.

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die Rechtsgemeinschaft braucht und verlangt es, wird der Brauch zur coutume oder zum Gewohnheitsrecht." 108 Unbestritten übt das Gewohnheitsrecht einen Rechtszwang auf die Kriegsparteien aus und ist deshalb auch einklagbar. Neben dem kodifizierten Kriegsrecht sind somit ebenfalls gewohnheitsrechtliche Bestimmungen Teil des Völkerstrafrechts. Unter Berufung auf Walter Schätzel führte entsprechend der amerikanische Militärgerichtshof Nr. 2 im „Einsatzgruppenprozeß" (Fall 9) aus: „Die Kriegsgesetze und Gebräuche sind Gesetze, nicht weil sie im Handbuch stehen, sondern weil sie Völkerrecht sind. (....) Die Kriegsbräuche sind dem Inhalt nach Strafgesetz genau so wie die staatliche Strafgesetzgebung." 109 Sowohl die Interpretation als auch die Umsetzung völkerrechtlicher Normen ist ohne allgemein anerkannte „Rechtsgrundsätze" kaum denkbar. Nicht nur die in kodifizierten Verträgen oder aus Gewohnheit hervorgegangen Regeln bilden die Völkerrechtsordnung, sondern auch die notwendigen logischen Voraussetzungen und Folgen der auf diese Weise gesetzten Normen gehören ebenfalls hierzu. Als Vorbedingung bzw. „Ur-Norm" jeglicher Völkerrechtspraxis ist daher der Grundsatz „pacta sunt servanda" anzusehen 110 . Die Rechtsgrundsätze ermöglichen zudem, Rechtslücken in kodifizierten Verträgen auszufüllen oder Unklarheiten im Gewohnheitsrecht auszuräumen. Sie werden meist auf dem Wege des Vergleichs innerstaatlichen Rechts gewonnen und analog auf das Völkerrecht angewendet. Nicht selten unterliegen sie naturrechtlichen Auffassungen: „Bei der Entscheidung der Frage, ob eine solche grundsätzliche Gerechtigkeitsnorm ein Anrecht darauf hat, zu einem völkerrechtlichen Prinzip erklärt zu werden, wird sich die Antwort aus einem Studium des innerstaatlichen Rechts der Staaten der Völkergemeinschaft ergeben. Wenn es sich herausstellt, daß sie von den meisten Staaten in ihrem innerstaatlichen Recht allgemein als Prinzip der Gerechtigkeit akzeptiert worden ist, scheint es gerechtfertigt zu sein, sie zu einer Norm des internationalen Rechts zu erklären."111 Die aus den innerstaatlichen Rechtsbüchern deduzierten Grundsätze sind folglich auch für das Kriegsrecht von besonderer Bedeutung. Deshalb weist die Präambel zum IV. Haager Abkommen bei Vorliegen von Rechtslücken im Vertragstext eigens auf die „Grundsätze des Völkerrechts" hin, die sich „aus den unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens" 112 ergeben. Militärische Entscheidungen haben in rechtlich unklaren Fällen unter Einbeziehung der besonderen Kriegssituati-

108 Meurer, Kriegsrecht, S. 18. Im folgenden werden die Begriffe Gewohnheitsrecht, Kriegsbrauch und Übung etc. im Sinne Meurers verwendet. 109 Heinze, Schilling (Hrsg.), Rechtsprechung, S. 42, Nr. 205. Vgl. auch Schätzel, Bestrafung, S. 18. 1 1 0 Vgl. Anzilotti, Lehrbuch, S. 49f. Artikel 6a des Londoner Statuts vom 8. August 1945 enthielt deshalb unter dem Anklagepunkt „Verbrechen gegen den Frieden" auch die Verletzung internationaler Verträge durch das Dritte Reich, daß nahezu alle zwischenstaatliche Abkommen sei es durch einseitige Deklaration oder durch bloße Tat außer Kraft gesetzt hatte. Vgl. Das Urteil von Nürnberg 1946, hrsg. von Jörg Friedrich, München 1996 (4. Aufl.), S. 21. 111 Zöller, Leszcynski (Hrsg.), Fall 7, S. 82. 1 1 2 RGBl. 1910, S. 109.

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on dieser Maßgabe zu entsprechen 113 . Die Rechtswirkung der Haager Landkriegsordnung reicht somit weit über ihre eigenen Bestimmungen hinaus, und kann nur im Sinn und Geist der gesamten Völkerrechtsordnung begriffen werden 114 . Das Verfahren des Analogieschlusses zur Ausbildung völkerrechtlicher Grundsätze bildet darüber hinaus eine notwendige Grundlage zur Durchführung von Prozessen vor internationalen Gerichten, sei es in Schieds- oder Strafgerichtsverfahren (Kriegsverbrecherprozesse). Da zwischen Staaten nur das Völkerrecht gilt, sind besonders für die Fesdegung der anzuwendenden Verfahrensvorschriften sowie in der Auslegung internationaler Regelungen bei der Urteilsfindung Rückgriffe auf nationale Rechtsgrundsätze unerläßlich. Für das Verfahren vor internationalen Schiedsgerichten sind die auf dem Wege der Analogie gewonnenen Rechtsgrundsätze bereits in das kodifizierte Völkerrecht eingegangen 115 . Diese sind ebenso verbindlich für den nach langwierigen Anläufen am 1. Juli 2002 gegründeten Ständigen Internationalen Strafgerichtshof 116 . Zu den wichtigsten Rechtsgrundsätzen in internationalen Gerichtsverfahren zählen u.a. das „Recht auf Gehör" für den Angeklagten und besonders die unumstößliche Grundregel „nulla poena sine lege" 117 . Für die Bestimmung einvernehmlich anerkannter Rechtsgrundsätze ist folglich eine annähernd gleiche Rechtsentwicklung bzw. Rechtsauffassung in den meisten Staaten stillschweigend Voraussetzung. Bricht diese fragile Basis auseinander, droht die schon in der Präambel des IV. Haager Abkommens zugrunde gelegte Einheit des Völker-Rechtssystems, welche auf einem wechselseitigen Anpassungsdruck zwischen Landesrecht und Völkerrecht gründet, zusammenzubrechen 118 .

113 Vgl. Hermann Mosler, Die Kriegshandlung im rechtswidrigen Kriege, in: Jahrbuch für Internationales und Ausländisches Öffentliches Recht Bd. II/III (1948), S. 341. 114 Vgl. Rudolf Laun, Die Haager Landkriegsordnung. Das Übereinkommen über die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges, Hannover 1950, S. 17. 115 Vgl d a s dritte Kapitel „Schiedsverfahren"des Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfalle vom 18. Oktober 1907, in: RGBl. 1910, S. 40-51 (Art. 51-90). 116 Vgl. Christian Schmidt-Heuer, Im Namen der Völker. Der Internationale Strafgerichtshof nimmt seine Arbeit auf - trotz Widerstandes der USA, in: Die Zeit, Nr. 27, 27. Juni 2002, S. 2. Vgl. auch Ahlbrecht, Strafgerichtsbarkeit, S. 1. 117 Gemäß dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zählen zu den Verfahrensregeln ebenfalls die Grundsätze „Nullum crimen sine lege" und „Ne bis in idem"(Art. 20 und 22). Uber das anzuwendende materielle Strafrecht legt das Statut u.a. fest, daß der Gerichtshof auch „allgemeine Rechtsgrundsätze" anwendet, die er „aus einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der Rechtssysteme der Welt abgeleitet hat, einschließlich (...) der innerstaatlichen Rechtsvorschriften der Staaten, die im Regelfall die Gerichtsbarkeit über das Verbrechen ausüben, sofern diese Grundsätze nicht mit diesem Statut und dem Völkerrecht und den international anerkannten Regeln und Normen unvereinbar sind."(Art. 21) Vgl. Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, S. 20f. ( http://www.un.org./Depts/german/intstgh.html). 118 Aus diesem Grunde hatte bereits Immanuel Kant einen „föderativen Zustand der Staaten" verlangt. Oberstes Prinzip in der Gestaltung des Völkerrechts sollte dabei sein: „Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen." Siehe: ders., Frieden, S. 250.

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Das Subjekt des Völkerrechts Lange Zeit galt in der Rechtswissenschaft ausschließlich der souveräne Staat als Subjekt, d.h. als Rechtspersönlichkeit im Völkerrecht 119 . Nur der Staat bzw. seine Organe besaßen die Rechtsfähigkeit bilaterale oder multilaterale Verträge einzugehen und damit die Ausbildung des Völkerrechts voranzutragen. Der einzelne Mensch wurde nicht als Träger völkerrechtlicher Pflichten und Rechte angesehen. Normen des kodifizierten Rechts oder des Gewohnheitsrechts, die „scheinbar" den einzelnen Individuen Pflichten auferlegten, verpflichteten „in Wirklichkeit" den Staat, bestimmte Handlungen zu verbieten oder anzuordnen. Gemäß der damals vorherrschenden Rechtskonstruktion vom Primat des Staatsrechts mußten diese völkerrechtlichen Normen in staatliches Recht umgeformt werden, um eine Rechtsverbindlichkeit für den Einzelnen zu erzeugen. Der einzelne Mensch besaß somit diese Rechte nicht kraft der völkerrechtlichen, sondern der innerstaatlichen Norm 120 . Die Verbindlichkeit des Völkerrechts für den Staat gründete jedoch auf einer politischen Entscheidung. Besonders in der deutschen Völkerrechtslehre hatte diese Entscheidung, wie im obigen Kapitel dargelegt, der Staatsräson Rechnung zu tragen. Analog zur Lehre vom Staat als Subjekt des Völkerrechts war der auf Rousseau zurückgehende Grundsatz maßgebend, daß der Krieg ein Rechtsverhältnis zwischen Staaten beschreibe 121 . Der legale Kriegsteilnehmer war daher Teil der bewaffneten Macht eines Staates, die sich gemäß Art. 3 der Haager Landkriegsordnung (HLKO) aus Kombattanten und Nichtkombattanten zusammensetzt' 22 . Er vertritt im Kriege die Völkerrechtssubjekte, d.h. die Staaten, die ausschließlich mit der facultas bellandi ausgestattet sind123. Die bewaffnete Macht muß aus organisierten Truppenteilen gebildet sein, gleichgültig ob sie sich allein auf Heeresverbände stützt oder zusätzlich Milizen oder Freikorps zur Kriegführung heranzieht. Nur dann genießt sie die Rechte des „aktiven Kriegsstandes", wie sie in der Haager Landkriegsordnung und in der Genfer Konvention von 1929 fixiert worden sind. Neben dem Kombattanten, der allein zur Führung einer Waffe befugt ist, steht auch der Nichtkombattant unter dem Schutz des Kriegsrechts. Zu diesem zählen meist Justiz- und Verpflegungsbeamte, Feldgeistliche, Ärzte oder Marketender 124 . Die übrige Bevölkerung eines kriegführen-

119 Vgl. Anzilotü, Lehrbuch, S. 89; Karl Strupp, Das Internationale Landkriegsrecht, Frankfurt a.M. 1914, S. 15. Vgl. Anzilotti, Lehrbuch, S. 98. „Der Krieg stellt also keine Beziehung zwischen Mensch und Mensch dar, sondern eine Beziehung zwischen Staat und Staat, in der die einzelnen nur zufállig Feinde sind, und zwar nicht als Menschen, nicht einmal als Staatsbürger, sondern als Soldaten; nicht als Mitglieder des Vaterlandes, sondern als seine Verteidiger. Letzten Endes kann ein Staat nur andere Staaten zum Feind haben, aber nicht einzelne Menschen, weil es zwischen Dingen verschiedener Natur keine wirklichen Beziehungen gibt." Siehe: Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts (1762), in: ders., Politische Schriften, Bd. 1, Paderborn 1977, S. 69. 122 Vgl. RGBl. 1910, S. 133. 123 Vgl. Arthur von Kirchenheim, Kombattanten, in: Karl Strupp (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Bd. 1, Berlin, Leipzig 1924, S. 653. 124 Vgl. Alfons Waltzog, Kombattanten oder Nichtkombattanten?, in: Reich - Volksordnung Lebensraum IV (1943), S. 349-363. 120 121

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den Staates befindet sich dagegen im „passiven Kriegsstand" und entbehrt zunächst des Rechts der Kriegführung 125 . Dieser gesetzlich nicht fixierte Grundsatz vom Staat als Subjekt des Völkerrechts besitzt auch heute noch Gültigkeit, jedoch nicht mehr in dieser ausschließlichen Form. Besonders in der rechtspositivistischen Lehre fand diese Prämisse großen Anklang, doch stimmte sie zu keiner Zeit mit der Realität überein. Deshalb wies Anzilotti darauf hin, daß die rechtliche Einordnung von Kolonien, besonders aber der britischen Dominions der Völkerrechtswissenschaft erhebliche Probleme bereite: War Indien, das dem Völkerbund beigetreten war126, kein Subjekt des Völkerrechts? Völlige Unsicherheit bestand darüber hinaus in der Beurteilung des Rechtsstatus von Nomadenstämmen, wie z.B. in Afrika: Mußten diese nicht, sobald sie einen Vertrag mit einem Staat abgeschlossen hatten und sich damit zu dem Grundsatz „pacta sunt servanda" verpflichteten, als Rechtspersönlichkeiten anerkannt werden? Während des Ersten Weltkrieges trat schließlich ein Phänomen in das öffentliche Bewußtsein, das damals noch als Ausnahmefall abgetan werden konnte: die Exilregierung 127 . Diese barg nämlich das juristisch brisante Problem, daß die Anerkennung als Völkerrechtssubjekt durch die Staatengemeinschaft ausschlaggebend war für ihre rechtliche Autorisation zur Kriegführung. Angesichts dieser empirischen Tatsachen gelangte Anzilotti zu einer sehr modernen Lösung des Problems: Anstatt von Staaten, empfahl er von „Normadressaten" als den einzigen legalen Völkerrechtssubjekten zu sprechen. Damit trug er der gängigen Praxis Rechnung, wonach die Subjekte des Völkerrechts von der Völkerrechtsord nung selbst bestimmt werden 128 . Auch in der Frage der Haftung für völkerrechtswidrige Handlungen ging man primär von der Verantwortlichkeit des Staates als dem einzigen Subjekt des Völkerrechts aus. Art. 3 des IV. Haager Abkommens vom 18. Oktober 1907, der auf Antrag der deutschen Delegation aufgenommen worden war, legte allgemein fest: „Die Kriegspartei, welche die Bestimmungen der bezeichneten Ordnung verletzen sollte, ist gegebenen Falles zum Schadensersatze verpflichtet. Sie ist für alle Handlungen verantwortlich, die von den zu ihrer bewaffneten Macht gehörenden Personen begangen werden." 129 Auf den ersten Blick schien dieser Artikel die herrschende Lehre zu bestätigen, daß das Völkerrecht ausschließlich Rechtsbeziehungen zwischen Staaten regelt. Privatpersonen stand daher unmittelbar ein Anspruch auf Schadensersatz nicht zu: „Nie und nie aber kann ein Angehöriger eines Staates, der durch die bewaffnete Macht des Gegners geschädigt wurde, wegen Verletzung eines Völkerrechtssatzes irgendeinen Anspruch gegen letzteren geltend machen, da die Sätze des Völkerrechts nur die Staaten berechtigen und verpflichten, für die sie Gültigkeit besitzen. Ob das einzelne Individuum einen Anspruch gegen seinen Staat hat, richtet sich nach dem betreffenden Landesrecht." 130 Zum aktiven und passiven Kriegsstand siehe: Meurer, Kriegsrecht, S. 52-56. Siehe Anlage zur Völkerbundsatzung in: Auswärtiges Amt (Hrsg.), Der Friedensvertrag zwischen Deutschland und der Entente. Vollständige Volksausgabe der deutschen Übertragung auf Grund der letzten Revision, Charlottenburg 1919, S. 18. 127 Vgl. Anzilotti, Lehrbuch, S. 90-95. 128 Vgl. ebd., S. 89. 1 2 ' RGBl. 1910, S. 125. 130 Strupp, Landkriegsrecht, S. 29. Siehe dazu: Urteil des Landgerichts Bonn vom 10. Dezember 2003 zur Schadensersatzklage wegen NATO-Angriffs auf den serbischen Ort Vavarin, in: 125 126

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Einmal in die Welt gesetzt, entwickelte die Diskussion über Sinn und Inhalt des Art. 3 des IV. Haager Abkommens eine Eigendynamik, die offensichtlich weit über die ursprüngliche Intention des deutschen Antrags hinausging. Zweifel lagen vor allem über den materiellen Anwendungsbereich dieser Bestimmung vor. So faßte Josef L. Kunz den Art. 3 zwar als eine „Sanktion des Kriegsrechts" auf, diese besaß seiner Ansicht nach aber nur zivilen und nicht strafrechtlichen Charakter. Daher gelangte er zu dem Schluß, daß eine Verpflichtung zum Schadensersatz nur im Falle von Vermögensschäden bestehen kann131. Unter Hinweis auf die Protokolle der II. Haager Konferenz im Jahre 1907 gelangte Karl Strupp zu dem gleichen Ergebnis wie Kunz und bestätigte dieses als die gängige deutsche Rechtsauffassung. Allerdings drückte er hierüber sein Bedauern aus, „denn es kann keinem Zweifel begegnen, daß (über jene Norm hinausgehend) eine Reperationspflicht des Verletzerstaates auch dann besteht, wenn z.B. ein Parlamentär erschossen wurde." 132 Zielte Strupps Vorstoß generell darauf ab, die Haftung eines Staates für alle Handlungen der Angehörigen seiner bewaffneten Macht nicht nur bei Vermögensschäden, sondern auch bei Verletzungen des Kriegsrechts gegenüber der feindlichen Streitmacht festzuschreiben, so erweiterte umgekehrt Max Huber, ehemals bevollmächtigter Delegierter der Schweiz während der II. Haager Konferenz, mittelbar die Rechte „des einzelnen Zivilisten" gegenüber dem Feindstaat: „Wennschon es sich um Ansprüche von Staat zu Staat handelt, so kann ein solcher doch nur dann von seinem Kriegsgegner Entschädigung verlangen, wenn seine Angehörigen einen Schaden an ihren persönlichen Rechtsgütern erlitten haben. Ob hierbei nur Private oder aber auch Angehörige der bewaffneten Macht in Frage kommen, ist nicht diskutiert und in der Konvention nicht ausgesprochen worden; man wird aber trotz des allgemeinen Wortlauts der Vertragsbestimmung mit Rücksicht auf den Sinn des ursprünglichen deutschen Antrags, sich im Zweifel eher für die erstere Eventualität entscheiden. (...) Als Rechtsverletzungen, die sich materiell für eine Entschädigung eignen, sind solche zu betrachten, die auch nach den allgemeinen Grundsätzen des Privatrechts Schadensersatzansprüche entstehen lassen: Tötung, Körperverletzung, Eigentumsverletzungen, auch die persönliche Ehre und Freiheit. Solche Ansprüche können auch von den Staaten für sich selbst erhoben werden, wenn staatliches Eigentum betroffen wird, z.B. bei Überschreitung des Beuterechts oder der Nutzniessungsrechte seitens des Okkupanten." 133 Ruft man sich den genauen Wortlaut des Art. 3 des IV. Haager Abkommens in Erinnerung — „die Kriegspartei, welche die Bestimmungen der bezeichneten Ordnung verletzen sollte" - so wird man wohl beiden, Karl Strupp und Max Huber, Recht geben müssen, was auch immer die deutsche Intention zu diesem Artikel gewesen sein mag. Für Irritation konnte aber der anschließende Nebensatz sorgen: „(...) ist gegebenen Falles zum Schadensersatze verpflichtet." Sollte hiermit der damaligen vorherrschenden Rechtsauffassung vom Primat des Staatsrechts oder der militäriBlätter für deutsche und internationale Politik 49 (2004), S. 252-256. Siehe in diesem Zusammenhang auch den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Mai 1996, nach: Hans Günter Hockerts, Wiedergutmachung in Deutschland. Eine historische Bilanz 1945—2000, in: V f Z 49 (2001), S. 212. 131 Vgl. Kunz, Kriegsrecht, S. 34f. •32 Strupp, Landkriegsrecht, S. 30. ι3·' Huber, Fortbildung, S. 575f.

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sehen Notwendigkeit Rechnung getragen werden? Josef L. Kunz z.B. erblickte in dem Begriff „gegebenen Falles" eine Einschränkung dahingehend, daß der Art. 3 gemäß des deutschen Antrags nur „Vermögensschäden" bezeichne, welche letztlich allein vom Sieger reklamiert werden könnten134. Max Huber dagegen sah hier die Pflicht zur Prüfung der erhobenen Beschuldigungen, um den beklagten Staat vor ungerechtfertigten Ansprüchen zu schützen. Zudem betonte er, daß der Staat nur für die Angehörigen seiner bewaffneten Macht hafte. Für völkerrechtswidrige Handlungen von Freischärlern war eine Haftbarkeit des Staates nicht gegeben 135 . Auf Grund der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges sowie der Kontroversen um die Entschädigungsartikel des Versailler Vertrages baute Karl Strupp seine Interpretation aus dem Jahre 1914 weiter aus. Danach haftete der Staat für alle Rechtsverletzungen seiner Streitkräfte: „Jede Verletzung des Kriegsrechts als Verletzung des Völkerrechts ist völkerrechtliches Delikt, daher haftet der Staat, soweit Soldaten als solche handeln, für sie als Organe. Artikel 3 der Haager Konvention von 1907 betr. die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges setzt Schadensersatzpflicht wegen aller gegen die LKO. verstoßenden Handlungen fest, die von zur bewaffneten Macht einer Kriegspartei gehörenden Personen begangen werden." 136 Unter dem Begriff „völkerrechtliches Delikt" begründet Karl Strupp keinesfalls einen Anspruch auf strafrechtliche Ahndung gegen Mitglieder staatlicher Organe. Aus Art. 3 des IV. Haager Abkommens ist eine strafrechtliche Haftung des Staates nicht herleitbar. Es besteht danach allein eine Wiedergutmachungspflicht des Staates bei materiellen wie immateriellen Schäden von Privat- und Miltärpersonen, wenn Sätze des Kriegsrechts durch seine Organe verletzt worden sind137. Josef L. Kunz brachte diesen Sachverhalt ebenfalls klar zum Ausdruck. In Anlehnung an den deutschen Antrag hatte er allerdings die Schadenshaftung allein auf Vermögensschäden reduziert, was er zudem ohne nähere Begründung in dem Begriff „gegebenen Falles" gewährleistet sah. Die strafrechtliche Haftung eines Staates für rechtswidrige Handlungen seiner Organe ist erstmals expressis verbis in den Art. 227-230 des Versailler Friedensvertrages bekundet worden, ebenso die Auslieferung der wegen Kriegsverbrechen beschuldigten Personen zur Aburteilung vor einem Interalliierten Militärgericht. Prinzipiell stimmte Karl Strupp dem Gedanken einer strafrechtlichen Haftung des Staates zu, wenn die „Mehrheit der Staaten als Rechtsetzungsorgane" sich hierzu einverstanden erklärten. Auf Grund der „erzwungenen Zustimmung des Deutschen Reiches zu dem Versailler Frieden" aber lehnte er eine strafrechtliche Haftung Deutschlands aposteriori für rechtswidrige Handlungen seiner Streitkräfte im Ersten Weltkrieg ab138. Der Gedanke der strafrechtlichen Haftung des Staates war allerdings nicht neu. In den Amnestieklauseln der Friedensverträge vorangegangener Kriege war er schon immer enthalten gewesen. Neu war, daß die Entente nun im Jahre 1919 auf diese verzichtete. Die strafrechtliche Verfolgung von Völkerrechtsverletzungen ging ursprünglich auf das Gewohnheitsrecht zurück. Sie wurde schließlich für bestimmte " t Vgl. Kunz, Kriegsrecht, S. 35. » 5 Vgl. Huber, Fortbildung, S. 574f. 136 Karl Strupp, Grundzüge des positiven Völkerrechts, Bonn 1926, S. 196. 137 Vgl. Karl Strupp, Das Völkerrechtliche Delikt, Berlin, Stuttgart, Leipzig 1920, S. 45-60. »8 Vgl. ebd., S. 217f.

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Rechtsfalle in der Haager Landkriegsordnung den Staaten vorgeschrieben und generell in dem Genfer Verwundetenabkommen von 1929 verankert. Die Pflicht der Staaten zur strafrechtlichen Ahndung von Angehörigen ihrer eigenen Organe war somit zweifelsfrei gegeben 139 . Die strafrechtliche Verfolgung von Angehörigen feindlicher Staatsorgane dagegen befand sich, obgleich Beispiele hierfür bereits aus dem 19. Jahrhundert bekannt waren, insofern in einer rechtlichen „Grauzone", als diese das damalige Souveränitätsdogma tangierten und besonders den Grundsatz vom Staat als Subjekt des Völkerrechts verletzten. Hatten noch vor dem Ersten Weltkrieg die kontinental-europäische, insbesondere aber die deutsche Literatur, sich kaum mit der Frage beschäftigt, ob Kombattanten wegen Verletzungen des Kriegsrechts auch vom Gegner bestraft werden können, so wurde es ab 1914 dennoch in allen Armeen allmählich üblich, Kriegsgefangene wegen Kriegsverbrechen vor ein Militärgericht zu stellen140. Mochte man noch so sehr in den angeklagten Soldaten Organe der bewaffneten Macht des Feindstaates sehen, so wurden eben diese persönlich für ihre begangene(n) Straftaten) verantwortlich (haftbar) gemacht. Damit war durch die Kriegspraxis selbst der Grundsatz vom Staat als Subjekt des Völkerrechts abermals durchbrochen worden 141 . lus ad bellum und ius in bello: Die hehre vom gerechten Krieg Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein wurde der Krieg unter dem naturrechtlichen Gesichtspunkt der „Gerechtigkeit" beurteilt. Zu den Vertretern der scholastischen Theorie des „bellum iustum" gehörten vor allem Augustinus, Thomas von Aquin und Franzisco de Vittoria. Nach ihrer Auffassung war besonders der aus einer „iusta causa" begonnene Krieg rechtmäßig. Jeder andere Krieg war verboten und daher rechtswidrig. Die Zulässigkeit eines Krieges machte die scholastische Lehre insgesamt von drei Bedingungen abhängig: 1. Nur ein unabhängiger Fürst darf einen Krieg führen, nicht aber eine beliebige Privatperson, denn nur dem Fürsten hat Gott das Recht verliehen, einen Anspruch auf dem Wege des Krieges zu verwirklichen. 2. Es muß ein gerechter Grund gegeben sein. Der Krieg muß eine Verletzung des Rechts aus der Welt zu schaffen suchen: „Fundamentum iusti belli est iniustitia". 3. Zu einem gerechten Kriege gehört notwendig die „rechte Absicht" des Kriegführenden. Mißbrauch des Rechts, Täuschung über die „wahren" Absichten setzten den zum Krieg schreitenden Fürsten selbst ins Unrecht 142 . Diese Betrachtung eines rechtmäßigen Krieges war natürlich primär vom Standpunkt eines Theologen zu verstehen, und nicht von dem eines Juristen. Die bedeutende 1 3 9 Vgl. Alfred Verdroß, Kriegsverbrecher! und Kriegsverbrecher, in: Karl Strupp (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Bd. 1, Berlin, Leipzig 1924, S. 775. Verdroß bezog sich hier auf das Genfer Verwundetenabkommen vom 6. Juli 1906. no Vg] Walter Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage. Die Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechen als Problem des Friedensschlusses 1 9 1 9 / 2 0 , Stuttgart 1982, S. 5 8 - 6 4 . 141 J o s e f L. Kunz spricht daher auch klar die Frage nach der „strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Individuen"im Völkerrecht aus. Vgl. ders., Kriegsrecht, S. 36. 142 Ygi Hans Wehberg, Krieg und Eroberung im Wandel des Völkerrechts, Frankfurt a.M., Berlin 1953, S. 12f.

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Schwäche dieser scholastischen Theorie aber lag besonders darin, daß über das Vorliegen der iusta causa keine objektive Instanz entscheiden konnte. Dies oblag letztlich allein dem Souverän, der einen gerechten Krieg zu führen unternahm. Der Krieg konnte somit auf beiden Seiten gerecht sein. Die Unmöglichkeit ihrer praktischen Anwendung ließ die scholastische Lehre zunehmend an Substanz verlieren, auch wenn formal weiterhin an ihr festgehalten wurde. So stellte man zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Frage der Rechtmäßigkeit eines Krieges nicht mehr auf die iusta causa ab, sondern nur mehr darauf, daß der Fürst die Souveränität besaß und gewisse Rechtsvorschriften einhielt. Entsprechend entwickelte sich in der Literatur der Begriff des „iustus hostis", der unmißverständlich zum Ausdruck brachte, daß der völkerrechtlich erlaubte Krieg allein in der Kompetenz des Fürsten bzw. des Staates verankert war, Kriege zu führen. Dieses uneingeschränkte, nur auf die Souveränität begründete Recht zur Kriegführung (ius ad bellum) bestand bis zur Gründung des Völkerbundes 143 . Das Haager Abkommen über den Beginn der Feindseligkeiten vom 18. Oktober 1907 rüttelte daher auch nicht am Souveränitätsdogma, sondern verpflichtete die Signatarstaaten lediglich bestimmte Formen vor Einsetzen der Kriegshandlungen zu beachten. Art. 1 des Abkommens schränkte das ius ad bellum nur dahingehend ein, daß es hinterlistige Uberfälle ausschloß: „Die Vertragsmächte erkennen an, daß die Feindseligkeiten unter ihnen nicht beginnen dürfen ohne eine vorausgehende unzweideutige Benachrichtigung, die entweder die Form einer mit Gründen versehene Kriegserklärung oder die eines Ultimatums mit bedingter Kriegserklärung haben muß." 144 Nach dieser Vorschrift durfte kein Staat einen Krieg beginnen ohne eine vorausgehende Kriegserklärung, da er sich sonst eines Verstoßes gegen das Haager Abkommen schuldig machte. Ob aber eine Verletzung dieser Regel unter die Sanktion des Art. 3 des IV. Haager Abkommens oder unter eine strafrechtliche Sanktion des Gewohnheitsrechts fiel, blieb äußerst zweifelhaft 145 . Generell blieb das Recht der Staaten zur Kriegführung unangetastet. Eine absolute Ächtung des Krieges oder auch nur ein Verbot des Angriffskrieges blieb der Zeit vor 1914 fremd und damit auch der Gedanke einer zivilrechtlichen oder gar strafrechtlichen Haftung der Kriegsurheber 146 . Den Sinn des Art. 1 des Haager Abkommens über den Beginn der Feindseligkeiten sah Karl Strupp vor allem darin, Klarheit darüber zu schaffen, „ob noch friedliche Beziehungen zwischen den unter einer Spannung stehenden Staaten vorhanden sind, oder ob bereits der Kriegszustand mit all seinen Wirkungen eingetreten ist" 147 . Festzuhalten bleibt, daß das Völkerrecht auf einer klaren Scheidung zwischen dem Recht zur Kriegführung (ius ad bellum) und dem Kriegsrecht (ius in bello) aufbaut. Die Verletzung des ius ad bellum bleibt somit rechtlich ohne Wirkung auf das ius in bello; die iusta causa hatte ihre Funktion als Gradmesser für die Rechtmäßigkeit eines Krieges eingebüßt: „Whatever may be the cause of war that has broken out, and 113 Vgl. Wehberg, Krieg, S. 21-26. 144 RGBL 1910, S. 98f. 145 Vgl Strupp, Landkriegsrecht, S. 15f. 146 Vgl Eliinor Puttkamer, Die Haftung der politischen und militärischen Führung des Ersten Weltkriegs für Kriegsurheberschaft und Kriegsverbrechen, in: Archiv des Völkerrechts 1 (1948/49), S. 427. 147 Strupp, Landkriegsrecht, S. 16.

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whether or no the cause be a socalled just cause, the same rules of International Law are valid as to what must not be done, may be done, and must be done by the belligerents themselves in making war against each other, and as between the belligerents and neutral States. This is so, even if the declaration o f war is ipso facto a violation o f International Law, (...). The rules of International Law apply to war from whatever cause it originates." 148 Um in den zwischenstaatlichen Beziehungen eine möglichst dauerhafte Friedenssicherung zu erreichen, ging man auf den beiden Haager Konferenzen 1899 und 1907 daran, die Kriegsursachen einzudämmen. Das uneingeschränkte Recht zur Kriegführung erfuhr indirekt eine Eingrenzung, indem sich die Staaten verpflichteten, internationale Konflikte, die auf diplomatischem Wege nicht bereinigt werden konnten, durch Anerkennung eines internationalen Schiedsspruchs beizulegen149. Zu diesem Zweck war bereits auf der ersten Haager Konferenz die Errichtung des Ständigen Schiedshofs in Den Haag beschlossen worden. Doch die bekundete Selbstverpflichtung der Signatarstaaten enthielt keinen Rechtszwang. Denn bei dem Haager Schiedshof handelte es sich um eine Institution der fakultativen Rechtsprechung. Die streitenden Parteien mußten den Gerichtshof selbst anrufen und sich über dessen richterlichen Besetzung einigen, damit dieser tätig werden konnte. Ein schiedsrichterliches Obligatorium für alle justitiablen Streitigkeiten, wie es von der Staatenmehrheit gewünscht wurde, war am Widerspruch des Deutschen Kaiserreichs gescheitert 150 . Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 hatte folglich der internationalen Öffentlichkeit deutlich vor Augen geführt, daß die bisherigen Instrumente zur Kriegsverhütung nicht ausreichten, Streitfälle mit friedlichen Mitteln beheben zu können. Dem hierauf drängenden Wunsch der Völker nach nationaler Sicherheit und wirksameren Methoden zur Friedenssicherung trug vor allem das „14-Punkte-Programm" Wilsons Rechnung, das durch die Schaffung einer neuen, universalen Ordnung die Nationen vor künftigen Kriegen zu bewahren suchte. Die Satzung des Völkerbundes, die als Ergebnis der Pariser Friedenskonferenzen in den Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 aufgenommen wurde, besaß daher drei Systeme zur Kriegsverhütung: Sicherheit durch territoriale Integrität und Bundesexekution, Abrüstung und friedliche Streitregelung151. Keineswegs hob die Völkerbundsatzung aber das ius ad bellum auf. So bestimmte Art. 12 der Völkerbundsatzung lediglich: „Alle Bundesmitglieder kommen überein, eine etwa zwischen ihnen entstehende Streitfrage, die zu einem Bruche führen könnte, entweder der Schiedsgerichtsbarkeit oder der Prüfung durch den Rat zu unterbreiten. Sie kommen ferner überein, in keinem Falle vor Ablauf von drei Monaten nach dem Spruch der Schiedsrichter oder dem Berichte des Rates zum Kriege zu schreiten." 152 Eine Annäherung an die iusta causa der scholastischen Lehre 1 4 8 Lassa Oppenheim, Hersch Lauterpacht, International Law. A Treatise, Vol. II: Disputes, War and Neutrality, London, New York, Toronto 1944, S. 174f. 149 Vgl Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfalle vom 18. Oktober 1907, in: R G B l . 1910, S. 33 (Art. 38). 1 5 0 Vgl. Hans-Jürgen Schlochauer, Das Problem der Friedenssicherung in seiner ideengeschichtlichen und völkerrechtlichen Entwicklung. Akademische Antrittsvorlesung, Köln 1946, S. 7. 151 Vgl. Bernd Weber, Die völkerrechtlichen Kriegsverhütungsbestrebungen von 1919 bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges, in: Wehrforschung 3 (1974), S. 81. 152 Auswärtiges Amt (Hrsg.), Friedensvertrag, S. 11.

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wurde mit diesem Artikel nur insofern erreicht, als zwischen erlaubten und unerlaubten Kriegen unterschieden wurde. Das ausschlaggebende Kriterium für einen nichtverbotenen Krieg lag aber nicht in einem materiellen Grund, sondern ausschließlich in der Beachtung bestimmter Vorschriften des Verfahrens. Fortan war kein Krieg mehr zulässig ohne den vorherigen Versuch friedlicher Streiterledigung153. Zu diesem Zweck sah Art. 14 die Errichtung eines Ständigen Internationalen Gerichtshofs154 vor, der am 5. Februar 1922 feierlich in Den Haag eröffnet wurde. Das Statut des Ständigen Internationalen Gerichtshofs 155 schrieb wie im Falle des Internationalen Schiedshofs nur eine fakultative Rechtsprechung vor; allerdings wurde als Kompromißlösung in Art. 36 die sogenannte „Fakultativklausel" aufgenommen, die es jedem Staat freistellte, die automatische Zuständigkeit des Gerichtshofs für alle Streitfragen des Völkerrechts anzuerkennen. Bis zum Jahre 1939 hatten insgesamt 45 Staaten mit Ausnahme der USA und der UdSSR Erklärungen im Sinne der Fakultativklausel und damit einer obligatorischen Gerichtsbarkeit abgegeben. Kaum verwunderlich war es, daß das Dritte Reich die abgelaufene Verpflichtung im Jahre 1938 nicht mehr erneuerte 156 . Am 7. September 1939, sechs Tage nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Polen, zog Großbritannien seine Unterschrift unter die Fakultativklausel zurück 157 . Damit war endgültig eine verbindliche Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs, die besonders im Interesse der neutralen Parteien gelegen hätte, während des Zweiten Weltkrieges unmöglich geworden. Parallel zu den Bestrebungen durch formale Verfahrensvorschriften das ius ad bellum der Staaten zu begrenzen, trat zunehmend die Bereitschaft in den Vordergrund, die bisherigen Kriegsverhütungsmaßnahmen durch ein generelles Kriegsverbot zu verstärken. So befaßte sich das im Völkerbund diskutierte „Protokoll zur friedlichen Regelung der internationalen Streitigkeiten" (Genfer Protokoll 158 ) von 1924 nicht nur ausgiebig mit dem Streitschlichtungskomplex, sondern sah in Art. 2 das Verbot aller Kriege mit Ausnahme des Widerstandes gegen Angriffsakte vor. In der Präambel wurde zudem der Angriffskrieg unmißverständlich als internationales Verbrechen

'S3 Vgl. Wehberg, Krieg, S. 31. 154 Vgl Auswärtiges Amt (Hrsg.), Friedensvertrag, S. 12. Zur Unterscheidung von Internatio nalen Schiedsverfahren, die weiterhin möglich waren, und der Internationalen Gerichtsbarkeit siehe: Hans-Jürgen Schlochauer, Internationale Gerichtsbarkeit, in: ders. (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, Berlin 1961, S. 58f. 155 Gemäß Art. 92 der Charta der Vereinten Nationen wurde die Internationale Gerichtsbarkeit nach dem Zweiten Weltkrieg wieder begründet: „Der Internationale Gerichtshof ist das Hauptrechtsprechungssorgan der Vereinten Nationen. Er nimmt seine Aufgaben nach Maßgabe des beigefügten Statuts wahr, das auf dem Statut des Ständigen Internationalen Gerichtshofs beruht und Bestandteil dieser Charta ist". Siehe: Charta der Vereinten Nationen, S. 22. Das Statut wurde veröffentlicht in: BGBl. II. 1973, S. 507-531. 156 Vgl. Schlochauer, Friedenssicherung, S. 8. 157 Vgl. Carl Bilfinger, Die Kriegserklärungen der Westmächte und der Kelloggpakt, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV) 10 (1940/41), S. 6. Siehe auch: Helmuth James Graf von Moltke, Die britische Order in Council vom 27. November 1939 über die Beschlagnahme deutscher Ausfuhrwaren, in: ZaöRV 10 (1940/41), S. 121. 158 Der Sitz des Völkerbundes, d.h. die Bundesversammlung und der Bundesrat, befand sich in Genf. Das Genfer Protokoll von 1924 ist in diesem Fall nicht auf Bemühungen des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes zurückzuführen.

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verurteilt 159 . Der Krieg, so die Intention des Genfer Protokolls von 1924, sollte kurzerhand als Rechtsinstitut des Völkerrechts abgeschafft werden. Die Staatsräson aber ließ diese massiven Einschnitte in die Souveränität noch nicht zu und fand daher nicht die Annahme der Regierungen. Das Genfer Protokoll ist somit Vertragsentwurf geblieben. Auf Anregung Polens kam es drei Jahre später erneut zu einer Diskussion über die Frage des Kriegsverbots. Diesmal erließ am 24. September 1927 die Völkerbundversammlung eine Resolution, die den Angriffskrieg zum internationalen Verbrechen erklärte, ihn verbot und die Anwendung friedlicher Mittel zur Regelung von Streitigkeiten den Mitgliedern verpflichtend auferlegte160. Doch solange die Völkerbundsatzung bestimmte Kriege nicht verboten hatte, blieb die Rechtsverbindlichkeit dieser bekundeten Selbstverpflichtung äußerst fragwürdig. Sie wurde denn auch mehrheitlich nur als Ausdruck des friedlichen Verhältnisses der Völkerbundsmitglieder untereinander aufgefaßt 161 . Unverkennbar steuerten die Debatten im Völkerbund auf das hehre Ziel eines generellen Verbotes des Krieges zu. Am 27. August 1928 unterzeichneten schließlich neun Staatenvertreter in Paris den Vertrag über die Ächtung des Krieges, den sogenannten Briand-Kellogg-Pakt. In Art. 1 gelobten die Signatare, „daß sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten." 162 Der BriandKellogg-Pakt, dem sich bis 1938 insgesamt 63 Staaten angeschlossen hatten, war keineswegs als bloße Deklaration zu begreifen, sondern vielmehr als Staatsvertrag. Abgesehen vom Verteidigungskrieg sollte nur mehr der von der Staatengemeinschaft beschlossene Krieg (Art. 11 und 16 der Völkerbundsatzung) gegen einen Rechtsbrecher zulässig sein163. Problematisch blieb jedoch die Frage seiner Erzwingbarkeit. Der Briand-Kellogg-Pakt entbehrte nämlich jeglicher institutionellen Regelung der Rechtsfolge seiner Verletzung und besaß damit keinen Sanktionsmechanismus. Zudem fehlte eine klare Definition der Begriffe „Angriff und „Verteidigung". Beispielsweise war es gleichwohl denkbar, aus militärischen bzw. geostrategischen Gründen zur Verteidigung des eigenen Territoriums einen „Angriffskrieg" zu führen. Der Pakt von Paris stellte somit den ersten Ansatzpunkt einer Völkerrechtsquelle zum Verbot des Angriffskrieges dar. Mangels völkerrechtlicher Definitionsschärfe und Justitiabilität ließ sich jedoch eine völkerrechtliche Strafbarkeit des Führens von Angriffskriegen auf rechtspositivistischer und gewohnheitsrechticher Grundlage nicht begründen 164 . 159 Vgl. Weber, Kriegsverhütungsbestrebungen, S. 83. "o Vgl. ebd., S. 86. i « Vgl. Wehberg, Krieg, S. 40f. 162 RGBl. II. 1929, S. 100. Unterzeichner des Briand-Kellogg-Paktes im Jahre 1928 waren: USA, Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Polen und Tschechoslowakei; siehe: ebd., S. 9 9 - 1 0 0 . i « Vgl. Wehberg, Krieg, S. 44f. 164 Vgl. Ahlbrecht, Strafgerichtsbarkeit, S. 55f. Die begriffliche und rechtliche Vagheit des „Verbots von Angriffskriegen" im Briand-Kellogg-Pakt war auch Gegenstand des Vortrags des amerikanischen Völkerrechders James W. Garner „Uber das Völkerrecht in den Kriegen der Zukunft", den er im Jahre 1936 vor dem Ausschuß für Völkerrecht der Akademie für Deutsches Recht gehalten hatte: „Der Krieg ist noch nicht durch allgemeines Ubereinkommen geächtet und ist daher nicht rechtswidrig, außer soweit einzelne Staaten auf ihn vertraglich

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Seit Bestehen der Völkerbundsatzung bildete Art. 10 den Stein des Anstoßes für zahlreiche Völkerrechtler, Militärs und Politiker in Deutschland. Denn dieser Artikel schrieb die territoriale Integrität der Mitglieder des Völkerbundes fest: „Die Bundesmitglieder verpflichten sich, die Unversehrtheit des Gebiets und die bestehende politische Unabhängigkeit aller Bundesmitglieder zu achten und gegen jeden äußeren Angriff zu wahren. Im Falle eines Angriffs, der Bedrohung mit einem Angriff oder einer Angriffsgefahr nimmt der Rat auf die Mittel zur Durchführung dieser Verpflichtung Bedacht." 165 Gleichgültig, ob der Krieg verboten war oder nicht, damit war im Verhältnis der Bundesmitglieder zueinander jede Annexion untersagt. Bedrohte Art. 16 der Völkerbundsatzung rechtswidrige Kriege (insbes. Art. 12) mit Sanktionsmaßnahmen 166 , die übrigens nach Art. 17 gegenüber Nichtmitgliedern ebenfalls Anwendung finden sollten, so behielt sich Art. 10 Sanktionen auch im Falle von rechtmäßigen Kriegen vor 167 . Nicht nur die sogenannten „Kronjuristen" des Dritten Reiches, sondern auch international anerkannte deutsche Völkerrechder sahen sukzessive die Hoffnungen auf eine friedliche Revision der durch den Versailler Friedensvertrag festgeschriebenen Grenzen auf der Grundlage des äußerst schwammig gehaltenen Art. 19 der Völkerbundsatzung 168 schwinden. Hatte sich die deutsche Völkerrechtswissenschaft lange Zeit mit Fragen legaler Revisionsmöglichkeiten beschäftigt, so betrachtete sie es besonders nach 1933 als ihre Aufgabe, die deutschen Revisionsansprüche „contra legem" einzufordern. Im Kampf gegen den bestehenden Rechtszustand des Versailler Vertrages bediente sie sich nicht selten des Naturrechts als Waffe 169 . Unter dem Gebot der „Gerechtigkeit" und der Unterstellung einer Verschwörung der Mitglieder des Völkerbundes gegen das Deutsche Reich durch die Bildung von Militärallianzen wurde nun der verbotene Krieg als „legitimes Mittel der Politik" bewußt in Kauf genommen. In diesem Sinn stellte beispielsweise Professor Viktor Bruns, Direktor des Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht der Kaiserverzichtet haben. Gewiß haben die Parteien des Völkerbundes gewisse Beschränkungen ihres Rechts, Krieg zu beginnen, akzeptiert, und vielleicht kann man sagen, daß sie einige Kriege wie Angriffskriege geächtet haben. Ebenso haben die Parteien des Briand-Kellogg-Paktes auf ihr Recht verzichtet, zum Kriege als Mittel der nationalen Politik zu schreiten, was immer das bedeuten mag. Aber es bleiben noch Kriege, die weder durch den Völkerbundspakt noch durch den Pariser Pakt geächtet sind, (...). Es gibt keine Völkerrechtsnorm, die den Staaten verbietet, Krieg zu beginnen. Das ist völlig eine Frage der Staatspolitik und nationaler Zweckmäßigkeitserwägung und nicht eine Frage des Völkerrechts." Siehe: BA, R 3001/3237, Bl. 47f. 165 Auswärtiges Amt (Hrsg.), Friedensvertrag, S. 10. 166 „Schreitet ein Bundesmitglied entgegen den in den Artikeln 12, 13 und 15 übernommenen Verpflichtungen zum Kriege, so wird es ohne weiteres so angesehen, als hätte es eine Kriegshandlung gegen alle anderen Bundesmitglieder begangen. (...) In diesem Falle ist der Rat verpflichtet, den verschiedenen beteiligten Regierungen vorzuschlagen, mit welchen Land-, Seeund Luftstreitkräften jedes Bundesmitglied für sein Teil zu der bewaffneten Macht beizutragen hat, die den Bundesverpflichtungen Achtung zu verschaffen bestimmt sind." Siehe: ebd., S. 13. 167 Vgl. Wehberg, Krieg, S. 36. 168 „Die Bundesversammlung kann von Zeit zu Zeit die Bundesmitglieder zu einer Nachprüfung der unanwendbar gewordenen Verträge und solcher internationalen Verhältnisse auffordern, deren Aufrechterhaltung den Weltfrieden gefährden könnte." Siehe: Auswärtiges Amt (Hrsg.), Friedensvertrag, S. 15. 169 Vgl. Bristier, Völkerrechtslehre, S. 77.

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Wilhelm-Gesellschaft, fest: „Seit dem Jahre 1920 haben sie (die Entente, Anm. d. Verf.) in planmäßiger Folge Bündnis auf Bündnis politischer und militärischer Natur geschlossen und sich damit auf eine gemeinsame Linie der Politik, die Verteidigung der eigenen Interessen festgelegt. Sie haben dadurch das sinngemäße Spiel der Bundeseinrichtung, die gleichmäßige Mitwirkung aller bei der Herbeiführung eines gerechten Ausgleichs unmöglich gemacht. (...) Gewiß, die Völkerbundsatzung hat das äußerste Mittel der Politik, den Krieg, nicht ausgeschaltet. Sie sieht ihn vor als Sanktionskrieg gegen den, der die Satzung bricht. Sie läßt ihn zu, wenn ihr Organ, wenn der Rat außerstande ist, sich über die Beilegung des Konflikts zu einigen. Gerade diese Lücke in der Satzung suchen die Bündnispolitiker sich zunutze zu machen, (...). So ist der Krieg von neuem wieder in den Bereich der politischen Möglichkeiten gerückt. Der Krieg ist Mittel der Politik. Er steht darum, wie alles politische Handeln, unter dem Gebot der Sittlichkeit und des Rechts" 170 . Die Abkehr vom positiven Recht in der deutschen Völkerrechtswissenschaft korrespondierte zweifellos mit der Außenpolitik Hiders, der bereits im Herbst 1933 den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund öffentlich bekundet hatte. Die Bereitschaft, zur Durchsetzung „berechtigter" Interessen und Ziele, auch zum Kriege zu schreiten, bewirkte zwangsläufig, daß bis unmittelbar vor Kriegsbeginn in der deutschen Völkerrechtslehre vornehmlich Fragen, die das ius ad bellum betrafen dominierten und nicht etwa das Kriegsrecht (ius in bello) selbst. Besonderes Augenmerk wurde dabei den Sankdonsmechanismen der Völkerbundsatzung in der Praxis geschenkt. Die Ohnmacht des Völkerbundes gegenüber zahlreichen Konflikten in der Welt, wie beispielsweise der Kriege in China und Äthiopien, faßte die NS-Völkerrechtswissenschaft als Bestätigung ihrer „Rechtsphilosophie" auf, die in Anlehnung an die Theorie vom „konkreten Ordnungsdenken" Carl Schmitts 171 die zwischenstaatlichen Beziehungen unter dem unpräzisen Begriff des „werdenden Rechts" zu subsumieren versuchte. Was darunter zu verstehen war, machte Staatsrat Prof. Freiherr von FreytaghLoringhoven in seinem Vortrag schonungslos deutlich, den er am 28. Oktober 1935 vor dem Ausschuß für Völkerrecht der Akademie für Deutsches Recht gehalten hatte. Am Beispiel des Italienisch-Abessinischen Krieges ließ er gegenüber seinen Zuhörern keinen Zweifel daran, daß der Begriff des werdenden Rechts den radikalen Bruch des ius ad bellum bedeutete: „Hierbei handelt es sich jedoch nicht nur um ein Ringen zwischen italienischen Interessen und der Aufrechterhaltung des letzten afrikanischen Negerstaates. Es geht hier vielmehr um den Zusammenprall des geltenden und des werdenden Rechts. Schon im Mandschurei-Streitfall fragte man sich, ob die Aufrechterhaltung dieses brodelnden Chaos, das China trotz mancher Konsolidationserscheinungen darstellt, wirklich so wertvoll ist, daß man das Recht einer starken aufstrebenden Nation wie Japan — man denke an seine Notwendigkeit, Siedlungsgebiete zu haben (...) — hinter jenem status quo eines quasi-chinesischen Reiches zu-

p n Viktor Bruns, Die politische Bedeutung des Völkerrechts, in: Wissen und Wehr 18 (1935), S. 362f. 171 Siehe dazu: Bernd Rüthers, Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1983, S. 54-98.

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rücksteilen könnte; oder ob da nicht wirklich trotz verbotener Gewaltanwendung das werdende Recht im Gegensatz zum Recht des status quo auf Seiten Japans ist." 172 Den sinnlosen, ja schamlosen Versuch Italiens, seinen Angriffskrieg gegen Äthiopien auf der Grundlage der Völkerbundsatzung zu rechtfertigen, unterzog FreytaghLoringhoven einer massiven Kritik. Denn dies stand seiner Auffassung nach im Widerspruch zum Begriff des werdenden Rechts, der unverhohlen die Ungleichheit der Völker voraussetzte und damit die Rechtsansprüche der Völker entsprechend ihrer Einordnung in ein hierarchisiertes internationales Rechtssystem herabstufte: Es soll nicht übersehen werden, „daß Italien, juristisch und diplomatisch ziemlich schlecht beraten, nicht diesen Gedanken des neuen Rechts in den Vordergrund gestellt hat, sondern sich vielmehr, vielleicht mit Rücksicht auf Frankreich oder auf den Völkerbund, auf das geltende Recht berufen hat. Absurd geradezu ist Italiens ständiger Hinweis auf die furchtbare Bedrohung seiner Sicherheit durch Abessinien. (...) Italien beruft sich also stets auf Artikel 10. Nur zwischendurch wird Artikel 19 — Notwendigkeit der Revision — vorgebracht. Das ist also ein Hinweis auf das werdende Recht. Aber im Vordergrunde steht immer die angebliche Bedrohung der Sicherheit Italiens. (...) Das ist übrigens eine sehr interessante Form der Kriegserklärung: Dem Gegner, den es nicht als gleichberechtigt anerkennt, zeigt Italien den Ausbruch des Krieges nicht an, aber es teilt dem Völkerbunde mit, daß es nun zu Maßnahmen geschritten ist."173 Italien hatte das ius ad bellum in dreifacher Weise verletzt: durch Umgehung des Abkommens zur friedlichen Erledigung internationaler Streitigkeiten vom 18. Oktober 1907 sowie durch die Mißachtung der Völkerbundsatzung und des Briand-Kellogg-Paktes. Die Unterlassung einer Kriegserklärung an Äthiopien konnte zur Not noch damit gerechtfertigt werden, daß Italien das Abkommen über den Beginn der Feindseligkeiten vom 18. Oktober 1907 nicht unterzeichnet hatte174. Für den Völkerbund erwuchs nun zunächst das Problem, ob in den Beziehungen zwischen Italien und Äthiopien überhaupt von einem Kriegszustand auszugehen war. Zwar erklärte der Völkerbundsrat in seiner Resolution vom 7. Oktober 1935, daß Italien in Verletzung des Artikels 12 der Völkerbundsatzung zum Kriege geschritten sei, doch konnte damit nicht eine Entscheidung über das Inkrafttreten des Kriegsrechts (ius in bello) zwischen diesen beiden Staaten getroffen werden 175 . Josef L. Kunz zufolge ist eine Kriegserklärung für die Feststellung eines Kriegszustandes nicht notwendig. Dies bedeute zwar einen Bruch des Abkommens über den Beginn der Feindseligkeiten und stelle daher (seit dem Versailler Vertrag) ein Völkerrechtsdelikt dar, doch genüge es, wenn nur eine Konfliktpartei, auch ohne Kriegserklärung, Akte setzt, aus denen die Absicht Krieg zu führen, unzweideutig hervorgehe, um damit das Einsetzen des Kriegsrechts anzuzeigen 176 . Im vorliegenden Fall war für das Inkrafttreten des Kriegszustandes allein das Verhalten Äthiopiens ausschlaggebend, das in einer Stellungnahme gegenüber dem Völkerbundsrat die Anwendung des BA, R 3013/28, Bl. 235. Ebd., Bl. 235f. 174 Italien ist in der Liste der Unterzeichnerstaaten des III. Haager Abkommens vom 18. Oktober 1907 nicht aufgeführt; vgl. RGBl. 1910, S. 82ff. 175 Vgl. Oswalt von Nostitz-Wallwitz, Das Kriegsrecht im italienisch-abessinischen Krieg, in: ZöaRV VI (1936); S. 681. 176 Vgl. Kunz, Kriegsrecht, S. 9f. 172 173

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Art. 16 der Völkerbundsatzung gegenüber Italien beantragt hatte. Der Beginn der Feindseligkeiten zwischen beiden Staaten wurde daraufhin auf den 3. Oktober 1935 rückdatiert 177 . Trotz des Bruchs des ius ad bellum durch Italien waren während des gesamten Krieges beide Staaten, Äthiopien und Italien, an die Normen des Kriegsrechts gebunden: „Denn der abessinische Krieg nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als er der erste seiner Art ist, dessen Herbeiführung von der Mehrzahl der dem Völkerbund angehörenden Staaten als Verstoß gegen den Kelloggpakt und die Völkerbundsatzung angesehen wurde. Mag nun auch die überwiegende Auffassung stets daran festgehalten haben, daß der völkerrechtswidrige Krieg wie jeder andere unter Kriegsrecht stehe, so ist doch die gegenteilige Meinung namentlich nach Abschluß des Kelloggpaktes verschiedentlich in der Wissenschaft vertreten worden; sie dürfte nunmehr eindeutig durch die Praxis widerlegt sein"178. Obgleich das Dritte Reich am 21. Oktober 1935 endgültig aus dem Völkerbund ausgeschieden war, konnte es in seiner Außenpolitik niemals auf eine ständige Beobachtung der Völkerbundsatzung verzichten, da die Westmächte und die Neutralen sowie seit 1934 auch die UdSSR nach wie vor an sie gebunden waren. Zudem ermöglichte Art. 17 der Satzung den Mitgliedern ihre Entscheidungen auch auf Nichtmitglieder auszudehnen 179 . Deutsche Völkerrechtler und Militärs mochten aber um so mehr auf den Bruch des ius ad bellum drängen, als ihnen die Praxis des italienischabessinischen Krieges deutlich vor Augen führte, daß der rechtswidrige Angriffskrieg kaum ernstzunehmende Sanktionen der Staatengemeinschaft zu befürchten hatte. Das Ausbleiben militärischer Sanktionen, wie es Äthiopien vom Völkerbund nach Art. 16 erbeten hatte, führte Freytagh-Loringhoven völlig zu Recht u.a. auf strukturelle Defekte in der Völkerbundsatzung selbst zurück: „Eine andere interessante Frage ist die Technik der Inkraftsetzung der Sanktionen, und zwar weniger vom Standpunkt dieses Konfliktes, als vielmehr von dem einer möglichen Anwendung in anderen Fällen. Entgegen den Presseberichten hat weder der Rat noch die Bundesversammlung einen formellen Beschluß darüber gefaßt, wer der Rechtsbrecher ist; sondern der Präsident hat nur festgestellt, daß 14 Mitglieder des Rates der Ansicht sind, daß Italien gegen Art. 12 der Bundessatzung zum Kriege geschritten sei. (...) Die Gründe hierfür liegen in dem Fehlen eines Artikels der Völkerbundsatzung, nach dem der Rat oder gar die Bundesversammlung den Rechtsbrecher feststellen solle. Man hat vermieden, etwas zu tun, was nicht ausdrücklich in der Satzung steht. Hinzu traten aber auch technische Schwierigkeiten. Es ist bestritten, ob nicht Art. 16 die Einstimmigkeit der Mitglieder einschl. des Rechtsbrechers erfordert. (...) Es ist [daher] Sache jedes einzelnen Staates darüber zu entscheiden, wer der Rechtsbrecher ist"180. In einer weiteren Sitzung des Ausschusses für Völkerrecht am 19. Juni 1936 erklärten die Teilnehmer, unter ihnen Carl Schmitt sowie der Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes, Dr. Friedrich Gaus, nach der Annexion Äthiopiens durch Italien

Vgl. Nostitz-Wallwitz, Kriegsrecht, S. 682. ebd., S. 683. Gegen diese grundlegende Auffassung war in Deutschland vor allem Hans Wehberg; vgl. ebd., S. 683 Anm. 15. 178

179 Vgl. Auswärtiges Amt (Hrsg.), Friedensvertrag, S. 14. ι»« BA, R 3013/28, Bl. 245f.

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sei Art. 10 der Völkerbundsatzung in seiner Rechtsverbindlichkeit erschüttert. Eine Bedeutung maßen sie ihm zukünftig nurmehr auf moralischem Gebiet zu181. Als das Dritte Reich am 1. September 1939 zum militärischen Schlag gegen Polen ausholte und damit den Zweiten Weltkrieg auslöste, hatte es das I. Haager Abkommen zur friedlichen Erledigung von Streitfällen vom 18. Oktober 1907, das III. Haager Abkommen über den Beginn der Feindseligkeiten vom 18. Oktober 1907 und den am 16. Oktober 1925 in Locarno zwischen Polen und Deutschland geschlossen Schiedsvertrag sowie die Nichtangriffserklärung vom 26. Januar 1934 gebrochen. Darüber hinaus verstieß die Annexion der Freien Stadt Danzig gegen Art. 100 des Versailler Friedensvertrages. Die Auslösung des Krieges bedeutete außerdem eine Mißachtung des Briand-Kellogg-Paktes gegenüber jedem angegriffenen Staat. Eine Verletzung der Völkerbundsatzung wurde Deutschland im Nürnberger Hauptkriegs verbrecherprozeß nicht vorgeworfen 182 . Die Kriegserklärungen Großbritanniens und Frankreichs vom 3. September 1939 183 legten schließlich den Grundstein für einen Koalitionskrieg gegen das Deutsche Reich, der bis zum 9. Mai 1945 dauern sollte. In ihren Noten vom 5. und 9. September 1939 an den Völkerbundsrat belasteten sie Deutschland mit der Schuld am Kriege und machten für ihren Kriegseintritt folgende Rechtstitel geltend: Das britisch-polnische Beistandsabkommen vom 25. August 1939 und den BriandKellogg-Pakt 184 . Die britische und französische Kriegserklärungen gründeten also nicht auf die Artikel 10, 12, 16 und 17 der Völkerbundsatzung, da eine Anrufung des Bundes und seiner Institutionen, wie es die Vorschrift forderte, nicht erfolgt war. Zudem kündigte, wie bereits erwähnt, Großbritannien seine Bindung an die Fakultativklausel im Statut des Ständigen Internationalen Gerichtshofs. Hatten damit die beiden Westmächte nun ihrerseits das ius ad bellum gebrochen? Auf welches Recht konnten sich die Alliierten zur Führung ihres (Angiffs-)Krieges gegen Deutschland berufen, wenn sie keinen Verteidigungskrieg unternahmen? In ihren Noten an den Völkerbund rechtfertigten die Westmächte ihre Kriegserklärungen mit dem Interventionsrecht, welches sie aus ihrem Beistandsabkommen mit Polen sowie insbesondere aus dem Briand-Kellogg-Pakt zugunsten Polens ableiteten 185 . Setzten die Westmächte 181 Vgl. BA, R 3013/28, Bl. 189. i»2 Vgl. Das Urteil von Nürnberg, S. 8 1 - 8 4 . ι 8 3 Siehe dazu: Lothar Gruchmann, Der Zweite Weltkrieg. Kriegführung und Politik, München 1995 (10. Aufl.), S. 22f.; ebenso: Julian Bullard, „Muß es sein? Es muß sein!" Großbritannien und der Kriegsausbruch, in: Helmut Altrichter, Josef Becker (Hrsg.), Kriegsausbruch 1939. Beteiligte, Betroffene, Neutrale, München 1989, S. 84—103; René Girault, Der Kriegseintritt einer uneinigen Nation: Frankreich, in: ebd., S. 104—130. 184 Vgl Bilfinger, Kriegserklärung, S. 1. In ihrer Kriegserklärung vom 3. September 1939 (11 Uhr 15) bezogen sich die Briten auf ihre Note vom 1. September 1939, in der sie die Verletzung des Briand-Kellogg-Pakts durch Deutschland gegenüber Polen festgestellt und ihre Verpflichtungen aus dem Beistandsabkommen betont hatten. Vgl. Archiv der Gegenwart 1939, S. 4238; ebenso: A D A P 1 9 1 8 - 1 9 4 5 , Serie D, S. 446. Frankreich verurteilte in seiner Kriegserklärung vom 3. September 1939 (12 Uhr 20) dagegen den Bruch des III. Haager Abkommens über den Beginn der Feindseligkeiten vom 18. Oktober 1907. Vgl. Archiv der Gegenwart 1939, S. 4239; A D A P 1 9 1 8 - 1 9 4 5 , Serie D, S. 445. iss Vgl. Bilfinger, Kriegserklärung, S. 3. Die Vereinbarkeit des Beistandsabkommens sowie der Garantieerklärung Großbritanniens für Polen vom 31. März 1939 mit der Völkerbundsatzung wurde von Bilfinger erheblich bezweifelt.

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dem rechtswidrigen Krieg des Dritten Reiches, dem Krieg des „werdenden Rechts", hiermit die iusta causa, den gerechten Krieg entgegen? In seiner Polemik gegen die Kriegserklärungen der Westmächte brachte Carl Bilfinger genau dies zum Ausdruck und bemerkte, „daß die Westmächte eine auf den Kelloggpakt gestützte Berechtigung zur Intervention in einem Streite Dritter, hier in dem Streit zwischen Polen und Deutschland, für sich in Anspruch nehmen wollen. Es ist der Gedanke, der Angriff der Westmächte sei kein Krieg in dem Sinn des im Kelloggpakt geächteten Kriegs, sondern ein von diesem universalen Pakt erlaubter, ein legitimer, ein gerechter Krieg; wohl aber führe Deutschland gegen Polen einen vom Kelloggpakt verbotenen, rechtswidrigen, ungerechten Krieg" 186 . Auch Oppenheim, der die iusta causa längst der Geschichte überantwortet wissen wollte, mußte einräumen, daß der gerechte Krieg auf die Bühne der internationalen Politik zurückgekehrt war: „But for many legal purposes it seems now again possible to distinguish between just and unjust (or lawful and unlawful) wars — the latter being those waged in breach of the obligations of the Covenant and of the Treaty for the Renunciation of War" 187 . Bilfinger mochte noch so sehr Paragraph um Paragraph gegen den gerechten Krieg der Alliierten in Stellung bringen. Auf der Ebene des positiven Rechts focht er einen aussichtslosen Kampf gegen das Naturrecht, gegen das Menschenrecht. Hatte er nicht schon übersehen, das Deutschland den Pfad des gemeinsamen (Völker-) Rechts verlassen hatte? Hatte er nicht all jene diplomatischen Schritte zur Verständigung vergessen, die unternommen worden waren, um den von Hider selbst produzierten Konflikt beizulegen? Julian Bullard betont daher, daß der Hauptgrund für die Kriegserklärung Großbritanniens in der Politik des Dritten Reiches selbst zu suchen war: „Tatsächlich versäumte die britische Presse auch nicht zu berichten, was sie sah und hörte und beschränkte sich nicht nur auf die Höhepunkte der Barbarei, wie etwa die sogenannte ,Reichskristallnacht'. Die Art, Juden, Kommunisten und Sozialdemokraten zu behandeln, die Disziplinierung der Kirchen, der brutale Ton der deutschen Presse, die Militarisierung nicht nur der Jugend, sondern auch der Kinder, die Auslöschung akademischer Freiheit, die Nazifizierung des Rechts, die strikte Kontrolle über Einwanderung und besonders Auswanderung, die ständigen Mobilmachungen und Manöver — all diese Dinge füllten die Auslandsseiten der britischen Presse ebenso wie die der Presse der gesamten freien Welt." 188 Eben dies war das Dilemma: Wie geht 186 Vgl Bilfinger, Kriegserklärung, S. 5. In seiner Parlamentsrede vom 2. September 1939 führte der französische Ministerprädsident Edouard Daladier u.a. aus: „Der Angriff auf Polen [ist] eine Gewalttat gegen Großbritannien und Frankreich. E s hand[elt] sich nicht um einen deutsch-polnischen Zusammenstoß, sondern um einen neuen Akt der Hider-Diktatur zur Unterjochung Europas und der Welt. (...) Polen [ist] das Ziel des ungerechtesten, grausamsten Angriffs geworden". Siehe: Archiv der Gegenwart 1939, S. 4206. 187 Oppenheim, Lauterpacht, International Law, S. 177. Interessant waren auch die Gründe, die Oppenheim für die Rückkehr des gerechten Krieges vorbrachte: „For this reason, although the justice of the cause of a particular war is irrelevant so far as concerns the actual rules of war [!] applicable to its conducts, there is a tendency for the cause of the war thus interpreted to become important during the war, influencing the attitude of neutral states, and at the close of the war, in any attempt that may be made to determine the responsibility for the war." Siehe: ebd., S. 177 Anm. 2. 188 Bullard, „Muß es sein? E s muß sein!", S. 85.

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man mit jemandem um, der die Spielregeln schon längst nicht mehr befolgt? Der totale Krieg nationalsozialistischer Prägung erzwang den gerechten Krieg der Gegenseite. Doch auch er ist total. Auch er barg die Gefahr, die Ebene des Rechts zu verlassen189. Entgegen dem positiven Gehalt des Briand-Kellogg-Paktes wurden die Funktionseliten des Dritten Reiches im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß sowie in den Nachfolgeprozessen strafrechtlich haftbar gemacht für den totalen Bruch des ius ad bellum. Dies geschah auf der Grundlage des Art. 6a des Londoner Statuts vom 8. August 1945, der die Planung und Durchführung eines Angriffskrieges als Verbrechen gegen den Frieden deklarierte 190 . Es war daher kaum verwunderlich, daß die Angeklagten wie ihre Anwälte auf der Ebene des positiven Rechts argumentierend darauf verwiesen, daß der Art. 6a des Londoner Statuts gegen den Grundsatz „nullum crimen sine lege" verstoße. Dieser auch heute noch vertretenen Auffassung 191 hielt das Nürnberger Hauptkriegsverbrechertribunal allerdings entgegen: „Zunächst muß bemerkt werden, daß der Rechtssatz ,nullum crimen sine lege' keine Beschränkung der Souveränität darstellt, sondern ganz allgemein ein Grundsatz der Gerechtigkeit ist. Zu behaupten, daß es ungerecht sei, jene zu strafen, die unter Verletzung von Verträgen und Versicherungen ihre Nachbarstaaten ohne Warnung angegriffen haben, ist klarerweise unrichtig, denn unter solchen Umständen muß ja der Angreifer wissen, daß er Unrecht tut, und weit entfernt davon, daß es nicht ungerecht wäre, ihn zu strafen, wäre es vielmehr ungerecht, wenn man seine Freveltaten straffrei ließe. Angesichts der Stellung, die die Angeklagten in der Regierung Deutschlands einnahmen, mußten sie oder zumindest einige von ihnen Kenntnis der von Deutschland unterschriebenen Verträge haben, in denen der Krieg als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten für ungesetzlich erklärt wurde; sie mußten gewußt haben, daß sie allem Völkerrecht zum Trotz handelten, als sie mit vollem Vorbedacht ihre auf Invasion und Angriff gerichteten Absichten ausführten. Schon allein aus dem hier erörterten Fall würde hervorgehen, daß der Rechtssatz auf die vorliegenden Tatbestände keine Anwendung findet"192. War nun aber mit der gerichtlichen Feststellung der Rechtswidrigkeit des deutschen Angriffskrieges bereits eine Verurteilung der deutschen Kriegsführung selbst ausgesprochen? War eine Rechtskonstruktion denkbar, die einen Einfluß der Rechtswidrigkeit des Krieges auf die einzelnen Kriegshandlungen der staatlichen Organe begründete? Der gerechte Krieg der Alliierten zielte ja genau besehen nicht nur auf einen formalen Regelverstoß des Dritten Reiches ab, sondern auf einen Kriegswillen abseits jeglicher Moral und Ethik. Die von Deutschland formulierten Kriegsziele kollidierten schließlich mit den bisher anerkannten Rechtsgrundsätzen, deren Folgen sich besonders deutlich in der Besatzungspolitik zeigen sollten. Entsprechend wies der französische Hauptankläger, Francois de Menthon, im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß in seiner Eröffnungsrede auf die Bedeutung der Einheit des Rechts und der Moral hin und betonte: „Es kann in Zukunft keine Gemeinschaft der Völker 189 Vgl. Jörg Friedrich, Das Gesetz des Krieges. Das deutsche Heer in Rußland 1 9 4 1 - 1 9 4 5 . Der Prozeß gegen das Oberkommando der Wehrmacht, München 1996 (2. Aufl.), S. 711 f. 1 9 0 Vgl. Das Urteil von Nürnberg, S. 21. 191 So z.B. Ahlbrecht, Strafgerichtsbarkeit, S. 84. 192 Das Urteil von Nürnberg, S. 86.

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ohne internationale Moral geben, ohne eine gewisse Gemeinsamkeit der geistigen Zivilisation, ohne eine allgemeine Hierarchie der Werte; das Völkerrecht wird dazu berufen sein, die schwersten Verstöße gegen die allgemein anerkannten Vorschriften der Moral festzustellen und ihre Bestrafung zu sichern" 193 . So sehr man de Menthon in seiner Intention beipflichten mag, so muß doch die Frage erlaubt sein, inwiefern er über das damalige Völkerrecht hinaus auf den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges aufbauend nicht neues Völkerrecht implementierte. Dies kam unzweideutig in seiner Interpretation des Briand-Kellogg-Paktes zum Ausdruck, die mit früheren Auffassungen eindeutig in Widerspruch stand: „Die Haager Konventionen haben jedoch das Prinzip des Krieges als solchen nicht berührt, so daß er außerhalb des Gebietes des Rechtes blieb. (...) Seit 1928 ist das internationale Recht über den Krieg aus seinem überkommenen Rahmen herausgetreten: es hat den Empirismus der Haager Konventionen überholt, (.,.)."194 Die Konsequenzen, die de Menthon aus dieser Prämisse ableitete, bewirkten die Aufhebung der bisherigen Trennung von ius ad bellum und ius in bello: „Die Handlungen, die bei der Führung eines Krieges begangen werden, sind Angriffe auf Personen und Güter, die an sich in allen Gesetzgebungen verboten und mit Strafe bedroht sind. Der Kriegszustand kann sie nur dann erlaubt machen, wenn der Krieg selbst erlaubt war. Da dies seit dem Briand-Kellogg-Pakt nicht mehr der Fall ist, werden solche Handlungen ganz einfach zu Verbrechen des ordentlichen Rechtes. (...) Ein Krieg, der unter Verletzung des Völkerrechts begonnen wird, hat tatsächlich nicht mehr den rechtlichen Charakter eines Krieges. Er ist in Wirklichkeit ein Räuberunternehmen, ein Unternehmen systematischen Verbrechertums" 195 . Da jedoch fast jeder Krieg mit einem Angriff einer Kriegspartei eröffnet wird, so ist beinahe jeder Krieg als ein unerlaubter anzusehen. Nach de Menthons Auffassung würden daher die Haager Abkommen in keinem Krieg mehr Relevanz besitzen. Denkt man darüber hinaus die Auswirkungen seiner Rede zu Ende, so ist jeder Soldat, der in Feindesland Quartier verlangt, wegen Hausfriedensbruch zu bestrafen und, wenn er im Kampf einen Gegner tötet, wegen Mordes zur Rechenschaft zu ziehen 196 . Das Nürnberger Hauptkriegsverbrechertribunal ist daher auch in seinem Urteil de Menthons Ausführungen nicht gefolgt, und behielt die klassische Trennung von ius ad bellum und ius in bello bei. Die Rückkehr des Naturrechts, die sich fast zwangsläufig aus den Kriegszielen und der Kriegsführung des Dritten Reiches ergab, beförderte in der Tat „neue" Rechtsvorstellungen, die sich u.a. in einem von den Westmächten aus dem Briand-KelloggPakt abgeleiteten Interventionsrecht sowie in der strafrechtlichen Haftung für die Verletzung des ius ad bellum niederschlugen. Die berechtigte Einforderung von Sitte und Moral in das Kriegsvölkerrecht ließ zudem Gedanken aufkeimen, die jenseits des bis dahin geltenden Rechtspositivismus die einzelnen Kriegshandlungen im rechtswidrigen Kriege unter die Kategorie der Gerechtigkeit stellten. Vor allem in Fragen der Geiselnahme, der Kollektivmaßnahmen oder der Behandlung von Freischärlern gewann der naturrechtliche Aspekt sowohl in der öffentlichen Diskussion während des

IMT, Bd. V, S. 416. i"4 ebd., S. 435. i"5 IMT, Bd. V, S. 436. 196 Vgl. Mosler, Kriegshandlung, S. 337. 193

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Zweiten Weltkrieges als auch in der wissenschaftlichen Retrospektive an erheblicher Bedeutung. Ebenso lassen sich in der Geschichtswissenschaft bei der Bewertung der deutschen Wehrmacht und ihrer Kriegführung, besonders seit der von Jan Philipp Reemtsma organisierten „Wehrmachtsausstellung", Argumentationslinien finden, die der Rechtsfigur de Menthons sehr ähnlich sind. Die Verschränkung von Maßnahmenund Normenstaat, um mit Ernst Fraenkel zu sprechen197, die nicht nur in den innerstaatlichen Verhältnissen, sondern auch in den „außenstaatlichen" Kriegsakten des Dritten Reiches und seiner Organe unverkennbar zum Vorschein kam, läßt aber eine objektive Beurteilung der einzelnen Befehle der deutschen Wehrmacht in vielen Fällen nachgeradezu unmöglich werden. Können einzelne Kriegshandlungen somit überhaupt aus dem Gesamtkriegsgeschehen herausgenommen und isoliert betrachtet und beurteilt werden? Werden einzelne vordergründig legale Befehle von Armeeoberbefehlshabern und Divisionskommandeuren zu Unrecht auf Grund des rechtswidrigen Kontexts? Auch in der wechselnden Perspektive des Betrachters, einmal der einzelne Kombattant oder Zivilist und ein anderes Mal die gesamte Armee oder gar Wehrmacht, tritt die Problematik und Schwere eines Urteils abermals in den Vordergrund. Die Nürnberger Prinzipien fanden jedoch ebensowenig Eingang in das positive Völkerrecht wie die Lehre vom gerechten Krieg. Der Versuch, der von der UNGeneralversammlung am 21. November 1947 eingerichteten „International Law Commission", die im Londoner Statut vom 8. August 1945 sowie die in Nürnberg ausgesprochenen Rechtsgrundsätze verbindlich zu formulieren, stieß bereits in den Beratungen der Kommission selbst auf erheblichen Widerspruch und wurde auch in der Vollversammlung der UNO weder bestätigt noch anerkannt. Das Vorhaben einer Kodifikation des „Nürnberger Rechts" war damit von Anfang an zum Scheitern verurteilt 198 . Selbstverständlich fanden naturrechtliche Aspekte in anderen internationalen Verträgen Eingang, wie beispielsweise in der Völkermordkonvention vom 12. Januar 1951. Die Theorie des bellum iustum gewann erst mit dem Ende des Kalten Krieges wieder an Bedeutung. Unter dem Begriff der „humanitären Intervention" erhielt das ius ad bellum von neuem naturrechtlichen Gehalt. Dies wurde besonders deutlich in der Frage nach der Berechtigung der NATO im Jahre 1999 militärisch gegen die Bundesrepublik Jugoslawien zum Schutze der Kosovo-Albaner einzugreifen. Da nur die UNO das Monopol der legitimen Anwendung militärischer Gewalt besitzt, stützte sich die NATO in ihrer Rechtfertigung vor allem auf das Naturrecht bzw. auf eine universelle Moral. So plausibel im konkreten Falle die Argumentation der NATO auch gewesen sein mag, sie verdeutlicht einmal mehr, daß zur Vorbeugung gegen Mißbrauch der gerechte Krieg nicht nur der Legitimität bedarf, sondern auch der Legalität und damit der völkerrechtlichen Kodifikation. Die in Folge des Attentats vom 11. September 2001 geführten Kriege in Afghanistan und 197 „Unter ,Maßnahmenstaat' verstehe ich das Herrschaftssystem der unbeschränkten Willkür und Gewalt, das durch keinerlei rechtliche Garantien eingeschränkt ist; unter ,Normenstaat' verstehe ich das Regierungssystem, das mit weitgehenden Herrschaftsbefugnissen zwecks Aufrechterhaltung der Rechtsordnung ausgestattet ist, wie sie in Gesetzen, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakten der Exekutive zum Ausdruck gelangen." Siehe: Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Hamburg 2001 (2. Aufl.), S. 21. Vgl. Ahlbrecht, Strafgerichtsbarkeit, S. 132-135.

2. Grundlagen des Völkerrechts

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Irak warfen erneut die generelle Frage des ius ad bellum in den internationalen Beziehungen auf und ebenso die Frage der politischen und militärischen Macht.

3. Die Rechtslage des Partisanenkrieges Vorüberlegungen Zahllose Studien belegen den Rückfall der deutschen Wehrmacht in nahezu archaische Formen der Kriegführung in Verfolg ihrer Anti-Partisaneneinsätze vor allem in Serbien, der Sowjetunion und in Polen, aber auch in Italien oder gegen Ende des Krieges in Frankreich199. In der historisch-wissenschaftlichen Retrospektive ist dieses Urteil im Gesamtergebnis absolut zutreffend. Allerdings wurden in der Analyse einzelner Ereignisse zur Interpretation und Urteilsbildung äußerst selten die Regeln des Kriegsrechts herangezogen, um stets Gewißheit auch über die rechtliche Dimension der als „Verbrechen" deklarierten Kampfmaßnahmen zu erhalten. Daher wurden nur in geringen Maße die vorhandenen Informationen über die deutsche Praxis der Partisanenbekämpfung, die sich zumeist aus den Kriegstagebüchern der jeweiligen Armeen und Divisionen speisen, dahingehend überprüft, ob sich aus ihnen die gesicherte Erkenntnis eines verübten Kriegsverbrechens gewinnen läßt. Denn neben zahlreichen unbezweifelbaren Belegen für völkerrechtswidrige Aktionen fehlen demgegenüber oftmals in anderen Fällen detaillierte und exakte Wiedergaben komplexer Handlungsabläufe, so daß über den genauen „Tathergang" oftmals nur Spekulationen vorgenommen werden können. Häufig läßt sich allein aus dem krassen Mißverhältnis der in den Akten angegebenen deutschen und „gegnerischen" Verlustzahlen auf die berechtigte Annahme eines Kriegsverbrechens schließen, wobei die Frage der Zuverlässigkeit des überlieferten Zahlenmaterials ein weiteres Problem bereitet und ein abschließendes Urteil erschwert. Zudem muß die Möglichkeit miteinbezogen werden, daß in den Dokumenten von Kämpfen berichtet wird, die niemals stattgefunden haben 200 . m Siehe dazu u.a.: Hannes Heer, Die Logik des Vernichtungskrieges. Wehrmacht und Partisanenkampf, in: ders., Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Hamburg 1995, S. 104-137; Truman Anderson, Die 62. Infanterie-Division. Repressalien im Heeresgebiet Süd Oktober bis Dezember 1941, in: ebd., S. 297-314; Ruth Bettina Bim, Zweierlei Wirklichkeit? Fallbeispiele zur Partisanenbekämpfung im Osten, in: Bernd Wegner (Hrsg.), Zwei Wege nach Moskau. Vom Hider-Stalin-Pakt zum Unternehmen Barbarossa, München 1991, S. 275—290; Theo J. Schulte, Die Wehrmacht und die nationalsozialistische Besatzungspolitik in der Sowjetunion, in: Roland G. Foerster (Hrsg.), Zum historischen Ort der deutsch-sowjetischen Beziehungen von 1933 bis Herbst 1941, München 1993, S. 163— 176; Walter Manoschek, Partisanenkrieg und Genozid. Die Wehrmacht in Serbien 1941, in: ders. (Hrsg.), Die Wehrmacht im Rassenkrieg. Der Vernichtungskrieg hinter der Front, Wien 1996, S. 142-167; Gerhard Schreiber, Deutsche Kriegsverbrechen in Italien. Täter, Opfer, Strafverfolgung, München 1996; Ahlrich Meyer, Die deutsche Besatzung in Frankreich 19401944. Widerstandsbekämpfung und Judenverfolgung, Darmstadt 2000. 200 Vgl. Lutz Klinkhammer, Der Partisanenkrieg der Wehrmacht 1941-1944, in: Rolf-Dieter Müller, Hans-Erich Volkmann, Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 819, und S. 826.

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Wie bereits dargelegt steht die juristische Bewertung deutscher Kampfanweisungen vor der schwierigen Frage, ob auch der Kontext einer rechtswidrigen wie inhumanen Besatzungspolitik berücksichtigt werden muß. Die Beachtung beider Perzeptionsebenen erfährt zusätzlich eine Erschwernis dadurch, daß die Überlagerung von militärischen und ideologischen Feindbildern und Kriegszielen zunehmend zu Kriegsakten führte, die in Analogie zu Ernst Fraenkels Verfassungsmodell des Maßnahmen- und Normenstaates zu begreifen sind. So gab schon im Dezember 1945 der General der Panzertruppe, Hans Röttiger, vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal die eidesstattliche Erklärung ab, „daß mit der Anordnung zur schärfsten Durchführung des Bandenkampfes von höchster Stelle möglicherweise im Endziel der Zweck verfolgt wurde, den militärischen Bandenkampf des Heeres auch dazu auszunutzen, die rücksichtslose Liquidierung des Judentums und anderer unerwünschter Elemente zu ermöglichen." 201 Konnte der einzelne Soldat aber in jeder Situation zwischen ideologischer Maßnahme und traditioneller Kriegsakte unterscheiden? War ihm bewußt, daß zahlreiche Anti-Partisanenaktionen der Wehrmacht Teil des Holocausts waren? Der ehemalige Kriegsteilnehmer und Historiker Hans-Adolf Jacobsen schrieb hierzu: „Wenn ich auf der einen Seite sage, wir können die These vertreten, daß nur bestimmte Teile des Heeres, der Luftwaffe und der Marine direkt oder indirekt an den Vernichtungsaktionen beteiligt waren, ob nun politisiert oder ob als Konsequenz dieses barbarischen Kampfes, so ist nicht immer klar zu unterscheiden gewesen, was davon die Konsequenz des Partisanenkrieges war oder Ausfluß des ideologischen Programms." 202 Die Feststellung der Verflechtung von Ideologie und Norm in zahlreichen Operationen der deutschen Streitkräfte lenkt schließlich den Blick auf die Frage, wie die rechtliche Beurteilung des Partisanenkrieges in der deutschen Völkerrechtslehre und im Militär überhaupt aussah. Auch wurde zur Erklärung der deutschen Maßnahmen nur von wenigen Autoren die Frage nach der Kontinuität deutscher Rechtsstandpunkte gestellt203. Denn nicht selten fühlten sich die deutschen Soldaten bei der Ergreifung von Anti-Partisanenmaßnahmen „im Recht". So könnte eine Antwort hierauf entscheidende Aufschlüsse darüber geben, ob nicht gerade die traditionelle Auffassung des Partisanenkrieges ein mögliches Einfallstor für die nationalsozialistische Vernichtungsideologie bildete. In diesem Zusammenhang muß auch nach der Kontinuität von militärischen Begriffen bzw. ihrer Übernahme in die nationalsozialistische Terminologie 204 gefragt werden und damit verbunden nach dem philologischen Problem der Konnotation.

IMT, Bd. XXXII, S. 478f. Thiele (Hrsg.), Die Wehrmachtausstellung. Dokumentation einer Kontroverse, Bremen 1997, S. 26. Hans-Adolf Jacobsen, Die Rolle der Wehrmacht im Dritten Reich (1933-1945), in: Hans-Günther 203 Anhand der Rechtsinsütution der militärischen Notwendigkeit versuchte Manfred Messerschmidt beispielsweise eine Kontinuität im Denken deutscher Militärs und Völkerrechder seit der Zeit des Kaiserrechs bis zum Zweiten Weltkrieg nachzuweisen. Siehe: ders., Kriegsnotwendigkeit, S. 237-269. 204 Vgl Michael Geyer, Krieg, Staat und Nationalismus in Deutschland des 20. Jahrhunderts, in: Jost Dülffer, Bernd Martin, Günter Wöllstein (Hrsg.), Deutschland in Europa. Kontinuität und Bruch. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber, Frankfurt a.M., Berlin 1990, S. 259f. 201

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Der Partisanenkrieg, dem sich die deutschen Truppen vor allem auf dem Balkan und in der Sowjetunion ausgesetzt sahen, gehörte spätestens seit den Befreiungskriegen gegen Napoleon zu einem längst bekannten Bild denkbarer Kriegsszenarien. Seiner Strategie und Taktik nach war der Partisanenkampf dem „Kleinkrieg" zuzurechnen, der sich meist durch kleine und mobile Einheiten auszeichnet, die im Hinterland einer Armee operieren, um deren Lebensadern wie Depots, Verkehrsnetze und Brücken zu zerstören, um blitzartig aus dem Hinterhalt Nachschubeinheiten zu attackieren oder kleinere Gefechte mit Nachhuten oder rückwärtigen Heeresbesatzungen zu führen. Das Ziel des Kleinkrieges ist es primär, die bewaffnete Macht des Gegners zu schwächen, ihren Vormarsch abzubremsen und Verwirrung unter seinen Soldaten zu stiften, nicht aber eine Schlacht auf offenem Felde zu suchen. Der Kleinkrieg, der sowohl von legalen wie illegalen Verbänden ausgetragen werden kann, ist je nach geographischer und klimatischer Lage des betreffenden Landes häufig nur im Zusammenwirken mit regulären Heereskontingenten sinnvoll und erfolgsversprechend. Der Kleinkrieg entspringt unterschiedlichster Motivationen. So können nach verlorener Schlacht Reste einer geschlagenen Armee gewillt sein, den Krieg auf diese Weise fortzusetzen, ebenso wie die Zivilbevölkerung eines besetzten Gebietes, sei es aus Patriotismus oder aus Erbitterung gegen Besatzungswillkür, zu diesem Mittel als äußerste Form des Widerstandes greifen kann. Auch in vielen Kriegen in Afrika oder Asien war der Kleinkrieg vielfach Instrument des „armen Mannes". Man denke hierbei an den Burenkrieg oder den Krieg der Amerikaner auf den Philippinen im Jahre 1900. Nicht selten war der Kleinkrieg Ausdruck eines wachsenden Nationalbewußtseins und eines beginnenden Demokratisierungsprozesses, der gleichzeitig das Kriegsmonopol der Staaten in Frage stellte. Dies galt insbesondere in Europa, wie die „Freischaren" Garibaldis in Italien, die Widerstandsakte der „Franctireurs" gegen die Deutschen 1870/71 oder die unnachgiebigen Angriffe serbischer Freischärler gegen die österreichische Besatzung während des Ersten Weltkrieges zeigen sollten 205 . Waren daher die Operationen der Partisanen auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen des Zweiten Weltkrieges tatsächlich für die deutschen Soldaten „etwas völlig Neues", wie Franz W Seidler schreibt? 2 0 6 Zu Beginn des Krieges mochte dies für die Mannschaften noch zutreffend sein, doch galt dies gewiß nicht für die Generalität. So ist die mögliche „Hilflosigkeit" der Soldaten gegenüber diesem „neuartigen Phänomen" in erster Linie wohl auf Versäumnisse in der Ausbildung zurückzuführen, wenn nicht gar auf berechnendes Kalkül und Selbstüberschätzung. Denn schon im Jahre 1881 machte Oberstleutnant von Boguslawski in einem Vortrag auf den Kleinkrieg als einer möglichen Form der Kriegführung aufmerksam und warnte seine Zuhörer einhellig davor, auch nicht „eine Seite des Krieges" ungestraft zu vernachlässigen. „Diejenige Armee, welche es sich zum Grundsatze macht, auf den kleinen Krieg zu verzichten oder aus Gleichgültigkeit den Begriff derselben verlfiert], wird einer anderen darin geübten und erfahrenen gegenüber bald zu bemerken haben, wie

Vgl. Arthur Ehrhardt, Kleinkrieg, Potsdam 1935, S. 4 3 - 6 3 , und S. 7 0 - 7 7 ; Schmid, Die völkerrechtliche Stellung, S. 24—31; Meurer, Kriegsrecht, S. 5 6 - 8 3 . 21)6 Vgl Franz W. Seidler, Soldaten im Partisanenkrieg. Völkerrechtliche und militärische Überlegungen zur Rolle der Wehrmacht, http://wwu'.konservativ.de/wma/seidler.htm. S. 2; (25. 10. 2000). 205

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sehr sie in Nachteil gesetzt, und in ihren Bewegungen gehemmt [ist]." 207 Sicherlich dachte von Boguslawski nicht ausschließlich an Partisanen, sondern auch an reguläre Kampfeinheiten, die hinter der Front operieren. So unternahmen beispielsweise im Ersten Weltkrieg russische „Jagdkommandos" des zaristischen Heeres, die im Schutze der Nacht durch die deutschen Stellungen sickerten, Aktionen gegen Versorgungseinrichtungen und Feldkommandanturen des kaiserlichen Heeres und brachten den deutschen Streitkräften oftmals hohe Verluste bei 208 . Bei diesen Operationen wurde indes ein weiteres Kriterium des Kleinkrieges sichtbar: O h n e Mithilfe der Zivilbevölkerung im besetzten Gebiet waren derartige Unternehmungen kaum denkbar. Ein stures Festhalten an starren Frontlinien und offenen Feldschlachten in Kriegskonzeptionen und Angriffsplänen und damit auch in der Ausbildung der Truppen war seit dem 19. Jahrhundert nichts weiter als ein Ausdruck von Ignoranz und Verantwortungslosigkeit. Auch in Deutschland gab man sich gegenüber den verschiedenen Varianten des Kleinkrieges keinen Illusionen hin, wie nicht nur die Ausführungen von Boguslawski belegen, sondern auch in unzähligen Abhandlungen von Völkerrechtlern ersichtlich wird. So stellten denn deutsche Militärs in den zwanziger Jahren ebenfalls Überlegungen an, im Kriegsfalle auf die Formen des Kleinkrieges zurückzugreifen. Angesichts der sehr geringen Truppenstärke der Reichswehr forderte in einem Geheimvortrag am 31. März 1925 vor ausgewählten Offizieren Hauptmann Behschnitt im Falle eines Angriffskrieges durch Frankreich die konsequente Einbeziehung der deutschen Zivilbevölkerung in den Abwehrkampf der wenigen verbliebenen Divisionen: „Die Grenzbevölkerung wird zu den Waffen gerufen und verteidigt in den im Frieden vorbereiteten Grenzabschnitten unter Führung ehemaliger Offiziere das Grenzgebiet an der Grenze und dann in der Tiefenzone. Eine Bewaffnung mit Gewehren und Maschinengewehren vielleicht wenigen Kanonen — muß ausreichen. Nur wenn der trotzige Freiheitswille in der Bevölkerung vorhanden ist, werden Mittel und Wege gefunden werden, die den Feind wirksam aufhalten und schädigen. (...) E r (der Kampf; Anm. d. Verf.) wird frontal und beweglich geführt unter voller Ausnutzung des Geländes wie Abschnitte von Wäldern, von Gebirgen, z.B. der Schwarzwald. (...) Aber nicht allein im Grenzund Bahnschutz, sondern auch im Volkskrieg als Begriff für den Kleinkrieg im Rücken des Feindes muß die Zivilbevölkerung eintreten." 209 Notgedrungen waren solche „Gedankenspiele" deutscher Offiziere Resultat der militärischen Schwäche der Weimarer Republik auf Grund des Versailler Friedensvertrages. D o c h sie zeigen auch, daß deutschen Militärs allein durch die Erfahrungen des deutsch-französischen Krieges 1870/71 sowie des Ersten Weltkrieges sowohl die Konzeption des Kleinkrieges als auch die damit verbundene Inanspruchnahme der Zivilbevölkerung keineswegs unbekannt waren. Das einhergehende Risiko war das Abgleiten in eine völkerrechtswidrige Kriegführung. E s war folglich kaum verwunderlich, daß bereits auf der ersten Haager Friedenskonferenz im Jahre 1899 der Partisanenkrieg eine der am schärfsten geführten Debatten auslöste.

Zitiert aus: Ehrhardt, Kleinkrieg, S. 9. 208 Vgl. ebd., S. 86-90. 205 BA-MA, RH 2/417, Bl. 21 f.

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Oer rechtliche Status des Kombattanten In Teilen erhielt der Partisanenkrieg seine positiv-rechtliche Ausgestaltung durch die Delegierten der II. Kommission 210 der Haager Friedenskonferenz, die unter dem Vorsitz des kaiserlich-russischen Staatsrats Professor Friedrich von Martens stand. Niedergelegt in den Artikeln 1 und 2 der Haager Landkriegsordnung stellte dieses Ergebnis eher einen Kompromiß mit Widerwillen dar als eine von allen staatlichen Vertretern einhellig begrüßte juristische Lösung. Nahezu unstrittig blieb in den Beratungen der II. Kommission Art. 1 HLKO. Dieser legte die Mindestanforderungen für einen legalen irregulären Kriegsteilnehmer fest und bestätigte damit die bislang durch das Gewohnheitsrecht vollzogene Trennung von „aktivem" und „passivem" Kriegsstand. Danach gelten die Gesetze, die Rechte und die Pflichten des Krieges nicht nur für das Heer, sondern auch für Milizen und Freiwilligen-Korps, wenn sie folgende Regeln strikt einhalten: „1. Daß jemand an der Spitze steht, der für seine Untergebenen verantwortlich ist, 2. daß sie ein bestimmtes aus der Ferne erkennbares Abzeichen tragen, 3. daß sie die Waffen offen führen und 4. daß sie bei ihren Unternehmungen die Gesetze und Gebräuche des Krieges beobachten." 211 Grundsätzlich können nur organisierte Truppen als ordentliche Kriegführende anerkannt werden. Die Aushebung einer Miliz oder eines Freiwilligen-Verbandes bedarf keiner staatlichen Autorisation. Sie können unabhängig vom stehenden Heer aufgebaut werden. Ausschlaggebend ist lediglich das Organisationsprinzip, das sich zunächst formal u.a. darin ausdrückt, daß jemand an der Spitze dieser Verbände steht. Ein solcher „Führer" kann ein Bürgermeister, ein Beamter oder ein alter Soldat etc. sein212. Nach der damaligen Rechtsauffassung stand er seinem Staat gegenüber in der Verantwortung, wodurch dieser die Möglichkeit der Einwirkung auf dessen militärische Entscheidungen erhielt. Dieses Unterstellungsverhältnis ergab sich aus der facultas bellandi, die ursprünglich allein dem Staate zufiel. Die Notwendigkeit der Verantwortung des Führers wie auch des Staates gegenüber den Freiwilligen-Kontingenten resultierte des weiteren aus Art. 3 des IV. Haager Abkommens vom 18. Oktober 1907, der im Falle von Kriegsrechtsverletzungen den Staat zum Scha-

Die Arbeit der Delegierten auf der Haager Friedenskonferenz verteilte sich auf drei K o m missionen: In der ersten Kommission wurden Angelegenheiten der Marine sowie militärischtechnische Fragen behandelt. Die zweite Kommission bearbeitete das gesamte Landkriegsrecht und die Genfer Konvention für den See-Krieg. Die dritte wurde mit der Frage der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit betraut. An der Spitze der deutschen Gesandtschaft stand der Botschafter in Paris, G r a f Münster; für die Fragen des Landheeres wurde ihm Oberst G r o ß von Schwarzhoff, Militärattache in Paris, vom Auswärtigen Amt zugewiesen. Für die Marine kam Kapitän zur See, Siegel. Um eine kompetente Bewältigung der anstehenden völkerrechtlichen Aufgaben gewährleisten zu können, wurden G r a f Münster zwei deutsche Professoren des öffentlichen Rechts zur Seite gestellt: Freiherr von Stengel aus München und Philipp Zorn aus Königsberg. Siehe: Philipp Zorn, Deutschland und die beiden Haager Konferenzen, Stuttgart, Berlin 1920, S. 1 6 - 1 9 . 2 " R G B l . 1910, S. 133. 2 1 2 Vgl. Meurer, Kriegsrecht, S. 97. 210

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densersatz verpflichtet 213 . Aus diesen Gründen ist auch der Rechtsstatus von Exilregierungen und deren „Truppenverbänden" bedeutsam, da letztere, wie z.B. im Zweiten Weltkrieg, auch in besetzten Gebieten zum Einsatz kamen. Das Gebot der Kennzeichnungspflicht resultiert daher u.a. aus der Haftung des Staates, da sie die Zugehörigkeit des einzelnen Kriegsteilnehmers zu der verantwortlichen Kriegspartei anzeigt. Für den Kriegsteilnehmer selbst bleibt freilich die Kennzeichnung ein wesentliches Kriterium, um zwischen Kombattanten und unbeteiligten Zivilisten unterscheiden zu können. Der französische Völkerrechder Bonfils beispielsweise begründete die Kennzeichnungspflicht genau in diesem Sinne: „Der Feind muß sicher sein können, daß er einen Soldaten vor sich hat, er muß wissen, wen er als Feind behandeln darf und wer berechtigt ist, ihn als solchen zu behandeln. — Der Krieg soll ein ehrlicher K a m p f sein. — Die Streitenden müssen als solche kenntlich sein." 214 Der Partisan, will er als legaler Kämpfer gelten, muß somit ein Abzeichen an seiner Zivilkleidung anbringen. Die ihn vom passiven Kriegsstand unterscheidenden Kennzeichen müssen zudem ständig getragen werden: „Es geht nicht an, daß ein Freischärler sich durch das Tragen der Binde vor dem Kriegsgericht und das Herunterreißen derselben vor der Kriegsgefangenschaft schützt." 215 Eine genaue Bestimmung über Beschaffenheit und Qualität der Kennzeichnung fehlt in der Haager Landkriegsordnung. Zur Kenntlichmachung des Kombattantenstatus kann daher ein an Hemd oder Jacke aufgenähtes Abzeichen, eine Armbinde oder gar eine entsprechende Kopfbedeckung ausreichend sein. Darüber hinaus muß die aus dem Gewohnheitsrecht stammende Regel beachtet werden, daß die Kennzeichnung

Vgl. Hans Kaegi, Die Kriegführenden im Landkrieg, Basel 1909 (Diss.), S. 31. Seit den vier Genfer Konventionen von 1949 bedarf es dieser rechtlichen Bindung der FreiwilligenVerbände an den Staat nicht mehr. Der Praxis des Zweiten Weltkrieges aber auch dem bis dahin ungelösten Problem des Bürgerkrieges Rechnung tragend spricht man heute anstelle des Staates von der Bindung oder Zugehörigkeit zu einer „Konfliktspartei", die eben nicht mehr ein anerkanntes Staatswesen zu sein braucht. Vgl. dazu u.a. Art. 4 des III. Genfer Abkommens vom 12. August 1949 über die Behandlung von Kriegsgefangenen, in: BGBl. II. 1954, S. 839f. Allerdings muß die Zugehörigkeit eines Freiwilligen-Korps zu dieser Konfliktspartei erkennbar sein. Ein Privatkrieg „auf eigene Faust" ist nach wie vor rechtlich ausgeschlossen. In diesem Zusammenhang ist die Feststellung interessant, daß die Haager Landkriegsordnung häufig den Begriff „Staat" vermieden hatte und beispielsweise in Art. 3, der die Zusammensetzung der bewaffneten Macht aus Kombattanten und Nichtkombattanten fesdegte, von „Kriegsparteien" und nicht von Staaten sprach. Vgl. RGBl. 1910, S. 133. Nach dem damaligen Stand des Gewohnheitsrechts war mit dem Begriff „Kriegspartei" letztlich wohl eine staatliche Autorität intendiert, doch bleibt zu bemerken, daß einzelne Autoren schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg den Begriff „Konfliktspartei" oder „Kriegspartei" verwendet hatten. Ob dies auf unterschiedliche Perspektiven, also auf einen soziologischen, militärischen oder juristischen Standpunkt des Schriftstellers, zurückzuführen ist, kann nicht geklärt werden. Doch belegten bereits die Ausführungen Anzilotus, daß die Lehre vom Staat als Subjekt des Völkerrechts in der Praxis oftmals durchbrochen worden war. Hatten die Delegierten der Haager Konferenz dieses Problem miteinkalkuliert? Zumindest muß gesagt werden, daß die Auffassung vom Krieg als ein Rechtsverhältnis zwischen Staaten in der Realität zu Beginn des 20. Jahrhunderts allmählich ins Wanken geriet. Ob aber eine Konfliktspartei die Auflagen der Haftung für völkerrechtswidrige Handlungen gewährleisten kann, bleibt äußerst fragwürdig. 214 Zitiert aus: Meurer, Kriegsrecht, S. 99. 215 Ebd., S. 100. 213

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oder sogar Uniformierung innerhalb eines einzelnen Verbandes einheitlich durchgeführt wird 216 . Vordergründig besehen läßt sich gegen die zweite Organisationsbestimmung nichts einwenden. Die Unbestimmtheit der Kennzeichnungsart in Art. 1 H L K O muß schließlich auch als Tribut an die Praktikabilität in Kriegszeiten gewertet werden. Jedoch entging es vielen Zeitgenossen nicht, daß die zweite Bedingung des Art. 1 technische Schwierigkeiten bereitete, deren Konsequenzen für die Kriegführung nicht unerheblich sind. Denn über die Auslegung des Gebots „ein aus der Ferne erkennbares Abzeichen" läßt sich streiten. Ursprünglich war hierbei an eine Erkennbarkeit „auf Schußweite" gedacht. D o c h angesichts der schon damals großen Reichweiten von Geschossen konnte einem solchen Erfordernis nicht immer Genüge getan werden, wollte man nicht „Harlekinstrachten" vorschreiben 2 1 7 . Auch die dritte Bestimmung, „die Waffen offen zu führen", ist nicht frei von Ungereimtheiten. Für Christian Meurer war sie eine reine Selbstverständlichkeit, so daß er sich hierzu jeglichen Kommentars enthielt 218 . Eine genaue Betrachtung des Sachverhalts läßt aber auch hier Zweifel über die Durchführbarkeit dieser Forderung aufkommen. Vermutlich hatten die Delegierten der II. Kommission bei der Abfassung der genannten Vorschrift Art. 23b H L K O vor Augen, der „die meuchlerische Tötung oder Verwundung von Angehörigen des feindlichen Volkes oder Heeres" untersagt 219 . D o c h diese zweifelsohne begrüßenswerte Fesdegung tangiert nun ihrerseits Art. 2 4 H L K O , der „Kriegslisten" im Rahmen des Völkerrechts erlaubt 220 . Denn Art. 1 H L K O hatte ausdrücklich verfügt, daß Freiwilligen-Korps und Milizen dieselben Rechte und Pflichten besitzen, wie die regulären Streitkräfte. Somit muß auch Art. 24 für die Freiwilligen-Korps gelten. Gerade für diese Verbände, deren Strategie und Taktik sich meist im Rahmen des Kleinkrieges bewegen, ist daher die Handhabung bzw. die Interpretation dieses juristischen Problems durch die feindlichen Streitkräfte von zentraler Bedeutung: Wo verläuft die Grenze zwischen meuchlerischer Tötung und erlaubtem Angriff aus dem Hinterhalt? Wann sind die Waffen offen zu tragen? Auch vor oder nach dem eigentlichen K a m p f ? D e n Gegner darüber im Unklaren zu lassen, auf welche und wieviele Waffengattungen er stößt, gehört schließlich zu den allgemeinsten Kriegslisten 221 . Das gesamte Völkerrecht bewegt sich auf der Achse der Reziprozität. Will man daher eine unnötige Brutalisierung der Kriegsformen vermeiden, ist die Kenntnis und die Einhaltung des Kriegsrechts in allen militärischen Operationen eine unabdingbare Voraussetzung. So liegen die Schwierigkeiten der vierten Bedingung des Art. 1 H L K O nicht so sehr auf juristischer, sondern vielmehr auf empirischer Ebene. Denn sowohl aus psychologischen Gründen als auch aus Unkenntnis des Kriegsrechts ist die Zivilbevölkerung wohl nur selten in der Lage diese Regel zu erfüllen. Nicht ganz zu Unrecht bemerkte Markus Hauser zu dieser Problematik, daß durch diese Bestimmung von den Bürgern Kenntnisse verlangt werden, „die man regelmäVgl. Markus Hauser, Der Kampf Irregulärer im Kriegsrecht. Art. 1 und 2 der Landkriegsordnung 1907, Bad Ragaz 1937 piss.), S. 35f. 217 Vgl. Kaegi, Die Kriegführenden, S. 34. 218 Vgl. Meurer, Kriegsrecht, S. 100. Vgl. RGBl. 1910, S. 141. 22(1 Vgl. ebd., S. 142. 221 Vgl. Hauser, Der Kampf Irregulärer, S. 36ff. 216

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ßig nicht einmal den regulären Truppen beibringt. Das macht Übertretungen verständlich, ist aber natürlich kein Strafausschließungsgrund."222 Aus dem bisher Gesagten wäre somit die Folgerung zu ziehen, daß die freiwilligen Kräfte schon im voraus in Friedenszeiten organisiert werden sollten, um eine möglichst einwandfreie Befolgung des Kriegsrechts gewährleisten zu können223. Solche Vorkehrungen legen auch die in Art. 1 HLKO verwendeten Begriffe „Milizen" und „Freiwilligen-Korps" nahe. Denn offenbar orientierten sich die Delegierten der II. Kommission bei der Abfassung dieser Vorschrift an den europäischen Landsturmverordnungen, wie etwa das deutsche Reichsgesetz über den Landsturm vom 12. Februar 1875 bzw. vom 11. Februar 1888 oder die Schweizer „Verordnung über Organisation, Ausrüstung, Aufgebot, Kontrollführung und Verwendung des Landsturms" vom 5. Dezember 1877. Im Kriegsfalle kann zudem die frühzeitige Bekanntgabe einer Mobilisierung von Milizen zur Verminderung von Mißverständnissen und Unsicherheiten in der feindlichen Truppe beitragen. Erforderlich sind diese beiden Maßnahmen jedoch nicht224. Der Partisanenkrieg ist eine legale Form der Kriegführung, sofern er im Einklang mit den Regeln des Kriegsrechts steht225. Er kann nicht von vornherein als völkerrechtswidrig bezeichnet werden, wie beispielsweise Franz Seidler unterstellt226. Im allgemeinen umfaßt der Begriff „Partisan" alle Gruppen von Kombattanten und Zivilpersonen, die in einem Kriege Kriegsakte setzen, ohne einer regulären Armee anzugehören. Als Partisanen sind sowohl jene „Kämpfer" zu begreifen, die als Angehörige von Freiwilligen-Korps bzw. Milizen oder organisierten Widerstandsbewegungen Anspruch auf den Schutz des Kriegsrechts besitzen, als auch jene, die, sei es in Gruppen oder als einzelne Privatpersonen, abseits des Völkerrechts am Kampfgeschehen teilnehmen und somit als „Illegale" bzw. als Zivilpersonen zu behandeln sind227. Einen neutralen bzw. positiven Begriff für irreguläre Kriegsteilnehmer gibt es nicht. Der österreichische Jurist Franz Scheidl sprach daher von „zivilen Kombattanten"228, doch setzte sich dieser Begriff in der Literatur nicht durch. Im folgenden soll deshalb der „Partisan" als der legale irreguläre Kriegsteilnehmer verstanden werden, gegenüber dem „Freischärler", der als illegaler Kämpfer anzusehen ist.

Hauser, Der Kampf Irregulärer, S. 39. Diese Einsicht gewann der niederländische Vertreter Beer Poortugael in den Sitzungen der ersten Haager Friedenskonferenz; vgl. Meurer, Kriegsrecht, S. 99. 224 Vgl. Kaegi, Die Kriegführenden, S. 35. 2 2 5 Karl Strupp schrieb hierzu: „Wenn Martitz (...) Guerillas als Verbrecher und nicht als Kriegsfeinde ansehen will, so ist dem entgegenzuhalten, daß der Guerillakrieg nur eine besonders grausame Form der Kriegführung darstellt, daß er aber rechtlich die Teilnehmer ihrer Stellung als Kriegführende nicht entkleidet, sofern alle sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind." Siehe: ders., Landkriegsrecht, S. 41. 226 Wörtlich führte er aus: „Der Partisanenkrieg ging nicht von Deutschland aus. Er war eine völkerrechtswidrige Maßnahme, die Stalin bereits eine Woche nach Kriegsbeginn auslöste. Die Wehrmacht war darauf nicht vorbereitet." Siehe: Seidler, Soldaten, S. 1. Ob der sowjetische Partisanenkrieg völkerrechtswidrig war, gilt es erst in jedem einzelnen Falle zu prüfen. 227 Vgl. Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen (Hrsg.), Geisel- und Partisanentötungen, S. 87. 228 Ygi Franz Scheidl, Die Kriegsgefangenschaft. Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Eine völkerrechtliche Monographie, Berlin 1943, S. 185f. 222 223

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Die Haager Landkriegsordnung unterscheidet zwischen regulären und irregulären Streitkräften. Die Angehörigen beider Truppengattungen gehören dem aktiven Kriegsstand an und besitzen als Kombattanten dieselben Rechte und Pflichten internationaler Kriegsnormen. Allerdings verzichteten die Haager Konferenzen darauf, den Begriff des Heeres oder der Armee inhaltlich zu bestimmen. Dies war u.a. darauf zurückzuführen, daß die europäischen Heere sich zu einheitlichen Institutionen entwickelt hatten, deren konkrete Ordnung durch die allgemeine Praxis längst festgelegt war. Die Bedingungen für eine legale Teilnahme irregulärer Verbände an Kampfhandlungen wurde den Erfahrungen vorangegangener Kriege folgend international geregelt, während die Aushebung und Organisation regulärer Truppen dem Staat und damit dem jeweiligen Landesrecht vorbehalten blieb 229 . Somit konnte der von Hans Kaegi ausgegebene Grundsatz „Wer vom Staate zur Kriegführung aufgeboten wird, ist Angehöriger des aktiven Kriegsstandes" 230 seit der ersten Haager Konferenz sich nur mehr auf Angehörige des Heeres beziehen. Denn die Partisanengruppen stehen dem Staat gegenüber zwar in der Verantwortung, ihre Mobilisierung bedarf aber nicht mehr der staatlichen Autorisation. Der Lehre vom Staat als Subjekt des Völkerrechts war damit genau besehen nur noch in Teilen Rechnung getragen worden. Nur der Vollzug der vier völkerrechtlichen Bedingungen in Art. 1 H L K O für die Kampfteilnahme irregulärer Streitkräfte verleiht den Kombattantenstatus: "Nichtsdestoweniger bleibt es wahr, daß die Kriegführung auf eigene Verantwortung, wenn selbst eine vollständig militärische Organisation vorliegt, nicht die Rechte einer Kriegspartei gibt, sondern staats- und völkerrechtliche Verantwortlichkeit begründet." 231 Für die regulären Truppen hingegen besitzen die vier Legalbedingungen lediglich deklaratorischen und nicht konstitutiven Charakter. Denn beim Heer oder bei einer Armee handelt es sich stets um Verbände, die von einem souveränen Staat und damit vom Subjekt des Völkerrechts im Rahmen einer nationalen Wehrverfassung aufgestellt werden. Selbstverständlich tragen die regulären Kombattanten ebenfalls die Verpflichtung, die Gesetze des Krieges zu achten, wie sie sich aus dem Gewohnheitsrecht, dem Vertragsrecht und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben. 2 3 2 Diese Maßgabe erwächst für das Heer allerdings nicht aus Art. 1 HLKO, sondern aus Art. 1 des IV. Haager Abkommens vom 18. Oktober 1907, worin die Vertragsstaaten angewiesen wurden, ihren Streitkräften „Verhaltungsmaßregeln" zu geben, welche dem Kriegsrecht entsprechen 233 . Die damit verbundene Problematik der Rechtsverbindlichkeit internationaler Verträge auf Grund der bis in den Zweiten Weltkrieg hinein vorherrschenden Rechtskonstruktion vom Primat des Staatsrechts wurde im obigen Kapitel bereits angesprochen. Unausgesprochen setzt Art. 1 des IV. Haager Abkommens notwendig ein Mindestmaß von „Ordnungselementen" innerhalb einer regulären bewaffneten Einheit voraus, wodurch diese überhaupt erst als Heer oder Armee identifiziert werden kann. Zu den notwendigen Ordnungselementen gehören eine sichtbare Kommandohierar229 Yg] K a r i E n t r e s , Die völkerrechtlichen Grundsätze der Kriegführung zu Lande und zur See, Berlin 1909, S. 14. Kaegi, Die Kriegführenden, S. 29. Meurer, Kriegsrecht, S. 55. 232 Vgl Armin A. Steinkamm, Die Streitkräfte im Kriegsvölkerrecht, Würzburg 1967, S. 105 und S. 173. 2 3 3 Vgl. RGBl. 1910, S. 124. 230 231

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chie und eine auf Befehl und Gehorsam beruhende Disziplin: „Kommandohierarchie und Disziplin bedingen einander. Wo beides gegeben ist, kann der Staat Verhaltensmaßregeln geben; wo sie fehlen, fallen Belehrungsversuche kaum auf fruchtbaren Boden." 234 Gleichgültig ob die Haager Landkriegsordnung als Befehl, als transformiertes nationales Recht oder gar als überstaatliche Macht begriffen wird - ihre Mißachtung muß Strafsanktionen nach sich ziehen. Mit der Befugnis, eine Waffe gegen Armeen eines anderen Staates zu führen, korrespondiert somit eine wehrstrafrechtliche Verantwortlichkeit 235 . Aus diesen Gründen besitzt für Armin Steinkamm die erste Bedingung des Art. 1 HLKO ebenfalls das Ordnungselement der Disziplin und der Manneszucht. Gerade die Freiwilligen-Korps oder Partisanengruppen müssen auf dem Prinzip von Befehl und Gehorsam aufgebaut sein, um die für sie konstitutiven Bedingungen überhaupt erfüllen zu können. Ohne die effektive Befehlsgewalt des Führers eines FreiwilligenVerbandes ist schließlich die kriegsrechtmäßige Kampfführung nicht zu kontrollieren und auch nicht zu erreichen 236 . Denn für die Irregulären können Verletzungen des Völkerrechts bzw. der vier Legalbedingungen den Verlust des Kombattantenstatus zur Folge haben 237 , im Gegensatz zum regulären Soldaten, der zunächst von der Rechtmäßigkeit des gegeben Befehls ausgehen darf und im Falle einer rechtswidrigen Kampfführung sich vor einem Militärgericht, sei es der eigenen oder der feindlichen Truppen, zu verantworten hat. Einen Verlust seines Kombattantenstatus erfahrt der reguläre Soldat hierdurch nicht. Der Unterschied zwischen regulären und irregulären Kombattanten ist in erster Linie darin zu sehen, daß ersterer gemäß der Wehr Verfassung seines Landes in eine bereits im Frieden zumindest in ihrer Grundstruktur nach bestehende militärische Institution eingezogen wird, während letzterer meist einem erst im Kriege ad hoc gebildeten Verband aus Zivilisten beitritt. Zum Zeitpunkt seiner Aufnahme sind somit die Anforderungen an den regulären Soldaten wie an das Heer selbst bereits erfüllt. Nach Steinkamm müssen daher für die regulären Streitkräfte folgende Bedingungen als konstitutiv angesehen werden: 1. Die Aufstellung und Verwendung als reguläre Truppe kann nur durch den Staat erfolgen und muß auf rechtlicher Grundlage vollzogen werden 238 . 2. Die staatliche Autorisation wird in der Regel meist durch Einberufung, Immatrikulation und Legitimation kundgetan. 3. Die Aufstellung und Verwendung als reguläre Truppe verlangt die ständige und fortdauernde Zuweisung von Verteidigungsaufgaben an die Angehörigen dieser Verbände. 4. Reguläre Streitkräfte sind rechtsmäßig durch den Staat eingesetzten und diesem verantwortlichen Befehlshabern zu unterstellen. Die Angehörigen der regulären Steinkamm, Streitkräfte, S. 142. Schon Christian Meurer vertrat die Auffassung, daß eine straffe Militärorganisation und Manneszucht die Einhaltung des Kriegsrechts gewährleiste. Vgl. ders., Kriegsrecht, S. 55. 235 Vgl. Steinkamm, Streitkräfte, S. 144. 236 Vgl. ebd., S. 212f. 237 Vgl. Endres, Grundsätze, S. 14f. 238 Nach John Keegan zeigt die Militärgeschichte sechs Grundausprägungen militärischer Organisation: Krieger, Söldner, Sklaven, reguläre Truppen, Miliz und Wehrpflichtige. Vgl. John Keegan, Die Kultur des Krieges, Hamburg 2001 (2. Aufl.), S. 330. 234

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Truppen sind in ein hierarchisches Unterstellungsverhältnis einzugliedern, welches einer verantwortlichen Spitze bedarf. 5. Die Organisation der regulären Streitkräfte muß ein gewisses Maß an militärischer Disziplin sicherstellen, um eine weitgehende Beachtung des Völkerrechts gewährleisten zu können 239 . Das Völkerrecht weist dem Landesrecht die Kompetenz zu, die Organisation der regulären Streitkräfte selbst durchzuführen. Damit verlangt es zugleich von allen Kriegführenden, diese landesrechtlichen Normen zu respektieren. Ihre Mißachtung stellt eine Verletzung des Völkerrechts dar: „Grundsätzlich hat eine kriegführende Partei nicht das Recht, nach eigenem Ermessen reguläre Soldaten des Gegners, die eine besondere Funktion innerhalb ihrer Streitkräfte ausüben, anders zu behandeln als die Masse der feindlichen Soldaten." 240 Der Volkskrieg nach Art. 2 HLKO Die Haager Landkriegsordnung hatte sich der schwierigen Aufgabe unterzogen, zum Schutze des Soldaten und der Zivilbevölkerung eine für die Kriegspraxis brauchbare Grenze zu finden, welche die beiden grundsätzlich anerkannten Rechtssphären des Staates und des Individuums von einander scheidet. Der „Geist ihrer Gesetze" muß daher in dem Versuch gesehen werden, einen „goldenen Mittelweg zwischen der Souveränität des militärischen Machtstaates und den Menschenrechten des Individuums zu finden."241 Dieser rechdiche Anspruch erhielt seine Realisation in dem für das Kriegsrecht grundlegendem Schema des aktiven und passiven Kriegsstandes. Auch Art. 1 H L K O blieb diesem Grundsatz treu. In zwei entscheidenden Rechtsbereichen wurde jedoch diese Trennung durchbrochen: in der Frage des Volkskrieges und im Falle von Repressalmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung. Für gewöhnlich wird auch der Volkskrieg bzw. die „levée en masse", deren Begriff auf das Dekret des französischen Nationalkonvents vom 23. August 1793 zurückzuführen ist 242 , dem Partisanenkrieg zugerechnet. Seiner ursprünglichen Bedeutung nach bezeichnet aber das Wort „Partisan", das dem Französischen endehnt ist, ein Mitglied irregulärer Einheiten, die in einem vom Feind besetztem Gebiet Kleinkrieg führen. Entsprechend seiner Etymologie ist folglich der Partisanenkrieg nicht mit dem Volkskrieg gleichzusetzen, da letzterer notwendig einen anderen Sachverhalt, nämlich das bewaffnete Aufgebot eines Volkes zu kriegerischen Zwecken, beschreibt 243 . Letztlich ist aber die Frage der korrekten Bezeichnung juristisch nicht von Erkenntniswert, da sie allein von militärischer oder soziologischer Bedeutung ist.

Vgl. Steinkamm, Streitkräfte, S. 125. ebd., S. 118. 241 Laun, Haager Landkriegsordnung, S. 29f. 2 4 2 Nur scheinbar bestand damals ein Widerspruch zwischen dem Axiom Jean Jacques Rousseaus und der ausgerufenen levée en masse. Das Dekret wollte lediglich ein Maximum an Kombattanten schaffen. Die Ermächtigung und Organisation der Zivilbevölkerung verblieb weiterhin beim französischen Staat. Vgl. Schmid, Die völkerrechtliche Stellung, S. 21 f. Zur levée en masse siehe auch die Rede George-Jacques Dantons vom 5. September 1793, in: Peter Fischer (Hrsg.), Reden der französischen Revolution, München 1974, S. 314—317. 2 4 3 Vgl. Steinkamm, Streitkräfte, S. 11 Of. 239

24,1

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Allerdings war um die Frage der Legalität der levée en masse auf der I. Haager Konferenz unter den Delegierten der II. Kommission ein heftiger Konflikt entbrannt, der zunächst einen erfolgreichen Abschluß in weite Ferne rücken ließ. Brennpunkt der scharfen Auseinandersetzung war nämlich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen auch die unorganisierte Volksverteidigung im Kriegsfalle erlaubt sein sollte. Auf der Brüsseler Konferenz im Jahre 1874 hatte die Kontroverse hierüber zum Abbruch der Verhandlungen geführt 244 . In Art. 10 der Brüsseler Deklaration, die von den Delegierten nicht unterzeichnet worden war, wurde zum ersten Mal in der Völkerrechtsgeschichte ein Zugeständnis in der Kombattantenfrage gemacht, indem dieser zwischen bereits militärisch besetzten und noch nicht besetzten Gebieten unterschied und im letzteren Falle das freie Verteidigungsrecht der Zivilbevölkerung anerkannte245. Diese Bestimmung stellte folglich einen Bruch mit der bisherigen Auffassung des Kriegsbegriffs dar, denn eine klare Unterscheidung zwischen legalen Kriegsteilnehmern und unbeteiligten Zivilisten war durch Art. 10 auf Grund seiner Preisgabe des Organisationsprinzips erheblich erschwert worden. In Den Haag setzten vor allem die Vertreter der kleineren Staaten, insbesondere Belgiens, Hollands und der Schweiz, gegenüber den europäischen Großmächten ihren Kampf für einen uneingeschränkten Volkskrieg, d.h. einen Krieg der Zivilbevölkerung auch auf besetztem Gebiet, nahdos fort. So brachte in einer flammenden Rede der belgische Bevollmächtigte Beernaert seine Position in der Kombattantenfrage unmißverständlich zum Ausdruck, indem er sowohl die besondere geographische und militärische Situation Belgiens hervorhob als auch das bislang unantastbar gebliebene Gewaltmonopol der Staaten zur Diskussion stellte: „Die Frage ist: führt den Krieg einzig und allein der Staat mit seinem Heer, oder darf sich auch noch die Bevölkerung beteiligen? Wenn die Entscheidung der Brüsseler Deklaration in der Hauptsache die zweite Alternative abschneidet, so ist das ja an sich zu billigen, denn der Zweck ist die Minderung der Kriegsübel und Leiden. Aber wenn man die Kriegsführung einzig und allein den Staaten vorbehält und wenn die Bürger nur noch einfache Zuschauer sind: lahmt man da nicht die Widerstandskraft, nimmt man da nicht dem Patriotismus sein Wirkungsfeld? Ist es nicht die erste Pflicht eines Bürgers, sein Vaterland zu verteidigen? (...) Besonders die kleinen Staaten müssen die Kräfte des Widerstandes dadurch erhöhen, daß sie alle Volkskräfte heranziehen." 246 Beernaerts Ausführungen belegten nicht nur ein wachsendes Nationalbewußtsein der europäischen Völker, sondern auch die allmählich beginnende Partizipation einer zivilen Öffentlichkeit an der politischen bzw. staatlichen Macht. Nicht zuletzt waren ja die bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts als eine Kampfansage an den „Legitimismus" des Wiener Kongresses und damit an die Unantastbarkeit dynastischer Rechte zu verstehen. Denn die starke Reglementierung des Heeres und das durch die Obrigkeit geförderte Wiedererstarken des Offizierskorps als geschlossene Gruppe hatten die Entwicklung der Armeen nach 1815 zu einem Instrument des

Über die Diskussion auf der Brüsseler Konferenz, zu der auf Einladung der russischen Regierung die Vertreter von 17 europäischen Staaten gereist waren, siehe: Regina Büß, Der Kombattantenstatus. Die kriegsrechtliche Entstehung eines Rechtsbegriffs und seine Ausgestaltung in Verträgen des 19. und 20. Jahrhunderts, Bochum 1992 (Diss.), S. 161-165. 245 Vgl. Meurer, Kriegsrecht, S. 84. 24(5 Zitiert aus: ebd., S. 87. 244

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Monarchen beschleunigt. Der Verzicht auf die Bewaffnung der Zivilbevölkerung entsprang vor allem aus der Furcht der Herrscher vor bewaffneten Gruppen, die nicht unter ihrer Kontrolle standen und somit den Kern für revolutionäre Bewegungen bilden konnten247. Die Auseinandersetzung über den uneingeschränkten Volkskrieg auf dem I. Haager Kongreß ist daher auch vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Diskurses „Untertan" versus „Citoyen" zu begreifen 248 . Löste seit jeher schon der legale Partisanenkrieg bei vielen Militärs, insbesondere der Großmächte, Skepsis und Argwohn aus, so traf dies noch weit mehr auf den unkontrollierbaren Volkskrieg zu. Denn der uneingeschränkte Volkskrieg tangierte nicht nur das Kriegsmonopol der Staaten, sondern drohte ebenso die Trennung zwischen aktiven und passiven Kriegsstand zu zerstören. Der Schutz der Zivilbevölkerung aber auch des Soldaten durch das Kriegsrecht war hierdurch äußerst gefährdet. Zudem ließ die Präferenz für das „freie Heldentum" patriotischer Bürger Art. 1 HLKO überflüssig und damit unwirksam werden. Aus einem reglementierten Partisanenkrieg konnte deshalb jederzeit ein ungehemmter Krieg „aller gegen alle" entstehen, in dem nicht mehr Soldaten, sondern „Warriors" oder „War-Lords" das Kriegsgeschehen bestimmten. Die Problematik der levée en masse liegt somit in dem unauflöslichen Widerspruch zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Bürgers und den Schutzfunktionen des tradierten Kriegsrechts sowie des Machtanspruchs des Staates begründet. Auch heute besitzt die damalige Kontroverse über die Konsequenzen des uneingeschränkten Volkskrieges, wenn auch unter anderen Vorzeichen, nach wie vor an Aktualität. So plädierte beispielsweise der Militärhistoriker Martin van Creveld angesichts der massiven Zunahme von Bürgerkriegen seit 1945 dafür, die rechtliche Scheidung zwischen Kombattanten und Zivilisten aufzuheben. Der Praxis Rechnung tragend empfahl er, um in den künftigen Interventionskriegen erfolgreich bestehen zu können, sich der illegalen Kampfweise des (zivilen) Gegners anzupassen249. Art. 10 der Brüsseler Deklaration, der schließlich Art. 2 der Haager Landkriegsordnung als Grundlage diente, war das letzte Zugeständnis, welches die Vertreter der meisten Großmächte gegenüber der freien Volkserhebung zu machen bereit waren. So gewährte Art. 2 HLKO der Zivilbevölkerung nur für das unbesetzte Territorium den Status des Kombattanten: „Die Bevölkerung eines nicht besetzten Gebiets, die beim Herannahen des Feindes aus eigenem Antriebe zu den Waffen greift, um die eindringenden Truppen zu bekämpfen, ohne Zeit gehabt zu haben, sich nach Art. 1 zu organisieren, wird als kriegführend betrachtet, wenn sie die Waffen offen führt und die Gesetze und Gebräuche des Krieges beobachtet." 250 Die einstimmige Annahme dieses Artikels durch die Delegierten der II. Kommission konnte jedoch nur durch eine ausgleichende Grundsatzrede des russischen VorVgl. Büß, Kombattantenstatus, S. 1 3 0 - 1 3 3 . Das Regiment - das Wort hat den gleichen Ursprung wie Regieren - war für den Staat ein Mittel, sich die Herrschaft über die Streitkräfte zu erhalten. Sie waren als militärische Diener der Monarchie anerkannt; ihre Aufgabe war es, illegale Streitkräfte zu vernichten. Vgl. Keegan, Kultur, S. 35-37. 249 Ygi Andreas Herberg-Rothe, Gewalt als Lebensform. Ein unguter Paradigmenwechsel in der Kriegstheorie, in: Frankfurter Rundschau, http: / /www.fr-aktuell.de / fr/140 /1140001 .htm (25. 10. 2000), S. 2. "o RGBl. 1910, S. 133. 247 248

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sitzenden Friedrich von Martens erreicht werden, deren wesentlicher Inhalt später als die sogenannte „Martens'sehe Klausel" Eingang in die Präambel des IV. Haager Abkommens vom 18. Oktober 1907 gefunden hatte. Aus Rücksichtnahme gegenüber den Verfechtern des uneingeschränkten Volkskrieges enthielten nämlich die positivrechtlichen Bestimmungen des Art. 2 HLKO keine Hinweise über den Rechtsstatus der Zivilbevölkerung im militärisch besetzten Gebiet. Zur Überbrückung dieser „Lücke" gab von Martens deshalb seine Vorbehaltserklärung zu Protokoll, die zwar uneingeschränkt auf Zustimmung stieß, deren Auslegung jedoch erneut einen juristischen Zwiespalt bewirken sollte: „Es ist indes nicht möglich, sich schon jetzt auf Bestimmungen zu einigen, die sich auf alle in der Praxis vorkommenden Fälle erstrecken. Andererseits konnte es nicht die Absicht der Konferenz sein, daß die nicht vorgesehenen Fälle in Ermangelung eines schriftlichen Übereinkommens der willkürlichen Beurteilung der militärischen Befehlshaber überlassen bleiben. Solange bis ein durchaus vollständiges Kriegsgesetzbuch festgestellt werden kann, hält es die Konferenz für zweckmäßig, festzusetzen, daß in den Fällen, die in den von ihnen angenommenen Bestimmungen nicht vorgesehen sind, die Bevölkerungen und die Kriegführenden unter dem Schutze und den herrschenden Grundsätzen des Völkerrechts bleiben, wie sie sich aus den unter den gesitteten Staaten geltenden Gebräuchen, aus den Gesetzen der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens herausgebildet haben. In diesem Sinne sind namentlich die von der Konferenz angenommenen Art. 1 und 2 zu verstehen." 251 Bewirkten diese Sätze nun einen Wandel in der Auslegung der soeben fixierten Artikel 1 und 2 der Haager Landkriegsordnung? Konnte durch die Martens " sehe Klausel die Trennung von aktiven und passiven Kriegsstand, die in Art. 2 HLKO primär durch die Abgrenzung zwischen besetztem und nichtbesetztem Gebiet erzielt worden war, gekippt werden — frei nach dem Motto „erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten ist?" Die Kontroverse um die „Lücke" in Art. 2 HLKO wurde erneut auf dem Haager Kongreß entfacht, als sehr zum Unbill der deutschen Delegation der britische General Sir John Ardagh den Antrag einbrachte, auf der Grundlage der Präambel nachfolgenden Passus zu Art. 2 HLKO aufzunehmen: „Nothing in this chapter is to be considered as tending to modify or suppress the right which a population of an invaded country [!] possesses of fulfilling its duty of offering the most energetic national resistance to the invaders by every means in its power."252 Unterstützung fand der britsche Antrag sogleich durch den Vertreter der Schweiz, Oberst Künzli, sowie durch den niederländischen General Beer Poortugael 253 . Zitiert aus: Meurer, Kriegsrecht, S. 89. Siehe auch den entsprechenden Passus in der Präambel zum IV. Haager Abkommen vom 18. Oktober 1907, in: RGBl. 1910, S. 109. 252 Zitiert aus: Lester Nurick, Roger W. Barrrett, Legality of Guerilla Forces under the Laws of War, in: American Journal of International Law (AJIL) 40 (1946), S. 566. Deutsche Übersetzung in: Philipp Zorn, Die beiden Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907. Handbuch des Völkerrechts hrsg. von Fritz Stier-Somlo, Berlin, Stuttgart, Leipzig 1915, S. 27: „Nichts in diesem Kapitel darf so aufgefaßt werden, als bezwecke es, das Recht zu schmälern oder zu beseitigen, welches der Bevölkerung eines vom Feind besetzten Landes zusteht, ihre Pflicht zu erfüllen, dem Feind mit allen erlaubten Mitteln den energischsten patriotischen Widerstand entgegenzusetzen." 253 Die Vorträge von Oberst Künzli und General Poortugael sind in Auszügen abgedruckt in: Meurer, Kriegsrecht, S. 89-92. 251

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Der britische Vorstoß, der möglicherweise auch als eine „Spitze" gegen das Deutsche Kaiserreich zu verstehen war, stieß umgehend auf den massiven Widerstand der deutschen Delegation. Unter Zustimmung des russischen Oberst Gilinsky führte der deutsche Oberst Groß von Schwarzhoff, der aus seiner Ablehnung des Art. 2 H L K O keinen Hehl machte, gegen den britischen Antrag folgenden maßgeblichen Einwand an: „Ich habe also gewichtige Bedenken gegen die Fassung des Artikel 10 (der Brüsseler Deklaration; Anm. d. Verf.). Aber ich will entgegenkommen und nicht unübersteigliche Hindernisse auftürmen. Ich habe deshalb geschwiegen und keine Streichung beantragt. Wenn man aber jetzt die Grundlagen wiederum verschieben will, so muß ich sagen: bis hierher und nicht weiter. Wenn man so viel von Menschlichkeit redet, so muß ich daran erinnern, daß auch Soldaten Menschen sind und ein Recht auf menschliche Behandlung haben. Wenn die Soldaten von Anstrengungen ermattet, nach langen Märschen oder Kämpfen sich in einem Dorf zur Ruhe niederlegen, so müssen sie sicher sein können, daß sich die friedlichen Einwohner nicht plötzlich in erbitterte Feinde verwandeln." 254 Wie ernst es der britischen Delegation mit ihrem Anliegen war, bleibt ungewiß. Tatsache ist, daß Großbritannien im Burenkrieg nicht im geringsten geneigt war, weder seine in Den Haag verfochtenen Grundsätze noch die in Art. 2 H L K O festgeschriebenen Bestimmungen einzuhalten.255 Trotz dieses eklatanten Widerspruchs fürchteten im Zweiten Weltkrieg deutsche Völkerrechtler nicht ganz zu Unrecht, daß der Antrag Ardagh als die „gültige Rechtsüberzeugung" Großbritanniens in Fragen des Partisanenkrieges anzusehen sein könnte. 256 Diese Vermutung war auch deshalb nicht völlig aus der Luft gegriffen, da die Rechtsauslegung über das Zusammenwirken von Präambel und insbesondere Art. 2 H L K O in der Literatur, wenn auch mehrheitlich gegen den uneingeschränkten Volkskrieg entschieden, bis heute umstritten ist. Denn der erneut aufgebrochene Konflikt um Art. 2 H L K O konnte auf der ersten Haager Konferenz nur „scheinbar" gelöst werden, indem nämlich Friedrich von Martens den britischen Antrag in das Protokoll aufnehmen ließ und damit eine endgültige Festlegung umging257. Der damalige Konflikt um die rechtmäßige Auslegung des Art. 2 H L K O wird bisweilen auch in der historischen Forschung über die deutsche Besatzungspolitik im Zweiten Weltkrieg sichtbar. So bezog sich beispielsweise der französische Historiker Jean Solchany in seiner scharfen Kritik an den deutschen Maßnahmen gegen Partisanen bzw. Freischärler im besetzten Frankreich auf die britische Position in Den Haag und bezichtigte die deutschen Juristen und Militärs einer traditionell restriktiven Interpretation des Kriegsrechts: „Bei der Unterzeichnung des Haager Abkommens hatten jedoch mehrere kleinere, von England unterstützte Länder, u.a. die Schweiz, einen größeren Spielraum für die Bevölkerungen besetzter Gebiete verlangt. Die Opposition Rußlands und Deutschlands hatte zwar schließlich eine Erweiterung des Widerstandsrechts verhindert, nichtsdestoweniger war die Präambel des Abkommens mit einer Klausel versehen worden, die vorsah, daß die in dem Abkommen

Zitiert aus: Meurer, Kriegsrecht, S. 93. Zu den Kriegsverbrechen der britischen Streitkräfte in Südafrika siehe: Schmid, Die völkerrechtliche Stellung, S. 4 0 - 4 2 . Vgl. Walter Schätzel, Freischärler, in: Zeitschrift für Wehrrecht V (1940), S. 218f. 2 5 " Vgl. Meurer, Kriegsrecht, S. 95. 254

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nicht angesprochenen Fragen nach dem allgemeinen Völkerrecht zu behandeln seien. Anders gesagt, hatte die Haager Konvention bei ihrer Verabschiedung zwei Auslegungen des Widerstandsrechts der Zivilbevölkerung ermöglicht [!]. Die eine, die sich zur Regelung der Fragen eines eventuellen Widerstandsrechts auf die Artikel 1 und 2 berief, war restriktiv; die andere Auslegung ließ den Bevölkerungen besetzter Gebiete mehr Raum, insofern sie unterstellte, die Frage sei nicht wirklich in Den Haag behandelt worden. Für die deutschen Juristen (....) kam es also darauf an, die restriktive völkerrechtliche Auslegung des Widerstandsrechts zu stützen und die gegensätzlichen Interpretationen zu widerlegen, (..,)."258 Für das deutsche Militär sowie für die deutsche Völkerrechtswissenschaft war eine Legitimation des uneingeschränkten Volkskriegs durch die Präambel in keiner Weise gegeben. Auch die in der Diskussion stehende „Lücke" in Art. 2 H L K O wurde in der deutschen Literatur negativ bewertet. Unmißverständüch brachte Christian Meurer den deutschen Standpunkt zum Ausdruck: „(...) in der auf der Haager Konferenz behandelten Frage der Volkserhebung besteht keine Gesetzeslücke und die Martens "sehe Erklärung wird hier, wo sie in erster Linie zu wirken bestimmt schien, kein Anwendungsgebiet finden. (...) D.h. für die behauptete Gesetzeslücke gilt (...) das alte gemeine Kriegsrecht." 259 Ebenso auf den subsidiären Gebrauch des Gewohnheitsrechts in der Präambel verweisend, folgten Kriegsgerichtsrat Karl Endres, Karl Strupp und Josef L. Kunz vollkommen der Position Oberst Groß von Schwarzhoffs und Christian Meurers 260 . Strupp wies aber auch eindringlich auf die Konsequenzen des Art. 2 H L K O für die militärische Führung hin: „Jeder Angreifer muß damit rechnen, beim Vormarsch [!] auf erbitterten Widerstand (...) der Bevölkerung zu stoßen und dementsprechend Sicherheitsmaßnahmen ergreifen." 261 Entgegen der Auffassung ihrer eigenen Delegation in Den Haag teilte die Schweizer Völkerrechtswissenschaft primär die deutsche Interpretation. Ganz auf der Linie Christian Meurers erklärte Hans Kaegi: „Dennoch hat die Geschichte des Artikels, und ganz besonders die Protokollerklärung von Martens andere Auslegungen hervorgerufen. Gegenüber dem Versuch, daraus die Zulässigkeit der levée en masse im okkupierten Gebiet abzuleiten, wie auch gegenüber der Ansicht, der Art. 2 beurteile eine solche überhaupt nicht, muß daran festgehalten werden, daß der Art. 2 sich als Ausnahme der allgemeinen Regel des Art. 1 darstellt. Eine erweiterte Interpretation

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Jean Solchany, Das deutsche Bild der Résistance. Identifizierungslogiken und Ausrottungsstrategien des Militärbefehlshabers in Frankreich, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 14: Repression und Kriegsverbrechen. Die Bekämpfung von Widerstands- und Partisanenbewegungen gegen die deutsche Besatzung in West- und Südeuropa, Göttingen 1997, S. 29. Noch schärfer faßt Ahlrich Meyer das Widerstandsrecht der Zivilbevölkerung zusammen: „Während die Präambel der II. Haager Konvendon von 1899 [sie!] ein Widerstandsrecht der Bevölkerung besetzter Ländern einräumte und dem Schutz von Guerilla-Kämpfern dienen sollte, verwarf die deutsche Seite - unter Bezug auf den Waffenstillstandsvertrag von 1940 — die Anwendbarkeit des Widerstandsrechts für das besetzte Frankreich." Siehe: ders., Besatzung, S. 245 Anm. 10. 259 Meurer, Kriegsrecht, S. 11 Of. 260 Vgl. Endres, Grundsätze, S. 15-17; Strupp, Landkriegsrecht, S. 42f.; Kunz, Kriegsrecht, S. 65f. 261 Strupp, Landkriegsrecht, S. 41 f.

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ist damit ausgeschlossen, und ebenso die letztere Ansicht widerlegt." 262 Auch Markus Hauser Schloß sich dieser Auslegung an: „Für alle Lücken ist das Gewohnheitsrecht da, wie dies schon in der Präambel zum L K A bestimmt wird. Dieses Gewohnheitsrecht ist gleichbedeutend mit den früherfen] (...) tatsächlichen Behandlungen der Freischaren und der Volkserhebung. Es hat die Freischaren nur unter rigorosen Einschränkungen und die levée en masse überhaupt nicht anerkannt. Wo daher die Lücken des kodifizierten Rechtes auszufüllen sind, wird der Entscheid in aller Regel gegen die Irregulären fallen." 263 Der Streit über den Rechtsstatus der Zivilbevölkerung im militärisch okkupierten Gebiet wurzelt primär in dem scheinbaren Widerspruch zwischen dem Gebot der Humanität sowie der Beachtung der öffentlichen Meinung und dem Rekurs auf das Gewohnheitsrecht in der Martens 'sehen Klausel. Nach Max Huber gibt die Präambel des Haager Abkommens Aufschluß über das Verhältnis von Kriegsrecht und Kriegsgewalt. Die vereinbarten Normen sollen demnach generell durch die Grundsätze des Rechts und der Humanität begrenzt sein. „Doch sind diese Prinzipien rechtlich nicht näher bestimmbar, und das nicht kodifizierte Kriegsrecht bleibt unsicher. (...) Aber andererseits ist es gewiß, daß da wo Ubereinstimmung nicht erzielt werden konnte, es sich nicht handelt um die Alternative: Willkür oder rechtliche Schranken, sondern lediglich um das Maß der Beschränkung." 264 Der moralische Appell der Klausel richtet sich somit auf die Ausübung des Gewohnheitsrechtsrechts bzw. des Kriegsbrauchs. Durch ihren Verweis auf die „Forderungen des öffentlichen Gewissens" führte die Präambel ein dynamisches Element in das Kriegsrecht ein, welches den permanenten Diskurs in kriegsrechtlichen Fragen legitimierte. Eine Legalisierung des uneingeschränkten Volkskrieges ließ sich auf diesem Wege jedoch nicht erreichen, wohl aber die Möglichkeit einer mildernden Wirkung auf die Art der Behandlung von illegalen Kriegsteilnehmern und auf das Ausmaß von Repressalmaßnahmen durch die Besatzungsmacht 265 . Denn der Interpretation des Art. 2 H L K O sind dort Grenzen gesetzt, wo andere Bestimmungen des Kriegsrechts entgegenstehen. So ist die Befürwortung des uneingeschränkten Volkskrieges unvereinbar mit dem Reglement der occupatio bellica, das in den Art. 42 bis 56 der Haager Landkriegsordnung niedergelegt worden ist. Allein aus dem bloßen Faktum der militärischen Besetzung resultiert die Gehorsamspflicht der Zivilbevölkerung, welche eine Volkserhebung im okkupierten Gebiet ausschließt. Die Pflicht zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, die Art. 43 H L K O der Besatzungsmacht auferlegt 266 , läßt sich jenseits der rechtlichen Scheidung zwischen aktiven und passiven Kriegsstand nicht umsetzen. Aus der gesetzmäßigen Gewalt, die dem Okkupanten de facto zufällt, gründet sich dessen Strafbefugnis gegenüber der Zivilbevölkerung, die besonders den sensiblen Bereich der Sicherheit der eigenen

Kaegi, Die Kriegführenden, S. 37. Hauser, Der K a m p f Irregulärer, S. 40f. 2 6 4 Huber, Fortbildung, S. 571. Siehe auch: Binz, Martens'sehe Klausel, S. 139. 265 Vgl Hauser, Der K a m p f Irregulärer, S. 51. 2 6 6 Vgl. R G B l . 1910, S. 147. 262

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Truppen umfaßt 267 . Die Annahme eines Gegensatzes zwischen Humanität und Kriegsbrauch in der Präambel wird damit hinfällig 268 . Auch die Genfer Konferenz von 1949 hielt an dieser grundlegenden Auffassung fest. Das Widerstandsrecht der Zivilbevölkerung im besetzten Gebiet verwerfend, erweiterte sie das Recht ziviler Widerstandsakte ausschließlich durch Ergänzung des Art. 1 HLKO. Zwar übernahm sie fast wortwörtlich Art. 2 HLKO in Art. 4A, Abs. 6 des III. Genfer Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen (KGK) 269 , doch behielt Art. 4 KGK im Gesamt das Organisationsprinzip als Grundbedingung des Kombattantenstatus bei. Ebenso wie Art. 2 HLKO bildet Art. 4A, Abs. 6 KGK eine Ausnahme von der Regel. Zudem fehlt die Martens'sehe Klausel in der III. Genfer Konvention. Hätten folglich die Delegierten der Genfer Konferenz den uneingeschränkten Volkskrieg als rechtmäßig angesehen, so wäre allein auf Grund der heftigen Kontroverse in Den Haag die Abfassung von Art. 4A, Abs. 6 anders ausgefallen. Daraus ergibt sich, daß auch nach der Genfer Konvention von 1949 die unorganisierte Volkserhebung im militärisch besetzten Gebiet sich jeglicher Schutzfunktionen des Kriegsrechts entledigt270. Von einer restriktiven Auslegung der deutschen Völkerrechtswissenschaft kann daher in dieser Frage keine Rede sein. Vielmehr läßt bereits die der Haager Landkriegsordnung immanente Rechtslogik den Schluß zu, daß es sich bei dem Konflikt um den uneingeschränkten Volkskrieg weit mehr um einen politischen, denn um einen juristischen Disput handelt. Diese Vermutung wird noch dadurch bekräftigt, als auch Vertreter der angelsächsischen Völkerrechtswissenschaft den deutschen Standpunkt einnahmen. Beispielsweise schrieb Lassa Oppenheim unter Bezugnahme auf Christian Meurer über den Volkskrieg: „Totally different, however, is a levy en masse of the population of a territory already invaded by the enemy, for the purpose of freeing the country from the invader. Article 2 of the Hague Regulations does not cover this case [!], in which, therefore, the old customary rule of International Law is valid, that those taking part in such a levy en masse are liable to be shot if captured." 271 In die gleiche Richtung zielten die britischen Juristen Me Nair und Ch. Hyde, die im Hinblick auf die Volksverteidigung besonders die Rechte des Okkupanten betonten 272 . Ebenso entsprach das Kriegshandbuch der US-Armee „Rules of Land Warfare" der mehrheitlichen Auffassung des Schrifttums: „If the people of a country, or any portion, already 267 Vgj. Jürgen Kalkbrenner, Die Tötung von Einwohnern kriegsmäßig besetzter Gebiete durch die Besatzungsmacht als Gegenmaßnahme gegen Widerstandshandlungen, an denen sie nicht beteiligt gewesen sind. Eine völkerrechtliche Betrachtung zu der Praxis der Kriegführenden im Zweiten Weltkrieg, Kiel 1951 (Diss.), S. 92, und S. 94. Siehe auch: Hauser, Der Kampf Irregulärer, S. 4 4 - 4 8 ; Meurer, Kriegsrecht, S. 102f. Ganz in diesem Sinne erklärte der preußische König Wilhelm I. in seiner Proklamation vom 11. August 1870: „Ich führe Krieg mit den französischen Soldaten und nicht mit den Bürgern Frankreichs. Diese werden demnach fortfahren, eine vollkommene Sicherheit ihrer Personen und ihrers Eigentums zu genießen und zwar so lange, als sie Mich nicht selbst durch feindliche Unternehmungen gegen die deutschen Truppen des Rechts berauben werden, ihnen Meinen Schutz angedeihen zu lassen.", zitiert aus: Schmid, Die völkerrechtliche Stellung, S. 25. Vgl. BGBl. II. 1954, S. 840. 270 Vgl. Schmid, Die völkerrechtliche Stellung, S. 143. 271 Oppenheim, Lauterpacht, International Law, S. 205. 272 Vgl. Kalkbrenner, Tötung, S. 95f. Siehe dazu auch: Nurick, Barrett, Legality, S. 564—567. 268

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occupied by an army, rise against it, they are violators of the law of war, and are not entitled to their protection." 273 Die Zulässigkeit der Volksverteidigung im militärisch besetzten Gebiet wurde dagegen häufig von französischen Völkerrechtlern postuliert. So begründeten z.B. Mérignhac, Despagnet und Pillet die Legalität des uneingeschränkten Volkskrieges auf der Grundlage der Martens sehen Klausel. Während des Zweiten Weltkrieges unternahm schließlich Auguste-Raynold Werner den Versuch, Widerstandsakte der Zivilbevölkerung in okkupierten Territorien infolge einer gewohnheitsrechtlichen Weiterbildung von Art. 1 und 2 HLKO juristisch zu rechtfertigen 274 . Bereits auf der Brüsseler Konferenz im Jahre 1874 war der französische Delegierte Baron Baude dem deutschen Standpunkt entgegengetreten, indem er für ein Recht auf Widerstand plädiert hatte: Zwar könne man die Zivilbevölkerung, die im besetzten Gebiet Widerstand leiste, bekämpfen, müsse sie aber als legale Kriegführende betrachten275. Diese spezifische Sichtweise eines zivilen Widerstandsrechts besaß offenbar ihren Ursprung in dem Dekret des französischen Nationalkonvents vom 23. August 1793 über die levée en masse und könnte somit als eine traditionelle Linie in der französischen Kriegsauffassung gedeutet werden. So mag das Urteil Jean Solchanys über die deutsche Rechtsauslegung in dieser Frage hierin seine Erklärung finden. Doch spricht nicht nur die Genfer Konvention von 1949 in diesem Punkt eine andere Sprache, auch läßt die französische Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg den Schluß zu, daß die französischen Militärs dieser Ansicht nicht gefolgt waren. Befand sich die deutsche Rechtswissenschaft in ihren Ausführungen zu Art. 2 HLKO durchaus auf einem mehrheitsfähigen Standpunkt, so lassen sich aus den Äußerungen und offiziellen Schriften deutscher Militärs in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eindeutig Tendenzen feststellen, die einer rechtlich einwandfreien Interpretation zuwiderliefen. Grundlage für das Kriegsbild der deutschen Generalität war oftmals die Praxis des deutsch-französischen Krieges 1870/71, in dem Art. 2 HLKO noch keine Bedeutung besessen hatte. So begründete nach der gescheiterten Brüsseler Konferenz Generalfeldmarschall Graf Helmuth von Moltke gegenüber dem Staatsrechtler Geheimrat Professor Bluntschli in einem Brief vom 11. Dezember 1880 seine Ablehnung des Art. 10 der Brüsseler Deklaration mit den Worten: „Kein auswendig gelernter Paragraph wird den Soldaten überzeugen, daß er in der nichtorganisierten Bevölkerung, welche (spontanément, also aus eigenem Antriebe) die Waffen ergreift und durch welche er bei Tag wie bei Nacht nicht einen Augen-

Basic Field Manual. Rules o f Land Warefare, prepared under direction o f the Judge A d v o cate General, Washington 1 9 4 0 , S. 5. Vgl. Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen (Hrsg.), Geisel- und Partisanentötungen, S. 5f. 273

2 4 Vgl. Schmid, Die völkerrechdiche Stellung, S. 143f. A n m . 2 1 . Die mehrheitliche Auffassung vertrat demgegenüber Paul Fauchille. Auch der französische Völkerrechder Bonfils wandte sich gegen das uneingeschränkte Verteidigungsrecht der Zivilbevölkerung: „Jeder Bewohner wird angesichts der feindlichen Besetzung des Landes ohne weiteres begreifen, daß er sich einer Strafe aussetzt, w e n n er wissentlich Handlungen begeht, die dem Feinde nachteilig sind. Tut er dies, so handelt er auf seine eigene G e f a h r und Verantwortung." Zitiert aus: Meurer, Kriegsrecht, S. 109. 2 , 5 Vgl. Kalkbrenner, Tötung, S. 88.

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blick seines Leben sicher ist, einen regelrechten Feind276 zu erblicken hat." 277 Zu diesem Zeitpunkt mochte eine solche Haltung gegenüber der Volkserhebung noch rechtmäßig gewesen sein, doch konnten die Kontroversen in Brüssel keinen Zweifel mehr daran lassen, daß in der Bewertung des zivilen Verteidigungsrechts Bewegung gekommen war. Aber auch nach der Haager Konferenz im Jahre 1899 behielten zumindest weite Kreise der deutschen Generalität ihren alten Standpunkt bei. Scheinbar unberührt von der veränderten Rechtslage führte die vom Großen Generalstab im Jahre 1902 herausgegebene Schrift „Kriegsbrauch im Landkriege" zur Frage des zivilen Verteidigungsrechts an: „Demgegenüber läßt sich sagen, daß die Forderung einer militärischen Organisation und der äußeren Erkennbarkeit als Angehörige eines feindlichen Truppenteils nicht gleichbedeutend ist mit der Versagung des natürlichen Rechtes der Vaterlandsverteidigung, daß es sich nicht darum handelt, die Bevölkerung von dem Ergreifen der Waffen abzuhalten, sondern sie nur zu zwingen, dies in geordneter Weise zu tun. Von einer Unterstellung unter verantwortliche Führer, von einer militärischen Organisation und von einer äußeren Erkennbarkeit als Kombattant kann aber nicht abgesehen werden, wenn nicht die ganze für die Zulassung der Irregulären als notwendig erkannte Grundlage aufgegeben und ein Kampf auch der Privaten gegen Private wieder eingeführt werden soll (....). Wenn die notwendige Organisation sich wirklich nicht bewerkstelligen ließe (...) so hat der Kampf der Privaten zu unterbleiben und die ihn dennoch Führenden haben nicht die Rechte des aktiven Kriegsstandes. Die darin liegenden Nachteile und Härten sind geringer und weniger inhuman, als diejenigen, die sich aus der Gestattung ergeben würden." 278 Selbst Meurer, der vor allem die praktischen Folgen des Art. 2 HLKO mit Sorge betrachtete, kam nicht umhin, diese Auffassung als völkerrechtswidrig zu bezeichnen: „Aber alle diese wohlbegründeten Bedenken können jetzt angesichts des Art. 2 weiter nicht mehr in Betracht kommen. Auch Groß von Schwarzhoff hat als deutscher Delegierter solche Gemeint ist „einen legalen feindlichen Kriegsteilnehmer", einen Kombattanten. Zitiert aus: Vanselow, Völkerrecht, S. 209. 278 Großer Generalstab (Hrsg), Kriegsbrauch im Landkriege. Kriegsgeschichtliche Einzelschriften, Heft 31, Berlin 1902, S. 7f. In einer Entschließung verurteilte der 3. Untersuchungsausschuß des deutschen Reichstages am 28. Juni 1921 die Publikation des Generalstabes als völkerrechtswidrig mit der Begründung, daß diese Schrift eine „beinahe vollständige Unkenntnis der Haager Landkriegsordnung" aufweise. In seiner Vernehmung durch den Untersuchungsausschuß bekundete der Autor, Major Friedrich, daß ihm zum Zeitpunkt der Abfassung im Herbst 1901 die Haager Landkriegsordnung nicht bekannt gewesen sei. Dies konnte allerdings nicht der Fall gewesen sein, da Friedrich, zwar ohne Nennung der einzelnen Artikel, jedoch sinngemäß die Rechtsinhalte der Landkriegsordnung - nach eigener Interpretation behandelt hatte. Besonders während des Ersten Weltkrieges nahm das Deutsche Kaiserreich und seine bewaffnete Macht in der Wahrnehmung der internationalen Öffentlichkeit infolge der Verbreitung der genannten Publikation schweren Schaden. Das von der britischen Kriegspropaganda als „Handbuch der Hunnen" gebrandmarkte Generalstabsheft besaß nämlich amtlichen Charakter und hatte seiner Intention nach auch die Bestimmung, „anregend auf das Offizierskorps zu wirken". Abschließend wies der Untersuchungsausschuß in seiner Entschließung jedoch darauf hin, daß die „Herausgabe der Haager Landkriegsordnung als Dienstvorschrift" es „füglich bezweifeln" lassen, daß die Arbeit „in einem den Haager Abmachungen zuwiderlaufenden Sinne in der deutschen Armee eine Wirkung getan hat". Siehe: Das Werk des Untersuchungsausschusses, Band 1, S. 27f. 276

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Bedenken geäußert und doch zugestimmt. Hinter den Art. 2 kann man also nicht mehr zurück: denn er ist kodifiziertes Völkerrecht, auf das sich auch Deutschland verpflichtet hat." 279 Um so erstaunlicher bleibt es, als noch im Jahre 1931 der Kapitän zur See, Dr. jur. Ernst Vanselow unter Bezugnahme auf Moltkes Brief an Bluntschli über Art. 2 HLKO anmerkte: „Dies ist eine Grenzzone des Rechts, in der der einzelne Soldat praktisch die Entscheidung in der Hand hat. Man darf sich daher nicht wundern, wenn in jedem Kriege Beispiele vorkommen, in denen die kämpfende Truppe Zivilisten, die bei dem Gebrauch von Waffen gefaßt werden, kurzerhand erschießt; ihr bleiben die Feinheiten des theoretischen Völkerrechts unverständlich."280 Erfahrungen aus vorangegangenen Kriegen und deren stereotypen Wiederholungen, dies hatte Meurer bereits angedeutet, konnten keine Grundlage mehr abgeben, um eine Umgehung des Art. 2 H L K O rechtlich zu begründen. Vorbehalte gegen eine spontane Teilnahme der Zivilbevölkerung an Kampfhandlungen, seien sie militärisch oder (staats-)politisch motiviert, ließen hieran nichts mehr ändern. Durch den Art. 2 H L K O erfuhr der Begriff des Kombattanten eine Erweiterung, der sowohl der E manzipation des Bürgertums als auch einer veränderten Kriegsauffassung Rechnung trug. Die sich hieraus ergebenden militärischen Probleme und juristischen Grauzonen, wie sie vor allem moderne Bewegungskriege hervorrufen, bedürfen daher im Einklang mit der Martens'sehen Klausel einer permanenten rechtlichen Diskussion und einer entsprechenden Sensibilisierung in der Truppenausbildung. Die Tötung unbeteiligter Zivilisten bzw. sogenannte „Kollateralschäden" 281 bleiben dennoch, realistisch betrachtet, in derartigen Kampfhandlungen oftmals unvermeidbar. Dies ist der Preis des Art. 2 HLKO. Seine Zurücknahme allerdings hätte eine weitaus größere Eskalation in der Kriegführung zufolge. Im nicht besetztem Gebiet „beim Herannahen des Feindes" ist die levée en masse ausdrücklich durch das Kriegsvölkerrecht gestattet. Die rechtliche Scheidung zwischen aktiven und passiven Kriegsstand gründet in diesem Fall nahezu ausschließlich auf diese grundlegende Bedingung. Die beiden weiteren Forderungen, das offene Führen der Waffen und die Beobachtung der Gesetze und Gebräuche des Krieges, eröffnen wiederum dieselben faktischen und psychologischen Probleme, wie sie bereits zu Art. 1 H L K O dargelegt worden sind. Dem Gebot der humanen Kriegführung eingedenk plädierten Teile der Völkerrechtswissenschaft dafür, daß als Minimum die Kriegsrechtsnormen des Art. 23 H L K O von der am Kampf teilnehmenden Zivilbevölkerung zu befolgen seien 282 . Die Übertretung weniger bedeutsamer KriegsMeurer, Kriegsrecht, S. 103. Siehe auch die Kritik von: Strupp, Landkriegsrecht, S. 44. Anm. 1. Arthur von Kirchenheim war dagegen der Auffassung des Generalstabsheftes gefolgt. Vgl. ders., Kombattanten, S. 654. Meurer mochte aus militärischen Gesichtspunkten heraus die Volkserhebung ablehnen; die häufig in der Literatur anzutreffende Auffassung, die ältere deutsche Völkerrechtswissenschaft und mit ihr allen voran Christian Meurer hätten die levée en masse auch im rechtlichen Sinne kategorisch abgelehnt, erweist sich - wie obiges Zitat u.a. belegt - jedoch als Trugschluß. Als Beispiel siehe: Schmid, Die völkerrechtliche Stellung, S. 136 Anm. 1. 28(1 Vanselow, Völkerrecht, S. 209. 281 Siehe dazu: Horst Fischer, Kollateralschäden, in: Roy Gutmann, David Rieff (Hrsg.), Kriegsverbrechen. Was jeder wissen sollte, Stuttgart, München 1999, S. 2 3 5 - 2 3 6 . 282 Vg] Steinkamm, Streitkräfte, S. 226. Dort auch die Anführung weiterer Völkerrechder. 279

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rechtsregeln dürfe somit noch nicht zum Verlust des Kombattantenstatus führen. Eine Bestrafung wegen Rechtsbruchs bliebe gleichwohl hiervon unberührt. Letztlich aber könne von der Zivilbevölkerung nicht mehr erwartet werden, „als der Wille zum Recht." 283 Dies erfordert, daß auch die Truppe wie ihre Führung gleichsam im Sinne Immanuel Kants „guten Willens" sein muß, um nicht auf dem Wege einer „haarspalterischen" und pedantischen Rechtsauslegung das Hinabgleiten in eine barbarische Kampfaustragung zu begünstigen. Die kollektive Verteidigung nicht besetzten Gebietes durch die Zivilbevölkerung steht unter dem Schutz des Kriegsrechts 284 . Eine Vermischung der Kombattanten nach Art. 2 H L K O und unbeteiligten Zivilisten ist bei solchen Kampfhandlungen oftmals die unausweichliche Folge. Wird eine von „zivilen Kombattanten" verteidigte Ortschaft vom invadierenden Feind genommen, so werden daher gewöhnlich alle wehrfähigen männlichen Bewohner als Kriegsgefangene behandelt 285 . Die einseitige Aberkennung des Kombattantenstatus und damit die Versagung des Rechts der Kriegsgefangenschaft durch den Gegner ist völkerrechtswidrig. Genau hierauf machte das Kriegshandbuch der US-Streitkräfte in § 10 seine Soldaten aufmerksam: „No belligerent has the right to declare that he will treat every captured man in arms of a levée en masse as a brigant or bandit." 286

Art. 23 HLKO lautet: „Abgesehen von den durch Sonderverträge aufgestellten Verboten, ist namentlich untersagt: a) die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen, b) die meuchlerische Tötung oder Verwundung von Angehörigen des feindlichen Volkes oder Heeres, c) die Tötung oder Verwundung eines die Waffen streckenden oder wehrlosen Feindes, der sich auf Gnade oder Ungnade ergeben hat, d) die Erklärung, daß kein Pardon gegeben wird, e) der Gebrauch von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die geeignet sind, unnötig Leiden zu verursachen, f) der Mißbrauch der Parlamentärflagge, der Nationalflagge oder der militärischen Abzeichen oder der Uniform des Feindes sowie der besonderen Abzeichen des Genfer Abkommens, g) die Zerstörung oder Wegnahme feindlichen Eigentums außer in den Fällen, wo diese Zerstörung oder Wegnahme durch die Erfordernisse des Krieges dringend erheischt wird, h) die Aufhebung oder zeitweilige Außerkraftsetzung der Rechte und Forderungen von Angehörigen der Gegenpartei oder die Ausschließung ihrer Klagbarkeit. Den Kriegführenden ist ebenfalls untersagt, Angehörige der Gegenpartei zur Teilnahme an den Kriegsunternehmungen gegen ihr Land zu zwingen; dies gilt auch für den Fall, daß sie vor Ausbruch des Krieges geworben waren." Siehe: RGBl. 1910, S. 141 f. 283 Vgl. Steinkamm, Streitkräfte, S. 239 und S. 225. Seine Ansicht führte Steinkamm auch darauf zurück, daß bei der Ubersetzung des französischen Originaltexts der Haager Landkriegsordnung ins Deutsche in Art. 2 ein „Fehler" unterlaufen war. Denn im Gegensatz zu Art. 1 war für die Volksverteidigung im unbesetzten Gebiet im Französischen nur von der „Respektierung" der Gesetze und Gebräuche des Krieges die Rede und nicht von ihrer „Beobachtung". Vgl. ebd., S. 224. 284 Siehe u.a.: Karma Nabusi, Volksaufgebot, in: Roy Gutmann, David Rieff (Hrsg), Kriegsverbrechen. Was jeder wissen sollte, Stuttgart, München 1999, S. 466. 285 Vgl. Hauser, Der Kampf Irregulärer, S. 40. Genau besehen fallen in diesem Akt Kriegsgefangenschaft und Zivilinternierung zusammen. 286 Basic Field Manual, S. 4.

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Die rechtliche Problematik des Art. 2 HLKO erschöpft sich jedoch nicht nur in einer mangelhaften Differenzierungsmöglichkeit zwischen Kombattanten und „reinen" Zivilisten287 im Falle der Gefangennahme. Die Modernisierung der Kriegführung wirbelte starre Frontlinien ebenso auf, wie althergebrachte militärische und juristische Begriffe und Vorstellungen. Man denke beispielsweise an selbständig operierende Panzerverbände, welche fernab vom militärischen Hauptkontingent an Städten und Ortschaften vorbei auf ihren Bestimmungsort zupreschen. Können die Bewohner jener unberührt gebliebenen Regionen sich nach wie vor auf Art. 2 HLKO berufen? Dagegen läßt der Einsatz von Fallschirmjägern weit im Hinterland des Feindes die „Reichweite" des Rechtes der Volkserhebung deutlich werden 288 . Schwierig gestaltet sich hier allerdings die rechtliche Scheidung zwischen Lynchjustiz bzw. Meuchelmord und legaler Verteidigungsakte der Zivilbevölkerung. Auch das Zusammenwirken von regulären Streitkräften und Zivilisten bei der Verteidigung von Städten beschreibt eine weitere rechtliche Grauzone. Eine Klärung bzw. Lösung der angesprochenen Fälle kann letztlich nur auf der Grundlage der Martens 'sehen Klausel und der internationalen Rechtsgrundsätze erfolgen. Gerade hier zeigt sich einmal mehr, daß die Rechtsinhalte der Haager Landkriegsordnung weit über den eigentlichen Vertragstext hinausweisen.

Kämpfende Einzelpersonen oder Angehörige irregulärer Formationen, die nicht die Bedingungen aus Art. 1 und 2 der Haager Landkriegsordnung erfüllten, machten sich der illegalen Kriegsteilnahme schuldig und galten gemeinhin als Freischärler. In aller Regel wurden diese von den regulären Streitkräften mit dem Tode „bestraft". An diesem Kriegsbrauch änderte auch die Haager Landkriegsordnung nichts. Genauer gesagt, es fehlten im gesamten Kriegsrecht positive Bestimmungen für die Behandlung von Freischärlern289. Die gängige Kriegspraxis in dieser Frage belegte beispiels287 Nicht selten wird in der juristischen wie in der historischen Literatur der Zivilist auch als „Nichtkombattant" bezeichnet. Als Beispiele seien genannt: Kazimierz Leszczynski (Hrsg.), Fall 9. Das Urteil im SS-Einsatzgruppenprozeß. Gefallt am 10. April 1948 in Nürnberg vom Militärgerichtshof II der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin (Ost) 1963, S. 84; Steffen Meyer, Der „zivile Feind": Die deutsche Wehrmacht und ihr Umgang mit den Nichtkombattanten während des Ostfeldzuges von September 1939 bis Dezember 1941, in: Jahrbuch der Jurisüschen Zeitgeschichte 1 (1999/2000), S. 3-35. Doch diese geübte Praxis läuft dem grundlegenden Gedanken der Trennung der Rechtssphären des privaten Individuums und des Militärischen zuwider, wie sie besonders in Art. 3 H L K O begründet wird. Denn wie bereits erläutert, zählte dieser Artikel zur bewaffneten Macht eines Staates bzw. einer Kriegspartei den Kombattanten und den Nichtkombattanten. Würde der Nichtkombattant rechtlich auch den Zivilisten begreifen, so wäre jegliche Unterscheidung aufgehoben. Den rechtlichen Widersinn einer Zusammenlegung beider Begriffe macht folgendes Zitat aus Steffen Meyers Aufsatz deutlich: „Will die Zivilbevölkerung ihren Nichtkombattanten-Schutz behalten, darf sie nicht an Kampfhandlungen teilnehmen. Die Bestimmungen des Kriegsrechts gelten zwar für den Zivilisten und den Kombattanten, ungeschützt bleibt aber der kämpfende Nichtkombattant". Siehe: ebd., S. 10. 288 Vgl Schmid, Die völkerrechtliche Stellung, S. 136. 289 Vgl Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen (Hrsg.), Geisel- und Partisanentötungen, S. 74. Die Behauptung Krisztián Ungvárys „laut Haager Landkriegsordnung" sei „die Exekuti-

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weise die nordamerikanische Felddienstordnung aus dem Jahre 1863, welche von Professor Francis Lieber, einem aus Deutschland stammenden Juristen, im Auftrag Abraham Lincolns ausgearbeitet worden war 290 : „War rebels are persons within an occupied territory who rise in arms against the occupying or conquering army, or against the authorities established by the same. If captured, they may [!] suffer death, whether they rise singly, in small or large bands, and whether called upon to do so by their own, but expelled, government or not. They are not prisoners of war; (,..)."291 Die Exekution von Freischärlern war in allen größeren Kriegen üblich, so u.a. im amerikanisch-mexikanischen Krieg 1847/48 oder im mexikanischen Bürgerkrieg im Jahre 1865, in dem Kaiser Maximilian von Österreich per Dekret vom 3. Oktober die kriegsgerichtliche und summarische Hinrichtung von gefangenen „Rebellen" anordnen ließ292. Auch im deutsch-französischen Krieg 1870/71 wurde in diesem Sinne verfahren. So konnte beispielsweise die Einwohnerschaft von Metz von den frisch angebrachten Maueranschlägen die Warnung entnehmen: „The Commander-in-Chief of the 2nd German Army again makes it known that each individual who does not belong to the regular French Army or Garde Mobile found bearing arms, under the name of Franctireur or other designation, will be considered as a traitor and hanged or shot at he place where he is taken without further consideration." 293 Jedoch war die Haltung gegenüber Freischärlern in der preußischen Armee unterschiedlich. Andernorts drohten nämlich die Oberbefehlshaber illegalen Kriegsteilnehmern an: „Sie werden durch ein Kriegsgericht abgeurteilt und, wenn sie sich nicht einer Handlung schuldig gemacht haben, die eine strengere Strafe nach sich zieht, zu 10 Jahr Strafarbeit verurteilt und bis nach Verbüssung dieser Strafe in Deutschland deterniert werden." 294 Ohne Zweifel läßt diese zweite Proklamation eine differenziertere Sichtweise gegenüber illegalen Kriegsakten erkennen. Die bloße Zugehörigkeit zu einem illegalen Kampfverband mußte offenbar nicht notwendig die „Todesstrafe" nach sich ziehen. Denn die Exekution von Freischärlern war zwar ein häufig anzutreffender Kriegsbrauch, einem Rechtszwang unterlag sie jedoch nicht. So wurde im zweiten Fall die Art der Behandlung von Freischärlern von deren „Straftaten" abhängig gemacht. Entgegen dem ersten Beispiel war darüber hinaus die Feststellung der illegalen Kriegsteilnahme und die Definition der jeweils verübten Rechtsbrüche von einem Kriegsgericht vorzunehmen. Allein hieraus wird ersichtlich, daß von einheitlichen Verfahrensweisen gegen Freischärler gemäß dem damaligen Kriegsbrauch nicht gesprochen werden kann. Auch bedarf es der Klärung, ob nach dem Völkerrecht

on derjenigen zulässig, die ihre Waffen nicht offen führen, nicht unter einheitlichem Kommandobefehl stehen, oder keine besonderen Kennzeichen als Kämpfer tragen" ist daher unhaltbar. Ein Recht zur Tötung von Freischärlern gewährt die Haager Landkriegsordnung nicht. Siehe: ders., Echte Bilder — problematische Aussagen. Eine quantitative und qualitative Fotoanalyse der Ausstellung „Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944", in: G W U 50 (1999), S. 587 Anm. 10. 290 Siehe dazu: Büß, Kombattantenstatus, S. 1 3 5 - 1 3 8 . 291 Instructions for the Government of Armies of the United States in the Field, in: Strupp, Landkriegsrecht, S. 179 (Anhang). 292 Vgl Schmid, Die völkerrechtliche Stellung, S. 32. 293 Zitiert aus: Nurick, Barrett, Legality, S. 574. 294 Zitiert aus: Meurer, Kriegsrecht, S. 79; siehe auch: Nurick, Barrett, Legality, S. 574.

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Freischärler vor ein Kriegsgericht gestellt werden mußten, wie es besonders die französische Anklage im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß gefordert hatte 295 . Diese Frage war bereits im 19. Jahrhundert diskutiert worden, so z.B. auf der Brüsseler Konferenz im Jahre 1874. Dort sah der russische Vertragsentwurf in § 46 vor, daß „Aufständische" im militärisch besetzten Gebiet des Kriegsgefangenenrechts entkleidet der Justiz überantwortet werden sollten. Diese Bestimmung war aber von den Vertretern des uneingeschränkten Partisanenkrieges abgelehnt worden, wodurch eine endgültige Festlegung in diesem bedeutsamen Punkt zunichte gemacht worden war 296 . Auch in Den Haag blieb eine einvernehmliche Lösung in dieser Frage aus. Der Kriegspraxis folgend ließ sich aber zumindest die Tendenz ablesen, Freischärler vor ein Militärgericht zu stellen. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist das amerikanische Verfahren gegen den Guerilla-Führer Eroberto Gumban im Jahre 1900 auf den Philippinen. Dieser hatte 1899/1900 mit ca. 30 Mann den amerikanischen Streitkräften Widerstand geleistet ohne die Auflagen des Art. 1 HLKO erfüllt zu haben. Nach mehreren Monaten des Kampfes mußte Gumban schließlich sich den Amerikanern infolge von Munitions- und Nahrungsmangel ergeben. In seinem Urteil sah das amerikanische Militärgericht Gumban des Mordes und der Verletzung folgender Kriegsrechtssätze als überführt an: 1. „Commanding an irregular company of insurrecto soldiers for the purpose of attacking the American garnison"; 2. „leading the band not clothed in a distinctive uniform" und 3. „commanding an irregular company of insurgents not being part or parcel of the organized hostile army, and not sharing continuously in regular warfare, but who did intermittendy return to their homes and avocations." 297 Das Gericht verurteilte daher Gumban zum Tode durch den Strang. Auch in anderen Fällen ließen die US-Streitkräfte auf den Philippinen Freischärler vor ein Militärgericht stellen. In diesen Prozessen, die sich bis in das Jahr 1901 erstreckten, wurden die Todesurteile zumeist wègen Mord, tätlichen Angriff mit Tötungsabsicht, Brandstiftung, Raub und Plünderung oder Entfuhrung verhängt 298 . Jedoch waren in der amerikanischen Armee Gerichtsverfahren gegen Freischärler bzw. der Freischärlerei Verdächtige nicht obligatorisch. Dies geht unzweideutig aus dem im Jahre 1940 vom War Department herausgegebenen Kriegshandbuch für die US-Streitkräfte hervor, das in § 13 seinen Soldaten vorschrieb: „The determination of the status of captured troops is to be left to higher military authority or [!] to military tribunals." 299 Summarische Erschießungen an Ort und Stelle wurden somit als völkerrechtswidrig erachtet: „Summary Executions are no longer contemplated under the laws of war. The officer's duty is to hold the persons of those captured and leave the question of their being regulars, irregulars, deserts, etc., to the determination of competent authority." 300 Illegale Kriegsakte, begangen von Zivilisten oder Soldaten, waren allgemein nach angelsächsischem Rechtsverständnis als Verletzungen des Kriegsrechts zu betrach2M Vgl. IMT, Bd. V, S. 330; IMT, Bd. VI, S. 427. 296 Vgl. Schmid, Die völkerrechtliche Stellung, S. 37. 297 Zitiert aus: Nurick, Barrett, Legality, S. 577. 29» Vgl. ebd., S. 577f. 299 Basic Field Manual, S. 5. 300 Basic Field Manual, S. 5.

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ten301. Der Freischärler war danach ein Kriegsverbrecher. Bereits im Jahre 1912 hatte in Großbritannien Lassa Oppenheim den Versuch unternommen, die illegale Kriegsteilnahme unter die internationalen Straftatbestände des „Kriegsverbrechens" zu subsumieren, welche er in vier Kategorien unterschieden hatte: „Violations of recognised rules regarding warfare committed by members of armed forces belong to the first kind; all hostilities in arms committed by individuals who are not members of the enemy armed forces constitue the second kind; espionage and war treason belong to the third; and all marauding acts to the fourth kind." 302 Gleichwohl Oppenheims Werk zum Teil fast wortwörtlich Eingang in das vom britischen War Office veröffentlichte „Manual of Military Law" von 1914 gefunden hatte, so mußte gegen seine vier Kategorien eingewendet werden, daß sie wenig präzise definiert und daher auch kaum operationabel waren. Zu Recht merkt hierzu Schwengler an, daß Oppenheims Differenzierung „Täter und Taten umfaßt, die nahezu nichts gemeinsam haben." 303 Zudem war die zweite Kategorie äußerst unglücklich formuliert, bedeutete sie doch eine erhebliche Reduzierung der Rechtsinhalte in Art. 1 und 2 der Haager Landkriegsordnung. In modifizierter Form folgte schließlich das amerikanische Militärhandbuch von 1940 Oppenheims kategorischer Erfassung möglicher Kriegsverbrechen 304 . Die Rechtsgrundlage für die strafrechtliche Ahndung illegaler ziviler Kriegsakte, die durch keinen positiven Rechtssatz bestimmt gewesen war, wurde aus der Martens'sehen Klausel abgeleitet, da diese sowohl die Bevölkerung als auch die Kriegführenden unter den „Schutz" aber auch unter die „Herrschaft" des Völkerrechts stellte305. Die Verfolgung von Straftaten der eigenen Soldaten durch die betreffenden Staaten ergab sich ohnehin durch Art. 1 des IV. Haager Abkommens. Die Richtschnur für Verfahren gegen illegale Zivilpersonen sollte ausschließlich das Völkerrecht bilden: „While the authority of Miltary Commissions comes from the national sovereignity, their law in dealing with the enemy persons comes from international law."306 Über das zu verhängende Strafmaß bei illegalen Widerstandsakten der Zivilbevölkerung gab Oppenheim der Regel nach die Todesstrafe an: „All war crimes may be [!] punished with death, (,..)."307 Ob aber das Verb „punish" die Notwendigkeit von Gerichtsverfahren miteinschloß, beließ Oppenheim im Ungewissen. Auch das amerikanische Field Manual befürwortete gemeinhin die Todesstrafe, machte allerdings Ausnahmen geltend: „All war crimes are subject to the death penalty, although a lesser penalty may be imposed." 308 Nach amerikanischer Auffassung besaß der Kriegsverbrecher keinen Anspruch auf ein Gerichtsverfahren, doch mußte sein Mi Vgl. Quincy Wright, War Criminals, in: AJIL 39 (1945), S. 274. 302 Lassa Oppenheim, International Law. A Treatise, Vol. II.: War and Neutrality, London, New York, Bombay, Calcutta 1912, S. 310. 303 Schwengler, Völkerrecht, S. 49. Mt Vgl. Basic Field Manual, S. 86f. 305 Vgl. Wright, War Criminals, S. 277. Siehe auch: RGBl. 1910, S. 109. Unter heutigen Gesichtspunkten siehe: Otto Triffterer, Bestandsaufnahme zum Völkerstrafrecht, in: Gerd Hankel, Gerhard Stuby (Hrsg.), Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen. Zum Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen, Hamburg 1995, S. 177. 306 Wright, War Criminals, S. 277. 307 Oppenheim, International Law (1912), S. 316. 308 Basic Field Manual, S. 89.

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„Fall" von einer kompetenten Autorität geprüft werden: „No individual should be punished for an offense against the law of war unless pursuant to a sentence imposed after a trial and conviction by a military court or commission or some other tribunal of competent jurisdiction designated by the belligerent." 309 In Deutschland mutierte die rechtliche Auseinandersetzung über die Behandlung von illegalen Kriegsteilnehmern im Operations- und Besatzungsgebiet nach dem Krieg 1870/71 zu einem wahrhaft komplexen und gar widersprüchlichen Konglomerat von Gesetzen, Erlassen und Verordnungen. Primär setzte sich in der deutschen Völkerrechtsliteratur gleichfalls die Auffassung durch, gegen Freischärler gegebenenfalls Gerichtsverfahren abzuhalten. So schrieb beispielsweise Karl Endres 1909, daß gegen „Landeseinwohner, die ohne die Voraussetzungen der Art. 1 und 2 Feindseligkeiten gegen die feindliche Armee begehen", unverzüglich eine „feldkriegsgerichtliche" Ahndung einzuleiten sei310. Auch Christian Meurer stellte 1907 rückblickend für die Praxis vergangener Kriege fest, daß im Besatzungsgebiet Gerichtsverfahren gegen Freischärler, zwar nicht verbindlich, so doch großenteils üblich waren: „Den Militärgerichten und dem Kriegsrecht pflegten bis jetzt insbesondere unterworfen zu werden: 1. Alle Angriffe, Verletzungen, Tötungen (...) von Soldaten des Besatzungsheeres. 2. Alle Angriffe auf Kriegsmittel des Besatzungsheeres. 3. Jede Zerstörung von Verkehrseinrichtungen (...). 4. Jeder Kriegsverrat." 311 Sogar während des Ersten Weltkrieges wiesen mitunter Lehrmaterialien für Soldaten und Offiziere auf das Erfordernis militärgerichtlicher Verfahren gegen Freischärler hin. Beispielsweise konnte aus einem Schulungsheft, das der Feldwebel F. Eichler im Jahre 1917 für Mannschaften und Unteroffiziere verfaßt hatte, folgendes entnommen werden: „Außer der uniformierten bewaffneten Macht des Feindes sind als Kriegführende auch die sogenannten Freischaren zu betrachten. Nur solche haben ein Recht auf Behandlung als Kriegsgefangene, während alle anderen dem Feinde mit Gewalt entgegentretenden Personen, sogenannte Franktireurs, abgesehen von dem Falle der Volkserhebung, nach kriegsgerichtlichen Verfahren erschossen werden dürfen." 312 Nun signalisierte allerdings Meurers Verwendung des Zeitadverbs „bis jetzt", daß in der deutschen Rechtsauffassung ein Wandel eingetreten war. Dieser muß vor dem Hintergrund der deutschen Reichsgründung im Jahre 1871 sowie der Ergebnisse der ersten Haager Konferenz gesehen werden. Gerichtsverfahren gegen illegale Widerstandsakte der Zivilbevölkerung wurden nämlich seit 1871 nicht mehr nach „Völkerrecht" bzw. nach „Kriegsbrauch" vorgenommen, sondern nach deutschem Recht. Grundlage für derartige Prozesse bildeten somit zunächst das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich (RStGB) vom 15. Mai 1871 und das Militärstrafgesetzbuch (MStGB) vom 20. Juni 1872. Formal galt diese Regelung in Deutschland bis 1945. Doch mit Basic Field Manual, S. 88. Vgl. Endres, Grundsätze, S. 18. 311 Meurer, Kriegsrecht, S. 239. Die Auflistung von Straftaten feindlicher Einwohner hatte Meurer nahezu wortgleich aus dem „Generalstabsheft" übernommen. Siehe: Großer Generalstab (Hrsg.), Kriegsbrauch, S. 50. 3 1 2 F. Eichler, Kriegsgesetze für den Landkrieg. Zum Unterricht für Unteroffiziere und Mannschaften zwecks Einführung in die wichtigsten Bestimmungen der Haager und Genfer Abkommen, sowie des deutschen Militärstrafgesetzbuchs, Berlin 1917, S. lOf. 3,19

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dieser entscheidenden Weichenstellung taten sich Rechtsprobleme und Widersprüche auf, die erstmals im Ersten Weltkrieg offenbar werden sollten. Generell berührten sie die damals ungelöst gebliebene Kontroverse über das Verhältnis von Landesrecht und Völkerrecht. Denn eine Rechtsprechung im Sinne des internationalen Kriegsrechts erfordert allgemein eine Angleichung des nationalen Rechts an die jeweiligen völkerrechtlichen Bestimmungen. Meurers überschwengliches Lob an den deutschen Gesetzgeber muß daher mit äußerster Zurückhaltung aufgenommen werden: „Deutschland hat (...) jetzt einen anderen Weg eingeschlagen und im voraus durch einen sorgfaltigen Ausbau seiner Militärstrafgesetzgebung die ganze Frage auf eine unangreifbare Höhe emporgehoben." 313 Die Rechtsquelle für Militärgerichtsverfahren gegen Freischärler wurde daher nicht aus etwaigen Völkerrechtssätzen abgeleitet, sondern aus deutschen Rechtsvorschriften. § 3 des Einführungsgesetzes zum Militärstrafgesetzbuch bestimmte entsprechend: „Eine Bestrafung in Gemässheit des MStGB kann nur auf Grund eines gerichtlichen Erkenntnisses erfolgen." 314 Die Anwendung des deutschen materiellen Strafrechts gegen „feindliche" Zivilisten legte schließlich § 161 MStGB fest. Dieser unterwarf sämtliche Widerstandsakte der Zivilbevölkerung im Besatzungsgebiet dem deutschen Strafgesetzbuch und stellte dabei ausländische und deutsche Täter gleich. Jürgen Thomas hat nun diesen § 161 MStGB als völkerrechtswidrig eingestuft, vor allem auf Grund seiner Gleichstellung von ausländischen und deutschen Straftätern 315 . Hierbei muß allerdings beachtet werden, daß infolge des Fehlens eines internationalen Strafrechts und Strafprozeßrechts quasi als Notlösung der Rückgriff auf nationales Recht erlaubt sein muß 316 . So haben denn auch die französischen Militärgerichte im besetzten Teil Deutschlands nach 1918 gegenüber deutschen Zivilisten das französische Strafrecht bzw. Militärstrafrecht in Anschlag gebracht 317 . Ebenso fanden die französischen Kriegsverbrecherprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg gemäß der Ordonanz vom 28. August 1944 auf der Grundlage des französischen Strafrechts statt. Nach Art. 1 trat das französische Recht nur dann zurück, wenn sich klarer Weise ergab, daß die Tat, so wie sie begangen wurde, vom Völkerrecht gebilligt worden war 318 . Folglich steht nicht allein der § 161 MStGB zur Disposition, sondern auch die einzelnen deutschen Strafnormen und deren konkrete Handhabung. Eine strafrechtliche GleichstelMeurer, Kriegsrecht, S. 240. Zitiert aus: ebd., S. 240. 315 Vgl. Thomas, Wehrmachtjustiz, S. 199. 316 Siehe dazu: Schlochauer, Internationale Gerichtsbarkeit, S. 60: „Die Rechtsprechung auf den Gebieten des Völkerstrafrechts wird bisher ebenfalls nur von innerstaatlichen Gerichten ausgeübt. Sie sind - in der Regel nach den Vorschriften nationaler Gesetzbücher (...) — zuständig für die Aburteilung von Delikten, für deren Begehung auf Grund allgemeinen Völkerrechts (...) eine Strafpflicht der Staaten begründe«: ist, in deren Dienst der Täter steht oder in deren Hand er fällt." 317 Vgl. Französische Militärjustiz und Militärpolizei im besetzten Gebiet. Nach amtlichen Quellen bearbeitet, in: Süddeutsche Monatshefte 23 (1925), S. 191-210. Siehe auch: Ernst Fraenkel, Military Occupation and the Rule of Law. Occupation Government in the Rhineland 1918-1923, London, New York, Toronto 1944, S. 22: The military tribunals enforced the criminal law of their respective nations. Questions of procedure and evidence were regulated by the codes of military procedure and the general legal principles of the particular nation." 318 Vgl Pierre Boissier, Völkerrecht und Militärbefehl. Ein Beitrag zur Frage der Verhütung und Bestrafung von Kriegsverbrechen, Stuttgart 1953, S. 24f. 313 314

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lung von Deutschen und Zivilisten im Besatzungsgebiet kann daher in all jenen Fällen als unbedenklich gelten, in denen die völkerrechtlichen Straftatbestände adäquat durch nationales Recht ersetzt worden sind bzw. das nationale Strafrecht den völkerrechtlichen Anforderungen nicht entgegensteht. Wie schon im letzten Kapitel ersichtlich wurde, sind Fragen des Widerstandsrechts und des Besatzungsrechts eng miteinander verwoben. Der deutsche Gesetzgeber ordnete denn auch in § 161 MStGB für das Besatzungsgebiet Militärgerichtsverfahren bei allen verübten Straftaten der okkupierten Zivilbevölkerung an. Durch die Anwendung des nationalen Rechts bestand nun aber generell, und damit nicht nur in Deutschland, die Gefahr, daß über die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung hinweg, das eigene Staatsverständnis und nationale Gesellschaftsbilder „ungefiltert" in die Besatzungspolitik miteinflossen. Besonders das durch „Blut und Eisen" geschmiedete Deutsche Reich, dessen Bürger- und Menschenrechte noch ganz im Zeichen der Staatsräson gefaßt wurden, wie allein Sozialistengesetze und Kirchenkampf belegen sollten, konnte Gefahr laufen, völkerrechtlichen Anforderungen, vor allem auf dem Gebiet des Besatzungsrechts, zuwider zu handeln. Damit wurden zugleich Fragen der Rechtssicherheit bzw. Rechtsstaatlichkeit berührt, dies um so mehr, als vor dem Hintergrund einer allmählichen Pluralisierung der Gesellschaft seit der Jahrhundertwende weite Teile der deutsche Richterschaft zunehmend Tendenzen erkennen ließen, in gesellschaftlichen und politischen Bereichen außergesetzliche Positionen zu beziehen319. Nach deutschem Recht firmierten Strafverfahren gegen zivile Widerstandsakte im Besatzungsgebiet nach 1871 gemäß der §§ 56-61 und der §§ 160-161 MStGB sowie der §§ 87-92 RStGB unter dem Begriff des „Kriegsverrats" 320 . Was darunter zu verstehen war, ließ sich beispielsweise aus Karl Strupps Lexikon entnehmen, in dem Mettgenberg nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges folgende Bilanz zog: „Kriegsverrat ist der unter der Herrschaft des Kriegsrechts begangene Landesverrat (...). Wer immer also, ohne zu den feindlichen Truppen zu gehören, (...) der Kriegsmacht des Deutschen Reichs Nachteile zufügt oder einer feindlichen Macht Unterstützung gewährt, wird als Kriegsverräter bestraft. Diese Bestimmung entspricht der auch von anderen Staaten aufgestellten Regel, daß jede absichtliche Schädigung, Täuschung oder Gefährdung der kriegführenden Macht durch Personen, die nicht selbst als kriegführende Feinde anerkannt werden müssen, Kriegsverrat ist." 321 Im einzelnen fielen unter diesen diffusen Begriff nicht nur Fälle der Freischärlerei und Spionage dem eigentlichen Sinn nach, sondern auch Akte wie die „Zuführung von Mannschaften an den Feind", Sabotagehandlungen, wie die Inbrandsetzung von Lebensmittellagern, oder gar der Aufruf zum Streik in kriegswichtigen Betrieben und die Stillegung von Maschinenanlagen322.

Vgl. Diemut Majer, Grundlagen des nationalsozialistischen Rechtssystems. Führerprinzip Sonderrecht — Einheitspartei, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz, 1987, S. 55; Friedrich Karl Kühler, Der deutsche Richter und das demokratische Gesetz. Versuch einer Deutung aus richterlichen Selbstzeugnissen, in: Archiv für die civilistische Praxis 162 (1963), S. 104—128. 320 Vgl. Endres, Grundsätze, S. 18. 321 Wolfgang Mettgenberg, Kriegsverrat, in: Karl Strupp (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Bd. 1, Berlin, Leipzig 1924, S. 777. 322 Vgl. ebd., S. 777. 319

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Die Anwendung des deutschen Strafrechts gegen illegale Widerstandsakte der Zivilbevölkerung gebot die Durchführung gerichtlicher Verfahren und damit eine gesetzliche Grundlage exakt definierter Straftatbestände in Abstimmung mit dem Völkerrecht. 323 Aber eine präzise Bestimmung des Begriffs Freischärler, die für eine korrekte Urteilsfindung notwendig gewesen wäre, unterblieb. Denn der illegale Partisanenkrieg umfaßt gemeinhin nicht nur einzelne Fälle von Sabotageakten, wie sie in § 90 RStGB und § 58 MStGB fixiert worden waren, sondern vor allem die direkte Kampfteilnahme im Besatzungsgebiet. Die einzelnen Straftatbestände des Landesverrats konnten deshalb kaum die Gewähr bieten, die verschiedenen Formen illegaler Akte von Zivilisten adäquat zu erfassen 324 . Eine rechtliche Verortung der übrigen illegalen Widerstandshandlungen sowie ihre Abgrenzung vom politischen Widerstand war sträflichst verabsäumt worden. Statt dessen erwuchsen nun aus dem weit auslegbaren Begriff des Kriegsverrats, der sich aus mehreren Paragraphen des Militär- und Zivilstrafgesetzbuches zusammensetzte ohne diesen zu spezifizieren oder inhaltlich einzugrenzen, zusätzliche Rechtsprobleme. So blieb beispielsweise von Anfang an das Verhältnis der beiden Gesetzbücher zueinander unklar. Vor allem mangelte es an der erforderlichen Abstimmung des Landesverrats als landesrechtlichen Straftatbestand mit dem des militärischen „Landesverrats im Felde". Auch fehlte eine klärende Regelung über das zu verhängende Strafmaß bei Zivilisten im Besatzungsgebiet, da sich hierin § 90 RStGB und § 58 MStGB widersprachen. Darüber hinaus sorgte der § 91 Siehe § 2 RStGB (nach dem Stande vom 26. Februar 1876), in RGBl. 1876, S. 40: „Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde." 324 Die Bestimmungen des § 90 RStGB und ξ 58 MStGB waren ursprünglich nur für deutsche Staatsbürger bzw. deutsche Heeresangehörige erlassen worden. Durch § 161 MStGB galten sie nun auch für Ausländer im Besatzungsgebiet. In seinen wichtigsten, zur Erfassung des Partisanenkrieges annähernd tauglichen Ausführungen lautete § 90 RStGB: „Lebenslängliche Zuchthausstrafe trifft einen Deutschen, welcher vorsätzlich während eines gegen das Deutsche Reich ausgebrochenen Krieges 1) Festungen, Pässe, besetzte Plätze oder andere Verteidigungsposten, ingleichen Deutsche oder verbündete Truppen oder einzelne Offiziere oder Soldaten in feindliche Gewalt bringt; 2) Festungswerke, Schiffe oder andere Fahrzeuge der Kriegsmarine, Kassen, Zeughäuser, Magazine oder andere Vorräthe von Waffen, Schießbedarf oder anderen Kriegsbedürfnissen in feindliche Gewalt bringt oder dieselben, sowie Brücken und Eisenbahnen zum Vortheile des Feindes zerstört oder unbrauchbar macht; 3) dem Feinde Mannschaften zuführt (...); 5) dem Feinde als Spion dient (...). Siehe: RGBl. 1876, S. 57. Die §§ 57, 58 MStGB legten darüber hinaus folgendes fest: „§ 57. Wer im Felde einen Landesverrat begeht, wird wegen Kriegsverrats mit Zuchthaus nicht unter zehn (10) Jahren oder mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft. § 58. Wegen Kriegsverrats (§ 57) wird mit dem Tode bestraft, wer mit dem Vorsatz, einer feindlichen Macht Vorschub zu leisten oder den deutschen oder verbündeten Truppen Nachteil zuzufügen 1) eine der in § 90 des Deutschen Strafgesetzbuches bezeichneten strafbaren Handlungen begeht, 2) Wege oder Telegraphenanstalten zerstört oder unbrauchbar macht, (...) 5) dem Feinde als Wegweiser zu einer militärischen Unternehmung gegen deutsche oder verbündete Truppen dient (...); (...) 11) feindliche Kriegsgefangene freiläßt (...). Zitiert aus: Vanselow, Völkerrecht, S. 229. 323

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Abs. 1 RStGB für zusätzliche Verwirrung durch seinen Verweis auf den Kriegsbrauch: „Gegen Ausländer ist wegen der in den §§ 87, 89, 90 bezeichneten Handlungen nach dem Kriegsbrauche zu verfahren." 325 Selbst Meurer mußte hierüber eingestehen: „Die Sache ist übrigens ziemlich verwickelt." 326 Hob nun der § 161 MStGB die Bestimmung in § 91 wieder auf? Für Meurer war die Rechtsproblematik klar entschieden: „Damit ist der Kriegsbrauch 327 aber jetzt aus dem deutschen Strafrecht verschwunden. Denn, wie ich gezeigt habe, setzt für Landesverratshandlungen der Ausländer auf dem Kriegsschauplatz und ihre strafbaren Handlungen im Occupationsgebiet jetzt das MStGB § 160, 161 mit gesetzlichen Strafen ein, während das Verfahren nach dem Kriegsbrauch nur als eine Gewaltmassregel angesehen werden konnte, die auch strafrechtlich um deswillen nicht als Strafe erschien, weil nach StGB § 2 eine Strafe gesetzlich bestimmt sein muß." 328 Was Meurer aber als ein Fortschritt erschien, mußte sich geradezu als ein Rückschritt erweisen, da nämlich Verfahren wegen Landesverrat gegen Zivilisten im militärisch besetztem Gebiet nach der Haager Landkriegsordnung völkerrechtswidrig sind. Wie Meurer selbst richtig betonte, setzt der Straftatbestand des Landesverrats ein Treueverhältnis der Zivilbevölkerung gegenüber ihrem Staat voraus 329 , welches gemäß Art. 45 HLKO zwischen Besetzten und Besatzungsmacht überhaupt nicht gegeben war: „Es ist untersagt, die Bevölkerung eines besetzten Gebiets zu zwingen, der feindlichen Macht den Treueid zu leisten." 330 Wider besseres Wissen zollte Meurer der Staatsräson Tribut und gab dem Staatsrecht gegenüber dem Völkerrecht den Vorzug 331 . Auch in den zwanziger Jahren änderte sich an dieser grundlegenden Rechtsauffassung nichts, wie bereits die Erläuterungen Mettgenbergs zeigten. Ohne Umschweife fand sie ihren Niederschlag in den kommentierten Strafgesetzbüchern, an denen 325 R G B l . 1876, S. 57. 3 2 6 Meurer, Kriegsrecht, S. 180. 3 2 7 Nach seiner eigenen Definition verstand Meurer unter Kriegsbrauch die bloße „Kriegsübung" deren es im Gegensatz zum Gewohnheitsrecht noch an ausgebildeten Rechtsvorstellungen mangelt. Zum großen Teil wurde im deutschen Schrifttum der Kriegsbrauch als „Abwehrmaßregel" begriffen, die keine differenzierte Normenbildung zuließ und damit nichts weiter als die sofortige Exekution aufgegriffener Personen bedeutete. Meurer widerspricht sich daher in dem folgenden Zitat selbst, denn in seiner Rückschau auf vergangene Kriege wies er auf Militärgerichtsverfahren bzw. auf das Kriegsrecht bei illegalen Widerstandsakten durch die Zivilbevölkerung hin. Wie auch immer nun der Gesetzgeber in § 91 R S t G B den Kriegsbrauch vorstellte, feststeht, daß Meurer dem nationalen Recht Priorität verleiht; das Völkerrecht droht aus dem Blickwinkel zu verschwinden. 3 2 8 Meurer, Kriegsrecht, S. 185. „Der Landesverrat erschien in der älteren Auffassung als Bruch des persönlichen Treueverhältnisses und war daher lange auf die Untertanen (...) beschränkt [!]. Das R S t G B hat aber die Ausländer schärfer herangezogen." Siehe: ebd., S. 180. 3 3 0 RGBl. 1910, S. 147. Siehe auch: Thomas, Wehrmachtjustiz, S. 198. 331 Unter Bezugnahme auf Oppenheim/Lauterpacht schreibt Schmid über die deutsche Schöpfung des Kriegsverrats: „Den darunter verstandenen Handlungen von Privaten gegenüber dem Feind im besetzten Gebiet und anderswo fehlt es am verräterischen Element, da zwischen dem Deliquenten und dem verletzten Staat keine rechtliche Beziehung besteht. Die Unzulänglichkeiten der Konstruktion unter den Rechtswirkungen der Okkupation werden sich im unbesetzten Gebiet nur noch multiplizieren." Siehe: Schmid, Die völkerrechtliche Stellung, S. 154. 329

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exponierte Juristen wie Professor Ludwig Ebermayer, Oberreichsanwalt am Reichsgericht zu Leipzig, mitgewirkt hatten. In der Ausgabe des Jahres 1929 stand beispielsweise über den „Straftatbestand" des Kriegsverrats zu lesen: „Der militärische Landesverrat wird als Bruch des Treueverhältnisses erachtet, (...). Wird eine der in §§ 86—92 mit Strafe bedrohten Handlungen im Felde begangen, so ist sie Kriegsverrat, § 57 M S t G B , und jeder (In- oder Ausländer), der sie während eines gegen das Deutsche Reich ausgebrochenen Krieges auf dem Kriegsschauplatze begeht, wird nach §§ 5 7 - 5 9 M S t G B bestraft. D e r Entwurf hat die landesverräterischen Handlungen zu Weltverbrechen [!] gemacht." 3 3 2 Dieser ausgeprägte Verratsgedanke in Deutschland resultierte u.a. aus der Gleichstellung von Spionage und Freischärlerei bzw. aus der analogen Anwendung der Spionageregelung auf die Fälle illegaler Widerstandsakte 333 . Nicht selten wurden daher während des Ersten Weltkrieges Partisanen oder Freischärler als „Spione" bezeichnet und behandelt 3 3 4 , was nicht nur eine extensive Auslegung des Spionagebegriffs bedeutete, sondern auch eine völkerrechtlich nicht mehr vertretbare Rechtsargumentation eröffnete. Nur scheinbar erhielt der Straftatbestand des Kriegsverrats seine Bestätigung durch Art. 30 H L K O , der den Kriegsparteien vorschrieb, „auf frischer Tat ertappte Spione nicht ohne vorausgegangenes Urteil" zu bestrafen 3 3 5 . Die Übernahme des nationalen Landesverrats auf die völkerrechtliche E b e n e der Spiona- ge und Freischärlerei etc. wurde gleichsam noch bestärkt. Meurer jubelte daher zu früh, als er feststellte: „Für Deutschland ist die Frage des Art. 30 indes bereits entschieden, und da zeigt es sich, daß das Reichsrecht der Haager Konferenz zuvor- gekommen ist." 3 3 6 Meurer übersah nämlich, daß der ausländische Agent ebenso wie der Freischärler nicht wegen Landesverrat überführt werden kann, da er in keinem Treueverhältnis zum Deutschen Reich steht. Darüber hinaus konstruiert der Art. 30 H L K O keinen Straftatbestand. D e n n die Spionage ist eine völkerrechtlich legale Handlung. Aufgrund seiner Gefährlichkeit aber für den Gegner, autorisiert das Völ- kerrecht die Kriegführenden den bei der Tat ergriffenen Spion ausnahmsweise nicht als Kriegsgefangenen zu behandeln und nach einer gerichtlichen Prüfung zu bestrafen, was in den meisten Fällen die standrechtliche Erschießung zur Folge hatte. E s liegt also keine Strafe wegen eines Verbrechens vor, vielmehr ermöglicht das Gerichtsurteil die Vornahme einer Repressivmaßnahme gegen einen besonders schädlichen Akt 3 3 7 . Eine unnötige Verkomplizierung erfuhr die rechtliche Regelung der Freischärlerei durch die „Kaiserliche Verordnung über das außerordentliche Verfahren gegen Ausländer und die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit gegen Kriegsgefangene", welche nach Abschluß der Haager Konferenz am 28. Dezember 1899 ausgefertigt worden war. Christian Meurer, Karl Endres und andere Autoren konnten von ihr jedoch lange Zeit nichts wissen, da sie erst mit Beginn des Ersten Weltkrieges bekannt gege332 Reichs-Strafgesetzbuch. Mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts, erläutert von Ludwig Ebermayer, Adolf Lobe, Werner Rosenberg, Berlin, Leipzig 1929, S. 377. äw Vgl. H.Dv.g 92., S. 107. 334 Vgl. Hermann Teske, Über die deutsche Kampfführung gegen russische Partisanen, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau 14 (1964), S. 664. 335 Vgl. RGBl. 1910, S. 144. 336 Meurer, Kriegsrecht, S. 187. 337 Vgl. Kunz, Kriegsrecht, S. 68.

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ben wurde. In § 18 hob die Kaiserliche Verordnung nunmehr das Obligatorium eines kriegsgerichtlichen Verfahrens gegen illegale Widerstandsakte für bestimmte Fälle wieder auf und verwies hierzu auf die „Behandlung nach Kriegsbrauch": „Durch vorstehende Bestimmungen wird die Befugnis der kommandierenden Offiziere nicht ausgeschlossen, Ausländer, die im Kriege verräterischer Handlungen gegen die deutschen oder verbündeten Truppen sich schuldig machen, wenn sie auf frischer Tat ertappt werden, ohne vorgängiges gerichtliches Verfahren nach dem bisherigen Kriegsbrauche zu behandeln. Der Täter gilt als auf frischer Tat betroffen, wenn er unter Umständen ergriffen wird, die nicht nur einen Verdacht begründen, sondern den Tatbestand des Verbrechens ohne weiteres klar erkennen lassen." Daneben waren die „höheren Kommandoführer" kraft der ihnen übertragenen Befugnis der „vollziehenden Gewalt" ermächtigt, gegenüber den „feindlichen Untertanen" zur Wahrung der Sicherheit der Truppen „polizeiliche Maßregeln" zu erlassen 338 . Damit war das Rechtschaos perfekt. Nach Walter Schätzel, während des Ersten und Zweiten Weltkrieges als Militärrichter eingesetzt, galt eo ipso im Besatzungsgebiet „dreierlei" Recht: 1. Das deutsche Strafrecht (RStGB und MStGB), 2. der Kriegsbrauch und 3. die Kriegsverordnungen der Befehlshaber 339 . Die Wahl des Rechtsweges stand nach § 4 der Kaiserlichen Verordnung allein dem Befehlshaber in seiner Eigenschaft als Gerichtsherr und Inhaber der Polizeigewalt zu 340 . In der Rechtsfindung und damit in der Strafzumessung konnte dies nun aber unterschiedliche Auswirkungen (für den Angeklagten) haben. Nebst einer mangelhaften Fesdegung der Verfahrensweise in internationalen Strafsachen führte vor allem das ungeklärt gebliebene Verhältnis zwischen Landesrecht und Völkerrecht zu Irritationen und Unsicherheiten in der Rechtspraxis der Militärrichter: „Der Kriegsbrauch ist aber weiter - und das ist äußerst bestritten — materielles Recht, welches Strafnormen enthält, genau wie unsere innerstaatlichen Strafgesetze. Da in der Wissenschaft trotz der langen Dauer des Krieges eine Einigung über diese bedeutende Frage bisher nicht erzielt worden ist, seien hier kurz die Gründe dargelegt, aus denen meiner Ansicht nach unbedingt der Rechtscharakter des Kriegsbrauchs gefolgert werden muß. (..,)."341 Die Kaiserlichen Verordnungen. Ergänzungen und Ausführungsbestimmungen, zusammengestellt beim Gericht des Generalquartiermeisters im Großen Hauptquartier, Berlin 1917, S. 20f. Siehe dazu auch: Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen(Hrsg.), Geisel- und Partisanentötungen , S. 77f. 339 Vg] Walter Schätzel, Strafverfügungen gegen Ausländer im besetzten feindlichen Gebiet, in: Archiv für Militärrrecht 8 (1918), S. 145; ders., Bestrafungen, S. 19. 340 § 4 lautet: „Das außerordentliche Gerichtsverfahren kann in der Regel nur von einem Militärbefehlshaber angeordnet werden, dem die höhere Gerichtsbarkeit zusteht. In erster Linie ist die Zuständigkeit desjenigen Befehlshabers begründet, dessen Untergebener den Beschuldigten ergriffen hat. (...)." Siehe: Die Kaiserlichen Verordnungen, S. 15. Zum Verfahrensrecht gemäß der Kaiserlichen Verordnung siehe auch: (Obetlandesgerichtsrat) Finger, Über das außerordentliche kriegsrechtliche Verfahren gegen Ausländer, in: Archiv für Militärrecht 6 (1915/1916), S. 127-140. 341 Schätzel, Bestrafungen, S. 18. Gleich zu Beginn seines Aufsatzes stellte Schätzel zu dieser Rechtsproblematik umgehend fest: „Wer jedoch eine Zeitlang als Strafrichter im besetzten Gebiet war und dort als gewissenhafter Jurist nach Rechts- und nicht nach Zweckmäßigkeitsgrundsätzen gerichtet und gestraft hat, müßte bald eines besseren belehrt sein. Will man den Grundsatz: nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege, den Eckpfeiler des gesamten Straf338

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Der Begriff „Kriegsbrauch", welcher sowohl im deutschen Strafgesetzbuch als auch in der Kaiserlichen Verordnung verankert worden war, blieb seiner Definition nach unklar und seine Umsetzung ungeregelt: War unter dem Terminus „Verfahren nach Kriegsbrauch" die Anwendung der materiellen Sätze des Völkerrechts intendiert oder nur ein abgekürztes Verfahren bzw. die standrechtliche Erschießung gemeint 342 ? In Fragen illegaler ziviler Widerstandsakte hielt Schätzel selbst im Einklang mit der kaiserlichen Verordnung nur mehr in Zweifelsfállen ein kriegsgerichtliches Verfahren für notwendig: „Kann der Franktireur, der mit rauchender Waffe ergriffen wird, noch ein gerichtliches Verfahren verlangen? (...) Es ist Kriegsbrauch, daß gewisse Handlungen, welche aufs gröbste gegen Treu und Glauben verstoßen, auf der Stelle geahndet werden." 343 Nach welchen Rechtssätzen des Kriegsverrats (RStGB oder MStGB) aber ein der Freischärlerei verdächtiger Zivilist schließlich verurteilt werden sollte, darüber schwieg sich Schätzel aus. Die in Teilen vollzogene Rückkehr zum alten Begriff des Kriegsbrauchs bewirkte letztlich eine zusätzliche Erweiterung der Kompetenzen des Befehlshabers. Die Auslegung und Umsetzung des Völkerrechts unterlag in der Kriegspraxis vielfach allein seiner Verantwortung. Paul Laband sprach die Konsequenzen für die Rechtswirklichkeit im Kriege unmißverständlich aus: „Der Kriegsbrauch geht neben den Gesetzen her; er wurzelt nicht in der Strafgewalt des Staates, sondern in der Kommandogewalt des obersten Kriegsherrn und der mit Ausübung derselben von ihm betrauten Befehlshaber. Die letztere ist im Kriege dem Feinde und der feindlichen Bevölkerung gegenüber weder durch Rechtssätze noch durch den Kriegsbrauch gebunden, sondern ihre Ausübung wird ausschließlich durch das militärische Bedürfnis bestimmt und durch sittliche Pflichten der Humanität begrenzt." 344 Eine solch gefaßte Begrifflichkeit des Kriegsbrauchs ließ die Rechtspraxis in eine gefährliche Nähe zu den Inhalten des Generalstabshefts von 1902 rücken, dessen Vorstellungen in Teilen auch von Meurer als völkerrechtswidrig kritisiert worden waren. Meurers Hohelied auf das „Reichsrecht" war angesichts derartiger Anschauungen zum Einsturz gebracht: „Der Spion oder Verräter braucht nicht erschossen, das Haus, aus welchem heimtückische Angriffe erfolgt sind, braucht nicht zerstört zu werden [!]. Es bedarf andererseits keines gesetzlich geregelten Verfahrens und keines rechtskräftigen Urteils, um den auf frischer Tat ergriffenen Verräter zu erschießen, oder das Haus, aus welchem

rechts, auch im besetzten Gebiet zur Anwendung bringen, so kommt man mit den geltenden staatlichen Bestimmungen vielfach nicht aus." Siehe: ebd., S. 13. Wie bereits dargelegt, verstand Schätzel im Gegensatz zu Christian Meurer unter dem Begriff Kriegsbrauch nicht eine „Übung", sondern nebst Gewohnheitsrecht auch das kodifizierte internationale Recht. 342 Vgl. Schätzel, Bestrafungen, S. 14. 343 Ebd., S. 15. 344 Paul Laband, Die Verwaltung Belgiens während der kriegerischen Besetzung (1916), in: Festgabe für Otto Mayer. Zum siebzigsten Geburtstag dargebracht von Freunden, Verehrern und Schülern, Aalen 1974 (Reprint), S. 14. In völliger Umkehrung der Definition Schätzeis stellte Laband die Verbindlichkeit des „Kriegsbrauchs",unter den er auch die Haager Landkriegsordnung faßte, in Frage. Für ihn war der Kriegsbrauch „kein Inbegriff von Rechtssätzen, keine Rechtsquelle". Gebräuche ließen sich, so Laband, nicht im voraus festlegen. „Gebräuchlich ist das, was tatsächlich geübt wird." Siehe: ebd., S. 13f.

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meuchlings auf die Truppen geschossen worden ist, zu zerstören. Es bedarf vor allem nicht die Feststellung einer Schuld [!]."345 Gleichwohl ließen sich auch moderatere Töne vernehmen, welche nach wie vor Kriegsgerichtsverfahren gegen Freischärler Priorität einräumten. So befürwortete beispielsweise der Justizreferent beim Kommando der Balkanstreitkräfte, Majorauditor Dr. Albin Schager, in seinem Bericht, im allgemeinen die Durchführung von Kriegsgerichtsverfahren und machte anderwärtige Maßnahmen nur von „besonderen Verhältnissen" abhängig: „Verdächtige oder solche Personen, die bei einem Verbrechen wider die Kriegsmacht des Staates betroffen werden [!], werden unbedingt festgenommen, bei einem Kommando verhört und dem nächsten Militärgericht eingeliefert." 340 Die von Schätzet und anderen Autoren vorgebrachte Mischform der Verfahrensweise gegen zivile Widerstandsakte (Exekution nach „Kriegsbrauch" oder Gerichtsverfahren) war im Prinzip nicht zu beanstanden, auch wenn Proteste in der internationalen Öffentlichkeit standrechtliche Erschießungen ohne vorhergehendes Gerichtsurteil als Kriegsverbrechen geißelten. Voraussetzung für eine Hinrichtung auf Befehl war allerdings, daß eine Uberprüfung des Sachverhalts durch einen „kommandierenden Offizier" erfolgt war. Die sofortige Erschießung eines vermeintlichen Freischärlers durch die Truppe war entsprechend nach § 18 der Kaiserlichen Verordnung ausgeschlossen 347 . Damit unterschied sich die deutsche Regelung formal keineswegs von der amerikanischen. Auch das amerikanische Militärhandbuch von 1940 machte die Exekution von Freischärlern lediglich von einer „kompetenten Autorität" abhängig, die sowohl ein Militärgericht als auch ein hochrangiger Offizier sein konnte348. Eine Bestätigung erfuhr diese Regelung schließlich durch die Nürnberger Prozesse. So erklärte der amerikanische Militärgerichtshof im Fall 12 (OKW-Prozeß) hierzu: „Es ist in diesem Verfahren geltend gemacht worden, es gebe keine Regel des Völkerrechts, die vorschreibe, daß Freischärler vor ein Gericht gestellt werden müssen; (...). Es ist tatsächlich zweifelhaft, ob nach dem Völkerrecht ein Gerichtsverfahren erforderlich ist."349

Laband, Verwaltung, S. 13. Albin Schager, Verhältnis der Militärs zu den Zivilbehörden und zur Zivilbevölkerung im Kriege, in: Archiv für Militärrrecht 6 (1915/1916), S. 136. 347 Vgl. Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen (Hrsg.), Geisel und Partisanentötungen, S. 78. 348 Die Exekution der auf „frischer Tat ertappten" Freischärler ohne vorausgehendes Urteil war nach angelsächsischem Rechtsverständnis erlaubt und wurde als „an act of war" begriffen. Die analogen Auffassungen stellen dabei eine völlige Umkehrung des Art. 30 H L K O dar. Den Gedanken des „caught in the act" führte Quincy Wright allerdings in eine Richtung weiter, welche für die deutsche Rechtslehre absolut inakzeptabel gewesen wäre: „Civilians who rise against the enemy in occupied territory may be punished by the occupant at the time, but if their action is successfull in driving the enemy out, they cannot subsequently be punished." Siehe: Wright, War Criminals, S. 274. Zu § 18 der Kaiserlichen Verordnung siehe auch: Hankel, Leipziger Prozesse, S. 232. 349 Fall 12. Das Urteil gegen das Oberkommando der Wehrmacht. Gefallt am 28. Oktober 1948 in Nürnberg vom Militärgerichtshof V der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin (Ost) 1961, S. 98. Siehe auch: Peter Cornelius Mayer-Tasch, Guerillakrieg und Völkerrecht. Essay, Bibliographie und Dokumentation, Baden-Baden 1972, S. 12. 345 346

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Erst die Genfer Abkommen vom 12. August 1949 sollten in Anbetracht der furchtbaren Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges dem Streit über ein völkerrechtliches Gebot kriegsgerichtlicher Verfahren gegen Freischärler ein Ende bereiten. So untersagt Art. 3 Ziff. 1 lit. d des IV. Genfer Abkommens zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten (ZK) grundsätzlich „Verurteilungen und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil eines ordentlich bestellten Gerichts, das die von zivilisierten Völkern als unerläßlich anerkannten Rechtsgarantien bietet." 350 Nur im Kampf darf seither der illegale Kriegsteilnehmer getötet oder verwundet werden. Die Exekution „nach Kriegsbrauch" durch die Truppe gehört damit endgültig der Vergangenheit an. Ausdrücklich schreibt Art. 5 Abs. 3 und 4 ZK den Kriegsparteien vor, daß Personen, die als Spione, Saboteure oder unter dem Verdacht, „eine der Sicherheit der Besatzungsmacht abträgliche Tätigkeit zu betreiben", festgenommen werden, „mit Menschlichkeit behandelt" werden müssen und „im Falle einer gerichtlichen Verfolgung nicht des Anspruchs auf ein gerechtes und ordentliches Verfahren (...) für verlustig erklärt" werden dürfen 351 . Hieraus ergibt sich, daß in Zweifelsfällen im Hinblick auf den Rechtsstatus angetroffener Zivilpersonen — frei nach dem Grundsatz „in dubio pro reo" — das Kriegsgefangenenrecht nicht verwehrt werden darf, solange der Beweis illegaler Handlungen nicht erbracht worden ist352. Die Verhängung der Todesstrafe gegen Freischärler ist aber nach der Genfer Zivilrechtskonvention weiterhin möglich, wenn auch auf bestimmte Handlungen beschränkt 353 . Damit ist genau jene Problematik berührt, welche seit jeher in der deutschen Rechtsanschauung angelegt war: Worin besteht die Rechtswidrigkeit der Freischärlerei? Ist das Nichtanbringen eines Abzeichens an der Zivilkleidung, wie es Art. 1 HLKO vorschreibt, schon allein ein todeswürdiges Verbrechen? Da die Haager Landkriegsordnung keine positive Begriffsbestimmung des illegalen Widerstandes (Freischärlerei, Sabotage etc.) enthält und ebensowenig Grundlagen für ein internationales Strafrecht und Strafprozeßrecht geschaffen worden waren, lag es in der Verantwortung der Konfliktparteien eine an völkerrechtlichen Maßstäben orientierte nationale Strafgesetzgebung zu entwickeln. Die Freischärlerei wurde demnach national definiert. Lediglich per Ausschlußverfahren (was ist ein Freischärler nicht?) ließ sich durch Auflistung illegaler Widerstandsakte ein Annäherungswert schaffen. Die Ergebnisse waren entsprechend unterschiedlich. Sogar in Nürnberg konnte eine einhellige Klärung über den Straftatbestand der Freischärlerei nicht erzielt werden 354 . MO Vgl. BGBl. II. 1954, S. 918. 55! Vgl. ebd., S. 919. 352 Zu den genannten Regeln der IV. Genfer Konvention siehe auch: Steinkamm, Streitkräfte, S. 280ff; Schmid, Die völkerrechtliche Stellung, S. 1 8 2 - 1 8 5 . 353 Siehe Art. 68, Abs. 2. ZK, BGBl. II. 1954, S. 940: Die von der Besatzungsmacht in Kraft gesetzten Strafbestimmungen können die Todesstrafe für geschützte Personen nur dann vorsehen, wenn diese Personen der Spionage, schwerer Sabotageakte an militärischen Einrichtungen der Besatzungsmacht oder vorsätzlicher strafbarer Handlungen schuldig befunden werden, die den Tod einer oder mehrerer Personen verursacht haben [!], (...)." 354 Rupprecht von Keller, Verteidiger Rudolf Lehmanns, Leiter der Wehrmachtrechtsabteilung beim O K W , reichte am 8. November 1948 mit seinen Kollegen ein Gesuch zur Einberufung einer Plenarversammlung der amerikanischen Militärgerichte in Nürnberg ein, da das Urteil im OKW—Prozeß (Fall 12) in sieben grundlegenden Rechtsfragen den vorangegangenen Militärgerichtsurteilen ihrer Ansicht nach widersprach. Darunter fiel auch die Frage der Freischälerei.

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Aus den weiter oben erläuterten amerikanischen Kriegsgerichtsverfahren auf den Philippinen wurde die Rechtsauffassung sichtbar, daß nicht allein die bloße Zugehörigkeit zu einem illegalen Kampfverband die Todesstrafe nach sich ziehen mußte. Vielmehr bildete diese gleichsam die Voraussetzung für „verbrecherische" Handlungen. Aus der rechtswidrigen Teilnahme an Kampfhandlungen — insbesondere nach den Regeln des Kleinkrieges — wurde Mord, aus Requisitionen Plünderung usw. Die Furcht regulärer Truppen vor „Meuchelmord" beispielsweise, der in Art. 23b H L K O als Kriegsverbrechen deklariert worden war, durfte hierin einen gewichtigen Anhaltspunkt bieten. Auch das zweite Beispiel aus dem Krieg 1870/71 wies in dieselbe Richtung. Der Gedanke, daß die Strafwürdigkeit der Freischärlerei an ihren Taten zu ermessen ist, keimte allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg vollends auf. Zuvor wurden Freischärler gemeinhin als Verbrecher, Banden oder Terroristen abqualifiziert, ohne daß Klarheit bestanden hätte, was genau hierunter im rechtlichen Sinne zu verstehen war. So rechtfertigte z.B. Kaiser Wilhelm II. in einem Brief an den amerikanischen Präsidenten Wilson die scharfe und rigorose Vorgehensweise der deutschen Streitkräfte gegen Widerstandsakte belgischer Zivilisten im August 1914 mit den Worten: "Mein Herz blutet, daß solche Maßregeln unvermeidlich geworden sind und wenn ich an die zahllosen unschuldigen Leute denke, die ihr Leben und Eigentum verloren haben infolge des barbarischen Betragens jener Verbrecher" 355 . Eine juristische Neubewertung der Freischärlerei leitete schließlich der österreichische Völkerrechtler Josef L. Kunz ein. Bereits im Jahre 1935 hatte er in Anlehnung an die Spionageverfahren das Konstrukt der „riskanten Kriegshandlung" 356 entwikkelt, womit er das Stigma des Verbrechens von der Freischärlerei zu lösen trachtete. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg sollte jedoch seine Konzeption Eingang in das völkerrechtliche Schrifttum finden und wurde so u.a. von Walter Schätzel aufgegriffen 357 . Die Qualität des Verbrechens einer Kampfhandlung wird danach im allgemeinen von der Einhaltung der 4. Legalbedingung in Art. 1 HLKO, welche die Beachtung der Kriegsgesetze und —gebräuche einfordert, abhängig gemacht. Damit ist man gleichzeitig dem Vorschlag Oppenheims aus dem Jahre 1912 gefolgt, die Strafwürdigkeit der Freischärlerei unter die Tatbestände des Kriegsverbrechens zu erfassen. In der logischen Konsequenz bedeutet dies, daß bestimmte Maßnahmen „Illegaler", die nicht gegen Kriegsgesetze verstoßen, für sich genommen auch keine strafbare Handlung darstellen: So ist der plötzliche Feuerüberfall aus dem Hinterhalt, den zivile Kriegsteilnehmer durchführen, „noch eine riskante Handlung; diese wird aber zum Kriegsverbrechen, wenn sich die ausführenden Personen zuvor als friedliHatte das Urteil im Fall 12 Freischärler mit „Heckenschützen" gleichgesetzt, so interpretierte das Urteil im Fall 7 den Freischärler als einen „Zivilisten, der einen K a m p f unterstützt, ihn begünstigt und daran teilnimmt". Unbewußt rückte es damit in eine gefahrliche Nähe zum deutschen Kriegsverrat. Siehe: Verteidigung des Falles 12. Antrag auf Plenarversammlung Fall 12, Nürnberg, 8. November 1948, S. 21 ff., in: Verteidigungsunterlagen Rupprecht v. Keller zum Fall X I I der Nürnberger Prozesse ( O K W ) , Verteidigung von Rudolf Lehmann, E D 418, Bd. 3, IfZ. Zitiert aus: Christian Meurer, Der Volkskrieg und das Strafgericht über Löwen, Breslau 1914, S. 26. 3 5 6 Vgl. Kunz, Kriegsrecht, S. 69. 1 5 7 Vgl. Walter Schätzel, Die riskante Kriegshandlung, in: Festschrift zum 75. Geburtstag von Richard Thoma 1949, Tübingen 1950, S. 1 7 3 - 1 9 7 . 355

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che Bürger zu erkennen gegeben haben und den Gegner hinterrücks erschießen, ihn also perfide getäuscht haben. Das Kriegsverbrechen ist hier der perfide Mord, nicht aber die fehlende Zugehörigkeit zu einem organisierten Verband, die fehlende Kennzeichnung und die Vortäuschung der friedlichen Absicht als solche und für sich allein." 3 5 8 Die Diskussion um die „riskante Kriegshandlung" entfaltete nun ihrerseits neue Vorschläge und Ideen zur Regelung des Freischärlerproblems. Vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges empfahl beispielsweise Mayer-Tasch die Gewährung des Kriegsgefangenenrechts gegenüber den illegalen Kämpfern und damit dessen quasirechtliche Anerkennung als legaler Kombattant. Die Ausübung des Kriegsgefangenenrechts sollte dabei seiner Intention nach auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhen und somit zu einer Humanisierung des Krieges beitragen 359 . In eine ähnliche Richtung zielte der Vorstoß des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes ( I K R K ) Anfang der siebziger Jahre, dessen Lösungsvorschläge für eine humane Kriegführung u.a. darin gipfelten, „Straftaten" gefangener Freischärler, die nur in der bloßen (illegalen) Teilnahme an Feindseligkeiten bestehen, gerichtlich nicht mehr zu ahnden 3 6 0 . Damit war aber nicht nur jede Unterscheidung zwischen Kombattant und Zivilist zunichte gemacht, sondern auch die Auflösung einer jedweden sinnvollen Begrifflichkeit des Kriegsrechts erreicht. D e r Krieg aller gegen alle schien offenbar Akzeptanz zu finden. Durfte für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts das deutsche Reglement in der Freischärlerfrage nach formalen Kriterien durchaus als korrekt betrachtet werden, so bereitete ihr materieller Rechtsgehalt erhebliche Schwierigkeiten. Allein die massiven Schwankungen in der Interpretation des Terminus „Verfahren nach Kriegsbrauch" im deutschen Schrifttum sollten letztlich den Nährboden für eine Kriegführung jenseits des Völkerrechts abgeben, wie beispielsweise die Zitate Paul Labands zum Ausdruck brachten. Nicht ohne Grund und wohl auch speziell an die deutsche Adresse gerichtet sprach daher bereits im Jahre 1913 der Züricher Professor Max Huber von einem „Dualismus von Kriegsrecht und Kriegsgebrauch" 3 6 1 . Die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts abzeichnende Tendenz, gegen illegale Widerstandsakte Militärgerichtsverfahren durchzuführen, machte schließlich die Einführung geeigneter Strafnormen notwendig. D e r deutsche Straftatbestand des Kriegsverrats lieferte aber keineswegs die erforderlichen Begriffsdefinitionen für „Freischärlerei" und „Sabotage" etc., die für eine Rechtsprechung gemäß § 2 R S t G B unabdingbar gewesen wären, sondern muß darüber hinaus auf Grund des unterstellten Treueverhältnisses als völkerrechtswidrig angesehen werden. Die Subsumierung der Freischärlerei unter die Straftatbestände des Landesverrats bzw. Kriegsverrats blieb allein der Kunstfertigkeit deutscher Richter vorbehalten. Oberflächlich betrachtet, mochte bei Gerichtsverfahren gegen illegale zivile Widerstandsakte hinsichtlich 358 Vgl. Steinkamm, Streitkräfte, S. 272f. 359 Vgl. Mayer-Tasch, Guerilla-Krieg, S. 24f. Siehe hierzu auch die Rezension von Reinhold Thode, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen (MGM) 2 (1974), S. 263-268. 360 Vgl Dieter Fleck, Neue Ansätze für den völkerrechtlichen Schutz des Menschen in bewaffneten Konflikten. Zu den Ergebnissen der Sachverständigenkonferenzen beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, in: Jahrbuch für Internationales Recht 16 (1973), S. 129. 361 Vgl. Max Huber, Die kriegsrechtlichen Verträge und die Kriegsraison, in: Zeitschrift für Völkerrecht 7 (1913), S. 362.

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des verhängten Strafmaßes im Vergleich zu anderen Nationen in vielen Fällen kein Unterschied bestehen, die Gefahr einer extensiven Auslegung des Verratsgedankens war jedoch nur allzu groß. Andererseits bestand während des Ersten Weltkrieges die Möglichkeit, übertriebene Härten unter den verschiedenen Varianten des Kriegsverrats zu vermeiden, da die Strafsanktionen des deutschen Strafgesetzbuchs von 1876 mitunter relativ milde waren 362 . Je nach Auslegung des Verhältnisses von Reichsstrafgesetzbuch und Militärstrafgesetzbuch durch den Richter und seinen Gerichtsherrn konnte nämlich die Gleichstellung von Deutschen und Ausländern durch § 161 MStGB sich für letztere als Vorteil erweisen, da beispielsweise die in § 90 Ziff. 3 und 5 RStGB vorgesehenen Strafen für die Zuführung von Mannschaften an den Feind sowie für Spionage „nur" auf lebenslanges Zuchthaus lauteten. Bei „mildernden Umständen" war auf bis zu fünf Jahren Festungshaft zu erkennen 363 . Im Dritten Reich sollte sich dies ändern. Der „Kriegsverrat" blieb auch nach der Machtergreifung Hitlers im deutschen Rechtsdenken verankert 364 . Dies geht u.a. aus einem Rechtsgutachten vom 1. Oktober 1938 hervor, das der Leiter der Gruppe „Völkerrecht" im Amt Ausland/Abwehr beim OKW, Oberst a.D. Dr.jur. Alfons Fonck, verfaßt hatte. Zur Frage ziviler Widerstandsakte im Besatzungsgebiet schrieb er: „Wenn die Bewohner eines feindlichen, von uns besetzten Gebietes eine feindliche Handlung gegen uns oder unsere Verbündeten begehen, so begehen sie Kriegsverrat, der nach deutschem Recht (WStGB) abzuurteilen ist." 365 Ebenso behielt das Militärstrafgesetzbuch nach seiner Neufassung vom 10. Oktober 1940 zum Teil die Kriegsverratsartikel bei 366 . Eine erhebliche Verschärfung des Strafmaßes trat zudem mit der Einführung des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens vom 24. April 1934 ein, das u.a. den neu eingefügten Straftatbestand der „Feindbegünstigung" (§ 91b RStGB) enthielt, der in der Regel die Todesstrafe vorsah 367 . Als Nachfolger der Kaiserlichen Verordnung vom 28. Dezember 1899 dürfen gewissermaßen die Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz (Kriegssonderstrafrechtsverordnung, KSSVO) sowie die Verordnung 362 Vgl Schätzel, Bestrafungen, S. 24. Jürgen Thomas charakterisiert Walter Schätzel in seiner Eigenschaft als Militärrichter schon während des Ersten Weltkrieges als „Protagonisten einer von eiserner Strenge geprägten Besatzungsjustiz". Vgl. ders., Wehrmachtjustiz, S. 83. Dieses Urteil greift jedoch zu kurz. Denn es verkennt das Verdienst Schätzeis, die Widersprüche und Unzulänglichkeiten im deutschen Rechtssystem herausgearbeit zu haben. Dazu gehört auch die Feststellung, daß die deutschen Strafsanktionen in manchen Fällen milder waren als der „Kriegsbrauch". Vgl. RGBl. 1876, S. 57. Ebenso hielt Ernst Vanselow in seinem Lehrbuch, welches 1931 veröffentlicht worden war, an diesem Begriff fest: Die Besatzungsmacht habe nach der Haager Landkriegsordnung das Recht, so Vanselow, „gegen eine Waffenerhebung nach der Besetzung wegen ,Kriegsverrats' vorzugehen." Siehe: ders., Völkerrecht, S. 209. IMT, Bd. XXXIV, S. 150. » Vgl. Strafrecht der deutschen Wehrmacht, München, Berlin 1940 (3. Aufl.), S. 13f. M" Vgl. RGBl. I. 1934, S. 344. Nicht ohne Grund legte Art. 68 Abs. 3 der Genfer Zivilrechtskonvention unmißverständlich fest: „Die Todesstrafe kann gegen eine geschützte Person nur dann ausgesprochen werden, wenn die Aufmerksamkeit des Gerichts besonders auf den Umstand gelenkt wurde, daß der Angeklagte, weil er nicht Angehöriger der Besatzungsmacht ist, durch keinerlei Treueverpflichtung ihr gegenüber gebunden ist." Siehe: BGBl. II. 1954, S. 940. 363 364

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über das militärische Strafverfahren im Kriege und bei besonderem Einsatz (Kriegsstrafverfahrensordnung, KStVO) vom 17. August 1938 angesehen werden. Nach § 3 der KStVO waren im Gegensatz zu früheren Verordnungen nunmehr auch Militärgerichtsverfahren gegen Deutsche und Ausländer „wegen aller von ihnen im Operationsgebiet begangenen Straftaten" erforderlich368. Hierunter fielen gemäß § 2 Ziff. 4 KStVO u.a. Spionage, Freischärlerei sowie Hoch- und Landesverrat (§§ 80—84 und 89-92 RStGB)369. Damit zählte zwar das Dritte Reich zu den wenigen Staaten, welche die Behandlung von Freischärlern generell von einem Gerichtsverfahren abhängig gemacht hatten, wie Klaus Hammel lobend hervorhebt370, doch wird leicht übersehen, daß die Definition des Begriffs Freischärler nach § 3 Abs. 1 KSSVO über das Kriegsrecht hinausgehend den intentionalen Straftatbestand eingeführt hatte: „Wegen Freischärlerei wird mit dem Tode bestraft, wer, ohne als Angehöriger der bewaffneten feindlichen Macht durch die völkerrechtlich vorgeschriebenen äußeren Abzeichen der Zugehörigkeit erkennbar zu sein, Waffen oder andere Kampfmittel führt oder in seinem Besitz hat in der Absicht, sie zum Nachteil der deutschen oder einer verbündeten Wehrmacht zu gebrauchen oder einen ihrer Angehörigen zu töten, oder sonst Handlungen vornimmt, die nach Kriegsbrauch nur von Angehörigen einer bewaffneten Macht in Uniform vorgenommen werden dürfen."371 Der bloße Waffenbesitz beschreibt keine Kampfhandlung bzw. keine Schädigung des Gegners, wodurch die Freischärlerei als solche überhaupt erst erkennbar wird. Die Unterstellung der Absicht zur Waffenführung kann lediglich durch vergangene illegale Kampfeinsätze angenommen werden. Präventiv wirkt dagegen das Verbot des Waffenbesitzes, das jederzeit durch die Besatzungsmacht ausgesprochen werden kann. Generell gilt: ein „Verdächtiger" ist kein Freischärler. Eine rechtliche Grauzone stellt des weiteren der Passus „oder sonst Handlungen vornimmt" dar, weil er zu unbestimmt Gefahr läuft auch auf „Sympathisanten" oder „Helfers-Helfer" ausgedehnt zu werden. Der Rechtsstatus solcher Personen ist absolut ungeklärt und sollte im Sinne der Marten "sehen Klausel mit Nachsicht beurteilt werden. Für Steinkamm sind derartige Personen in keinem Fall Freischärler: „Auch der Pfarrer, der die Glocken läutet, um seinen Truppen das verabredete Zeichen zu geben, die Frauen, die Wäsche auslegen, um die Besetzung des Ortes anzuzeigen, (...) — alle diese Personen sind keine Kombattanten. Auch ein Verstoß gegen das Kriegsrecht beinhaltet solcherart Unterstützung nicht, denn in allen Fällen handelt es sich nicht um eine unmittelbar der Waffenfuhrung dienende Hilfshandlung."372 Die Kriegssonderstrafrechtsverordnung legte für die Fälle der Freischärlerei (§ 3 Abs. 1) und der Spionage (§ 2 Abs. 1) die Todesstrafe fest. Damit waren Richter und Gerichtsherr in ihrem Entscheidungsspielraum erheblich eingeschränkt. Denn nach 368 Vgl. RGBl. I. 1939, S. 1457. Vgl. ebd., S. 1458. 370 Vgl Kjaus Hammel, Kompetenzen und Verhalten der Truppe im rückwärtigen Heeresgebiet, in: Hans Poeppel, Wilhelm-Karl Prinz von Preußen, Karl Günther von Hase (Hrsg.), Die Soldaten der Wehrmacht, München 1998, S. 186. 371 RGBl. I. 1939, S. 1455f. Die Art. 1 und 2 H L K O wurden nach der Strafformel in Abs. 2 und 3 nahezu wortwörtlich angehängt. Vor allem aber die Inhalte des Art. 2 H L K O wurden in der Formulierung des Straftatbestandes der „Freischärlerei" nicht eingearbeitet. Ein Umstand, welcher in der Strafrechtssprechung leicht übersehen werden konnte. 372 Steinkamm, Streitkräfte, S. 252. 369

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dem Völkerrecht bestand kein „Rechtszwang" zur Tötung von Freischärlern. Zudem waren mit beiden Verordnungen (KStVO und KSSVO) die Widersprüche im deutschen Rechtssystem nicht beseitigt worden. Der Kriegsverrat (Feindbegünstigung) bestand neben dem neu eingeführten Straftatbestand der Freischärlerei fort, wie allein die ausdrückliche Anführung des Hoch- und Landesverrats in § 2 KStVO belegt. Mochte der Versuch einer strafrechtlichen Definition des Begriffs Freischärler durchaus als positiv angesehen werden, so blieben nach wie vor Abgrenzungen zwischen Rechtsbegriffen unklar. So ging der Straftatbestand der Freischärlerei zu Lasten des Art. 2 HLKO, der keinerlei Berücksichtigung in der Strafformel gefunden hatte. Damit war der Umfang des legalen Partisanen juristisch nicht ausreichend erschöpft. Zwar wurde der § 58 MStGB in der Neufassung des Militärstrafgesetzbuches vom 10. Oktober 1940 gestrichen, doch verwies jetzt § 57 MStGB auf den Landesverratsparagraphen 91b. Damit wurde der Verratsgedanke und das ihm zugrundeliegende Treueverhältnis nicht aufgegeben und bildete nun eine mögliche Einbruchsstelle für die nationalsozialistische Rechtsanschauung. Gleichwohl war es möglich, nach § 3 KSSVO korrekte Urteile im Sinne des Völkerrechts gegen Freischärler zu fällen, nämlich dann, wenn der objektive und subjektive Straftatbestand unzweifelhaft gegeben war. Eine rechtlich einwandfreie Urteilsfindung oblag damit allein der Verantwortung der Gerichtsherrn und ihrer Richter. Kriegsrechtsfälle aus dem Ersten Weltkrieg Mit Beginn des Krieges war die deutsche Völkerrechtswissenschaft ganz in den Dienst der Staatsräson und des militärischen Sieges gestellt. Ihre Sprache wurde härter und ihre Fachkenntnis trotzte der feindlichen Propaganda. Mißliebige Köpfe hatten zu weichen. Juristen, die sich in pazifistischen Kreisen engagierten, wie etwa Walther Schücking im „Bund Neues Vaterland", wurden an den Rand gedrängt, die Publikation ihrer Arbeiten erheblich erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht. So enthob beispielsweise Professor Josef Köhler die beiden Völkerrechder Lassa Oppenheim 373 und Hans Wehberg, einen aktiven Streiter in der Friedensbewegung, ihrer Funktion als Mitherausgeber der „Zeitschrift für Völkerrecht". Seine Ablehnung Oppenheims als Kollegen und Wissenschaftler begründete Köhler in einen Brief vom 16. Februar 1915 an die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes unmißverständlich und schlicht: Ich „habe auch für die Zukunft die Mitarbeit von Oppenheim mir verboten, da ich es für vollständig ausgeschlossen halte, in völkerrechtlichen Fragen gegenwärtig mit einem Engländer zusammen zu wirken, auch wenn er ein gewesener Deutscher ist." 374 Wehbergs Endassung dagegen erfolgte auf Grund seines Protests gegen Köhlers Rechtfertigung des deutschen Einmarsches in Belgien. In zwei Briefen an die Redaktion hatte er den Angriff auf Belgien wegen seiner NeutraOppenheim, geb. 1858 in Windecken, lehrte als außerordentlicher Professor von 1889-1892 an der Universität Freiburg i.Br. und erhielt 1891 einen Ruf auf die Professur für öffentliches Recht nach Basel, wo er bis 1905 lehrte. 1895 verlegte er seinen Hauptwohnsitz nach London und ließ sich im Jahre 1900 dort einbürgern. Seit 1908 war Oppenheim Whewell Professor of International Law an der Universität Cambridge. Er verstarb 1919. Vgl. Andreas Zimmermann, Lassa Francis Lawrence Oppenheim, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 19, Berlin 1999, S. 566. 374 BA, R 901/28373 (Film), Bl. 97. 373

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lität als Völkerrechtsverletzung gebrandmarkt und zudem die Enthebung Oppenheims kritisiert. Für Köhler war eine solche Haltung eines preußischen Gerichtsassessors nicht würdig: „Selbstverständlich habe ich ständig das Prinzip vollkommen unparteiischer wissenschaftlicher Schätzung der Disziplin, aber ich bin wie andere zu dem Resultate gelangt, daß die Stellung Deutschlands in diesem Weltkrieg von jeher eine moralisch heilige und rechtlich unantastbare ist, und dieser Überzeugung habe ich und haben andere in dem letzten Hefte Ausdruck gegeben. Wenn Wehberg uns deswegen einseitige Tendenzen vorwirft, so ist dieser Vorwurf streng zurückzuweisen." 375 Wenig später sollte die Staatsanwaltschaft in ihren Ermitdungen gegen den „Bund Neues Vaterland", der u.a. für einen Verständigungsfrieden votierte, Hans Wehberg miteinbeziehen. Der allgemeine Verdacht lautete auf Landesverrat 376 . Die jurisüsche Mobilmachung stand ganz im Zeichen des „inneren Burgfriedens", der durch das Ermächtigungsgesetz vom 4. August 1914 auch staatsrechtlich manifest geworden war. Dieses Gesetz bewirkte eine drastische Beschneidung der verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte und schuf eine „kommissarische Zivil- und Militärdiktatur". Das Parlament hatte damit seine gesetzgeberischen Befugnisse preisgegeben 377 . Als Normsetzungsorgan erließ allein der Bundesrat während des Krieges insgesamt 825 Verordnungen besonders auf den Gebieten der Kriegswirtschaft, des Währungs- und Finanzrechts, des Zivilrechts sowie des Arbeits- und Sozialrechts. Parallel fungierten als Gesetzgeber der Reichstag, die Landtage, die Reichsministerien und Länderministerien, die Kommunalverwaltungen, die Oberste Heeresleitung und besonders seit 1916 das sogenannte „Kriegsamt" 378 . Dieses überbordende Sonderrechtssystem war in seiner Gesetzgebung vollkommen auf den „Zweck" ausgerichtet und durch die Legislative nicht mehr zu kontrollieren. Auf die Sicherungen des Rechtsstaats379 wurde keine Rücksicht mehr genommen. Das bisherige Verfassungsrecht war unter den Notwendigkeiten des Krieges zusammengebrochen. Einhergehend mit dem Abbau des Rechtstaates ließen zudem die Kriegsereignisse den Mangel an institutionalisierter völkerrechtlicher Forschung und Beratung in Deutschland offen zutage treten380. Zahllose Kriegsrechtsverletzungen waren neben dem propagierten Staatsnotstand auf die Unkenntnis des Völkerrechts zurückzufüh375 BA, R 901/28373 (Film), Bl. 97f. 376 Vgl. Bericht des Oberreichsanwalts in der Ermittlungssache gegen den Leiter des Bundes Neues Vaterland zu Berlin wegen Landesverrat vom 25. Oktober 1915, in: BA, R 901/28373 (Film), Bl. 27f. Im Anhang des Berichts befindet sich die Abschrift einer der beiden Briefe Wehbergs an Köhler. Wehberg, der während des Krieges mit dem Verbot der politischen Betätigung belegt wurde, trat nach dem Kriege der Deutschen Liga für Völkerrecht bei und edierte von 1923 an als alleiniger Herausgeber die von Alfred H. Fried begründete „FriedensWarte". Vgl. Lothar Wieland, Hans Wehberg, in: Wolfgang Benz, Hermann Grami (Hrsg.), Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, München 1988, S. 360. 377 Vgl Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. 3: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914—1945, München 1999, S. 58f. 37« Vgl. ebd., S. 67. 379 Zum Begriff des Rechtsstaates siehe: Theo Stammen, Der Rechtsstaat. Idee und Wirklichkeit, München 1965; Lothar Gruchmann, Nationalsozialistisches Herrschaftssystem und demokratischer Rechtsstaat, 1962. 380 Vgl. Stolleis, Geschichte, S. 72f.

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ren. Die oftmals zur Anwendung gelangten „Verfahren nach Kriegsbrauch" entstammten daher einer eigenständigen Entfaltung von Kriegslogik und Rechtsbewußtsein. Der Kriegsbrauch entwickelte seinen eigenen Sinn. Die Unterweisung der Generalstabsanwärter in Sachen Kriegsrecht wurde vor dem Kriege dilatorisch behandelt. So wurde bis zum Jahre 1907 an der Kriegsakademie im Rahmen einer wöchentlich zweistündigen Vorlesung vom Geheimen Justizrat Konrad Bornhak über Völker-, Staats- und Verwaltungsrecht dem Völkerrecht ungefähr ein Viertel der Darstellung gewidmet. Schließlich wurde Bornhak 1907 gekündigt und erst im Jahre 1911 durch den preußischen Ministerialrat von Zeidlitz ersetzt. Dieser hatte nunmehr in einer wöchentlich einstündigen Vorlesung über die Verfassung und Verwaltung des Deutschen Reiches die Möglichkeit, einige Bemerkungen über völkerrechtliche Themen machen zu können 381 . Die Priorität des Staatsrechts gegenüber dem Völkerrecht war unübersehbar. Entsprechend hatte der 3. Untersuchungsausschuß des deutschen Reichstages rückblickend in seiner Entschließung am 28. Juni 1921 den mangelhaften Kenntnisstand des Kriegsrechts im Generalstab und bei den Truppenoffizieren moniert und einhellig als Versäumnis des Großen Generalstabes verurteilt: „Der bloße Abdruck der Haager Landkriegsordnung in der Felddienstordnung, sowie in einer besonderen Druckvorschrift 231, (...) schließlich noch im ,Taschenbuch für den Generalstabsoffizier' hat für sich allein nicht vermocht die Hauptaufgabe zu lösen, die in mancher Beziehung recht intrikaten Normen dieses völkerrechtlichen Dokuments dem juristischen Laien, der sie in der Praxis anwenden sollte, nahezubringen. Die in Deutschland üblich gewesenen, auf unmittelbar praktischen Zweck gerichteten militärischen Instruktionsbücher schweigen von der Haager Akte." 382 Als einer der wenigen Ausnahmen hob der Ausschuß die Unterrichtsbroschüre von Feldwebel F. Eichler lobend hervor. In seinem abschließenden Urteil gelangte das Gremium zu dem Schluß: „Der Ausschuß ist der Ansicht, daß es wünschenswert gewesen wäre, der Frage des Kriegsrechts im gesamten militärischen Unterricht, insbesondere aber an der Kriegsakademie eine größere Beachtung zu schenken. Diese Aufgabe hätte dem Chef des Großen Generalstabes oblegen." 383 Aber auch mit der Einberufung der Zivilrichter in den Heeresdienst war keineswegs die Gewähr für die Einhaltung der Kriegsrechtssätze garantiert. Vielmehr wurde die in dem Begriff des „Burgfriedens" kulminierende Verwechslung von Landesrecht und Völkerrecht, dessen Ursprung in der Theorie des „Außenstaatsrechts" Friedrich Hegels 384 zu suchen war, durch ihren Einsatz noch verstärkt. Der Grund hierfür lag u.a. in der ungenügenden Institutionalisierung des Völkerrechts als Wissenschaft und Prüfungsfach an den deutschen Universitäten. Als junge Wissenschaftsdisziplin hatte es sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu einem Teilgebiet des öffentlichen Vgl. Das Werk des Untersuchungsausschusses, Band 1, S. 26. '82 Ebd., S. 25f. 3 8 3 Ebd., S. 26. 3 8 4 In seiner Philosophie sah Hegel im Staate, jener „göttlichen Idee, wie sie auf Erden existiert", den selbstsicheren, absoluten Geist, der keine abstrakten Regeln von Gut und Böse kennt, der schamvoll und schamlos List und Trug anerkennt. Für den Staat gibt es keine moralische Verpflichtung mehr. Die Moralität gilt für den individuellen Willen, nicht aber für den universalen Willen des Staates. Vgl. Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens (1949), Frankfurt a.M. 1994, S. 344f. 381

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Rechts bzw. des Staatsrechts etabliert. Doch befaßten sich die Vertreter des öffentlichen Rechts und des Staatsrechts, schon allein auf Grund der Reichsgründung 1871, vorwiegend mit innerstaatlichen Problemen. Bis weit in die Weimarer Republik hinein gab es daher in Deutschland bei über zwanzig Universitäten nur einen einzigen Lehrstuhl für Völkerrecht, und zwar an der Universität Kiel. Dort gründete 1913 Theodor Niemeyer das erste größere deutsche Institut für internationales Recht und 1916/17, wohl infolge der unablässigen Klagen der internationalen Öffentlichkeit gegen die deutsche Kriegführung, die „Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht" 385 . Im Jahre 1926 übergab Niemeyer die Leitung des Instituts an Walther Schücking. In ihrer Gesamtheit blieb die Völkerrechtswissenschaft in Deutschland ein „akademisches Randgebiet". Trotz einzelner bedeutender Werke und guter Lehrbücher, die auch im Ausland große Beachtung fanden, wie beispielsweise von Christian Meurer oder Karl Strupp, war die Völkerrechtswissenschaft zu einem „Hobby" einiger weniger Berufener herabgewürdigt. Auch fehlte es an einer größeren Anzahl guter Bibliotheken und Dokumentationszentren 386 . Die Völkerrechtswissenschaft fristete in Deutschland ein isoliertes Dasein und unterlag letztlich zunehmend nationalistischen Strömungen: „Mit der Reichsgründung 1870/71 ist in mehrfacher Hinsicht ein Perspektivenwandel spürbar. Es erfolgte eine gewisse Abkehr von einem internationalen Ausblick und von der Heranziehung politischer Hintergründe wie ethischer Probleme. Jedenfalls wurde die Betonung des einzelnen Staates erhöht und eine nationalstaatlich gedeutete Souveränitätsidee in den Mittelpunkt gerückt. Damit entfernte sich die deutsche Völkerrechtslehre tendenziell von der westeuropäischen Lehre und den USA." 387 Bereits im Jahre 1913 hatte Walther Schücking den Mißstand in der Völkerrechtslehre an den deutschen Universitäten beklagt und vor einer allzu großen Kluft zwischen den Anschauungen Deutschlands und denen der übrigen Kulturstaaten gewarnt: „Von welch Einfluß würde es auf das Denken der kommenden Generationen sein, wenn an jeder deutschen Hochschule in jedem Semester eine Vorlesung über die Bedeutung und Aufgaben der Haager Konferenzen gehalten würde, und zwar für Studenten aller Fakultäten!" 388 Trotz der mangelhaften Unterweisung in Fragen des Kriegsrechts hielt das deutsche Kaiserreich in seinen offiziellen Verlautbarungen gegenüber der Weltöffentlichkeit an der Verbindlichkeit der Haager Landkriegsordnung fest. Dies war um so mehr von Bedeutung, als das IV. Haager Abkommen vom 18. Oktober 1907 in Art. 2 die sogenannte „Allbeteiligungsklausel" enthielt, nach der das kodifizierte Kriegsrecht nur dann Anwendung finden sollte, wenn alle am Kriege beteiligten Staaten Vertragsparteien sind389. Unter den damaligen Kriegfuhrenden hatten jedoch Italien, Montenegro, Serbien und die Türkei die Haager Landkriegsordnung nicht ratifiziert 390 . In 385 Vgl, Ingo J. Hueck, Völkerrechtsgeschichte: Hauptrichtungen, Tendenzen, Perspektiven, in: Wilfried Loth, Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Internationale Geschichte. Themen - Ergebnisse - Aussichten, München 2000, S. 270-272. 386 Vgl. Stolleis, Geschichte, S. 88f. 387 Hueck, Völkerrechtsgeschichte, S. 274. 388 Walther Schücking, Der Stand des völkerrechtlichen Unterrichts in Deutschland, in: Zeitschrift für Völkerrecht 8 (1913), S. 380. 389 Vgl. RGBl. 1910, S. 125. 390 Vgl [Oberlandesgerichtsrat] Nöldeke, Die Geltung der Haager Abkommen vom 18. Oktober 1907, in: Deutsche Juristen-Zeitung 21 (1916), Sp. 264.

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der Kriegspraxis wurde allerdings sehr früh die Bestrebung aller Vertragsparteien sichtbar, entgegen dem Wordaut jener Klausel das kodifizierte Kriegsrecht allein der „guten Sitten" wegen einzuhalten. So hatten die Regierungen der kriegführenden Staaten mehrfach in der Öffentlichkeit die Geltung aller Haager Abkommen ausdrücklich anerkannt. Kein Staat sollte sich auf die Allbeteiligungsklausel berufen 391 . Die Fortgeltung des Haager Rechts war sicherlich auch den Erwartungen der zivilen Öffentlichkeit zu verdanken, die einer proklamierten Abkehr vom kodifizierten Kriegsrecht nicht zugestimmt hätte. So lief die Kommunikation zwischen den Kriegsparteien in den Jahren 1914 bis 1918 über kriegsrechtliche Fragen nicht nur auf staatlicher Ebene weiter, sondern auch auf der Ebene privater Gesellschaften. Auf Vorschlag niederländischer Vereinigungen beispielsweise wurde im April 1915 die „Zentralorganisation für einen dauernden Frieden" in Den Haag gegründet, zu deren Konferenzen Vertreter aus zehn Staaten anreisten. In ihren Diskussionen befaßten sich die Teilnehmer nicht mit der Frage nach der Geltung der Haager Landkriegsordnung, sondern mit der Weiterbildung des „Haager Werkes"392. Der Kriegsbrauch Nach dem Kriege machte die französische Besatzungsmacht die Berichte ihrer „Untersuchungskommission zur Feststellung der vom Feinde begangenen völkerrechtswidrigen Handlungen" auszugsweise der deutschen Öffentlichkeit zugänglich. Die Broschüren waren in deutscher Sprache abgefaßt und konnten von jedermann für 30 Pf. erworben werden. Ihre Intention einer propagandistischen Einwirkung auf die politische Meinung in Deutschland blieb unverkennbar, da die Schilderungen deutscher Kriegsgreuel großenteils eine exakte Rekonstruktion der beklagten Vorkommnisse nicht zuließen. Nur allzu leicht konnte man sie daher als unglaubwürdig bei Seite schieben. Doch besaßen sie in vielen Fällen einen wahren Kern. Rückblickend erschweren aber differrierende französische und deutsche Standpunkte zu bestimmten Rechtsfragen, wie Partisanenkrieg oder Geiselnahme, eine rechtliche Bewertung. Geradezu erschreckend jedenfalls wirkt die große Anzahl der von Frankreich vorgebrachten deutschen Kriegsverbrechen, deren nachträgliche Einordnung letztlich kaum mehr zu bewerkstelligen ist. Im März 1919 klagte der XII. Bericht der französischen Untersuchungskommission die deutschen Armeen an, auf ihrem Vormarsch durch das Erzgebiet zwischen Langwy und Briey sowie während der dortigen Besatzungszeit furchtbarste Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung begangen zu haben. Hierunter fielen vor allem: - Summarische Hinrichtungen. - Erdrosselung, Notzucht, Brandstiftung und Plünderungen. - Die Verschleppung Tausender von Zivilisten zur Zwangsarbeit nach Deutschland.

391 Vgl. Nöldeke, Geltung, Sp. 267. Dort auch mehrere Beispiele. Siehe ebenso: Ernst MüllerMeiningen, Der Weltkrieg 1914—1917 und der Zusammenbruch des Völkerrechts. Eine Abwehr und Anklage, Bd. 1, Berlin 1917, S. 16f. 392 Vgl. Reinhard Gast, Deutschland und die Entwicklung des Haager Friedenswerkes in Vergangenheit und Zukunft, Leipzig 1917, S. 24ff.

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- Die systematische Zerstörung der Industrieanlagen. 393 Nach den französischen Angaben ereigneten sich zahlreiche Überschreitungen des Kriegsrechts während des Vormarsches der deutschen Divisionen nach Westen. Diese Feststellung besaß eine erhebliche Plausibilität, denn das ressourcenschwache Deutschland stand unter erheblichem Zeit- und Erfolgsdruck. Entscheidungen der Oberbefehlshaber und Kommandeure konnten daher allein aus Gründen der militärischen Effizienz oftmals wider das Völkerrecht ausgefallen sein. Doch Zeitnot rechtfertigt nicht alles. So beklagte Frankreich willkürliche „Massenhinrichtungen" durch deutsche Fronttruppen im August/September 1914, beispielsweise in Joppécourt, in Audun oder in Jarny 394 . Tatsächlich wurden in Jarny am 26. August 1914 zwischen zehn und zwanzig Zivilpersonen von Soldaten des III. Bataillon des Landwehr-Regiments 65 auf Befehl des Major Richard von Kaiser als Franktireurs erschossen. Anfang 1915 nahm das Feldgericht der 5. Landwehr Division eine Überprüfung der einzelnen Abläufe in Jarny vor. Dem Gericht gab Major von Kaiser über die Vorkommnisse zu Protokoll: „Am 26. 8. 14 erhielt ich den Befehl aus der Gefechtsstellung bei Conflans mit 1 Komp. nach Jarny zu marschieren, um dort 1 grössere Anzahl Einwohner standrechtlich abzuurteilen [!]. Diese waren im Kampfe mit Mannschaften unseres Détachements festgenommen worden. Beim Einrücken in Jarny fielen von links aus der Richtung 1 Hauses Schüsse auf die Komp. 2 Täter wurden gefasst und sofort erschossen. An 2 Stellen wurden die festgenommenen Einwohner angetroffen und ihre Schuld durch mündliche Vernehmung meinerseits in Gegenwart des Stabsarztes Dr. Bosten, Leutn. v. Koch u. des inzwischen gefallenen Leutn. Securias festgestellt. (...) Mit Rücksicht darauf, dass der ganze Ort mit unseren Proviant u. Munitionskolonnen angefüllt war und dauernd noch Schüsse im Ort fielen [!], musste ich energisch und schnell handeln." 395 Die Zeugenaussage des Leutnant Walter von Koch bestätigte im einzelnen die Angaben Kaisers. Äußerst knapp führte er über die Geschehnisse in der französischen Ortschaft aus: „Ich befand mich als Adjutant beim Batl. von Kaiser. Major von Kaiser erhielt den Befehl mit 1 Komp. nach Jarny abzurücken um dort gegen festgenommene Franktireurs standrechtlich vorzugehen. Wir fanden (...) zwischen 10 & 20 festgenommene Ortsbewohner u. hörten von da selbst anwesenden bayerischen Soldaten, dass diese am Kampfe gegen unsere Truppen sich beteiligt gehabt hatten. (...) Insbesondere berichtete mir persönlich 1 bayerischer Infanterist, dass 1 seiner Kameraden durch 1 (...) Handgranate getötet worden sei. E s wurde über die Schuldfrage abgestimmt u. alle, mit Ausnahme eines, der nach Angaben unserer Soldaten unschuldig war, nach Kriegsrecht verurteilt. Ein Protokoll konnte bei der Knappheit der Zeit nicht aufgenommen werden. (...)." 3% Formalrechtlich war die deutsche Vorgehensweise in Jarny nicht zu beanstanden. So ließ bereits am 16. Januar 1915 der Gouverneur der Festung Metz den Chef des 393 Vgl. XII. Offizieller Bericht der französischen Untersuchungskommission an den Ministerpräsidenten der Republik. Aus den besetzten französischen Gebieten, 1919, S. 4; in: PA-AA, R 48427e. Vgl. XII. Offizieller Bericht, S. 5. Gericht der 5. Landwehr Division, Allamont, den 2. Februar 1915, Bl. 1, in: Nachlaß Luetgebrune, M A - 6 1 6 / 1 7 , IfZ. 396 ebd., Bl. 2. 394 395

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Generalstabes des Feldheeres wissen, daß Major von Kaiser nach § 18 der Kaiserlichen Verordnung vom 28. Dezember 1899 die Befugnis besessen habe, „diese Leute nach dem Kriegsbrauche zu behandeln." Der Rechtsstatus der angetroffenen Zivilpersonen sei unter der Verantwortung des kommandierenden Offiziers, Major von Kaiser, geprüft worden. Nach Aussagen der als Zeugen vernommenen Soldaten, Vorgesetzten und Dorfbewohner sei einwandfrei bewiesen worden, daß die verdächtigten Zivilisten mit der Waffe in der Hand ergriffen worden seien. Demnach wurden sie als Franktireurs erschossen 397 . Nun mochten aber die klärenden Worte des Gouverneurs die tatsächlichen Begebenheiten leicht geglättet haben, stellt man sich die konkrete Situation vor Ort vor, in der die Verhöre stattgefunden hatten. Gab nicht Major von Kaiser selbst an, daß während der „Verhandlung" noch Schüsse fielen? Hieraus konnte gefolgert werden, daß sogar zu diesem Zeitpunkt Jarny nicht gänzlich besetzt gewesen war. Auch blieb ungeklärt, ob stets Zivilisten und nicht auch versprengte Soldaten am Kampf teilgenommen hatten. Damit trat offenbar jener „Zweifelsfall" ein, von dem Walter Schätzel gesprochen hatte und demzufolge ein Gerichtsverfahren zur endgültigen Klärung des Sachverhalts ratsam gewesen wäre. Notwendig war dies jedoch nicht. Augenfällig ist allerdings, daß in keinem der überlieferten deutschen Dokumente ein Hinweis auf Art. 2 der Haager Landkriegsordnung zu finden ist. Es erscheint mühselig über die Bedeutung der von den Zeugen gebrauchten Begriffe „Einmarsch" oder „Teilnahme im K a m p f zu spekulieren, denn die gänzliche Außerachdassung dieses Artikels durch Major von Kaiser und die sich abzeichnenden Umstände des Kampfgeschehens lassen den deutlichen Schluß zu, daß von den verantwortlichen Kommandeuren das zivile Widerstandsrecht im unbesetzten Gebiet der Einwohnerschaft von Jarny ganz im Sinne des Generalstabsheftes von 1902 stillschweigend abgesprochen worden war. Die wehrfähige männliche Zivilbevölkerung hätte somit in die Kriegsgefangenschaft abgeführt werden müssen. Der Bericht der französischen Untersuchungskommission trägt hier zu einer einhelligen Klärung des Falles leider nicht bei, da er sich jeglicher juristischer Argumentationen enthält. Offenbar wurde die Geltung des Art. 2 HLKO für Jarny schlicht vorausgesetzt 398 . Ähnliche Vorfälle ereigneten sich in den verschiedensten Regionen und Ortschaften Frankreichs. Auch wenn oftmals eine genaue Rekonstruktion der Kampfhandlungen infolge einer meist gestrafften Wiedergabe der Ereignisse in den Akten nicht möglich ist, so läßt doch die Häufigkeit gleich gelagerter Vorkommnisse ein Muster in den deutschen Maßnahmen erkennen, welche letztlich erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des deutschen Vorgehens aufkommen lassen. Denn auch in Belgien gingen die deutschen Truppen mit schärfsten Mitteln gegen zivile Widerstandsakte vor, ohne Art. 2 HLKO in Betracht gezogen zu haben. Der Zeitplan Schlieffens für den Durchmarsch durch das neutrale Land formte die militärische Notwendigkeit, die lästige Fragen nach dem Recht verbot. Die deutsche Rechtsauffassung fußte „uner-

Vgl. Schreiben des Gouvernements der Festung Metz an den Chef des Generalstabes des Feldheeres, 16. Januar 1915, in: Nachlaß Luetgebrune, MA-616/17, IfZ. 3 , 8 Die Zentralstelle für Völkerrechtsverletzungen des Reichswehrministeriums befaßte sich im Jahre 1921 mit dem „Fall Kaiser". In den überlieferten Notizen dieser Stelle werden aber nur Fragen über die Behandlung von Geiseln erörtert, was für Jarny ja nicht zutreffend war. Vgl. Nachlaß Luetgebrune, MA-616/17, IfZ. 397

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schütterlich" auf der Überzeugung von der „strategischen Notiage Deutschlands im Zweifrontenkriege", wie Oberst a.D. Schwertfeger rückblickend schrieb, „die so ungeheuer groß war, daß die deutschen Staatsmänner sich der Überzeugung der Militärs völlig anschlossen, es gäbe keinen anderen Weg einer siegreichen Beendigung des Deutschland aufgezwungenen Krieges in hinreichend kurzer Frist als die schnelle Umgehung der französischen Festungsfront durch Belgien hindurch." 399 Belgischer Widerstand bedeutete Zeitverlust und mußte umgehend gebrochen werden400. Häufig beschränkte sich die Nachprüfung zweifelhafter Kriegsfälle durch deutsche Gerichte und Behörden während des Weltkrieges auf den Nachweis, daß Nichtuniformierte am Kampf teilgenommen hatten bzw. mit der Waffe in der Hand angetroffen worden waren, wie beispielsweise der Fall Jarny belegt. Auch aus den persönlichen Tagebüchern und Feldpostbriefen einzelner Soldaten und Offiziere geht unzweifelhaft hervor, daß in zahlreichen Situationen die Erschießung von Zivilisten mit deren Teilnahme am Kampf gerechtfertigt wurde 401 . So schrieb z.B. ein Soldat Ende August 1914 in die Heimat: „Der Bevölkerung geht es aber hier mächtig an den Kragen. Alles wird kurzer Hand erschossen, was sich mit Waffen blicken läßt." 402 Doch ein rechtswidriges Verhalten der Bewohner war damit noch lange nicht bewiesen. Es mag daher kein Zufall gewesen sein, wenn Karl Strupp nach Beginn des Krieges über das zivile Verteidigungsrecht ausführte: „Es muß übrigens darauf aufmerksam gemacht werden, daß der deutsche Generalstab Erkennbarkeit im Sinne des Artikel 1 auch bei der Bevölkerung im Falle einer levée en masse verlangt, Kriegsbrauch, S. 7; gegenüber dem klaren Wordaut des Artikel 2 sicher zu Unrecht." 403 Das unerklärliche Vorgehen deutscher Fronttruppen gegen die französische und belgische Zivilbevölkerung beförderte nicht nur eine ausufernde Propaganda der Entente in den zahlreichen Gazetten verbündeter und neutraler Staaten, wodurch der Rechtfertigungsdruck auf das Deutsche Reich zunehmend erhöht wurde, sondern führte auch zu gezielten Anfragen durch die Schutzmächte im Auftrage der Kriegsparteien. So hatte z.B. die Militär-Untersuchungsstelle für Verletzungen des Kriegsrechts im Kriegsministerium im September 1916 auf Bitten Spaniens die rechtlichen Hintergründe der Erschießung von 34 französischen Zivilisten zwischen Couvin und Frasnes in Belgien darzulegen. Mit seinem Gesuch um Aufklärung brachte die spanische Botschaft die deutschen Behörden allerdings in arge Bedrängnis, da die Akten über den genannten Vorfall nicht mehr auffindbar gewesen waren. Nach mühseligen Ermitdungen konnte die Untersuchungsstelle schließlich an den Reichskanzler melden: Am 15. September 1914 sind französische Zivilisten in Frasnes und Couvin „nach Kriegsrecht erschossen worden. Die Erschossenen hatten sich schwer gegen Bernhard Schwertfeger, Die belgischen Franktireurkämpfe 1 9 1 4 und die Weltmeinung, in: Süddeutsche Monatshefte 21 (1924), S. 305. 400 Vgl. Friedrich, Gesetz, S. 99. 401 Vgl Alan Kramer, „Greueltaten". Zum Problem der deutschen Kriegsverbrechen in Belgien und Frankreich 1914, in: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hrsg.), „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch..." Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Frankfurt a.M. 1996, S. 106f. 402 Zitiert aus: Klaus Latzel, Deutsche Soldaten - nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis - Kriegserfahrung 1939-1945, Paderborn, München, Wien, Zürich 1998, S. 193. 403 Strupp, Landkriegsrecht, S. 44 Anm. 1. 399

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das Gesetz vergangen. Ein Teil war beim Marodieren, ein anderer beim Spionieren und die übrigen bei dem Versuche, ein mit deutschen Verwundeten belegtes Lazarett in Brand zu setzen, auf frischer Tat ergriffen worden. Ihrer standrechtlichen Erschießung, die ohne weiteres nach Kriegsrecht hätte erfolgen können, ist nach den hier vorliegenden Berichten ein feldgerichtliches Verfahren vorangegangen. Bei dem damals herrschenden Bewegungskriege und den vielfach wechselnden Kommandostellen ist es bisher nicht gelungen, die Akten über die Verhandlung zu ermitteln". 404 Die rekonstruierten Rechtsgründe für die Exekution der Zivilisten wirkten alles andere als überzeugend. Mochte das zuletzt angegebene Faktum des Versuchs der Inbrandsetzung eines Lazaretts tatsächlich einen schweren völkerrechtswidrigen Straftatbestand begründen, so bildeten die Vorwürfe des Marodierens und Spionierens äußerst vage rechtswidrige Momente insofern, als beide eine sehr weit gespannte Begriffsauslegung zuließen. Was genau hierunter in diesem Fall zu verstehen war, ließ sich ohne Akteneinsicht kaum mehr eruieren. Möglicherweise konnte sogar den Deutschen zu Gute gehalten werden, daß sie als Ordnungsmacht im Sinne der occupatio bellica plündernden Zivilisten Einhalt geboten hatten. Doch mußten diese zum Tode verurteilt werden? War eine Inhaftierung oder Zivilinternierung nicht ausreichend? Offenkundig dachte die Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes über das vorliegende Ergebnis in ähnlicher Weise, denn sie gab die Empfehlung aus: „(...) Als Grund für die Unmöglichkeit einer Auskunftserteilung müßte aber der Spanischen Botschaft die Unauffindbarkeit der Akten angegeben werden. Alsdann würde es aber sehr auffällig und verdächtig erscheinen, wenn trotz des Verlusts der Akten plötzlich Papiere zum Vorschein kommen, die den Erschossenen abgenommen sein wollen. Die mißtrauische Französische Regierung würde ohne weiteres annehmen, daß der Verlust der Akten nur vorgeschoben wird, um zu verschleiern, daß gar kein feldgerichtliches Verfahren stattgefunden hat und die Leute zu Unrecht erschossen worden sind. Möglicherweise würde sie das als einen neuen Beweis der barbarischen deutschen Kriegführung gegen uns verwerten, zumal sich unter den Erschossenen ein Mann von 70 und ein Kind von 14 Jahren befinden. Unter diesen Umständen sehen wir von einer Antwort an die Spanische Botschaft, die doch nur nichtssagend sein könnte, besser ganz ab." 405 Traurige Berühmtheit geradezu erlangte das Vorgehen deutscher Truppen in Löwen, Aerschot, Andenne und in Dinant Ende August 1914. Die hierzu vom Auswärtigen Amt im Mai 1915 in einem Weißbuch herausgegebene Zusammenstellung von Zeugenaussagen deutscher Soldaten, welche die Anschuldigungen der belgischen Regierung über Kriegsverbrechen des deutschen Heeres resdos der Unwahrheit überführen sollte, erlaubte allerdings keine schlüssige Klärung der angeprangerten Vorfälle. So entfachte die heftige Kritik der internationalen Öffentlichkeit an der deutschen Kriegführung in Belgien schon damals einen handfesten Konflikt um Tatfragen, der aber auf seine propagandistische Wirkung bedacht einer objektiv rechtlichen Würdigung des Geschehenen nur wenig hilfreich gewesen war und bis heute die Wissen-

404 Vgl Bericht der Militär-Untersuchungsstelle für Verletzungen des Kriegrechts/Kriegsministerium an den Herrn Reichskanzler, 15. September 1916, in: BA, R 9 0 1 / 2 8 4 7 7 (Film). 405

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schaft beschäftigt. Die Behauptung einer völkerrechtswidrigen „Franktireurstätigkeit" in Belgien ist daher weder bewiesen noch widerlegt 406 . Unbestritten ist, daß anders als beispielsweise im Falle von Jarny, die Kleinstadt Löwen mit ihren 45.000 Einwohnern am 19. August 1914 von deutschen Truppen ohne Zwischenfälle beset2t worden war. Deutschen Angaben zufolge änderte sich das anfänglich gute Verhältnis zur Zivilbevölkerung erst, als am 25. August belgische Truppen aus Antwerpen einen Vorstoß in Richtung Löwen unternahmen. Die in und bei Löwen stationierten deutschen Verbände zogen ihnen entgegen, während weitere Truppenteile von Lüttich her über Löwen an die Front geschickt wurden. Der Rückmarsch einer deutschen Landsturmkompagnie durch Löwen habe nun die Stadtbewohner in ihren Glauben an einen belgischen Sieg bestärkt und daher den Anstoß zu ihrer Teilnahme am K a m p f gegeben. Etwa gegen 8 Uhr abends hätten deshalb die Bewohner schlagartig das Feuer auf die durchmarschierenden deutschen Truppen eröffnet. Umgehend drangen die deutschen Soldaten in die Häuser ein, aus denen angeblich geschossen worden war und durchsuchten sie nach den Tätern. Einige von ihnen wurden im K a m p f getötet, andere mit der Waffe in der Hand gefangengenommen und nach Kriegsbrauch erschossen, nachdem sie der unberechtigten Teilnahme am K a m p f schuldig befunden worden waren. U m die Bevölkerung zur Einstellung der K ä m p f e zu bewegen, ordnete schließlich der Kommandeur des IX. Reservekorps, General von Boehn, die Vergeiselung angesehener Bürger an. D o c h seine Maßnahme blieb wirkungslos, denn die Löwener Bevölkerung habe weiter angegriffen und in ihrer Wut sogar die Flagge des Roten Kreuzes mißachtet, Sprengstoffe und Bomben benutzt und heißen Teer auf die deutschen Soldaten gegossen. Wegen ihrer „meuchlerischen Revolte" verloren 209 belgische Zivilisten ihr Leben - Geiseltötungen miteingerechnet — und 1.100 Häuser wurden im Zuge der deutschen Repressalmaßnahmen dem Erdboden gleichgemacht 407 . Die Frage nach der Stichhaltigkeit der deutschen Angaben einmal außer Acht lassend, steht im Falle „ L ö w e n " zweifelsfrei fest, daß Art. 2 H L K O für eine rechtliche Bewertung nicht mehr in Betracht gezogen werden kann. Christian Meurer kam daher folgerichtig in seinem Rechtsgutachten zu dem Ergebnis: „Der Art. 2 beschäftigt sich im Gegensatz zu den Milizen und Freikorps des Art. 1, die organisiert sein müssen und im Bereich des ganzen Kriegsschauplatzes dem Soldatenberuf nachgehen können, nur mit der seßhaften friedlichen Bevölkerung, die durch das Herannahen der feindlichen Truppen aus ihrer Ruhe aufgescheucht wird. Auch bei fehlender Organisation, wenn nur die Waffen offen getragen werden (...) und wenn weiterhin das Kriegsrecht beobachtet wird, ist der Art. 2 zu weiteren Zugeständnissen bereit, falls sich die Bevölkerung darauf beschränkt, gegen den vorrückenden Feind Haus und Herd zu verteidigen. Andernteils muß aber auch ebenso nachdrücklich betont werden, daß der Art. 1 die begünstigende Ausnahmestellung nicht auch für die Bevölkerung bereit hält, deren Gebiet bereits vom Feind besetzt ist. Der Art. 1 gibt den Einwohnern keinen Freibrief zu Straßenkämpfen, wenn einmal die Ubergabe

406 Vg]c Schmid, Die völkerrechtliche Stellung, S. 47-^9. 407 Vgl Peter Schöller, Der Fall Löwen und das Weißbuch. Eine kritische Untersuchung der deutschen Dokumentation über die Vorgänge in Löwen vom 25. bis 28. August 1914, Köln, Graz 1958, S. 15 und S. 23f.

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erfolgt ist." 408 Auch das Auswärtige Amt rechtfertigte die äußerst harten Maßnahmen der deutschen Streitkräfte in Löwen damit, indem es auf die Verletzung des Art. 2 HLKO durch die belgische Zivilbevölkerung hinwies: „Die Kriegführung der belgischen Zivilbevölkerung war völlig unvereinbar mit den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts, wie sie in den Artikeln 1, 2 der auch von Belgien angenommenen Haager Landkriegsordnung ihren Ausdruck gefunden haben. Diese Regeln unterscheiden zwischen dem organisierten und dem nichtorganisierten Volkskrieg. (...) Der nichtorganisierte Volkskrieg (Artikel 2) sieht von den ersten beiden Bedingungen, also von verantwortlichen Führern und militärischen Abzeichen ab, ist aber dafür an zwei andere Voraussetzungen gebunden: er darf nur in dem vom Feinde noch nicht besetzten Gebiete geführt werden, und es darf keine Zeit zur Organisation des Volkskrieges geblieben sein. Die für den organisierten Volkskrieg aufgestellten beiden Sonderbedingungen haben bei den belgischen Freischärlern zweifellos nicht vorgelegen. (...) Die belgischen Freischärler können daher als organisierte Milizen oder Freiwilligen-Korps im Sinne des Kriegsrechts nicht angesehen werden." 409 Wie korrekt die Wiedergabe der Art. 1 und 2 HLKO durch Christian Meurer und das Auswärtige Amt auch gewesen war, der Konflikt um die Vorgänge in Löwen und anderen Orten Belgiens entzündete sich keineswegs an konträren Rechtsinterpretadonen, sondern vielmehr an der brisanten Frage, ob denn überhaupt „Franktireurs" an den Abwehrkämpfen in Belgien teilgenommen hatten. Denn die belgische Regierung hatte 1916 in ihrem Graubuch jegliche Formen zivilen Widerstandes in Belgien kategorisch bestritten410. Auch wenn demgegenüber angenommen werden darf, daß vereinzelt belgische Zivilisten, sei es legal oder illegal, an der Verteidigung ihres Landes mitwirkten 411 , so ist seit Schöllers Fallstudie aus den fünfziger Jahren eine derartige Unterstellung für Löwen mit größter Sicherheit auszuschließen. Vielmehr zeigte seine Untersuchung erhebliche Mängel und zielstrebige Manipulationen in den Beweismitteln des Auswärtigen Amtes auf, wie die Unterdrückung von Dokumenten, Widersprüche und Ungereimtheiten in den Zeugenaussagen oder sogar deren bewußte Fälschung. Die vermeindiche Bekämpfung rasender Zivilisten in Löwen entpuppte sich somit als ein Akt der Selbstbeschießung deutscher Truppen infolge einer allgemeinen „Franktireurspsychose" sowie von Disziplinlosigkeit und Trunkenheit 412 . Selbst der ehemalige Stadtkommandant in Löwen, Obersdeutnant a.D. von Manteufel, mußte im Jahre 1921 eingestehen, keine Beweise für die Existenz von Freischärlern in Löwen beibringen zu können413. Das Massaker von Dinant Ende August 1914, dem 650 Zivilisten zum Opfer fielen, belegt demgegenüber ein weiteres Mal die gänzliche Außerachdassung des Art. 2 HLKO in der deutschen Kriegführung. Von einer „Franktireurparanoia" konnte in diesem Fall überhaupt nicht gesprochen werden, denn französische Truppen hielten

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Meurer, Volkskrieg, S. 15f. Auswärtiges Amt (Hrsg.), Die völkerrechtswidrige Führung des belgischen Volkskriegs, Berlin 1915, S. 2. 41 " Vgl. Schöller, Löwen, S. 15. 411 Vgl. Kramer, „Greueltaten", S. 118; Büß, Kombattantenstatus, S. 181. 4 '2 Vgl. Schöller, Löwen, S. 69-70. 413 Vgl. Franz Petri, Peter Schöller, Zur Bereinigung des Franktireurproblems vom August 1914, in: VfZ 9 (1961), S. 242. im

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den Ort besetzt und leisteten heftigen Widerstand 414 . Ob es hierbei zu einer Kampfteilnahme belgischer Zivilisten kam, bleibt zudem fragwürdig. In dieser Situation hatten die deutschen Kommandeure aber die Möglichkeit zivilen Widerstandes in Betracht zu ziehen und ihre Truppen entsprechend zu belehren. Daß dies jedoch nicht geschehen war, belegt die äußerst ungewöhnliche Rechtfertigung der deutschen „Abwehrmaßnahmen" gegen vermeintliche Freischärler durch das Auswärtige Amt. In einer extravaganten Auslegung des Art. 2 HLKO, die von deutschen Juristen bisher noch nicht gebraucht worden war, führte es zur Verteidigung der deutschen Soldaten in Dinant an: „Aber auch in den von den deutschen Truppen noch nicht besetzten Orten, so vor allem in Dinant und seiner Umgebung, war der nichtorganisierte Volkskrieg unzulässig, weil die Belgische Regierung zu einer dem Völkerrecht entsprechenden Organisierung des Volkskrieges ausreichend Zeit hatte. Die Belgische Regierung hat seit Jahren damit gerechnet, bei Ausbruch eines deutsch-französischen Krieges in die kriegerischen Ereignisse verwickelt zu werden; die Vorbereitung ihrer Mobilmachung hat nachweislich mindestens eine Woche vor dem Einmarsch des deutschen Heeres eingesetzt. Die Regierung war daher vollkommen in der Lage, ihre Zivilbevölkerung, soweit sie sich ihrer bei etwaigen Kämpfen bedienen wollte, mit militärischen Abzeichen zu versehen und für sie verantwortliche Führer zu bestellen." 415 Die deutsche Rechtsauffassung verriet zweifellos eine überzogene Fixierung auf Art. 1 HLKO, ein großer Mißstand, der schon im Generalsstabsheft von 1902 zu beanstanden war. Das Auswärtige Amt konnte zwar die Existenz des Art. 2 HLKO nicht mehr leugnen, doch durch seine extensive Auslegung des Zeitfaktors machte es dessen Geltung unwirksam: „Die Interpretation, nach der darauf abzustellen wäre, ob eine Regierung ,seit Jahren' mit einer Verwicklung in kriegerische Ereignisse gerechnet habe, heißt in der Praxis den Art. 2 überhaupt nicht anerkennen. Darauf weist denn auch das Graubuch hin. Schließlich ist das ganze Kriegsrecht im Hinblick auf kriegerische Verwicklungen entstanden." 416 Das Wissen einer Regierung um eine künftige militärische Konfrontation 417 entkleidet die Bevölkerung keineswegs des Vgl. Kramer, „Greueltaten", S. 132. Auswärtiges Amt (Hrsg.), Führung, S. 3. 4 1 6 Hauser, Der Kampf Irregulärer, S. 53f. Auch Jürg Schmid folgte Hausers Kritik an der Rechtsargumentation des deutschen Weißbuches und führte hierzu an: „Die Beurteilung des Zeitmangels kann sich nicht nach der Voraussehbarkeit des Konflikts oder der Invasion richten. Eine der Unterlassung einfließende Verantwortlichkeit der Regierung entbehrt der völkerrechtlichen Relevanz, da das Institut der Levée en masse ja gerade für diesen Fall, um der Bevölkerung selbst eine letzte Chance zu geben geschaffen worden war. Vor der Verwicklung des Landes in das Kriegsgeschehen eine Völkerrechtspflicht seiner Bewohner zur Vorbereitung der Verteidigung anzunehmen, ist absurd." Siehe: ders., Die völkerrechtliche Stellung, S. 138. 4 1 7 Seit der Whitehall-Gardens-Konferenz im Jahre 1905 bezog Großbritannien die Möglichkeit eines deutschen Angriffs auf das neutrale Belgien in seine strategischen Planungen mit ein und machte sogar militärische Operationen hiervon abhängig. Denn die Neutralität Belgiens unterminierte Planungen für eine Seeblockade gegen Deutschland. Da nach Ansicht des britischen Außenministeriums der Garanüevertrag von 1839 Großbritannien nicht verpflichtet hatte, die Neutralität Belgiens unter allen Umständen zu verteidigen, faßte man 1912 den Entschluß, jede Reaktion auf eine deutsche Invasion politisch und nicht rechtlich zu begründen. Siehe dazu: Niall Ferguson, Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 1999, S. 9 9 - 1 0 6 und S. 207-209. Nach Beginn des Krieges Heß Deutschland 414

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Rechts zum zivilen Widerstand nach Maßgabe des Art. 2 HLKO. Denn sowohl die Organisierung von Milizen oder Freiwilligen-Korps als auch die spontane Erhebung einer levée en masse bedürfen nicht der Autorisation durch das Völkerrechtssubjekt. Das ius in bello tritt erst zum Zeitpunkt der Kriegseröffnung in Kraft und somit auch der Art. 2 HLKO. Das Verhalten der Zivilisten hängt daher von ihrem persönlichen Informationsstand und ihrer eigen Entschlußkraft ab. Auch Meurer mußte 1924 in seinem Rechtsgutachten für den 3. Untersuchungsausschuß des Deutschen Reichstages einräumen: „Selbstverständlich wird das Recht zur levée en masse nicht dadurch beseitigt, daß die Regierung die Organisation verabsäumt hat." 418 Die neue deutsche Interpretation des Art. 2 HLKO legte nun aber den Finger auf eine Wunde, die bis dahin offenbar gänzlich übersehen worden war. Denn wieviel Zeit mag man mit dem Beginn von Kampfhandlungen der Bevölkerung einer bedrohten Region zugestehen, um sich nach Art. 1 HLKO bei „Herannahen des Feindes" organisieren zu können? Und wer schließlich prüft und entscheidet über Einhaltung oder Verletzung des „vorgegebenen" Zeitrahmens? Es käme nun aber purem Wunschdenken gleich, wenn man behauptete, die zeitliche Bemessung für den Ablauf der Frist sei in objektiver Form gesetzlich fesdegbar. Denn zu unterschiedlich fallen Ursache und Verlauf von Kriegen aus, um auch nur annäherungsweise Zeitmarken rechtlich verankern zu können, nach deren Verstreichen die Bevölkerung sich nicht mehr auf Spontaneität und auf mangelnde Ressourcen zur Organisierung nach Art. 1 HLKO berufen kann. Würde man aber deshalb den Faktor Zeit stillschweigend tilgen, so verlöre der Art. 2 HLKO seinen ursprünglichen Sinn. Steinkamm veranschaulicht diese Problematik folgendermaßen: „Es hieße der Bevölkerung einen Blanko-Scheck überreichen, den das Völkerrecht in jeder Höhe einzulösen verpflichtet wäre, wollte man die Levée en masse auch in solchen Fällen zulassen, wo der Feind nach wochenlangem ständigem Vormarsch, den die Bevölkerung auf der Karte zu verfolgen in der Lage ist und wo eventuell flüchtende Einheiten durch das betreffende bedrohte Gebiet ziehen, endlich ,herannaht'. Schon der Hinweis auf die ,Invasionstruppen' zeigt auch, daß es nicht im zeitlichen Belieben der Bevölkerung liegen kann, wann sie ihre Wahl zwischen Fortsetzung des friedsamen Daseins und Übertritt in die aktive Abwehr trifft." Doch auch Steinkamm muß zugestehen: „Unlösbar erscheint die Bestimmung der Zeit, in der die Bevölkerung eine Organisation aufgebaut haben kann." 419 Machte Steinkamm den Versuch, den Faktor Zeit in Art. 2 HLKO durch die territoriale Besetzung invadierender Truppen und den Kenntnisstand der Bevölkerung zu begrenzen, so stellte Schmid die Zeitfrage in die Abhängigkeit der (spontanen) willentlichen Entscheidung der Zivilbevölkerung: „Die Bedingung des Zeitmangels bezieht sich nur auf die Frist zwischen dem Augenblick, da die Einwohner einer nichts unversucht, militärische Absprachen zwischen Großbritannien und Belgien vor 1914 nachzuweisen, um damit seinerseits London der Neutralitätsverletzung zu bezichtigen und gleichzeitig Belgien schwersten „Verrat" am Völkerrecht vorzuhalten. Siehe dazu: MüllerMeiningen, Weltkrieg, S. 62-68. 418 Christian Meurer, Der belgische Volkskrieg, in: Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919-1928. Dritte Reihe, Völkerrecht im Weltkrieg, Band 2, hrsg. von Johannes Bell, Berlin 1927, S. 182. 419 Steinkamm, Streitkräfte, S. 237.

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Örtlichkeit ihren Willen, in die Reihen der Verteidiger zu treten, erstmals in irgendeiner Weise, z.B. durch Defensivmaßnahmen, manifestieren, und dem Angriff der Invasionstruppen." 420 Die Vielfalt interpretatorischer Möglichkeiten für den ZeitBegriff in Art. 2 HLKO drängt zu der Erkenntnis, daß seine Auslegung in jedem Krieg individuell — meist im nachhinein — aufs neue getroffen werden muß. „Die Beweislast dafür, daß noch Zeit gewesen ist", schrieb Karl Strupp der Realität Tribut zollend, „trifft den einrückenden Feind (...)."42) Die Frage des Zeitbegriffs in Art. 2 bildet somit die Schnittstelle, an der Rechtsbewußtsein, Politik und Ethik zusammenfallen. Die Martens'sehe Klausel und der Grundsatz „in dubio pro reo" mahnen hier vor übereilten Schritten. Schwertfegers nachträglicher Kommentar über die belgischen Franktireurs offenbarte dagegen nicht nur die Unzulänglichkeit eines Militärs gegenüber den juristischen „Problemzonen" des Art. 2 HLKO, sondern mußte ob seines höhnischen Untertones noch geradezu deplaziert wirken: „Strenger Maßregeln hat es bedurft, bis endlich die aus den so unklaren Anschauungen der Belgier erwachsenen Anschauungen über die Berechtigung der Teilnahme der Zivilbevölkerung an der Landesverteidigung ausgemerzt waren. Inzwischen waren aber schon viele Opfer gefallen, und vieles war geschehen, was heute und leider noch auf lange Zeit hinaus vergiftend zwischen den beiden Völkern stehen wird." 422 Die Gründe und Motive für das Vorgehen deutscher Fronttruppen in Belgien und Frankreich sieht Kramer in der Externalisierung innerer Feindbilder auf die besetzten Gebiete. Die Aberkennung des Kombattantenstatus und damit die Kriminalisierung von Zivilisten war danach gleichsam präjudizial auf bestimmte Kreise der Bevölkerung angelegt. So gehörte zu den Feindbildern noch aus den Tagen des Kulturkampfes herrührend der Katholizismus in den nichtkatholischen Teilen des Heeres. Der Furcht vor katholischen Geistlichen, welchen oftmals die Organisierung des Partisanenkrieges zugeschrieben wurde, fielen belgischen Angaben zufolge fünfzig Priester zum Opfer. Die Tötung belgischer „Pfaffen" war kein Kriegsziel der deutschen Regierung, sondern wurzelte in einem latent vorhandenen protestantischen Sendungsbewußtsein zu dem sich die tiefe Überzeugung gesellte, das „auserwählte Volk" zu sein423. Ein Trauma bildete aber besonders für das ständisch geprägte Offizierskorps die wachsende Politisierung des Proletariats, die sich in der Bereitschaft zeigte, bei revolutionären Unruhen mit äußerster Härte gegen Zivilisten auch im eigenen Lande vorzugehen. Die Vorstellung einer „unberechenbaren" Arbeiterschaft wurde somit auf die „feindliche" Zivilbevölkerung vorwiegend industrialisierter Regionen projiziert424. Die rigorose Niederschlagung des Spartakisten-Aufstandes 1918/19 durch die unter Gustav Noske aufgestellten Freikorps-Verbände lieferte noch im nachhinein die Beweise für ein virulentes Feindbild. Die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht war somit der erste Höhepunkt auf dem Weg zu einem ausgreifenden Anti-Bolschewismus 425 . Kriegsrecht und Ideologie vermengten sich zu einem indifferenten Begriff des Partisanen bzw. Freischärlers. Schmid, Die völkerrechtliche Stellung, S. 138. Strupp, Landkriegsrecht, S. 43f. 422 Schwertfeger, Franktireurkämpfe, S. 307. « 3 Vgl. Kramer, „Greueltaten", S. 127-129. 424 Vgl. ebd., S. 114. 425 Vgl. Heinrich August Winkler, Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten Deutschen Demokratie, München 1993, S. 33-68. 420 421

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Ein weiteres Kriterium für die deutsche Perception ziviler Widerstandsakte dürfte darüber hinaus in dem vorherrschenden Kriegsbild des Offizierskorps gelegen haben. Dieses war entschieden charakterisiert durch eine generelle Ablehnung sämtlicher Formen des Kleinkrieges. Sich verschanzen in Baumwipfeln, in Häusern oder im Unterholz, sich tot stellen oder die Führung plötzlicher Attacken aus dem Hinterhalt schienen in einer von „Ritterlichkeit" getragenen Kriegsauffassung ausgeschlossen zu sein. Dem Kleinkrieg an sich haftete daher das Stigma des Verbrecherischen an. Diese Sichtweise findet ihre Bestätigung noch darin, als versprengten regulären Soldaten, die sich nicht selten der Taktiken des Kleinkrieges bemächtigt hatten, häufig der Kombattantenstatus aberkannt wurde. Doch waren Kriegslisten nach Art. 24 HLKO ausdrücklich erlaubt. Ein nachträglich verfaßter Bericht aus dem Kriegstagebuch des 50. Inf. Reg. vom 5. Dezember 1915 liefert einige Anhaltspunkte, die den Verdacht der Kriminalisierung des Kleinkrieges bestätigen. Trotz der Kürze der gegebenen Informationen erinnert der Handlungsablauf an die bereits besprochenen insofern, als „rechtliche Grauzonen" schlicht ausgeblendet wurden: „Das I. R. 50 trat am 23. 8. 14 Vormittags in 2. Linie den Vormarsch durch Ethe nach den Höhen nördlich Latour an. Beim Durchschreiten des Dorfes kam es zu einem sehr lebhaften Feuer und Häuserkampf mit den dortigen Bewohnern und etwa 100 mit den Abzeichen des roten Kreuzes zurückgebliebenen französischen Soldaten und Versprengten, welche überfallartig die in 2. Linie geschlossen durchziehenden Truppen aus den Häusern heraus mit Feuer überschütteten. Etwa 50 männliche Einwohner und ebensoviel Franzosen wurden auf Befehl nach Gefangennahme (...) kurzerhand erschossen." 426 Lag von deutscher Seite in Ethe ein Kriegsverbrechen vor? Der Bericht des 50. Inf. Reg. zumindest bedeutet, ohne allerdings auf juristische Details einzugehen, die Verletzung des Art. 2 HLKO durch die belgische Einwohnerschaft sowie den Mißbrauch des Rot-Kreuz-Abzeichens durch französische Soldaten oder Sanitäter. So diente der Hinweis auf den „Vormarsch in 2. Linie" dazu, die Illegalität der zivilen Widerstandsakte in Ethe zu unterstreichen. Dem bliebe entgegenzuhalten, daß durch die Anwesenheit versprengter französischer Truppenteile eine effektive Besetzung der belgischen Kleinstadt nicht erfolgt sein konnte. Das Recht zur Kampfteilnahme stand damit für die belgische Einwohnerschaft auf der Kippe. Sie aber dennoch als Franktireurs bzw. Freischärler zu begreifen, war keineswegs eine spezifisch deutsche Regelung. Die Rechtssituation der französischen Soldaten und „Versprengten" sah demgegenüber anders aus, der Straftatbestand des „Meuchelmords" infolge arglistiger Täuschung wäre erst einmal zu beweisen gewesen. Da die Franzosen Kombattanten mit unterschiedlichen Rechtsbefugnissen gewesen waren, hätte die Durchführung von Militärgerichtsverfahren zur Feststellung der individuellen Schuld notwendig zu Gebote gestanden. Die Aberkennung des Kombattantenstatus gegenüber den regulären Soldaten beförderte somit die Aushebelung des Kriegsgefangenenrechts. Ein Soldat, der eine Straftat begangen hat, bleibt aber Kombattant. Dies unterscheidet ihn von den Angehörigen legaler irregulärer Formationen. Das 50. Inf. Reg. behandelte folglich die französischen Verteidiger wie Freischärler. Abschriften aus Berichten der in Südbelgien am Kampf beteiligten Regimenter an das Militär-Gouvernement der Provinz Luxemburg, in: BayHStA/Kriegsarchiv München, HS 2258 (Nachlaß Friedrich von Hurt). 426

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Zudem ist es sehr fraglich, ob in Ethe von französischen Kriegsverbrechen überhaupt gesprochen werden konnte. Zwar verbietet Art. 23 f HLKO den Mißbrauch der „besonderen Abzeichen des Genfer Abkommens" 427 , doch ist die Annahme einer solchen Rechtsverletzung im vorliegenden Falle nicht unbedingt zwingend. Denn es war sehr wohl vorstellbar, daß französische Sanitäter den deutschen Einmarsch oder gar Angriff abzuwehren versuchten. Allerdings war die Rechtsstellung des Sanitäters nicht eindeutig geklärt. Nicht selten wurde er gemäß Art. 3 HLKO den Nichtkombattanten zugerechnet und galt damit als Angehöriger der bewaffneten Macht eines Staates428. Dem widersprachen aber die Art. 9 und 12 des „Genfer Abkommens zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken bei den im Felde stehenden Heeren" vom 6. Juli 1906. Diese stellten Sanitätsformationen und —anstalten unter den besonderen Schutz des Kriegsrechts. Denn Sanitäter durften bei Gefangennahme nicht als Kriegsgefangene behandelt, sondern mußten so bald als möglich der feindlichen Macht zurückgesandt werden 429 . Sie besaßen daher einen Sonderstatus und mochten weder in die Kategorie des aktiven noch des passiven Kriegsstandes passen: „Nichtkombattanten sind Teile oder Angehörige der bewaffneten Macht, wie alle Arten von Sanitätspersonen, welche dann freilich spezialgesetzlich ausgezeichnet sind und nicht Kriegsgefangene werden." 430 Nichtkombattanten wie Sanitätern war gemein, daß sie nicht an Kampfhandlungen teilnehmen durften. Gleichwohl stand ihnen das Recht des Waffengebrauchs nach Art. 8 des Genfer Abkommens von 1906 für den Fall der Selbstverteidigung zu431. Damit war zugleich das schier unauflösliche Problem entstanden, wie in den unzähligen Kriegssituationen zwischen unerlaubter Kampfteilnahme und erlaubter Selbstverteidigung unterschieden werden sollte. Dazu sind Situationen denkbar, in denen die Nichtteilnahme des Nichtkombattanten geradezu widersinnig und militärisch ineffizient wäre. Anhand des Wehrmachtbeamten im Zweiten Weltkrieg zeichnete Alfons Waltzog entsprechend folgendes Bild, das auch auf den Sanitäter übertragen werden kann: „Er kommt genau so wie die Soldaten in Gefahr, abgeschnitten und eingeschlossen zu werden. Wenn nun alles zur Waffe greift, um sich zu verteidigen, soll er dann abseits stehen und sich am Kampf nicht beteiligen, weil

Vgl. RGBl. 1910, S. 141. 428 Vgl. Vanselow, Völkerrecht, S. 210. 429 Art. 12 des Genfer Abkommens vom 6. Juli 1906 lautet: „Wenn die in den Artikeln 9, 10, 11 bezeichneten Personen in die Hände des Feindes gefallen sind, sollen sie ihre Verachtungen unter dessen Leitung fortsetzen. Sobald ihre Mitwirkung nicht mehr unentbehrlich ist, sollen sie zu ihrem Heere oder in ihre Heimat zu solcher Zeit und auf solchem Wege, wie sich mit den militärischen Erfordernissen vereinbaren läßt, zurückgeschickt werden. Sie dürfen in diesem Falle die Habseligkeiten, Instrumente, Waffen und Pferde mit sich nehmen, die ihr Privateigentum sind." Siehe: Strupp, Landkriegsrecht, S. 157. Die Art. 9 und 12 wurden in der erweiterten Fassung des Genfer Abkommens zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Heere im Felde vom 27. Juli 1929 nur unwesentlich verändert. Siehe: RGBl. II. 1934, S. 215f. 430 Meurer, Kriegsrecht, S. 115f. 431 Vgl. Strupp, Landkriegsrecht, S. 155. Art. 8 Abs. 1 blieb in der Fassung vom 27. Juli 1929 identisch. Vgl. RGBl. II. 1934, S. 215. 427

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einige völkerrechtliche Theorien behaupten, Nichtkombattanten dürften nicht kämpfen?"« 2 Nach Waltzog betrachteten die Briten im Ersten Weltkrieg die Kampfteilnahme eines Nichtkombattanten als einen völkerrechtswidrigen Akt. Deshalb hätten sie in einem solchen Falle den Nichtkombattanten als Freischärler behandelt und standrechtlich erschießen lassen433. Gegen eine derartige Handhabung spricht jedoch der Wordaut des Art. 3 H L K O und die ihm zu Grunde liegende Rechtslogik, die den Nichtkombattanten als Angehörigen der bewaffneten Macht ausweist. Somit besitzt er den rechtlichen Anspruch auf Kriegsgefangenschaft wie der Kombattant. Für den Sanitäter, der ohnehin einen Sonderstatus besitzt, darf mindestens die gleiche Rechtsauffassung vertreten werden. Ganz in diesem Sinne schrieb 1909 Kriegsgerichtsrat Karl Endres über die Konsequenzen der widerrechtlichen Kampfteilnahme: „Daß auch Nichtkombattanten gelegentlich, z.B. bei feindlichen Überfällen auf Kolonnen, Lazarette usw. genötigt sein können zur Waffe zu greifen, um sich und das ihnen anvertraute staatliche Eigentum zu verteidigen, gehört nicht in das Gebiet der Kampfbeteiligung, sondern in dasjenige der Selbstverteidigung. Bestimmungen darüber, welche Maßregeln im Falle der Gefangennahme gegen die außerhalb der Selbstverteidigung am Kampfe oder an kriegerischen Unternehmungen sich beteiligenden, nicht zu den Kombattanten zählenden Heeresangehörigen ergriffen werden können, sind nicht gegeben. Die Heeresangehörigkeit und Bekleidung eines Militärrangs dürfte sie jedoch vor schweren Folgen schützen und lediglich die Kriegsgefangenschaft rechtfertigen." 434 Umgekehrt tritt der gleiche Rechtsanspruch ein, wenn reguläre Soldaten rechtswidrig das Rot-Kreuz-Abzeichen zur Täuschung des Gegners anlegen. Auch dies stellt genau genommen keinen Akt der Freischärlerei dar, schützt aber vor gerichtlicher Strafe nicht. Da die Verbotsnorm des Art. 23f HLKO, wie alle Regeln der Haager Landkriegsordnung, keine Strafvorschriften enthält, bleibt es der jeweiligen Kriegspartei überlassen nach eigenem Gesetz oder nach Gewohnheitsrecht zu verfahren 435 . Ausgerechnet das Generalstabsheft von 1902, das sich durch eine extrem scharfe Auslegung des Kriegsbrauchs hervortat, sollte an diese Rechtssituation erinnern: „Internationale und völkerrechtlich bindende Bestimmungen zur Verhinderung des Mißbrauchs des roten Kreuzes, Bestrafungen etc., bestehen nicht." 436 Insbesondere das Tragen der feindlichen Uniform, einer weiteren Verbotsnorm des Art. 23f HLKO, wurde von allen Streitkräften als Akt einer besonders heimtückischen Täuschung rigoros verfolgt und zog in der Regel die Todesstrafe nach sich. Juristisch nicht einwandfrei wurde das Tragen der feindlichen Uniform häufig mit Freischärlerei gleichgesetzt. Die fehlenden Strafnormen und die Unsicherheiten des Gewohnheitsrechts begründen eo ipso keinen Freibrief zur sofortigen Exekution des angetroffenen „Übeltäters". O b nun in Ethe die französischen Soldaten widerrechtlich das Rot-KreuzAbzeichen anlegten oder ob Sanitäter nachweisbar unerlaubt am Kampf teilnahmen

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Waltzog, Kombattanten, S. 359. Vgl. ebd., S. 356. Endres, Grundsätze, S. 50. Vgl. Steinkamm, Streitkräfte, S. 272. Großer Generalstab (Hrsg), Kriegsbrauch, S. 37.

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— in dem einen wie im anderen Fall hätte deutscherseits eine militärgerichtliche Prüfung stattfinden müssen. Nach Karl Endres wäre dann ein Todesurteil gegen Sanitäter nicht opportun gewesen. Das Verhalten der Soldaten des 50. Inf. Reg. läßt somit eher darauf schließen, daß sie erbost über die Kleinkriegführung der Franzosen, schlichtweg ihrem Z o r n freien Lauf ließen. Auch die merkwürdige Unterscheidung zwischen französischen „Soldaten" und „Versprengten" legt dies nahe. Ein ähnlich gelagerter Fall wurde Anfang Juli 1921 vor dem Reichsgericht zu Leipzig auf Verlangen Frankreichs gegen den Generalmajor und ehemaligen K o m m a n deur der 58. Inf. Brig., Karl Stenger, sowie gegen den Major B e n n o Crusius verhandelt. Beide waren vom Oberreichsanwalt, Prof. Ludwig Ebermayer, gemäß der französischen Kriegsverbrecherliste angeklagt, durch Mißbrauch ihrer Dienstgewalt es unternommen zu haben, „Untergebene zur Begehung einer mit Strafe bedrohten Handlung zu bestimmen", und hierdurch mehrere französische Kriegsgefangene und Verwundete getötet zu haben 4 3 7 . D e r Sachverhalt, der bereits im Jahre 1915 auf öffentlichen Druck Frankreichs hin von der Militäruntersuchungsstelle für Verletzungen des Kriegsrechts geprüft worden war, beschrieb in erster Linie die Konfrontation deutscher Truppen mit den Kriegslisten des Gegners. So hatte die 58. Inf. Brig, nach der siegreichen Schlacht bei Saarburg am 20. August 1914 den geschlagenen Resten der französischen Armee nachgesetzt bis sie sich schließlich am 26. August im Wald von St. Barbe in schwerste Stellungskämpfe verwickelt sah. Die französischen Verteidiger hatten MG-Schützen in den Baumkronen postiert und ihre Verwundeten im Unterholz versteckt, während andere sich tot stellten. Nachdem die ersten deutschen Angriffsspitzen an ihnen vorbeigezogen waren, eröffneten sie hinterrücks das Feuer. Die deutschen Offiziere äußerten sich „in erregter Weise abfällig über die gegnerische Kampfweise" und Generalmajor Stenger hatte daraufhin, erklärt, keine Gefangenen zu machen und kein Pardon zu geben 4 3 8 . In der irrtümlichen Annahme einer Befehlserteilung, wie das Gericht festgestellt wissen wollte, ordneten Major Crusius und andere Offiziere deshalb an, verwundete und kapitulationsbereite Franzosen umgehend zu erschießen. Die französischen Soldaten wurden somit ihres Kombattantenstatus beraubt und wie Freischärler gemäß „Kriegsbrauch" behandelt. Die Kriminalisierung der französischen Kampftaktik bedeutete zugleich eine schwere Verletzung des Art. 23c H L K O 4 3 9 . Die Selbstverständlichkeit, mit welcher der vermeintliche Befehl ausgeführt worden war, läßt sich nur auf ein überzogenes Selbstbildnis und auf eine höchst einseitige Kriegs- wie Rechtsauffassung zurückführen. Selbst das viel gescholtene Reichsgericht kam im vorliegenden Falle zu dem beachtenswerten Ergebnis: „Jede, auch die fahrlässig herbeigeführte Tötung eines Menschen, die unter Verletzung völkerrechtlicher Satzungen erfolgt, ist daher objektiv rechtswidrig. Sie ist auch subjektiv rechtswidrig, wenn sich der Täter seiner Pflicht zu einem anderen Verhalten bewußt oder 437 Vgl Weißbuch. Abdrucke der vom Reichsgericht auf Grund der Gesetze vom 18. Dezember 1919 und 24. März 1920 erlassenen Urteile, in: Verhandlungen des Reichstags. I. Wahlperiode 1920, Bd. 368. Anlagen zu den Stenographischen Berichten, Nr. 2254 bis 2628, S. 2564. «8 Vgl. Weißbuch, S. 2568. 4 3 9 Art. 23c HLKO verbietet „die Tötung oder Verwundung eines die Waffen streckenden oder wehrlosen Feindes, der sich auf Gnade oder Ungnade ergeben hat." Siehe: RGBl. 1910, S. 141.

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bei fahrlässiger Verursachung - aus Fahrlässigkeit nicht bewußt gewesen ist. Daß die Tötung wehrloser Verwundeter dem Völkerrecht zuwiderläuft, bedarf keiner Ausführung." 440 Eine eigene „Rechtskategorie" bildeten aus deutscher Sicht die „Versprengten", d.h. feindliche Soldaten, die im besetzten Gebiet einzeln oder in kleinen Gruppen zurückgeblieben waren, sei es weil sie den Anschluß an ihre Truppe verpaßt oder gar weil sie als kleine Kommandotrupps den deutschen Vormarsch abzubremsen hatten. Einige unter ihnen waren schlicht Deserteure. Um der Kriegsgefangenschaft zu entgehen, legten sie nicht selten ihre Uniform ab. Angesichts der möglichen Gefahr der Spionage kehrte das deutsche Heer den Grundsatz „in dubio pro reo" in den Satz „in dubio contra reum" um und befahl, nach Ablauf einer bekannt gegebenen Frist, die Erschießung angetroffener Versprengter, gleichgültig ob sie Zivil oder Uniform trugen. Damit wurde nicht nur Art. 30 HLKO auf den Kopf gestellt, sondern auch infolge der Aberkennung des Kombattantenstatus eine massive Verletzung des Kriegsgefangenrechts billigend in Kauf genommen. Denn nach Art 3 HLKO unterliegen Kombattanten und Nichtkombattanten dem Schutz des Kriegsgefangenenrechts441, das nach Art. 4 HLKO die Gewahrsamsmacht zuvorderst auf eine menschliche Behandlung der Gefangenen verpflichtet 442 . Gewiß bilden Versprengte einen Störfaktor, gar eine gewisse Bedrohung für die Besatzungsmacht, doch „versprengt sein" stellt keinen Straftatbestand dar. Ein „verirrter" Soldat ist und bleibt Kombattant. Nicht nur in Frankreich und Belgien, sondern auch in den besetzten Gebieten Rußlands begegneten die deutschen Streitkräfte in zunehmenden Maße den unterschiedlichsten Varianten des Kleinkrieges. Im Bereich der Militärverwaltung „Ober Ost", die Kurland, das Kernland Litauens, einige Destrikte Polens und Westweißrußlands umfaßte, war die Bildung von Partisanengruppen unverkennbar mit der deutschen Besatzungspolitik verknüpft. Als nach dem Abzug der russischen Armee versprengte Soldaten die breite Unterstützung der Bevölkerung gefunden hatten, kam das russische Oberkommando auf den Gedanken, hinter der deutschen Front einen Guerilla-Krieg nach dem Vorbild von 1812 zu initiieren. Im Herbst 1915 wurden deshalb aus regulären Truppenverbänden „Partisanendetachements" gebildet, die unter Aufsicht des Oberkommandierenden aller Kosakeneinheiten im Felde, Großfürst Georgij Michajlovic, standen. Manche Partisaneneinheiten bekamen Zivilkleidung und deutsche Waffen 443 . Weißbuch, S. 2568. Vgl. auch: Hankel, leipziger Prozesse, S. 129ff. Vgl. Strupp, Landkriegsrecht, S. 45. 442 Art. 4 HLKO lautet: „Die Kriegsgefangen unterstehen der Gewalt der feindlichen Regierung, aber nicht der Gewalt der Personen oder Abteilungen, die sie gefangen genommen haben. Sie sollen mit Menschlichkeit behandelt werden. (...)." Siehe: RGBl. 1910, S. 134. Das Gebot der Menschlichkeit faßt Strupp folgendermaßen: „Die Menschlichkeit wird jene Schranke bilden, die einen Staat abhalten wird (auch in Fällen echten Notstandes), Handlungen zu begehen, die als kulturwidrig, als barbarisch bezeichnet werden müssen. Die Grenze wird vielfach flüssig sein, liegt aber ein Fall vor, in dem die Unmenschlichkeit klar zutage tritt, so ist damit zugleich auch eine Völkerrechtswidrigkeit als gegeben zu erachten, die Repressalie herausfordert." Siehe: Strupp, Landkriegsrecht, S. 46. 443 Vgl. Abba Strazhas, Deutsche Ostpolitik im Ersten Weltkrieg. Der Fall Ober Ost 1915— 1917, Wiesbaden 1993, S. 16 und S. 19. 440 441

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Über das Ausmaß der verübten Sabotageakte und der zahlreichen Attacken gegen Nachschubeinheiten und Behörden zeigte sich die deutsche Besatzungsmacht überrascht. Der Erfolg der russischen Verbände wurzelte nicht zuletzt in einer rücksichtslosen Besatzungspolitik, die sich durch schwere und kaum erfüllbare Kontributionen und Requisitionen besonders im ländlichen Raum sowie durch willkürliche Rekrutierungen zur Zwangsarbeit im okkupierten Gebiet für Deutschland auszeich- nete. Viele der in ihrer Existenz bedrohten Menschen schlossen sich den „Partisa- nen" an, wodurch diese nicht nur eine zusätzliche Verstärkung, sondern auch eine größere Einwirkungsmöglichkeit auf die Zivilbevölkerung erhielten. Zum Teil griffen die Bauern auch spontan zu den Waffen, wie z.B. im Bezirk Girkalnis im Spätsommer 1916, um deutsche Requisitionskommandos aus ihren Dörfern zu vertreiben444. Die Reaktionen der deutschen Militärverwaltung gegen die kurzerhand als „Räuberbanden" abqualifizierten Widerstandsgruppen und Partisanenverbände fielen unterschiedlich aus, wenngleich sie in den meisten Fällen von äußerster Härte geprägt waren. Die rechtliche Einordnung der irregulären russischen Formationen ist rückblickend in ihrer Gesamtheit kaum möglich, da sie in der Regel ein unentwirrbares Knäuel von Zivilisten, entflohenen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern sowie regulären Soldaten, letztere zum Teil in Zivilkleidung, darstellten. So wurden Angehörige der „Partisanendetachements" häufig nach Gefangennahme an Ort und Stelle erschossen. Mitunter wurden Freischärler, Verdächtige und Helfershelfer vor ein deutsches Militär- oder Zivilgericht gestellt. Die Urteilsprüche verkündeten meist die Todesstrafe, ebenso in Fällen des illegalen Waffenbesitzes oder der Unterstützung entwichener Kriegsgefangener. Wegen „Beihilfe für die bewaffneten Banden" wurde nicht selten auf bis zu 15 Jahren Zwangsarbeit erkannt445. Gegen die aufständischen Bauern führten die Deutschen „Strafexpeditionen" durch, in deren Verlauf als Repressalmaßnahme manchmal ganze Ortschaften niedergebrannt wurden. Im Fall Girlkanis wurden zudem die Täter blutverschmiert und in schwere Ketten gelegt zur Abschreckung durch die Dörfer getrieben. Darüber hinaus wurden allein in Litauen mindestens 1.000 Todesurteile gefällt wegen Spionage und Kriegsverrat446. Der Zusammenbruch der russischen Armee und mit ihr des für die Einhaltung der Haager Landkriegsordnung haftenden Völkerrechtssubjekts läutete eine neue Dimension des Partisanenkampfes ein. Das Wort „Bande" im Sprachgebrauch deutscher Militärs erfuhr in dieser Phase seine stärkste Legitimation. Denn die Zeit der „Wirrnis" und des Faustrechts gebar nationalistische und syndikalistische Warlords, wie beispielsweise den Anarchistenführer Nestor Machno, die sogar vor Überfällen auf die Zivilbevölkerung nicht zurückschreckten. Revolution und Bürgerkrieg hatten rechtsfreie Räume geschaffen, in denen neben politisch motivierten „Partisanenverbänden" rein kriminelle Gruppen einen günstigen Nährboden fanden447. Die wachsende Privatisierung der Gewalt bedeutete nicht nur einen Rückfall in mittelalterliche

Vgl. ebd., S. 31f., S. 3 8 - 4 2 und S. 48. Vgl. Strazhas, Ostpolitik, S. 35f. und S. 49. 446 Vgl. Vejas Gabriel Liulevicius, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg, Hamburg 2002, S. 106. 447 Zum Problem der organisierten Kriminalität in den heutigen Bürgerkriegen siehe: Martin Hoch, Krieg und Politik im 21. Jahrhundert, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) Β 20 (2001), S. 18f. 444 445

3. Die Rechtslage des Partisanenkrieges

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Zustände, sondern ließ die Frage des Kombattantenstatus gleichsam absurd erscheinen. Aber auch der Rückzug des deutschen Ostheeres, der nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandes in Compiègne am 11. November 1918 begann, war begleitet von zahlreichen Überfällen auf Versorgungseinrichtungen und Bahnstationen sowie von direkten Angriffen auf deutsche Regimenter und Divisionen. So kam es Anfang Januar 1919 südwestlich von Poltawa zu heftigen Gefechten zwischen der 219. Inf. Div. und Verbänden Machnos. Nur unter schweren Verlusten und durch Preisgabe fast sämtlicher Waffen gelang den Regimentern der Durchzug nach Kiew 448 . Am 8. Januar 1919 wurde die bayerische 4. Kav. Brig, in ihrem Quartierort Zaslaw von 2.000 Mann starken ukrainischen Verbänden aufgebracht. Infolge der Vergeiselung deutscher „Kriegsgefangener" mußte die Brigade schließlich das Gefecht abbrechen und den sofortigen Rückzug antreten. Andernorts schlugen die deutschen Truppen hart zurück. Als am 7. Dezember 1918 zwei Eskadrons des Kürassier-Regiments 3 in dem D o r f Bespalze von „Banden" überfallen wurden, ließ man nach kurzem Schußwechsel die mit der Waffe ergriffenen Männer sofort erschießen, das Dorf selbst wurde dem Erdboden gleichgemacht 449 . Der vergessene Partisanenkrieg in Rußland der Jahre 1915 bis 1919, welcher sich durch einen höheren Grad der Organisation gegenüber Belgien und Frankreich auszeichnete, brachte nicht nur die unterschiedlichen Motive und Formen des zivilen und halbmilitärischen Widerstandes hervor, sondern sollte sich letztlich in der Erinnerung zahlreicher deutscher Soldaten und Offiziere als Abwehrkampf gegen „Bolschewismus" und „Slawentum" manifestieren450. Die Grenzschlachten in Oberschlesien gegen Polen verstärkten noch jene vermeintlichen Erfahrungen vergangener Kriegs tage 451 . Deutsche Annexionspläne und Besatzungspolitik bedingten einen zivilen, wenn auch sehr häufig spontanen, kollektiven Widerstand. Der Frage der Rechtmäßigkeit deutscher Ordnungspolitik stand die Frage der Rechtmäßigkeit des russischen Partisanenkrieges gegenüber, die damit zugleich das ungelöste Problem des Rechts auf Notwehr berührte. Auf Art. 2 H L K O konnte sich die Zivilbevölkerung nicht mehr berufen, seine bewußte Ignorierung oder zweifelhafte Auslegung konnte der deutschen Besatzungsmacht, anders als in Belgien, nicht angelastet werden. Die deutschen Gegenmaßnahmen meist in Gestalt von „Strafexpeditionen" trugen aber die Keime des totalen Krieges, in dem das Zivile zunehmend in den Sog militärischer Interessen und Operationen geriet. Der Kriegsverrat Die Szenarien ziviler Kampfteilnahme in Belgien und Frankreich während der ersten Wochen des Krieges betrafen in der Regel die Bestimmungen des Art. 2 H L K O und die Problematik seiner Rechtsauslegung „nach Kriegsbrauch" durch die deutschen Vgl. Die Rückführung des Ostheeres, hrsg. Von der Forschungsanstalt für Kriegs- und Heeresgeschichte, Berlin 1936, S. 61. 4 4 9 Vgl. ebd., S. 70f. und S. 75. 4 5 0 Der brutale Umgang der Freikorps mit den Einwohnern im Baltikum rief immer heftigeren Widerstand hervor. Berichten zufolge wurden in Mitau 500 Letten wegen „bolschewistischer Umtriebe" standrechtlich erschossen, in Tukkum 200 Personen und in Dünamünde weitere 125. Vgl. Liulevicius, Kriegsland, S. 284. 4 5 1 Vgl. Hürter, Sitten, S. 337. 448

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Streitkräfte. Nach Erstarrung der Fronten und der Etablierung einer Besatzungsverwaltung unterlagen alle erdenklichen Varianten zivilen Widerstandes gemäß § 161 M S t G B primär dem deutschen Strafrecht und damit der deutschen Gerichtsbarkeit. Laut Anweisung des Kaiserlich-Deutschen Gerichts des General-Gouvernements in Belgien vom 9. Juni 1915 waren die Militärgerichte, im Falle ihrer Einberufung durch den Befehlshaber, für die strafrechtliche Aburteilung von „Ausländern" zuständig: 1. bei Kriegsverrat (§§ 57, 58, 5 9 , 1 6 0 M S t G B , §§ 87, 88, 89, 90, 91, 92 R S t G B ) ; 2. bei Plünderung von auf dem Kampfplatze gebliebenen deutschen Soldaten (§§ 134, 160 M S t G B ) ; 3. bei allen nach den Gesetzen des deutschen Reiches strafbaren Handlungen die sich gegen deutsche Truppen richten (§ 161 M S t G B ) ; 4. bei allen Zuwiderhandlungen gegen die unter Strafandrohung ergangenen Verordnungen der hierzu ermächtigten deutschen Befehlshaber. Strafbare Handlungen, die von Ausländern gegen Ausländer begangen wurden, unterlagen weder den deutschen Strafgesetzen noch der deutschen Militärgerichtsbarkeit 452 . Zu den Quellen der Rechtsprechung zählte das Gericht die deutschen Strafgesetze, die Befehle und Verordnungen der Befehlshaber und den Kriegsbrauch. Die mangelnde Zuordnung der drei Rechtsquellen, insbesondere aber die Versäumnisse des Gesetzgebers im Hinblick auf eine normenbildende Verortung des „Kriegsbrauchs", erschwerten unnötig die Urteilsfindung der Militärrichter. Die Last einer von rechtsstaatlichen Grundsätzen geleiteten Handhabung von „Kriegsbrauch" und nationalen Strafgesetzen überantwortete die gerichtliche Anweisung schlicht dem einzelnen Richter. Für die Strafzumessung in den Fällen des Kriegsverrats ordnete entsprechend das Kaiserliche Gericht an: " O b die unter Umständen auch wegen unternommenen Kriegsverrats nach § 58 M S t G B (vgl. dessen von § 89 S t G B abweichende Fassung) oder nach Kriegsbrauch (z.B. gegen Franktireurs) zulässige Todesstrafe zu verhängen oder eine mildere Strafe verwirkt ist, muß die Prüfung im Einzelfalle ergeben. Als einzige (...) Strafandrohung kann die (...) Todesstrafe im Hinblick auf die Bestimmungen der Strafgesetze nicht angesehen werden." Für die künftige Verordnungspraxis der Militärbefehlshaber gab das Gericht schließlich die beachtenswerte Empfehlung aus: Die Androhung der Bestrafung „nach Kriegsbrauch ist unzweckmäßig; sie erschwert den Gerichten die Rechtsfindung. Solche unbestimmte Strafandrohung ist auch deshalb zu vermeiden, weil nach der Kaiserl. Verordnung nur Verfehlungen gegen unter Strafandrohung ergangene Verordnungen bestraft werden können und es zweifelhaft sein kann, ob unbestimmte Strafandrohungen überhaupt als solche oder nicht viel mehr als bloße Warnungen aufzufassen sind." 4 5 3 Entsprechend lassen daher z.B. die überlieferten Urteilsstatistiken aus dem Nachlaß des Gouverneurs von Brüssel und Brabant, Generalleutnant Friedrich von Hurt, erwartungsgemäß eine uneinheitliche Verwendung des Sammelbegriffs „Kriegsver-

452 Vgj Kaiserlich-Deutsches Gericht des General-Gouvernements in Belgien, Anweisung über die gerichtlichen und die polizeilichen Befugnisse gegen Ausländer, 9. Juni 1915, S. 1, in: BayHStA/Kxiegsarchiv München, HS 2261 (Nachlaß Friedrich von Hurt). Kaiserlich-Deutsches Gericht, S. 1-2. Die Anweisung folgte hierin dem Erlaß des Generalquartiermeisters über das Verordnungsrecht der Militärbefehlshaber vom 1. Mai 1915; vgl. Die Kaiserlichen Verordnungen, S. 66ff.

453

3. Die Rechtslage des Partisanenkrieges

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rat" erkennen, der als Generalklausel fungierend in vielen Fällen der Konkretisierung bedurfte. Ganz im Gegensatz zu dem fast unterschiedslosen Vorgehen deutscher Fronttruppen gegen tatsächliche oder vermeindiche zivile Widerstandshandlungen vermitteln sie das Bild einer um Differenzierung bemühten Sanktionspolitik, da u.a. fehlende nationale Strafbestimmungen durch die Verordnungen der jeweiligen Befehlshaber ersetzt worden waren. Einen resdos klärenden Einblick in eine Urteilspraxis zwischen Kriegsbrauch, Strafgesetzbuch und Befehlsvorgaben gewähren die Statistiken jedoch nicht, weil sie keine Angaben über die strafbegründenden Gesetze enthalten. Nach dem Bericht des Kaiserlichen Militärgerichts der Provinz Brabant wurden im Zeitraum vom 1. Februar bis 31. Juli 1916 in seinem Amtsbezirk u.a. bestraft wegen: Kriegsverrats und Spionage

7 Pers.

(Nur ein Zivilist wurde zum Tode verurteilt und später zu lebenslangem Zuchthaus begnadigt.) Waffen- und Munitionsbesitz

39 Pers.

Sonstiger Verstöße gegen Reichsgesetze

102 Pers.

Katholische Priester wurden bestraft wegen Zuführung von Mannschaften an den Feind

3 Pers. 4 5 4

(versuchter Kriegsverrat)

In der Zeit vom 1. Februar bis 31. Juli 1917 waren im General-Gouvernement Belgien u.a. folgende Strafverfahren anhängig: Spionage (8 Zivilisten wurden zum Tode verurteilt, 5 wurden erschossen). Zuführung von Mannschaften an den Feind (Ein zum Tode verurteilter wurde zu lebenslangem Zuchthaus begnadigt).

33 Pers. 37 Pers.

Kriegsverrat bzw. Beihilfe hierzu durch Herstellung der l i b r e Belgique Angriff auf deutsche Militärpersonen mit Schußwaffen (davon 2 Zivilisten zum Tode verurteilt).

5 Pers. 6 Pers.

Waffen- und Munitionsbesitz

195 Pers. 4

Ein besonderes Augenmerk richtete die deutsche Besatzungsmacht auf die katholische Geistlichkeit in Belgien. Kriegsgerichtsverfahren gegen Pfarrer, Patres oder Ordensschwestern wurden in separaten Listen erfaßt, die zum Teil nach den Klöstern des Landes untergliedert waren. So wurden beispielsweise im Militär-Gouvernement Luxemburg bis Februar 1916 allein 38 Strafverfahren gegen belgische Geistliche durchgeführt, wovon zwei konkret auf Kriegsverrat lauteten. In der Mehrheit der Fälle, handelte es sich um neu geschaffene Straftatbestände auf völkerrechtlicher Ebene wie „Verhetzung der Deutschen von der Kanzel", „deutschfeindliche Äußerungen", „Beleidigung des deutschen Heeres" oder „Beleidigung des Kaisers". Die dem politischen Strafrecht bzw. dem Gesinnungsrecht unterliegenden „Taten" der Geistlichen, denen ebenso wie dem Kriegsverrat die Annahme eines Treueverhältnisses gemein war und die deshalb vor dem Hintergrund deutscher Annexionspläne

454 Vgl Halbjahresbericht des Kaiserlichen Militärgerichts der Provinz B r a b a n t v o m 31. Juli 1916, in: B a y H S t A / K r i e g s a r c h i v M ü n c h e n , H S 2 2 6 0 (Nachlaß Friedrich v o n Hurt). 4 ä i Vgl. B a v H S t A / K r i e g s a r c h i v M ü n c h e n , H S 2261 (Nachlaß Friedrich v o n Hurt).

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I. Das Kriegsrecht in Deutschland 1899 bis 1933

gesehen werden müssen, wurden mit einem Strafmaß belegt, das von 20 Mark Geldstrafe bis vier Jahre Gefángnis reichte 456 . Nur unter einer allzu kleinlichen und übertrieben nationalistischen Perzeption einer Besatzungsmacht konnten die genannten Fälle noch den Formen zivilen Widerstandes zugerechnet werden. Mit dem Hinweis auf Verletzung der Art. 1 und 2 H L K O waren derartige Strafverfahren aber nicht mehr zu rechtfertigen. Somit erhob sich die Frage nach den Grenzen der Strafbefugnis der Okkupationsmacht sowie der Gehorsamspflicht der Zivilbevölkerung gemäß Art. 43 HLKO. Das Kernproblem in diesen Verfahren bildete das ihnen zugrunde liegende Treuegebot und damit die Frage einer völkerrechtsgemäßen Anwendung des deutschen Strafrechts. Eben dieser Punkt war auch Gegenstand der Diskussion auf einer Tagung der Heeresrichter in Brüssel am 29. und 30. September 1916. Oberkriegsgerichtsrat Willeke sprach dabei die offenen Mängel der deutschen Rechtsprechung unmißverständlich an, doch gelangte er zu einem sehr fragwürdigen Ergebnis: „Es sind jedoch Zweifel aufgetaucht, ob solche Bestrafung zulässig sei. Es ist geltend gemacht worden, daß die Verletzung der kaiserlichen Majestät begrifflich nur solchen Personen als strafbar angerechnet werden könne, die durch ihre Staatsangehörigkeit zur Achtung vor der Majestät verpflichtet sind, daß es aber nicht folgerichtig wäre, von unseren Feinden Achtung vor der Majestät des deutschen Kaisers zu fordern. (...) Selbst bei Bestrafungen wegen Kriegsverrats will die Erklärung, daß wir zu unserer eigenen Sicherheit eine moralisch beim Feinde nicht verwerfbare Begünstigung der feindlichen Kriegsmacht bestrafen, unserem Gefühl recht ungenügend erscheinen. Würde man in solchen Fällen sagen können, daß zwischen Belgien und Deutschland eine vorübergehende, wenn auch lockere Staatenverbindung [!] eingetreten sei, so würden sofort alle Bedenken gegen die Anwendung der unserem Gefühl nach nur für Deutsche anwendbaren Strafgesetze fortfallen." 457 Kein Kriegsgerichtsurteil brachte die damalige internationale Öffentlichkeit derart in Aufwallung, wie dasjenige gegen die britische Leiterin einer Pflegeschule in Brüssel, Edith Cavell. Gemeinsam mit 35 Personen in einem Sammelverfahren vor dem Feldgericht des Gouvernements Brüssel angeklagt, war sie wegen „vollendeten Kriegsverrats" am 7. Oktober 1915 zum Tode verurteilt und unmittelbar darauf hingerichtet worden. Das Gericht sah Cavell als überführt an, seit November 1914 versprengte und aus deutscher Kriegsgefangenschaft entflohene französische bzw. englische Soldaten sowie wehrpflichtige Belgier versorgt und ihre Flucht zu den alliierten Einheiten über die Niederlande ermöglicht zu haben 458 . Damit hatte Edith Cavell den Straftatbestand der „Zuführung von Mannschaften an den Feind" (§ 90

456 VgL Zusammenstellung der beim Militärgouvernement Luxemburg und dessen unterstellten Dienststellen wegen strafbarer Handlungen belgischer Geistlicher geführten und noch schwebenden Untersuchungen vom 29. Februar 1916, in: BayHStA/Kriegsarchiv München, HS 2258 (Nachlaß Friedrich von Hurt). A. Willeke, Aus der völkerrechtlichen Praxis im Gebiete des Generalgouvernements, in: ders. (Hrsg.), Protokolle der Tagung richterlicher Militärjustizbeamter in Brüssel am 2 9 . / 3 0 . September 1916, samt einigen vorbereitenden Gutachten, Brüssel 1916, S. 31. 458 Vgl Sitzung des Feldgerichts des Gouvernements Brüssel vom 7. Oktober 1915 in der Untersuchungssache gegen den Architekten Philipp Baucq u.a., Bl. 12£, in: BA, R 9 0 1 / 2 8 3 1 1 (Film). 457

3. Die Rechtslage des Partisanenkrieges

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Abs. 3 RStGB) erfüllt459. Die Nachricht von der Erschießung Cavells, welche trotz der Intervention des Papstes erfolgt war, löste ein propagandistisches Dauerfeuer in der internationalen Presse aus, in der Deutschland erneut einer barbarischen Kriegführung gegeiselt wurde. Das Chicago Journal brachte die Motivation für die hochschlagenden Emotionen auf den Punkt: „Den Gefangenen zur Flucht zu verhelfen, ist nach den militärischen Gesetzen ein Verbrechen, aber jeder Humanitätstrieb ist eine Tugend, die im ganzen Westen von den Idealen der Weiblichkeit unzertrennbar ist."460 Trotz des Sturmlaufs der Presse blieb das deutsche Militär von der Rechtmäßigkeit des Verfahrens gegen Cavell weiterhin überzeugt. Rückblickend erklärte sich die Rechtsabteilung des Generalstabs des Feldheeres die unbegründeten Anschuldigungen allein mit der Propaganda der Feindmächte: „Die Art und Weise, wie unsere Gegner Vorkommnisse, wie das Urteil gegen Miß Cavell (...) ausgenutzt haben, um in den feindlichen und neutralen Ländern eine wirkungsvolle Propaganda gegen alles, was deutsch ist und heißt, durchzuführen, hat uns stets in die Verteidigung gedrängt. Unsere nachträglich einsetzende Aufklärung fand nirgends mehr Glauben und blieb wirkungslos. Wir mußten eigentlich mit verschränkten Armen zusehen, wie dadurch unser Ansehen im neutralen Ausland immer mehr schwand, obwohl in allen Fällen das Recht auf unserer Seite stand."461 Auch Walter Schwengler sieht die Verurteilung Edith Cavells entsprechend den „Kriegsgesetzen und —gebrauchen" als rechtmäßig an und begreift allein die Vollstreckung des Urteils als „schweren politischen Fehler"462. Als Helfer und Sympathisant der Feindmächte, nicht aber unmittelbar als Freischärler, hatte Cavell im Besatzungsgebiet sich einer Form des Widerstandes dienstbar gemacht, deren Strafwürdigkeit gewiß nicht in Frage stand, die rechtliche Verortung ihrer Handlung aber durch die Haager Landkriegsordnung war kaum einhellig geklärt. Vor dem Hintergrund einer heterogenen Urteilspraxis verwundert das deutsche Gerichtsurteil um so mehr, als Edith Cavell, ohne Anführung eines einzigen Paragraphen des Strafgesetzbuches des Todes würdig befunden wurde. Einzig der mit ihr angeklagte Rechtsanwalt Albert Libiez wurde wegen „vollendeten Kriegsverrats im Sinne des § 57 MStGB und des § 89 RStGB" zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt 463 . Damit wurde im Falle Cavell, wie bei den meisten ihrer Mitangeklagten, der internationale Rechtsgrundsatz „nullum crimen, sine lege" verletzt, vor allem weil der § 90 Abs. 3 RStGB im schwersten Falle lebenslängliches Zuchthaus vorsah und eben nicht die Todesstrafe. Ihre Verurteilung wirkt daher wie eine schriftliche Fixierung der aus dem Kriegsbrauch stammenden „Abwehrmaßregel", welche mit dem kaum eingrenzbaren Repressalienrecht verkoppelt war. Anhand des ähnlich gelagerten Falles „Kapitän Charles Fryatt" 464 kam das niederländische Blatt „Das Vaderland" am 29. Juli 1916 über die deutsche Spruchpraxis zu dem interessanten Ergebnis: „Deutschland bringt, indem es seine Kriegsrechtsprechung nach dem alttestamentari« ' V g l . RGBl. 1876, S. 57. •»"» BA, R 901/28311 (Film), Bl. 53. 4 Fonck, Schuld, S. 230f.

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Ein heikles Unterfangen bildete die rechtliche Bewertung des Partisanenkrieges und der deutschen Gegenmaßnahmen. In engster Abstimmung mit den militärischen Stellen fertigte Christian Meurer hierüber ein Rechtsgutachten an, sein Interesse konzentrierte sich allerdings infolge der propagandistischen Breitenwirkung im Kriege allein auf die belgischen Vorgänge. Gestützt auf das Material des amtlichen Weißbuches von 1915 eröffnete Meurer erneut einen Krieg der Fakten, indem er die Urteilskriterien fast gänzlich auf Art. 1 HLKO fokussierte und damit einzig die Beantwortung der Tatsachenfrage nach dem Stand der Ausrüstung und Organisation der belgischen „Freischärler" bzw. der garde civique der rechtlichen Subsumtion zuführte 477 . Damit neutralisierte er seine eigene Feststellung, wonach Versäumnisse der Regierung, wie z.B. Volksmilizen aufzustellen, keine Auswirkung auf die Rechtsgeltung des Art. 2 HLKO haben können478. Anders als im Jahre 1914 nahm Meurer nun auch die Argumentation des Auswärtigen Amtes auf, die Tragweite des Art. 2 HLKO durch die Ansetzung eines Zeitfaktors erheblich einzuschränken 479 . So berechtigt der Einwand einer zeitlichen Bemessungsgrenze für eine „spontane Volkserhebung" auch war, einen objektiv zumutbaren Zeitrahmen fand Meurer nicht. Recht wohl mochte ihm bei der Bewältigung dieses Problems nicht gewesen sein, denn in seinen Ausführungen vermischte er Rechtssätze mit empirischen Fakten, deren Wahrheitsgehalt er kritiklos voraussetzte: „Wie ist die Frist zu berechnen? Rechnet man von dem Zeitpunkt, in dem der deutsche Einfall in Belgien bekannt wurde, so hat sicherlich in den von der Grenze entfernt liegenden Ortschaften die Bevölkerung Zeit zur Organisation gehabt, und es war somit der unorganisierte Volkskrieg verboten. Rechnet man aber von der Annäherung der deutschen Truppen mit der Maßgabe, daß die Bewohner einer Ortschaft nach dem im letzten Augenblick gefaßten Entschluß, Widerstand zu leisten, keine Zeit zur Organisation mehr hatten, so kann doch auch hier von einem erlaubten Volkskrieg dann keine Rede sein, wenn die Erhebung im bereits besetzten Gebiet erfolgt, oder wenn nicht die Bevölkerung als solche auftritt, sondern nur (...) aus einzelnen Häusern geschossen wird." 480 Die Veröffentlichung seines Gutachtens im Jahre 1928 brachte Meurer in die Schußlinie der internationalen Kritik. Insbesondere die Gegengutachten seiner belgischen Kollegen meldeten erhebliche Zweifel an der Redlichkeit seiner Arbeit an481. Vgl. Meurer, Volkskrieg, S. 155-175. Auch die Militärbehörden rechtfertigten in ihren öffentlichen Verlautbarungen die deutschen „Anti-Partisanenmaßnahmen" primär auf der Grundlage des Art. 1 HLKO, dessen einseitige Interpretation aber nur allzu augenfällig gewesen war: „Der belgischen Regierung muß überhaupt die Hauptschuld an dem Franktireurkrieg und damit an den ,Greueln' des Jahres 1914 zugeschrieben werden. Schon vor dem Kriege, bei den Beratungen über die Haager Landkriegsordnung [!], hatte sie für sich das Recht in Anspruch genommen, im Notfalle die Zivilbevölkerung als Freikorps zu organisieren und dieses dem Feinde entgegenzuwerfen. Die Neigung zu irregulärem Widerstande lag also in der Luft." Siehe: Kriegsministerium, Oberste Heeresleitung (Hrsg.), Die deutsche Kriegführung und das Völkerrecht. Beiträge zur Schuldfrage, Berlin 1919, S. 49. 4 7 ' Vgl. Meurer, Volkskrieg, S. 181 f. 480 Ebd., S. 182f. 481 Siehe u.a.: Norbert Nieuwland, Maurice Tschoffen, Das Märchen von den Franctireurs von Dinant. Antwort auf das Gutachten von Professor Meurer von der Universität Würzburg, Gembloux 1928; Fernand Mayence, Die Legende der Franktireurs von Löwen. Antwort auf das Gutachten des H. Professors Meurer, von der Universität Würzburg, Louvain 1928. 477

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Doch Meurer blieb stur. Ungerührt beharrte er auf seinem Standpunkt der Rechtmäßigkeit der deutschen Kriegführung in Belgien. In seiner Autobiographie widmete Meurer diesem gewichtigen Disput ganze zwei Sätze und überspielte damit die Fragwürdigkeit seiner Rechtsargumentation und seiner Tatsachenbehauptungen 482 . Meurers nationale Haltung, die ganz der Abwehr völkerrechtlicher Anklagen verpflichtet war, hatte sich bereits Jahre zuvor überdeutlich in dem Entschluß gezeigt, seine Mitarbeit am „Institut de droit international", welchem er seit 1908 als außerordentliches Mitglied angehört hatte, zu beenden. Sein Brief vom Juli 1920 an den Generalsekretär des Instituts, Albéric Rolin, in dem er u.a. den „Geist des Pariser Gewaltfriedens" anprangerte, endete mit den vielsagenden Worten: „(...) und so werde ich in Zukunft meinen Weg allein gehen" 483 . Mit Meurer, dem Pionier des deutschen Kriegsvölkerrechts, ging der Großteil einer Generation 484 . Das Eingeständnis der Schuld mochte um so schwerer über die Lippen kommen, als der eigene Glaube an das „ungeschlagene" Heer sowie die vermeintliche Stellung des Deutschen Reiches in der Welt nicht untergraben werden durfte. Hin- und hergerissen zwischen Vaterlandstreue und wissenschaftlicher Zunft gebot die Staatsräson über die Auslegung des Rechts. Doch waren insgesamt betrachtet auch kritische Töne zu vernehmen 485 . So erwies sich das Fonck'sche Credo der Einmütigkeit bei näherem Hinsehen als reines Wunschdenken. Zwar hatte der 3. Untersuchungsausschuß Meurers Rechtsgutachten einstimmig gebilligt 486 , aber im stillen Kreise der „Eingeweihten" hielt man mit Kritik an Meurers Arbeitsweise nicht zurück. Selbst Walther Schücking, seit 1924 Vorsitzender des Gesamtausschusses, bezweifelte im Kollegenkreis Meurers Objektivität 487 .

„Es ist noch eines Nachspiels zu meiner Gutachtertätigkeit zu gedenken. Die Belgier, nach denen der belgische Volkskrieg nur eine deutsche Legende ist, fühlten sich durch mein Gutachten über den belgischen Volkskrieg verletzt; und Fernand Mayence, Professor an der Universität Loewen, richtete an mich in Broschürenform einen offenen Brief, der gleich in deutscher, französischer, englischer, italienischer und spanischer Sprache erschien. Ich vetrat meinen Standpunkt noch einmal in dem ,Current History' der New York Times (...) und in meiner Schrift,Loewen und der belgische Volkskrieg' 1928." Siehe: Christian Meurer, in: Hans Planitz (Hrsg.), Die Rechtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 3, Leipzig 1929, S. 148. Vgl. ebd., S. 125. 484 Zur politischen Haltung deutscher Wissenschaftler allgemein siehe.: Gabriele Metzler, „Welch ein deutscher Sieg!" Die Nobelpreise von 1919 im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, in: VfZ 44 (1996), S. 173-200. 485 So verurteilte z.B. Josef L. Kunz im Einklang mit Karl Strupp die Neutralitätsverletzung gegenüber Belgien und wies jegliche Rechtfertigung auf der Grundlage der „Kriegsnotwendigkeit" scharf zurück. Vgl. ders., Belgien, S. 122f. Eine kritische Bestandsaufnahme der Entschließungen des 3. Untersuchungsausschusses siehe bei: A. Mendelssohn Bartholdy, Kriegsnotwendigkeiten und Repressalien: Zwei Feinde des Völkerrechts, in: Europäische Gespräche. Hamburger Monatshefte für Auswärtige Politik V (1927), S. 319-328. 486 Vgl Entschließung angenommen in der Sitzung vom 7. März 1924, in: Das Werk des Untersuchungsauschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919-1928. Dritte Reihe Völkerrecht im Weltkrieg, Band 2, hrsg. von Johannes Bell, Berlin 1927, S. 135-139. 48~ Heinemann, Niederlage, S. 198. 482

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Der Verzicht der Entente auf Auslieferung der wegen Kriegsverbrechen beschuldigten Personen ermöglichte es dem deutschen Staat, in eigener Regie Kriegsverbrecherprozesse durchzuführen. Die notwendigen Voraussetzungen für eine Anklageerhebung vor deutschen Gerichten wurden auf der Konferenz in Spa vom 5. bis 16. Juli 1920 zwischen Deutschland und den Siegermächten geschaffen 488 . Zu diesem Zweck hatte bereits die verfassunggebende Deutsche Nationalversammlung am 18. Dezember 1919 das „Gesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen" verabschiedet, das in § 1 die erst- und letztinstanzliche Zuständigkeit des Reichsgerichts für Verbrechen und Vergehen begründete, die ein Deutscher im Inoder Ausland während des Krieges bis zum 28. Juni 19 1 9 489 gegen feindliche Staatsangehörige oder feindliches Vermögen begangen hatte490. Die Verfahren vor dem Reichsgericht begannen im Frühjahr 1921 auf der Grundlage einer von den Alliierten eingereichten „Probeliste" mit 45 namentlich benannten Beschuldigten. Die Entente verfolgte damit das Ziel, den Willen der deutschen Justiz zur Strafverfolgung von Kriegsverbrechen zu überprüfen. Die strafrechtliche Ahndung der erfaßten Personen, die in der Regel unter der Aufsicht von Oberreichsanwalt Ludwig Ebermayer stand, führte in ihrem Ergebnis zu zehn Prozessen, in denen 17 Offizieren und einem Soldaten Kriegsverbrechen zur Last gelegt worden waren 491 . In ihren Ermittlungen war die Staatsanwaltschaft, ebenso wie der Untersuchungsausschuß des Deutschen Reichstages, auf die Amtshilfe der Heeres- und der Marineleitung angewiesen. Die Militärbehörden ließen allerdings keinen Zweifel daran, daß ihr „Wohlwollen" uneingeschränkt den Angeklagten und ihren Verteidigern galt. Ihr Interesse war allein von der Sorge geleitet, keinen Makel auf Heer und Marine fallen zu lassen492. Nicht nur für die Militärs, auch für zahlreiche Juristen bildeten die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse eine Einbahnstraße, in der einzig die Schuld Deutschlands im Kriege öffentlich dokumentiert werden sollte. Ludwig Ebermayer sprach nicht für sich allein, als er rückschauend über jene Tage schrieb: „Es ist mir heute noch unverständlich, daß wir im Versailler Vertrag die Verpflichtung übernahmen, diese Kriegsverbrechen (...) in Deutschland und durch deutsche Gerichte verfolgen zu lassen. Wir hatten den Krieg verloren, wir mußten uns harten, von Haß und Rache diktierten Bedingungen der Feinde fügen, wir mußten Opfer an Land und Geld bringen; das war unvermeidlich; nie und nimmer aber durften wir uns der entehrenden Bedingung fügen, unsere eigenen Landsleute wegen dieser sogenannten Kriegsverbrechen zu verfolgen, während es keinem der anderen am Kriege beteiligten Länder einfiel, eine solche Verpflichtung auf sich zu nehmen. Ein solches Zugeständnis ging an unsere Ehre." 493 "88 Vgl. Schwengler, Völkerrecht, S. 344f. Rein rechtlich betrachtet endete der Kriegszustand zwischen dem Deutschen Reich und der Entente erst durch die Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages am 28. Juni 1919. Ein Waffenstillstandsabkommen, wie z.B. am 11. November 1 9 1 8 ausgeführt, bedeutet keineswegs den endgültigen Abschluß aller Kriegshandlungen. Auch das Kriegsrecht ist weiterhin in Kraft. 490 Vgl. Dirk von Seile, Prolog zu Nürnberg. Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse vor dem Reichsgericht, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte (ZNR) 19 (1997), S. 195. 489

Vgl. Hankel, Leipziger Prozesse, S. 91. Vgl. Schwengler, Völkerrecht, S. 345. 4 9 1 Ludwig Ebermayer, Fünfzig Jahre Dienst am Recht. Erinnerungen eines Juristen, Leipzig, Zürich 1931, S. 190f. 491

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3. Die Rechtslage des Partisanenkrieges

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Im Sommer 1922 kamen die öffentlichen Verhandlungen des Reichsgerichts faktisch zum Erliegen. Unerledigt blieben damit nicht nur die restlichen Fälle der Probeliste, sondern auch die bei weitem eindrucksvollere Zahl von 816 Beschuldigten der „Großen Liste" 494 . Einige wenige öffentliche Verhandlungen waren vermutlich für Februar 1923 noch vorgesehen, doch mit der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen wurde hiervon endgültig Abstand genommen. Diese politische Situation bot schließlich der deutschen Justiz hinreichend Anlaß, in nichtöffentlichen Sitzungen sich der lästigen Verantwortung einer unparteiischen Rechtsfindung durch massenhafte Verfahrenseinstellungen zu endedigen. Die Einstellungen der Verfahren, die schon Ende 1922 ihren Anfang nahmen, wurden in der Regel mit der lapidaren Begründung gerechtferdgt, daß die Ermitdungen keinen Anhaltspunkt für das Vorliegen einer strafbaren Handlung geliefert hätten 495 . Die wenigen Prozesse, in denen ein Urteilsspruch gefällt wurde, befaßten sich in der Hauptsache mit Fragen des Kriegsgefangenenrechts und vor dem Hintergrund des uneingeschränkten U-Bootkrieges mit der Problematik von Befehl und Gehorsam. Die komplexe Thematik des zivilen Widerstandes war dagegen nicht Gegenstand der Verhandlungen496. Ein solches Verfahren wäre von großem Erkenntniswert gewesen, da die Strafbarkeit der jeweiligen Handlung gemäß deutschem Recht zu beurteilen war497. Auf der Grundlage des Primats des Völkerrechts war somit die Rechtswidrigkeit einer Tat entsprechend der Interpretation des Kriegsrechts nach deutschem Strafrecht zu ahnden. Ludwig Ebermayer sprach zwar diesen Sachverhalt in seinen Memoiren an, doch wirken seine Erklärungen über den eingeschlagenen Weg der Rechtsfindung zwischen Völkerrecht und Landesrecht eher diffus: „Unter den Kriegsverbrechen, die hier in Frage kamen, waren nur Handlungen zu verstehen, die sich als eigentliche Kriegshandlungen darstellten, in der Regel Völkerrechtsverletzungen, wie Erschießung von Geiseln [!], Tötung Verwundeter, Mißhandlung Gefangener, Niederbrennen von Häusern, Versenken von Lazarettschiffen usw. Da das Deutsche Strafgesetzbuch für solche Völkerrechtsverletzungen keine besonderen Strafdrohungen enthält, konnte es sich fragen, ob für derartige Handlungen überhaupt ein Strafanspruch des Staates gegen den einzelnen besteht. (...) Eine Handlung, die nach dem Deutschen Strafgesetz den Tatbestand eines gemeinen Verbrechens oder Vergehens bildet, ist nach diesem Recht zu bestrafen, vorausgesetzt, daß sie rechtswidrig begangen und nicht etwa die Rechtswidrigkeit durch Notwehr usw. ausDie Auslieferungsliste der Alliierten setzte sich aus sieben Sonderlisten zusammen: Britische Liste: 97 Fälle. Französische Liste: 334 Fälle. Italienische Liste: 29 Fälle. Belgische Liste: 334 Fälle. Polnische Liste: 51 Fälle. Rumänische Liste: 41 Fälle. Serbische Liste: 4 Fälle. Vgl. Meurer, Volkskrieg, S. 147. 4 9 5 Vgl. Schwengler, Völkerrecht, S. 3 5 5 - 3 5 6 . 4 , 6 Eine Ausnahme bildete der Prozeß gegen den Feldpolizei-Unterbeamten, Max Ramdohr. Dieser Fall handelte von der Verwahrung Minderjähriger, denen die VerÜbung von SabotageAkten an Bahngleisen zur Last gelegt worden war. Vgl. Weißbuch, S. 2 5 5 7 - 2 5 6 3 . 43 Vgl. Busch, Oberbefehl, S. 104; Broszat, Staat, S. 365. 14 Vgl. Kurt Pätzold, Alfred Jodl. „...weil ich nichts zu verbergen hatte", in: ders., Manfred Weißbecker (Hrsg.), Stufen zum Galgen. Lebenswege vor den Nürnberger Urteilen, Leipzig 1996, S. 346. 15 Vgl. Ger van Roon, Helmuth James G r a f von Moltke als Völkerrechder 1 9 0 7 - 1 9 4 5 , in: Z a ö R V 47 (1987), S. 741. Vgl. BA-MA, RW 4 / 8 2 4 , Bl. 1. 17 Vgl. Erklärung von Oberst Werner von Tippeiskirch vom 20. Dezember 1946, Bl. 1 - 9 , in: N O K W - 5 9 4 , M A - 1 5 6 4 / 9 , IfZ. 18 Vgl. Erklärung von Karl Theodor Kipp vom 18. Dezember 1946, S. 1 - 6 , in: N O K W - 5 7 5 , MA-1564/9, If2. 19 Vgl. Pätzold, Alfred Jodl, S. 341. 2 0 Vgl. Schottelius, Caspar, Organisation, S. 293, S. 364. 21 Vgl. Kriegführung als Problem der Organisation. Mit einem Anhang über den Krieg der Zukunft, 19. April 1938, in: I M T , Bd. X X X V I I I , S. 44. 2 2 Als Datum der Schließung geben Schottelius/Caspar den 31. März 1938 an. Dies muß allerdings bezweifelt werden, da das O K W in seiner Denkschrift über die „Kriegführung als Problem der Organisation" vom 19. April 1938 noch von der Existenz der Wehrmachtakadamie ausgeht. Vgl. Schottelius, Caspar, Organisation, S. 364. 12

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II. Die Einrichtungen des Völkerrechts

Für Jodl besaß die Wehrmachtrechtsabteilung eine zentrale Position. Ihr gedachte er die entscheidende Aufgabe zu, die „notwendige Einheitlichkeit bei Rechtsfragen innerhalb der 3 Wehrmachtteile" sicher zu stellen23. Chef dieses gewichtigen Ressorts war der ehemalige Senatspräsident am Reichskriegsgericht, Ministerialdirigent Dr. Rudolf Lehmann, seit dem 1. Mai 1944 gemäß dem Befehl Hitlers für „die Bildung des Truppensonderdienstes in der Wehrmacht" 24 im Range eines General-Oberstabsrichters25. Er trat am 1. Juli 1938 die Nachfolge von Geheimrat Dr. Heinrich Rosenberger an, der nach Lehmanns eigenem Bekunden im Nürnberger OKWProzeß wegen „hiderfeindlicher Äußerungen" unversehens seine Stellung aufgeben mußte 26 . Lehmann war kein Mitglied der NSDAP 27 . Er selbst rechnete sich während der Weimarer Jahre den konservativen Parteien zu. Als Abkömmling einer gehobenen bürgerlichen Mittelschicht votierte er bei den Reichspräsidentschaftswahlen für Hindenburg, die nationalsozialistische Bewegung war ihm „zu laut, zu arrogant" 28 . Gesellschaftlich und politisch in militärischen wie juristischen Kreisen geprägt 29 , überwog bei Lehmann die nationale Staatsräson gegenüber den als „liberalistisch" verunglimpften Rechtsstaat 30 . Kriegserfahrung und Furcht vor dem Kommunismus 31 machten es daher dem Träger des Eisernen Kreuzes leicht, in Hiders Reich hinüberzugleiten. Lehmanns öffentliche Auftritte, seine Schmähungen des Judentums in der Rechtswissenschaft und seine Unterwerfung unter den „Führerwillen" 32 ließen letztlich eine Unterscheidung zwischen national-konservativer und nationalsozialistischer Anschauung unmöglich werden. Gemäß Dienstanweisung unterstand die Wehrmachtrechtsabteilung unmittelbar dem Chef OKW. Ihr Arbeitsgebiet erstreckte sich auf a) die Bearbeitung der militärstrafrechtlichen Gesetze und Verordnungen, Verfahrensordnungen, die Strafvollstreckung für die Wehrmacht sowie auf die Mitwirkung bei der strafrechtlichen Gesetzgebung im Gesamtgebiet der Reichsverwaltung; b) die Bearbeitung von Völkerrechtsfragen; 23 Vgl. IMT, Bd. XXXVIII, S. 45. 24 Vgl. Rudolf Absolon (Hrsg.), Das Wehrmachtstrafrecht im 2. Weltkrieg. Sammlung der grundlegenden Gesetze, Verordnungen und Erlasse, Kornelimünster 1958, S. 245—252. 25 Ein Verzeichnis der Wehrmachtrichter des Heeres im Generalsrang 1944—1945 siehe in: W. Keilig, Das Deutsche Heer 1 9 3 9 - 1 9 4 5 . Gliederung, Einsatz, Stellenbesetzung, Bad Nauheim 1957, Abschnitt 213, S. 5 - 8 . 26 Vgl. Records of the United States. Nuernberg War Crimes Trials. United States of America v. Wilhelm Leeb et. al. (Case XII). Transcript Volumes (German Version), Roll 41, Bl. 7760, MB 31/41, IfZ. 27 Vgl. Norbert Haase, Generaloberstabsrichter Dr. Rudolf Lehmann, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Hitlers miltärische Elite, Bd. 1: Von den Anfangen des Regimes bis Kriegsbeginn, Darmstadt 1998, S. 154. 28 Vgl. Records of the United States. Nuernberg War Crimes Trials. United States of America v. Wilhelm Leeb et. al. (Case XII). Transcript Volumes (German Version), Roll 40, Bl. 7695, MB 31/40, IfZ. 29 Über die politische Zielsetzungen der deutschen Richterschaft in der Weimarer Republik siehe: Ralph Angermund, Deutsche Richterschaft 1 9 1 9 - 1 9 4 5 , Frankfurt a.M. 1990, S. 19-44. 30 Vgl. Haase, Dr. Rudolf Lehmann, S. 155. 3) Vgl. Records of the United States, Roll 40, Bl. 7696. 32 Vgl. Rudolf Lehmann, Die Aufgaben des Rechtswahrers der Wehrmacht, in: Deutsches Recht (DR) 9 (1939), S. 1265, S. 1268.

1. Die Rechtsabteilungert der Wehrmacht

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c) die Mitwirkung bei der Gesetzgebung und Erstattung von Rechtsgutachten im gesamten öffentlichen und privaten Recht. Die entsprechenden Aufgaben hatten im Bedarfsfall in Zusammenarbeit mit dem Amt Ausland/Abwehr ausgeführt zu werden33. Zur Bewältigung dieses komplexen Arbeitsgebietes stand Rudolf Lehmann eine 20-köpfige Mannschaft zur Verfügung 34 , die sich auf drei Gruppen und fünf Referate aufteilte. Zur Gruppe I gehörten nach dem Geschäftsverteilungsplan vom 21. Oktober 1939 35 die Referate „Strafrecht" unter Leitung des 70-jährigen Geheimen Kriegsrats Dörken und „Strafverfahrensrecht" unter Oberkriegsgerichtsrat Dr. Werner Hülle. Die Gruppe II bestand aus nur einem Referat. Ihr fiel der Bereich „Rechtsanwendung", „Gnadenrecht" und „Disziplinarrecht" zu. Für sie zeichnete zunächst Ministerialrat Dr. Karl Lotter verantwortlich, bis er von Generalstabsrichter Dr. Karl Sack im September 1941 abgelöst wurde. Im Gegenzug übernahm Lotter die bisherige Stelle Karl Sacks als Rechtsberater der Heeresgruppe Süd unter dem Befehl des Generalfeldmarschalls Gerd von Rundstedt36. Der Gruppe III oblag die Behandlung des „Völkerrechts" aber auch des „Wehrrechts", des „Beamtenrechts" und „Bürgerlichen Rechts". Ihr Leiter war der über 70-jährige Geheime Kriegsrat Dr. Maximilian Wagner, welcher bereits im Ersten Weltkrieg im preußischen Kriegsministerium mit der Bearbeitung völkerrechtlicher Fragen betraut gewesen war. Lehmann selbst war nach eigener Aussage in der Hauptsache mit der Strafrechtspflege befaßt und arbeitete deshalb regelmäßig mit der Gruppe II zusammen, weshalb Dörken und Wagner relativ selbständig ihre Geschäfte wahrnehmen konnten 37 . Während des Krieges hatte die Gruppe III vor allem die Aufgabe auf Anfrage kriegsrechtliche Unklarheiten zu bereinigen und völkerrechtliche Probleme im Bereich der Gerichtsbarkeit zu bewältigen. Weder die Wehrmachtrechtsabteilung im Gesamt noch andere Stellen besaßen aber eine Kontrollfunktion, die sie zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit militärischer Führungsmaßnahmen autorisiert hätten. Lehmanns Tätigkeit und die seiner Referenten beruhte seinen eigenen Angaben zufolge in Sachen Völkerrecht allein auf einer beratenden Funktion. Die übrigen Abteilungen im O K W konnten etwa bei der Vorbereitung eines Befehls seine Stellungnahme einholen, sie mußten diese aber nicht übernehmen 38 . Mit Beginn des Angriffskrieges gegen Polen erhielt Lehmann ein weiteres Referat in seinen Verantwortungsbereich gestellt. Es war dies die „Wehrmacht-Untersuchungsstelle für Verletzungen des Völkerrechts (WUSt), die von Wilhelm Keitel per Erlaß am 4. September 1939 installiert worden war. Sie wurde in die Gruppe III der Wehrmachtrechtsabteilung eingegliedert und stand unter Leitung des Notars und Oberkriegsgerichtsrats Johannes Goldsche 39 . In ihrer Zuständigkeit lag die FeststelVgl. BA-MA, R H D 1 8 / 1 3 , Bl. 109 (Stand: 1. März 1939). Vgl. Records o f the United States, Roll 41, Bl. 7697. Vgl. B A - M A , RW 4 / 1 4 8 , Bl. 2 8 5 - 2 8 8 . 3 6 Vgl. Anweisung des O K H (Ch H Rüst u B d E ) vom 11. September 1941, in: B A - Z N S , W 1 0 / 2 3 4 4 (Personalakte Dr. Karl Sack), Bl. 246. 37 Vgl. Records o f the United States, Roll 41, Bl. 7 7 1 8 - 7 7 2 0 . Wagner verstarb 1943. Vgl. ebd., Bl. 7 7 2 2 - 7 7 2 5 . 3 9 Vgl. Alfred Maurice de Zayas, Die Wehrmacht-Untersuchungsstelle. Deutsche Ermittlungen über alliierte Völkerrechtsverletzungen im Zweiten Weltkrieg, München 1980, S. 62, S. 66; BAMA, RW 4 / 1 4 8 , Bl. 286. 33

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II. Die Hinrichtungen des Völkerrechts

lung von Völkerrechtsverletzungen gegnerischer Militär- und Zivilpersonen aber auch die Aufklärung der vom Ausland in dieser Hinsicht gegen die deutsche Wehrmacht erhobenen Anschuldigungen. Damit besaß sie dieselben Aufgaben wie die Militär-Untersuchungsstelle für Verletzungen des Kriegsrechts im preußischen Kriegsministerium während des Ersten Weltkrieges. Sie fungierte als zentrale Sammel- und Auswertungsstelle aller Dokumente über Kriegsrechtsverletzungen. Für einen effizienten Ablauf der Beweiserhebungen und der Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen war die Untersuchungsstelle auf die Mitwirkung der Amtsgerichte angewiesen, welche hierzu durch einen Erlaß des Reichsjustizministers Dr. Franz Gürtner am 10. Oktober 1939 eigens verpflichtet worden waren 40 . Mit derselben Aufgabe wurden auch die Militärrichter in Heer, Luftwaffe und Marine betraut. Die Ermitdung von Kriegsverbrechen hingegen unterlag der Kompetenz der Abteilung Ic eines jeden Divisionsstabes 41 und der betreffenden Ortskommandanturen 42 . Als Chef WR unterstand Lehmann zusätzlich die Justizdienststelle beim Chef OKW. Unter den Obliegenheiten dieser Stelle, für die Lehmann kein weiteres Personal zur Verfügung gestellt bekam, gehörten nach Dienstanweisung: „1. Die Bearbeitung der Angelegenheiten der Justizaufsicht, die betreffen a) das Reichskriegsgericht; b) die Kriegsstrafrechtspflege der gesamten Wehrmacht, um den höchsten Befehlsstellen die Kenntnis und Überwachung der Kriegsrechtsprechung zu ermöglichen; c) den Ausgleich zwischen militärischer und allgemeiner Strafrechtspflege, der durch die Zuständigkeit der Wehrmachtgerichte über Zivilpersonen in Landes- und Hochverratssachen sowie durch ihre Notzuständigkeit im Gefechts- und Operationsgebiet erforderlich wird. 2. Die Vorbereitung der Entscheidungen, die der Führer und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht auf dem Gebiet der Wehrmachtrechtspflege trifft a) als Bestätigungsbefehlshaber, b) als oberste Gnadeninstanz. 3. Die Beratung des Chefs OKW in Angelegenheiten des Kriegswehrrechts." 43 Zur Bewältigung dieses komplexen und verantwortungsvollen Aufgabenbereichs stand Lehmann das Recht zu, mit allen Dienststellen in Kontakt zu treten, die an der „Wehrmachtrechtspflege" teilnahmen. In Hinblick auf das Völkerrecht war Lehmanns Funktion der Justizaufsicht insofern von Bedeutung, als das Reichskriegsgericht, welches am 26. Juni 1936 wiedererrichtet worden war 44 und von September Vgl. Zayas, Wehrmacht-Untersuchungsstelle, S. 62f. Die Abteilung Ic einer jeden Division war vor allem für Aufklärung bzw. Feindnachrichten zuständig. Vgl. Martin van Creveld, Kampfkraft. Militärische Organisation und militärische Leistung 1939-1945, Freiburg 1984, S. 58. 42 Vgl. Zayas, Wehrmacht-Untersuchungsstelle, S. 69. « BA-MA, RHD 18/13, Bl. 106f. 44 Vgl. Gesetz über die Wiedereinrichtung eines Obersten Gerichtshofs der Wehrmacht vom 26. Juni 1936, in: RGBl. I. 1936, S. 517. Nach § 35q der Ausführungsverordnung war das Reichskriegsgericht u.a. zuständig in Fällen des Hoch- und Landesverrats sowie des Kriegsverrats. Vgl. Verordnung zur Änderung der Miiitärstrafgerichtsordnung und des Einführungsgesetzes zu ihr vom 5. September 1936, in: RGBl. I. 1936, S. 722. Gemäß § 14 der Kriegsstrafverfahrensordnung vom 17. August 1938 trat in seinen Zuständigkeitsbereich die Wehrkraft40 41

1. Oie Rechtsabteilungen der Wehrmacht

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1939 bis November 1944 von Admiral Max Basdan geleitet wurde, wie auch die Feldkriegsgerichte u.a. Urteile gegen Zivilisten im Besatzungsgebiet, gegen Kriegsgefangene und im Reichsgebiet gegen „Ausländer" zu fállen hatten 45 . Lehmanns Befugnisse dürfen hierbei allerdings nicht überschätzt werden. Die Verantwortung für eine rechtmäßige Handhabung der Justiz lag, wie Lehmann in Nürnberg korrekt zu Protokoll gab, in erster Linie bei den Oberbefehlshabern der drei Wehrmachtteile und bei Adolf Hitler als obersten Gerichtsherrn 46 . Es hing daher von seinem persönlichen Engagement ab, inwieweit er auf den „Gang der Dinge" Einfluß nehmen konnte oder wollte. Auch besaß er keine Weisungskompetenz gegenüber den Rechtsabteilungen von Heer, Luftwaffe und Marine. Lehmann war Vorgesetzter seiner eigenen Abteilung, aber nicht Vorgesetzter der Chefs der Rechtsabteilungen der Wehrmachtteile47. Auf O K W - E b e n e sah sich Lehmann im Bereich des Völkerrechts der Konkurrenz der Mitarbeiter des Amtes Ausland/Abwehr ausgesetzt. Chef der Geheimdienstzentrale der deutschen Wehrmacht war die schillernde Persönlichkeit Admiral Franz Wilhelm Canaris 48 . Unter seiner Führung nahm das Amt gemäß Dienstanweisung sämtliche Aufgaben auf den Gebieten der außenpolitischen und militärischen Nachrichtenbeschaffung sowie des Abwehrdienstes wahr. Der Amtschef und in seinem Auftrage die Chefs der drei Abteilungen „Abwehr" waren befugt, zur Bekämpfung von Spionage und Sabotage Weisungen unmittelbar an die Abteilungen Ic der Armeeoberkommandos des Feldheeres zu geben 49 . Damit besaß das Amt Ausland/Abwehr eine Schlüsselfunktion innerhalb des „Think-Tank" O K W . Als Folge des Revirements im Jahr 1938 hatte Canaris, seit 1. Januar 1935 Chef der Abwehrabteilung im Reichswehrministerium, später Reichskriegsministerium, zusätzlich die Abteilung Ausland zugewiesen bekommen 50 . Zu ihren Aufgaben zählte neben der Unterrichtung über die militärische Lage im Ausland die Bearbeitung der „völkerzersetzung hinzu. Vgl. R G B l . I. 1939, S. 1460; Dienstanweisung für das Reichskriegsgericht, in: BA-MA, R H D 1 8 / 1 3 , Bl. 112. Urteile des Reichskriegsgerichts siehe in: Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.), Widerstand als „Hochverrat" 1933—1945. Erschließungsband zur MikroficheEdition, bearb. von Jürgen Zarusky und Hartmut Meringer, München 1998, S. 789f. Zum Reichskriegsgericht selbst siehe: Jürgen Zarusky, Einführung, in: ebd., S. 3 2 - 3 4 ; Manfred Messerschmidt, Zur Rechtsprechung des Reichskriegsgerichts, in: Wolfram Wette (Hrsg.), Manfred Messerschmidt. Was damals Recht war... NS-Militär- und Strafjustiz im Vernichtungskrieg, Essen 1996, S. 15-45. 4 5 Nach Seidler fällte das Reichskriegsgericht 1189 Todesurteile. Fast die Hälfte aller von den vier Senaten des Reichskriegsgerichts zum Tode verurteilten waren Zivilisten. Die meisten von ihnen waten angeklagt wegen Spionage, Sabotage, Feindbegünstigung, Freischärlerei und Hochverrat. Vgl. Franz Seidler, Das Justizwesen der Wehrmacht, in: Hans Poeppel, WilhelmKarl Prinz von Preußen, Karl-Günther von Hase (Hrsg.), Die Soldaten der Wehrmacht, München 1998, S. 372. Vgl. § 5 der Kriegsstrafverfahrensordnung, in: R G B l . I. 1939, S. 1459. Vgl. Records o f the United States, Roll41, Bl. 7706f. 4 8 Vgl. Heinz Höhne, Admiral Wilhelm Canaris, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Hiders militärische Elite, Bd. 1: Von den Anfangen des Regimes bis Kriegsbeginn, Darmstadt 1998, S. 56. 4 9 Vgl. B A - M A , R H D 1 8 / 1 3 , Bl. 34. Die Gliederung eines Armeeoberkommandos siehe am Beispiel der 4. Armee in: Hans Meier-Welcker, Aufzeichnungen eines Generalstabsoffiziers 1 9 3 9 - 1 9 4 2 , Freiburg 1982, S. 1 9 8 - 2 0 3 . 5 0 Vgl. Schottelius, Caspar, Organisation, S. 327, S. 329. 46 47

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II. Die Hinrichtungen des Völkerrechts

rechtlichen Fragen der Kriegführung" unter Hinzuziehung der Wehrmachtrechtsabteilung51. Leiter der Abteilung Ausland war seit dem 1. Juli 1938 der Kapitän zur See, Leopold Bürkner52. Für die Beratung in den vielfältigsten Bereichen des Kriegsrechts stand ihm die Militärische Untersuchungsstelle für Kriegsvölkerrecht zur Verfügung, die sich zunächst in fünf Referate der Gruppe VI gliederte. Nach dem Arbeitsplan der Abteilung Ausland von 1938/39 befaßten sich in der Völkerrechtsgruppe die Referate Via und b mit dem „Landkriegsrecht", das Referat VIc mit dem „Seekriegsrecht" und das Referat VId mit den „Regeln des Luftkrieges". Das Referat Vie war zuständig für die „Archivierung von Völkerrechtsverletzungen" und für die „Kriegspropaganda" 53 . Geführt wurde die Gruppe VI von Oberstleutnant Dr. jur. Dr. med. Wilhelm Tafel, einem entschiedenen Gegner des Nationalsozialismus 54 . Tafel, der bei Theodor Niemeyer über „Das internationale Recht der Nordsee" promoviert 55 und dafür höchstes Lob von dem Kapitän zur See a.D. Dr. jur. Ernst Vanselow erfahren hatte56, übernahm die Leitung der Völkerrechtsgruppe am 1. April 1939. Bereits zuvor hatte er seit dem 1. April 1937 als Nachfolger von Oberst a.D. Dr. jur Alfons Fonck das Völkerrechtsreferat im Reichskriegsministerium inne und bis zu dessen Auflösung geleitet57. Mit zunehmender Dauer des Krieges wurde Tafel im OKW „lästig". Bürkner, der ihn noch im Februar 1941 als „gut begabt" und „vielseitig interessiert" aber als „reichlich umständlich" qualifizierte und damit, möglicherweise sogar zu seinem Schutz, die Notwendigkeit seiner Versetzung zu erkennen gab 58 , attestierte Tafel Anfang 1942 nur mehr mangelnde „Anpassungsfähigkeit" 59 . Mit Wirkung vom 13. April 1942 wurde Wilhelm Tafel zur Führerreserve des OKH verschoben und einige Monate später an das Reichskriegsgericht abkommandiert. Seine Odysse fand ihr vorläufiges Ende mit seiner Bestellung zum Leiter des Stabes beim Kommandeur der Kriegsgefangenen im Wehrkreis VI im März 194360. Zum Nachfolger Tafeis in si Vgl. BA-MA, RHD 18/13, Bl. 42. 52 Vgl. Niederschrift Leopold Bürkners vom 22. August 1960, in: BA-MA, RW 5/278, Bl. 1. » Vgl. BA-MA, RHD 18/13, Bl. 44. 54 In der Reichskristallnacht bewies Tafel persönlichen Mut, als er seinen Degen ziehen wollte, um verfolgte Passanten zu schützen. Vgl. Ger van Roon, Graf Moltke als Völkerrechrier im OKW, in: VfZ 18 (1970), S. 15. 55 Vgl. Lebenslauf vom 19. Februar 1937, in: BA-MA, Pers 6/7321 (Personalakte Dr. Dr. Wilhelm Tafel). 56 Vgl. Würdigung von Dr. Ernst Vanselow, 8. Januar 1940, in: ebd. 57 Vgl. Roon, Graf Moltke (1970), S. 13. 58 Vgl. Beurteilung vom Abteilungschef Leopold Bürkner vom 15. Februar 1941, in: BA-MA, Pers 6/7321 (Personalakte Dr. Dr. Wilhelm Tafel). 59 Vgl. Kurze Beurteilung, o.D., in: ebd. 60 Vgl. Beurteilung des Kommandeurs der Kriegsgefangenen im Wehrkreis VI vom 6. Februar 1944, in: ebd. Doch schon ein Jahr später suchte der Chef des Generalstabes Wehrkreis VI eine neuerliche Versetzung Tafeis zu erwirken. In einem Brief an einen Freund vom 13. April 1944 brachte er das Drama um die Person Wilhelm Tafeis diplomatisch auf den Punkt: „Er sitzt nun da, an Lebensalter auch nicht mehr der Jüngste, etwas am Rande der Straße und hat Zukunftssorgen bei mir abgeladen. Tafel hat sowohl einen juristischen wie auch medizinischen Dr. - und so ist der ganze Mann. Er ist meines Erachtens grundanständig im Charakter, sehr vielseitig gebildet, aber mit seinen Gaben ziemlich vielseitig durcheinander. Sein Streben geht

1. Die Rechtsabteilungen der Wehrmacht

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der Abteilung Ausland wurde der ehemalige Polizeioffizier Oberst Werner Oxé berufen. Dieser ließ der Völkerrechtsgruppe freie Hand und unterschrieb in der Regel die von ihr erstellten Rechtsgutachten 61 . Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges erfuhr die Völkerrechtsgruppe eine Erweiterung ihrer Gliederung und eine erhebliche personelle Verstärkung. So erging am 15. September 1939 eine Weisung vom Chef O K W Wilhelm Keitel, auf Grund „der Erfahrungen der letzten Tage" eine „Beratungsstelle für Völkerrecht" einzurichten, um neben den „bereits bestehenden völkerrechtlichen Referaten" schwierige „völkerrechtliche Fragen der Kriegführung" klären zu können. Die hierzu notwendigen Fachkräfte beorderte Keitel aus dem „Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht" der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und aus dem „Kriegsrechtsausschuß" der Deutschen Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaften. Beide Einrichtungen wurden damit dem Amt Ausland/Abwehr unterstellt62. Für die Zusammenarbeit mit dem Institut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft bildete Admiral a.D. Walter Gladisch, seit Kriegsbeginn bis 1943 Reichskommissar am Oberprisenhof, die entscheidende Schnittstelle. Gladisch, seit Januar 1937 Mitglied des Institutskuratoriums 63 , hatte schon im August 1939 Sondierungsgespräche über Abteilungsleiter Bürkner aufnehmen lassen. Eine Besichtigung des Instituts durch eine Delegation der Abteilung Ausland unter Führung von Obersdeutnant Geisse am 11. August 1939 erbrachte schließlich die gewünschte Einigung64. Prof. Viktor Bruns, Direktor des Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, entsandte daraufhin seinen Stellvertreter Ernst Schmitz, Honorarprofessor an der Universität Berlin, in die Völkerrechtsgruppe der Abteilung Ausland. Nach dessen plötzlichem Tode im Januar 1942 wurde er durch Prof. Wilhelm Wengler ersetzt 65 , der bis zu seiner Verhaftung im Januar 1944 für die Gruppe tätig war. Als sein Nachfolger kam vom Institut Prof. Hermann Mosler. Über die Deutsche Gesellschaft für Wehrpolitik und Wehrwissenschaft gelangte Prof. Berthold Widmann in die Völkerrechtsgruppe, der er allerdings nur formal angehörte hatte, da er de facto bei Admiral Gladisch detachiert war66. Im Zuge der Mobilisierung kam schließlich auch Helmuth James Graf von Moltke, der zwar büroverwendungsfähig, aber nicht kriegsdiensttauglich geschrieben worden war, als Kriegsverwaltungsrat zur Grup-

nach einer Verwendung, bei der körperliche Tätigkeit mit Schreibtisch verbunden ist. Ich weiß nicht, was Sie in dieser Preislage auf Lager haben." Siehe: BA-MA, Pers 6 / 7 3 2 1 (Personalakte Dr. Dr. Wilhelm Tafel). Vgl. Roon, G r a f Moltke(l970), S. 15. Vgl. Ger van Roon (Hrsg.), Helmuth James G r a f von Moltke. Völkerrecht im Dienste der Menschen. Dokumente, Berlin 1986, S. 176 (Dokument Nr. 3). Siehe auch die Sammlung Ger van Roon: Z S / A 18,1-25, IfZ, hier: Z S / A 18, 11, Bl. 1. « Vgl. MPG-Archiv, I. Abt., Rep. 1A, Nr. 2351, Bl. 180, Bl. 183a. 6 4 Vgl. Brief von Prof. Ernst Schmitz an Admiral a.D. Walter Gladisch vom 24. August 1939, in: Roon (Hrsg.), Helmuth James G r a f von Moltke, S. 174f. (Dokument Nr. 1); BA-MA, RM 8 / 1 3 1 7 , Bl. 79f. 6 5 Vgl. Wilhelm Wengler, Erinnerungen, in: Ger van Roon (Hrsg.), Helmuth James G r a f von Moltke. Völkerrecht im Dienste der Menschen. Dokumente, Berlin 1986, S. 319. 6 6 Die Sekretärin von Gladisch bezeichnete Widmann als „unseren guten Geist" in der Dienststelle am Oberprisenhof und betrachtete ihn als einen „persönlichen Freund" von Gladisch. Vgl. L. C. Langheld, ZS-1793, IfZ, Bl. 2. 61

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II. Die Einrichtungen des Völkerrechts

pe VI. Moltke war kein Mitglied des Kaiser-Wilhelm-Instituts gewesen, arbeitete jedoch als Experte für angelsächsisches Recht an dessen Zeitschrift (ZaöRV) mit und kannte sowohl Prof. Bruns als auch Prof. Schmitz persönlich. Seit Kriegsbeginn gehörten der um zwei Referatsstellen erweiterten Gruppe um Wilhelm Tafel noch Kriegsverwaltungsrat Dr. von Pfuel, Leutnant d.R. Dr. Günther Jaenicke und Oberst a.D. Dr. jur. Alfons Fonck an. Dabei zeichnete Schmitz in der Regel für den Landund Seekrieg verantwortlich, Moltke für den Wirtschaftskrieg und Jaenicke für das Kriegsgefangenenrecht 67 . Das Interesse für völkerrechtliche Fragen war auf Seiten des Heeres, wie Moltke seiner Frau am 26. September 1939 resignierend mitteilen mußte, eher gering 68 . Dies mochte zum einen daran gelegen haben, daß das Heer im Gegensatz zur Marine in Zeiten des Friedens nur wenig mit dem Völkerrecht zu tun hat, wie Leopold Bürkner rückblickend feststellte, zum anderen war es ein entscheidender Beleg für eine mangelnde Ausbildung des Rechtsbewußtseins 69 . Die neue Truppe der Abteilung Ausland hatte sich aber auch in die gegebenen Verhältnisse im OKW einzufügen, sich Anerkennung zu erwerben und somit hehre Zielvorstellungen einstweilen zurückzustellen. Nach Moltke lief sich „die Maschine ein" und man gewöhnte sich daran, „uns im laufenden Geschäftsverkehr zu fragen, wenn auch regelmäßig zu spät. (...) Die Arbeit ist noch längst nicht befriedigend, und unsere Hauptaufgabe ist nach wie vor, daß Schmitz und ich versuchen, uns Ellenbogenfreiheit zu verschaffen, um wirklich etwas leisten zu können" 70 . Ebenso wie Lehmanns Rechtsabteilung besaß die Gruppe VI der Abteilung Ausland ausschließlich eine beratende Funktion. Sie hatte keine Weisungs- oder Kontrollbefugnis, sie konnte sich nur gutachtlich über die völkerrechtliche Zulässigkeit von Befehlen und Maßnahmen äußern. Meist war es dann Canaris gewesen, der die erarbeiteten Rechtsstandpunkte gegenüber Keitel vertreten hatte 71 . Moltke soll dazu einmal scherzhaft bemerkt haben, „wer den Ehrgeiz habe, seine Vorschläge verwirklicht zu sehen, brauche nicht zu uns zu kommen" 72 . Gegenüber Vgl. Roon, Graf Moltke(l 970), S. 15f. Vgl. ebd., S. 16f. 69 So erzählte ein Generalstabsoffizier des Heeres Bürkner einmal, „er hätte in seiner Dienstzeit kaum eine Unterrichtung über das Völkerrecht erhalten". Siehe: Niederschrift Leopold Bürkners, Bl. 8. 70 Vgl. Roon, Graf Moltke (1970), S. 16. Auch innerhalb der Völkerrechtsgruppe gab es unterschiedliche Auffassungen über den Stellenwert des Kriegsrechts. In seinem Brief vom 18. November 1939 an seine Frau hielt Moltke die folgende Episode fest: „Während dieser Woche habe ich eigentlich nur mit Schmitz gesprochen; als gestern abend geschehen war, was ich wollte, habe ich die Akte, in der meine Bemühungen in Notizen, Gutachten und Schreiben ihren Niederschlag gefunden hatten, dem ältesten der Gruppe, Oberst Fonck zu lesen gegeben, der von meiner Tätigkeit bisher keine Ahnung gehabt hatte. 10 Minuten später, er konnte nur einen ganz oberflächlichen Überblick über den Akteninhalt gewonnen haben, kam er herein und sagte ganz aufgeregt: Sagen Sie, mir scheint, daß das Schwergewicht unserer Kriegführung in die Gruppe Völkerrecht verlegt worden ist. So übertrieben und direkt blödsinnig dieser Ausspruch auch ist, so hat er mir doch klar gemacht, wie sich meine Stellung in eineinhalb Wochen verändert hat." Siehe: Helmuth James Graf von Moltke. Briefe an Freya 1 9 3 9 - 1 9 4 5 , hrsg. Von Beate Ruhm von Oppen, München 1995, S. 90. 71 Vgl. Aussage Rudolf Lehmanns im OKW-Prozeß, in: Records of the United States, Roll 41, Bl. 7724f. 72 Vgl. Wengler, Erinnerungen, S. 325. 67

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den „Gesetzen des Krieges" und dem Notrecht hatten die „Gesetze des Völkerrechts" oft das Nachsehen. Für Moltke war dies ein unhaltbarer Zustand. Als Schüler von Alfred Verdroß und Hans Kelsen 73 war er ein Repräsentant der sogenannten monistischen Schule, die das „Primat des Völkerrechts" gegenüber dem Staatsrecht zur unabdingbaren Rechtsgrundlage erhoben hatte. Eine solche Rechtsauffassung war nicht nur zahlreichen Generälen fremd, auch vielen seiner Kollegen in den verschiedenen Rechtsabteilungen galt nach wie vor das Dogma der Staatsräson und des Staatsnotstandes als unverbrüchliche Basis der Kriegführung. Ganz bezeichnend schrieb Bürkner später über den Arbeitsalltag der Völkerrechtsgruppe: „Chef OKW hat tatsächlich vor einer ganzen Reihe von größeren Aktionen z.B. Nacht- und Nebel-Erlaß, Sonderbehandlung russischer Kriegsgefangener u.a. die Amtgruppe Ausland nach der völkerrechtlichen Seite gefragt und jedes Mal schriftlich eine ablehnende Antwort erhalten, daß nämlich solche Maßnahmen dem Völkerrecht nicht entsprächen. Auf Vorhaltungen Chef OKW, die Amtgruppe sollte eine völkerrechtliche Begründung [!] finden, wurde geantwortet, wir seien eben eine Art Syndikus und könnten verantwortlich nur zum Ausdruck bringen, was rechtens wäre" 74 . Mit Moltke und Canaris sind denn auch die ersten Personen benannt, welche das Netzwerk des militärischen Widerstandes gegen das nationalsozialistische Regime bildeten. Ohne Zweifel war das Amt Ausland/Abwehr im OKW eine der entscheidenden Institutionen im Kampf gegen Hider. Die dienstlich notwendigen Kontakte zu den Abwehrtrupps und den Feindlageoffizieren in den Stäben der an der Front stehenden Armeen und Heeresgruppen ermöglichten nämlich günstige Bedingungen einer kontinuierlichen Kommunikation zwischen den einzelnen Widerstandsgruppen 75 . Zu den Personen des Widerstandes im unmittelbaren Umfeld von Canaris zählten u.a. der Leiter der Völkerrechtsgruppe Obersdeutnant Wilhelm Tafel" 6 , der Chef der Zentralgruppe des Amtes Ausland/Abwehr, General Hans Oster 77 sowie der Chef der Abwehr-Abteilung I, General Erwin von Lahousen, der später im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß einer der Hauptzeugen der Anklage werden sollte 78 . Neben den Genannten spielten eine gewichtige Rolle der Reichsgerichtsrat Hans von Dohnanyi, der im Range eines Majors seit August 1939 im Amt Ausland/ Abwehr tätig gewesen war, und der Chef der Verbindungsgruppe Abwehr beim Generalstab des Heeres, Obersdeutnant Helmuth Groscurth 79 . Jeder von ihnen besaß Vgl. Roon, Helmuth James Graf von Moltke (1987), S. 747. Vgl. Niederschrift Leopold Bürkners, Bl. 8. 75 Vgl. Winfried Meyer, Staatsstreichplanung, Opposition und Nachrichtendienst. Widerstand aus dem Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht, in: Peter Steinbach, Johannes Tuchel (Hrsg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 332. Wilhelm Tafel stand in verwandtschaftlicher Beziehung zu den Brüdern Dietrich und Klaus Bonhoeffer, da deren Mutter eine geborene Tafel gewesen war. Vgl. Roon, Graf Moltke (1970), S. 15. 77 Vgl. Hermann Grami, Hans Oster, in: ders. (Hrsg.), Widerstand im Dritten Reich. Probleme, Ereignisse, Gestalten, Frankfurt a.M. 1994, S. 221-229. 7» Vgl. Taylor, Nürnberger Prozesse, S. 222-224, S. 227-232. Vf?'· Jürgen Schmädeke, Militärische Umsturzversuche und diplomatische Oppositionsbestrebungen zwischen der Münchener Konferenz und Stalingrad, in: Peter Steinbach, Johannes Tuchel (Hrsg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 306; Hartmut Meh73 74

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II. Die Einrichtungen des Völkerrechts

Freunde und Verwandte, kannte Kollegen oder Vorgesetzte, die in den Widerstandskreis „behutsam" integriert werden konnten. Hierzu gehörte u.a. der Bruder des Hitler-Attentäters, Berthold Schenk Graf von Stauffenberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und Mitherausgeber der hauseigenen Zeitschrift. Im September 1939 als Reserveoffizier zum Oberkommando der Marine eingezogen, avancierte Stauffenberg auf Grund seiner hervorragenden Kenntnisse auf dem Gebiet des Seekriegs- und Prisenrechts zum Rechtsberater der von Korvettenkapitän Alfred Kranzfelder geleiteten Abteilung Seekriegführung im Range eines Marineintendanturrates bzw. später eines Marineoberstabsrichters der Reserve. Als Verbindungsmann zu seinem Bruder Claus bildete er die entscheidende Schaltstelle zwischen Marine und Heer 80 . Durch seine berufliche Tätigkeit war er auch seit Jahren mit Admiral Gladisch bekannt, dessen Position innerhalb des militärischen Widerstandes allerdings unklar geblieben ist. Gesichert ist, daß Gladisch Kenntnis über die Aktivitäten der Widerstandsgruppe besaß und Stillschweigen bewahrte 81 . Die hohe personelle Konzentration von Gegnern des NS-Regimes im Amt Ausland/Abwehr führt zu der Frage nach den Motiven ihres aktiven Widerstandes. Infolge der besonderen Funktion des Amtes Ausland/Abwehr als Geheimdienstzentrale der Wehrmacht besaßen seine Stelleninhaber allein auf Grund der Berichte der Ic Abteilungen eine Fülle von Informationen über die Kriegsverbrechen der Wehrmacht und der Waffen-SS. Das Wissen über zahllose Verletzungen des Kriegsrechts nährte schließlich die Bereitschaft zur Bekämpfung der nationalsozialistischen Diktatur 82 . So reifte in dem Mitbegründer des „Kreisauer Kreises", Helmuth James Graf von Moltke, der sich ganz einem Völkerrecht im Dienste der Menschheit verpflichtet fühlte, die Überzeugung heran, daß die „frevelhafte Mißachtung" des Völkerrechts die Bestrafung der verantwortlichen „Rechtsschänder" erforderlich mache 83 . Vom Primat des Völkerrechts geleitet war auch das Wirken von Stauffenberg, anfangs ein Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung. Seine juristische Auffassung von einer durch das Völkerrecht gebundenen Kriegführung sowie die Erfahrung der Ohnmacht als Rechtsberater bestärkten zunehmend seinen Widerstandsgeist 84 . Doch auch der Bruch des innerstaatlichen Rechts bildete ein entscheidendes Moment in der Abkehr vom Nationalsozialismus. Die rechtswidrige Niederschlagung des „Röhm-

ringer, Widerstand Emigration. Das NS-Regime und seine Gegner, München 1997, S. 155f.; Helmut Krausnick, Harold C. Deutsch (Hrsg.), Helmuth Groscurth. Tagebücher eines Abwehroffiziers 1 9 3 8 - 1 9 4 0 . Mit weiteren Dokumenten zur Militäropposition gegen Hitler, Stuttgart 1970. 8 0 Vgl. Alexander Meyer, Berthold Schenk G r a f von Stauffenberg 1 9 0 5 - 1 9 4 4 . Völkerrecht im Widerstand, Berlin 2001, S. 60, S. 70, und S. 73. 81 Vgl. Walter Baum, Marine, Nationalsozialismus und Widerstand, in: V f Z 11 (1963), S. 29. Nach dem Kriege teilte die Sekräterin von Gladisch über dessen Haltung zum Widerstand mit: „Meine Annahme, daß er zum mindesten in großen Zügen um die Bestrebungen des .Widerstandes' gewußt hat, bestätigte er mir bei späteren Zusammentreffen." Siehe: L. C. Langheld, Bl. 1. Vgl. Meyer, Staatsstreichplanung, S. 331. Vgl. Peter Steinbach, NS-Prozesse nach 1945. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Konfrontation mit der Wirklichkeit, in: Dachauer Hefte 13 (1997), S. 5f. 8 4 Vgl. Meyer, Berthold Schenk G r a f von Stauffenberg, S. 71 f. 82

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Putsches" und die damit einhergehende schleichende Entmachtung des Heeres war für viele, wie z.B. Hans Oster, Ausgangspunkt einer wachsenden Gegnerschaft zu Hider85. So darf der „Bruch des Rechts" in seiner unterschiedlichen und individuellen Erfahrung als ein maßgebendes Motiv für den Widerstand gewertet werden. Allerdings konnte von einem „Völkerrecht im Widerstand" allgemein keine Rede sein. Allein die Kontinuität traditionell gewachsener Rechtsauffassungen, die ohne Zweifel eine entscheidende Einbruchsstelle für den nationalsozialistischen Terror bildeten, war nicht nur in der Völkerrechtsgruppe 86 , sondern auch in den übrigen Rechtsabteilungen der Wehrmacht 87 und des Heeres in zahlreichen Köpfen allgegenwärtig. Das Bild einer unabhängigen und allein um das Recht bemühten Militärjurisprudenz, wie dies Zayas u.a. im Falle des im OKW-Prozeß zu sieben Jahren Haft verurteilten Rudolf Lehmann 88 aufzubauen versucht 89 , verbietet sich von selbst. Die Beziehungen zwischen der Völkerrechtsgruppe im Amt Ausland/Abwehr und der Wehrmachtrechtsabteilung, die nach dem Urteil Wenglers nur allzugern geneigt war, den Wünschen der polidschen Führung nachzugeben und entsprechend das Völkerrecht umzuinterpretieren, gestalteten sich während des Krieges denkbar schlecht90. Bezeichnend für das Verhältnis der beiden Rechtsstellen im OKW war auch die bissige Bemerkung Moltkes über Maximilian Wagner, den Leiter der Gruppe III in der Wehrmachtrechtsabteilung, nach dessen Ableben im Oktober 1943: „Der heutige Tag litt etwas darunter, daß ich um Vi lUhr aufbrechen mußte, um mit Oxé einen meiner intimsten Gegner aus dem OKW, Geheimrat Wagner, zu beerdigen. Er ist mit über 70 Jahren jetzt gestorben und ich kann nur sagen, 3 Jahre zu spät. Vieles hätte verhütet werden können, wenn der zähe, eigensinnige, alte Mann nicht dagewesen wäre. Er hieß bei uns nur der Giftzwerg. Er war ein hervorragender Strafjurist und betrachtete alles unter rein innerstaatlichen Gesichtspunkten." 91 Darüber hinaus wurden die Aktivitäten der Widerstandsgruppe im Amt Ausland/Abwehr erheblich getrübt durch die zahllosen verbrecherischen Einsätze der Geheimen Feldpolizei (GFP), deren einheitliche Führung in den Händen von Canaris und in dessen Auftrage bei der Verbindungsgruppe des Amtes Ausland/Abwehr beim OKH gelegen hatte92. Vgl. Grami, Hans Oster, S. 225. So gehörte beispielsweise Oberst a.D. Alfons Fonck nicht dem Widerstand an. 87 Der Leiter der Gruppe Rechtsangelegenheiten in der Zentralgruppe des Amtes Ausland/Abwehr, Oberregierungsrat Dr. Walter Herzlieb, einer der regimehörigsten Beamten und Offiziere des Amtes, war hingegen weit mehr als nur dem traditionellen Rechtsdenken der Staatsräson verpflichtet. Als Beisitzer am Volksgerichtshof hatte er zwischen 1934 und 1944 mindestens 112 Todesurteile mitunterzeichnet. Vgl. Meyer, Staatsstreichplanung, S. 337. 88 Vgl. Fall 12. Das Urteil gegen das Oberkommando der Wehrmacht. Gefallt am 28. Oktober 1948 in Nürnberg vom Militärgerichtshof V der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin (Ost) 1961, S. 292. Siehe auch: Wolfram Wette, Fall 12. Der OKW-Prozeß (gegen Wilhelm Ritter von Leeb u.a.), in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943—1952, Frankfurt a.M. 1999, S. 205 und S. 208. 89 Vgl. Zayas, Wehrmacht-Untersuchungsstelle, S. 76f. 90 Vgl. Roon, Graf Moltke (1970), S. 19. " Zitiert aus: ebd., S. 19 Anm. 64. 92 Vgl. Klaus Geßner, Geheime Feldpolizei - die Gestapo der Wehrmacht, in: Hannes Heer, Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Ham85

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II. Die Einrichtungen des Völkerrechts

Innerhalb der polykratischen Struktur des Dritten Reiches besaß das Amt Ausland/ Abwehr keine Monopolstellung auf dem Sektor des Nachrichtenwesens und der Spionageabwehr. Zunehmend geriet es in scharfe Konkurrenz zum Reichssicherheitshauptamt (RSHA), das am 27. September 1939 auf Befehl Heinrich Himmlers durch den Zusammenschluß des Hauptamtes Sicherheitspolizei (Gestapo und Kripo) sowie des parteieigenen Nachrichtendienstes, dem sogenannten Sicherheitsdienst (SD), gegründet worden war 93 . Auf Grund der unsystematischen Führung des Amtes Ausland/Abwehr durch Canaris und seiner mehr an politischen Qualitäten orientierten Personalpolitik sank die Effizienz der Geheimdienstzentrale der Wehrmacht auf dem Wendepunkt des Krieges zusehends ab. Als „Canaris-Familien-Gesellschaft mit beschränkter Haftung" in Generalstabskreisen ohnehin bespöttelt, reichten im Frühjahr 1944 nur mehr geringfügige Fehlprognosen aus, um auf Nachdruck des RSHA aber auch des Auswärtigen Amtes die Demission von Canaris bei Hitler zu erwirken94. Auf Befehl Keitels vom 12. Februar 1944 wurde schließlich die Schaffung eines „einheitlichen deutschen geheimen Meldedienstes" vorbereitet, mit dessen Führung der Reichsführer SS Heinrich Himmler betraut wurde 95 . Drei Monate später wurde nach einer Vereinbarung zwischen Keitel und Himmler vom 14. Mai 1944 beschlossen, das gesamte Meldewesen sowie Teile der Geheimen Feldpolizei dem Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, SS-Obergruppenführer Dr. Emst Kaltenbrunner zu unterstellen96. Dieser erklärte mit Wirkung vom 1. Juni 1944 das Amt Abwehr für aufgelöst und gliederte es zunächst als „Militärisches Amt" unter dem Nachfolger von Canaris, Oberst Georg Hansen, dem RSHA ein97. Nach dem 20. Juli 1944 ging es endgültig im Amt VI des RSHA unter Walter Schellenberg auf 98 . Das Amt Ausland und mit ihm die Völkerrechtsgruppe wurde laut einer schriftlichen Mitteilung Keitels an Himmler vom 11. April 1944 dem Wehrmachtführungsstab angegliedert99. Für die Wahrnehmung sämtlicher rechtlicher Obliegenheiten des Heeres zeichneten im OKH in erster Linie die Gruppe Rechtswesen und der Chef des Heeresjustizwesens in Personalunion mit der Heeresrechtsabteilung verantwortlich. Die Gruppe Rechtswesen war als Gruppe III zunächst dem Chef des Stabes des Generalquartiermeisters zugeteilt. Der Stab des Generalquartiermeisters war am 25. August 1939 aus bürg 1995, S. 345. Die Dienstanweisung für die Verbindungsgruppe des Amtes Ausland/Abwehr beim O K H siehe in: BA-MA, RHD 18/13, Bl. 35. Zur Frage der Motive des Widerstandes und des Stellenwerts des Völkerrechts siehe auch: Christian Gerlach, Männer des 20. Juli und der Krieg gegen die Sowjetunion, in: Hannes Heer, Klaus Naumann (Hrsg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1 9 4 1 - 1 9 4 4 , Hamburg 1995, S. 427-446. 93 Vgl. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1990 (2. Aufl.), S. 292f.; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2003, S. 3 0 1 - 4 1 0 . 94 Vgl. Meyer, Staatsstreichplanung, S. 336f; Höhne, Admiral Wilhelm Canaris, S. 58. 55 Vgl. Albrecht Charisius, Erhard Moritz, Zur Fusion des O K W - Amtes Ausland/Abwehr mit dem Sicherheitsdienst (SD) 1944, in: Militärgeschichte 16 (1977), S. 49 (Dokument 1). Vgl. ebd., S. 51 ff. (Dokument 3). 97 Vgl. ebd., S. 53ff. (Dokument 4). 98 Die Gliederung des RSHA siehe: Hilberg, Vernichtung, Bd. 2, S. 294f. 99 Vgl. Charisius, Moritz, Fusion, S. 49 (Dokument 2).

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der Abteilung 6 der Dienststelle des Oberquartiermeisters I (O Qu I) beim Generalstab des Heeres (GStdH) eigens für den Mobilmachungsfall gebildet worden 100 . Die Dienststelle des Generalquartiermeisters war anfangs mit Generalleutnant Eugen Müller besetzt. Laut Dienstanweisung unterstand der Generalquartiermeister dem Chef des Generalstabes des Heeres. Zu seinen Aufgaben zählten vor allem die Versorgung des Feldheeres sowie die „Handhabung der vollziehenden Gewalt" im Operationsgebiet. Darüber hinaus übte er als Gerichtsherr die Gerichtsbarkeit über die Angehörigen des Hauptquartiers OKH und über die dem Hauptquartier nachgeordneten Truppen und Dienststellen aus101. Hierfür stand ihm das Gericht des Hauptquartiers OKH zur Verfügung. Der Gruppe Rechtswesen im Stab des Generalquartiermeisters unterlag vor allem die Bearbeitung kriegsrechtlicher Fragen und die Betreuung aller Feldkriegsgerichte. Maßgebend für die Umsetzung des Kriegsrechts im Besatzungsgebiet (occupatio bellica) waren die Gruppe Qu 2 unter Hauptmann i.G. Gähtgens und die Gruppe Ζ unter Ministerialdirigent Dr. Danckwerts 102 . Im November 1939 wurden beide Stellen zur Abteilung I Β unter Major i.G. Richard Koßmann (Mil.) und Dr. Dankwerts (Ziv.) zusammengefaßt. Bereits am 1. Oktober 1940 erfolgte eine erneute Umstrukurierung der Dienststelle des Generalquartiermeisters. Aus der Abteilung I Β ging nun die Abteilung Kriegsverwaltung hervor. Sie umfaßte fünf Gruppen (Qu 4, Qu 5, GFP, V, W) und wurde von Major i.G. Schmidt von Altenstadt geführt 103 . Leiter der Gruppe Rechtswesen wurde mit der Mobilmachung Oberstkriegsgerichtsrat Dr. Erich Lattmann, nach der Einführung des Truppensonderdienstes im Range eines Generalrichters104. Von November 1933 bis Februar 1934 Lehrer im „Referendar-Lager Jüterbog", einer Indoktrinationsstätte des BNSDJ (Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen) 105 , fand Lattmann im März 1934 als Heeresrichter beim Wehrkreisgericht I in Königsberg Verwendung. Sein Gerichtsherr war der damalige Wehrkreisbefehlshaber und Kommandeur der 1. Division Generalleutnant Walther von Brauchitsch106. Nach einer knapp einjährigen Dienstzeit ab Oktober 1935 als Kriegsgerichtsrat bei der 22. Infanterie-Division, welche zu dieser Zeit von

100 Vgl Otto Eckstein, Die Tätigkeit des Generalquartiermeisters Eduard Wagner, in: Elisabeth Wagner (Hrsg.), Der Generalquartiermeister. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des Generalquartiermeisters des Heeres General der Artillerie Eduard Wagner, München, Wien 1963, S. 272f.; Christian Gerlach, Militärische „Versorgungszwänge", Besatzungspolitik und Massenverbrechen: Die Rolle des Generalquartiermeisters des Heeres und seiner Dienststellen im Krieg gegen die Sowjetunion, in: Norbert Frei, Sybille Steinbacher, Bernd C. Wagner (Hrsg.), Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit. Neue Studien zur nationalsozialistischen Lagerpolitik, München 2000, S. 176. Die Friedensgliederung des GStdH (Stand: 10. November 1938) siehe in: BA-MA, H 27/15q, Bl. 78-83. Vgl. BA-MA, RHD 18/34, Bl. 54. Vgl. ebd., Bl. 55. 103 Vgl. Hans Umbreit, Die Kriegsverwaltung 1940 bis 1945, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 2 (1968), S. 105 f. 104 Vgl. Keilig, Das Deutsche Heer, Abschnitt 213, S. 6. 105 Zum Schulungslager Jüterbog, auch „Hanns Kerrl" genannt, siehe: Angermund, Deutsche Richterschaft, S. 60. ios Vgl Erich Lattmann, Erinnerungen an Feldmarschall von Brauchitsch, 1974, in: BA-MA, MSg 1/897, Bl. 2. 101

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II. Die Einrichtungen des Völkerrechts Gliederung der (Völker-)Rechtsabteilungen beim OKW, OKH und AOK

Oberster Befehlshaber der Wehrmacht: Adolf Hitler I. Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel. Wehrmachtfuhrungsstab (WFSt); Chef: General AlfredJodl Abteilung Landesverteidigung: Quartiermeister Oberst Werner von Tippeiskirch Organisationsabteilung: Gruppe III·. Besondere Führungsfragen der Wehrmacht (Major Riseli): - Völkerrecht - Militärstrafrecht - Reichsarbeitsdienst - Volkssturm Wehrmachtakademie. General Wilhelm Adam Wehrmachtrechtsabteilungbelm OKW; Abteilungschef: General-Oberstabsrichter Dr. Rudolf Lehmann Gruppe I: Referate Strafrecht und Strafverfahrensrecht: Geheimer Kriegsrat Dörken, Oberkriegsgerichtsrat Dr. Werner Hülle Gruppe II: Referat Rechtsanwendung, Disziplinarrecht: Ministerialrat Dr. Karl Lotter (ab Sept. 1941: Generalstabsrichter Dr. Karl Sack) Gruppe III: Referat Völkerrecht, Wehrrecht: Geheimer Kriegsrat Dr. Maximilian Wagner - Völkerrecht - Internationale Kongresse - Ausbildungsfragen - Kriegsgefangenenwesen Referat: Wehrmacht-Untersuchungsstelle für Verletzungen des Völkerrechts: Oberkriegsgerichtsrat Johannes Goldsche Justi^dienststelle beim OKW: General-Oberstabsrichter Dr. Rudolf Lehmann - Justizdienstaufsicht über die Kriegsstrafrechtspflege der gesamten Wehrmacht Reichskriegsgericht, Präsident: Admiral Max Hastian Amt Ausland/ Abwehr beim OKW: Admiral Fran% Wilhelm Canaris (ab Febr. 1944: Oberst Georg Hansen) Zentralgruppe: General Hans Oster Gruppe Rechtsangelegenheiten: Oberregierungsrat Dr. Walter Her^lieb Abteilung Ausland (seit April 1944 zu WFSt): Kapitän zur See LeopoldBürkner Gruppe VI (Völkerrechtsgruppej: Oberstleutnant Dr. Dr. Wilhelm Tafel (ib 13. April 1942: Oberst Werner Oxé) (Zusammenarbeit mit dem Institut für Ausländisches Öffentliches Recht und Völkerrecht der KaiserWilhelm-Gesellschaft) Referat IVa, b: Kriegsvölkerrechtliche Fragen des Landkrieges Referat IVc: Kriegsvölkerrechtliche Fragen des Seekrieges Referat IVd: Kriegvölkerrechtliche Fragen des Luftkrieges Referat IVe: Archiv für Völkerrechtsverletzungen und Kriegspropaganda (ab Sept. 1939 um die Referate Vif und Vis erweitert) Unter den Sachbearbeitern: Helmuth James Graf von Moltke Prof.Emst Schmitt Dr. von Pfuel Prof. Wilhelm Wengler Prof. Hermann Mosler Leut. d. R. Dr. Günther Jaenicke Oberst a.D. Dr. Alfons Fonck

Vorausschuß Kriegsrecht; Leiter: Reichskommissar bei dem Oberprisenhof Admiral Walter Gladisch Mitglieder: Prof. Ernst Schmitz; Prof. Berthold Widmann, Prof. Karl Theodor Kipp (WFSt), Oberst Werner von Tippeiskirch, Kriegsverwaltungsrat Helmuth James Graf von Moltke, Berthold Schenk Graf von Stauffenberg.

1. Die Rßchtsabteilungen der Wehrmacht

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II. Oberbefehlshaber des Heeres: Generalfeldmarschall Walther von Brauchitsch (ab Dez. 1941 Adolf Hitler) General £ b. V. beim Ob.d.H. Generalleutnant Eugen Müller (ab 1. Oktober 1940) Gericht des Hauptquartiers OKH Gruppe Rechtswesen im OKH (ab Dez. 1942 Heeresfeldjustizabteilung); Leiter: Generalrichter Dr. Erich Lattmann (ab 31. Oktober 1942 Generalrichter Dr. Otto Grunewald) - Strafrechtspflege im Feldheer und gegenüber der Zivilbevölkerung - Fragen des allgemeinen Kriegsrechts - Strafgesetzgebung in den besetzten Gebieten - Rechtsberatung für alle Dienststellen im OKH Chef des Generalstabes des Heeres: Generaloberst Franz Halder (ab Sept. 1942 General Kurt Zeit^ler) Generalquartiermeister. Generalleutnant Eugen Müller (ab 1. Okt. 1940 G eneral Eduard Wagner) Stab des Generalquartiermeisters Gruppe Qu 2: Hauptmann i.G. Gähtgens - Fragen des Operationsgebietes und der vollziehenden Gewalt - Militärische Anordnungen für die Zivilbevölkerung im Operationsgebiet Gruppe 2: Ministerialdirigent Dr. Danckwerts - Anordnungen für die Zivilbevölkerung (in Verbindung mit Gruppe Qu 2) Abteilung Kriegsverwaltung (ab 1. Oktober 1940): Major i.G. Schmidt von Altenstadt Gruppe III (bis 1. Oktober 1940): Generalrichter Dr. Erich Lattmann - Fragen des allgemeinen Kriegsrechts - Feldkriegsgerichtswesen Kriegsakademie. General Uebmann Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersat^heeres im OKH (Ch H RJ/st u. Β d E); Generaloberst Friedrich Fromm Chef des Heeresjusti^tvesens und Chef der Heeresrechtsabteilung im Allgemeinen Heeresamt (AHA)·. Generalstabsrichter Dr. Otto Neumann (ab 1. Oktober 1942 Generalstabsrichter Dr. Kar!Sacié) - Verwaltung des Heeresjustizdienstes - Fortbildung der Heeresjustizbeamten - Regelung der Stellenbesetzung - Bestätigung und Aufhebung von Urteilen der Gerichte des Ersatzheeres und des Feldheeres Zentralgericht des Heeres (11. Mai 1944): Generalleutnant Paul von Hase, Chefrichter: Generalrichter Dr. Helmuth Rosencranty Beispiel von Feldkriegsgerichtsgliederungen aus Unternehmen Barbarossa 1941 III. Heeresgruppe Mitte. Generalfeldmarschall Fedor von Bock Oberkommando der 9. Armee. Generaloberst Adolf Strauß Abt. III (Abteilung Rechtswesen) AOK 9: Oberstkriegsgerichtsrat Dr. Eduard Dehrmann Armeegericht: Kriegsgerichtsrat Dr. Bork - Leitung der Feldkriegsgerichte bei den Divisionen der 9. Armee - Beratung des Kommandierenden Generals in militärstrafrechtlichen und völkerrechtlichen Belangen - Belehrung der Truppe (Disziplinarangelegenheiten) - Bearbeitung von Rechtshilfe-Ersuchen Januar 1942: 20 Feldgerichte, 21 Richter. Feldkriegsgericht der 26. Infanterie-Division: Kriegsgerichtsrat Otfried Killer

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II. Die Hinrichtungen des Völkerrechts

Wilhelm Keitel kommandiert wurde 107 , wechselte er 1936 zur Heeresrechtsabteilung über 108 . Als Leiter der Gruppe Rechtswesen wurde er am 31. Oktober 1942 von Generalrichter Otto Grünewald abgelöst109. Auf Grund der Aufsplitterung der Wehrmachtspitze existierte keine ausgewiesene Rangordnung zwischen der Wehrmachtrechtsabteilung und der Gruppe Rechtswesen im OKH. Eine „Kommando-Hierarchie" zwischen Lehmann und Lattmann gab es nicht. Uber sein Verhältnis zu Erich Lattmann sowie zu dem Chef der Luftwaffenrechtsabteilung, Dr. Christian Freiherr von Hammerstein und dem Chef der Marinerechtsabteilung, Dr. Johannes Rudolphi, berichtete Lehmann später im Nürnberger OKW-Prozeß: „Ich war (...) gewohnt, in einer Zentralbehörde zu arbeiten und war auch gewohnt, daß die unterstellten Behörden nur das ausführten, was die Zentralbehörde anordnete 110 und als ich in das OKW kam, hatte ich zwar auch eine schattenhafte Vorstellung von dieser Institution, aber ich dachte mir, daß müßte nun dort auch so sein und ich habe mich auch durch den Namen irritieren lassen, Oberkommando der Wehrmacht. Ich habe gedacht, das sei eine Kommandobehörde und darunter arbeiten 3 andere Kommandobehörden also secundum ordinem und dann habe ich schon sehen müssen, daß das ganz und gar nicht so war, es war eben wirklich nur der militärische Stab Hitlers. (...) Ich habe daraus auch die richtigen Schlüsse gezogen, wir haben unter den Chefs der Rechtsabteilungen wie Gleichberechtigte verkehrt, wir waren koordiniert, aber sie waren mir nicht untergeordnet." 111 Mit Weisung des Oberbefehlshabers des Heeres (Ob.d.H.), Generalfeldmarschall Walther von Brauchitsch, vom 29. September 1940 wurde endlich dem überragenden „Know-How" Eduard Wagners Rechnung getragen 112 und für Eugen Müller die Stelle des „Generals zur besonderen Verfügung beim Ob.d.H." eingerichtet. Müller, der dem Nationalsozialismus positiv gegenüberstand 113 , bekam als General z.b.V. die Gruppe Rechtswesen des Generalquartiermeisters unterstellt114. In dieser recht eigenwilligen und auch fragwürdigen Funktion des Generals z.b.V. bearbeitete Müller nach Dienstanweisung sowohl Angelegenheiten im Auftrage des Ob.d.H. als auch auf Weisung des Chefs des Generalstabs des Heeres, Generaloberst Franz Halder. So nahm für Brauchitsch als obersten Gerichtsherrn des Heeres die Gruppe Rechtswesen unter Eugen Müller Aufgaben wahr, wie die Bestimmung der Oberbefehlshaber an der Front zu Gerichtsherrn, die Ausübung des Gnadenrechts, die Regelung der Befugnisse hinsichtlich der Bestätigung von Gerichtsurteilen sowie die Aufhebung von Gerichtsurteilen, die sich der Ob.d.H. vorbehalten hatte. Hinzu kam die Dienstaufsicht über das Gericht Hauptquartier OKH. In allen anderen Bereichen war der General z.b.V. dem Chef des Generalstabes unterstellt. In die Zuständigkeit der Gruppe Rechtswesen fiel dabei vor allem: Vgl. Keitel, Mein Leben, S. 180. 108 Vgl. Lattmann, Erinnerungen, Bl. 4. 109 Vgl Zayas, Wehrmacht-Untersuchungsstelle, S. 85. 110 Rudolf Lehmann war von 1933 bis 1937 als Ministerialrat im Reichsjustizministerium tätig. Vgl. Haase, Dr. Rudolf Lehmann, S. 154. » i Records of the United States, Roü 41, Bl. 7747f. So Eckstein, Tätigkeit, S. 275. 113 Vgl. Hermann Dieter Betz, Das OKW und seine Haltung zum Landkriegsvölkerrecht im Zweiten Weltkrieg, Würzburg 1970 (Diss.), S. 129. »4 Vgl. BA-MA, RH 53-7/738, Bl. 143. 107

/. Die Rechtsabteilungen der Wehrmacht

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1. Führung und Beaufsichtigung der Strafrechtspflege im Feldheer und gegenüber der Bevölkerung der besetzten Gebiete. Hierzu wurde auf die Zusammenarbeit mit der „Abt. Kriegsverwaltung des Gen. Qu." hingewiesen. 2. Vertretung der Forderungen des Feldheeres bei Bearbeitung von Gesetzen, Verordnungen und Erlassen und auf dem Gebiet des Strafgerichtswesens. 3. Mitarbeit bei der Abteilung Kriegsverwaltung des Generalquartiermeisters hinsichtlich der Fragen des Kriegsrechts, der Strafgesetzgebung in den besetzten Gebieten und des Kriegsgefangenenrechts. 4. Rechtsberatung für sämtliche Dienststellen des Hauptquartiers OKH 115 . Mit dieser Zuständigkeitsverteilung war letzten Endes die Herauslösung der Gruppe Rechtswesen aus dem Bereich des Generalquartiermeisters und damit des Generalstabs des Heeres de facto für alle Obliegenheiten, die das Feldheer und das Operationsgebiet und das Besatzungsgebiet betrafen wieder aufgehoben worden 116 . Das Fundament für die Heeresrechtspflege schlechthin bildete die Dienststelle des Chefs des Heeresjustizwesens beim Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres im OKH (Ch H Rüst u. Β d E). Die Aufgaben des Chefs des Heeresjustizwesens wurden seit 1937 von dem Ministerialdirigenten Dr. Otto Neumann 117 wahrgenommen. Bereits im Ersten Weltkrieg als Kriegsgerichtsrat tätig, fand er bald nach Hiders Machtergreifung Anstellung in der Heeresrechtsabteilung im Allgemeinen Heeresamt (AHA). Am 1. Oktober 1942 wurde er schließlich durch Karl Sack von seinem Chef-Posten abgelöst und an das Reichskriegsgericht abkommandiert 118 . Gemäß Dienstanweisung vom 12. August 1937 war Neumann als Chef des Heeresjustizwesens „Fachvorgesetzter aller Justizbeamten des Feld- und Ersatzheeres und ihr Dienststrafvorgesetzter". In seinem Zuständigkeitsbereich lag 1. die Verwaltung des Heeresjustizdienstes, die Leitung der Ausbildung der unterstellten Beamten und die Überwachung ihrer Tätigkeit in fachlicher Hinsicht; 2. die Regelung der Stellenbesetzung, die Ergänzung und der Ausgleich des Personalbestandes und der Vorschlag für Ernennungen und Beförderungen 119 . Als Chef des Heeresjustizwesens besaß Neumann zugleich die Leitung der Heeresrechtsabteilung im AHA 120 . Diese ermöglichte ihm die Bewältigung seiner umfassenden Aufgaben vor dem Hintergrund eines stetigen Ausbaus des Heeres und damit verbunden einer wachsenden Anzahl der Heeresrichter 121 , deren Organisation in die 1 1 5 Vgl. BA-MA, RH 53-7/738,, Bl. 144f. Siehe auch: Ernst Klink, Die militärische Konzeption des Krieges gegen die Sowjetunion, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4: Der Angriff auf die Sowjetunion, Frankfurt a.M. 1996 (3. Aufl.), S. 305f. 116 Vgl. ebd., S. 305. 1 , 7 Nach Einführung des Truppensonderdienstes im Rang eines Generalstabsrichters; vgl. Keilig, Das Deutsche Heer, Abschnitt 213, S. 7. 118 Vgl. Otfried Keller, Richter und Soldat. Ausschnitte aus einem Leben in bewegter Zeit, Marburg 1989, S. 52f.; Norbert Haase, Generalstabsrichter Karl Sack, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Hiders militärische Elite, Bd. 2: Vom Kriegsbeginn bis zum Weltkriegsende, Darmstadt 1999, S. 204. 119 Vgl. BA-MA, RH 2/1052, Bl. 7. 120 Siehe dazu die Gliederung des Allgemeinen Heeresamtes in: BA-MA, RHD 18/36, Bl. 5. 121 Im Dezember 1939 waren nach Messerschmidt in den drei Wehrmachtteilen 290 Gerichte mit 463 Richtern besetzt, im Dezember 1942 waren es 586 Gerichte mit 1 1 1 0 Richtern, ein

204

II. Die Hinrichtungen des Völkerrechts

Gesamtstruktur des Heeres und deren militärische Schulung nach der Wiedereinführung der Militärgerichtsbarkeit122 besonders hohe Anforderungen abverlangten. Die Heeresrechtsabteilung gliederte sich in sechs Referate, deren Arbeitsgebiete sich folgendermaßen aufteilten: Referat I: Referat II: Referat III: Referat IV: Referat V:

Referat VI:

Organisation und Zuständigkeitsfragen Fortbildung der Heeresjustizbeamten Anregungen zum Erlaß und zur Änderungen von Gesetzen und Verordnungen Dienstaufsicht über die richterlichen Heeresjustizbeamten Dienstaufsicht über die Urkundsbeamten und Heeresjustizwachtmeister Bestätigung und Aufhebung von Urteilen der Gerichte des Ersatzheeres Gnadensachen des Ersatzheeres Wiederaufnahme von Verfahren Bestätigung und Aufhebung von Urteilen der Gerichte des Feldheeres Laufende Strafsachen Strafvollstreckung 123 .

Gegen Ende des Krieges, als der Terror des NS-Regimes zur Höchstform auflief, wurde auf Betreiben Hitlers am 11. Mai 1944 vom Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres, Generaloberst Friedrich Fromm, und vom Chef der Heeresjustiz, Generalstabsrichter Dr. Karl Sack, der Befehl gegeben zur Errichtung des Zentralgerichts des Heeres. Es wurde unmittelbar Generaloberst Fromm unterstellt, Gerichtsherr war zunächst der Stadtkommandant von Berlin und Mitglied des 20. Juli, Generalleutnant Paul von Hase124. Chefrichter des Zentralgerichts war der Generalrichter Dr. Helmuth Rosencrantz. Zu den Hauptressorts dieses Gerichts zählten in der Hauptsache politische Strafsachen, insbesondere die Wehrkraftzersetzung und Verfahren wegen Heimtücke 125 , sowie schwere Korruptionsfälle 126 . Seine Jurisdiktion erstreckte sich auf die genannten Straftaten von hohen Offizieren im Jahr später 687 Gerichte mit 1133 Richtern. Im Jahre 1944 sank die Anzahl der Gerichte. Im Oktober 1944 waren es nur mehr 488 Gerichte mit 1088 Richtern. Vgl. Manfred Messerschmidt, Deutsche Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg, in: Hans Jochen Vogel, Helmut Simon, Adalbert Podlech (Hrsg.), Die Freiheit des Anderen. Festschrift für Martin Hirsch, Baden-Baden 1981, S. 117f. auch: Otto Hennike, Uber den Justizterror in der deutschen Wehrmacht am Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Zeitschrift für Militärgeschichte 4 (1965), S. 716f. 122 Siehe: Gesetz über die Wiedereinführung der Militärgerichtsbarkeit vom 12. Mai 1933, in: RGBl. I. 1933, S. 264. ^ Vgl. BA-MA, RH 2/1052, Bl. 9. 124 Vgl. Mehringer, Widerstand, S. 216. 125 Die Verhandlung politischer Strafsachen beim Ersatzheer wurde auf Befehl Hiders am 20. August 1942 dem Gericht der Kommandantur Berlin übertragen. Aus ihm ging das Zentralgericht des Heeres hervor. Vgl. Absolon (Hrsg.), Wehrmachtstrafrecht, S. 223. 126 Vgl. ebd., S. 226; Dr. Helmuth Rosencrantz, ZS-541, IfZ, Bl. 2.

1. Die Rechtsstellungen

der Wehrmacht

205

Ersatzheer. Nach einer Unterredung Karl Sacks mit Wilhelm Keitel war dem Zentralgericht auch die Befugnis zugewiesen worden, Korruptionsfálle von Generälen und Befehlshabern im Feldheer zu ahnden. Deren Aburteilung allerdings erfolgte weiterhin durch das Reichskriegsgericht127. Chef des Allgemeinen Heeresamtes und damit Otto Neumanns und in dessen Nachfolge Karl Sacks unmittelbarer Vorgesetzter war seit Februar 1940 der General der Infanterie, Friedrich Olbricht. Dieser war ein entschiedener Gegner Hiders und einer der maßgebenden Akteure des mißglückten Staatsstreichs am 20. Juli 1944128. Chef des Stabes im Allgemeinen Heeresamt wurde nach schwerer Verwundung in Nordafrika am 1. Oktober 1943 Obersdeutnant Claus Schenk Graf von Staufenberg129. Fatalerweise zeigte sich Generaloberst Friedrich Fromm gegenüber dem Widerstand unzugänglich und in seiner Haltung stets zweideutig. Irrtümlich hielt Stauffenberg ihn für einen Sympathisanten 130 . Am Tag des Attentats mußte daher Fromm von General Olbricht verhaftet werden. Sein Nachfolger wurde für Stunden der einst im Jahr 1942 von Hider willkürlich endassene Generaloberst Erich Hoepner131. Nach dem Zusammenbruch des Staatsstreiches übernahm auf Anordnung Hiders der Reichsführer SS Heinrich Himmler den Befehl über das Ersatzheer132.

*2~ Vgl. Absolon (Hrsg.), Wehrmachtstrafrecht, Bl. 4. Zum Zentralgericht des Heeres siehe auch: Manfred Messerschmidt, Fritz Wüllner, Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden-Baden 1987, S. 193f. 128 Vg] Gerd R. Ueberschär, Der militärische Umsturzplan: Die Operation „Walküre", in: Peter Steinbach, Johannes Tuchel (Hrsg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 354. 12»

Vom Verlauf der oben zitierten Diskussion ausgehend zeigte sich aber auf bedenkliche Weise, daß auch unter deutschen Rechtsexperten große Unklarheit in völkerrechtlichen Angelegenheiten bestand und die Vorstellungen über denkbare Einsätze von Zivilpersonen zur Feindabwehr in einem merklichen Gegensatz zu den Maßnahmen deutscher Armeen in den jeweiligen Operationsgebieten lagen. Der Umgang mit dem für die Wehrmacht generell hochbrisanten Thema zeugte von einer unverantwortlichen Leichtfertigkeit, wie u.a. die Äußerungen Moltkes belegen sollten, denn rechtswidrige Widerstandsakte von Zivilisten zogen nach deutschem „Kriegsbrauch" in der Regel Repressalmaßnahmen nach sich. So drohte daher nach

138 Sitzungsprotokoll des Vorausschusses Kriegsrecht vom 10. Oktober 1940, in: BA-MA, RM 8/1314, Bl. 7 0 - 7 7 .

2. Der Kombattantenstatus

321

Datner die „Wehrmacht" während der Kämpfe um Warschau den Einwohnern an, für jeden getöteten deutschen Soldaten 20 polnische Zivilisten zu erschießen 139 . Drängende Probleme, wie eine notwendig eindeutige Verortung illegaler Handlungen von Zivilisten und deren strafrechtliche Ahndung, wurden aber erst gar nicht erörtert. Dies traf besonders in der Einschätzung des Art. 2 H L K O zu, in der beispielsweise die Urteilspraxis deutscher Militärgerichte nicht annähernd berücksichtigt worden war. Allein ein Blick in die Zeitschrift für Wehrrecht hätte genügt, um ausreichend Informationsmaterial hierüber zu erhalten. Somit waren die Ergebnisse des Vorausschusses Kriegsrecht für die gegenwärtige Kriegführung nur wenig hilfreich. Denn der Fall „Warschau", und damit die drängende Frage über den Geltungsbereich des Art. 2 HLKO, sollte sich unter ähnlichen Vorbedingungen wiederholen im Fall „Kreta" 140 . Die deutschen Militärgerichte ließen auch hier Vgl. Datner, Crimes, S. 334. Einen Tag nach der Kapitulation Griechenlands ordnete Adolf Hitler in seiner Weisung Nr. 28 vom 25. April 1941 die Vorbereitung eines Luftlandeunternehmens gegen Kreta Unternehmen „Merkur" - an. Mit der Durchführung dieser Luftlandeoperation war die Luftflotte 4 unter Generaloberst Lohr betraut worden, der hierzu eine Luftlandedivision und eine verstärkte Gebirgsjägerdivision bereitgestellt worden waren. Die Verteidigung der Insel wurde von dem britischen General Freyberg organisiert, unter dessen Kommando rund 30.000 britische, australische und neuseeländische Soldaten sowie 10.000 griechische Soldaten standen. Durch „Ultra" über die deutschen Pläne informiert, war Freyberg seit dem 1. Mai in der Lage, seine Truppen entsprechend der Angriffsziele zu gruppieren. Vgl. Lothar Gruchmann, Der Zweite Weltkrieg. Kriegführung und Politik, München 1995 (10. Aufl.), S. 119f. An den Kämpfen um die Mittelmeerinsel, die am 20. Mai entbrannt waren, beteiligte sich auch die Zivilbevölkerung, welche hierzu von den britischen Militärbehörden eigens aufgerufen und mit Waffen versorgt worden war. Von vornherein spielten damit Rechtsfragen über subjektive und objektive Verantwortung, über Organisation und auch in Hinblick auf den Zeitfaktor in Art. 2 HLKO eine entscheidende Rolle. Für Alfons Waltzog von der Wehrmachtrechtsabteilung fiel die Bestimmung der Rechtssituation der kredschen Zivilbevölkerung eindeutig aus: „Auch die Bewohner Kretas haben sich unter Verletzung des Art. 2 am Kampf beteiligt. Die Landung deutscher Truppen auf Kreta ist sechs Wochen nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Griechenland erfolgt. Es war also genügend Zeit zur Organisadon nach Art. 1. Mit Recht spricht daher der Wehrmachtbericht vom 28. Mai 1941 von ,Insurgentenbanden'." Siehe: Waltzog, Landkriegsführung, S. 23. Gegen diese bekannte und fragwürdige Interpretation des Art. 2 HLKO wandte nachträglich allerdings Steinkamm ein: „So gesehen ist es irrig, die Erhebung der Einwohner Kretas 1941 als völkerrechtswidrig zu betrachten (so Waltzog, Recht der Landkriegsführung, S. 23). Immerhin war es das erste Mal, daß ein Lufdandeangriff in einem solchen Ausmaß wie auf Kreta erfolgte, und ferner war es überhaupt zweifelhaft, ob die Bewohner Kretas mit einem Angriff auf ihre Insel rechnen mußten; man kann von der Bevölkerung eines Gebietes nicht verlangen, sich ein Bild über den strategischen Wert ihrer Heimat für den Gegner zu machen." Siehe: Steinkamm, Streitkräfte, S. 237 Anm. 3. Doch mit einer vermeintlichen Klärung des Zeitfaktors in Art. 2 HLKO zugunsten der kretischen Zivilbevölkerung war das Problem über den Rechtsstatus derselben noch lange nicht gelöst. Denn Kapitän zur See Leopold Bürkner, Leiter der Abteilung Ausland, legte am 16. September 1942 ein Rechtsgutachten vor, in dem weniger der Zeitfaktor als vielmehr die Frage der Verantwortung und der Organisation wie im Fall „Warschaus" thematisiert wurde: „Im Auftrage des englischen Oberbefehlshabers Aufruf an die Zivilbevölkerung zur Beteiligung am Kampf. Beauftragter der griechische Offizier Sferadakis, der besonders in Kandanos den Widerstand der Zivilbevölkerung organisierte und Waffen ausgab vor Beginn des Angriffs der deutschen Fallschirmjäger auf Kreta. Die Zivilisten waren ohne militärische Ausbildung, ohne 139

140

322

III. Die Umsetzung

des Kriegsrechts

in der deutschen

Wehrmacht

1939/1940

offenbar nur Art. 1 H L K O gegenüber kämpfenden Zivilisten gelten, wie z.B. ein Urteil des Feldgerichts des Befehlshabers und Kommandanten der Festung Kreta v o m 5. August 1 9 4 1 beweist 141 . Eine kleine Bemerkung v o n Ernst Schmitz offenbarte des weiteren, daß die Wahrung der Grundrechte des Kombattanten nicht nur gegenüber der Zivilbevölkerung, sondern auch gegenüber den regulären Soldaten unter einer sehr fragwürdigen und ambivalenten Rechtsbetrachtung gefaßt war. Der schnelle Bewegungskrieg brachte es mit sich, daß nicht alle feindlichen Soldaten in Kriegsgefangenschaft überführt werden konnten. Vielen v o n ihnen gelang die Flucht oder wurden erst gar nicht entdeckt. Diese „Versprengten" stellten naturgemäß eine Bedrohung im Rücken der deutschen Divisionen dar, weshalb ihre Aufbringung ein notwendiges militärisches Interesse bildete. Besonders die Aufnahme eines Kleinkrieges durch solche regulären Gruppen mußte umgehend verhindert werden, da sie die Fortsetzung schneller Operationen z.B. durch Unterbindung des Nachschubs unter

Kennzeichen und ohne Unterweisung über zulässige Kampfmaßnahmen. Ohne verantwortliche Führung." Siehe: Amt Ausl/Abw, Nr. 1414/42gKds. Ausi. Vie, F VI, C 2a, 16. September 1942, NOKW-435, in: MA-1564/6, IfZ. Tasächlich war die Geltung des Art. 2 HLKO in Frage gestellt, da britische und griechische Behörden nicht nur die Zivilisten zur Teilnahme am Kampf aufriefen, sondern diese auch organisierten. Darüber hinaus war sowohl nach Art. 1 als auch nach Art. 2 HLKO die Bevölkerung verpflichtet, das internationale Kriegsrecht zu beachten. Anders als in Danzig oder Warschau machten sich die griechischen Zivilisten nämlich Rechtsverletzungen schuldig, wodurch sie die Rechte des Kombattanten objektiv - verloren hatten. So blieb zwar die deutsche Kritik im Hinblick auf den Zeitfaktor und den britischen Aufrufen sehr fragwürdig, die Kritik an der Führung des Kampfes war hingegen oftmals berechtigt. So warf ein Rechtsgutachten der Wehrmacht-Untersuchungsstelle vom Juli 1941 der kretischen Bevölkerung u.a. vor, daß sie vielfach mit deutschen „Springhelmen" ausgerüstet gewesen war und „ihre Stellungen mit Hakenkreuzfahnen getarnt habe". Zudem lastete es den Zivilisten die häufige Verwendung von Dum-Dum-Geschossen an sowie die Verstümmelung gefallener Soldaten. Interessanterweise wurde auch die Beteiligung von Polizeibeamten am Kampfe als rechtswidrig kritisiert. Die Verurteilung der Kampfteilnahme von Frauen blieb dagegen ohne Belang. In ihrem Gutachten kam die WUSt besonders in der Frage über die Verantwortung zu einem richtigen Ergebnis, ließ aber die sich hieraus ergebenden Rechtsfolgen für die Zivilisten unberücksichtigt: „Uber das Maß der eigenen Gewalttaten britischer Truppen hinaus, trägt daher England, in dessen Hand der Oberbefehl ruhte, zumindest die Mitverantwortung für die elementaren Grausamkeiten der kretischen Freischärler, die es - ohne Unterricht über die völkerrechtlichen Grundgesetze - zum Kampfe aufgerufen und bewaffnet, und aus deren zügellosem Bandenkrieg es in unbekümmerter Selbstsucht die Vorteile für sich gezogen hat." Siehe: Wehrmacht-Untersuchungsstelle für Verletzungen des Völkerrechts, Berlin, im Juli 1941, in: BA-MA, RW 2/145, Bl. 4. 141 So verurteilte das Gericht unter dem Vorsitz von Kriegsgerichtsrat Kleinböhmer den griechischen Zivilisten Johannis Zazarunakis gemäß § 3 KSSVO zum Tode. Den kriegsrechdichen Straftatbestand zeichnete es folgendermaßen: „Während der Kämpfe um Heraklion im Mai 1941 sammelte der Angeklagte Zivilisten, die kämpfen wollten, um sich, bewaffnete sie und setzte sie zum Kampf gegen die Fallschirmjäger an. Er trug dabei stets nur Zivil. Er rühmte sich öffentlich, Fallschirmjäger umgebracht zu haben." Siehe: Feldgericht des Befehlshabers und Kommandanten der Festung Kreta, 1 Κ St. L. 28 1941, in: BA-MA, RW 2/139, Bl. 5. Damit setzte das Gericht jene Rechtsinterpretation um, wie sie wenig später von Waltzog vorgetragen werden sollte. Eine Diskussion über einen möglichen Geltungsbereich des Art. 2 HLKO befand es nicht für angebracht.

2. Der

Kombattantenstatus

323

Umständen erheblich stören und damit verzögern konnten. Der Militärbefehlshaber von Posen, General Alfred von Vollard-Bockelberg, beispielsweise, erließ deshalb am 13. September 1939 einen Befehl, in welchem er die sofortige Verfolgung polnischer Versprengter einleitete. Hierzu setzte er Landesschützenregimenter unter dem Kommando von Frhr. Curt Ludwig von Gienanth 142 ein, denen u.a. die Aufgabe oblag, das Ausweichen „versprengter polnischer Kräfte" nach Westen zu blockieren. Entsprechend wurden einige der Landesschützenverbände endang der Hauptverkehrsadern in Marsch gesetzt. Gleichzeitig waren die umliegenden Waldgebiete von Versprengten zu „säubern", um künftige „Störaktionen" von vornherein auszuschalten143. Über den Rechtsstatus dieser versprengten Soldaten war damit freilich noch nichts ausgesagt. Die Anweisung Bockelbergs konzentrierte sich allein auf begründete militärische Interessen. Auch aus anderen Befehlen konnte über die Rechtsauffassung Bockelbergs in dieser heiklen Frage kein Anhaltspunkt gefunden werden. Hält man sich die Praxis des Ersten Weltkrieges aber vor Augen, so durften sich jene polnischen Versprengten im Hinblick auf ihre Schutzrechte keinen allzu großen Illusionen mehr hingeben. Um so mehr darf der Befehl der 73. Infanterie-Division vom 2. September 1939 als eine Überraschung gewertet werden, da dieser Versprengten ebenfalls den Kombattantenstatus zubilligte, allerdings eine Unterscheidung zwischen unbewaffneten Soldaten in Zivil und bewaffneten Soldaten in Zivil vornahm, worauf später noch eingegangen werden wird: „Einzelne, hinter unserer Front auftauchende Soldaten in Uniform, sind festzunehmen und als Kriegsgefangene zu behandeln. Gleiches gilt, sofern sie Zivil angelegt haben und unbewaffnet sind. Soldaten in Zivil mit der Waffe sind wie Zivilisten (...) als Freischärler zu behandeln." 144 Eine solche Rechtsauffassung bildete jedoch in der deutschen Armee nicht die Regel, vielmehr kamen auch die vermeintlichen Kriegsbräuche des Ersten Weltkrieges zum Zuge. So hatte z.B. die 10. Armee (Reichenau) am 11. September die Anordnung ausgegeben, daß Angehörige des polnischen Heeres, die in Uniform oder in Zivil, hinter die deutschen Linien geraten waren, sich zu stellen hatten. Andernfalls drohte diesen als „Banden" abqualifizierten Gruppen die Todesstrafe 143 . Sehr milde dagegen faßte die 14. Armee (List) das Problem der Versprengten auf, denn sie erwartete, daß diese infolge des schlechten Wetters und aus Hunger sich von selbst ergeben würden. Die Versprengten sollten dann aufgegriffen und in Kriegsgefangenschaft überführt werden 146 . Diese krassen Widersprüche in der Behandlung der Versprengten waren letztlich nicht nachvollziehbar und können zunächst einmal lediglich

142 Das Generalkommando „Gienanth" bestand aus vier Gruppen von Schützenregimentern: der Gruppe „Büchs", der Gruppe „von Schenckendorff', der Gruppe „Metz" sowie der Gruppe „von Gienanth" selbst. Siehe: Der Militärbefehlshaber von Posen, Quartiermeisterabteilung, 21. September 1939, Besondere Anordnungen Nr. 4, Anlage 2: Landesschützenverbände des Militärbefehlshabers von Posen, in: MA-508, IfZ. 143 Vgl. Der Militärbefehlshaber von Posen, la Br. B. Nr. 4/39, Posen, 13. 9. 1939, Befehl für die Befriedung des Militärbezirks Posen, in: MA-508, IfZ. 144 73. Infanterie-Division, Ic/39, 2. 9. 39, Merkblatt über das Verhalten in Feindesland. 145 Ygi dazu den Befehl der Überwachungsstelle Kortrvk, AOK 4, vom 5. November 1915, in: BA-MA, PH 5 11/444, Bl. 62ff. 146 Vgl. Umbreit, Militärverwaltungen, S. 150f.

324

III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht

1939/1940

mit der individuellen Sichtweise des jeweiligen Oberbefehlshabers eine erste Begründung finden. Nach dem Kriege widmete sich Erich Lattmann mehrmals dieser unglückseligen Angelegenheit, welche einer ritterlichen Kriegführung ganz und gar nicht entsprechen mochte. So sei der Befehl der 10. Armee auf eine mündliche Weisung des Oberbefehlshabers der Wehrmacht zurückzuführen gewesen, welche auf einer Besprechung beim Generalquartiermeister Eugen Müller am 7. September 1939 bekannt gegeben worden wäre. Hiergegen wollte Lattmann aber umgehend Protest erhoben und geltend gemacht haben, daß die „noch kämpfenden polnischen Soldaten, die oft in kleinen Einheiten unter Führung ihrer Offiziere ständen, (...) keine Freischärler" seien. „Diese hätten nach der Haager Landkriegsordnung Anspruch darauf, nach der Gefangennahme als Kriegsgefangene behandelt zu werden" 147 . Bei dem anschließenden Vortrag gegenüber von Brauchitsch sei dann diese „grundsätzliche" Rechtsfrage nochmals erörtert worden. Dieser habe schließlich einen schriftlichen Befehl von Hider verlangt, welchen er freilich niemals erhalten sollte 148 . Lattmanns Darstellung war während des OKW-Prozesses bereits von Rudolf Lehmann vorgetragen worden und erfuhr hierdurch eine Bestätigung149. Seine Behauptung allerdings, „Kein einziger polnischer Soldat ist nach der Gefangennahme als Freischärler erschossen worden" 1 5 0 , fand sich in Lehmanns Aussagen nicht 151 . Die unklare Rechtssituation der Versprengten sollte sich nämlich noch verschlechtern durch die von Brauchitsch ausgegebene „Verordnung über Waffenbesitz" vom 12. September 1939. Die darin befohlene Ablieferung aller Waffen „binnen 24 Stunden" verbunden mit der Androhung der Todesstrafe bezog unterschiedslos Zivilisten wie auch Soldaten mit ein. Die Verordnung erlangte umgehend Rechtswirksamkeit für das Gebiet westlich des San und des Mittellaufs der Weichsel, das nicht mehr als „Kampfgebiet des Heeres" betrachtet wurde152. Dies kam einer Aufhebung des Kriegsrechts gleich, wodurch Versprengte, gleich ob in Uniform oder in Zivil, als „Verräter" betrachtet werden konnten, infolge einer Übertragung „innerer" Rechtsverhältnisse auf das polnische Besatzungsgebiet. Eine Praxis, die durch den Ersten Weltkrieg hinlänglich bekannt gewesen war. Selbst dem Generalstabschef Franz Halder schien diese Verordnung offenbar nicht geheuer, denn in seinem Tagebuch findet sich unter dem 11. September folgender letztlich nicht ganz zweifelsfrei interpretierbare Satz: „Gebiet hinter Front ,Nicht-Kampfzone'. -

147 Yg| griçh Lattmann, Erinnerungen an Feldmarschall von Brauchitsch, 1974, in: BA-MA, MSg 1 / 8 9 7 , Bl. 5. i « Vgl. ebd., Bl. 6. 149 Vgl Records o f the United States. Nuernberg War Crimes Trials. United States o f America v. Wilhelm Leeb et. Al. (Case XII). Transcript Volumes (German Version), Roll 41, Bl. 7752, M B 3 1 / 4 1 , IfZ. 150 Vgl Lattmann, Erinnerungen, Bl. 6; ders., ... und wurden nicht erschossen. Aus der Praxis der deutschen Heeresgerichtsbarkeit 1 9 3 8 / 4 1 , in: Deutschland in Geschichte und Gegenwart 29 (1981), S. 16. 151 152

Siehe dazu auch: Krausnick, Wilhelm, Truppe, S. 49f. Anm. 104. Vgl. ebd., S. 49f.; Umbreit, Militärverwaltungen, S. 138.

2. Der Kombattantenstatus

325

Jurist!" 153 Das Problem der Rechtssituation des Versprengten war damit endgültig bereinigt, Freischärlerei und illegaler Waffenbesitz fielen auf diese Art zusammen. Für die strafrechtliche Ahndung von Waffenbesitz waren in erster Linie die Standgerichte zuständig 154 . Die Zahl der zum Tode verurteilten Personen wurde in der Wehrmachtstatistik mit 12 ausgewiesen 155 . Vieles sprach dafür, daß wie bereits in Fällen der Freischärlerei der Tatbestand des illegalen Waffenbesitzes auf dem Wege der Vergeltung „gesühnt" wurde. So berichtete die Einsatzgruppe II, die der 10. Armee zugeteilt war, am 14. September 1939 von einer Repressalmaßnahme in Konskie, in deren Folge 1 2 0 Personen, Zivilisten und Soldaten, erschossen worden waren 156 . Die Erschießung polnischer Kriegsgefangener als Akt der Vergeltung bildete auch einen gewichtigen Punkt in der Anklageschrift Polens für den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß 157 . Denn Repressalmaßnahmen gegen Kriegsgefangene waren seit der Genfer Konvention von 1929 untersagt. Unkenntnis und Unsicherheit im Hinblick auf das internationale Kriegsrecht tauchen damit abermals in der deutschen Kriegführung auf, Freischärlerei, illegaler Waffenbesitz und Vergeltung liefen scheinbar ohne die gebotene Trennung ineinander. Symptomatisch hierfür war auch eine Anfrage der 7. Armee während des Frankreich-Feldzuges an Legationsrat Dr. Johann G. Lohmann über die Möglichkeit der Erschießung von Kriegsgefangenen auf dem Wege der Repressalie 158 . 153 Generaloberst Halder, Kriegstagebuch. Band 1: Vom Polenfeldzug bis zum Ende der Westoffensive (14. 8. 1939-30. 6. 1940), bearb. von Hans-Adolf Jacobsen, Stuttgart 1962, S. 71. 154 Vgl. ebd., S. 71. 155 Vgl. Wehrmachtrechtsabteilung, Übersicht über die durch die Wehrmachtgerichte in der Zeit vom 26. 8. bis zum 18. 11. 1939 zum Tode verurteilten Personen, Bl. 8. 156 Wörtlich ist in dem Bericht der Einsatzgruppe II zu lesen: „Generalmajor Röttig ist nach Mitteilung des AOK im Kampf mit regulären polnischen Truppen [!] auf der Straße Opoczno Tomaszów gefallen. Seine Leiche ist noch nicht gefunden. Durch Befehl des AOK sind Erschießungen als Vergeltungsmaßnahme anläßlich des Todes des Generalmajors Röttig strengstens untersagt. Das AOK hat auf diesen Vorfall hin alle männlichen Zivilpersonen im Alter von 18 Jahren in Konskie und der weiteren Umgebung insgesamt etwa 5.000 Personen festgenommen und in ein Lager bei Konskie bringen lassen. Im Einverständnis mit Orts- und Lagerkommandant wurden die Gefangenen durchkämmt. Dann wurden 120 Personen, Juden, Polen und Soldaten in Zivil, die, obwohl sie nicht verletzt, blutige Wäsche trugen und im Besitz von deutschem Sold waren und daher als Urheber an der Niedermetzelung deutscher Soldaten betrachtet wurden, erschossen." Siehe: Die Berichte der Einsatzgruppen, Bl. 69. 157 Vgl. Die Republik Polen, S. 24f. Siehe auch: Czeslaw Madajczyk, Die Verantwortung der Wehrmacht für die Verbrechen während des Krieges mit Polen, in: Wolfram Wette, Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, Darmstadt 2001, S 115, und S. 121 Anm. 9. 158 Lohmann hielt den Vorgang in einer Notiz fest: „Herr Generalkonsul von Luckwald rief heute um 17.15 Uhr im Auftrage des Chefs des Stabes der VII. Armee telephonisch an, um folgende Frage zu stellen: 1.) Wenn ein verwundeter und in französische Kriegsgefangenschaft geratener deutscher Soldat einige Tage später von den deutschen Truppen ermordet aufgefunden werde, sei dann die örtlich zuständige militärische Befehlsstelle ohne weiteres befugt, durch Erschießung französischer Gefangener Vergeltung zu üben? Herr von I.. fügte hinzu, er habe diese Frage heute morgen bereits Herrn U.St.S. Woermann vorgelegt. Dieser habe erklärt, nach dem Kriegsgefangenenabkommen von 1929 sei die Vornahme von Repressalien gegen Kriegsgefangene ausdrücklich ausgeschlossen. Auf eine formelle Anfrage

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht 1939/1940

Soldaten in Uniform oder Zivil besitzen die Schutzrechte der Genfer Konvention. Der Straftatbestand der Freischärlerei war deshalb auf sie nicht übertragbar, da dieser die Verletzung der vier Legalbedingungen aus Art. 1 HLKO zur Voraussetzung hat. „Die Uniform macht nicht den Soldaten" äußerte einer der angeklagten Danziger Postbeamten 159 und in einem gewissen Sinn besaß er damit auch Recht. Gemäß Art. 1 des IV. Haager Abkommens war dem Soldaten von vornherein die staatliche Legitimation der Waffenführung gegeben, ein Privileg, das ihn von legalen zivilen „Kämpfern" unterschied. Doch die Fortführung des Kampfes in Zivilkleidung bedeutete die Verletzung einer der Grundregeln des Kriegsrechts, nämlich die Scheidung zwischen der Rechtssphäre des Zivilen und des Militärischen. Ein Soldat machte sich hierauf strafbar, da er für den Gegner als solcher gegenüber der passiven Bevölkerung nicht mehr erkennbar war. Insofern kam die Unterscheidung der 73. Infanterie-Division zwischen bewaffneten und unbewaffneten Soldaten in Zivil diesen Rechtsgrundsätzen sehr nahe. Ein Freischärler war ersterer jedoch nicht. Seine Straftat hatte vielmehr von einem Kriegsgericht geprüft und gewürdigt zu werden. Die strafrechtliche Ahndung von Kriegsverbrechen Das Verhältnis zwischen Wehrmacht und SS Kurz vor Kriegsbeginn am 22. August 1939 äußerte sich Hider gegenüber hohen militärischen Führungskräften über seine Absichten im Polenfeldzug. Danach bestand für ihn das „Kriegsziel (...) nicht im Erreichen bestimmter Linien, sondern in der physischen Vernichtung des Gegners. So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mideidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen. (...) Polen wird entvölkert und mit Deutschen besiedelt." 160 Mit dieser Erklärung besiegelte Hider den Völkermord, von einem Krieg in rein rechtlichem Sinne, wie ihn Brauchitsch in seiner Proklamation an das polnische Volk noch verstanden wissen wollte, konnte keine Rede mehr sein. Der Kriegszustand geriet zum Ausnahmezustand, in welchem der „volkstumspolitische K a m p f die Vernichtung von völkisch-rassischen Gruppen, insbesondere der Juden 161 und der polnischen Intelligenz, erstmalig konsequent vorangetrieben werden konnte. Für den Polenfeldzug wurden daher entsprechend der Aufstellung der fünf Armeen vorerst fünf Einsatzgruppen (I—V) aus Einheiten müsse daher verneinend geantwortet werden. Der Soldat müsse natürlich einen Befehl, den er von seinem Vorgesetzten, oder von einer vorgesetzten Dienststelle erhalte, ausführen. Ich antwortete Herrn von L., ich könne keine andere Auskunft geben, als die von Herrn Woermann erteilte." Siehe: Referat: LR. Dr. Lohmann, Aktennotiz, 20. Juni 1940, in: PA-AA, R 40283. Vgl. Schenk, Post, S. 101. 160 Zitiert aus: Umbreit, Kontinentalherrschaft, S. 29; siehe auch: Jacobmeyer, Uberfall, S. 16f.; Helmut Krausnick, Harold C. Deutsch (Hrsg.), Helmuth Groscurth. Tagebuch eines Abwehroffiziers 1938—1940. Mit weiteren Dokumenten zur Militäropposition gegen Hider, Stuttgart 1970, S. 180 und S. 190 (Tagebucheintragung vom 24. und 28. August 1939). 161 |Q Prozent der polnischen Bevölkerung, 3,3 Millionen von 33 Millionen polnischen Staatsbürgern waren jüdisch. Vgl. Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1990, S. 198.

2. Der

Kombattantenstatus

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der Sicherheitspolizei und Ordnungspolizei gebildet und jeweils einer Armee zugeteilt. Für die „Provinz Posen" kam nachträglich die Einsatzgruppe VI hinzu, die am 11. September die Grenze zu Polen überschreiten sollte. Zusätzlich war bereits auf Befehl Heinrich Himmlers am 3. September für das ostelbische Industriegebiet die „Einsatzgruppe z.b.V." entstanden, welche von dem eigens zum „Sonderbefehlshaber der Polizei" ernannten SS-Obergruppenführer Udo von Woyrsch kommandiert wurde 162 . Mit den Einsatzgruppen, die mit einer Felduniform der SS-Verfügungstruppe und einer SD-Raute am linken Ärmel ausgestattet waren, betraten Einheiten den polnischen Kriegsschauplatz, welche unter die Begriffe des Kriegsrechts nicht mehr subsumiert werden konnten. Sie besaßen primär keinen militärischen Kampfauftrag, sondern operierten als Polizeikräfte nach politisch/ideologischen Vorgaben. Bereits ihre organisatorische Erscheinung ließ die Intention einer Vermischung von Landesrecht und Völkerrecht deutlich werden und damit die absichtliche Durchbrechung des Besatzungsrechts gemäß der Haager Landkriegsordnung. Für die Wehrmacht bestand somit von Anfang an das Problem einer einheitlichen Kriegführung im Sinne des internationalen Kriegsrechts, das sie nach eigenem Bekunden entsprechend ihrer Auffassung einzuhalten gewillt gewesen war. Für die Wehrmachtführung kam die Bereitstellung der Einsatzgruppen jedoch nicht aus „heiterem" Himmel. Denn die Maßnahmen der Einsatzgruppen waren allgemein im Juli 1939 zwischen Eduard Wagner, damals Chef der Abteilung 6 des Generalstabs des Heeres, und SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei und des SD (Chef SP und SD) verabredet worden 163 . Die Aufgaben der Einsatzgruppen bestanden der Definition nach vor allem in der „Bekämpfung aller reichs- und deutschfeindlichen Elemente in Feindesland rückwärts der fechtenden Truppe." 164 Diese weit auslegbare Formel sollte in der Folgezeit wiederkehren, so z.B. in den „Besonderen Anordnungen" der 10. Armee vom 1. September 1939, in denen diese ihre Kommandeure über die „Aufgabengebiete" der Einsatzgruppen unterrichtete165. Neben den Einsatzgruppen folgten den Heeresverbänden auch Einheiten der Waffen-SS, im Polenfeldzug noch als SS-Verfügungstruppe benannt. So waren am 19. August 1939 dem neu zusammengestellten Panzer-Verband Kempf 166 (3. Armee)

162 Die Einsatzgruppe I (EGr. I) wurde der 14. Armee zugeteilt. Die EGr. II der 10. Armee, die EGr. III der 8. Armee, die EGr. IV der 4. Armee sowie die EGr. V der 3. Armee. Da die Zusammenlegung der Spitzenämter von Sipo und SD zum RSHA noch bevorstand, lautete die korrekte Bezeichnung dieser polizeilichen Sonderformationen „Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei". Erst 1941 erhielten sie den Namen „Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD". Eine Reihe von aktiven SD-Leuten war allerdings schon im Jahre 1939 in den Einsatzgruppen tätig. Vgl. Krausnick, Wilhelm, Truppe, S. 33f. 163 Vgl Umbreit, Militärverwaltungen, S. 164. 164 Zitiert aus: Krausnick, Wilhelm, Truppe, S. 36. 165 Vgl. AOK 10, O.Qu. (Qu. 2) Nr. 121/39 geh., Oppeln, 1 September 1939, Besondere Anordnungen für die Einsatzgruppe der Sicherheitspolizei, in: MA-113/6, IfZ. Weitere Beispiele siehe in: Krausnick, Wilhelm, Truppe, S. 36 Anm. 23. 166 Dieser Panzerverband war vorerst nach seinem Kommandeur Generalmajor Werner Kempf benannt worden und wurde später zur 6. Panzerdivision ausgebaut. Vgl. Karl-Heinz Frieser, Blitzkrieg-Legende. Der Westfeldzug 1940. Der Westfeldzug, München 1996 (2. Aufl.), S. 276; zu Kempfs Verband in Polen siehe u.a. Manstein, Verlorene Siege, S. 26.

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht

1939/1940

das SS-Regiment „Deutschland", der 8. Armee die SS-Leibstandarte „Adolf Hider" sowie der 14. Armee die SS-Standarte „Germania" unterstellt worden 167 . Auf Befehl Heinrich Himmlers stießen am 7. September 1939 drei Totenkopfregimenter (SSStandarten) als selbständige SS-Einsatzgruppen hinzu. Sie standen unter der allgemeinen Befehlsgewalt des ehemaligen Kommandanten des Konzentrationslagers Dachau, dem „Höheren SS- und Polizeiführer" (HSSPF) Theodor Eicke. Die Totenkopfstandarten „Oberbayern" und „Thüringen" erhielten als „Operationsgebiet" den rückwärtigen Bereich der 10. Armee zugewiesen, während die Standarte „Brandenburg" der 8. Armee zugeschlagen wurde 168 . Formal waren die Einsatzgruppen der Befehlsgewalt des Heeres unterstellt und damit der Wehrmachtgerichtsbarkeit unterworfen. „Fachlich" allerdings wurden die Einsatzgruppen kurz nach Beginn des Krieges vom RSHA geleitet 169 , wodurch diese allein auf Grund ihrer Befehlsstruktur eine Zwitterstellung innerhalb der deutschen Streitkräfte besaßen. Nicht anders verhielt es sich mit den SS-Verfügungstruppen, deren rechtliche Verortung gleichfalls erhebliche Probleme bereitete. Von Waltzog als „Milizen" 170 und von Steinkamm nach dem Kriege als „Freiwilligen-Korps" charakterisiert 171 entrückten diese Verbände zusehends der Gewalt des Heeres. So mußte bereits Ende September der Kommandant des rückwärtigen Armeegebietes 581 (Korück), Generalleutnant Alfred Boehm-Tettelbach, im Falle der SS-Standarte „Brandenburg" in seinem Bericht an den Oberbefehlshaber der 8. Armee entrüstet feststellen, daß diese Anweisungen des Heeres nicht befolgen würde und Befehle von einer „nicht-militärischen Stelle" erhalte 172 . Jene zivile Dienststelle war niemand anderes als der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei Heinrich Himmler. Unverkennbar wurde in den ersten Kriegstagen die Aufspaltung der bewaffneten Macht eingeleitet und damit zugleich die Frage über den korrekten Rechtsstatus dieser Sonderformationen hervorgerufen. Als Milizen oder Freiwilligen-Korps waren für die Verbände der späteren Waffen-SS und letztlich entsprechend auch für die Einsatzgruppen die vier Legalbedingungen aus Art. 1 HLKO konstitutiv wirksam. Dem widersprachen aber häufig ihre eigentlichen Aufträge, die, bezeichnend genug, von einer zivilen Dienststelle ausgegeben wurden 173 . Solange die Waffen-SS rein militärische Aufgaben wahrnahm, waren die Grundbedingungen für die Bewahrung des Kombattantenstatus nicht tangiert. Völkerrechtsverletzungen mußten aber, konsequent zu Ende gedacht, gemäß der vierten Legalbedingung des Art. 1 HLKO die Einbuße dieses Vorrechts der Waffenführung bewirken. Auf der Grundlage des Art. 6 des Londoner Statutes erklärte schließlich Vgl. Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg", S. 103. Vgl. Charles W. Sydnor, JR., Soldaten des Todes. Die 3. SS-Division „Totenkopf ' 19331945, Paderborn, München, Wien, Zürich 2002, S. 33. 165 Vgl. Helmut Krausnick, Hitler und die Morde in Polen, in: VfZ 11 (1963), S. 197f. 170 Vgl. Waltzog, Landkriegsführung, S. 19. 171 Vgl. Steinkamm, Streitkräfte, S. 109. 172 Ygi Sydnor, JR., Soldaten des Todes, S. 37f.; siehe dazu auch: Krausnick, Morde in Polen, S. 196. 173 Armin Steinkamm bezeichnete daher auch die Waffen-SS insofern als ein „Novum", als sie außerhalb der Wehrmachtorganisation und zum Teil auch außerhalb der herkömmlichen Wehrverfassung gestanden habe. Von den Alliierten sei sie aber dennoch als reguläre Streitkraft anerkannt worden. Vgl. ders., Streitkräfte, S. 114. 167

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2. Der Kombattantenstatus

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der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg die W a f f e n - S S zu einer verbrecherischen Organisation und ebenso all jene ihrer Mitglieder, die ihr freiwillig beigetreten waren 1 7 4 . Damit billigte der Militärgerichtshof den Angehörigen der Waffen-SS die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Straftatbestandsmerkmalen zu. Gleiches galt für die Organisation und die Mitglieder der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1 7 5 . Die Verurteilung der W a f f e n - S S als verbrecherische Organisation basierte auf ihren Befehlen und Taten. In Hinblick auf Art. 1 H L K O stellt sich damit die Frage, ob Verbrecher Kombattanten sein können. In diesem Zusammenhang bildete das Unterstellungsverhältnis der Waffen-SS ein erhebliches Problem. Prinzipiell entstand mit ihrer Verselbständigung von der Wehrmacht die Frage nach den Bedingungen der Organisationsstruktur der bewaffneten Macht eines Landes, da in dieser die vornehmliche Verpflichtung der Einhaltung des Völkerrechts erkennbar sein muß. Dies betraf v o r allem die Straf- und Disziplinargewalt einer bewaffneten Macht, die bereits im Jahre 1 9 0 7 Christian Meurer als eine grundlegende Bedingung für die nationalen Streitkräfte herausgestellt hatte: „Wenn die Mitglieder einer bewaffneten Gruppe ständig gegen das Kriegsrecht verstoßen und nicht bestraft werden, ist dies ein deutlicher Hinweis darauf, daß sich die Gruppe nicht als ,Streitkräfte' qualifiziert, da sie das Kriterium eines internen Disziplinarsystems nicht erfüllt, und daß ihre Mitglieder keinen Kombattantenstatus be-

174 Die Begründung des Internationalen Militärgerichtshofs lautete hierzu: „Die SS wurde zu Zwecken verwendet, die nach dem Statut verbrecherisch sind. Sie bestand in der Verfolgung und Ausrottung der Juden, Brutalitäten und Tötungen in den Konzentrationslagern, Übergriffen bei der Verwaltung besetzter Gebiete, der Durchführung des Zwangsarbeiterprogramms und der Mißhandlung und Ermordung von Kriegsgefangenen. (...) In die SS schließt der Gerichtshof alle Personen ein, die offiziell als Mitglieder in die SS aufgenommen worden waren, einschließlich der Mitglieder der Allgemeinen SS, der Mitglieder der Waffen-SS, der Mitglieder der SS-Totenkopfverbände und der Mitglieder aller verschiedenen Polizeiabteilungen, welche Mitglieder der SS waren. Der Gerichtshof begreift nicht die sogenannte Reiter-SS mit ein, (...). Der Gerichtshof erklärt die Personengruppe als verbrecherisch im Sinne des Statuts, die sich aus denjenigen Personen zusammensetzte, die offiziell als Mitglieder in die SS aufgenommen waren, entsprechend der im vorhergehenden Absatz gegebenen Aufzählung, die Mitglieder der Organisation wurden oder blieben und Kenntnis davon hatten, daß sie für die Begehung von Handlungen verwendet wurden, die laut Artikel 6 des Statuts als verbrecherisch erklärt sind oder die als Mitglieder der Organisation in die Begehung solcher Verbrechen verwickelt waren; jedoch unter Ausschluß derer, die vom Staate auf solche Art in ihre Reihen gezogen wurden, daß ihnen keine andere Wahl blieb, und die keine solche Verbrechen begingen. (·..)." Siehe: Das Urteil von Nürnberg 1946, hrsg. Von Jörg Friedrich, München 1996 (4. Aufl.), S. 162f. 175 Uber die Einsatzgruppen führte der Militärgerichtshof u.a. aus: „Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, die hinter den Linien der Ostfront operierten, führten Massenmorde an Juden durch. (...). Der Gerichtshof erklärt als verbrecherisch im Sinne des Statuts die Gruppe derjenigen Mitglieder der Gestapo und des SD, welche die im vorhergehenden Absatz aufgezählten Stellungen innehatten, die Mitglieder der Organisation wurden oder blieben, obwohl sie wußten, daß diese für die Ausführung von Taten benützt wurde, die gemäß Artikel 6 des Statuts für verbrecherisch erklärt worden sind und die als Mitglieder der Organisation persönlich an der VerÜbung solcher Verbrechen beteiligt waren." Siehe: ebd., S. 152 und S. 155.

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sitzen."176 Neben dieser Problematik der Verortung der Waffen-SS, aber auch der Einsatzgruppen im rechtlichen wie im organisatorisch-militärischen Sinne, stellt sich eben die Frage, ob es zwei „bewaffnete Mächte" eines Staates nach Völkerrecht überhaupt geben kann oder anders formuliert, wo genau verläuft die begriffliche Grenze des Militärischen und damit des Kombattanten? Betrachtet man die Haager Landkriegsordnung, so bildet das „Militärische" sein Auftrag, der zunehmend vorgegebenen Handlungsrastern, d.h. einem wachsenden Normierungszwang unterliegt. Formal liefen die Vereinbarungen zwischen Heer und RSHA sowie die Befehle der Oberbefehlshaber zu Beginn des Feldzuges gegen Polen auf eine „Arbeitsteilung" zwischen Wehrmacht und SS hinaus, die neben der „herkömmlichen" militärischen Kriegführung eine ideologische Konstante setzten. Laut ihren Vorgaben und Fahndungslisten gingen die Einsatzgruppen zunächst gegen jene politischen Personengruppen Polens vor, die als besonders „deutschfeindlich" eingestuft wurden. Zu diesen gehörten u.a. der polnische Westmarkenverband sowie die Vereinigung der „Insurgenten", deren Mitglieder einst im Jahre 1920/21 an den Aufständen in Oberschlesien teilgenommen hatten. Zu den deutschfeindlichen Organisationen und Personen zählten naturgemäß die Kommunisten aber auch Teile des katholischen Klerus', welcher als Meinungsführer des polnischen Nationalismus betrachtet wurde. Unter Mißbrauch des Geiselbegriffs und einer unbotmäßigen Auslegung des Freischärlertatbestandes wurden Tausende von Zivilisten „verhaftet" 177 und nach „eingehender" Überprüfung unzählige Menschen erschossen178. Im Visier der Einsatzgruppen lag schließlich die jüdische Bevölkerung, die von Beginn des Krieges an mit Schikanen und Gewalttaten willkürlich traktiert wurde 179 . Die Haltung der Wehrmacht gegenüber dem Treiben der Einsatzgruppen war primär von Ambivalenz gezeichnet. Nicht selten veranlaßten Heeresverbände die Einsatzkommandos unmittelbar zur Vornahme von Exekutionen. Die spätere häufig anzutreffende Praxis aus dem Feldzug gegen die Sowjetunion, „Verdächtige" an die Einsatzgruppen auszuliefern, wurde damit bereits in jenen Septembertagen des Jahres 1939 eindeutig sichtbar180. Die Armeen betrachteten die Polizeieinheiten als eine willkommene Ergänzung ihrer knappen Sicherungskräfte und übertrugen ihnen zusätzlich Aufgaben wie der Erfassung von Flüchtlingen, Waffen und Radiogeräten oder der Errichtung von Internierungslagern 181 . Damit hatte das Militär die Kompetenzen der Einsatzgruppen noch erweitert. Ihre Verantwortung konnten die Oberbefehlshaber als Inhaber der vollziehenden Gewalt auf diesem Wege jedoch nicht abschütteln, auch wenn eine solche „Vogelstraußpolitik" sie vordergründig von unliebsamen Entscheidungen zu entlasten schien. 176 A. P. V. Rogers, Kombattantenstatus, in: Roy Gutman, David Rieff (Hrsg.), Kriegsverbrechen. Was jeder wissen sollte, Stuttgart, München 1999, S. 247. 177 Allein der Begriff „Verhaftung" widersprach der Rechtsgrundlage der Geiselnahme. 178 Vgl Krausnick, Wilhelm, Truppe, S. 42—44. Siehe dazu auch: Die Berichte der Einsatzgruppen, Bl. 33, Bl. 45, Bl. 50f., Bl. 60 und Bl. 65 etc. 179 So meldete beispielsweise die Einsatzgruppe II am 10. September 1939 folgenden „Vorfall": „Einer Pionier-Brücken-Kompanie wurden auf Wunsch für dringend zu stellende Arbeiten 70 Juden zur Verfügung gestellt, von denen 5 wegen Arbeitsverweigerung erschossen werden mußten." Siehe: Die Berichte der Einsatzgruppen, Bl. 42. «0 Vgl. Krausnick, Wühelm, Truppe, S. 45f. 181 Vgl. Umbreit, Militärverwaltungen, S. 165.

2. Der

Kombattantenstatus

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Das unverhältnismäßige und grausame Vorgehen der Einsatzgruppen und der SS gegen die polnische Zivilbevölkerung 182 erzeugte dessen ungeachtet auch Abscheu und Kritik seitens der Truppenführer und Mannschaftssoldaten. Heftigen Anstoß bei den Truppen erregten vor allem die ungehemmten Maßnahmen der Einsatzgruppe z.b.V. unter dem SS-Obergruppenführer von Woyrsch, die am 12. September 1939 der 14. Armee unter Generaloberst Wilhelm List unterstellt worden war 183 . So informierte der Kommandierende General des XVIII. Armee-Korps Beyer seinen Vorgesetzten Wilhelm List am 30. September über „Erschießungen ohne gerichtliches Verfahren" und „illegale Ubergriffe" durch Angehörige einer „SS-Polizeiformation". Soweit Beyer feststellen konnte, hatten sich diese Vorfälle zwischen dem 18. und 21. September zugetragen 184 . Aus dem beigefügten Bericht seines Generals z.b.V. von Hingnoz war schließlich zu entnehmen, daß von Woyrsch hierin keinerlei Eigenmächtigkeiten gegenüber dem Oberbefehlshaber erblickte, da er strikt nach Anweisungen seines Vorgesetzten, des Reichsführers SS, gehandelt habe 185 . Zu den

182 Besonders die Totenkopf-Standarten machten sich schwerster Kriegsverbrechen schuldig. Im Rücken der 10. Armee verübten Angehörige der Standarten „Oberbayern" und Thüringen unzählige Greueltaten: Juden, politische und religiöse Führer sowie gefangene polnische Soldaten wurden gequält und hingerichtet. In der Nähe von Warschau in Wloclawek plünderte am 22. September die Standarte „Brandenburg" jüdische Läden, sprengte und verbrannte die Synagogen der Stadt, verhaftete und erschoß führende Mitglieder der örtlichen jüdischen Gemeinde. Ende Oktober besetzte ein Ersatzregiment, die 12. SS-Totenkopfstandarte, die Kleinstadt Owinsk und begann systematisch die Patienten des dortigen psychiatrischen Krankenhauses zu liquidieren. Die Kranken wurden zu je 50 auf einem Lastwagen abtransportiert und am Rande eines Massengrabes in Gruppen erschossen. In weniger als einem Monat wurden über 1.000 unschuldige kranke Menschen ermordet. Vgl. Svdnor, Jr., Soldaten des Todes, S. 35-37. Kurz vor Kriegsausbruch, am 25. August, hatte bereits Admiral Canaris, Chef des Amtes Ausland/Abwehr, gegenüber dem Generalstabschef Franz Halder seiner Besorgnis über die bevorstehende Rolle der Totenkopfverbände Ausdruck verliehen. Auf einer Besprechung mit Wilhelm Keitel am 12. September 1939 sah er seine Befürchtungen bestätigt und warnte den Chef OKW, die Welt werde „schließlich doch auch die Wehrmacht verantwortlich machen, unter deren Augen diese Dinge geschähen". Vgl. Krausnick, Wilhelm, Truppe, S. 64. 183 Unter „Besondere Anordnungen Nr. 14" gab das AOK 14 seinen Kommandeuren bekannt: „SS-Obergruppenführer v. Woyrsch wurde der 14. Armee als Sonderbefehlshaber der Polizei zugeteilt. SS-Obergruppenführer v. Woyrsch untersteht dem Oberbefehlshaber der 14. Armee unmittelbar." Siehe: AOK 14, Qu. Nr. 1514/39 off., Bochnia, den 12. 9. 1939, in: MA-113/6, IfZ. 184 Als Beispiele nannte Beyer die Erschießung von 4 Juden und 3 polnischen Bauern ohne vorhergehendes Gerichtsverfahren, welche nicht „auf frischer Tat betroffen worden" waren. Ebenso kritisierte er die Erschießung von 18 der Freischärlerei verdächtigte Juden, deren vorgebliche Schuld gleichfalls nicht von einem Kriegsgericht festgestellt worden sei. Vgl. Der Kommandierende General des XVIII. A.K., Betr.: Erschießungen ohne gerichtliches Verfahren durch SS-Angehörige, Iwonicz, 30. 9. 39, in: MA-113/6, IfZ. 185 Wörtlich führte von Hingnoz hierzu u.a. aus: „Da zu dieser Zeit gerade SS-Obergruppenführer Woyrsch beim Generalkommando anwesend war, teilte ich ihm die Begebenheit mit, mit dem Bemerken, daß nach den strengen Weisungen der obersten militärischen Kommandobehörden Justifizierungen nur auf Grund eines gerichtlichen Urteils vorgenommen werden dürfen. Da nach der Meldung des Hauptsturmführers an die SS bzw. Gestapo Weisungen ergangen sein sollten, die den militärischen Weisungen vollkommen widersprechen,

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1939/1940

Anweisungen, auf die sich von Woyrsch berief, zählte u.a. ein Befehl Himmlers vom 3. September 1939, wonach „Polnische Aufständische, die auf frischer Tat oder mit der Waffe ergriffen werden, (...) auf der Stelle zu erschießen" sind186. Auch wenn von Hingnoz hierin keinen Widerspruch zu den eigenen militärischen Befehlen erkennen wollte, so bedeuteten Himmlers Anweisungen nichts weiter als einen groben Eingriff in die militärische Befehlsgewalt. Der heraufziehende Konflikt zwischen Wehrmacht und SS gründete daher nicht nur in den Willkürakten der Einsatzgruppen, sondern auch in der Auflösung klarer militärischer Hierarchien. Denn das Ausklinken bestimmter Einheiten aus den vorgegebenen Befehlsstrukturen bewirkte einen Kontrollverlust für die Inhaber der vollziehenden Gewalt, die laut Handbuch für den Generalstabsdienst im Kriege von 1939 die „gesamte Staatsgewalt, einschließlich des Rechts zur Gesetzgebung" 187 umfaßte. Meldungen über das eigenständige Vorgehen der SS und der Einsatzgruppen gegenüber polnischen Zivilisten lagen selbstverständlich auch dem Generalstab des Heeres vor, der deshalb im Einvernehmen mit den Oberbefehlshaber des Heeres am 18. September die Ics der Heeresgruppen Süd und Nord in einem Fernschreiben die Erschießungen vermeintlicher Insurgenten bestätigte, die ohne Kenntnis der Befehlshaber vor Ort vorgenommen worden seien. Diese besorgniserregende Rechtslage nahm der Generalstab zum Anlaß auf die Bedeutung der geltenden Befehlsgewalt nochmals hinzuweisen: „Die Entscheidung in allen gerichtlichen Fragen liegt ausschließlich beim Inhaber der vollziehenden Gewalt. Anweisungen jeder Dienststelle, die diese Gerechtsame berühren oder einschränken, sind nicht rechtswirksam." 188 Um einem Rechtschaos „auf dem Felde", bedingt durch eine zunehmende Polykratie der Ressorts, entgegenzutreten, war umgehend Klärungsbedarf über die Kompetenzen militärischer Befehlsgewalt erforderlich. Dies um so mehr, als sich Gerüchte in den obersten militärischen Führungskreisen verdichteten, wonach die Einsatzkommandos von Himmler bzw. „unmittelbar aus dem Führerzug" angewiesen worden seien, polnische Insurgenten ohne Gerichtsverfahren zu erschießen 189 .

im Operationsgebiet aber jeder ohne Unterschied an die Befehle des Kommandierenden Generals gebunden sein müsse, würde im Operationsgebiet durch die einander widersprechenden Weisungen eine unmögliche Lage entstehen. SS-Obergruppenführer Woyrsch gab mir nun die Weisungen an die SS bzw. Gestapo bekannt. Ich entnahm ihnen, daß Justifizierungen von Leuten nur beim Betreffen dieser auf frischer Tat, bei Vorliegen genau bestimmter Tatbestände vorgenommen werden dürfen, so daß eigentlich kein Widerspruch mit den mil. Weisungen vorliege." Siehe: Korpskommando XVIII, Gen. z.b.V., Betr. Erschießungen ohne gerichtliches Verfahren, 28. 9. 39, in: MA-113/6, IfZ. 186 Vgl Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2003, S. 433. 187 Vgl. H. Dv. g 92: Handbuch für den Generalstabsdienst im Kriege, Teil 1, Berlin 1939, S. 118. 188 Siehe: Generalstab des Heeres, O Qu IV. Abt. z.b.V. Nr. 125.9.39 geh., 18. 9. 39, in: BAMA, RH 1/58, Bl. 289. 189 Vgl Umbreit, Militärverwaltungen, S. 166f. Für den 18. September 1939 vermerkte Groscurth in sein Tagebuch: „Reichsführer-SS hat an alle Polizeibefehlshaber usw. im Operationsgebiet unmittelbare Weisung gegeben, alle Angehörigen der polnischen Insurgentenver-

2. Der

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Die zwischen dem 19. und 22. September aufgenommenen Gespräche des OKH, vertreten durch Eduard Wagner und Walther von Brauchitsch, mit Reinhard Heydrich und Adolf Hitler bewirkten hingegen nicht nur eine Festschreibung des Status Quo, sondern führten im Ergebnis zu weiteren Zugeständnissen des Heeres an die Partei- und Polizeiorganisationen 190 . Nominell blieb das Heer allein Inhaber der vollziehenden Gewalt. Auch sollte es künftig über alle Entscheidungen und Befehle an die Einsatzgruppen informiert werden. Doch gingen die anstehenden verfahrensrechtlichen Regelungen in der vorgeblichen „Freischärlerfrage", beispielsweise, zu Lasten des Heeres. So konnte Hevdrich gegenüber dem Oberbefehlshaber des Heeres ohne weiteres die Zurücknahme des Befehls zur Erschießung der polnischen Insurgenten zusichern, da inzwischen mit der von Brauchtisch erlassen „Verordnung zur Ergänzung der Verordnung über Waffenbesitz" vom 21. September 1939 in § 1 die Einsetzung von „Polizeistandsgerichten" ermöglicht worden war. Die Urteile dieser Gerichte sollten zudem nicht von Heeresstellen, sondern von übergeordneten Polizeidienststellen nachgeprüft werden 191 . Damit konnte Heydrich, der noch Tage zuvor über ein „zu langsames Arbeiten" der Kriegsgerichte heftige Klagen geführt hatte192, einen ersten schweren Einbruch in die Kompetenzen der Befehlshaber als Gerichtsherren verzeichnen. Der wachsenden institutionellen Verselbständigung von Polizei und SS vermochte Brauchitsch nichts entgegenzusetzen. Ebensowenig gelang es ihm über den für das Heer gewichtigen Punkt der „volkstumspolitischen Maßnahmen", die unzweideutig mit der Freischärlerfrage verknüpft gewesen waren, eine befriedigende Lösung zu erzielen. Zur Entlastung der Wehrmacht von jeglicher Verantwortung gegenüber der internationalen Öffentlichkeit bat er Heydrich schließlich nur mehr um einen Aufschub weiterer Mordaktionen sowie der eingeleiteten Deportationen polnischer Zivilisten193, die unter Ausnutzung des Kriegszustandes, eine künftige Friedensregelung vorwegnehmend, angelaufen waren194. Im Ergebnis leiteten die Gespräche zwischen Heer und SS über zu einer „Politik des Wegsehens" und dem Bestreben der militärischen Führung von jeglicher Verantwortung über die humanitäre Katastrophe in Polen schnellstens befreit zu werden. Die Verselbständigung der Polizei- und SS-Organe konnte somit auch in

bände zu erschießen. Oberbefehlshaber haben keine Kenntnis davon erhalten. Statt eines energischen Durchgreifens des O b d H wird verhandelt." Siehe: Groscurth, Tagebuch, S. 206. 19n Zu den einzelnen Gesprächen zwischen Eduard Wagner und Reinhard Heydrich am 19., zwischen Walther v o n Brauchitsch und A d o l f Hider am 20. sowie zwischen Brauchdsch und Heydrich am 22. September siehe: Krausnick, Wilhelm, Truppe, S. 65—69. 191 Vgl. Umbreit, Militärverwaltungen, S. 1 6 9 A n m . 399. 192 So erfuhr Groscurth v o n seinem Vorgesetzten, Admiral Canaris, daß Heydrich „in wüstester Weise" gegen die A r m e e hetze. „Täglich fänden 2 0 0 Exekutionen statt. Die Kriegsgerichte arbeiteten aber viel zu langsam. Er würde das abstellen. Die Leute müßten sofort ohne Verfahren abgeschossen oder erhängt werden. Die kleinen Leute wollen wir schonen, der Adel, die Popen und die Juden müssen aber umgebracht werden" Siehe: G r o s curth, Tagebuch, S. 2 0 1 (Tagebucheintragung v o m 8. September 1939). 1 9 3 Vgl. Umbreit, Militärverwaltungen, S. 170. 1 9 4 Zu den Deportationen, welche zunächst verstärkt im westlichen Teil Polens unter dem Stichwort der „völkischen Flurbereinigung" durchgeführt wurden, siehe: Wildt, Generation, S. 4 5 5 ^ 1 8 0 .

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des Kriegsrechts

in der deutseben

Wehrmacht

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e i n e m positiven Licht betrachtet w e r d e n . M a n i f e s t w u r d e diese H a l t u n g in e i n e m B e f e h l W a l t h e r v o n Brauchitsch v o m 24. S e p t e m b e r 1939, in d e m dieser die O b e r u n d Militärbefehlshaber anhielt, „die T e i l n a h m e v o n A n g e h ö r i g e n des H e e r e s an polizeilichen E x e k u t i o n e n " zu verbieten 1 9 5 . D a m i t w a r m e h r gesagt, als g e s c h r i e b e n stand. D e n n es w u r d e mit d i e s e m B e f e h l nicht n u r die M i t w i r k u n g v o n Soldaten u n d O f f i z i e r e n der W e h r m a c h t a n v ö l k e r r e c h t s w i d r i g e n M a ß n a h m e n v o n h ö c h s t e r militärischer Stelle eingeräumt, s o n d e r n a u c h die T o l e r i e r u n g künftiger A k t i o n e n der E i n s a t z g r u p p e n u n d S S - V e r b ä n d e a u s g e s p r o c h e n . D i e H i n n a h m e einer „ z w e i t e n b e w a f f n e t e n M a c h t " , die ihre „ O p e r a t i o n e n " p r i m ä r unter rein w e l t a n s c h a u l i c h e n G e s i c h t s p u n k t e n faßte, w i d e r s p r a c h s o w o h l völkerrechtlichen G e s e t z e n w i e a u c h d e u t s c h e n militärischen Vorschriften 1 9 6 . Z u m i n d e s t bis zur Installierung einer reinen Zivilverwaltung in P o l e n a m 26. O k t o b e r 1939 besaß die W e h r m a c h t einzig u n d allein die V e r a n t w o r t u n g für die E i n h a l t u n g des Kriegsrechts g e g e n ü b e r d e r p o l n i s c h e n Zivilbevölkerung 1 9 7 . D i e eingeschlagene Politik des W e g s e h e n s k o n n t e allerdings nicht verhindern, d a ß sich n a c h w i e v o r S t i m m e n u n d Proteste aus d e n H e e r s v e r b ä n d e n g e g e n die m a ß l o sen Ü b e r g r i f f e der E i n s a t z g r u p p e n u n d S S - T r u p p e n erhoben 1 9 8 . D i e E i n d r ü c k e u n d G e d a n k e n vieler K a m e r a d e n angesichts der rechtswidrigen G e w a l t e n b r a c h t e der « 5 Vgl. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Nr. 362/39 g. Kdos., H.Qu. OKH, den 24. 9. 39, in: MA-113/6, IfZ. 196 So stellte der 1. Mob. Sammelerlaß ausdrücklich fest: „Die Angehörigen der SS-Verfügungstruppe sind bei Unterstellung unter den ObdH ausschließlich den für Soldaten geltenden Gesetzen und Bestimmungen unterworfen." Ausgenommen von dieser Regelung waren allerdings Angehörige der SS-Totenkopfverbände, der SS-Junkerschulen und der allgemeinen SS. Vgl. Der Chef des Heeresjustizwesens, Nr. 1215/39g. HR III, 26. August 1939, 1. Mob. Sammelerlaß, in: BA-MA, RH 36/324, Bl. 50. Dagegen faßte das AOK 8 (Blaskowitz) den Verantwortungsbereich ihres Oberbefehlshabers weiter und führte über das Unterstellungsverhältnis von Polizei und SS aus: „Angehörige der im Operationsgebiet eingesetzten Pol. Verbände, darunter auch die SS-Totenkopfverbände, sind als Gefolge anzusehen und der Wehrmachtgerichtsbarkeit unterworfen." Siehe: Armeeoberkommando 8, O. Qu., A.H.Qu., Sieradz, den 8. 9. 1939, Besondere Anordnungen Nr. 15 für die Versorgung der 8. Armee, in: MA-113/6, IfZ. 197 Szymon Datner merkt hierzu konsequent und eindringlich an: „This responsibility results from the provisions of international law, making the lives and property of the civilian population of the occupied country the concern and responsibility of the armed forces of the enemy during the military campaign and under the occupational military administration. (...), for it was the business of the Wehrmacht (...) to prevent the activity of these murderers in the territories where only the Wehrmacht was the legitimate master'" Siehe: Ders., Crimes, S. 315. 198 So richtete beispielsweise der Oberstabsarzt der Krankentransport-Abteilung 581, Dr. Möller, am 9. Oktober 1939 an Hider persönlich ein Schreiben, in dem er über Erschießungen von „etwa 20-30 Polen" berichtete. In völliger Verkennung der polirischen Sachlage informierte er den Obersten Befehlshaber der Wehrmacht über die erschreckenden Meldungen seiner Arbeitskollegen: „Die Exekution sei ausgeführt worden von einer Abteilung, bestehend aus einem Angehörigen der Schutzstaffel, zwei Männern in alter blauer Schupouniform und einem Mann in Zivilkleidern. Die Aufsicht habe ein Sturmbannführer der Schutzstaffel geführt. Es seien bei der Exekution auch 5—6 Kinder im Alter von etwa 2—8 Jahren erschossen worden. Die Obengenannten sind bereit, ihre Aussagen zu beeiden." Siehe: KrankentransportAbt. 581, 3. Komp., Schweiz, den 9. 10. 1939, Meldung an den obersten Befehlshaber der Wehrmacht und Führer des Deutschen Volkes Adolf Hitler, in: BA-MA, RH 1/58, Bl. 217.

2. Der Kombattantenstatus

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damalige Major im Generalstab des Heeres und spätere Mitverschwörer des „20. Juli", Helmuth Stieff, in schonungsloser und beklemmender Offenheit in einem Brief an seine Frau zu Papier: „Die blühendste Phantasie einer Greuelpropaganda ist arm gegen die Dinge, die eine organisierte Mörder-, Räuber- und Plündererbande unter angeblich höchster Duldung dort verbricht. (...) Diese Ausrottung ganzer Geschlechter mit Frauen und Kindern ist nur von einem Untermenschentum möglich, das den Namen Deutsch nicht mehr verdient. Ich schäme mich ein Deutscher zu sein!" 199 Um einer wachsenden Mißstimmung in den Armeen gegenüber den Einsatzgruppen und SS-Verbänden entgegenzuwirken, sah sich der Oberbefehlshaber des Heeres veranlaßt, in einem Befehl vom 25. Oktober 1939 seine Befehlshaber und Kommandeure zu ermahnen, auf die „innere und äußere Haltung" der Soldaten zu achten und „jede Kritik an den Maßnahmen der Staatsführung" zu unterbinden. Des weiteren verlangte er „strenge Verschwiegenheit" und die „Abkehr von jedem Klatsch und jeder Weiterverbreitung von Gerüchten" 200 . Dessen ungeachtet wandten sich einige Generale in Berichten und Denkschriften an den Oberbefehlshaber des Heeres, in denen sie ihren Protest und ihren Ärger über die Ausschreitungen der Einsatzgruppen formulierten. Zu diesen gehörten der Bericht des Militärbefehlshabers von Danzig-Westpreußen, General der Artillerie Walter Heitz 201 , der Bericht des Befehlshabers des neugebildeten Wehrkreises X X I in Posen, General der Artillerie Walter Petzel 202 , sowie die Denkschrift des Generals der Infanterie, Generaloberst Johannes Blaskowitz, der am 26. Oktober 1939 zum Oberfehlshaber Ost ernannt worden war 203 . Blaskowitz beließ es bei diesem ersten Zitiert aus: Ausgewählte Briefe von Generalmajor Helmuth Stieff, in: VfZ 2 (1954), S. 300; (Brief vom 21. November 1939). Vgl. auch Jürgen Schmädeke, Militärische Umsturzversuche und diplomatische Oppositionsbestrebungen zwischen der Münchener Konferenz und Stalingrad, in: Peter Steinbach, Johannes Tuchel (Hrsg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 312; Romedio Galeazzo Graf Thun-Hohenstein, Wehrmacht und Widerstand, in: Hans Poeppel, Wilhelm-Karl Prinz von Preußen, Karl Günther von Hase (Hrsg.), Die Soldaten der Wehrmacht, München 1998, S. 96. Zu Helmuth Stieff siehe u.a.: Hartmut Mehringer, Widerstand und Emigration. Das NS-Regime und seine Gegner, München 1997, S. 209f., S. 219, S. 229 und S. 291. 200 Vgl. Omer Bartov, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 101. 201 In seinem Tagebuch notierte der Heeresadjutant Major Engel unter dem 15. Oktober: „F. ist sehr aufgebracht, und es hagelt Vorwürfe gegen das Heer. Vorgang ist, daß Heitz einen Bericht örtlicher Dienststellen vorgelegt hat, welcher von willkürlichen Exekutionen an Juden und polnischer Intelligenz berichtet, so in Mewe, Graudenz und Thorn." Siehe: Aufzeichnungen des Major Engel, S. 66. 21,2 Am 23. November 1939 berichtete Petzel dem Befehlshaber des Ersatzheeres, Generaloberst Friedrich Fromm, von öffentlichen Erschießungen durch SS-Formationen. Die „Auswahl" der Personen sei dabei oftmals „unverständlich" und die „Ausführung" vielfach „unwürdig" erfolgt. Vgl. Broszat, Polenpolitik, S. 40; der Bericht ist abgedruckt in: IMT, Bd. XXXV, S. 87-91. 203 Blaskowitz' Denkschrift datierte vom 27. November 1939. Hider, der hiervon durch den Adjutanten des ObdH, Generalleutnant a.D. Curt Siewert, umgehend informiert worden war, reagierte nach den Tagebuchaufzeichnungen seines Heeresadjutanten Major Engel sichtlich ungehalten: „Siewert bestellt mich zu sich und übergibt mir eine Denkschrift vom Gen. Blaskowitz über die Zustände in Polen: größte Besorgnis wegen illegaler Erschießungen, Festnahmen und Beschlagnahmungen. Sorge um Disziplin der Truppe, die diese Dinge 199

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht

1939/1940

Vorstoß allerdings nicht. So ließ er für einen Besuch des Oberbefehlshabers des Heeres in Spala am 15. Februar 1940 eine umfassende Vortragsnotiz ausarbeiten, in der u.a. 33 Fälle rechtswidriger Maßnahmen von Polizei und SS dokumentiert worden waren204. Seine Beschwerden und Vorhaltungen blieben jedoch ohne Wirkung. Statt dessen zog er sich die Ungnade Hitlers zu, wodurch es dem Chef der Zivilverwaltung in Polen, Generalgouverneur Dr. Hans Frank, ermöglicht wurde, einen Wechsel auf den Posten des Oberbefehlshabers Ost herbeizufuhren. Im Mai 1940 wurde Blaskowitz durch Generalleutnant Curt Ludwig Freiherr von Gienanth abgelöst205. Die Vorgänge in Polen blieben aber auch den im Westen Deutschlands stationierten Militärs nicht verborgen, wie z.B. der „Fall" des Generalleutnants Mieth belegt, der noch ein Jahr später höchste Kreise in Partei und Militär beschäftigen sollte206. Die widersprüchliche Haltung der Wehrmacht gegenüber den Polizei- und SSFormationen resultierte letztlich aus der Kollision gegensätzlicher Normen, welche sich in Befehlen und Maßnahmen niederschlugen und zunehmend ein institutionelles Konkurrenzverhältnis schufen. Bartovs Feststellung, die Armee sei „vor der Alternative gestanden, gegen das Regime zu rebellieren oder sich den neuen Normen und Werten anzupassen"207, greift indes zu kurz. Denn übersehen werden dürfen nicht die übereinstimmenden Zielsetzungen zwischen Partei und Militärs gegenüber dem polnischen Staat und seiner Bevölkerung. Damit verbunden beschrieben die Absprahen zwischen Eduard Wagner und Reinhard Heydrich zumindest in Teilen eine gemeinsame Linie, die u.a. die Verfolgung „reichsfeindlicher Elemente" durch die den sehenden Auges erlebt; örtliche Absprachen mit SD und Gestapo ohne Erfolg, berufen sich auf Weisungen der Reichsführung SS. Bitte, gesetzmäßige Zustände wiederherzustellen, vor allem Exekutionen nur bei rechtmäßigen Urteilen durchführen zu lassen. Lege am gleichen Nachmittag die Denkschrift, die vollkommen sachlich gehalten ist, F. vor. Dieser nimmt sie zunächst ruhig zu Kenntnis, beginnt dann aber wieder mit schweren Vorwürfen gegen .kindliche Einstellungen' in der Führung des Heeres. Mit Heilsarmee-Methoden führe man keinen Krieg." Siehe: Aufzeichnungen des Major Engel, S. 67f. (Tagebucheintragung vom 18. November 1939). Engel muß hier offenbar ein Fehler in der Datierung unterlaufen sein, da von einer zweiten Denkschrift Blaskowitz' keine Unterlagen existieren. Die Denkschrift vom 27. November ist in Auszügen zitiert in: Krausnick, Wilhelm, Truppe, S. 97f. 204 Vgl. Der Oberbefehlshaber Ost, H. Qu., Spala, den 6. 2. 1940, Vortragsnotizen für Vortrag Oberost beim Oberbefehlshaber des Heeres am 15. 2. in Spala, in: NO-3011, IfZ, Bl. 17-27. Vgl. auch Broszat, Polenpolitik, S 40f. Nach Hilberg und Bartov kamen in Blaskowitz' Vortragsnotizen weit weniger die Sorge um die Einhaltung des Völkerrechts zum Vorschein, als vielmehr die Bestürzung über den Dilettantismus der SS, vor den Augen der Weltöffentlichkeit in undisziplinierter und chaotischer Form die jüdische Bevölkerung ausrotten zu wollen. Vgl. Hilberg, Vernichtung, Bd. 1, S. 200; Bartov, Hitlers Wehrmacht, S. 103-105. 205 Vgl. Umbreit, Kontinentalherrschaft, S. 45. 206 Der Stellvertreter des Führers der NSDAP, Rudolf Heß, ersuchte im Frühjahr 1941 sowohl Brauchitsch als auch Keitel die erforderlichen Konsequenzen im Fall Mieth zu ziehen. Dieser hatte nach seinen Angaben auf einer Besprechung des Generalstabs der 1. Armee am 22. Januar 1940 erklärt: „Im Osten in Polen ist es nicht ruhig, wie Sie wohl alle wissen. Die SS hat Massenerschießungen vorgenommen, ohne daß ein ordnungsmäßiges gerichtliches Verfahren vorherging. (...) Die SS hat die Ehre der Wehrmacht beschmutzt." Siehe: Der Stellvertreter des Führers der NSDAP, Berlin, den 13. März 1941, in: BA-MA, RH 1/58, Bl. 6. Siehe dazu auch: Groscurth, Tagebuch, S. 245. (Tagebucheintragung vom 29. Februar 1940). 207 Vgl. Bartov, Hiders Wehrmacht, S. 102.

2. Der

Kombattantenstatus

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Armeen nachrückenden Einsatzgruppen vorsahen. Die Oberbefehlshaber waren über die Aufgaben der ihnen unterstellten Polizeieinheiten informiert und schienen sie zumindest nach außen hin zu billigen208. Das gnadenlose Vorgehen der Polizei und SS gegen die polnische Zivilbevölkerung deckte endlich den wahren Realitätsgehalt des Begriffs „reichsfeindliche Elemente" auf. Abseits des Freischärlerbegriffs, wie er aus der Haager Landkriegsordnung abgeleitet werden konnte, stand er auch dem in § 3 Abs. 1 KSSVO definierten Freischärlerstraftatbestand entgegen und war ebensowenig mit dem schwammigen Rechtsbegriff des Kriegsverrats oder dem sinnverwandten Straftatbestand der Feindbegünstigung (§ 91b RStGB) in Einklang zu bringen. In besetzten ausländischen Territorien angewandt, bildeten diese drei „Rechtsbegriffe" ohnehin einen groben Verstoß gegen Art. 45 HLKO, der ein Treueverhältnis zwischen Besatzern und Besetzten kategorisch ausschloß. Doch auch die Verfahrenspraxis der Wehrmacht gegen die unterschiedlichsten Formen ziviler Widerstandsakte in Polen gaben eindeutig zur Kritik Anlaß. Die häufigen Klagen von Befehlshabern über Erschießungen durch SS-Einheiten ohne vorhergehende Gerichtsurteile dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß eben gerade eine solche Verfahrensweise von den Armeen selbst ausgeübt worden war. Die Befehle von Blaskowitz und Reichenau vom 4. September 1939, die Ausführungen Walter Schätzeis oder die Beurteilung von Himmlers Befehl vom 3. September durch den General z.b.V von Hingnoz legten hierüber eindeutig Zeugnis ab. Befehle, welche die sofortige Erschießung der auf „frischer Tat ertappten" Freischärler oder Saboteure einforderten, verletzten das eigene gesetzte nationale Recht, wie es in KStVO und KSSVO aber auch in den „10 Geboten" formuliert worden war und erinnerten mehr an die Vorgaben der Kaiserlichen Verordnung von 1899209. Die Wehrmacht entfernte sich damit von den eigenen Normen und begann neues Recht qua Praxis einzuführen. Die Kollision der Normen wurde gleichzeitig befördert durch die Installierung der Standgerichte auf Regimentsebene, die durch den Befehl über Waffenbesitz vom 12. September ermöglicht worden war. Die gemäß § 13 KStVO auf dem Begriff des „Notgerichtsstandes" gründende Gerichts-

Dies geht z.B. unzweideutig aus der bereits erwähnten Anordnung Nr. 14 der 14. Armee hervor, in welcher der Oberbefehlshaber Generaloberst Wilhelm List seinen Kommandeuren die Unterstellung der Einsatzgruppe z.b.V. bekannt gab. So führte er über ihren Verwendungszweck aus: „Aufgabe des Sonderbefehlshaber der Polizei: Vor allem Niederkämpfung und Entwaffnung polnischer Banden, Exekutionen, Verhaftungen in unmittelbarer Zusammenarbeit mit dem Chef der Zivilverwaltung in Krakau und den Kommandanten des rückwärtigen Armeegebiets." Siehe: AOK 14, Qu. Nr. 1514/39 off., Bochnia, den 12. 9. 39. 209 Unmißverständlich bestimmte § 2 Ziff. 4 KStVO: „Auch Ausländer, die sich strafbarer Handlungen gegen die deutschen oder verbündeten Truppen schuldig gemacht haben, dürfen nicht ohne gerichtliches Verfahren bestraft werden." Siehe: RGBl. I. 1939, S. 1457. Noch Ende 1940 merkte Alfons Waltzog hierzu an: „Gerät aber der Freischärler in deutsche Hand, so darf er keineswegs kurzerhand von der Truppe erschossen werden. Denn wir haben ja gerade durch die Schaffung der Strafbestimmung über Freischärler bestimmt, daß er nur auf Grund eines gerichtlichen Urteils bestraft werden darf." Siehe: Ders., Freischärlerei und Artikel 10 Abs. III des Waffenstillstandsvertrages vom 22. Juni 1940, in: Zeitschrift für Wehrrecht 5 (1940), S. 449. 208

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht 1939/1940

institution 210 erlaubte es den Regimentskommandeuren die Befugnisse des Gerichtsherren zu übernehmen und in eigener Regie, ohne den vorgeschriebenen Verfahrensweg der Gegenzeichnung und gutachterlichen Stellungnahme, Urteil und Vollstreckung vorzunehmen 2 1 1 . Ein faires und rechtmäßiges Verfahren war für den Angeklagten daher in den seltensten Fällen zu erwarten. Ernst Fraenkels Modell des Maßnahmen- und Normenstaates wurde somit nicht nur zwischen Wehrmacht und RSHA faßbar, sondern auch innerhalb der Wehrmachtorganisation selbst. Die Klagen vieler Militärs über das Vorgehen der Einsatzgruppen waren auf die Frage der Verhältnismäßigkeit zurückzuführen und den damit einhergehenden Kontrollverlust 212 . Die Kollision der Normen entfaltete sich jenseits des Völkerrechts 213 . zio Vgl. RGBl. I. 1939, S. 1460. Ministerialdirigent Dr. Rudolf Lehmann, Chef der Wehrmachtrechtsabteilung beim OKW, gab im Nürnberger OKW-Prozeß (Fall 12) zu Protokoll, daß die Einsetzung von Standgerichten auf einen Vorschlag des Leiters der Gruppe III im OKH, Oberstkriegsgerichtsrat Dr. Erich Lattmann, zurückzuführen war. Den unnachgiebigen Vorwürfen Heydrichs über die angebliche Schwerfälligkeit der Heeresgerichte ausgesetzt, habe Lattmann empfohlen, daß „die Gerichtsbarkeit auf eine breitere Basis gestellt werden müsse". Zu den Verfahrenvorschriften der Standgerichte äußerte Lehmann: „Die Standgerichte, die jeder Regimentskommandeur und jeder selbständige Bataillonskommandeur als Gerichtsherr berufen konnte, sollten an sich so zusammengesetzt sein wie die Kriegsgerichte, aber eben näher an der Front sein, und vor allem wollte nicht nur der Divisionskommandeur bestätigen dürfen, sondern auch der Regimentskommandeur oder Bataillonskommandeur, und es war [sie] außerdem vorgesehen, wenn die Sachlage ganz klar war, wenn die Beweise sofort zur Hand waren, dann sollte das Gericht selbst die Vollstreckung beschließen dürfen bei Freischärlern. Das war eine Abweichung von den bisherigen Grundsätzen, daß nur der Gerichtsherr ein Urteil bestätigen durfte. Hier wurde zum ersten Mal eingeführt, daß ein militärisches Gericht selbst sein eigenes Urteil für bedenkenfrei und richtig wollte erklären dürfen. Ich will es anders ausdrücken: Das Urteil wurde dann mit der Verkündung und dem Beschluß rechtskräftig." Siehe: Records of the United States, Roü 41, Bl. 7757. 212 Die Ambivalenz in der Haltung gegenüber den Einsatzgruppen, die eben auch Übereinstimmung beinhaltet, kam z.B. deutlich zum Vorschein in einem Befehl Wilhelm Lists vom 1. Oktober 1939, nach dem Abzug der Einsatzgruppe z.b.V. unter Udo von Woyrsch: „Auf Grund der wiederholten Anforderungen der fechtenden Truppe wurde ein besonderer Polizeiverband zur Säuberung des besetzten Gebietes von Banden, Freischärlern und Plünderern eingesetzt. Diese inzwischen zurückgezogenen Polizeikräfte unter dem Befehl des SS-Obergruppenführers v. Woyrsch haben mit rücksichtsloser Hand durchgegriffen und ihre Aufgabe im wesentlichen gelöst. Wo es dabei angeblich zu Übergriffen (unrechtmäßige Erschießungen pp.) gekommen ist, ist Nachprüfung im Gange. Die scharfe Durchführung dieser Aktion ist - häufig in übertriebener Form - auch der fechtenden Truppe bekannt geworden. Dadurch ist an vielen Stellen eine offensichtliche Mißstimmung entstanden, die sich in Äußerungen von Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften gegenüber allen Persönlichkeiten, die SS-Felduniform tragen, ergeht. (...) Über die im Interesse der Truppe bisher ausserordentlich erfolgreiche Tätigkeit dieser Einsatzkommandos, sowie über ihre Gliederung und Aufgaben sind die Ic der A.K. und Div. anläßlich einer am 30. 9. beim AOK stattgefundenen Besprechung eingehend unterrichtet worden. Es wird gebeten, die unterstell ten Einheiten hierüber in geeigneter Form aufzuklären. Eine weitgehende Unterstützung der Einsatzkommandos bei ihren grenz- und staatspolizeilichen Aufgaben liegt im Interesse der Truppe." Siehe: Der Oberbefehlshaber der 14. Armee, A.H.Qu., Rzeszow, 1. Okt. 1939, in: MA-113/6, IfZ. 213 Vgl. dazu auch: Wildt, Generation, S. 479f. 211

2. Der Kombattantenstatus

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Strafverfahren gegen Angehörige der SS-Verfügungstruppen Nach dem 1. Mob. Sammelerlaß vom 26. August 1939 und den Anordnungen der Oberbefehlshaber waren die SS-Verfügungstruppen und die Polizei-Verbände der Wehrmachtgerichtsbarkeit unterworfen. Damit waren diese genauso wie die Einheiten des Heeres in ihren Befehlen und Maßnahmen dem internationalem Kriegsrecht verpflichtet. Denn nach Art. 1 des IV. Haager Abkommens vom 18. Oktober 1907 war den Staaten als Subjekten des Völkerrechts verbindlich aufgetragen worden, ihren Heeren „Verhaltungsmaßregeln" zu geben, die dem Kriegsrecht entsprechen. Hieraus erwuchs folgerichtig eine Haftung der Vertragsstaaten für Rechtsverletzungen der eigenen Streitkräfte, die in Art. 3 des IV. Haager Abkommens niedergelegt worden war, und die Pflicht zur strafrechtlichen Ahndung von Kriegsverbrechen unter den Angehörigen der eigenen Armeen oder Freiwilligen-Verbände. In diesem Sinne hatte der Chef des Heeresjustizwesen, Ministerialdirigent Dr. Otto Neumann, die Heeresrichter auf die Einhaltung der „Kriegsgesetze" hingewiesen und ihnen die Einarbeitung in die bestehenden Völkerrechtsbestimmungen angetragen214. Die mangelhafte Umsetzung des Kriegsrechts in den Militärstrafgesetzen (MStGB, KStVO und KSSVO) durch den Gesetzgeber bildete dabei freilich eine Rechtsproblematik sui generis, die von Beginn des Krieges an auf der Rechtsprechung der deutschen Heeresrichter lastete. Zu dieser rechtlichen Ausgangssituation stellte sich im Laufe des Krieges im Hinblick auf die Einberufung eines Kriegsgerichtsverfahrens zum Zwecke der strafrechtlichen Ahndung von Kriegsverbrechen zunehmend die unauflösliche Problematik heraus, daß Anordnungen und Befehle der Oberbefehlshaber wie auch des Reichsführers SS oftmals den Erfordernissen des Völkerrechts widersprachen. Eingedenk des hierarchischen Prinzips von Befehl und Gehorsam hätte ein angeklagter Soldat sich ohne weiteres auf Befehle von höherer Stelle berufen können, um sein eigenes objektiv rechtswidriges Handeln zu rechtfertigen. Die Frage nach dessen Kenntnis über den § 47 Abs. 2 MStGB einmal außerachdassend, zeigte sich hier das Gebot der Einhaltung des Völkerrechts in seiner brisantesten Form. Denn wie sollte ein Heeresrichter bei Vorliegen rechtswidriger Befehle verfahren? Die Rechtsproblematik wies schließlich in vielen Fällen über den Oberbefehlshaber hinaus direkt auf die Entscheidungen und Vorgaben der deutschen Regierung. So hatte der Oberste Gerichtsherr der Wehrmacht, Adolf Hider, auf einer Besprechung mit dem Chef des O K W , Generaloberst Wilhelm Keitel, am 17. Oktober 1939 unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß in Polen ein „harter Volkstumskampf" geführt werden müsse, der „keine gesetzlichen Bindungen gestattet" 215 . Anhand der fiktiven Gerichtsszene war nunmehr eine Rechtssituation beschrieben, die sich im Polenfeldzug innerhalb der Wehrmacht bereits abzuzeichnen begann, im Krieg gegen die Sowjetunion aber als eine Problematik grundsätzlichster Art begriffen werden muß. Für die Einsatzgruppen und SS-Verfügungstruppen hingegen muß auf Grund ihrer gestellten Aufgaben der Gegensatz der Normen generell von Beginn des Krieges an konstatiert werden. Hält man sich das Bild des

Vgl. Oberkommando des Heeres, Nr. 2 9 8 / 3 8 g.Kdos. H R II, 1. September 1938, Mobilmachung der Heeresgerichte, in: BA-MA, RH 1 4 / 2 2 , Bl. 7. 2 1 5 Vgl. Broszat, Polenpolitik, S. 22. 214

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht 1939/1940

sich auf Befehl berufenden Angeklagten vor Augen, so wird die schiere Unmöglichkeit eines solchen Gerichtsverfahrens schnell deutlich. Die strafrechtliche Ahndung von Kriegsverbrechen war daher überwiegend nur in den Fällen denkbar, welche vom Angeklagten „auf eigene Faust", außerhalb des unmittelbaren Wirkungsbereichs gegebener Befehle, begangen worden waren. Der völkerrechtlich gebotenen Pflichterfüllung der strafrechtlichen Ahndung von Kriegsverbrechen waren strukturell Grenzen gesetzt, die systemimmanent und ideologisch begründet waren. Eine Diskussion über den Rechtsinhalt von Befehlen im Gerichtsaal war kaum vorstellbar. Diese theoretische aber gleichwohl reale Rechtssituation korrespondierte mit der verfahrensrechtlichen Regelung, wonach über das Erfordernis einer Strafverfolgung nicht der Heeresrichter, sondern allein der Befehlshaber in seiner Eigenschaft als Gerichtsherr entschied. Nach § 17 KStVO besaß er die Befugnis, ein Untersuchungsverfahren anzuordnen216 und gemäß § 49 KStVO den „Zusammentritt des Feldkriegsgerichts" zu verfügen217. Im Falle von Kriegsrechtsverletzungen konnte ihm hierbei der Heeresrichter beratend zur Seite stehen, wie es bereits vor dem Kriege Otto Neumann in seinen Anweisungen den Juristen nahegelegt hatte. Zusätzlich sollten sie durch Vorträge die Offiziere über die völkerrechtlichen Bestimmungen informieren. Somit war es denkbar, daß der Befehlshaber durch die Kenntnisse des Heeresrichters eine schärfere Sensibilisierung für die kriegsrechtlichen Belange erfahren konnte. Uber die Zusammenarbeit zwischen Richter und Gerichtsherr in völkerrechtlichen Angelegenheiten ist allerdings in der historischen Forschung bislang sehr wenig bekannt218.

Vgl. RGBl. I. 1939, S. 1461. Vgl. R G B l . I. 1939, S. 1465; vgl. auch Martin Rittau, Das Kriegsverfahren der Wehrmacht, in: Der Gerichtssaal 116 (1942), S. 6 5 - 6 9 . 2 1 8 In diesem Zusammenhang ist das Vernehmungsprotokoll des Generalrichters Dr. J o s e f Prause vom 8. Februar 1947 aufschlußreich, das vor dem Hintergrund des Nürnberger SüdostGenerale-Prozesses (Fall 7) angefertigt worden war. Prause war zwischen September 1943 und März 1945 auf dem Balkan in der Heeresgruppe F als Rechtsberater des Oberbefehlshabers Generalfeldmarschall Maximilian Freiherr von Weichs abkommandiert worden. Seine Erfahrung über den Umgang mit Kriegsrechtsfallen an höchster militärischer Stelle geben zumindest einen kleinen Ausschnitt frei, wie in der Praxis die Zusammenarbeit zwischen Heeresrichter und Befehlshaber aussehen konnte. Die zu diesem Thema gestellten Fragen und von Prause gegebenen Antworten seien deshalb im folgenden wiedergegeben: 216 217

„Fr. Hat Feldmarschall Weichs öfters Ihren Rat in Rechtsfragen eingeholt? A. Sehr selten. Fr. In welchen Fällen hat er ihn in Anspruch genommen? A. E r hat nicht meinen Rat in Anspruch genommen, ich habe ihm Vortrag gehalten in den Militärstrafsachen, die gegen Angehörige seines Stabes liefen. (...) Fr. Haben Sie Feldmarschall Weichs auch in denjenigen Fragen beraten, die sich mit dem Gegner befaßten und die auch rechtlicher Natur waren? A. Mir ist nicht ein Fall in Erinnerung, daß ich in Anspruch g e n o m m e n worden wäre. (...) Fr. Inwieweit gehört es zu den Funktionen eines obersten Kriegsrichters, auch darauf zu sehen, daß Bestimmungen des Völkerrechts beachtet werden? A. Insoweit, als mir von irgendwelchen Tatbeständen Kenntnis gegeben wird und ich um Rat befragt werde, wie man sich in diesem oder jenen Fall zu verhalten hat. Fr. Ist es so, daß er darauf wartet, bis er um Rat gefragt wird, oder wird er auf Grund der ihm zugegangenen Berichte auch von sich aus vorgehen? A. Grundsätzlich bin ich nur auf Erfordern zu Rechtsgutachten verpflichtet. Fr. Ist es Ihnen möglich, auch ohne Aufforderung Ihre beratende Funktion auszuüben? (...)

2. Der Kombattantenstatus

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Um der Pflicht der strafrechtlichen Ahndung von Kriegsverbrechen durch Angehörige der SS sowie der Polizei nachzukommen, verfugten die Befehlshaber und Kommandeure über eine relativ kurze Zeitspanne. Zunächst existierte das organisatorisch-technische Problem, während der laufenden Militäroperationen den Zusammentritt eines Feldkriegsgerichts umgehend ermöglichen zu können. Denn viele Divisionen hatten die Rechtsabteilung (Abt. III) ihres Kommandos den Quartiermeisterabteilungen zugeteilt, wodurch in einem „Bewegungskrieg" eine dauernde Verbindung zum Kommandeur und seinem Stab, die zum Teil täglich mehrmals neue Positionen bezogen, erschwert worden war. Zudem lief es auch der Logik des Krieges zuwider, unter Kampfhandlungen und Eilmärschen potentielle Straftäter aus den Verbänden herauszuziehen und ihn sowie gegebenenfalls dessen Kameraden als Zeugen von einem Untersuchungsrichter vernehmen zu lassen. Eine solche bürokratische Prozedur, begleitet von Protokollen, eidesstattlichen Aussagen und Rechtsgutachten, wurde daher nicht selten auf die Zeit zwischen den Kampfhandlungen bzw. nach Beendigung der Kämpfe verschoben. Zudem standen den Kriegsgerichtsräten die notwendigen Anklagevertreter und Gerichtsoffiziere nicht immer sofort zur Verfügung 219 . Gleichwohl besaßen die Gerichtsherren ein erhebliches Interesse, schwere Straftaten, wie Notzucht, Fahnenflucht, diverse Fälle von Plünderung oder Mord, so schnell wie möglich einer kriegsgerichtlichen Verurteilung zuzuführen. Denn in jedem Krieg bildet die Aufrechterhaltung der Disziplin und Manneszucht in der Truppe eine grundlegende Voraussetzung für das Gelingen militärischer Operationen. Widersetzlichkeiten, Diebstahlsdelikte, Plünderung, Straftaten hervorgebracht durch die „Gelegenheiten" des Krieges bleiben nicht ohne Rückwirkung auf die übrigen Mannschaften. Das militärische System droht zu wanken. Nicht das Völkerrecht, die Logik des Krieges schuf zuerst die Grundlagen der Manneszucht. Regelmäßig wurden daher in der Wehrmacht die Strafurteile der Kriegsgerichte den Mannschaften öffentlich zur Belehrung bekanntgegeben. Als erzieherische Maßnahme gedacht, sollte hierdurch eine abschreckende Wirkung vor weiteren Straftaten erzielt werden 220 . Doch muß erinnert werden, in welchem Umfeld derartige erzieherische A. W e n n ich Kenntnis von einem Tatbestand habe, der nicht ordnungsgemäß behandelt wird, dann werde ich mich beim Gerichtsherrn melden können. Fr. Gehörte es zu Ihren Pflichten? A. Nein. Fr. G e h ö r t es zu den Pflichten eines obersten Kriegsrichters, sich aus eigenem Antrieb dafür zu interessieren, o b die völkerrechtlichen Bestimmungen in dem Gebiet eingehalten werden, für das er als oberster Richter eingesetzt war? A. Ich muß es verneinen. Selbstverständlich nur soweit verneinen, als ich nicht dienstlich von irgendetwas erfahre und mich gutachtlich dazu äußern muß. (...) Fr. Was haben Sie eigentlich zwischen 1943 und 1945 gemacht? (...) A. Ich bin nicht einmal zu den sogenannten Lagebesprechungen zugezogen worden, die in der W o c h e wohl 1 — 2 mal stattgefunden haben, so daß ich nicht darüber orientiert war, was da und dort geschah."

Siehe: Dr. J o s e f Prause, Gen.Richter b. Heer, Z S - 1 3 1 7 , IfZ, Bl. 4, Bl. 7, Bl. 9 und Bl. 13. Vgl. Keller, Richter und Soldat, S. 108. 220 Generaloberst Friedrich Fromm gab in einem Runderlaß an die Gerichtsherren des Ersatzheeres über die Strafrechtspflege u.a. folgende Richtlinien: „Die Strafe hat nicht nur den Zweck, die Straftat zu sühnen und den Verurteilten zu bessern oder unschädlich zu machen, sondern sie soll auch auf die Allgemeinheit abschreckend wirken und dadurch künftigen Straftaten vorbeugen. Ich ersuche daher, kriegsgerichtliche Verurteilungen der Truppe

342

III. Die Umsetzung

des Kriegsrechts

in der deutschen

Wehrmacht

1939/1940

Methoden positiv greifen sollten. Unter den Mordaktionen der Einsatzgruppen, ummantelt mit den Begriffen der Freischärlerei und Geiselnahme, sowie einer extrem harten und vielfach illegitimen Auslegung des Kriegsrechts durch das Heer konnten die Kriegsgerichte und somit auch ihre Gerichtsherren kaum als erlösende Verfechter v o n Recht und Gesetz fungieren. Denn viele Straftaten der Soldaten und Offiziere müssen als Produkt einer rechtswidrigen Kriegspolitik betrachtet werden 2 2 1 . So waren v o r allem in einem Strafverfahren gegen einen Angehörigen der SS oder der Polizei Rechtsbruch und Rechtsgegensatz unzertrennlich miteinander verflochten. Für ein solches Verfahren verfügte die Wehrmacht allerdings über nicht allzuviel Zeit. A m 17. Oktober 1 9 3 9 erließ nämlich der Ministerrat für die Reichsverteidigung eine Verordnung, welche die Herauslösung der SS und Polizeiverbände aus der Wehrmachtgerichtsbarkeit bestimmte. Nach § 1 wurden die Angehörigen der SSVerfügungstruppe, der SS-Totenkopfverbände sowie der Polizeiverbände einer eigeen „Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen" unterstellt. Gemäß § 3 sollten für die Strafverfahren v o r den SS- und Polizei-Gerichten die Vorschriften des Militärstrafgesetzbuches sowie der Militärstrafgerichtsordnung Anwendung finden. Die Gerichtsherren waren v o m Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler, zu bestimmen 222 . Mit dieser Verordnung hatte der Verselbständigungsprozeß der SS seinen ersten Höhepunkt erreicht. Die Planungen für eine SSGerichtsbarkeit waren bereits im Frühsommer 1 9 3 8 herangereift und ließen sich bekanntzugeben und sie eindringlich und wiederholt darüber zu belehren, daß im Kriege begangene Straftaten mit den schwersten Strafen bedroht sind." Siehe: Oberkommando des Heeres (Befehlshaber des Ersatzheeres) Az Β 14 η 16 HR IIb, Nr. 2510/39, Berlin, den 17. November 1939, in: BA-MA, RH 14/22, Bl. 96. Unter dem Abschnitt „Stimmung der Truppe" stand in der bereits erwähnten Vortragsnotiz von Blaskowitz zu lesen: „Schwere Vergehen und Verbrechen (Plünderung, Rassenschande, Fahnenflucht) kommen fast überhaupt nicht mehr vor. Die bisher abgeurteilten und noch abzuurteilenden Fälle stammen fast ausschließlich aus der Kampfzeit. Die Veröffentlichung der ergangenen strengen Strafurteile wirkt erzieherisch" Siehe: Oberbefehlshaber Ost, Vortragsnotizen, Bl. 2. 221 So waren die Soldaten der Wehrmacht wie der SS eben auch den Einflüssen der nationalsozialistischen Propaganda ausgesetzt. Beispielsweise ließ Propagandaminister Josef Goebbels am 24. Oktober 1939 an die Presse eine Anweisung ergehen, in der es hieß: „Es muß auch der letzten Kuhmagd in Deutschland klargemacht werden, daß das Polentum gleichwertig ist mit Untermenschentum. Polen, Juden und Zigeuner stehen auf der gleichen unterwertigen menschlichen Stufe. (...) Dieser Tenor soll immer nur leitmotivartig anklingen und gelegentlich in feststehenden Begriffen wie .Polnische Wirtschaft', ,Polnische Verkommenheit' und ähnlichen treten, bis jeder in Deutschland jeden Polen, gleichgültig ob Landarbeiter oder Intellektuellen, im Unterbewußtsein schon als Ungeziefer ansieht." Zitiert aus: Tomasz Szarota, Polen unter deutscher Besatzung 1939-1941: Vergleichende Betrachtungen, in: Bernd Wegner (Hrsg.), Zwei Wege nach Moskau. Vom Hitler-Stalin-Pakt bis zum „Unternehmen Barbarossa", München 1991, S. 43. 222 Vgl. „Verordnung über eine Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen für Angehörige der SS und für die Angehörigen der Polizeiverbände bei besonderem Einsatz" vom 17. Oktober 1939, in: RGBl. I. 1939, S. 2107f. Vgl. auch: Bernd Wegner, Die Sondergerichtsbarkeit von SS und Polizei. Militärjustiz oder Grundlegung einer SS-gemäßen Rechtsordnung?, in: Ursula Büttner (Hrsg.), Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus. Band 1: Ideologie - Herrschaftssystem — Wirkung in Europa, Hamburg 1986, S. 244. Uber das Gericht der SS-Totenkopfeinheiten und dessen Gerichtsherrn HSSPF Theodor Eicke siehe: Sydnor, Jr., Soldaten des Todes, S. 51-54.

2. Der Kombattantenstatus

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ursächlich keineswegs auf Heydrichs Unbill auf die Wehrmachtjustiz zurückfuhren223. Als Ministerialinstanz in allen Disziplinar-, Strafrechts- und Ehrenfragen fungierte fortan das Hauptamt SS-Gericht, dem Himmler als oberster Gerichtsherr weisungsbefugt gewesen war 224 . Über Gerichtsverfahren der Wehrmachtgerichte gegen SS- und Polizei-Angehörige liegen nur sehr wenige Zeugnisse vor. In der wissenschaftlichen Literatur finden häufig zwei Fälle Erwähnung, die von einer außergewöhnlichen Brutalität der Angeklagten gekennzeichnet sind. Es handelt sich hierbei um das Kriegsgerichtsverfahren gegen den „SS-Sturmmann Ernst" sowie die Inhaftnahme des „Obermusikmeisters Müller-John" der Leibstandarte Adolf Hitler, dessen kriegsgerichtliche Verurteilung nach dem Willen der zuständigen Oberbefehlshaber angestrebt werden sollte. Am 10. September 1939 notierte der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, Generaloberst Fedor von Bock, in sein Tagebuch: „Ich erfahre heute, daß Leute der SS-Artillerie Juden zusammengetrieben und ermordet haben; die 3. Armee hat ein Kriegsgericht darüber eingesetzt." 225 Im Befehlsbereich der 3. Armee unter General der Artillerie, Georg von Küchler, lag das SS-Regiment „Deutschland", das dem Panzer-Verband Kempf unterstellt worden war. Einer Aktennotiz aus dem O K H zufolge hatten der SS-Sturmmann Ernst aus dem besagten Regiment sowie ein Polizeiwachtmeister der Geheimen Feldpolizei etwa 50 Juden bei Ausbesserungsarbeiten an einer Brücke in der Nähe von Rozan bewacht. Nach Beendigung der Arbeiten hatten die Genannten sodann die jüdischen Zivilisten in eine Synagoge getrieben und „grundlos" zusammengeschossen 226 . Das Feldkriegsgericht des Panzerverbandes Kempf, das mit SS-Angehörigen als Beisitzern zusammengetreten war 227 , verurteilte schließlich SS-Sturmmann Ernst zu drei Jahren Gefängnis und den Polizeiwachtmeister zu neun Jahren Zuchthaus wegen Totschlags. Demgegenüber 223 Vgl. Wegner, Sondergerichtsbarkeit, S. 245. 224 Vgl ebd^ s. 248. Eine Übersicht über sämtliche SS-Hauptämter, zu denen auch das R S H A gehörte, findet sich in: Hilberg, Vernichtung, Bd. 1, S. 212. Da nach den Bestimmungen des internationalen Kriegsrechts die Waffen SS und die Einsatzgruppen als „Milizen" angesehen werden mußten, war für diese die vierte Legalbedingung aus Art. 1 H L K O obligatorisch. Damit hätte nach deren Herauslösung aus der Wehrmachtgerichtsbarkeit die Wahrung des Völkerrechts neben anderem für die SS oberste Priorität besitzen müssen. D e m standen jedoch allein ihre „volkstumspolitischen" Aufgaben entgegen. Die somit skurril anmutende Frage, ob die Waffen-SS Kriegsverbrechen in den eigenen Reihen strafrechtlich zu ahnden trachtete, läßt sich nicht beantworten bzw. muß verneint werden, da generell eine Orientierung an dem völkerrechtlichen Reglement weder in ihren Befehlen noch in ihren offiziellen Äußerungen erkennbar wird. Zwar ließ Reinhard Heydrich per Erlaß am 9. September 1941 im RSHA eine „Zentralstelle zur Verfolgung von Völkerrechtsverletzungen" errichten, doch diente diese rein propagandistischen Zwecken im Krieg gegen die Sowjetunion. Vgl. Der Chef der Sicherheitspolizei und des S D , Berlin, den 9. 9. 41, betr.: Völkerrechtsverletzungen an deutschen Zivilpersonen und deutschfreundlichen Ausländern im Feindgebiet, in: MA-847, IfZ. Zitiert aus: Umbreit, Militärverwaltungen, S. 163 Anm. 361. Einen Tag später hielt Groscurth schriftlich fest: „SS-Standarte Deutschland hat sich schlecht geschlagen, hat dafür aber reihenweise Juden erschossen ohne Standgericht." Siehe: Groscurth, Tagebuch, S. 203. 22' Vgl. Aktennotiz, o.D., in: BA-MA, RH 1 / 5 8 , Bl. 275; ebenso: IMT, Bd. X X X V ; S. 92. 2 2 7 Vgl. Krausnick, Wilhelm, Truppe, S. 81. 225

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht

1939/1940

hatte der Anklagevertreter in beiden Fällen auf die Todesstrafe wegen Mordes plädiert. Das Urteil wurde schließlich von Küchler zur Bestätigung vorgelegt 228 . Die Gründe, die das Gericht bewogen hatten in der Festsetzung des Strafmaßes ganz erheblich von der des Anklagevertreters abzuweichen, ließen nun unzweifelhaft ein „rechtliches" Gemengelage erkennen, das der Begriff der „Kollision der Normen" klar anzeigt. Dem Gebot des Strafverfahrens zur Wahrung der Manneszucht und der völkerrechtlichen Pflicht traten die „Normen" der Weltanschauung entgegen. So erläuterte der Oberkriegsgerichtsrat der 3. Armee, Lipski, in einem Fernschreiben an den Chef der Gruppe III im OKH, Erich Lattmann, die Zubilligung „mildernder Umstände" gegenüber dem SS-Sturmmann mit dem Argument, daß dieser durch die „zahllosen Greueltaten" der polnischen Bevölkerung gegen die deutsche Minderheit sich in einem „Reizzustand" befunden habe. Als SSMann habe er „in besonderem Maße beim Anblick der Juden die deutschfeindliche Einstellung des Judentums empfunden" und daher in „jugendlichem Draufgängertum völlig unüberlegt gehandelt". Zudem sei er ein „tüchtiger Soldat" und „unvorbestraft" 229 . In seiner Eigenschaft als Gerichtsherr trug sich von Küchler, der das Massaker vor den versammelten Kommandeuren der betreffenden SS-Einheit gebrandmarkt hatte, offenbar in der Absicht, das Urteil umgehend aufheben zu lassen 230 . Schließlich erfolgte aber eine Abänderung der Urteile, wie aus einer handschriftlichen Notiz am Rande des Fernschreibens von Lipskis zu entnehmen ist, dahingehend, daß die Höhe des Strafmaßes gegen den Polizeiwachtmeister von neun auf drei Jahre herabgesetzt worden war, während das Strafmaß gegen SS-Sturmmann Ernst bestehen blieb 231 . Die Abänderung der Strafe mußte nicht zwangsläufig durch ein zweites Gerichtsverfahren erfolgt sein. Im Gegenteil. Nach der Aussage Rudolf Lehmanns im Nürnberger OKW-Prozeß besaß der Gerichtsherr die Befugnis, bei Bestätigung des Urteils die vom Gericht verhängte Strafe abzumildern. Von Küchler hatte das Urteil bestätigt und gegengezeichnet. 228 Vgl. IMT, Bd. X X X V , S. 92. Vgl. Fernschreiben, HDIH 403, 14. 9. 39, 1905, A n Oberstkriegsgerichtsrat beim Generalquartiermeister in Berlin, in: BA-MA, RH 1/58, Bl. 276; ebenso: IMT, Bd. X X X V , S. 93. 230 Krausnick geht von der Tatsache aus, daß von Küchler das Urteil des Gerichts des PanzerVerbandes Kempf aufgehoben hat. Dies muß aber bezweifelt werden, auch wenn Halders Tagebucheintrag dagegen spricht. Vgl. Krausnick, Wilhelm, Truppe, S. 81. Franz Halder, Chef des Generalstabs des Heeres, notierte in seinem Tagebuch hierzu: „SS-Artillerie des Panzerkorps hat Juden in eine Kirche zusammengetrieben und ermordet. Kriegsgericht hat ein Jahr Zuchthaus ausgesprochen. Küchler hat Urteil nicht bestätigt, weil strengere Strafen fallig." Siehe: Halder, Kriegstagebuch. Band 1, S. 67. Es ist im vorliegenden Fall nicht klar ersichtlich, ob ein zweites Verfahren gegen die beiden Angeklagten geführt wurde. Krausnick schreibt nämlich von „einem anderen Gericht", welches aber ein „noch immer milde[s]" Urteil gefallt hätte. Jedoch bleibt er einen Beleg für dieses zweite Urteil schuldig (vgl. S. 81). Halders differierende Angabe zum Strafmaß könnte sich aber somit erklären. Dagegen spricht allerdings, daß Halders Eintragung wie jene von Bocks vom 10. September dauert. Demnach hätten an einem Tag zwei Gerichtsverfahren in ein und derselben Sache stattgefunden. Es ist daher eher anzunehmen, daß Halder ein Irrtum unterlaufen war und daß Lipski gegenüber Lattmann nicht als Richter eines zweiten Verfahrens, sondern als Rechtsgutachter Küchlers argumentierte. 231 Vgl. Fernschreiben, HDIH 403, 14. 9. 39, Bl. 276; ebenso: IMT, Bd. X X X V , S. 93. 229

2. Der

Kombattantenstatus

345

War eine solche Rechtsbegriindung mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar? Es ist zunächst durchaus die Ansicht vertretbar, in der Tatsache, daß überhaupt ein Gerichtsverfahren samt Urteilsverkündigung stattgefunden hatte, eine Reminiszenz an traditionelle Wert- und Normvorstellungen zu erblicken. Das Urteil bildete danach das Ergebnis einer strukturellen Zwangslage. Für Zayas, der Messerschmidt attackierte, durch die Auswahl einiger „grotesker Fälle", wie dem vorliegenden, ein verzerrtes Bild der Wehrmachtjustiz zu vermitteln, beweist das Gerichtsverfahren trotz des milden Urteils, „daß die Tatbestände als verbrecherisch galten und die Täter angeklagt und verurteilt wurden. Mit anderen Worten, die Verjährung ruhte nicht" 232. Doch der Blick darf nicht an der bloßen Institution des Strafverfahrens haften bleiben. Das Urteil genügte dem internationalen Rechtsgrundsatz „nulla poena, sine lege" keineswegs. Das Faktum des Verfahrens für sich allein bildet keine Legitimation. Lipskis Entschuldigungen für die Handlungen und Motive des Täters beschreiben die Beugung des Rechts, die. Ausstellung der inneren Tatbestandsseite, wie sie dem polnischen Zivilisten (Freischärlerei) in keinem Moment zuteil wurde. Die „strukturelle Zwangslage" gebar ein Urteil das keines war. Problematisch gestaltete sich nicht nur die Frage der Verhältnismäßigkeit gegenüber anderen Straftatbeständen, woran Messerschmidt beispielsweise erinnert: "Verglichen mit den harten Urteilen, die selbst bei Lappalien verhängt worden sind, wirft das Urteil ein bezeichnendes Licht auf die angepaßte Denkweise der Richter." 233 Es fehlte auch jeder Bezug zum Völkerrecht. Das kategoriale Verhältnis von Strafgesetz und Straftatbestand war auseinandergebrochen. Offen bleibt jedoch die Frage, ob das Urteil als Ausdruck eines vorauseilenden Gehorsams begriffen werden muß, oder ob es Ausfluß der eigenen Überzeugung gewesen war 234 . Lipskis Worte können im Sinne

232 Ygi Alfred Maurice de Zayas, Die Rechtsprechung der Wehrmachtsgerichtsbarkeit zum Schutze der Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten 1939-1944, in: Humanitäres Völkerrecht 3 (1994), S. 122. Manfred Messerschmidt, Fritz Wüllner, Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden-Baden 1987, S. 214. 234 Die fragwürdige Rechtsauslegung durch das Feldkriegsgericht des Panzer-Verbandes Kempf bildete auch den Gegenstand der Zeugenbefragung im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß. So konfrontierte der britische Anwalt Major Elwyn J o n e s den Amtschef im Hauptamt SS-Gericht und Chefrichter des obersten SS- und Polizeigerichts, SS-Oberführer Dr. Günther Reinecke, mit den hier besprochenen Dokumenten. Ein zentraler Punkt bildete hierbei die Frage nach der Bedeutung des Rechts gegenüber jüdischen Personen. Aus der Vernehmung seien im folgenden einige Auszüge wiedergegeben: 233

„ M a j o r E l w y n J o n e s : B e t r a c h t e t e m a n in d e r S S o d e r im d e u t s c h e n H e e r die E r m o r d u n g v o n l u d e n d u r c h S S - M ä n n e r als s c h w e r w i e g e n d ? R e i n e c k e : Ich h a b e diese F r a g e n i c h t v e r s t a n d e n . M a j o r E l w y n J o n e s : (...) H ä t t e die F'.rmordung v o n J u d e n d u r c h die S S in der W a f f e n - S S o d e r i m d e u t s c h e n H e e r als s c h w e r w i e g e n d g e g o l t e n ? R e i n e c k e : W e n n die T a t s a c h e d e r J u d e n v e r n i c h t u n g a u f B e f e h l H i d e r s in der S S o d e r , w i e d e r H e r r A n k l a g e v e r t r e t e r m e i n t , in d e r W e h r m a c h t b e k a n n t g e w e s e n w ä r e , h ä t t e m a n sich n a c h m e i n e r Ü b e r z e u g u n g sicher G e d a n k e n g e m a c h t . M a j o r Klwvn J o n e s : W e n n ein S S - M a n n 50 J u d e n e r m o r d e t hatte, h ä t t e d a s die T o d e s s t r a f e für ihn z u r Folge gehabt? R e i n e c k e : Ich k a n n diese F r a g e mit e i n f a c h e n W o r t e n nicht b e a n t w o r t e n , weil sie an ein G r u n d p r o b l e m rührt." N a c h d e r V e r l e s u n g d e r g e n a n n t e n D o k u m e n t e f u h r E l w v n J o n e s fort:

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht

1939/1940

des „werdenden Rechts" von Carl Schmitt verstanden werden und die Haltung Küchlers als Ausdruck der „Politik des Wegsehens", wie sie sich während der Niederschlagung des sogenannten „Röhm-Putsches" auf Seiten vieler Militärs 235 erstmals zeigen sollte. Ein ähnlich gelagerter Fall, wie der hier behandelte, trug sich einige Tage später im Befehlsbereich der 10. Armee zu. So informierte am. 19. September Walther von Reichenau, den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd, Generaloberst Gerd von Rundstedt, über eine Meldung General Joachim Lemelsens, Kommandeur der 29. Infanterie Division (mot.), wonach der Obermusikmeister Müller-John der Leibstandarte Adolf Hider in der Nacht vom 18./19. September 1939 in Blonie 50 jüdische „Zivilgefangene" habe erschießen lassen. Reichenau bat daher um eine „grundsätzliche Weisung", wie in Fällen des inhaftierten Obermusikmeisters zu verfahren sei. Zur Erklärung fügte er allerdings den bedenkenswerten Satz hinzu: „Ein Befehl höheren Ortes, jüdische Gefangene zu erschießen, ist bei der Armee nicht bekannt." 236 In seinem Antwortschreiben bestätigte Rundstedt, daß „ein Befehl zum Erschießen jüdischer Gefangener (...) durch die Heeresgruppe nicht ergangen" sei. Auf die von Reichenau erbetene grundsätzliche Weisung entgegnete der Oberbefehlshaber: „Ich bitte, den Obermusikmeister Müller-John der Leibstandarte kriegsgerichtlich aburteilen zu lassen." 237 O b es zu dem Zusammentritt eines Feldkriegsgerichts im Falle des Obermusikmeisters gekommen war, läßt sich aus den hierzu vorhandenen Dokumenten nicht erschließen 238 . Eidesstattlichen Aussagen zufolge wurde die delikate Angelegenheit vom O K W schließlich fallen gelassen 239 . Ohnehin verloren zahlreiche Strafverfahren der Wehrmacht gegen Angehörige des Heeres wie der SS und Polizei ihre Rechtsgültigkeit, da am 4. Oktober 1939 Adolf Hider eine allgemeine Amnestie für Straftaten gegen die Zivilbevölkerung im Polenfeldzug ausgesprochen hatte. Nach § 1 Abs. 1 des Gnadenerlasses, der auch von „Sind Sie sich darüber klar, daß für den Mord an 50 Juden - und wenn die Tatsachen, die das deutsche D o k u m e n t aufzählt, richtig sind, dann konnte es nichts anderes als Mord sein — in erster Linie Totschlag als Tatbestand befunden wurde. Als Jurist werden Sie die Bedeutung dessen einzuschätzen wissen ... und überdies ... dieser Heeresrichter verhängte eine Strafe von drei Jahren Zuchthaus [sie] für fünfzigfachen Mord. E r war als Jurist einer Ihrer Kollegen, und ich behaupte Ihnen gegenüber, daß seine Einstellung typisch für Sie war ... besonders für das Justizwesen der SS und des Heeres ... typisch für Mord an Leuten, die Sie als Untermenschen zu bezeichnen beliebten." S i e h e : I M T , B d . X X , S. 4 9 C M I 9 2 .

235 Während des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses schrieb Keitel hierüber den vielsagenden Satz: „Weshalb die Schuldigen nicht vor ein Kriegsgericht gestellt, sondern einfach erschossen wurden, blieb unaufgeklärt." Siehe: Wilhelm Keitel, Mein Leben. Pflichterfüllung bis zum Untergang. Hitlers Generalfeldmarschall und Chef des Oberkommandos der Wehrmacht in Selbstzeugnissen, hrsg. Von Werner Maser, Berlin 2000 (2. Aufl.), S. 178. 2 3 6 Siehe: AHQu, den 1 9 . 9 . 1 9 3 9 , An Heeresgruppe Süd, in: M A - 1 1 3 / 6 , I f Z ; vgl. auch Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1 9 3 9 - 1 9 4 5 , Paderborn, München Wien, Zürich 2005, S. 235f. Siehe: Heeresgruppenkommando Süd, Der Oberbefehlshaber, Nr. 7 2 3 / 3 9 geh., O.U., den 20. 9. 1939, An den Oberbefehlshaber der 10. Armee, in: M A - 1 1 3 / 6 , IfZ. 2 3 8 Nach Lattmann wurde das Verfahren gegen den Obermusikmeister nicht durchgeführt. Vgl. Lattmann, Erinnerungen, Bl. 7. Reichenau erwähnte in seinem Anschreiben an die Heeresgruppe Süd, daß er in einem ähnlichen Fall einen Offizier der Wehrmacht kriegsgerichtlich habe aburteilen lassen. «o Vgl. Böhler, Auftakt, S. 224f. 237

2. Der

Kombattantenstatus

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Wilhelm Keitel und Roland Freisler unterzeichnet worden war, sollten „Taten", die seit dem 1. September begangen worden waren aus Erbitterung wegen der von den Polen verübten Greuel", kriegsgerichtlich nicht mehr verfolgt werden. Abs. 2 bestimmte, daß anhängige Verfahren „wegen solcher Straftaten" umgehend eingestellt werden mußten. Abs. 3 schließlich hob rechtskräftig erkannte Strafen rückwirkend auf. Der Straferlaß erstreckte sich auch auf „Nebenstrafen und gesetzliche Nebenfolgen" 240 . Damit wurde dem Völkerrecht eine grundlegende Absage erteilt. Die Verpflichtung strafgerichtlicher Verurteilungen bei Völkerrechtsverletzungen gemäß Art. 1 des IV. Haager Abkommens war kurzerhand getilgt worden. Der Gnadenerlaß Hiders muß daher als ein Vorläufer des Kriegsgerichtsbarkeitserlasses vom 13. Mai 1941 gewertet werden 241 , der eine Kriegführung gegen die Sowjetunion ermöglichte, die sich außerhalb jeglicher Normen des Kriegsrechts bewegen konnte. Die Amnestie Hiders erfuhr allerdings in ihrem Wirkungsbereich eine Einschränkung. Besorgt über den gewaltigen Schlag gegen die Heeresjustiz und über die sich hieraus ergebenden Konsequenzen, gab der Oberbefehlshaber des Heeres eine „Auslegungsrichtlinie" am 7. Oktober heraus, nach der Straftaten weiterhin verfolgt werden sollten, wenn sie vorwiegend aus „Eigennutz", wie z.B. bei Plünderungen und Diebstählen, oder aus „Eigensucht", wie z.B. Notzucht, begangen worden waren 242 . In seinen Nachkriegsaufzeichnungen schrieb Erich Lattmann hierzu: „In den Durchführungsbestimmungen bei Weitergabe des Erlasses hat Generaloberst von Brauchitsch angeordnet, daß nicht straflos bleiben sollten solche Taten, die Totschlag, Raub, Diebstahl, Betrug u.a. beträfen. Diese Einschränkung war praktisch notwendig, weil sonst schwere Untaten, die straflos blieben, ein Anreiz zu späteren Disziplinlosigkeiten hätten sein können." 243 Tatsächlich fanden auch nach dem 4. Oktober 1939 Kriegsgerichtsverfahren zur strafrechtlichen Ahndung von Rechtsverletzungen durch Angehörige der deutschen Streitkräfte statt. Dennoch konnte von Brauchitschs ' Richtlinie nicht verhindern, daß Hiders Gnadenerlaß zusätzlich eine weitere Rechtsunsicherheit innerhalb des ohnehin fragilen Rechtssystems der Wehrmacht erzeugte. Die Einberufung eines Feldkriegsgerichts hing damit noch mehr von subjektiven Faktoren ab. Zudem darf nicht übersehen werden, daß 24" Vgl Gnadenerlaß des Führers und Reichskanzlers v o m 4. Oktober 1 9 3 9 , in: Martin Moll (Hrsg.), „Führer-Erlasse" 1 9 3 9 - 1 9 4 5 . Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, v o n Hider während des Zweiten Weltkrieges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung, Stuttgart 1 9 9 7 , S. 100. In Abschnitt II legte der Kriegsgerichtsbarkeitserlaß in Art. 1 fest: „Für Handlungen, die Angehörige der W e h r m a c h t und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist." Siehe: Erlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet „Barbarossa" und über besondere Maßnahmen der Truppe, in: Hans-Adolf Jacobsen, Kommissarbefehl und Massenexekutionen sowjetischer Kriegsgefangener, in: Anatomie des SS-Staates. Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, München 1 9 9 4 (6. Aufl.), S. 4 9 5 (Dokument Nr. 8). 241

Vgl. Krausnick, Wilhelm, Truppe, S. 82. Auch hierin korrespondierte der Kriegsgerichtsbarkeitserlaß insoweit, als er den Verfolgungszwang bei Straftaten aufheben ließ, ihn aber nicht ausdrücklich verboten hatte. 2 4 3 Lattmann, Erinnerungen, Bl. 7. 242

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht

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Brauchitsch, und im Nachgang Erich Lattmann, sich jedweder völkerrechtlichen Argumentation enthielten. Strafverfahren gegen Angehörige des Volksdeutschen Selbstschutzes Nach Völkerrecht war die Wehrmacht für alle Handlungen im Operations- und Besatzungsgebiet verantwortlich. Einer rechtskonformen Kriegführung standen jedoch die traditionelle Auslegung des Kriegsrechts, die organisatorische Verselbständigung der SS-Verfügungstruppen und Polizeiverbände sowie die Zielsetzungen der obersten Führung des Reiches entgegen. Der hieraus erwachsende Gegensatz der Normen erzeugte rechtsfreie Räume, die Ausschreitungen durch Angehörige der deutschen „Streitkräfte" geradezu provozierten. Rechtswidrige Befehle senkten Hemmschwellen und lösten eigenmächtige Aktionen aus, welche Messerschmidt unter dem Begriff des „undisziplinierten Mordens" faßt 244 . Die Grenzen zwischen „Gewolltem" und „Nichtgewolltem" verwischten sich zusehends. Die Beschränkung der Heeresgerichte in ihrem Wirkungsbereich, wie z.B. in der Freischärlerfrage, machte in bestimmten Fällen die Truppe zu Richtern in eigener Sache. Eine Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Befehlen und Maßnahmen war aber für die wenigsten Soldaten angesichts chaotischer Rechtsverhältnisse möglich. Eine Verschärfung des hier skizzierten Ausnahmezustandes bildeten die Aktionen des sogenannten „Volksdeutschen Selbstschutzes", der von Polen als „Deutsche fünfte Kolonne" bezeichnet worden war 245 . Als Reaktion auf die hochstilisierten Greueltaten polnischer Organe gegen die deutsche Minderheit wurde dieser „Heimwehrverband" vermutlich am 8. September von Heinrich Himmler ins Leben gerufen. Eine entscheidende Unterstützung fand Himmler hierbei in seinem 1. Adjutanten, dem späteren Selbstschutz-Führer in Westpreußen, Ludolf von Alvensleben. Organisatorisch dem Hauptamt Ordnungspolizei von Kurt Daluege zugeteilt, sollte die Miliz der Volksdeutschen sich in erster Linie an „volkstumspolitischen" Maßnahmen unter Führung der SS beteiligen. Versehen mit einer weißen Armbinde und dem schwarzen Farbaufdruck „Selbstschutz" sowie mit polnischen Beutewaffen ausgestattet sollten seine Mitglieder als eigenständige Organisation kenntlich sein 246 . Damit waren für die Angehörigen des Volksdeutschen Selbstschutzes zunächst wie bei den SS-Verfügungstruppen die vier Legalbedingungen des Art. 1 HLKO konstitutiv wirksam, um den Status des Kombattanten sichern zu können. Bei genauerem Hinsehen allerdings erwies sich ihre rechtliche Einordnung schon von Beginn an als problematisch, waren doch die Mitglieder des Selbstschutzes polnische Staatsbürger. Ihre Formationen erinnerten damit unweigerlich an jene des Sudetendeutschen Freikorps aus dem Jahre 1938. Neutral formuliert, handelte es sich bei der Zusammenstellung des Volksdeutschen Selbstschutzes um eine Anwerbung von Freiwilligen aus dem gegnerischen Staate. Die Haager Landkriegsordnung, die sich auch mit dem Gesamtkomplex der Aufnahme von Ausländern für den Kriegsdienst befaßt hatte, blieb jedoch in dem Vgl. Messerschmidt, Wüllner, Wehrmachtjustiz, S. 214. Die Republik Polen, Bl. 5. 246 Ygi Christian Jansen, Arno Weckbecker, Eine Miliz im „Weltanschauungskrieg": der „Volksdeutsche Selbstschutz" in Polen 1939/40, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz, München, Zürich 1989, S. 486f. 244

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hier interessierenden Punkt zu ungenau. So legte Art. 23 HLKO fest: „Den Kriegführenden ist ebenfalls untersagt, Angehörige der Gegenpartei zur Teilnahme an den Kriegsunternehmungen gegen ihr Land zu zwingen; dies gilt auch für den Fall, daß sie vor Ausbruch des Krieges angeworben waren." 247 In diesem Zusammenhang stand in Art. 44 HLKO das Verbot, die Bevölkerung eines besetzten Gebietes zu zwingen, „Auskünfte über das Heer des anderen Kriegfuhrenden oder über dessen Verteidigungsmittel zu geben" 248 . Enthielt Art. 23 HLKO nun eine Lücke im Hinblick auf eine freiwillige Kampfteilnahme auf Seiten der feindlichen Kriegspartei? Die offenbar gegebene Möglichkeit der Anwerbung vor Kriegsausbruch sowie während eines Krieges konnte bereits den ersten Stolperstein für den Rechtsstatus des Volksdeutschen Selbstschutzes darstellen. Denn seit dem Frühjahr 1939 hatte über die NSDAP-Auslandsorganisation eine rege Infiltrationstätigkeit unter den Volkdeutschen in Polen eingesetzt, welche den Loyalitätsbruch gegen den polnischen Staat zum Ziel hatte249. Die hektischen Maßnahmen der polnischen Exekutive im Vorfeld und im Verlauf des Krieges waren damit initiiert, Ausschreitungen gegen die deutsche Minderheit wurden von der deutschen Regierung billigend in Kauf genommen, um den erhofften Ausnahmezustand schnellstens Realität werden zu lassen. Zudem nahmen unmittelbar vor Kriegsbeginn Angehörige der Volksdeutschen an Spezialunternehmen teil, welche vom Amt Abwehr im OKW geleitet worden waren250. Unverkennbar war die Volksdeutsche Miliz ein Produkt der nationalsozialistischen Weltanschauung, welche die Beseitigung des polnischen Staates anstrebte und damit die letzten territorialen Festsetzungen des Versailler Vertrages endgültig beiseite zu schieben trachtete. Derartige Manöver ließen sich wohl kaum mit den Bestimmungen des Art. 23 HLKO in Einklang bringen. Die allgemeine Rechtsproblematik solcher Freiwilligen-Verbände fand auch in der Völkerrechtsliteratur keine befriedigende Lösung. So schrieb beispielsweise Karl Strupp im Jahre 1914 hierüber: „Nicht geregelt ist die Frage, ob ein Staat zwar nicht durch Zwang, wohl aber durch Aufreizung die Angehörigen des feindlichen Staates dazu bringen darf, für ihr Vaterland nicht mehr zu kämpfen oder gar gegen dasselbe die Waffen zu ergreifen. Man wird in beiden Fällen, (...), gleichmäßig zu dem Ergebnis gelangen müssen, daß zwar rechtlich keine Schranke zu solchem Tun besteht, daß sie aber gleichwohl nicht in vollem Einklang mit dem steht, was man als ,guten' Krieg zu bezeichnen pflegt und daher besser zu unterlassen ist."251 Schärfer faßte 1942 Alfons Waltzog die rechtliche Situation von Angeworbenen auf, wobei er vor allem französische Freiwillige in den Diensten der britischen Armee im Auge hatte und daher die Angehörigen des Volksdeutschen Selbstschutzes mit keinem Wort erwähnte: „Nicht unbestritten ist die Frage, ob unter Teilnahme an den KriegsRGBl. 1910, S. 141 f. « 8 Vgl. RGBl. 1910, S. 147. 2-w Vgl. Jansen, Weckbecker, Miliz, S. 483f. 2511 Für diese Einsätze war u.a. der „Kampfverband Ebbinghaus" bereitgestellt worden, der etwa 500 Mann stark, den Auftrag hatte, Industrie- und Verkehrsanlagen in PolnischOberschlesien vor der Zerstörung zu sichern. Die einzelnen Verbände operierten in Zivil und waren größtenteils aus Ortsansässigen rekrutiert worden. Vgl. Dietrich F. Witzel, K o m m a n d o verbände der Abwehr II im Zweiten Weltkrieg., Militärgeschichtliches Beiheft zur Europäischen Wehrkunde, Oktober 1990, S. 4f. 251 Karl Strupp, Das Internationale Landkriegsrecht, Frankfurt a.M. 1914, S. 71.

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Unternehmungen auch die Inanspruchnahme der Landeseinwohner als Wegführer fallt. Nach deutschem Strafrecht würde sich der Wegführer zumindest objektiv eines Kriegsverrats [!] schuldig machen. (...) Das Verbot, Angehörige der Gegenpartei zur Teilnahme an den Kriegsunternehmungen gegen ihr Land zu zwingen, erstreckt sich auch auf den Fall, daß der Betreffende schon v o r Kriegsausbruch in die Wehrmacht des Feindstaates eingetreten ist. (...) Erbieten sie sich freiwillig dazu, z.B. politische Emigranten, so ist der Feindstaat nicht daran gehindert, ihre Dienste anzunehmen. Sie selbst machen sich meist nach der Gesetzgebung ihres Heimatstaates schwer strafbar und können deswegen zur Verantwortung gezogen werden, falls sie in die Hände des Heimatstaates fallen." 252 Die Frage, ob nach objektiven Gesichtspunkten des Völkerrechts die Anwerbung v o n Freiwilligen des Feindstaates, d.h. die Anwerbung v o n Soldaten oder v o n Zivilisten, während eines Krieges statthaft war, wurde v o n Waltzog nicht beantwortet. Vielmehr folgte er der deutschen Maßgabe, wie sie im deutsch-französischen Waffenstillstandsvertrag v o m 22. Juni 1 9 4 0 in Art. 10 Abs. 3 niedergelegt worden war. Danach galten Franzosen in der britischen Armee als Freischärler 253 . Vergleicht man die deutsche Haltung gegenüber den zivilen Verteidigern in Warschau oder später auf Kreta, so wird deutlich, daß in dem Gründungsakt des Volksdeutschen Selbstschutzes eine höchst einseitige, v o n völkischen Grundsätzen getragene, Rechtsauffassung zum Zuge kam. Wie bereits in den Aktionen des SudetenWaltzog, Landkriegsfiihrung, S. 45. Art. 10 Abs. 3 des deutsch-französischen Waffenstillstandsvertrages lautete: „Die französische Regierung wird französischen Staatsangehörigen verbieten, im Dienst von Staaten, mit denen sich das Deutsche Reich noch im Kriege befindet, gegen dieses zu kämpfen. Französische Staatsangehörige, die dem zuwiderhandeln, werden von den deutschen Truppen als Freischärler behandelt werden." Siehe: Oberkommando der Wehrmacht, WFA/Abt.L (IVa), 00423/40 g.Kdos., F.H.Qu., den 23. 6. 40, Deutsch-französischer Waffenstillstandsvertrag, in: BA-MA, RW 34/39, Bl. 18. Dem Einspruch deutscher Juristen, wie z.B. FreytaghLoringhovens, gegen diesen Artikel, wonach gemäß der „geltenden individualistischen Auffassung [!]" es dem einzelnen Staatsangehörigen gestattet sein müsse, „sein Schicksal von dem seines Staates zu trennen", parierte Waltzog mit dem Argument, daß der Waffenstillstandsvertrag partikulares Völkerrecht beschreibe und der betreffende Artikel in das französische Strafrecht übernommen worden sei. Der Franzose, der nach dem 22. Juni in der britischen Armee weiterkämpfe, verletze daher, so Waltzog, nicht das allgemeine Völkerrecht und gelte im Sinne des Art. 1 HLKO als Kombattant, wohl aber verletze er französische Gesetze. Vgl. Waltzog, Freischärlerei, S. 447^-49. Waltzogs findige Beweisführung zur Legitimation einer fragwürdigen Vertragsbestimmung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der vorliegenden Rechtsfrage ein und derselbe Gedanke zum Vorschein kam, wie er sich bereits im Falle der polnischen Versprengten im Hinterland der deutschen Truppen gezeigt hatte: eine extreme Auslegung des Landesverrats. Diese Haltung gründete in dem Faktum der militärischen Besetzung von Teilen eines Landes oder des gesamten Landes. Sie kam nicht nur während des Polenfeldzuges zum Tragen, sondern auch während des Westfeldzuges. So berichtete in seinen Nachkriegsaufzeichnungen Prof. Wilhelm Wengler, Nachfolger von Prof. Ernst Schmitz in der Völkerrechtsgruppe der Abteilung Ausland im OKW: „Schon nach der belgischen Kapitulation kam aber in Deutschland der Gedanke auf, die Angehörigen der wenigen belgischen Einheiten, die mit der französischen Armee verschlagen worden waren, als Nichtkombattanten anzusehen und demgemäß standrechtlich zu erschießen, wenn sie in deutsche Hand fielen." Siehe: Wilhelm Wengler, Erinnerungen, in: Ger van Roon (Hrsg.), Helmuth James Graf von Moltke. Völkerrecht im Dienste der Menschen. Dokumente, Berlin 1986, S. 321. 252

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deutschen Freikorps zu beobachten war, wurde auch hier in ähnlicher Weise Art. 2 HLKO, besonders im Hinblick auf die deutschen Rechtsvorstellungen, auf den Kopf gestellt: Die Volksdeutsche „Heimwehr" verteidigte sich gegen die Angriffe des polnischen Staates. Läßt man die ideologische Intention hinter den genannten Verbänden einmal außeracht, so unterlag der Volksdeutsche Selbstschutz einer rechtlichen Grauzone, wie umgekehrt die polnischen Zivilverteidiger in Warschau. Die deutsche Rechtsinterpretation marschierte allerdings in den beiden Fällen in entgegengesetzte Richtungen. Nach objektiven Kriterien mußte folglich den Angehörigen des Selbstschutzes erst recht daran gelegen sein, das Kriegsrecht im Sinne der vierten Legalbedingung in Art. 1 HLKO einzuhalten. Die Einsätze der etwa 100.000 Mann starken Miliz254 arteten jedoch zusehends in wilde, eigenmächtige Aktionen aus. Weitgehend autonom führte sie Massenexekutionen durch, tötete Juden, Priester und Geisteskranke. Unter dem Deckmantel des Kriegszustandes nutzten zahlreich Mitglieder des Selbstschutzes die Gelegenheit zu persönlichen Racheakten an ihren polnischen Nachbarn. Kreisführer der Volksdeutschen Miliz maßten sich das Recht an, Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren anzuordnen 255 . Selbst Hans Frank kam nicht umhin, den Selbstschutz als „Mordbande des SS- und Polizeiführers" zu bezeichnen 256 . Anders als im Falle der SS- und Polizeiverbände war die Haltung der Wehrmacht gegenüber dem Volksdeutschen Selbstschutz eher von grundsätzlicher Ablehnung gekennzeichnet. Zwar stellten die Militärbefehlshaber Ausbildungspersonal für die Miliz zur Verfugung, doch geschah dies in dem Bestreben die neugeschaffene Organisation unter weitest möglicher Kontrolle zu bringen. So drängten die Oberbefehlshaber darauf, daß die Volksdeutschen einen von einer militärischen Dienststelle ausgegebenen Ausweis erhielten, der ihnen das Waffentragen erst erlauben sollte257. Der Verselbständigung jener Kräfte konnte die Wehrmacht jedoch auch hier nichts entgegensetzen. Der grundlegende Konflikt zwischen Militärischem und Zivilem, der von Beginn des Krieges an die Wehrmacht in ihren eigenen Kompetenzen bedrohte, hatte ein weiteres Austragungsfeld erhalten. Die Armee begnügte sich daher, sich auf die bekannte „Aufgabenteilung" zurückzuziehen, und wies ihre Truppen an, „in die Unternehmungen des Selbstschutzes (...) nicht einzugreifen" 258 . Damit verletzte sie gleichwohl ihre aus der Haager Landkriegsordnung obliegenden Pflichten, die sie als Inhaber der vollziehenden Gewalt zu achten hatte. Während es gelegentlich sogar zur „Zusammenarbeit" zwischen Wehrmacht und Selbstschutz kam, suchten die Militärs zugleich die selbstherrlich angemaßten Befugnisse der Selbstschutzführer zu beschränken. Von Alvensleben untersagte deshalb Anfang Oktober eigenmächtige Exekutionen und behielt sich fortan vor, allein über das Schicksal festgenommener Personen zu entscheiden 259 . Die Klagen über zahllose Ubergriffe, unter denen auch die Volksdeutschen zu leiden hatten, wie Plün-

254 Vgl. Jensen, Weckbecker, Miliz, S. 482 und S. 487f. 255 VgL Umbreit, Militärverwaltungen, S. 179. 256 Vgl. Broszat, Polenpolitik, S. 61 f. Anm. 5. 257 Vgl Umbreit, Militärverwaltungen, S. 178f. 258 Vgl. Jensen, Weckbecker, Miliz, S. 494. 259 Vgl. ebd., S. 491.

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derungen, Vergewaltigungen, Bereicherung im Dienst, u.ä. sollten indes die Auflösung des Selbstschutzes beschleunigen. Seit November 1939 wurde die Miliz schrittweise in die allgemeine SS überführt. Im Sommer 1940 war der Auflösungsprozeß endgültig abgeschlossen. Das Ausmaß der Ausschreitungen durch die Angehörigen des Volksdeutschen Selbstschutzes überstieg offensichtlich auch das Fassungsvermögen der SS. Nicht anders läßt es sich erklären, daß Anzeigen gegen Selbstschutzmitglieder an die Staatsanwaltschaften bei den Land- und Sondergerichten der inzwischen annektierten westpolnischen Gebiete gelangten. Zudem gab die Wehrmacht Verfahren an die Sondergerichte ab 260 . Diese zivilen „Schnellgerichte", welche der Staatssekretär im Reichsjustizministerium, Roland Freisler, als „Panzertruppe" der Rechtspflege bezeichnet hatte 261 , verhandelten in erster und letzter Instanz. Rechtsmittel gegen ihre Urteile waren dem Angeklagten nicht gestattet. Neben dem Volksgerichtshof waren sie das exponierte Instrumentarium einer gelenkten Justiz und damit Institution des Maßnahmenstaates 262 . Waren Verfahren v o r diesen Gerichten ursprünglich zur „Gegnerbekämpfung" im Reichsinnern gedacht, so bildeten diese in den militärisch besetzten bzw. annektierten Gebieten insofern ein Novum, als sie nun auch vor dem Hintergrund des Völkerrechts betrachtet werden mußten. Stellte das Sondergericht nach Völkerrecht per se eine sehr fragwürdige Einrichtung dar, galt es darüber hinaus Rechtsgehalt und Rechtsargumentation seiner Urteile gegen Mitglieder des Volksdeutschen Selbstschutzes zu überprüfen. Denn in diesen Verfahren wurden Richter und Staatsanwalt mit den Auswirkungen nationalsozialistischer Außenpolitik konfrontiert. So verhandelte das Sondergericht I

Nach § 3 Abs. 2 KStVO besaßen die Gerichtsherren das Recht, Strafverfahren an die „allgemeinen Gerichte im rückwärtigen Armeegebiet" abzugeben. Gemäß § 3 Abs. 3 KStVO konnten sie auch bestimmen, zu welchem Zeitpunkt die Zuständigkeit der Militärgerichte erlöschen und auf die allgemeinen Gerichte übergehen sollte. Vgl. RGBl. I. 1939, S. 1458. Nach dem bereits erwähnten Bericht des Gerichts des III. Armee-Korps wurde für Bromberg im Einvernehmen mit dem Staatssekretär im Reichsjustizministerium, Roland Freisler, „die Zusammenarbeit der Kriegsgerichte und des Sondergerichts" auf der Grundlage geregelt, daß die Kriegsgerichte „in erster Linie für die Verfolgung der Verbrechen an Volksdeutschen vor Einrücken der deutschen Truppen zuständig" sein sollten. Zudem waren die Heeresgerichte berechtigt, „ihre Akten zur Weiterverfolgung an die Sondergerichte abzugeben." Über die Verfahrenspraxis in Bromberg gab das Gericht weiter an: „Die Kriegsgerichte fällten nur einige Urteile, darunter ein doppeltes Todesurteil gegen den Landarbeiter Matecki wegen gemeinschaftlichen Mordes in 2 Fällen und mit 15 Jahren Zuchthaus wegen gemeinschaftlichen versuchten Mordes in 6 Fällen. Die grundsätzliche Abgabe von Sachen an das Sondergericht erfolgte auch aus dem Grunde, weil die zu erwartenden Todesurteile (...) im Interesse des Rechtsfriedens und der Abschreckung möglichst umgehend vollstreckt werden sollten. Das war aber wegen des Begutachtungs-, Bestätigungs- und Vollstreckbarkeitserklärungszwanges bei den kriegsgerichtlichen Urteilen erst nach mehreren Tagen möglich, während die Urteile des Sondergerichts noch am Tage ihrer Verkündigung vollstreckt werden konnten." Siehe: Gericht, Generalkommando III, 8. April 1941, Bl. 2f. 261 Vgl. Ralph Angermund, Deutsche Richterschaft 1919-1945, Frankfurt a.M. 1990, S. 201. 262 Zu den Sondergerichten im Dritten Reich siehe vor allem: Peter Hüttenberger, Heimtückefälle vor dem Sondergericht München 1933-1939, in: Martin Broszat, Elke Fröhlich, Anton Großmann (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, Bd. IV. Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Teil C, München 1981, S. 435-526. 260

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Posen am 23. Juli 1940 unter dem Vorsitz des Oberlandesgerichtsrats Dr. Unterhinninghofen über den Fall des Landrats von Hohensalza, Otto Christian von Hirschfeld, der von der 5. Panzer-Division (14. Armee) übernommen worden war 263 . Hirschfeld war angeklagt worden, am 22. Oktober 1939 im Gerichtsgefángnis von Hohensalza 56 polnische „Häftlinge" ermordet zu haben. Der Hergang des Verbrechens legte in bedeutender Weise den Zusammenbruch rechtsstaatlicher Strukturen dar, ausgelöst durch rechtswidrige Befehle und der Dualität zwischen Wehrmacht und SS. Denn nach Einlassung des Angeklagten standen die Namen der von ihm exekutierten Personen auf einer Liste, welche „Todesurteile" gegen insgesamt 65 polnische Zivilisten enthalten hatte und vom Reichsführer-SS genehmigt worden war. Diese Urteile waren allerdings nicht durch rechtmäßige Gerichtsverfahren erlangt worden, sondern auf rein administrativem Wege. Namenslisten verhafteter Polen wurden in der Regel dem Selbstschutzführer von Alvensleben zugeleitet, der hinter jedem einzelnen Namen in einer eigenen Spalte seine Entscheidung niedergelegt hatte: „Ein Kreuz oder die Anfangsbuchstaben eines Namens bedeuteten die Erschießung, die Buchstaben K.Z. Konzentrationslager und die Abkürzung End. bedeutete Freilassung. Die Vollstreckung der Todesurteile erfolgte durch den Sicherheitsdienst (SD), (...), anfangs auch durch die Wehrmacht." 264 Das Gericht sah sich einem „Verfahren" ausgesetzt, welches nicht nur abseits jeglicher Normen des Völkerrechts gelegen hatte, sondern auch eindeutig deutschem Recht (KStVO, KSSVO) widersprach. Die Strafkammer des Sondergerichts nahm die vorgetragenen Sachverhalte aber keineswegs zum Anlaß, grundlegend über die Rechtmäßigkeit der ausgeübten Praxis der Urteilsfindung von Selbstschutz und SS zu befinden. Im Gegenteil qualifizierte es diese als „durchaus geordnete Verfahren" 265 . Für die Richter bildete der „Stein des Anstoßes" die Frage Legitimation. Denn nach ihrer Auffassung besaß von Hirschfeld keine Befugnis zur Vornahme von Exekutionen. Darüber hinaus „verletzte" er Verfahrensrichdinien dadurch, daß er inhaftierte Personen erschossen hatte, deren Namen nicht auf der von Himmler genehmigten Liste gestanden hatten. Den willkürlich gesetzten Regeln des Selbstschutzes war von Hirschfeld demnach durch eigene private Willkür entgegengetreten. Die objektiv vorgefundenen Rechtsverhältnisse sowie deren Interpretation durch das Sondergericht trieben jedwede Rechtsanwendung ad absurdum. Der Begriff „Ausnahmezustand" wird hier in seiner absoluten Tragweite deutlich: „Auf Grund der Beweisaufnahme (...) ist das Gericht (...) zu der Feststellung gelangt, daß dieser (von Hirschfeld; Anm. d. Verfassers) zur Durchführung der Aktion weder berechtigt war, noch sich dazu berechtigt fühlen konnte, und er selbst auch nicht an die Rechtmäßigkeit seines Handelns geglaubt hatte. (...). Das Gericht, dem die überaus schwierigen Verhältnisse in den ersten Monaten nach der militärischen Besetzung wohl bekannt sind, verkennt nicht, daß aus einem gewissen Reichsnotstand [!] heraus, damals Maßnahmen als notwendig erachtet werden mußten, deren Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit nicht nach allgemeinen strafrechtlichen Grundbegriffen gemessen werden kann, sondern die ihre Rechtfertigung in der Notwendigkeit der Durchführung des vom Führer gesteckten Zieles für die nicht nur äußere, sondern 263 264 265

Vgl. Sond. Is. 9 2 / 4 0 , Bl. 17, in: Fb 64, IfZ. Zitiert aus: ebd., Bl. 6. Vgl. ebd., Bl. 6.

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auch innere Wiedergewinnung alten deutschen Bodens findet. Darunter würden zwar auch standrechtliche Verfahren des Landrats in der damaligen Zeit unter bestimmten Voraussetzungen fallen können, keinesfalls aber ist dadurch irgendeiner Willkür Tür und Tor geöffnet. Reinste Willkür aber war es, wenn der Angeklagte von Hirschfeld außerhalb der Liste wahllos Häftlinge erschoß oder erschießen ließ, ohne im Wege einer die Bezeichnung standrechtliche Verfahren' verdienende Nachprüfung [!] sich von der Schuld dieser Häftlinge zu überzeugen." 266 Spielte das Gericht etwa die „Regeln" des Ausnahmezustandes mit? Anders gewendet: Eröffnete es durch Zubilligung des „Reichsnotstandes" die Grundlage zur Verurteilung des Angeklagten von Hirschfeld? Es ist durchaus denkbar, daß die Anerkennung des rechdosen Krieges, welcher grundlegende Strafnormen außer Kraft setzte, zumindest den Rückgriff auf „Substitute", wie z.B. die Frage der Befugnis, ermöglichte, gleichsam unter Umkehrung des Analogieverbotes von 1935. Denn das Sondergericht verurteilte schließlich Otto von Hirschfeld zu 15 Jahren Gefängnis wegen Totschlags in 56 Fällen. Doch ähnlich wie im Falle des SS-Sturmmannes Ernst sind auch im vorliegenden erhebliche Zweifel angebracht. In seiner Begründung des erkannten Strafmaßes führte das Gericht gleichfalls die „innere Tatseite" des Angeklagten an und bescheinigte ihm, „nicht aus verbrecherischer Neigung wahllos Menschen" getötet zu haben. Hirschfeld habe vielmehr „aus einer durchaus verständlichen Erbitterung über die zahllosen Greueltaten der Polen heraus", den Entschluß gefaßt, „kriminell und politisch [!] mehr oder weniger belastete polnische Häftlinge zu töten" 267 . Das Sondergericht I Posen beurteilte eine Straftat, die kein Einzelfall geblieben war und ihrerseits eingebettet war in einem kriminellen Umfeld, hervorgerufen durch eine bewußt vorangetriebene Ausschaltung des Rechts. Diese wurde durch verschiedene Akteure, Wehrmacht, SS, Partei, durch unterschiedliche Intentionen in unterschiedlicher Intensität verursacht. Der Pflicht zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung gemäß Art. 43 H L K O konnte allein infolge der annexionistischen und völkischen Bestrebungen in Polen auch die Wehrmacht nicht mehr nachkommen. Diesem Faktum trug ebenfalls das Gericht in seiner Einschätzung der Straftat Hirschfelds Rechnung indem es anmerkte: „Das deutsche Gericht in den wiedergewonnen Ostgebieten ist gewiß nicht dazu da, dem Polentum etwa einen besonderen Rechtsschutz zu verleihen. Es ist zur Bewältigung der Aufgaben im Gebiet des zurückerworbenen deutschen Ostens vielfach notwendig, daß gegen die Polen scharf durchgegriffen wird, (.,.)." 268 Der Fall Hirschfeld machte deutlich, daß rechtswidrige Befehle nicht geeignet sind, eine „andere" Ordnung zu etablieren, sondern Motor sind einer Spirale der Gewalt und der Rechtlosigkeit. Auf die „undisziplinierten Morde" antwortete das Gericht mit einem Strafurteil wegen Todschlags. Die objektive Rechts situation hatte es damit nicht erfaßt. Ebenso wie das Feldkriegsgericht des Panzer-Verbandes Kempf verurteilte das Sondergericht eine Straftat, die in der Kriminologie unter dem Begriff der „Makroverbrechen" subsumiert wird. Darunter werden Taten verstanden, für die nicht „Abweichung", sondern Anpassung, Konformität und eine situations266 Zitiert aus: Sond. Is. 92/40, Bl. 20f. 267 Vgl. ebd., Bl. 25. 268 Zitiert aus: ebd., Bl. 26.

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adäquate, das Verhalten vieler bestimmende „Normalität" charakteristisch sind. Ihnen liegen primär Rahmenbedingungen zugrunde, welche eine „staatlich-gesellschaftliche Ausnahmesituation" zur Voraussetzung haben 269 . Im Laufe des Krieges hatten die Wehrmachtgerichte immer wieder über Straftaten zu befinden, welche außerhalb gegebener Befehle „auf eigene Faust" verübt worden waren. Dabei griffen sie bei Mordfällen bisweilen nicht mehr auf den Straftatbestand des Totschlags zurück, sondern auf den Tatbestand der „Amtsanmaßung", welcher in § 120 MStGB 2 7 0 und § 132 RStGB 2 7 1 niedergelegt war und durch die „Verordnung zur Erweiterung und Verschärfung des strafrechtlichen Schutzes gegen Amtsanmaßung" vom 9. April 1942 2 7 2 eine zusätzliche Präzisierung erfahren sollte. Aus den bisher vorliegenden Dokumenten läßt sich allerdings nicht die Regel ableiten, wonach die Wehrmachtgerichte prinzipiell an die Stelle von Mord bzw. Totschlag den Straftatbestand der Amtsanmaßung setzten 273 , da auch weiterhin Urteile wegen 269 Vg] Herbert Jäger, Makroverbrechen als Gegenstand des Völkerstrafrechts. Kriminalpolitisch-kriminologische Aspekte, in: Gerd Hankel, Gerhard Stuby (Hrsg.), Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen. Zum Völkerstrafrecht 50 Jahre nach den Nürnberger Prozessen, Hamburg 1995, S. 327 und S. 331. 270 Der § 120 MStGB lautete: „Wer sich unbefugt eine Befehlsbefugnis oder eine Strafgewalt anmaßt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft." Siehe: Strafrecht der deutschen Wehrmacht, S. 26. 271 Der § 132 RStGB war dagegen in seiner Definition allgemeiner und entsprechend in seiner Strafandrohung milder gefaßt: „Wer unbefugt sich mit Ausübung eines öffentlichen Amtes befaßt oder eine Handlung vornimmt, welche nur kraft eines öffentlichen Amtes vorgenommen werden darf, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft." Siehe: ebd.: S. 85. η Vgl. RGBl. I. 1942, S. 174. 273 Überliefert sind z.B. die Verfahren gegen Ralf Koppitz und Johann Meisslein. So war laut Haftbefehl des Gerichts der Wehrmachtortskommandantur Riga vom 7. Februar 1942 der Sonderführer der Rüstungsinspektion Osdand, Ralf Koppitz, wegen Verdacht des Raubmordes an 18 Juden in Untersuchungshaft genommen worden. Obwohl sämtliche Gerichtsunterlagen, Zeugenaussagen, Vernehmungsprotokolle des Untersuchungsführers etc., keinen Zweifel darüber ließen, daß Koppitz „mit Überlegung" und „Vorsatz" seine Taten ausgeführt hatte, erging am 20. Februar eine Einstellungsverfügung durch das Gericht. Zur Begründung führte es an: „Das Verfahren wird eingestellt, soweit dem Beschuldigten Mord, Totschlag oder Raub vorgeworfen wurde. (...). Es ist ihm nicht zu widerlegen, daß er die Erschießung nur vorgenommen hat, weil er glaubte, eine vaterländische Tat [!] zu begehen. Der Beschuldigte war daher auch nicht als Totschläger zu verfolgen, weil er bei der Erschießung der Juden nicht die Vorstellung hatte, rechtswidrig zu handeln." Statt dessen erließ der Gerichtsherr eine Strafverfügung, in der Ralf Koppitz wegen Amtsanmaßung nach § 132 RStGB zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Siehe: Untersuchungsakten in der Strafsache gegen Ralf Koppitz, in: BA-ZNS, RH 36-196 G, Bl. 1-43, hier Bl. 27 und Bl. 42f. Im zweiten Fall handelte es sich um ein Urteil des Gerichts der Feldkommandantur 183 Proskurow vom 12. März 1943 unter dem Vorsitz des Kriegsgerichtsrates Dr. Reinlein. Angeklagt wegen Anstiftung zum Mord war der Schachtmeister der Organisation Todt in Proskurow, Johann Meisslein. Eher beiläufig hatte dieser im Sommer 1942 einem Untergebenen den Befehl gegeben, zwei kranke jüdische Frauen zu liquidieren. In der Sprache des Gerichts: „Am 5. 6. 42 waren diese beiden kranken Judenweiber wieder mit dabei. Der Angeklagte sagte zu dem Zeugen T., sie sollten schauen, daß sie die Weiber von der Straße wegbringen und mit ihnen machen, was sie wollten." Zur seiner Straffestsetzung führte das Gericht an: „Der Vorwurf der Anstiftung zum Mord, wie er in der Anklageverfügung

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht 1939/1940

Todschlags ergingen 274 , allein weil die Frage der „Befugnis" nicht immer gegeben war. Gleichwohl aber wird mit den Urteilen gegen den SS-Sturmmann Emst und gegen den Selbstschutzangehörigen Hirschfeld eine Linie in der Argumentation der Gerichte deutlich, wonach der objektive Straftatbestand des Mordes stets abgemildert worden war durch den subjektiven Tatbestand und damit durch die nationalsozialistische Ideologie. Strafverfahren gegen Soldaten der Wehrmacht In der Nacht vom 27. zum 28. September 1939 drangen in Busko drei deutsche Soldaten in das Haus der jüdischen Familie Kaufmann ein. Zwei von ihnen waren Angehörige des Panzerregiments 31, der dritte gehörte als Schütze der Nachschubkompanie 85 an. Sie hatten an das Fenster des Wohnhauses geklopft und einen Schuß abgefeuert. Da aus Furcht niemand öffnete, schlugen sie die Fensterscheibe ein und hakten das Fenster von innen auf. Im Schlafraum der Familie angelangt, schlugen sie mit einem Lederriemen und ihren Pistolen auf das Ehepaar und ihren beiden Kindern ein. Wenig später zerrten sie die 20 jährige Tochter aus ihrem Bett und rissen ihr das Nachthemd vom Leibe. Nacheinander vergewaltigten die drei Soldaten die junge Frau unter Androhung sie zu erschießen. Nach ihrer Tat trieben sie den Familienvater nackt auf die Straße und befahlen ihm, sich in einer Pfütze auf- und niederzulegen. Zuvor hatten sie ihm mit einem Messer den Bart zur Hälfte abgeschnitten. Unter Abfeuern mehrerer Schüsse verließen sie schließlich die Wohnstätte und ihre gepeinigte Familie.

niedergelegt ist, kann auf Grund des obigen Sachverhaltes nicht aufrecht erhalten werden. (...). Die Ausführung von Judenerschießungen ist aber ausschließlich eine Angelegenheit der Polizei und der SS. Keineswegs aber sind OT-Angehörige befugt, hierüber Entschließungen zu fassen." Das Gericht verurteilte daher Meisslein zu drei Monaten Gefängnis wegen Amtsanmaßung gemäß § 132 RStGB. Siehe: Gericht der Kdtr. des Bereichs Proskurow (F.K. 183), St. L. 28/43, in: Kriegsarchiv Prag, Varia SS 124. Für dieses Dokument danke ich Herrn Dr. Dieter Pohl. Siehe auch: Konrad Kwiet, Judenmord als Amtsanmaßung. Das Feldurteil vom 12. März 1943 gegen Johann Meißlein, in: Dachauer Hefte 16 (2000), S. 125-135. 274 So verurteilte beispielsweise das Feldkriegsgericht des Korück 531 unter dem Vorsitz von Kriegsgerichtsrat Dittmann - als Ankläger fungierte Oberstkriegsgerichtsrat Martin Rittau am 29. September 1942 den technischen Kriegsverwaltungs-Inspektor Alwin Gustav Viktor Hugo Weisheit wegen Totschlags und versuchter Notzucht in zwei Fällen zu zwei Jahren Gefängnis. Weisheit hatte Ende Juli 1942 etwa 75 jüdische Zivilisten, nachdem diese ihr eigenes Massengrab geschaufelt hatten, mit einer Maschinenpistole erschossen. Zur Begründung seines Strafurteils führte das Gericht aus: „Aus Mordlust hat der Angeklagte nicht gehandelt, vielmehr hat er sich nur von dem Gedanken leiten lassen, die Juden um deswillen zu beseitigen, um eine zukünftige Gefahr [!], nämlich die Verbindung der Juden mit den in der Nähe befindlichen Partisanen zu verhindern. Somit liegen auch andere niedrige Beweggründe seitens des Angeklagten nicht vor. Er ist auch nicht besonders grausam vorgegangen, denn es kann sich bei einer derartigen Massenerschießung nicht vermeiden lassen, daß Frauen und Kinder weinen und um Gnade flehen." Zu einer Diskussion darüber, ob ein Kriegsverwaltungs-Inspektor selbstherrlich über das Leben von 75 Menschen entschieden konnte, sah sich das Gericht erst gar nicht veranlaßt. Das Gerichtsurteil ist abgedruckt in: Ilse Staff (Hrsg.), Justiz im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M., Hamburg 1964, S. 248-255; hier S. 252.

2. Der Kombattantenstatus

357

Der Ablauf dieses Tatherganges stammte aus einem Bericht der FeldgendamerieAbteilung (mot.) 682 vom 29. September 1939. Die Ermitdungen gegen die drei Täter waren schnell zum Abschluß gebracht, da die Gefaßten der Familie gegenüber gestellt worden waren und diese ihre Tat daraufhin eingestanden hatten. Darüber hinaus ergaben die Vernehmungen, daß die überführten Täter bereits acht Tage zuvor unter Androhung von Gewalt in drei jüdischen Geschäften die Herausgabe des Bargeldes (insges. 9.000 Zloty) erpreßt hatten. Die Gründe, welche die Verhaftung notwendig machten, listete der Verfasser des Berichts, Oberfeldwebel Josef König, gleich zu Beginn auf: „Rassenschande, Notzucht, Raub u.a." 275 Am 2. Oktober 1939 vermerkte die Geheime Feldpolizei 520 bei der Heeresgruppe Süd in einer Aktennotiz, daß der betreffende Bericht an das Kriegsgericht bei der Feldkommandantur in Kielce weitergeleitet worden sei276. Über die weiteren Schritte der aufgenommenen strafrechtlichen Ahndung liegen keine Dokumente vor 277 . Aus dem Bericht der Feldgendamerie können jedoch drei Gesichtspunkte gewonnen werden. Die Straftat war, so darf gemutmaßt werden, auf eine überbordende nationalsozialistische Propaganda und auf die Auswirkungen rechtswidriger Befehle zurückzuführen. Allerdings wurde die Straftat als solche begriffen und die zuständigen Organe leiteten eine Fahndung nach den Tätern ein. Die Verhaftungsgründe wiederum ließen unzweideutig erkennen, daß das nationalsozialistische Strafrecht Eingang in die Wehrmacht gefunden hatte. Der vorliegende Fall legte einen kleinen Ausschnitt frei über die Rechtswirklichkeit, in der sich deutsche Soldaten bewegten, neben Einsatzgruppen und SS, neben Flüchtlingen und Deportierten, Geiseln und Sühnemaßnahmen. Keineswegs ließen sich dieser wie andere Fälle als die üblichen „Zeichen von Nervosität" zu Beginn eines Krieges unter „noch unerprobten Truppen" abtun, wie Mahnstein es tat 278 . Die Befehlshaber waren sich der Schwere und Tragweite solcher Straftaten durchaus bewußt. Denn von Beginn des Krieges an forderten sie in ihren Befehlen die Einhaltung von Disziplin und Manneszucht und die zu ihrer Gewährleistung gebotenen Maßnahmen. Zu den beanstandeten Delikten und Straftaten zählten neben Desertion, Kameradendiebstahl, Wachverfehlung u.ä. auch die völkerrechtlich relevanten Fälle der Notzucht, Plünderung, Mißhandlung von Zivilisten, welche unter die Normen der occupatio bellica fielen. Hinzu kamen Fälle von Mord und Totschlag. Auf Grund der eingegangenen Meldungen sah sich die Abteilung Ic des Heeresgruppenkommandos Süd schon am 8. September veranlaßt, den zahlreichen Rechtsverletzungen durch deutsche Soldaten entgegenzuwirken: „Es ist mir zur Kenntnis gelangt, daß kleinere Truppen oder einzelne Soldaten in den rückwärtigen Gebieten die Zivilbevölkerung unter Androhung des Waffengebrauchs zwingen, ihnen Waren und Werte ohne Bezahlung auszuhändigen. Daneben ist festgestellt, daß teilweise die ~> Vgl. F. Gend.-Abteilung (mot.) 682, Kielce, den 29. September 1939, in: BA-MA, RH 19 1/ 192, Bl. 51 f. und Bl. 55.

2

Vgl. Heeresgruppenkommando Süd, Geh. Feldpolizei 520, Kielce, den 2. 10. 39, in: MA1 1 3 / 6 , IfZ. 2~" Auch in der Studie von Birgit Beck finden sich zum vorliegenden Fall keine Belege. Siehe dazu Kap. V: dies., Wehrmacht und sexuelle Gewalt. Sexualverbrechen vor deutschen Militärgerichten 1 9 3 9 - 1 9 4 5 , Paderborn, München, Wien, Zürich 2004, S. 166-325. 2 " Vgl. Manstein, Verlorene Siege, S. 83. 2 6

358

III Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht

1939/1940

Gefangenen unmenschlich verprügelt werden. Beides ist mit der Ehre der deutschen Wehrmacht und des Einzelnen unvereinbar. Ich bitte, gegen derartige Ausschreitungen mit den schärfsten Mitteln einzuschreiten." 279 Tags zuvor hatte bereits der Kommandierende General des XVII. Armee-Korps (14. Armee), General der Infanterie Kienitz, kategorisch jedes eigenmächtige Requirieren von Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen durch deutsche Soldaten verboten. Dabei erinnerte er daran, daß eine rechtmäßige Beschlagnahme nur durch einen Offizier oder einen Beamten im Offiziersrang vorgenommen werden darf und dem Eigentümer eine Bescheinigung auszustellen ist280. Das Requisitionsverbot erstreckte Kienitz ausdrücklich auch auf jüdischen Besitz. Abschließend verfügte er eindringlich: „Dieser Befehl ist sofort allen Soldaten bekanntzugeben mit dem Hinweis, daß jeder, der dem Befehl zuwiderhandelt, wegen Plünderung vor das Kriegsgericht gestellt wird. (...) Das Ansehen der Wehrmacht erfordert strengste Einhaltung dieses Befehls." 281 Ähnlich lautende Befehle wurden auch von anderen Stellen herausgegeben, so z.B. am 20. September vom Quartiermeister des Militärbefehlshabers von Posen 282 . Keine vier Wochen später sah sich General Alfred von Vollard Bockelberg veranlaßt, persönlich die ihm unterstellten Kommandeure zu ersuchen, auf „schärfste Wahrung von Zucht und Ordnung sowie strengste Aufrechterhaltung der Disziplin" bei den ihnen anvertrauten Truppenverbänden zu sorgen. Es sei mit dem „Ansehen der bewaffneten Macht des Reiches" unvereinbar, wenn „Plünderungen, Sittlichkeitsverbrechen, Roheitsdelikte, Trunkenheit, Anbiederung mit der polnischen Bevölkerung, im besonderen mit der weiblichen," oder andere Verstöße vorkämen 283 . Auch dem Oberbefehlshaber des Heeres bereiteten Disziplinlosigkeiten und Ubergriffe unter den Truppen zunehmend Sorge. So ließ von Brauchitsch in dem bereits erwähnten Befehl vom 24. September verlauten, daß „Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung" mit den „schärfsten Maßnahmen" zu ahnden seien. Zudem sei die „Wegnahme von fremden Eigentum jeder Art" als Plünderung zu bestrafen 284 . Die vorstehenden Befehle vermitteln nachhaltig den Eindruck, daß Disziplinlosigkeiten und Ausschreitungen während des Polenfeldzuges in beträchtlicher Anzahl zu beklagen waren. Die Wahrung der Manneszucht bildet nun aber gerade eine grundlegende Voraussetzung zur Einhaltung des Völkerrechts 285 . Allgemein war das Privateigentum in Art. 46 Abs. 2 HLKO geschützt und Plünderung durch die Heeresgruppenkommando Süd, le /A.O. /39 geh., O.U., den 8. 9. 39, Aufrechterhaltung der Manneszucht, in: MA-113/6, IfZ. 280 Kontributionen waren gemäß Art. 49 und Art. 51 HLKO in beschränktem Umfang erlaubt. Hierzu war die Ausstellung einer „Empfangsbestätigung" erforderlich. 281 Generalkommando XVII. A.K., IIa, K. Gefechtsstand Biertovice, 7. 9. 39, Korpsbefehl, in: MA-113/6, IfZ. 282 „Es wird nochmals darauf hingewiesen, daß allen dem Mil.-Befehlshaber von Posen unterstellten und angegliederten Truppenverbänden, Dienststellen, Behörden, Einheiten usw. jede Beschlagnahme oder jede Entnahme von Gegenständen aus dem Privatbesitz oder aus bewachten Lagern verboten ist." Siehe: Der Militärbefehlshaber von Posen, Quartiermeisterabteilung, Posen, den 20. 9. 1939, in: MA-508, IfZ, Bl. 2. 2 « Vgl. Der Militärbefehlshaber von Posen, Abt. IIa-Nr. 198/39 geh., Posen, den 15. 10. 39, in: MA-508, IfZ. 284 Vgl. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Nr. 362/39 g. Kdos., H.Qu. OKH, den 24. 9. 39. 285 Vgl Christian Meurer, Das Kriegsrecht der Haager Konferenz, München 1907, S. 249. 279

2. Der Kombattantenstatus

359

Art. 28 2 8 6 und Art. 47 H L K O ausdrücklich untersagt. Nach Art. 46 Abs. 1 H L K O waren die „Ehre und die Rechte der Familie" vom Okkupanten zu achten. Hieraus konnte das völkerrechtliche Verbot der Notzucht einwandfrei abgeleitet werden. D e m Art. 47 H L K O entsprach im deutschen Militärstrafgesetzbuch § 129, der Straftatbestand der Notzucht war in § 177 R S t G B verankert 287 . Seit dem 5. Dezember 1939 konnten in Fällen der Vergewaltigung, wenn auch umstritten, auf der Grundlage der Gewaltverbrecherverordnung Strafen ausgesprochen werden, welche generell die Todesstrafe vorsah. Die zahlreichen Befehle über die Wahrung der Manneszucht begründen die Frage, welche Motive sich hinter ihnen verbargen, denn das Wort „Völkerrecht" findet sich an keiner Stelle. Allenfalls erlaubte die Formel „Ansehen der Wehrmacht" einen Bezug zur internationalen Öffentlichkeit herzustellen, die wohl auf die wirkungsvolle „Greuelpropaganda" der Alliierten im Ersten Weltkrieg zurückzuführen gewesen war. Auch muß bedacht werden, daß das deutsche Militärstrafgesetzbuch älter war als die Haager Landkriegsordnung. Das deutsche Plünderungsverbot fußte, sofern völkerrechtliche Belange eine Rolle spielten, dann auf internationalem Gewohnheitsrecht. Eine mögliche Antwort auf diese Frage könnte ein Befehl des Oberbefehlshabers des Heeres vom 13. Oktober 1939 geben, der die Ausbildung des Feldheeres nach Abschluß des Feldzuges gegen Polen zum Gegenstand hatte. Die darin entwickelten neun Richtlinien setzten als Ziel der Ausbildung an erster Stelle den „Einsatz der Truppe im Gefecht". Danach stand die „Erziehung zum K ä m p f e r " absolut im Vordergrund. Die Soldaten waren „zur Härte zu erziehen und auf die hohen Beanspruchungen im Kriege", die aus den modernen Waffensystemen resultierten 288 . In diesem Zusammenhang wurde die Manneszucht als „Grundlage des Sieges" begriffen. Verstöße hiergegen waren umgehend zu ahnden und der Truppe zur Belehrung mitzuteilen 289 . Die Notwendigkeit der Disziplin begründete schließlich General von Vollard Bockelberg in dem Satz, daß „niemals eine Geisteshaltung Platz greifen" darf „wie im November 1918" 2 9 0 . Damit sollen völkerrechtliche Beweggründe keinesfalls aus dem Rechtsbewußtsein der Wehrmacht sofort wegdiskutiert werden. Oberste Priorität besaßen sie für die Wahrung der Manneszucht jedoch nicht 291 . Somit können die beklagten Vorfälle von Art. 28 H L K O lautete: „ E s ist untersagt, Städte oder Ansiedlungen, selbst wenn sie im Sturme genommen sind, der Plünderung preiszugeben." Siehe: RGBl. 1910, S. 143. 287 Vgl. Strafrecht der deutschen Wehrmacht, S. 99. 288 Vgl. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Gen St d H /Ausb. Abt. (Ia), Nr. 400/39g., H.Qu. O K H , den 13. 10. 39, Ausbildung des Feldheeres, Bl. 1, in: MA-508, I£Z. 2 8 9 Vgl. ebd., Bl. 6. 290 Vgl. Der Militärbefehlshaber von Posen, Ia/Ic Nr. 230/39 geh., Posen, den 17. 10. 1939, Geistige Betreuung der Truppe, in: MA-508, IfZ. Siehe dazu auch: Norbert Haase, Wehrmachtangehörige vor dem Kriegsgericht, in: Rolf-Dieter Müller, Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, S. 475f. 291 Am 9. November 1939 gab das Völkerrechtsreferat der Abteilung Ausland im O K W ein Rechtsgutachten über das Requisitionsrecht des Okkupanten heraus, in dem es auf die völkerrechtlichen Zusammenhänge aufmerksam machte. Einleitend stellte es fest, daß „beschlagnahmtes feindliches Staats- und Privateigentum (...) entsprechend den darüber bestehenden völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Vorschriften" zu behandeln ist. Über den Straftatbestand der Plünderung führte das Völkerrechtsreferat u.a. an: „Die Plünderung ist völkerrechtlich verboten. Zur Aufrechterhaltung der Manneszucht ist sie auch strafrechtlich 286

360

III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht 1939/1940

Ausschreitungen einem mangelndem Rechtsbild des Krieges zugeschrieben werden. Dies bedeutet u.a., daß Disziplin und Manneszucht weniger unter dem Begriff des „Rechts" verstanden wurden, sondern eher im Sinne der „Abwehr" nach Kriegsbrauch. Entsprechend fehlten im Unterricht und bei Belehrungen jegliche Hinweise auf völkerrechtliche Verpflichtungen. Wenn die militärische Situation es erlaubte, hielten während des Polenfeldzuges die Kriegsgerichtsräte, wie z.B. beim XXII. Armee-Korps, vor Offizieren und Gerichtsoffizieren aber auch vor Truppenteilen Vorträge über „das Kriegsstrafverfahren, die kriegsgerichtlichen Folgen besonders häufig vorkommender Handlungen wie Fahnenflucht, unerlaubte Entfernung und Zersetzung der Wehrkraft pp. und das Disziplinarstrafrecht" 292 . Für die Unterweisung der Offiziere und Offiziersstelleninhaber konnte der Stab der 73. Infanterie-Division (Heeresgruppe Nord), bedingt durch die anfängliche Reservestellung der Division, noch für geeignete Räumlichkeiten und Unterkünfte der Kursteilnehmer sorgen. Der Unterricht fand nach einem ausgearbeiteten Zeitplan für die jeweils abkommandierten Offiziere unter Leitung eines Kriegsgerichtsrates statt293. Im Oktober 1939 begann der Stab der 73. Infanterie-Division ausgewählte Strafurteile für die Belehrung der Truppe zusammenzustellen. Die Ausgabe der Lehrmaterialien erfolgte abwechselnd durch die Abt. Ia, IIa und III des Kommandostabes. So wies die Division am 15. Oktober anläßlich der bevorstehenden Ablösung der „Vorfeldtruppen" ihre Kommandeure und Kompanie-Chefs eigens darauf hin, daß in den „freigemachten Gebieten Plündern mit dem Tode bestraft wird". So sei bereits in drei Fällen auf Todesstrafe erkannt worden und zwar wegen des Diebstahls von Wein, Lebensmitteln, Radiogeräten, Schreibmaschinen und Wäsche. Darüber hinaus sei die Belegung der von der Bevölkerung geräumten Häusern nur auf ausdrückliche Anordnung des Kompanie-Chefs und mit Genehmigung des Ortskommandanten gestattet. Dabei seien „alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen", um eine „Beschädigung fremden Eigentums" zu verhindern 294 .

mit schweren Strafen bedroht. Vergi. Art. 28 und 47 der HLKO (...)." Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Nr. 9517.39, Ausi. VI., Berlin, den 9. 11. 1939, in: BA-MA, RH 53-6/76, Bl. 155f. Ob das besagte Rechtsgutachten noch für Polen oder bereits für den Westfeldzug gedacht war, läßt sich nicht eindeutig klären. Da Polen jedoch seit dem 26. Oktober unter einer Zivilverwaltung stand, spricht vieles für die letztere Annahme. 292 Vgl. Abteilung III, Tätigkeitsbericht des Gerichts des XXII. A.K. für die Zeit vom 1. 10. 39 bis 5. 3. 40, in: BA-MA, RH 21-1/315, Bl. 1. Das XXII. A.K. stand unter dem Kommando von General Ewald von Kleist. Der Stab wurde Mitte Oktober nach dem Westen verlegt. Am 13. November 1939 gab das OKH einen Erlaß heraus, wonach die Soldaten des Heeres alle zwei Monate nachdrücklich über „die im Kriege geltenden verschärften Strafbestimmungen zu belehren" seien. Vgl. Dedef Garbe, Im Namen des Volkes?! Die rechtlichen Grundlagen der Militärjustiz im NS-Staat und ihre „Bewältigung" nach 1945, in: Fietje Ausländer (Hrsg.), Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, Bremen 1990, S. 106. 293 Vgl. 73. Division, IIa, Div.Stabs-Qu., den 19. 9. 1939, Belehrung über Disziplinarstrafrecht und Kriegssonder-Strafbestimmungen, in: BA-MA, WF-03/9069. 294 Vgl. 73. Division, Ia/39, Div.St.Qu., den 15. 10. 39, Belehrung der Truppe, in: BA-MA, WF-03/9069.

2. Der

Kombattantenstatus

361

Eine Woche später legte der Stab eine Liste mit fünf Gerichtsurteilen vor, die im Unterricht zur Belehrung und Abschreckung der Truppe ausgewertet werden sollten. Unter diesen befanden sich die folgenden zwei auch völkerrechtlich relevanten Fälle: 1.) Ein Oberschütze, der bereits zwei Jahre gedient hatte, hatte trotz Belehrung in zwei Häusern des geräumten Gebiets verschiedene Gebrauchsgegenstände gestohlen, um diese nach Hause zu schicken. Das Feldkriegsgericht der Division verurteilte ihn deshalb wegen Plünderung zum Tode. 2.) Ein Schütze, 26 Jahre alt, hatte in einem noch bewohntem Hause des geräumten Gebiets „eine minderwertige Taschenuhr" entwendet, um diese wieder zu veräußern. Das Urteil des Kriegsgerichts lautete auf zwei Jahre Gefängnis wegen Diebstahls295. Mitte November gab der Stab eine weitere Liste mit fünf Gerichtsurteilen heraus, welche diesmal Betrug, militärischen Diebstahl und „Diebstahl unter Ausnutzung der Kriegsverhältnisse" zum Gegenstand hatten. Die Strafen beliefen sich zwischen sechs Wochen verschärften Arrest und vier Jahre und sechs Monate Zuchthaus296. Die letzte überlieferte Strafverfahrensliste datiert vom 8. Dezember und enthielt vier Gerichtsfalle, darunter „Erregung von Mißvergnügen" und „unerlaubte Entfernung im Felde". Die Taten wurden mit sechs Monaten Gefängnis sowie mit einem Jahr und drei Monaten Gefängnis belegt. Im Hinblick auf das in einem Schwebezustand belassene Rechtsverhältnis zur Zivilbevölkerung war der letzte ausgewählte Fall interessant. Hier war ein Gefreiter mit seinem Fahrzeug unter zu hoher Geschwindigkeit in einer Kurve ins Schleudern geraten, da er einem entgegenkommenden LKW ausweichen mußte. Dabei verletzte er zwei Mädchen tödlich. Das Feldkriegsgericht der 73. Infanterie-Division verurteilte ihn deshalb wegen „fahrlässiger Tötung" und „Übertretung der Reichsstraßenverkehrsordnung" zu einer Gefängnisstrafe von acht Monaten 297 . Die vorgelegten Belehrungsfälle signalisierten unschwer die Konzentration des Stabes auf die „klassischen" Merkmale der Manneszucht, wie Diebstahl, Plünderung, Betrug oder unerlaubte Entfernung. Straftaten wie Mord, Todschlag und Notzucht wurden nicht besprochen. Überhaupt fehlten gänzlich Richtlinien über das Verhalten gegenüber der Zivilbevölkerung oder polnischen Kriegsgefangenen. Belehrungen, welche auf die aus Art. 46 HLKO abzuleitenden „Grundrechte" der Familie abhoben und Themen wie die körperliche Unversehrtheit anschnitten, blieben aus. Dies mochte auf die tatsächlichen Verhältnisse vor Ort zurückzuführen gewesen sein, wenngleich beachtet werden muß, daß bei der Überlieferung der Akten Dokumente abhanden gekommen sein können. Denn aus den Befehlen von Bockelberg oder Brauchitsch wurde ersichtlich, daß die Rechtswirklichkeit zwischen Wehrmacht und Bevölkerung Anlaß zu schwersten Vorwürfen bot und dringend einer einheitlichen Regelung bedurfte. Zusätzliche Anhaltspunkte für die Spruchpraxis der Heeresgerichte bieten die Tätigkeitsberichte der Oberstkriegsgerichtsräte (AOK III) sowie der Kriegsgerichts-

21,5 Vgl. 73. Division, Kommandeur, Abt. Ila/III, Div.Stabs-Qu., 22. 10. 1939, Belehrung der Truppe wegen strafbarer Handlungen, in: BA-MA, W F - 0 3 / 9 0 6 9 . 2 % Vgl. 73. Division, IIa, Div.Stabs-Qu., den 8. 11. 39, Belehrung der Truppe wegen strafbarer Handlungen, in: BA-MA, W F - 0 3 / 9 0 6 9 . 29 Vgl. 73. Division, IIa/111, Div.Stabs-Qu., den 8. 12. 39, Belehrung der Truppe wegen strafbarer Handlungen, in: BA-MA, W F - 0 3 / 9 0 6 9 .

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht

1939/1940

räte der Armee-Korps. Diese fielen allerdings sowohl an Seitenumfang als auch in der thematischen Wiedergabe juristischer Fälle äußerst disparat aus. Die Behandlung einzelner Rechtsfragen hing offenkundig vom Gutdünken des jeweiligen Richters ab, woraus zu schließen ist, daß es anders als bei den „Kriegsgeschäftsnachweisungen" und den „Kriegszählkarten" für die inhaltliche Ausführung der Tätigkeitsberichte keine formalen Richtlinien gegeben hatte. Über den Polenfeldzug wurden die Berichte mitunter erst im Nachhinein angefertigt, wie z.B. der Bericht des III. ArmeeKorps zeigt. Zudem waren die Berichtszeiträume von den Heeresrichtern unterschiedlich angesetzt worden, was u.a. mit der „Kürze" des Krieges gegen Polen und den damit verbundenen Gestellungsbefehlen zu erklären war. Denn am 3. Oktober 1939 wurde in Polen eine Neuregelung der Befehlsverhältnisse in Kraft gesetzt. Der Stab der Heeresgruppe Nord wurde herausgelöst und Generaloberst Gerd von Rundstedt übernahm als „Oberbefehlshaber Ost" zunächst die gesamte Kommandogewalt. In seinem Befehlsbereich verblieben die 3., 8. und 14. Armee sowie die Militärbefehlshaber. Zugleich wurde ein Austausch von Divisionen eingeleitet 298 . Der Umstrukturierungsprozeß der deutschen Streitkräfte im Vorfeld des kommenden Westfeldzuges bewirkte zusätzliche Belastungen für die Geschäftstätigkeit der Kriegsgerichte. Heeresrichter wurden ausgewechselt, Dienstversammlungen abgehalten 299 , Aktenmaterialen gesichtet und entbehrliches Schriftgut vernichtet 300 . Verzögerungen der noch aus Polen anstehenden Gerichtsverfahren mußten zwangsläufig in Kauf genommen werden 301 . 298 Vgl. Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg", S. 132. 299 So ist aus dem Tätigkeitsbericht der Abteilung III der 16. Armee vom 19. Oktober 1940 über die Aufgaben und Verpflichtungen der Heeresrichter während des Umbaus der Streitkräfte u.a. zu entnehmen: „Mit 22. Oktober 1939 wurde das AOK 3 in AOK 16 umbenannt; an demselben Tage wurde das Gericht mit dem Stab des AOK 16 in Orteisburg nach dem Westen verladen. Am 24. 10. 1939 wurde in Bengel ausgeladen und die Ortsunterkunft in Bad Bertrich bezogen. (...). Am 26. 10. 1939 erfolgte die Meldung des Stabes des AOK 16 bei dem neuen Oberbefehlshaber, General der Infanterie Busch. Der bisher als Oberstkriegsgerichtsrat eingesetzte Oberkriegsgerichtsrat Dr. Riemann reiste am 4. 11. 1939 ab, nachdem am Tage vorher der an seiner Stelle eingesetzte Oberkriegsgerichtsrat Dr. Mänder eingetroffen war. Dieser nahm auch am 4. 11. 1939 an einer beim Generalquartiermeister abgehaltenen Besprechung der Oberstkriegsgerichtsräte im Westen teil. (...). Reichskriegsgerichtsrat Dr. Sack, Rechtsarbeiter bei der Heeresgruppe A, besprach am 12. 11. 1939 mit den Richtern der Armee eine Reihe grundsätzlicher Rechtsfragen, insbesondere im Hinblick auf den bevorstehenden Einsatz im Westen." Siehe: A.O.K. 16 - Abt. III, Az. B. 13, Armeehauptquartier, den 19. Okt. 1940, Tätigkeitsbericht, in: BA-MA, RH 20-16/1024, Bl. 4. 300 Die Abteilung III. der 2. Armee berichtete am 21. Oktober 1940: „Während der Unterkunft in Bonn wurde das Schriftgut für kommenden Einsatz gesichtet und Vernichtung von entbehrlichen Geheim - und Geheimen Kommando - Sachen vorgenommen, sonstiges Aktenmaterial an das für das Gericht der 2. Armee zuständige Heimatgericht (...) zur Verwahrung abgegeben. (...). Weglagereife [sie] Gerichtsakten werden ab 1 . 4 . 1 9 4 0 dem Heeresarchiv Potsdam als Zentralstelle aller abgelegten Heeresjustizakten zugeführt." Siehe: Abt. III, A.O.K. 2, 21. 10. 1940, Tätigkeitsbericht, in: BA-MA, RH 20-2/1587, Bl. 1. 301 So wies die Abt. III des XXII. Armee-Korps, welches Mitte Oktober nach dem Westen verlegt worden war, in ihrem Tätigkeitsbericht eigens daraufhin, daß erst im November das Korpsgericht Kenntnis über Straftaten aus der Zeit des Polenfeldzuges erhalten hatte: „Bei den Straftaten, die zur Verurteilung führten, handelt es sich um mil. Diebstahl, fahrl. Tötung, Misshandlung Untergebener, Plünderung, Gehorsamsverweigerung und Volltrunkenheit. Das

2. Der Kombattantenstatus

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Eine klare Identifizierung und Zuordnung der in den Tätigkeitsberichten besprochenen Strafsachen ist hierdurch allerdings nicht mehr möglich, wie im folgendem aus den aufgelisteten Strafurteilen der 4. Armee ersichtlich wird. Denn ihr Berichtszeitraum erstreckte sich vom 26. September 1939 bis 9. Mai 1940. Daher können in den angegebenen Urteilssprüchen auch Straftaten enthalten sein, die sich an der Westgrenze Deutschlands ereignet hatten. Da von einer Abgabe der aus Polen stammenden Strafverfahren in dem Bericht nichts erwähnt wurde, seien die für das Völkerrecht relevanten Urteile aufgeführt. Folgende Todesurteile wurden von den unterstellten Gerichten der 4. Armee ausgesprochen und vom Oberbefehlshaber bestätigt: Vollendete Notzucht u. vers. Notzucht Gemeinschaft! Plünderung u. Fahnenflucht

bestätigt und vollstreckt. bestätigt und vollstreckt.

Folgende Gefängnis- und Zuchthausstrafen wurden von den unterstellten Gerichten der 4. Armee verhängt und vom Oberbefehlshaber bestätigt: Vers. Notzucht Plünderung u. Todschlag Schwerer Raub Plünderung Unzucht mit Kindern in 4 Fällen Fortgesetzte Unzucht mit Kindern Schwerer Diebstahl in 3 Fällen

2 Jahre Gefängnis. 8 Jahre Gefängnis. 10 Jahre Zuchthaus. 8 Jahre Zuchthaus. 8 Jahre Zuchthaus. 6 Jahre Gefängnis 6 Jahre Zuchthaus 302 .

Der 4. Armee gehörten bis Ende Oktober 37 und in den übrigen Monaten des Berichtszeitraumes 26 Feldkriegsgerichte an. Von diesen wurden insgesamt 141 Strafurteile zur Bestätigung dem Gerichtsherrn vorgelegt. Hiervon ließ von Kluge 97 Urteile bestätigen und 44 aufheben. Im selben Zeitraum verhandelte das Gericht der Armee 56 Fälle, durch die insgesamt 83 Angeklagte verurteilt wurden. Von diesen wurden 23 Soldaten wegen Eigentumsdelikten verurteilt, vier wegen Plünderung und nochmals vier wegen Sittlichkeitsverbrechen. Zu den verhängten Strafen machte das Armeegericht keine Angaben 303 . Geht man von der Vollständigkeit der von Oberstkriegsgerichtsrat Dr. Conrad angegebenen Urteile einmal aus, so waren 22 schwere Straftaten in dem Bereich des Völkerrechts anzusiedeln. Bei einer durchschnittlichen Gesamtstärke einer Armee von 250.000 Mann wäre dies eine verschwindend geringe Zahl gewesen. Hält man sich die zahlreichen Klagen und Meldungen der Befehlshaber über mangelnde Disziplin und Ausschreitungen unter den Truppen vor Augen, so wirken die Angaben von Oberstkriegsgerichtsrat Conrad kaum glaubhaft. Doch muß an dieser Ansteigen der Strafsachen ist auf die Unterstellung von zahlreichen Korpstruppen zurückzuführen. Ferner sind begangene Straftaten in Polen erst im November bekanntgeworden und zur Aburteilung gelangt." Siehe: Abteilung III, Tätigkeitsbericht des Gerichts des X X I I . A.K. für die Zeit vom 1. 10. 39 bis 5. 3. 40, Bl. 2. »2 Vgl. 4. Armee, Tätigkeitsbericht der Abt. III, 26. 9. 1939 bis 9. 5. 1940, in: BA-MA, RH 2 0 4/954. 3 0 3 Vgl. ebd.

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Stelle an Hitlers Amnestieerlaß vom 4. Oktober erinnert werden, wodurch eine nicht näher bestimmbare Zahl an Straftaten getilgt worden war304. Darüber hinaus war es schon infolge wechselnder Gestellungen der Divisionen während der Kampfhandlungen zu einer Verzerrung der tatsächlichen Anzahl von Gerichtsverfahren in den Berichten gekommen. So gab Oberstkriegsgerichtsrat Conrad in seinem ersten Tätigkeitsbe- rieht, der den Zeitraum vom 20. August bis 26. September 1939 erfaßte, an, daß „nach den bisher vorgelegten Geschäftsübersichten von 7 Gerichten" nur 13 Urteile gefällt worden waren. Dies lag daran, weil von den übrigen Gerichten auf Grund des „Wechsels der Unterstellung Geschäftsübersichten nicht vorgelegt" worden seien305. Einen zusätzlichen Einblick in die Urteilspraxis der Gerichte gewähren die Statistiken der Wehrmachtrechtsabteilung, die auf der Grundlage der Kriegszählkarten erstellt wurden. Danach verhängten die Feldkriegsgerichte in der Zeit vom 26. August bis 18. November 1939 in 13 Fällen die Todesstrafe wegen Plünderung. Uber weitere fünf Soldaten wurde die Todesstrafe ausgesprochen wegen Selbstverstümmelung oder Mord306, wobei im letzteren Falle nicht gesagt war, ob Polen oder Deutsche ums Leben gekommen waren. In einer zweiten Statistik legte die Wehrmachtrechtsabteilung nur die Anzahl der Verfahren in den jeweiligen Strafsachen vor. Diese basierte auf der Auswertung der Kriegszählkarten, die im Zeitraum zwischen dem 16. Oktober und dem 30. November 1939 eingegangen waren. Hiernach erfolgte der Zusammentritt der Feldkriegsgerichte in 169 Fällen wegen Plündern und Marodieren sowie in 211 Fällen wegen militärischem Diebstahl und Unterschlagung307. Auch für diese Angaben müssen die obigen Anmerkungen berücksichtigt werden. Im Hinblick auf den § 47 Abs. 2 MStGB waren aus dem Tätigkeitsbericht der 4. Armee zwei Strafurteile hervorzuheben, da in einem Falle die Todesstrafe wegen „Widersetzung im Felde" ausgesprochen worden war und im anderen eine Zuchthausstrafe von 5 Jahren wegen „Gehorsamsverweigerung"308. Die Urteile ergingen auf der Grundlage der § 94 MStGB (Gehorsamsverweigerung)309 und § 96 304 f ü r den Befehlsbereich der 12. Infanterie-Division (3. Armee) ermittelte Omer Bartov folgende Zahlen über Strafurteile aus dem Polenfeldzug: Sept.: 17 Strafverfahren, Okt.: 32, Nov.: 63, Dez.: ca. 50, Jan.: ca. 50. Vgl. ders., Hitlers Wehrmacht, S. 100. Die Korrektheit der gemachten Angaben vorausgesetzt, würde dies bedeuten, daß die Zahl von 212 Gerichtsverfahren einer einzigen Division für die Monate September 1939 bis Januar 1940 höher liegt, als die Anzahl der Verfahren der unterstellten Divisionsgerichte der gesamten 4. Armee. 305 Vgl. 4. Armee, Tätigkeitsbericht der Abt. III für die Zeit vom 20. 8. bis 26. 9. 1939. Der erste Bericht enthielt keine Ausführungen bzw. Statistiken über die erkannten Strafurteile. Nicht einmal 1,5 Seiten lang, befaßte sich Conrad hier vor allem mit dem Fall der Danziger Post und den vermeintlichen Greueltaten der Polen gegen die deutsche Minderheit. 306 Vgl Wehrmachtrechtsabteilung, Ubersicht über die durch die Wehrmachtgerichte in der Zeit vom 26. 8. bis zum 18. 11. 1939 zum Tode verurteilten Personen, Bl. 8. 307 Vgl. Wehrmachtrechtsabteilung, Rechtskräftige Verurteilungen nach den in der Zeit vom 16. 10.-30. 11. 39 vorgelegten Kriegszählkarten, in: BA-MA, RW 2/259, Bl. 10. 308 Vgl. 4. Armee, Tätigkeitsbericht der Abt. III, 26. 9. 39 bis 9. 5. 40. 309 ξ 94 MStGB lautete: „Wer den Gehorsam durch Wort oder Tat verweigert oder auf wiederholt erhaltenen Befehl im Ungehorsam beharrt, wird mit geschärftem Arrest nicht unter vierzehn Tagen oder mit Gefängnis oder Festungshaft bestraft. Wird die Tat im Felde begangen, oder liegt ein besonders schwerer Fall vor, so kann auf Todesstrafe oder auf

2. Der

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MStGB (Widersetzung) 310 und brachten unmißverständlich den Willen der Befehlshaber zum Ausdruck, keine Disziplinlosigkeiten und Eigenmächtigkeiten zu tolerieren. Ob es sich in den beiden Fällen um Verweigerung rechtswidriger Befehle handelte, läßt sich nicht klären und darf mit hoher Wahrscheinlichkeit wohl ausgeschlossen werden, da die wenigsten Soldaten über genügend Kenntnisse verfügt haben werden, den inhaltlich umstrittenen § 47 MStGB für ihre Entscheidungen sachgerecht anwenden zu können311. Aus den bisher besprochenen Straffällen darf mit Vorsicht gefolgert werden, daß die Streitkräfte der Wehrmacht bei „herkömmlichen" Straftaten, die in der Regel dem disziplinarischen Bereich zuzuordnen waren, vielfach eine strafrechtliche Verfolgung einleiteten. Unter Einbeziehung der ihnen zugrundeliegenden Intentionen ließe sich sagen, die Wehrmacht beachtete das Völkerrecht, ohne an das Völkerrecht zu denken. Doch bereits gegenüber dem Straftatbestand der Notzucht machte sich der Einfluß des nationalsozialistischen Rechts bemerkbar, da dieser in Polen gegebenenfalles an den Begriff der „Rassenschande" 312 gekoppelt sein konnte. Straftaten, die durch weltanschauliche Motive geleitet waren oder als Folgewirkung gegebener Befehle gesehen werden müssen, legten schließlich eine Rechtswirklichkeit frei, der die Heeresgerichte oftmals nicht mehr in einem ordentlichen an rechtsstaatlichen Kriterien gemessenen Verfahren begegnen konnten oder wollten. Beispielgebend war hierfür der von Reichenau in seiner Meldung vom 19. September 1939 über den Obermusikmeister Müller-John erwähnte zweite Fall, der sich am 12. September in Konskie zugetragen hatte. Zur Bestattung von vier gefallenen deutschen Soldaten hatten Angehörige der Wehrmacht und des Reichsarbeitsdienstes (RAD) etwa 40 bis 50 jüdische Männer festgenommen, um diese ein Grab ausheben zu lassen. Dabei stießen und schlugen sie die Männer mit Gewehrkolben und Zaunlatten. Als die Juden endlich die Erlaubnis erhielten, sich zu entfernen, wurden sie abermals von umstehenden Soldaten geschlagen, einigen von ihnen wurden die Oberkleider vom Leibe gerissen. In ihrer Angst begannen die jüdischen Männer nun zu laufen, was den Anlaß gab, daß ein Leutnant der Luftwaffe das Feuer auf sie eröffnete und damit eine allgemeine Schießerei auslöste. 22 Juden verloren ihr Leben, weitere wurden schwer verletzt. Der von Reichenau hierauf angeordnete Zusammentritt des Gerichts der 10. Armee unter dem Vorsitz von Oberstkriegsgerichtsrat Martin Rittau, erbrachte ein Urteil, dessen Rechtsauslegung der bezeichneten Straftaten unschwer an die lebenslanges oder zeitiges Zuchthaus erkannt werden." Siehe: Strafrecht der deutschen Wehrmacht, S. 20. 3,(1 § 96 M S t G B lautete: „Wer es unternimmt, einen Vorgesetzten mit Gewalt oder Drohung an der Ausführung eines Dienstbefehls zu hindern oder zur Vornahme oder Unterlassung einer Diensthandlung zu nötigen, wird mit Gefängnis oder Festungshaft von sechs Monaten bis zu zehn Jahren (...) bestraft. (...). Wird die Tat im Felde begangen oder liegt ein besonders schwerer Fall vor, so kann auf Todesstrafe oder auf lebenslanges oder zeitiges Zuchthaus erkannt werden." Siehe: ebd., S. 21. 111 Nach der zweiten Statistik der Wehrmachtrechtsabteilung verhandelten die Heeresgerichte in 148 Fällen wegen Ungehorsam und in 126 wegen Widersetzung und tätlichem Angriff. Vgl. Wehrmachtrechtsabteilung, Rechtskräftige Verurteilungen nach den in der Zeit vom 16. 10.30. 11. 39 vorgelegten Kriegszählkarten, Bl. 10. 1 , 2 Siehe dazu: Beck, Wehrmacht und sexuelle Gewalt, S. 277-281.

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Urteilsbegründung aus dem Verfahren gegen den SS-Sturmmann Ernst erinnern mußte. So verurteilte es den Leutnant, der als einziger zur Verantwortung gezogen wurde, zu einem Jahr Gefängnis wegen Todschlags und rechtswidrigem Waffengebrauch. In seiner Begründung billigte Rittau dem Angeklagten mildernde Umstände zu, auf Grund seines „Erregungszustandes durch das Verhalten der Bevölkerung des besetzten Gebiets". Reichenau hingegen erachtete die Strafe für zu gering und hob das Urteil auf. In einem zweiten Verfahren sollte der Angeklagte schließlich zwei Jahre Gefángnis erhalten und seinen Dienstrang verlieren313. Bringt man sich in diesem Zusammenhang nochmals Reichenaus Anfrage an den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd in Erinnerung, ob ein Befehl zur Erschießung jüdischer Gefangener existiere, so wird das Ausmaß des Zusammenbruchs rechtsstaatlicher Strukturen erst vollständig sichtbar. Nicht nur, daß auch das zweite Urteil viel zu milde ausgefallen war, allein die Begründung und Strafbestandszuordnung im ersten Verfahren lassen ein Zurückweichen des Rechts gegenüber weltanschaulichen Maximen deutlich werden. Zudem muß konstatiert werden, daß der vorliegende Fall ein Beispiel für einen erheblichen Mangel an Prävention preisgibt, da hier gezielt gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe des besetzten Gebietes straftätlich vorgegangen wurde. Die Tat kann demnach nur aus einem entsprechend ideologisch geprägtes soziales Umfeld entsprungen sein. Diese Feststellung wird auch in dem Fall des Major Richard Sahla deutlich, welcher Anfang November nach einem Zechgelage, auf dem allgemein das „Problem der Beseitigung biologisch Minderwertiger" diskutiert worden war, vier geschlechtskranke Frauen per Genickschuß getötet hatte. Zunächst von einem Feldkriegsgericht zum Tode verurteilt, wurde Sahla auf Intervention Adolf Hitlers' in einem zweiten Verfahren mit sechs Jahren Zuchthaus bestraft 314 . Die rechtswidrige Tötung polnischer Zivilisten war keineswegs stets allein auf weltanschauliche Motive zurückzuführen gewesen. Rechtlich zweifelhafte Befehle und tatsächliche oder vermeintliche zivile Widerstandsakte halfen eine militärisch wie ideologisch vorgeprägte Perzeption verstärken, die ihrerseits Ursache für Ausschreitungen deutscher Soldaten sein konnte. Dies galt besonders im Hinblick auf den in der Ausbildung sehr stark vernachlässigten Art. 2 HLKO, der von vornherein ein behutsames und umsichtiges Auftreten von den Soldaten abverlangte, wie Karl Strupp im Jahre 1914 bereits klar erkannt hatte315. So mußte z.B. die 31. InfanterieDivision einen schweren Vorfall beklagen, der sich am 3. September 1939 in Lobodno ereignet hatte und genau unter diesen Aspekten betrachtet werden muß. Der Zusammentritt des Feldkriegsgerichts der Division unter Vorsitz des Kriegsgerichtsrats Steigertahl erfolgte am 7. Oktober 1939, drei Tage nach Hiders Amnestie-Erlaß. Angeklagt waren der Sanitäts-Feldwebel Eugen Heinrich und der Sanitäts-Unteroffizier Reinhold Hohmann wegen Mordes in zwei Fällen. Am dritten Kriegstag marschierte die 2. Sanitäts-Kompanie 31 durch den Ort Lobodno, in dem kurz zuvor noch gekämpft worden war. Das Dorf brannte und die Bevölkerung war zu den Ausfallstraßen geflohen, an deren Ende sie sich versammelt Zu dem Verfahren siehe: Umbreit, Militärverwaltungen, S. 160 Anm. 350; Wildt, Generation, S. 467f., Böhler, Auftakt, S. 195-197. 314 Vgl. Krausnick, Wilhelm, Truppe, S. 82f., Messerschmidt, Wehrmachtjustiz (2005), S. 238. 315 Vgl. Strupp, Landkriegsrecht, S. 41 f. 313

2. Der

Kombattantenstatus

367

hatte und nun dem Durchmarsch der deutschen Soldaten zusah. Die Bewohner machten, wie Steigertahl festhielt, einen „ängstlichen" und „verstörten" Eindruck. Doch auch unter den Deutschen herrschte erhebliche Anspannung, die „durch die Weitergabe unkontrollierbarer Gerüchte über polnisches Freischärlertum und jüdischer Beteiligung an ihm entstanden war und sich immer stärker bemerkbar machte. Immer wieder war zu beobachten, daß Schießereien, die vorn durch Karabiner- und Pistolenschüsse auf Vieh und Geflügel entstanden, wenig weiter unten als Angriffe der Zivilbevölkerung auf die Truppe aufgefaßt wurden" 316 . Unter diesen Eindrücken erschossen die beiden Angeklagten nacheinander zwei Dorfbewohner, die sich in einem voraufgegangenen kurzen Wortwechsel als Juden zu erkennen gegeben hatten. Zu seiner Tat erklärte Heinrich dem Gericht, „daß ihm der Jude verdächtig vorgekommen sei"317. Er war folglich von diesem weder provoziert noch gar angegriffen worden. Diesen Befund teilte auch das Gericht und hielt hierzu fest: „Es liegt daher weder Notwehr noch vermeintliche Notwehr vor." 318 Der Tötung der beiden jüdischen Dorfbewohner unterstellte daher das Gericht Tatvorsatz, welcher nicht mit Überlegung ausgeführt worden sei. Es verurteilte schließlich Heinrich zu fünf Jahren Zuchthaus und Hohmann zu zwei Jahren Gefängnis wegen „Todschlags in Tateinheit mit rechtswidrigem Waffengebrauch". In seiner Urteilsbegründung führte Steigertahl zuvorderst das militärische Gebot der Aufrechterhaltung von Disziplin und Manneszucht an: „Bei der Strafzumessung ist in erster Linie [!] zu berücksichtigen, daß vom Plündern über die Brandstiftungen, Vergewaltigungen zu den Tötungen wehrloser Landeseinwohner ohne sonstige Prüfung ein und derselbe Weg führt, es sind Ausschreitungen, die die Gefahr der Zersetzung der Truppe in ernsteren Lagen in sich bergen. Ihnen muß mit allem Nachdruck entgegengetreten werden." 319 Darüber hinaus war die Situation in Lobodno noch durch den rechtlich bedeutsamen Umstand gekennzeichnet, daß die Vorfälle durch Sanitäter ausgelöst worden waren. Sanitäter standen seit der Genfer Konvention vom 6. Juli 1906 unter dem besonderen Schutz des Völkerrechts. Ihnen war der Waffengebrauch für Angriffshandlungen verboten und nur zum Zwecke der Selbstverteidigung gestattet. Hiervon konnte im vorliegenden Falle allerdings keine Rede sein. Das Gericht nahm auch darauf Bezug, ohne jedoch das Völkerrecht ganz konkret anzusprechen: „Die Niederschießung eines wehrlosen schwächlichen Menschen vor den Augen seiner Angehörigen ohne Grund zu einer Erregung durch einen aktiven San.-Feldw., der dazu noch die Genfer Armbinde trug, zeigt eine so rohe Gesinnung, daß sie jede mildere Auffassung unmöglich macht." 320 Inwieweit die Taten von weltanschaulichen Motiven geleitet waren, mochte das Gericht nicht erörtern. Gleichwohl ließ sich Steigertahl zu einer Bemerkung hinreißen, welche die nationalsozialistische Ideologie ins Auge faßte, seine eigene Auffassung aber im verborgenen ließ: „Daß der Getötete ein Jude war, ist ebenfalls kein Milderungsgrund. Die Judenfrage [!] in Polen wird sicher in irgendeiner gesetz-

Vgl. Feldkriegsgericht der 31. Division, St.L. Nr. 3/39, Bl. 2, in: Fd 60, IfZ. Vgl. ebd., Bl. 2. 3'8 Ebd., Bl. 4. 319 Ebd., Bl. 5. 320 Ebd., Bl. 5. 316 517

368

III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht 1939/1940

liehen Form geregelt werden, daß Handlungen, wie die des Angeklagten begangenen, zur Lösung der Frage nicht beitragen können, bedarf weiterer Ausführung nicht." 321 In seinem Urteil sah sich das Feldkriegsgericht mit einer Rechtswirklichkeit konfrontiert, welche sowohl durch die nationalsozialistische Weltanschauung als auch durch rechtswidrige Befehle, wie sie beispielsweise am 4. September 1939 von Blaskowitz und Reichenau herausgegeben worden waren, bestimmt gewesen ist. Steigertahl, der sich in seiner Urteilsbegründung im Vergleich zu den vorher besprochenen Strafverfahren positiv abhob, war aber insoweit Teil jener Rechtswirklichkeit, als er die notwendig anstehenden Fragen des internationalen Kriegsrechts nicht angeschnitten hatte. Eine Diskussion grundsätzlicher Art über den Art. 2 HLKO und den hieraus gebotenen Verhaltensweisen der Soldaten und eben auch der Sanitäter wäre sicherlich interessant und aufschlußreich gewesen. Der Strafverpflichtung gemäß Art. 1 des IV. Haager Abkommens kam darum das Gericht nicht nach, wie es indirekt durch seinen Verweis auf die Disziplin und Manneszucht selbst ausgeführt hatte. Denn diese hatte es ausschließlich auf eine der Kriegführung inhärenten Logik bezogen. In Kriegsgerichtsverfahren wegen Mordes bzw. Todschlag spielte die allgemeine Rechtsauffassung der Militärs, die in Befehlen und Erlassen aber auch in Rundschreiben und Tagesmeldungen zum Ausdruck kam, nicht selten eine entscheidende Rolle. Dies zeigte sich u.a. in Fällen, die im rechtlichen Umfeld des Partisanenkrieges anzusiedeln waren. In diesem Zusammenhang erschien es auch absolut fraglich, ob in allen zu Gebote gestandenen Fällen ein Gerichtsverfahren überhaupt stattgefunden hatte322. Die vorhandenen Gerichtsakten berechtigen daher nicht zu der Annahme, daß die Wehrmacht stets schwere Straftaten geahndet hatte, wie Zayas suggeriert323, denn Gerichtsverfahren, die nicht durchgeführt wurden, sind nicht quantifizierbar. Allein die strafrechtliche Ahndung des Massakers in Konskie belegt, daß hier nicht alle Täter vor ein Kriegsgericht gestellt worden waren. Wie mehrfach bereits dargelegt, sind Gerichtsverfahren auch unter dem Aspekt der Umsetzung völkerrechtlicher Vorgaben in nationales Recht bzw. in Befehle zu analysieren. Dokumente, die eine gerichtliche Auseinandersetzung mit gegebenen Befehlen enthalten, sind entsprechend sehr selten. Dennoch konnten zwei Gerichtsakte beigebracht werden, in denen zumindest Befehle genannt und für die Rechtsfindung herangezogen worden waren. Beide stammen aus dem sowjetischen Kriegsschauplatz, und sollen auf Grund ihrer rechtlichen Besonderheit im folgenden besprochen werden. Am 15. Dezember 1941 verhandelte das Feldkriegsgericht der 26. InfanterieDivision, die der 9. Armee unter Generaloberst Adolf Strauß im Bereich der Heeresgruppe Mitte unterstellt gewesen war, einen Fall, der sich am 4. November 1941 in der Ortschaft Worobjewo südlich von Stariza ereignet hatte. Angeklagt war der Leutnant d.R. Hugo Kräll von der 3. Panzer-Jäger-Abteilung 26 wegen Mordes in zwei Fällen. Den Gerichtsvorsitz führte Kriegsgerichtsrat Otfried Keller324.

' Ebd., Bl. 5. 322 Vgl. auch Umbreit, Militärverwaltungen, S. 160 und S. 207. 3 2 3 So schreibt er: „Auf allen Kriegsschauplätzen in Frankreich, Griechenland, Italien und in der Sowjetunion sind Morde an Zivilisten geahndet worden." Siehe: Zayas, Rechtsprechung, S. 120. Vgl. Keller, Richter und Soldat, S. 177. 32

2. Der Kombattantenstatus

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In der Gerichtsverhandlung über den Tathergang befragt, gab der Angeklagte zu Protokoll, in der Nacht des 4. November während eines Kontrollgangs durch die Ortschaft auf ein älteres russisches Ehepaar gestoßen zu sein, das ihm verdächtig vorgekommen sei. Unter Hinzuziehung eines Dolmetschers ließ er das Paar nach ihren Ausweisen befragen, die sie jedoch nicht vorzeigen konnten. Kräll gestand, daraufhin das russische Ehepaar erschossen zu haben: „Sie kamen mir verdächtig vor und ich habe sie für Freischärler gehalten und hatte auch keine Bedenken, sie zu erschießen." Zur Legitimation seiner Tat führte er aus: „Ich glaubte mich dazu auch auf Grund eines mir bekannten Befehls befugt, wonach Freischärler erschossen werden dürfen, wenn sie vorgeführt werden. Ich führte die Leute 200 m abseits und habe sie dort erschossen." 325 Während der Verhandlung ein zweites Mal zur Sache befragt, bekräftigte der Angeklagte sein Vorgehen mit den Worten: „Ich habe die Leute erschossen aus meiner inneren Einstellung zu diesen Menschen. In erster Linie habe ich sie erschossen, weil es mir um die Belange der Wehrmacht und die Sicherheit der Kompanie ging." 326 Abschließend bekundete Kräll: „Ich fühle mich unschuldig und glaube im Recht gehandelt zu haben." 327 Grundlage für die Befehlsgebung im Kriege gegen die Sowjetunion waren zunächst der bereits erwähnte Kriegsgerichtsbarkeitserlaß vom 13. Mai 1941 sowie der sogenannte „Kommissarbefehl" vom 6. Juni 1941. Für den „erwarteten" Partisanenkrieg legte der Kriegsgerichtsbarkeitserlaß im ersten Abschnitt folgende Regelung fest: „1. Straftaten feindlicher Zivilpersonen sind der Zuständigkeit der Kriegsgerichte und der Standgerichte bis auf weiteres entzogen. 2. Freischärler sind durch die Truppe im Kampf oder auf der Flucht schonungslos zu erledigen." 328 Nach Klaus Hammel stellte der Abschnitt I des Erlasses, der u.a. von Rudolf Lehmann und Erich Lattmann konzipiert worden war 329 , gegenüber Freischärlern jenen Zustand wieder her, „wie er in anderen Staaten gemäß Kriegsbrauch praktiziert wurde, wenn auch Inhalt und Ausmaß einzelner Vorgaben dieses Abschnitts durch das Kriegsrecht nicht gedeckt waren" 330 . In formaler Hinsicht ist Hammels Anmerkung insoweit zuzustimmen, als Kriegsgerichtsverfahren gegen Freischärler oder

Zitiert aus: Öffentliche Sitzung des Kriegsgerichts der 26. Inf.-Division, Schertino, den 15. Dez. 1941, in: Untersuchungsakten in der Strafsache gegen Hugo Kräll, B A - Z N S , Gericht der 26. Division, Nr. 275, Bl. 16. -32 Zitiert aus: ebd., BI. 18. Zitiert aus: ebd., Bl. 19. 325

Zitiert aus: Erlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet „Barbarossa'^. 494; vgl. dazu das Merkblatt der 73. Infanterie-Division vom 2. September 1939, in dem es u.a. geheißen hatte: „Bewaffneter Widerstand der feindlichen Zivilbevölkerung wird rücksichtslos gebrochen.", siehe: 73. Infanterie-Division, I c / 3 9 , 2. 9. 1939. Vgl. Helmut Krausnick, Kommissarbefehl und "Gerichtsbarkeitserlaß Barbarossa" in neuer Sicht, in: V f Z 25 (1977), S. 689f. 330 Vgl. Klaus Hammel, Kompetenzen und Verhalten der Truppe im rückwärtigen Heeresgebiet, in: Hans Poeppel, Wilhelm-Karl Prinz von Preußen, Karl-Günther von Hase (Hrsg.), Die Soldaten der Wehrmacht, München 1998, S. 186. Der Abschnitt I des Kriegsgerichtsbarkeitserlasses regelt neben der Partisanenfrage auch die Erfordernisse der Repressalmaßnahmen, auf die Hammel hier Bezug nahm. 328

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Saboteure nach Völkerrecht nicht obligatorisch gewesen waren. Diese Rückkehr zu gewohnheitsrechtlichen Kriegspraktiken begann allerdings mit Eröffnung des Polenfeldzuges und bedeutete zunächst eine Verletzung deutschen Rechts. Problematisch gestaltete sich allerdings die Anwendung des Reglements der Haager Landkriegsordnung, wie beispielsweise die Äußerungen von Kriegsgerichtsrat Walter Schätzel über den Art. 2 HLKO unmißverständlich zum Ausdruck brachten. Darüber hinaus war nach der occupatio bellica die Besatzungsmacht angehalten, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen (Art. 43 HLKO) sowie die „Rechte der Familie und das Leben der Bürger" (Art. 46 HLKO) zu schützen. Der Verzicht auf Gerichtsverfahren gegen Straftaten von Zivilisten durfte daher keinen Freibrief für Willkürakte implizieren. Die Kriegswirklichkeit in Polen und in der Sowjetunion zeigte aber, daß formal korrekte Befehle auf Grund ihres allgemein „geistigen Überbaus" in eine rechtswidrige Kriegführung ausarten konnten. Eine rechtskonforme Handhabung der ersten zwei Absätze des Kriegsgerichtsbarkeitserlasses war jedoch allein dadurch verhindert, daß, ähnlich wie in Polen, der Art. 2 HLKO keine Berücksichtigung finden sollte, wie diesmal unmittelbar vor dem Angriff auf die Sowjetunion von General z.b.V. Eugen Müller dezidiert gefordert worden war 331 . Der erste Abschnitt des Kriegsgerichtsbarkeitserlasses bezog neben den Freischärlern schließlich in Abs. 3 alle „anderen Angriffe feindlicher Zivilpersonen gegen die Wehrmacht" mit ein, denen mit „äußersten Mitteln bis zur Vernichtung des Angreifers" zu begegnen war 332 . Unausgesprochen lag den ersten Absätzen des Kriegsgerichtsbarkeitserlasses damit der Rechtsgehalt des Landesverrats zugrunde, der in § 91b RStGB (Feindbegünstigung) eine grobe Verschärfung erfahren hatte 333 . Die Anwendung der Straftatbestände des Landesverrats im Besatzungsgebiet, wie sie z.B. in der Verordnung über Waffenbesitz vom 12. September 1939 zum Vorschein kam oder aber auch in zahlreichen Kriegsgerichtsverfahren auf französischem Territorium gegen einheimische Zivilisten 334 , bildete einen massiven Verstoß gegen das Treueverbot in Art. 45 HLKO 335 . Die rechtliche Gleichsetzung Vgl. Jürgen Förster, Das Unternehmen „Barbarossa" als Eroberungs- und Vernichtungskrieg, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 4: Der Angriff auf die Sowjetunion, Frankfurt a.M. 1996 (3. Aufl.), S. 518. 332 Vgl Erlaß über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet „Barbarossa", S. 494. 333 Vgl. Verteidigung des Falles 12. Antrag auf Plenarversammlung Fall 12, Nürnberg 8. November 1948, S. 12f., in: Verteidigungsunterlagen Rupprecht v. Keller zum Fall XII der Nürnberger Prozesse (OKW), Verteidigung von Rudolf Lehmann, ED 418, Bd. 3, IfZ; Hermann Dieter Betz, Das OKW und seine Haltung zum Landkriegsvölkerrecht im Zweiten Weltkrieg, Würzburg 1970 p i s s . ) , S. 188. 334 Vgl Jürgen Thomas, Wehrmachtjustiz und Widerstandsbekämpfung. Das Wirken der ordentlichen deutschen Militärjustiz in den besetzten Westgebieten 1940-45 unter rechtshistorischen Aspekten, Baden-Baden 1990, S. 92-98 und S. 198. 335 Dr. Wilhelm W. Grewe vom Institut für Auswärtige Politik schrieb in einem Rechtsgutachten über den „Nacht- und Nebel-Erlaß", das er für den Verteidiger Rudolf Lehmanns im Nürnberger OKW-Prozeß, Rupprecht von Keller, verfaßt hatte, über den Art. 45 HLKO: „Die Strafbarkeit von Hoch- und Landesverrat resultiert aus der besonderen Treuepflicht, die die Staatsangehörigen gegenüber dem eigenen Staat verbindet. Eine solche Treuepflicht der Bevölkerung des besetzten Gebietes gegenüber der Besatzungsmacht besteht nicht und kann auch nicht durch Erlaß entsprechender Strafrechtsnormen begründet werden. Das ergibt sich eindeutig aus Art. 45 HLKO, der verbietet, von der Bevölkerung des besetzten Gebietes die 331

2. Der

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von Inland und Besatzungsgebiet zog sich beginnend mit dem Polenfeldzug über alle Kriegsschauplätze fort, in der Intensität ihrer Auswirkungen lediglich unterschieden durch die jeweils konkret gefaßten politischen Ziele, wie z.B. in der Frage der Annexion. Der Kommissarbefehl bedeutete eine schwerwiegende Mißachtung des Kombattantenstatus, da er sich über die nationale Wehrverfassung eines Staates hinwegsetzte. In dem politischen Kommissar der Roten Armee erblickte die Wehrmachtführung den „Urheber barbarisch asiatischer Kampfmethoden" und den „eigentlichen Träger" eines „haßerfüllten" und „grausamen" Widerstandes. Gleichsam zur Prävention legte daher der Kommissarbefehl die Anweisung nieder, Kommissare, „wenn im Kampf oder Widerstand ergriffen, grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen" 336 . Die Kommissare wurden damit von vornherein unter der Perzeption eines ideologisch überhöhten Landesverrats zu Freischärlern erklärt. Der Kommissarbefehl bildete daher einen erheblichen Verstoß gegen die Haager Landkriegsordnung (Art. 4) sowie gegen das Genfer Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 27. Juli 1929 (Art. 2)337. Der Divisions-Befehl, auf den Kräll sich in der Verhandlung berief, stammte vom 24. Juli 1941 und wurde u.a. durch den Befehl vom 11. September 1941 ergänzt. In seiner Urteilsbegründung setzte sich Otfried Keller mit beiden Befehlen eingehend auseinander, um die Aussage des angeklagten Leutnants genau zu überprüfen. Die für den Fall wesentlichen Abschnitte der Befehle ließ er dabei wortwörtlich zitieren. So gab er aus dem ersten Befehl den zweiten Abschnitt an, der u.a. folgende Anweisungen enthalten hatte: „2.) Behandlung von Zivilpersonen. Zivilpersonen, die entweder politische Kommissare oder kommunistischer Umtriebe gegen die Wehrmacht (Flugzettelverteilung, Hetze, Sabotage usw.) oder der Freischärlerei verdächtig sind, sind nach VernehLeistung des Teueides zu fordern. (...) Die Anwendung von Hoch- und Landesverratsbestimmungen gegenüber der Widerstandsbewegung eines besetzten Gebietes wäre ein völkerrechtswidriger Akt, der auch durch Berufung auf militärische Notwendigkeit nicht gedeckt werden könnte, da Art. 45 H L K O zu den absoluten Schutzbestimmungen gehört." Siehe: Wilhelm W. Grewe, Rechtsgutachten über die völkerrechtliche Beurteilung des Nachtund Nebel-Erlasses, S. 9f., in: Verteidigungsunterlagen Rupprecht v. Keller zum Fall XII der Nürnberger Prozesse ( O K W ) , Verteidigung v. Rudolf Lehmann 1945-1949, E D 418, IfZ. Der Rechtswidrigkeit des im Kriegsgerichtsbarkeitserlaß verdeckt enthaltenen Straftatbestandes der Feindbegünstigung versuchte Rupprecht von Keller dadurch zu begegnen, daß er auf den angelsächsischen Begriff des „war treason" (Kriegsverrat) verwies, wie er z.B. von Lassa Oppenheim verwandt wurde. D e m gilt jedoch entgegen zuhalten, daß unklar bleiben muß, ob der Begriff des war treason ebenfalls den Gedanken der Treue umfaßt, wie der deutsche Kriegsverrat. Sollte dies im Nachhinein zu bejahen sein, dann war auch der war treason völkerrechtswidrig. Siehe: Verteidigung des Falles 12, S. 13. 316 Vgl. Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare vom 6. Juni 1941, in: HansAdolf Jacobsen, Kommissarbefehl und Massenexekution sowjetischer Kriegsgefangener, in: Anatomie des SS-Staates. Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, München 1994 (6. Aufl.), S. 501 (Dokument Nr. 12). Z u m Kommissarbefehl siehe auch: Förster, Unternehmen „Barbarossa", S. 520-525. 3 r Art. 2 der Genfer Konvention vom 27. Juli 1929 lautete in Abs. 2: „[Kriegsgefangene] müssen jederzeit mit Menschlichkeit behandelt und insbesondere gegen Gewalttätigkeiten, Beleidigungen und öffentliche Neugier geschützt werden." Siehe: RGBl. II. 1934, S. 233.

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht

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mung des Beschuldigten und etwaiger Zeugen oder Prüfung der schon vorhandenen Vernehmungsprotokolle auf Entscheidung desjenigen Offiziers, dem sie vorgeführt werden, zu erschießen oder freizulassen. (,..)."338 Der entsprechende Abschnitt des Befehls vom 11. September 941 lautete u.a.: ,,2.b) Es sind zu erschießen: Personen in Zivil oder Halbzivil, die verdächtig sind, Waffen bei sich geführt zu haben oder an feindseligen Handlungen gegen die deutsche Wehrmacht teilgenommen zu haben, c) Es sind zu hängen: Einwandfrei überführte Partisanen. Durch Hinweisschilder (z.B. ,So werden Partisanen bestraft 1 ) ist die abschreckende Wirkung zu erhöhen. (...).339 Der zitierte Abschnitt des ersten Befehls erinnerte formal an § 18 der Kaiserlichen Verordnung von 1899. Inhaltlich trug er den ideologischen Bedingungen Rechnung, wie sie auch im Deutschen Reich Rechtswirklichkeit gewesen waren und in zahllosen Urteilen des Volksgerichtshofes und der Oberlandesgerichte ihren Niederschlag fanden 340 . Der Befehl beschreibt damit eine Übertragung innerer Rechtsverhältnisse auf äußere, fremde Staatsgebiete. Der zweite Befehl rührte an das bereits in Polen aufgetauchte Grundproblem der rechtlichen Beurteilung von Versprengten und damit verbunden der Beurteilung von Waffenbesitz. Hierbei zeigte der Befehl vom 11. September 1941 eindeutige Parallelen zum Merkblatt der 73. Infanterie-Division vom 2. September 1939, denn auch dieser ordnete an, „Soldaten in Zivil oder Halbzivil" sowie Zivilpersonen, die für Soldaten gehalten werden konnten, und ohne Waffen angetroffen wurden, als Kriegsgefangene zu behandeln 341 . Der Begriff „verdächtig", wie er in den Befehlen vom 24. Juli und 11. September verwendet wurde, war im Ergebnis Ausdruck des intentionalen Strafrechts, der bereits in § 3 KSSVO festgeschrieben worden war 342 . In seiner Besprechung der genannten Befehle stellte Keller die rechtliche Seite ihres Inhaltes mit keinem Wort in Frage. Ihre Vereinbarkeit mit den Regeln des Völkerrechts interessierte ihn nicht. Vielmehr kam es ihm darauf an, die genaue Einhaltung der Vorschriften durch den Angeklagten nachzuvollziehen. Im Hinblick auf die Handlungsweise des Leutnants kam er auf der Grundlage des Befehls vom 24. Juli zu dem Befund: „Nach den in diesem Befehl enthaltenen Bestimmungen konnte er Zivilpersonen erschießen lassen, die politische Kommissare oder kommunistischer Umtriebe gegen die Wehrmacht oder der Freischärlerei verdächtig waren. 138 Zitiert aus: Gericht der 26. Inf.-Division, St. P.L., Nr. 413/1941, in: Untersuchungsakten in der Strafsache gegen Hugo Kräll, in: BA-ZNS, Gericht der 26. Division, Nr. 275, Bl. 25f. 339 Zitiert aus: ebd., Bl. 26f. Der Kommandant des rückwärtigen Armeegebiets der 9. Armee (Korück 582) gab am 11. Oktober 1941 eine tabellarische Erfassung von Befehlsinhalten der 9. Armee heraus, die grundlegende Bestimmungen zum Partisanenkrieg enthalten hatten und den Zeitraum vom 3. Juli bis 20. September 1941 abdeckten. Diese bildeten die Vorgaben für die unterstellten Divisionen, so auch für die 26. Infanterie-Division. Vgl. Kommandant d. rückw.A.Geb. 582, Qu. Ic, Stabsquartier, den 11. Oktober 1941, in: BA-MA, RH 23/227. 340 Vg] Jürgen Zarusky, Politische Straf]ustiz im nationalsozialistischen Doppelstaat, in: Jürgen Weber, Michael Piazolo (Hrsg.), Justiz im Zwielicht. Ihre Rolle in Diktaturen und die Antworten des Rechtsstaates, München 1998, S. 25-37. 3 « Vgl. Gericht der 26. Inf.-Division, St. P.L., Nr. 413/1941, Bl. 26. 342 Vgl. RGBl. I. 1939, S. 1455f.

2. Der

Kombattantenstatus

373

Ob dies der Fall war, hatte der Angeklagte durch Vernehmung der Beschuldigten und etwaiger Zeugen oder durch Prüfung schon vorhandener Vernehmungsprotokolle zu klären. (...) Im Augenblick der Vorführung der beiden Russen (...) hatte der Angeklagte überhaupt keine oder im äußersten Fall nur ganz vage Verdachtsgründe dafür, daß sich die Vorgeführten der Freischärlerei schuldig gemacht haben könnten." 343 Entsprechend verurteilte Keller das Vorgehen Krälls als „pflichtwidrig" und „oberflächlich". Seine Entscheidung habe nicht den Anforderungen genügt, die an einem „gerecht denkenden Offizier" zu richten gewesen seien344. Von dieser Stelle an hinterfragte der Kriegsgerichtsrat die Motive des Angeklagten und kam darüber zu einem erstaunlichen Ergebnis: „Es war das Motiv der Bequemlichkeit, das bei der Handlungsweise des Angeklagten eine große Rolle spielte. Zu diesem Bequemlichkeitsmotiv gesellte sich eine Art Ausrottungsmotiv, von dem der Angeklagte bewußt besessen war (...). Wenn er ausführt, die Erschießung der beiden alten Russen aus ,seiner ganzen inneren Einstellung diesen Leuten gegenüber' heraus vorgenommen zu haben, so offenbart er damit seine auf völlig mißverstandene rassische, völkische und auslesemäßige Ideen gegründete Meinung, daß er die Tötung alter gebrechlicher lästiger Russen für erstrebenswert hält. (...). Diese und keine anderen Beweggründe ließen in dem Angeklagten den Vorsatz reifen, die Leute zu töten. Aus diesen Motiven heraus ersparte er sich eine gründliche Untersuchung, zog er keine ordnungsgemäße Exekution [!] auf und schritt persönlich in einer für einen Offizier mindestens ungewöhnlichen Art zur Erschießung." 345 Mit dieser für einen deutschen Heeresrichter auf dem sowjetischen Kriegsschauplatz fast unglaublichen Feststellung ließ es aber Otfried Keller nicht bewenden. Denn der „turning point" war in diesen Sätzen bereits angelegt: „Die Strafandrohungen des Reichsstrafgesetzbuches für Verbrechen gegen das menschliche Leben sind gedacht und abgestellt auf normale Verhältnisse und auf normale Zeiten. An Verhältnisse wie die durch den Krieg gegen das bolschewistische Rußland geschaffenen konnte bei der Fassung des Gesetzes niemand denken. Der Wert des menschlichen Lebens, insbesondere der Wert eines russischen Menschenlebens, kann praktisch nicht mehr mit den normalen und friedensmäßigen Maß gemessen werden." 346 Die Schwere der Tat des Angeklagten erblickte Keller abschließend darin, daß „derartige Auswüchse" eine große „Gefahr für die Manneszucht" bildeten, denen umgehend entgegengetreten werden müßte. Er verurteilte deshalb den angeklagten Leutnant zu zwei Jahren Gefängnis wegen Todschlags und Rangverlust 34 . Zitiert aus: Gericht der 26. Inf.-Division, St.P.L., Nr. 413/1941, Bl. 28. Vgl. ebd., Bl. 29. 345 Zitiert aus: ebd., Bl. 31. 346 Zitiert aus: ebd., Bl. 33. Keller war mit diesem Urteil ganz auf der Linie gegebener Weisungen geblieben. Denn Chef O K W Wilhelm Keitel hatte in seinem „Kommunistenerlaß" vom 16. September 1941 u.a. ausgeführt, daß „ein Menschenleben in den betroffenen Ländern vielfach nichts gilt (...)". Vgl. Weisung betreff Kommunistische Aufstandsbewegung in den besetzten Gebieten vom 16. September 1941, in: Hans-Adolf Jacobsen, Kommissarbefehl und Massenexekution sowjetischer Kriegsgefangener, in: Anatomie des SS-Staates. Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte, München 1994 (6. Aufl.), S. 528 (Dokument Nr. 30). 347 Vgl. Gericht der 26. Inf.-Division, St. P.L., Nr. 431/1941, Bl. 34f. In diesem Gerichtsurteil erblickt Zayas, das er lediglich in ganzen sechs Zeilen würdigt, ebenso wie im Falle des SSSturmmannes Ernst, den Beleg dafür, „daß Verbrechen von Wehrmachtangehörigen svstema343 344

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III. Die Umsetzung

des Kriegsrechts

in der deutschen

Wehrmacht

1939/1940

Nach Verkündigung des Urteils sandte drei Tage später Kriegsgerichtsrat Otfried Keller seinen Bericht an Dr. Erich Lattmann, Chef der Gruppe Rechtswesen im O K H 3 4 8 , sowie an seinen unmittelbaren Vorgesetzten, den Leiter der Abteilung III im A O K 9, Oberstkriegsgerichtsrat Dr. Eduard Dehrmann 3 4 9 . Knapp zwei Wochen später antwortete Lattmann in einem einseitigen Rechtsgutachten, in dem er zuerst feststellte, daß „gegen den Schuldspruch (...) keine Bedenken" bestünden. Auch bestätigte er, daß „tatsächlich" keinerlei „Verdachtsgründe für Freischärlerei" vorgelegen hätten. D o c h schien ihm die Strafe „zu hoch", denn bei der Straftat fehlten ihm „Brutalität oder Sadismus". Ausdrücklich Schloß Lattmann: „Es läßt sich nicht verkennen, daß besonders im Ostfeldzug das Leben des Landeseinwohners an Wert verloren hat." 350 Unter Berücksichtigung dieser Umstände befand er eine Gesamtstrafe v o n 1 Jahr Gefängnis für ausreichend. A m 9. Januar 1 9 4 2 bestätigte der Oberbefehlshaber des Heeres das abgemilderte Urteil und ließ seine Vollstreckung bis zur Beendigung des Kriegszustandes zur „Bewährung vor dem Feinde" aussetzen 351 . Nach dem Abschlußbericht v o n Otfried Keller wurde Kräll am 19. Januar 1 9 4 2 die Entscheidung des Oberbefehlshabers eröffnet und zur Panzer-Jäger-Abteilung 256 in

tisch verfolgt wurden". Vgl. Alfred Maurice de Zayas, Die Wehrmacht und die Nürnberger Prozesse, in: Hans Poeppel, Wilhelm-Karl Prinz von Preußen, Karl-Günther von Hase (Hrsg.), Die Soldaten der Wehrmacht, München 1998, S. 489. Hierauf müssen dieselben Einwände erhoben werden, wie oben bereits dargelegt. Vgl. Gericht der 26. Inf.-Division, St. L. 413/41, Div.-Stabsquartier, den 18. Dez. 1941, Berichterstattung an das Oberkommando des Heeres - Gruppe Rechtswesen, in: Untersuchungsakten in der Strafsache gegen Hugo Kräll, in: BA-ZNS, Gericht der 26. Division, Nr. 275, Bl. 39. 345 Vgl. Gericht der 26. Inf.-Division, St. L. 413/41, Div.-Gefechtsstand, den 18. Dez. 1941, Berichterstattung an den Herrn Oberstkriegsgerichtsrat der 9. Armee, in: Untersuchungsakten in der Strafsache gegen Hugo Kräll, in: BA-ZNS, Gericht der 26. Division, Nr. 275, Bl. 40. Oberstkriegsgerichtsrat Eduard Dehrmann war seit April 1941 Leiter der Abt. III im AOK 9. Die Rechtsabteilung der Armee war wie in den meisten Fällen der Quartiermeisterabteilung angegliedert worden. Vgl. Armeeoberkommando 9 - Abt. III -, Tätigkeitsbericht, 15. Oktober 1941, in: BA-MA, WF-03/17091, Bl. 1 und Bl. 4. In seinem umfassenden Tätigkeitsbericht für den Zeitraum November-Dezember 1941 erwähnte Dehrmann das Verfahren gegen Hugo Kräll mit keinem Wort. Vgl. Tätigkeitsbericht der Abt. III, Berichtszeit: 1. November-31. Dezember 1941, Bl. 1-21, in: BA-MA, RH 20-9/327. 350 Zitiert aus: BAL Nr. 337/41, zu St.L. Nr. 413/41 des Gerichts der 26. Division, 31. 12. 1941, Rechtsgutachten, in: Untersuchungsakten in der Strafsache gegen Hugo Kräll, in: BA-ZNS, Gericht der 26. Division, Nr. 275, Bl. 47. 351 Vgl. BAL Nr. 337/41, zu St.L. Nr. 413/41 des Gerichts der 26. Division, in: Untersuchungsakten in der Strafsache gegen Hugo Kräll, in: BA-ZNS, Gericht der 26. Division, Nr. 275, Bl. 48. Das Thema „Aussetzung der Strafe zur Bewährung vor dem Feinde" bildet ein komplexes und in seinen Auswirkungen bislang noch wenig erforschtes Terrain. Die Aussetzung der Strafe bedeutete für den Verurteilten in vielen Fällen seinen Dienst in sogenannten „Feldsonderbataillonen", „Bewährungsbataillonen" oder „Feldstrafgefangenenabteilungen" ableisten zu müssen. Vgl. hierzu: Otto Hennike, Fritz Wüllner, Über die barbarischen Vollstreckungsmethoden von Wehrmacht und Justiz im Zweiten Weltkrieg, in: Wolfram Wette (Hrsg.), Deserteure der Wehrmacht. Feiglinge - Opfer — Hoffnungsträger? Dokumentation eines Meinungswandels, Augsburg 1995, S. 74—94; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz (2005), S. 321 - 3 9 1 .

2. Der

Kombattantenstatus

375

Marsch gesetzt352. Am 19. Juli 1944 schließlich teilte der Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres mit, daß gemäß Entscheid der „Kanzlei des Führers der NSDAP" dem Verurteilten Hugo Kräll die erkannte Freiheitsstrafe erlassen worden sei353. Die Berufung auf einen Befehl, der materiell-rechtlich allein infolge seiner ideologischen Ausrichtung als rechtswidrig einzustufen gewesen war, zur Rechtfer tigung einer Straftat, ist dokumentarisch zum ersten Mal in dem hier vorgelegten Fall belegt. Die Problematik der rechtlichen und militärischen Verortung gegebener Befehl keimte zwar bereits in den Konflikten mit den Einsatzgruppen und SSVerfügungstruppen in Polen auf, so im Falle des Udo von Woyrsch, doch wurde letztlich die gebotene Auseinandersetzung auf die organisatorisch-institutionelle Ebene verschoben. In den wenigen überlieferten Gerichtsverfahren gegen Angehörige der SS und des Volksdeutschen Selbstschutzes billigten die Richter unter Einbeziehung der nationalsozialistischen Ideologie mildernde Umstände zu, ohne eine rechtskonforme Diskussion um Befehle geführt zu haben. Nicht anders verhielt es sich in Verfahren gegen Wehrmachtangehörige. Die Rechtswirklichkeit wurde im Ergebnis ausgeblendet. Bezeichnend hierfür war auch die regelmäßige Umwandlung von Mord, worauf die Anklage noch plädiert hatte, in Todschlag. Dieselbe Methode der Rechtsauslegung wird schließlich sichtbar im Verfahren gegen den Leutnant Kräll. Kriegsgerichtsrat Keller war einer Erörterung über den Inhalt der gegebenen Befehle letztlich ausgewichen, ihre Anweisungen stellte er nicht in Frage. Die Würdigung der Straftat geriet gleichsam zu einem Monolog über „Formfehler" bei der Überführung vermeintlicher Freischärler. Das Motiv des Täters, von Keller auch als solches erfaßt, gab nun genau den Ausschlag für die Milderung des Strafurteils. Wieder einmal führte die subjektive Tatbestandsseite zu einer erheblichen Verzerrung des Tatherganges. Übrig blieb eine Verletzung von Disziplin und Manneszucht. Die Konfrontation der Heeresjustiz mit Straftaten, die eindeutig dem Wirkungsbereich von erteilten Befehlen entsprungen waren, hieß ein Urteil fallen über sich selbst. Die erzeugte Rechtswirklichkeit kehrte zurück vor das Richterpult. Allein die Tatsache eines solchen Verfahrens bedeutete, daß neben allen Verordnungen und Erlassen noch eine Vorstellung existierte, „was rechtens sei"354, um sie so dann zu Vgl. Gericht der 26. Inf.-Division, St.L. 413/41, Div.-Stabsquartier, den 19. 1. 1942, Geheim, in: Untersuchungsakten in der Strafsache gegen Hugo Krall, in: BA-ZNS, Gericht der 26. Division, Nr. 275, Bl. 52. 153 Vgl. Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres, Gn II Nr. 22/44 HR (IV), Gera, den 19. Juli 1944, Gnadensache des ehem. Leutn. d.R. Hugo Kräll, in: Untersuchungsakten in der Strafsache Hugo Kräll, in: BA-ZNS, Gericht der 26. Division, Nr. 275, Bl. 59. Mindestens zweimal hatte sich die Ehefrau des Verurteilten in zwei Gnadengesuchen an die Führungsspitze des Reiches gewandt. Das zweite sandte sie Adolf Hider persönlich zu, in dem sie ihm unterbreitete: „Doch uns geht es ja um die Ehre meines Mannes und um meine Ehre, denn ich bekomme dies alles in wirtschafdicher und in gesellschaftlicher Beziehung zu spüren. Mein Mann hat, als er die Bolschewisten, die sich in verdächtigerweise dem Wachlokale näherten, erschossen hat, vielleicht zu voreilig gehandelt und dies wurde ihm zum Verhängnis. Aber wegen zwei lumpigen Bolschewisten einen deutschen Offizier und seine Familie derart hart zu bestrafen, dies bringt uns an den Rand der Verzweiflung" Zitiert aus: Gnadengesuch der Ehefrau L. Kräll, Köln 2. Juni 1943, in: ebd., Bl. 71. 354 D a ß Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit gleichwohl unter vielen Soldaten vorhanden gewesen waren, belegt u.a. ein Bericht von Wilhelm Peter Reese, Schütze der 95. Infan352

376

III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht 1939/1940

ersticken. Kein Zeugnis spricht mehr dafür, als die „Gnadensache" des Obergefreiten Nikolaus Bayer, Angehöriger der 4. Panzer-Division. Bayer war am 12. Februar 1942 vom Feldkriegsgericht des XXXXVII. PanzerKorps wegen Anstiftung zum Mord zum Tode verurteilt worden. Das Urteil selbst ist leider nicht mehr vorhanden, doch lassen die von seinen Vorgesetzten eingereichten Gnadengesuche nicht nur den Tathergang erkennen, sondern geben auch die Gewißheit, daß in der Urteilsbegründung die Verletzung der Manneszucht eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben muß. So hatte der Obergefreite am 6. Februar einem russischen Schuster im Kollektiv Axin ein Paar Stiefel entwendet, das tags zuvor ein deutscher Soldat zum Besohlen abgegeben hatte. Den Einwendungen des Schusters schenkte Bayer keinen Glauben. Am nächsten Tage kam er mit einem Kameraden, der ebenfalls verurteilt werden sollte, mit einem Pferdeschlitten am Hause des Schusters vorbei. Als dieser ihn sah, setzte er mit seinem Pferdeschlitten zur Verfolgung der beiden Soldaten an. Während der Verfolgungsfahrt regte der Obergefreite seinen Kameraden an, den Schuster zu erschießen. Als dieser auf gleiche Höhe kam, wurde er von Bayers Kameraden durch einen Schuß in den Hinterkopf tödlich getroffen355. In seinem Gnadengesuch vom 18. Februar 1942 führte Bayer aus, bereits eine Nacht zuvor einen russischen Zivilisten erschossen zu haben, da dieser seiner Überzeugung nach ein Partisan gewesen sei. Dieser Vorgang diente ihm zur Rechtfertigung seiner zweiten Tat. Die Tötung des ersten Mannes, der sich im Stroh eines Pferdestalls versteckt hatte, begründete Bayer mit den Anweisungen gegebener Befehle, wonach „wir jeden Partisanen und jeden verdächtigen Zivilisten erschießen müssen (...)." Die Rechtswirklichkeit, in der Bayer sich bewegte, wird schließlich offenbar in seiner folgenden Schilderung: „Wenn ich auf die Frage des Richters, wie viele ich schon erschossen hätte, in der Verhandlung keine klare Antwort gegeben habe, so erklärt sich das damit, daß wir bei den Kämpfen um Bolchow Befehl hatten, die russischen Soldaten, die sich versteckt hielten und vielleicht nur tot stellten, auf jeden Fall noch einmal zu durchschießen."356 Das Gnadengesuch Bayers wurde vom Gerichtsherrn selbst, General der Panzertruppe Joachim Lemelsen, befürwortet. Dem Gerichtsurteil, das nach seinen Worten auf eine niedere Gesinnung der beiden Täter und einer erheblichen Gefährdung der

terie-Division, den er im Frühjahr 1944 gestützt auf private Tagebuchaufzeichnungen verfaßt hatte. Seine Gedanken während der sowjetischen Winteroffensive 1941 faßte er u.a. in den folgenden Satz: „Daß wir Soldaten waren, genügte zur Rechtfertigung von Verbrechen und Verkommenheit und genügte als Basis einer Existenz in der Hölle." Über den Zeitraum der Panzerschlacht von Kursk schrieb er: „Rußland wurde zu einer entvölkerten, rauchenden, brennenden, trümmerbedeckten Wüste und der Krieg hinter der Front bedrückte mich noch mehr, weil er die Wehrlosen traf. Auch ich war schuldig an dieser Verwüstung und allem Leid, das sie den Menschen brachte, schuldig wie alle Namenlosen und Geopferten, wie alle Soldaten." Siehe: Willy Peter Reese, Mir selber seltsam fremd. Die Unmenschlichkeit des Krieges. Rußland 1941^14, hrsg. von Stefan Schmitz, München 2003, S. 137 und S. 196. 355 Vgl. Gericht des XXXXVII. Panzer-Korps, St.L., Nr. 31/42, Gnadennachweisung, in: BAZNS, Gericht XXXXVII. Pz. Κ , Κ 379. 356 Zitiert aus: Nikolaus Bayer, O.U., den 18. Februar 1942, In der Strafsache gegen mich wegen Anstiftung zum Mord, in: BA-ZNS, Gericht XXXXVII. Pz. Κ , Κ 379.

2. Der

Kombattantenstatus

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Disziplin erkannt hatte, hielt Lemelsen in seinem „Gutachten" 357 entgegen, daß die 4. Panzer-Division in ihren Befehlen die Soldaten „vor jedem falschen Mideid mit der Bevölkerung" gewarnt und regelmäßig in Parolen der Truppe „eingehämmert" hatte „verdächtige Zivilisten zu erschießen". Die logische Verknüpfung zwischen einer allgemein vorhandenen Partisanengefahr und den konkret verortbaren Motiven des russischen Schusters (Notwehr) konnte aber auch Lemelsen nicht herstellen: „Ich finde es daher psychologisch verständlich, daß die Angeklagten, die zweifellos die Tat aus Furcht vor Aufdeckung ihres Diebstahls begangen haben 358 , schließlich die letzten Hemmungen, auf Grund der oben erwähnten Parolen, über Bord warfen." 359 Lemelsen hielt daher die Todesstrafe für nicht angebracht. Zur Aufrechterhaltung der Disziplin und der Manneszucht war für ihn eine Zuchthausstrafe „am Platze". Am 4. April 1942 teilte Otto Neumann, Chef des Heeresjustizwesens, dem Gericht des XXXXVII. Panzer-Korps mit, daß Generalfeldmarschall Keitel die durch das Feldkriegsgericht erkannte Todesstrafe gegen Bayer in eine Zuchthausstrafe von 12 Jahren umgewandelt habe360. Strafverfahren gegen polnische Kriegsgefangene Die Kriegsgefangenschaft ist die mildeste Form der Ausschaltung eines militärischen Gegners. Sie steht unter dem Schutz des Völkerrechts. Nach Art. 3 des Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 27. Juli 1929 haben „die Kriegsgefangenen Anspruch auf Achtung ihrer Person und ihrer Ehre. Frauen sind mit aller ihrem Geschlecht geschuldeten Rücksicht zu behandeln" 361 . Zur Gewährleistung einer rechtskonformen Behandlung der Kriegsgefangenen durch den Gewahrsamsstaat hatte die internationale Staatengemeinschaft schon weit vor dem Zweiten Weltkrieg auf organisatorisch-institutioneller Ebene ein Kommunikationssystem entfaltet, das den Kriegsgefangenen in seinen rechtmäßigen Belangen nicht mehr allein lassen sollte. So war die Gewahrsamsmacht nach Art. 77 der Genfer Konvention verpflichtet, bei Beginn der Feindseligkeiten „Auskunftsstellen" zu errichten, die „alle verfügbaren Angaben über die Persönlichkeit der Gefangenen" zu erfassen hatte, um z.B. deren Angehörigen auf dem schnellsten Wege benachrichtigen zu können. Die Daten der Auskunftsstelle sollten hierbei einerseits durch die Vermitdung der "Schutzmächte" sowie andererseits durch die in Art. 79 vorgesehene „Zentralauskunftsstelle" an die in Betracht kommenden Mächte gesandt werden 362 . Die Zentralauskunftsstelle hatte unter Weisung des „Internationalen Komitees vom Roten Kreuz" (IKRK) nach Möglichkeit auf neutralem Territorium eingerichtet zu sein (Art. 79)363. Des weiteren sollten die „ordnungsgemäß errichteten Hilfsgesellschaften für Kriegsgefangene", wie Bei Vorliegen eines Todesurteils muß der Gerichtsherr ein Zweitgutachten anfordern und gegenzeichnen. Hier verhielt es sich genau anders, das von Lemelsen verfaßte Gutachten war von Kriegsgerichtsrat König gegengezeichnet worden. 358 Der Kamerad Bayers hatte keinen Diebstahl begangen. "9 Zitiert aus: Gericht des XXXXVII. Pz.Korps, St.L., Nr. 31/42, K.Gef.St., den 18. 2. 1942, in: BA-ZNS, Gericht XXXXVII. Pz. Κ., Κ 379. 3611 Vgl. Oberkommando des Heeres, Ch Η Rüst u. Β d E, Gn I Mob Nr. 1006/42 HR IV f., Berlin W 35, den 4. April 1942, in: BA-ZNS, Gericht XXXXVII. Pz. Κ., Κ 379. MI Vgl. RGBl. II. 1934, S. 233. ^ Vgl. ebd., S. 249f. Vgl. ebd., S. 251.

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z.B. die nationalen Organisationen des Roten Kreuzes, als Vermittler für die „Wohlfahrt" der Kriegsgefangenen sorgen (Art. 78)364. Die Zuständigkeit in allen Angelegenheiten der Kriegsgefangenschaft besaß innerhalb des OKW die Abteilung „Chef des Kriegsgefangenenwesens (Chef Kgf.)" im Allgemeinen Wehrmachtsamt (AWA), das von Generalleutnant Hermann Reinecke geführt wurde. Die Dienststelle des Chefs des Kriegsgefangenenwesens bekleidete bis 31. Dezember 1941 Oberstleutnant Hans-Joachim Breyer. 365 Die Bewältigung außenpolitischer Aufgaben des Kriegsgefangenenwesens, wie beispielsweise die Begleitung von Besuchsreisen von Vertretern der Schutzmächte oder des IKRK oblag der „Gruppe Allg. II" der Abteilung Chef Kgf. Sie wurde geleitet von Major Römer 366 . Entsprechend den Vorgaben aus Art. 77 der Genfer Kriegsgefangenenkonvention setzte die Wehrmacht am 26. August 1939 die „Wehrmachtauskunftsstelle für Kriegsverluste und Kriegsgefangene" (WASt) ein, die als nachgeordnete Dienststelle des OKW selbständig fungierte. Zu ihren Aufgaben gehörte u.a. die Registrierung und Weiterleitung der Meldungen über fremde Kriegsgefangene 367 . Für eine rechtskonforme Behandlung der Kriegsgefangenen stand den diversen Abteilungen im OKW zuvorderst die Heeresdruckvorschrift H. Dv. 38/2 vom 22. Februar 1939 zu Verfügung, die den genauen Wortlaut der beiden Genfer Konventionen von 1929 enthielt, allerdings ohne jegliche Kommentierung 368 . Ahnlich wie im Falle der Haager Landkriegsordnung war jeder Vertragsstaat gehalten, die völkerrechtlichen Bestimmungen des Kriegsgefangenenabkommens in nationales Recht (Art. 85)369 umzusetzen, denn das Reglement mußte „unter allen Umständen geachtet werden" (Art. 82)37".

Vgl. RGBl. II. 1934, S. 250. 365 Vgl Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945, Bonn 1997 (3. Aufl.), S. 67f. 366 Vgl. Helmuth Forwick, Zur Behandlung alliierter Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg. Anweisung des Oberkommandos der Wehrmacht über Besuche ausländischer Kommissionen in Kriegsgefangenenlagern, in: MGM 2 (1967), S. 121. Zur Tätigkeit eines Delegierten der Schweizer Schutzmacht siehe den Bericht von: Rudolf E. Denzler, Im Dienste fremder Interessen. Erinnerungen an meine Dienste als Delegierter der Schweizer Schutzmacht in Deutschland 1943-1945, in: Wehrwissenschaftliche Rundschau 16 (1966), S. 682-695. 367 Zur WASt siehe: Rüdiger Overmans, Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg, München 1999, S. 23-28. 368 Vgl. Forwick, Behandlung, S. 121 Anm. 12. 369 A r t 85 lautete: „Die Vertragsparteien werden sich durch Vermittlung des Schweizerischen Bundesrats die amtlichen Ubersetzungen dieses Abkommens, ebenso wie die Gesetze und Verordnungen mitteilen, zu denen sie sich veranlaßt sehen sollten, um die Ausführung dieses Abkommens sicherzustellen." Siehe: RGBl. II. 1934, S. 252. 370 Art. 82 Abs. 2 legte zudem fest, sollte im Kriegsfalle „einer der Kriegführenden nicht Vertragspartei" sein, „bleiben die Bestimmungen dieses Abkommens gleichwohl für die kriegführenden Vertragsparteien verbindlich." Vgl. ebd., S. 251. Unklar blieb damit die Frage, ob das Kriegsrecht nur gegenüber den Vertragsstaaten einzuhalten gewesen war oder auch gegenüber dem Nichtsignatarstaat. Objektiv betrachtet wurde das Problem akut mit dem Angriff des Dritten Reiches auf die Sowjetunion, die zwar das Genfer Verwundetenabkommen von 1929 unterzeichnet hatte, nicht aber das Kriegsgefangenenabkommen. Nach einem Rechtsgutachten der Kriegsgefangenenabteilung im AWA vom 24. Juni 1941 war der Art. 82 des Abkommens von 1929 gleichwohl dahingehend auszulegen, daß die deutsche 364

2. Der

Kombattantenstatus

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Die Umsetzung der Vorschriften der Genfer Konventionen von 1929 in nationales Recht war ein dringend gebotenes Erfordernis, da die Kriegsgefangenen gemäß Art. 8 HLKO und Art. 45 des Kriegsgefangenenabkommens den Gesetzen, Vorschriften und Befehlen des Gewahrsamsstaates unterstanden 371 . Im Hinblick auf das Strafrecht und Strafverfahrensrecht war damit ein besonders sensibles Feld betroffen, zumal im Dritten Reich, das sich seit 1933 zunehmend von einer auf rechtsstaatlichen Grundsätzen und den Geboten der Menschlichkeit (Gleichheitsgrundsatz) verpflichteten Gesetzgebung und Rechtsprechung gelöst hatte. Die Vorschriften über Strafverfahren gegen Kriegsgefangene waren im Genfer Abkommen in den Artikeln 60 bis 67 niedergelegt worden. So hatte der Gewahrsamsstaat bei Einleitung eines Gerichtsverfahrens spätestens drei Wochen vor Eröffnung der Hauptverhandlung die Vertretung der betreffenden Schutzmacht, welche die Interessen des Heimatstaates des Kriegsgefangenen wahrnahm, über Personenstand und Anklagegründe zu informieren (Art. 60)372. Kein Kriegsgefangener durfte verurteilt werden, ohne Gelegenheit gehabt zu haben, sich zu verteidigen (Art. 61). Er besaß das Recht auf juristischen Beistand durch einen Verteidiger seiner Wahl. Die Gerichtsverhandlung hatte in aller Öffentlichkeit zu erfolgen, Geheimverfahren waren verboten. Die Delegierten der Schutzmacht durften der Prozeßverhandlung beiwohnen (Art. 62). Nach Abschluß des Verfahrens hatte ihnen der Gewahrsamsstaat eine Abschrift des Urteils umgehend auszuhändigen (Art. 65). Im Falle eines Todesurteils mußte die Schutzmacht drei Monate vor dem Vollstreckungstermin benachrichtigt werden (Art. 66) 3?3 . Unklar blieb angesichts dieser Regelung, inwieweit die Vertreter der Schutzmacht eine Art „Vetorecht" gegenüber Strafurteilen des Feindstaates besessen hatten. Denn ihre gebotene „Mitwirkung" konnte nur den Sinn haben, eine gewisse Kontrollfunktion auszuüben. Als Kombattant stand jeder Kriegsgefangener unter der Kommandogewalt der feindlichen Armee und damit unter ihrer Jurisdiktion, d.h. ihrer Kriegsgerichtsbarkeit: „Ein Urteil gegen einen Kriegsgefangenen darf nur durch dieselben Gerichte und nach denselben Verfahren gefallt werden wie ein Urteil gegen die zu den Streitkräften des Gewahrsamsstaates gehörenden Personen."(Art. 63)374. Für die deutsche Wehrmacht bedeutete dies, daß Kriegsgefangene ausschließlich von einem Militärgericht, d.h. im Landkrieg Feldkriegsgericht oder Reichskriegsgericht, verurteilt werden durften. Ein Standgericht kam auf Grund seiner besonderen Verfahrensvorschriften für Kriegsgefangene nicht in Frage.

Wehrmacht gegenüber der Sowjetunion an die Genfer Konvention gebunden war. Dem widersprach Prof. Ernst Schmitz von der Völkerrechtsgruppe der Abteilung Ausland, da seiner Auffassung nach besagter Artikel die Verbindlichkeit der Konvention nur unter den Signatarstaaten hervorheben wollte. Vgl. O b e r k o m m a n d o der Wehrmacht Az. 2f. 24. 35a Kriegsgef. (III), Berlin, den 24. Juni 1941, in BA-MA, R W 5/506, Bl. 3; Ausi. Vìe., Berlin, den 27. 6. 1941, in: ebd., Bl. 5. ^ Vgl. RGBl. 1910, S. 135; RGBl. II. 1934, S. 243. 3 - 2 Vgl. RGBl. II. 1934, S. 246. " 3 Vgl. ebd., S. 247. Zu den Verfahrensregeln siehe auch: Ludwig Müller, Das Genfer Abkommen betr. Kriegsgefangene v o m 27. Juli 1929, Würzburg 1932 (Diss.), S. 5 9 - 6 1 . Müller war Doktorand bei Christian Meurer. 37 t RGBl. II. 1934, S. 247.

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht

1939/1940

Die Umsetzung der Verfahrensvorschriften der Genfer Konvention in nationales Recht erfolgte im Dritten Reich in der Kriegsstrafverfahrensordnung vom 17. August 1938. Hier legte § 12 Abs. 3 zunächst fest, daß Kriegsgefangene „dem Gerichtsherrn, dessen Befehlsgewalt sie unterstellt sind"(...), „militärgerichtlich" unterstehen 3 7 5 . An diesem Grundsatz sollte auch die Heeresjustiz nicht rütteln, wie etwa Kriegsgerichtsrat Kalberlah bewies: „Sie (die Kriegsgefangenen; Anm. d. Verf.) unterstehen den militärischen Dienststellen. Daher hat die zuständige Militärbehörde zu entscheiden. Für die Aburteilung aller Taten von Kriegsgefangenen ist die Militärgerichtsbarkeit am Platze." 3 7 6 Die Regeln über Strafverfahren gegen Kriegsgefangene waren in den §§ 73—75 K S t V O festgeschrieben worden. In diesen wurden die Artikel 60, 62, 65 und 66 des Genfer Kriegsgefangenenabkommens nahezu wortwörtlich wiedergegeben 377 . Artikel 63 war durch § 12 K S t V O hinfallig geworden und Artikel 61, der den internationalen Rechtsgrundsatz des Rechts auf Gehör enthielt, fand hinlänglich seine Entsprechung in § 1 Abs. 2 K S t V O . Übrig blieb somit Art. 64 des Genfer Abkommens. Dieser besagte nun, daß jeder Kriegsgefangene das Recht besitzt, „gegen jedes Urteil, das gegen ihn ergangen ist, die nämlichen [!] Rechtsmittel einzulegen wie die zu den Streitkräften des Gewahrsamsstaats gehörenden Personen" 3 7 8 . Diese Schloß aber § 76 K S t V O aus: „Die Entscheidungen des Kriegsverfahrens sind mit Rechtsmitteln nicht anfechtbar." 3 7 9 D a der § 76 sowohl für Kriegsgefangene als auch für sämtliche Angehörigen der Wehrmacht Geltung besaß, kann hier von einem deutlichen Völkerrechtsbruch nicht ausgegangen werden. Die Genfer Konvention erlaubte einen rechtlich weiteren Spielraum für den Angeklagten im Strafverfahren, durch ihre vorsichtige allein auf Gleichstellung bedachte Formulierung in Art. 64 aber ließ sie es offen, inwieweit der Gewahrsamsstaat Rechtsmittel gestattete. So konnte ein Kriegsgefangener in Deutschland nur auf dem Wege des Gnadengesuchs Einfluß auf das Bestätigungsverfahren durch den Gerichtsherrn nehmen (§§ 112 und 116 KStVO)380. Die Genfer Verfahrensvorschriften für Kriegsgefangene wurden auch unter den Juristen und Referenten der Rechtsabteilungen der Wehrmacht diskutiert und im Sinne der obigen Anmerkungen besprochen 3 8 1 . D e n Kern der Genfer Bestimmungen faßte Kalberlah in den folgenden prägnanten Sätzen zusammen: „Daß bei der Beurteilung von Straftaten der Kriegsgefangenen zu beachten ist, ob es sich um völkerrechtlich durch Kriegsbrauch gedeckte Handlungen handelt, ist selbstverständlich. Diese geben den Kriegsgefangenen Rechtfertigungsgründe. E s ist ferner selbstverständlich, daß gegen die Kriegsgefangenen ein einwandfreies Verfahren stattfindet,

"5 Vgl. RGBl. I. 1939, S. 1460. Kurt Kalberlah, Behandlung der von Kriegsgefangenen vor ihrer Gefangennahme begangenen Straftaten, in: Zeitschrift für Wehrrecht 6 (1941), S. 218. 377 Vgl. RGBl. I. 1939, S. 1468f. 378 Vgl. RGBl. II. 1934, S. 247. 379 RGBl. I. 1939, S. 1469. Vgl. ebd., S. 1474f. 381 So z.B. bei: Alfons Waltzog, Kriegsgefangenenrecht. Unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsmilitärgerichts, in: Zeitschrift für Wehrrecht 4 (1939), S. 18f; Rittau, Kriegsverfahren, S. 71 f. 376

2. Der

Kombattantenstatus

381

wie es durch die Art. 60ff. des Genfer Abkommens vom 27. 7. 1929 normiert ist."382 Das Deutsche Reich war in der Frage des Verfahrensrechts gegen Kriegsgefangene den völkerrechtlichen Vorgaben damit fast mustergültig nachgekommen. Doch der Schein sollte trügen. Ein Problem bildeten zuvorderst die bereits besprochenen Normen des deutschen Strafrechts sowie ihr Geltungsbereich, der durch widersprechende Begriffe in § 161 MStGB und § 3 KStVO (Besatzungsgebiet - Operationsgebiet) sowie durch die Verordnung über den Geltungsbereich des Strafrechts vom 6. Mai 1940 endgültig ein rechtlich fragwürdiges Ergebnis aufweisen mußte. Schwerwiegend blieb generell der Einfluß politisch-ideologischer Vorgaben auf die Beurteilung völkerrechtlicher Inhalte. Der polnische Soldat war Kombattant der bewaffneten Macht des polnischen Staates. Als solcher besaß er alle Rechte der beiden Genfer Abkommen von 1929. Der polnische Staat, Subjekt des Völkerrechts, haftete für alle Taten seiner militärischen Angehörigen und ihm oblag die Wahrung der Rechte seiner Soldaten in Kriegsgefangenschaft durch Vermitdung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und durch die von ihm bestimmte Schutzmacht. Die Vermitdungsdienste für Polen in allen Belangen des Kriegsrechts leistete die Schutzmacht Schweden. Doch Polen als Subjekt des Völkerrechts existierte in den Augen der deutschen Besatzungsmacht nicht mehr. Entsprechend wies Otto Neumann im 4. Mob. Sammelerlaß vom l . M ä r z 1940 seine Kriegsgerichtsräte rückwirkend darauf hin: „Da der Polnische Staat nicht mehr besteht, sind in Strafverfahren gegen polnische Kriegsgefangene die in den §§ 73 und 75 KStVO vorgeschriebenen Mitteilungen an die Schutzmacht nicht mehr zu machen." 383 In einem Bericht an die Abteilung Ausland im OKW hatte Ministerialdirektor Friedrich W. Gaus, Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes, bereits am 31. Dezember 1939 darüber informiert, daß nach Auffassung der Regierung des Dritten Reiches das Schutzmandat Schwedens erloschen sei: „Mit Rücksicht auf die veränderten staatsrechdichen Verhältnisse in Polen ist der hiesigen Schwedischen Gesandtschaft, welche die polnischen Interessen in Deutschland wahrnahm, durch Verbalnote v. 20. v. Mts. (...) mitgeteilt worden, daß die Voraussetzungen, unter denen der Schutz der polnischen Interessen übernommen worden war, nach Ansicht der Reichsregierung durch die Entwicklung der Ereignisse in Fortfall gekommen seien und das Schutzmandat der Schwedischen Gesandtschaft damit als erledigt anzusehen sei."384 Die Fürsorge, so Gaus weiter, für die Angelegenheiten, welche in den Bereich der von der Botschaft ausgeübten Schutzes fielen, sei nunmehr auf das Reich übergegangen. Damit ergaben sich weitere rechdiche Konsequenzen für die polnischen Kriegsgefangenen: „Insbesondere kann die im Kriegsgefangenenabkommen vorgesehene Verpflichtung, der Zentralauskunftsstelle des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz Listen der polnischen Kriegsgefangenen zu übersenden, Kalberlah, Behandlung, S. 218. Aus amerikanischer Sicht siehe: John Brown Mason, German Prisoners of War in the United States, in: AJIL 39 (1945), S. 213f. Über das Recht des deutschen Kriegsgefangenen zur Einlegung von Rechtsmitteln in amerikanischem Gewahrsam sagt Brown Mason leider nichts. 383 Zitiert aus: 4. Mob. Sammelerlaß vom l . M ä r z 1940, Bl. 8, in: BA-ZNS, Disziplin und Rechtspflege II. 384 Zitiert aus: Auswärtiges Amt, R 31935, Berlin, den 31. Dez. 39, Betr.: Polnische Kriegsgefangene, in: BA-MA, R W 48/13. 382

382

III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht 1939/1940

nicht mehr als bestehend anerkannt werden. (...) Dem Vertreter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz soll künftig der Besuch von Lagern polnischer Kriegsgefangener nicht mehr ermöglicht werden; es ist beabsichtigt, (...) in dieser Beziehung möglichst unauffällig zu verfahren." 385 Wie aus einem Bericht des Referats VIII der WASt vom 25. Juni 1940 hervorgeht, wurde die „Listenzusendung" an die Zentralauskunftsstelle mit dem 24. Januar 1940 eingestellt386. Anfragen des Internationalen Roten Kreuzes nach polnischen Kriegsgefangenen waren laut Bericht im ersten Halbjahr 1940 von der WASt noch beantwortet worden. Für Auskünfte über die polnischen „Zivilinternierten" fühlte sich die WASt hingegen nicht zuständig: „Eine Zeitlang wurde häufig nach polnischen und anderen Juden [sie] gefragt, die, teilweise bereits vor Kriegsausbruch interniert, sich in Konzentrationslagern befanden. Diese Anfragen wurden mit Abgabebescheid dem Chef der Deutschen Polizei zugeleitet. Ihr Eingang hat daraufhin aufgehört." 387 Die einseitige Aufkündigung des Schutzmandats beraubte die polnischen Kriegsgefangenen des völkerrechtlichen Schutzes. Abgeschnitten von jeder Kommunikation nach „draußen" blieben sie auf den „Good Will" deutscher Behörden und Armeestellen angewiesen. Die Möglichkeit der Beschwerde an die Vertreter der Schutzmächte, nach Art. 42 der Genfer Konvention ein verbrieftes Recht eines jeden Kriegsgefangenen 388 , stufte entsprechend der Chef Kgf. als „völlig unzulässig" ein389. Jeder Schriftwechsel mit dem Polnischen Roten Kreuz war den Kriegsgefangenen ausdrücklich verboten. Ebenso war ihnen der Schriftverkehr mit anderen ausländischen Hilfsgesellschaften untersagt390. Mit der Aberkennung Polens als Völkerrechtssubjekt war „rechtlich" der Weg frei zur Errichtung einer deutschen Zivilverwaltung auf dem polnischen Staatsterritorium. Damit einher ging die Entrechtung der polnischen Soldaten, d.h. die Aberkennung ihres Kombattantenstatus. Vielfach wurden sie zu zivilen Zwangsarbeitern erklärt391. Ohnehin war die Einhaltung des Völkerrechts gegenüber den polnischen Soldaten mit Beginn der Kämpfe vielfach nicht gewährleistet. Dies hatte sich gezeigt im Falle der Versprengten, genauer in dem rechtswidrigen Befehl über Waffenbesitz vom 12. September 1939. Darüber hinaus hatten deutsche Soldaten ζ. T. aus Rachegelüsten polnische Kriegsgefangene erschossen 392 .

Zitiert aus: Auswärtiges Amt, R 31935, Berlin, den 31. Dez. 39, Betr.: Polnische Kriegsgefangene. 386 Vgl. Ref. VIII, Berlin, den 25. Juni 1940, Bericht über Tätigkeit und Erfahrungen, Bl. 9, in: BA-MA, RW 48/13. 3 8 7 Zitiert aus: ebd., Bl. 9. Laut Vereinbarung vom 21. Oktober 1939 über den Tokioter Entwurf waren Zivilinternierte und Kriegsgefangene rechtlich gleichgestellt. 388 Vgl. RGBl. II. 1934, S. 242. -w Vgl. Oberkommando der Wehrmacht, Az. 2f 24. 60 Kriegsgef. (VI), Nr. 418/40g, Berlin W 35, den 8. 4. 1940, in: BA-MA, RW 4/298, Bl. 261. 350 Vgl. ebd., Bl. 262f. 391 Vgl. Rüdiger Overmans, Soldaten hinter Stacheldraht. Deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs, Berlin, München 2000, S. 15. 392 So erschossen beispielsweise Soldaten des Infanterie-Regiments 15 der 10. Armee am 9. September 1939 über 300 polnische Kriegsgefangene aus Rache über eigene Verluste. Vgl. Wildt, Generation, S. 467. 385

2. Der

Kombattantenstatus

383

Die Gerichtsverfahren gegen polnische Kriegsgefangene müssen unter zwei wesentlichen Aspekten betrachtet werden. In besonderer Hinsicht waren sie durch die Beseitigung völkerrechtlicher Bestimmungen gekennzeichnet, die sich zuvorderst in der eigenmächtigen Aufhebung des schwedischen Schutzmandats ausgedrückt hatte. Ganz allgemein standen sie vor dem Hintergrund eines nicht abgeschlossenen Diskurses innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft und der deutschen Militärs. Denn ungelöst blieb vor dem Krieg der Fragekomplex über die Ahndung von Straftaten, welche von den feindlichen Soldaten vor ihrer Gefangennahme begangenen worden waren. Zu unklar, zu unpräzise waren die hierfür notwendigen Rechtsgrundlagen ausgefallen, ungelöst blieben Fragen über den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts sowie die Bewertung von Straftaten auf Befehl und damit verknüpft die Frage des Befehlsnotstandes. So hatte Rudolf Lehmann Ende Juni 1939 noch den Gedanken eingebracht, eine „Strafnorm für kriegsvölkerrechtswidriges Verhalten gegen Deutschland als Weltdelikt aufzustellen". Straftaten auf Befehl wollte er aber hiervon ausdrücklich ausgeschlossen wissen 393 . Eine erste Klärung der anstehenden Fragen lieferte indes Admiral Canaris, Chef des Amtes Ausland/Abwehr im OKW. So gab er in einem Rundschreiben an die Oberstkriegsgerichtsräte vom 13. November 1939 die folgende Richtlinie aus: „Nach § 2 Nr. 3 der Kriegsstrafverfahrensordnung sind die Kriegsgerichte gegenüber Kriegsgefangenen grundsätzlich nur für solche Straftaten zuständig, die diese während der Gefangenschaft begehen. Straftaten Kriegsgefangener, die vor der Gefangennahme begangen sind, können von den Kriegsgerichten nur abgeurteilt werden, wenn sie im Operationsgebiet begangen sind und ein Bedürfnis der Kriegführung es gebietet. Diese Voraussetzungen werden nur in den seltenen Fällen gegeben sein. Die vielfachen Greueltaten gegenüber Volksdeutschen in Polen gehören nicht hierzu. Sie sind vielmehr von den ausdrücklich hierfür eingesetzten zivilen Sondergerichten abzuurteilen." 394 Der Geltungsbereich des deutschen Strafrechts war damit für Polen geregelt. Ausschlaggebend für Gerichtsverfahren gegen Kriegsgefangene waren somit die §§ 2 und 3 KStVO, wobei der § 161 MStGB hierdurch keineswegs aufgehoben war. Für Straftaten polnischer Soldaten gegen die deutsche Minderheit waren nunmehr zivile Sondergerichte vorgesehen, worin unzweideutig zum Ausdruck gebracht wurde, daß hier rein innerdeutsche Gesichtspunkte zum Zuge kamen. Da die Volksdeutschen polnische Staatsangehörige gewesen waren, wären in den bezeichneten Fällen jedoch Verfahren vor polnischen Gerichten „am Platze" gewesen. Diese völkerrechtlich korrekte Sichtweise machte Kriegsgerichtsrat Walter Schätzel an seinem Beispiel von Straftaten belgischer Soldaten an belgischen Zivilisten deutlich: „Es wird daher kein Bedenken dagegen bestehen, einen Verbrecher dieser Art, der sich etwa unter den gefangenen Belgiern befindet, den belgischen Gerichten zur Bestrafung zu überliefern, wobei natürlich überwacht werden kann, ob er auch bestraft wird. Sollte er freigesprochen werden, so ist er in die Kriegsgefangenschaft

Vgl. Oberkommando der Wehrmacht 2 f 10 WR (D Illa), Kriegsrechtsfálle, in: BA-MA, RH 36/324, Bl. 29. •w A. Ausl.Abw., Nr. 315/10.39 g Abw. (ZR), Berlin, den 13. November 1939, betr.: Gerichtliche Verfolgung von Kriegsgefangenen, in: BA-MA, RH 36/324, Bl. 63.

384

III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht

1939/1940

zurückzuliefem." 395 Gegenüber Polen blieben solche rechtliche Erwägungen aus, da es völkerrechtlich nicht mehr als existent betrachtet wurde. Die Installierung von Sondergerichten in Polen bildete institutionell den Vollzug der Annexion, wie Schätzel selbst darlegte: „In den ehemals polnischen Ostgebieten besteht ein Interesse an der Bestrafung um so mehr, als das Reich als Nachfolger der polnischen Gerichtsbarkeit dort neue Zivilgerichte eingerichtet hat und die Notwendigkeit der Wiederherstellung geordneter Zustände es dringend erfordert, daß schwere Straftaten nicht ungesühnt bleiben. In den eingegliederten Ostgebieten wären daher solche kriegsgefangenen Verbrecher an die jetzt zuständigen deutschen Zivilgerichte zur Bestrafung abzugeben." 396 Die Vornahme der Annexion polnischen Staatsgebiets, die ausschließlich Kriegsgrund und Kriegsziel der deutschen Führung gewesen war, bewirkte aber, daß nicht nur bei Straftaten gegen die deutsche Minderheit, sondern auch bei Straftaten gegen Soldaten der deutschen Wehrmacht, polnische Kriegsgefangene vor zivile Sondergerichte gestellt wurden. Verfahren vor Wehrmachtgerichten waren in diesen Fällen zwar denkbar, doch liegen hierzu keine Dokumente vor. Die Frage der Ahndung von Straftaten kriegsgefangener Soldaten muß im Falle Polens zudem als Sonderheit begriffen werden, nämlich als Vorwegnahme des Treuebruchs gegenüber zukünftigen Ansprüchen des Dritten Reiches. Denn das Problem war allgemein keineswegs gelöst, wie die Diskussion nach Beendigung des Feldzuges gegen Frankreich 397 belegen sollte. Eingeleitete Strafverfolgungen gegen Angehörige der französischen Armee, wie gegen den General Giraud 398 , der sich durch Flucht einem Prozeß gerade noch entziehen konnte, oder gegen den Oberleutnant Levresse 399 , sowie die von der Wehrmacht-Untersuchungsstelle gesammelten Fälle von Völkerrechtsverletzungen der französischen Streitkräfte entfachten eine Kontroverse über die Rechtsgrundlagen, die Rechtmäßigkeit aber auch über die politische Zweckmäßigkeit von Kriegsverbrecherprozessen. So erkannte Rudolf Lehmann in einem Rechtsgutachten vom 2. September 1940 generell das Bestreben an, Rechtsverstöße französischer Soldaten gegen Angehörige der deutschen Wehrmacht strafrechtlich ahnden zu lassen. Als Rechtsgrundlage für derartige Prozesse empfahl er den § 4 RStGB, welcher durch die Verordnung über den Geltungsbereich des Strafrechts am 6. Mai 1940 neu eingeführt worden war. Dieser dem deutschen Strafrecht — nicht Militärstrafrecht — zugehörige Paragraph sprach allerdings ganz allgemein von „Ausländern" und „Tätern" ohne die spezifischen Besonderheiten des Kriegsgefangenenrechts zu berücksichtigen. Eine „Strafnorm für kriegsvölkerrechtswidriges Verhalten", wie Lehmann sie ein Jahr Walter Schätzel, Gerichtsbarkeit über Kriegsgefangene, in: Zeitschrift für Wehrrecht 5 (1940), S. 164. Ebd., S. 164. 397 Zum Feldzug gegen Frankreich siehe: Hans Umbreit, Der Kampf um die Vormachtstellung in Westeuropa, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 2: Die Errichtung der Hegemonie auf dem europäischen Kontinent, Stuttgart 1979, S. 235-327; Frieser, Blitzkrieg-Legende. 398 Vgl. Luftwaffenführungsstab Ic, Nr. 11686/40 geh., Ic/Pol. Nr. 650/40 geh., H.Qu., den 18. Juni 1940, Betr.: Einleitung eines kriegsgerichtlichen Verfahrens gegen General Giraud, in: BA-MA, RW 4/299, Bl. 121. 399 Vgl. Zayas, Wehrmacht-Untersuchungsstelle, S. 186f. 395

2. Der Kombattantenstatus

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zuvor gefordert hatte, konnte in § 4 RStGB nicht erblickt werden. Diese gravierenden Mängel des § 4 waren Lehmann letztlich nicht verborgen geblieben. Unter Einbeziehung politischer Gesichtspunkte griff er seinen alten Gedanken denn auch wieder auf, diesmal um ihn zu verwerfen: „Es ist daher zu erwägen, ob die Einführung von Strafnormen für schwere Verstöße gegen das Völkerrecht sowohl in Deutschland als auch durch eine französische Regierung empfehlenswert ist. Bei der Einführung einer derartigen Vorschrift würde jedoch zu erwarten sein, daß auch England entsprechende gesetzliche Maßnahmen trifft. Bei der voraussichtlich unsachgemäßen Anwendung der Strafbestimmung durch den Gegner besteht die Gefahr einer Rückwirkung, insbesondere einer Gefährdung unserer U-Boot- und Flugzeugbesatzungen. Daher ist von der Schaffung einer Strafsanktion gegen Völkerrechtsverbrechen abzuraten." 400 Ein weiteres Problem bei der Ahndung von Straftaten gegen deutsche Soldaten bildete des weiteren, daß nicht alle Straftäter in deutschen Gewahrsam gewesen waren. Im Falle Polens spielte dies keine Rolle, doch Frankreich blieb nach deutscher Rechtsauffassung weiterhin Subjekt des Völkerrechts und mußte demnach auch behandelt werden. Dem hieraus erwachsenden Erfordernis von Auslieferungsanträgen an die französische Regierung hielt Lehmann jedoch historisch-politische Gesichtspunkte entgegen: „Gegen ein solches Auslieferungsverlangen spricht, daß es eine Wiederholung der 1919 von Frankreich an uns gerichteten Forderung wäre. Uns ist es damals gelungen, Frankreich von der Durchführung der tatsächlichen Auslieferung abzubringen. Wir müssten uns jetzt von Frankreich alles das entgegenhalten lassen, was wir selbst damals gegen die Auslieferung geltend gemacht haben." 401 Diese beiden von Lehmann erörterten Aspekte verdeutlichten einmal mehr, daß Entscheidungen und Handlungen in der Wehrmacht nicht primär an völkerrechdichen Maßstäben orientiert waren. Eine gemäß den Bestimmungen des Kriegsrechts agierende bewaffnete Macht brauchte mögliche Strafprozesse gegen die eigenen Soldaten nicht zu fürchten und ebensowenig die Reaktionen einer Internationalen Öffentlichkeit. Einige Tage später beschwor der Stellvertreter von Friedrich Gaus, Geheimrat Dr. Erich Albrecht, eben gerade diesen Alptraum deutscher Führungseliten herauf, indem er daran erinnerte, „daß die Französische Regierung ihrerseits Fälle von Völkerrechtsverletzungen durch deutsche Wehrmachtsangehörige behaupte [n] und deren Verfolgung forder[n]" könnte402. In diesem gewichtigen Punkt, der Frage der Abhaltung von Kriegsverbrecherprozessen, überkreuzten sich nunmehr Rechtsanspruch und Rechtspraxis der deutschen Kriegführung. Dem berechtigten Anliegen der Bestrafung von Kriegsverbrechern der feindlichen Armeen stand unweigerlich das entsprechende Rechtsbegehren der Alliierten entgegen. Zu ihnen zählte auch die polnische Exilregierung, die gleichlautende Ansprüche geltend machen konnte und dies später in der Erklärung von St. James-Palace auch tat. Strafprozesse gegen deutsche Kriegsgefangene mußten zwangsläufig jene Rechtswirklichkeit einer Weltöffentlichkeit vor Augen führen, wie

-»"" Zitiert aus: W R 2 m W R (III 10 a), 567/40g, Berlin, den 2. 9. 40, Betr.: Vorarbeiten für den Friedensschluß mit Frankreich, Bl. 2, in: P A - A A , R 4 0 6 8 2 . •«" Zitiert aus: ebd., Bl. 1. 4 0 2 Vgl. Berlin, 14. September 1 9 4 0 , Betr.: Strafverfolgung von französischen Kriegsverbrechen, Bl. 2, in: P A - A A , R. 4 0 6 8 2 .

386

III. Die Umsetzung

des Kriegsrechts

in der deutschen

Wehrmacht

1939/1940

sie in deutschen Gerichtsverfahren gegen Angehörige v o n SS und Wehrmacht längst zum Vorschein gekommen war 4 0 3 . Aus der zeitweiligen Erwägung gegebenenfalls „internationale Kriegsverbrecherprozesse" führen zu wollen, erwuchs im Ergebnis die Absicht, nationale (deutsche) Strafprozesse abzuhalten. Die hierin liegenden politisch-rechtlichen Ambitionen korrespondierten mit dem allumfassenden § 4 RStGB, welcher losgelöst v o n den § 161 M S t G B und § 3 K S t V O als letzte A n t w o r t auf Lehmanns ursprüngliches Vorhaben verstanden werden mußte. In einem Bericht an die Wehrmachtrechtsabteilung schrieb deshalb A l f o n s Waltzog: „Diese Völkerrechtsverbrecher in allen schwerwiegenden Fällen zur kriminellen Verantwortung zu ziehen ist unerläßlich. In Betracht kommen nur die wirklich bedeutungsvollen Verstöße. Bei ihnen reicht die deutsche Gesetzgebung insbesondere bei Berücksichtigung der Neufassung des § 4 R S t G B aus. Die Schaffung eines neuen deutschen Deliktes wegen Völkerrechtsverletzungen braucht daher nicht erwogen zu werden." 404 Ende Dezember 1 9 4 0 setzte sich Prof. Emst Schmitz v o n der Völkerrechtsgruppe allgemein mit dem Thema „Kriegsverbrecherprozesse" auseinander. Dabei stellte er den bisherigen Argumenten rein rechtliche gegenüber, um eine endgültige Einstellung derartiger Prozesse erwirken zu können. Entschieden verfocht er hierbei die bislang unbekannte These, wonach Todesurteile in Kriegsverbrecherprozessen eine

Noch während des Krieges wurde der deutsche Alptraum Wirklichkeit in den sowjetischen Kriegsverbrecherprozessen in Krasnodar Mitte Juli 1943 und in Charkow im Dezember 1943. Siehe dazu u.a. Manfred Zeidler, Stalinjustiz contra NS-Verbrechen. Die Kriegsverbrecherprozesse gegen deutsche Kriegsgefangene in der UdSSR in den Jahren 1943—1952. Kenntnisstand und Forschungsprobleme, Dresden 1996; Prozeß in der Strafsache gegen die faschistischen deutschen Okkupanten und ihre Helfershelfer wegen ihrer Bestialitäten im Gebiet der Stadt Krasnodar und des Krasnodarer Gaus während der zeitweiligen Besetzung dieses Gebiets. Verhandelt am 14.-17. Juli 1943, Moskau 1943. Konfrontiert mit den Maßnahmen einer anderen Diktatur gab das Auswärtige Amt am 24. Dezember 1943 vor den Vertretern der ausländischen Presse eine Erklärung zu den sowjetischen Prozessen ab, in der es diese in Parallele zu den Schauprozessen der dreißiger Jahre zu setzen suchte: „In Charkow fand ein sogenannter Prozeß gegen 3 Kriegsgefangene, Angehörige des Deutschen Heeres, 2 Offiziere, 1 Unteroffizier und 1 russ. Chauffeur statt, wegen angeblicher Ermordung von Angehörigen der Zivilbevölkerung in den besetzten Ostgebieten. Der gegen sie erhobene Vorwurf ist so krankhaft und dumm, daß er nur im Gehirn jener perversen Kreaturen geboren werden konnte, die sich schon früher solcher Verfahren als Schauprozess bedienten, um die Unzufriedenheit im eigenen Land von den wirklich Schuldigen abzulenken. (...) Es ist charakteristisch, daß bei diesem Schauprozeß in Charkow die gleichen Verteidiger Kasnatschejew und Komodow auftraten, denen es im Zusammenwirken mit dem blutbefleckten Scheusal Wyschinski, schon früher jedesmal gelungen ist, die Opfer der damaligen Schauprozesse zum Geständnis und damit zum Genickschuß oder an den Galgen zu bringen. (...) Was jeden anständigen Menschen an diesem Schauprozeß aber zutiefst anwidert, das ist die Scheinheiligkeit, mit der drei unschuldige deutsche Kriegsgefangene unter dem Schein der Rechts gemordet werden, so, als ob sie die einzigen Opfer der bolschewistischen Brutalität wären." Siehe: OKW, Amt Ausland/Abwehr Ag Ausland II C (1. Staffel), O.U., den 24. Dezember 1943, Deutsche Erklärung zu Charkow, Bl. 1-3, in: PA-AA, R 40676. 404 Zitiert aus: Bericht über die Dienstreise des Min.Rats Geh.Rats Dr. Wagner und des KGRats d. Lw. Dr. Waltzog nach Wiesbaden zur Besprechung bei der deutschen Waffenstillstandskommission am 25. 9. 1940, Berlin, den 27. 9. 1940, in: BA-MA, RW 2/27, Bl. 5. 403

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Verletzung des Art. 23c HLKO 4 0 5 bedeuten würden: „Da die Aufgabe der Kriegsgerichte in ihrer Tätigkeit gegenüber Ausländern lediglich in der Durchsetzung von zur Erreichung des Kriegszweckes notwendigen militärischen Maßnahmen in einem justizförmigen Verfahren besteht [!], steht die Verhängung der Todesstrafe gegen einen Kriegsgefangenen aus anderen Gründen, z.B. wegen vor der Gefangenschaft begangener Straftaten der Tötung eines wehrlosen Feindes gleich und stellt eine Verletzung des Art. 23c der Haager Landkriegsordnung dar (,..)." 406 Eindringlich warnte Schmitz davor, „der vielfach zu beobachtenden Neigung, Kampfhandlungen nachträglich unter die juristische Lupe zu nehmen, nachzugeben." Damit würde nicht der Idee des Kriegsrechts gedient, sondern Wirkung und Gegenwirkung solcher Prozesse würden im Ergebnis dazu führen, „die Kampfhandlungen im Widerspruch zu ihrem eigentlichen Sinne in strafrechtliche Tatbestände aufzulösen, sodaß für das Kriegsrecht überhaupt kein Raum mehr bleibt [!]" 407 . Damit stand Ernst Schmitz jedoch hinter der deutschen Rechtspraxis zurück, die, gleichwohl auf ungenügender Rechtsgrundlage, zur Verurteilung von Kriegsgefangenen wegen „Straftaten vor ihrer Gefangennahme" geschritten war. Ungelöst war aber auch in der theoretischen Diskussion die gewichtige Rechtsfrage über die Handhabung von Straftaten geblieben, welche auf Befehl von Dienstvorgesetzten begangen worden waren. Auch hier sollte indes die Rechtspraxis längst Bewertungsmuster geschaffen haben. Sie zeichneten sich erstmals in Prozessen gegen polnische Kriegsgefangene ab. Am 28. November 1939 verhandelte das Sondergericht in Lodz unter dem Vorsitz von Landgerichtsdirektor Dr. Welz in der Strafsache gegen den polnischen Sergeanten Lucjusz Kurczynski, welcher wegen Mordes in zwei Fällen angeklagt gewesen war. Ohne Feststellung der Zuständigkeit des Gerichts und der notwendigen Rechtsgrundlage des Prozesses begann Dr. Welz in seinem Urteil mit der Darlegung der Straftat des Angeklagten. Danach stürzte am 6. September 1939 ein deutsche Bomber Heinkel He 111.57 im Kampf bei Piekary südlich von Blonie ab. Drei Mann der Besatzung waren sofort tot. Dagegen war es dem Obergefreiten Paetzold als einzigem gelungen, vor dem Aufprall aus der brennenden Maschine abzuspringen. Schwer verletzt wurde er von einem Bauern aufgefunden und zur nächsten Polizeistation in Grodzisk gebracht, wo er mit einem polnischen Deserteur in eine Arrestzelle gesperrt worden war. Beide Gefangenen unterstanden der Befehlsgewalt des polnischen Ergänzungsbezirkskommandanten in Grodzisk, des Majors Zwandski. Als am nächsten Tage frühmorgens deutsche Truppen auf die Ortschaft vorrückten, ließ Zwandski überstürzt Fluchtvorbereitungen treffen und gab dem Angeklagten den Befehl, die beiden Gefangenen zu erschießen, da sie nicht mitgenommen aber auch nicht freigelassen werden könnten. Der Sergeant Kurczynski führte daraufhin den ihm erteilten Befehl aus.408

Art. 23c H L K O verbietet die Tötung eines die Waffen streckenden oder wehrlosen Feindes. Vgl. RGBl. 1910, S. 141. 4 0 6 Zitiert aus: Ausi. VI c., Berlin, den 30. 12. 1940, betr.: Strafsache gegen den französischen Kriegsgefangenen Oberleutnant Levresse, in: BA-MA, RW 5 / 2 8 , Bl. 51. 4(l " Vgl. ebd., Bl. 52. 4,|8 Vgl. Sond. K.Ls. 2 3 / 3 9 , in: BA-MA, R W 2 / 5 4 , Bl. 305f. 405

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht

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Zur Bewertung der Tat des Angeklagten legte das Gericht in seinem Urteil eine Rechtsauffassung zu Grunde, welche in dieser Deutlichkeit in den oben behandelten Gerichtsverfahren niemals ausgesprochen worden war. So führte Dr. Welz gegen den Angeklagten aus, daß dieser klar hätte erkennen müssen, „daß er nach geltendem Kriegsrecht nur die Wahl hatte, die beiden Gefangenen entweder auf der Flucht mitzunehmen oder sie freizulassen. Er wußte auch, daß selbst ein Dienstvorgesetzter ihm nicht rechtsverbindlich befehlen konnte, die beiden Gefangenen zu töten, da Kriegsgefangene und Militärhäftlinge, wie dem Angeklagten bekannt war, auch nach polnischem Recht nur auf Grund eines gerichtlichen Urteils getötet werden durften, und daß ein solches Urteil gegen keinen der beiden Gefangenen vorlag. Obwohl der Angeklagte alle diese Gesichtspunkte bedachte und gegeneinander abwog, entschloß er sich doch nach reiflicher Überlegung, die Gefangenen auf den Grodzisker Friedhof zu führen, ohne ihnen Ziel und Zweck des Marsches mitzuteilen, und sie dann hinterrücks zu erschießen." 409 In diesen Zeilen entpuppte sich Dr. Welz als ein aufmerksamer Rechtsgelehrter, denn seiner Argumentation unterlag eine Rechtsfigur, wie sie aus dem Verfahren gegen Dithmar und Boldt vor dem Reichsgericht zu Leipzig im Jahre 1921 410 hinlänglich bekannt gewesen war. Die zu ihr gehörende Strafnorm war der § 47 Abs. 2 MStGB. Ohne diesen explizit aufzugreifen fällte er sein Urteil in dem Sinn, wie ihn das Reichsgericht ausgelegt hatte. Einwendungen, wie sie beispielsweise von Erich Schwinge vorgebracht worden waren, ließ er gegenüber dem polnischen Soldaten nicht zu. So verhängte er über den Angeklagten die Todesstrafe nach § 211 RStGB (Mord) und betonte abschließend nochmals: „Rechtfertigungsgründe liegen nicht vor, da die Tötung von Kriegsgefangenen und Militärhäftlingen auch nach polnischem Kriegsrecht nur auf Grund eines ordnungsmäßigen und rechtmäßigen Gerichtsurteils hätte vorgenommen werden dürfen und demgemäß auch durch einen ausdrücklichen Dienstbefehl keine Rechtfertigung haben erlangen können." 411 Zu ergänzen bliebe, daß im Falle eines Gerichtsverfahrens die deutsche Schutzmacht (Schweiz) einzuschalten gewesen wäre, was angesichts der Situation in der sich die polnische Einheit befunden hatte, schier absurd gewesen wäre. Diese war eindeutig als „Notstand" zu begreifen und damit als eine Situation, in der gemäß der dezidierten Auffassung Max Hubers aus dem Jahre 1913 zumindest der deutsche Kriegsgefangene hätte freigelassen werden müssen 412 . Die hieraus gebotenen Konsequenzen für die Handlungsweise des polnischen Sergeanten sprach Dr. Welz gleichwohl nicht an. Denn dieser hätte die Ausführung des Befehls verweigern müssen. Ein solches Recht besaßen allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht einmal die Soldaten der amerikanischen Armee. Ohne die polnischen Rechtsvorschriften expressis verbis auseinanderzusetzen, unterstellte Welz ihnen den Rechtsinhalt des § 47 Abs. 2 MStGB. Dem Gerichtsurteil unterlag damit die allgemeine Problematik des Verhältnisses von Völkerrecht und Landesrecht; ein gewichtiges Faktum, worauf Welz nicht eingehen Zitiert aus: Sond. K. Ls. 23/39, Bl. 306f. 410 Vgl, Weißbuch. Abdrucke der vom Reichsgericht auf Grund der Gesetze vom 18. Dezember 1919 und 24. März 1920 erlassenen Urteile, in: Verhandlungen des Reichstags. I. Wahlperiode 1920, Bd. 368. Anlagen zu den Stenographischen Berichten, Nr. 2254 bis 2628, S. 2586f. 411 Zitiert aus: Sond. K. Ls. 23/39, Bl. 308. 412 Vgl, ]y[ a x Huber, Die kriegsrechtlichen Verträge und die Kriegsraison, in: Zeitschrift für Völkerrecht 7 (1913), S. 373. 409

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wollte. Eine rechtmäßige Anwendung des § 47 Abs. 2 MStGB in einem Strafverfahren gegen Kriegsgefangene erforderte aber die Überprüfung aller damit verbundenen Rechtsbelange. Ein geradezu unheimliches Verfahren stellte dasjenige gegen Jan Laska dar, der als Hufschmied dem 13. polnischen Ulanen-Regiment angehört hatte. Angeklagt wegen Mordes wurde Laska vor dem Sondergericht bei dem Landgericht Königsberg unter dem Vorsitz von Landgerichtsrat Dietrich am 2. März 1942 der Prozeß gemacht. Laska, dessen Dienstrang anzugeben das Sondergericht nicht mehr für nötig gehalten hatte, war seitens der Anklage vorgeworfen worden, am 18. September 1939 in der Nähe von Nowo-Wileka einen kriegsgefangenen deutschen Piloten oder Fallschirmjäger [!] erschossen zu haben. Die Tat sollte sich laut Gericht unter den allgemeinen Auflösungserscheinungen seiner Truppe ereignet haben, nachdem sich die Gerüchte verdichtet hatten, daß die Rote Armee den polnischen Streitkräften in den Rücken gefallen war413. Die angebliche Straftat Laskas war durch Denunziation seiner kriegsgefangenen Kameraden zur Anzeige gebracht worden. Laska selbst bestritt dagegen vehement den ihm vorgeworfenen Mord begangen zu haben 414 . Für die Durchführung eines ordentlichen und fairen Prozesses fehlte dem Gericht darüber hinaus ein wichtiges Beweisstück; es fehlte die Leiche des vermeintlich getöteten deutschen Soldaten. Das Sondergericht hatte sich nicht die Mühe gemacht, bei der WASt anzufragen, ob aus der damaligen Zeit im Raum Nowo-Wileka ein deutscher Soldat als vermißt gemeldet worden war, geschweige denn zu überprüfen, ob es sich bei der in Frage stehenden Person um einen Piloten oder Fallschirmjäger gehandelt haben könnte 415 . Das Verfahren beruhte allein auf „Hören-Sagen". Über die Glaubwürdigkeit der Zeugen führte Dietrich schließlich aus: „Sie haben zwar als Polen auf ihre Aussage hin nicht beeidigt werden können. Die allgemeinen Bedenken, die der Glaubwürdigkeit polnischer Zeugenaussagen entgegenstehen, können im vorliegenden Sachverhalt außer Betracht bleiben, da das Strafverfahren sich gegen einen Polen richtet." 416 Ungeklärt blieb des weiteren auch, auf welche Weise der Angeklagte Laska den deutschen Kriegsgefangenen überhaupt in Gewahrsam genommen haben sollte41". Unerschütterlich ging Landgerichtsrat Dietrich von der Tatsache aus, daß ein Mord stattgefunden hatte. Über das Motiv des Täters konnte er freilich nur spekulieren: „Was im einzelnen dem Angeklagten zu seiner Tat bewogen hat, hat nicht festgestellt werden können. Es muß jedoch als erwiesen angesehen werden, daß der Angeklagte den deutschen Soldaten - wenn nicht aus Mordlust - so doch zum mindesten deswegen vorsätzlich getötet hat, weil dessen Überwachung ihm auf Dauer unbequem und lästig geworden war. Dieser Beweggrund erscheint im Hinblick darauf, daß es sich bei dem Getöteten um einen wehrlosen Kriegsgefangenen gehandelt hat und die Tat im Widerspruch zu den primitivsten Grundsätzen jeglichen

" Vgl. 14 Ls. 4 4 5 / 4 1 , 6 2 6 / 4 1 , in: BA-MA, R W 2 / 5 7 , Bl. 184. >-> Vgl. ebd., Bl. 185. 4 1 5 Für den Polenfeldzug war die 22. Infanterie-Division zur Luftlande-Division ausgebildet und umgerüstet worden. Sie blieb jedoch als Reserve des O K H im Innern des Reiches. Vgl. Manstein, Verlorene Siege, S. 25. 41 '· Zitiert aus: 14 I.s 4 4 5 / 4 1 , 6 2 6 / 4 1 , Bl. 186f. 41T Vgl. ebd., Bl. 185. 4

4

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht 1939/1940

Völkerrechts steht, als besonders niedrig."418 Dietrich verurteilte daraufhin Laska gemäß § 211 RStGB zum Tode. Das Urteil des Sondergerichts bei dem Landgericht in Königsberg muß im besonderen vor dem Hintergrund der Aberkennung Polens als Subjekt des Völkerrechts betrachtet werden. Der fehlende Beistand der schwedischen Schutzmacht zeitigte im Fall Laska schwerwiegende Folgen. Auch wenn die Einflußmöglichkeit einer Schutzmacht auf ein laufendes Verfahren nicht überbewertet werden darf, so steht außer Frage, daß ein solches Verfahren dann von einer internationalen Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt worden wäre. Deutschland wäre zumindest gezwungen gewesen, dieses Urteil rechtfertigen zu müssen. Die Anwendung des § 47 Abs. 2 MStGB war keineswegs auf den polnischen Kriegsschauplatz beschränkt. Zur rechtlichen Verortung der Straftat wurde er ebenso in Westeuropa herangezogen, wie das folgende Beispiel veranschaulichen soll. So verhandelte das Gericht des Kommandanten von Groß-Paris in der Zeit vom 6. bis 17. Januar 1942 in der Strafsache gegen den französischen Leutnant Rene Caron und den französischen Segeant-Chef Emile Hollet wegen Mordes in 21 Fällen. Die Tat nahm ihren Ausgangspunkt zu Beginn des deutschen Feldzuges gegen die Westmächte auf dem Kontinent am 10. Mai 1940. An diesem Tag hatte die belgische Regierung beschlossen, eine größere Zahl von Personen, die ihr nach den Worten des deutschen Gerichts politisch unzuverlässig erschienen, verhaften zu lassen. Die Festgenommenen sollten auf einem eigens zusammengestellten Transport über Ostende nach England verbracht werden. Infolge des unerwartet schnellen Vordringens der deutschen Streitkräfte aber mußten einige der Zivilinternierten nach Paris umgeleitet werden. Am 19. Mai 1940 machte deren Zug Station in Abbeville, wo die Internierten in den Keller eines Musikpavillons verbracht worden waren. Dort verblieben sie bis zum Nachmittag des 20. Mai. An diesem Tage wurde die Stadt von schweren Bomberangriffen der deutschen Luftwaffe heimgesucht. Unter den französischen Truppen in Abbeville machten sich Auflösungserscheinungen breit. In dieser Situation erteilte der Platzkommandant Obersdeutnant Evain, dessen Büro in der Nähe des Pavillons lag, den mündlichen Befehl, die Zivilinternierten zu erschießen. Daraufhin wurden 21 Personen, die zu fünf Gruppen eingeteilt aus dem Keller herausgeholt worden waren, u.a. von den beiden Angeklagten erschossen419. Unter den insgesamt 76 Zivilinternierten waren Deutsche, Staatenlose, Belgier, Spanier, Dänen, Polen, Italiener und Russen. Wie aus der vom Gericht vorgelegten Personenliste hervorging, besaßen die Staatenlosen Namen wie Isaac Katz, Samuel Schein, Samuel Liebeskind, David Taubmann oder Eugen Rosen420. Unter den Getöteten, deren Vita das Gericht eigens würdigte, befanden sich u.a. ein ungarischer Jude, der im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republik gekämpft hatte, Belgier und Deutsche, die der Spionage verdächtig gewesen waren, ein italienischer Anarchist und ein belgischer Kommunist421. Die Gründe, die zur Erteilung aber ebenso zur

«β Zitiert aus: 14 Ls. 445/41, 626/41, Bl. 189. 419 Vgl. Gericht Kommandant von Groß-Paris, Abtl. B., St.L.V Nr. 245/41, in: BA-MA, RW 36/436, Bl. 38-41 und Bl. 53. «o Vgl. ebd., Bl. 39f. « ι Vgl. ebd., Bl. 47-52.

2. Der Kombattantenstatus

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Zurücknahme des Befehls geführt hatten, blieben auch nach der Verhandlung weiterhin ungeklärt. In seiner Urteilsbegründung erörterte der Vorsitzende Richter, Kriegsgerichtsrat Bolles, zu aller erst die Rechtsgrundlage des Verfahrens. Die Zuständigkeit des Gerichts war danach für ihn zweifelsfrei gegeben nach § 3 KStVO. Die Anwendung des deutschen Strafrechts sah er begründet durch § 4 RStGB. Diese Fesdegung warf jedoch einige Fragen auf, wie sie letztlich schon im Falle des polnischen Sergeanten vorgelegen hatten. Bolles führte zu seiner Entscheidung an, die Geltung des § 3 KStVO sei zu bejahen, „da dem Kriegsverfahren Ausländer wegen aller von ihnen im Operationsgebiet begangenen Straftaten unterworfen sind. Daß die Stadt Abbeville am 20. Mai 1940 Operationsgebiet der deutschen Wehrmacht war, geht daraus hervor, daß die Stadt am gleichen Tage mehrfach unmittelbares Objekt deutscher Angriffe war, (...) und daß deutsche Truppen bereits in den frühen Morgenstunden des 21. Mai 1940 von ihr Besitz nahmen" 422 . Nach Art. 43 H L K O besaß der Okkupant die „gesetzmäßige Gewalt" im besetztem Gebiet. Er hatte die Pflicht, die „öffentliche Ordnung" und das „öffentliche Leben" in diesem Teil des feindlichen Staates wiederherzustellen. Art 42 H L K O legte hierzu fest, daß die „Besetzung" sich nur auf jene Gebiete erstrecken kann, in welchen diese Gewalt auch tatsächlich hergestellt ist423. Im Zusammenhang mit der Diskussion um Art. 2 H L K O hatte Christian Meurer in seinem Rechtsgutachten von 1924 ausgeführt, daß der einfache Einfall einer Reiterei keine Besetzung im Sinne der genannten Artikel bedeute. Daraus erhellt sich, daß die judikative Gewalt des Befehlshabers sich auf nichtbesetztes Territorium nicht beziehen kann. Der militärisch-technische Begriff „Operationsgebiet" aber, wie er im ersten Mob. Sammelerlaß definiert worden war, dehnte die Zuständigkeit deutscher Gerichte weiter aus und kollidierte dadurch mit dem Begriff der „Besatzung" aus der Haager Landkriegsordnung. Der § 4 RStGB hingegen hob das Territorialitätsprinzip entgültig auf und führte statt dessen das Personalitätsprinzip ein, wodurch das deutsche Strafrecht potentiell über den gesamten Erdball Geltung erlangen konnte: „Nach § 4 RStGB findet ferner das deutsche Strafrecht für Taten, die ein Ausländer im Auslande begeht, wenn sie durch das Recht des Tatortes mit Strafe bedroht sind und die Straftat sich gegen einen deutschen Staatsangehörigen gerichtet hat, Anwendung" 424 . Diese Bestimmung stand damit im Gegensatz zu § 3 KStVO. Der § 4 RStGB sowie die in Frage stehende Straftat selbst machten aber auch das Fehlen eines internationalen Strafrechts und damit verbunden eines internationalen Strafgerichtshofes deutlich. Lehmanns Absicht, eine Strafnorm für kriegsvölkerrechtswidriges Verhalten einzuführen, wird vor diesem Hintergrund erst recht verständlich. Denn wie bereits dargelegt, enthielt § 4 RStGB keine völkerrechtliche Bezüge, die das deutsche Strafrecht gezwungen hätten, international anerkannte Normen zu adaptieren. Diese versuchte nun Kriegsgerichtsrat Bolles einzuholen, indem er als Leitlinie für die Rechtsfindung erklärte: „Maßgebend für die Beurteilung der Frage, ob die Tötung erlaubt war oder nicht, sind die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung, (...)." 425 Damit war von

Vgl. Gericht Kommandant von Groß-Paris, Abd. B., St.L.V Nr. 245/41, Bl. 73. «3 Vgl. R G B l . 1910, S. 147. 424 Zitiert aus: Gericht Kommandant von Groß-Paris, Abtl. B., St.L.V Nr. 245/41, Bl. 74. 425 Zitiert aus: ebd., Bl. 74. 422

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht

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einem deutschen Militärgericht das internationale Kriegsrecht als Rechtsgrundlage des zu erkennenden Urteils ausdrücklich bestätigt worden. Der § 4 RStGB wäre demnach eigentlich überflüssig gewesen. Zur rechtlichen Verortung der Straftat führte Bolles den Art. 30 HLKO an, dessen Rechtsinhalt für den vorliegenden Fall allerdings fraglich gewesen und von Deutschland in anderen ähnlichen Fällen auch nicht verwendet worden war: „Der Artikel 30 dieser von Frankreich ratifizierten Vereinbarung bestimmt, daß Spione selbst wenn sie auf frischer Tat ertappt werden [!], nicht erschossen werden dürfen, es muß demnach, selbst wenn sie durch die Tat überführt sein sollten, ein Verfahren und eine Verurteilung vorausgehen. Ein Befehl, die spionageverdächtigen Verhafteten, gegen die ein Urteil überhaupt noch nicht ergangen war 426 , ohne weiteres zu erschießen, war daher rechtswidrig; es lag auch kein übergesetzlicher Notstand vor; (...)."427 Unter Zugrundelegung des nach der vollständigen Sachlage mit dem vorliegenden Fall nicht übereinstimmenden Art. 30 HLKO hatte Bolles die Brücke geschlagen, die ihm ermöglichte, den § 47 Abs. 2 MStGB in Anschlag zu bringen: „§ 47 Abs. 2 des deutschen Militärstrafgesetzbuchs besagt: ,Es trifft den gehorchenden Untergebenen die Strafe des Teilnehmers, wenn ihm bekannt gewesen ist, daß der Befehl des Vorgesetzten eine Handlung betraf, welche ein allgemeines Verbrechen oder Vergehen bezweckte.'" 428 Die weiteren Argumentationsschritte von Kriegsgerichtsrat Bolles wurden an dieser Stelle angelangt absehbar. Den gegebenen Befehl stufte er konsequent als rechtswidrig ein, da er das „Verbrechen des Mordes" bezweckte. Das Motiv mußte, so Bolles, Carón und Hollet nicht bekannt gewesen sein, sondern ausschließlich und allein der „strafrechtliche Charakter der befohlenen Tat". Die Angeklagten seien deshalb „mit dem bedingten Vorsatz tätig geworden, rechtswidrig Menschen zu töten bzw. töten zu lassen". Ihren eigenen Beweggrund verortete er in der bloßen „Rachsucht für die erlittene Niederlage". Daher verurteilte er die beiden französischen Offiziere wegen Mordes (§ 211 RStGB) zum Tode 429 . Das zunächst verblüffende Urteil hinterläßt letztlich einen zwielichtigen Eindruck. Der § 47 Abs. 2 MStGB wurde von deutschen Zivil- und Militärgerichten einwandfrei als Rechtsinstrument in völkerrechtlichen Belangen verwand. Das Deutsche Reich und sein militärisches Organ erkannten damit einen „Befehlsnotstand", wie er nach dem Kriege von bundesdeutschen Gerichten nicht selten bemüht werden sollte 430 , gegenüber dem Gegner nicht an. Dies galt sowohl für den östlichen wie für Unter den 21 getöteten Zivilpersonen befanden sich 4 Deutsche, von denen wiederum zwei nach Aussage des Gerichts der Spionage verdächtig gewesen waren. Des weiteren waren von den übrigen Erschossenen die wenigsten der Spionage verdächtigt worden. Der vorliegende Fall wurde damit in seiner rechtlichen Dimension durch Zugrundelegung des Art. 30 HLKO erheblich reduziert. Denn letztlich handelte es sich ganz allgemein um das rechtliche Problem der Zivilinternierung und einer rechtswidrigen Exekution, sei sie mit oder ohne Gerichtsverfahren erfolgt. 427 Zitiert aus: Gericht Kommandantur Groß-Paris, Abd. B., St.L.V Nr. 245/41, Bl. 74. 428 Zitiert aus: ebd., Bl. 76. Vgl. Gericht Kommandant von Groß-Paris, Abd. B., St.L.V Nr. 245/41, Bl. 77. 430 So erteilte beispielsweise das Schwurgericht beim Landgericht Berlin in seinem Urteil vom 27. Juni 1969 gegen K. F. S., welcher angeklagt gewesen war als Angehöriger des Volksdeutschen Selbstschutzes in 80 Fällen Beihilfe zum Mord begangen zu haben, einen Freispruch 426

2. Der

Kombattantenstatus

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den westlichen Kriegsschauplatz. Das Pendant zum § 47 Abs. 2 MStGB war auf völkerrechtlicher Ebene der Art. 3 des IV. Haager Abkommens von 1907, der die Verpflichtung der Staaten enthielt, Rechtsverstöße der eigenen Soldaten strafrechtlich zu ahnden. Diesem Erfordernis war die Wehrmacht unregelmäßig nachgekommen, besonders dann, wenn die Taten im Wirkungskreis von Befehlen standen. Einer Konfrontation mit den gegebenen Befehlen waren die Wehrmachtgerichte jedoch ausgewichen. In Zusammenhang mit dem hier zuletzt besprochenen Fall ist an die Anfrage Reichenaus bei seinem Dienstvorgesetzten während des Polenfeldzuges zu erinnern, ob ein Befehl vorläge, gefangene Juden zu erschießen. Allein hieraus wird ersichtlich, daß die Wehrmacht in vielen Situationen das Völkerrecht mit zweierlei Maß gemessen hatte. Man verlangte vom Gegner eine Rechtsauffassung, an die man sich selbst nicht hielt. Diese Feststellung wird ein weiteres Mal deutlich in einem Gerichtsverfahren, das auf dem sowjetischen Kriegsschauplatz durchgeführt worden war. Hier verhandelte das Feldkriegsgericht der 286. Sicherungs-Division, die dem Befehlsbereich des rückwärtigen Heeresgebiets Mitte angehört hatte, unter dem Vorsitz von Kriegsgerichtsrat Dr. Kara am 30. Juni 1943 den Fall des sowjetischen Arztes Nikolai Alexandrowitsch Amirow, der wegen Mordes angeklagt worden war. Amirow hatte seinen Dienst als Feldscher im Lazarett der 387. sowjetischen Schützendivision versehen, welche seit Ende Juli 1942 im Raum Brjansk eingesetzt gewesen war. Als am 11. August 1942 in diesem Gebiet im Rahmen der zweiten deutschen Sommeroffensive die Operation „Wirbelwind" begann 431 , nahm die sowjetische Division deutsche Kriegsgefangene in Gewahrsam, worunter auch einige Verwundete gewesen waren. Nach Angaben Amirows war einer von ihnen, ein Gefreiter, schwerst verwundet und seine Rettung nicht mehr möglich gewesen. Seine Diagnose, so Amirow vor Gericht, habe er dem Kommissar Tumanewitsch mitgeteilt, worauf dieser ihm den Befehl gegeben habe, den deutschen Kriegsgefangenen zu erschießen. Nach seiner Weigerung habe Tumanewitsch seinen Befehl dreimal wiederholt. Da er das „Schlimmste" im Falle seiner Weigerung befürchtet hatte, habe er den deutschen Kriegsgefangenen schließlich erschossen 432 . Ebenso wie Kriegsgerichtsrat Bolles sah Richter Kara in seinem Fall die Zuständigkeit des Gerichts durch § 3 KStVO und § 4 RStGB für gegeben, da Mord auch durch das sowjetische Strafrecht bedroht sei. Als Richtlinie für sein Urteil diente Kara ebenfalls die Haager Landkriegsordnung. Er verwies deshalb auf Art. 4 HLKO, wonach Kriegsgefangene mit Menschlichkeit zu behandeln seien. Damit unterstellte er die Geltung des internationalen Kriegsrechts auf dem sowjetischen Kriegsschauplatz: „Es ist dabei für das Deutsche Reich und das deutsche Recht unerheblich, wie sich die Sowjetunion im einzelnen zu diesen Grundsätzen verhält. Bei der hier stattfindenden Anwendung des deutschen Rechtes sind es unabdingbare Grund-

unter ausdrücklicher Berufung auf den Befehlsnotstand. Vgl. (500) 3 Ρ (Κ) Ks 1/69 (14/69), Bl. 21 f., in: Gb 06/113, IfZ. 431 Vgl. dazu: Bernd Wegner, Der Krieg gegen die Sowjetunion 1942/43, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 6: Der Globale Krieg. Die Ausweitung zum Weltkrieg und der Wechsel der Initiaüve 1941—1943, Stuttgart 1990, S. 906-910. 432 Vgl. Gericht der 286 Sich.Div., St.L. 154/43, in: BA-MA, R W 2/219, Bl. 53f.

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sätze, für deren Verletzung auch der einzelne sowjetische Soldat verantwortlich ist."« 3 Die Berufung des Angeklagten auf Befehl gehandelt zu haben, ließ Kriegsgerichtsrat Kara nicht gelten. Ohne das sowjetische Militärstrafrecht zu erörtern erhob er den § 47 Abs. 2 MStGB zu einem völkerrechtlichen Grundsatz und dehnte ihn damit auf das sowjetische Staatsgebiet aus: „Nun ist zwar der § 47 MStGB (...) hier nicht unmittelbar anwendbar. Denn der Angeklagte gehörte zur Zeit der Tat nicht zu dem Personenkreis [!], auf den das MStGB Anwendung findet. (...) Das Gericht hat aber in analoger Anwendung die Grundsätze des § 47 MStGB auch auf diesen Fall angewendet, denn es besteht keine Veranlassung, den Angeklagten irgendwie günstiger zu stellen, als einen deutschen Soldaten, der etwas derartiges begehen würde. Wenn der Angeklagte (...) auf Befehl des Kommissars Tumanewitsch gehandelt hat, so war ihm doch bekannt, daß hier der Befehl ein Verbrechen, nämlich die grundlose Tötung eines Menschen bezweckte. Einen deutschen Soldaten würde deswegen die Strafe des Teilnehmers treffen [!]."434 Kara belegte daher Amirow nach § 211 RStGB mit der Todesstrafe. Einen Grund zur Strafmilderung sah er nicht für gegeben an. Eine Umwandlung des Straftatbestandes Mord in Todschlag, wie er häufig in Verfahren gegen deutsche Soldaten von den Heeresgerichten vorgenommen worden war, wurde von Kara nicht einmal in Erwägung gezogen. Damit beurteilten Kara wie auch die anderen genannten Kriegsgerichtsräte Straftaten auf Befehl schärfer als die Alliierten im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß, denn Art. 8 des Statutes für den Internationalen Militärgerichtshof Schloß in einem solchen Fall die Möglichkeit einer Strafmilderung nicht gänzlich aus 435 . Auch das deutsche Schrifttum hielt sich während des Krieges in der Frage des Befehlsnotstandes auffallend zurück. Einzig Alfred Verdroß hatte im Jahre 1940 die deutsche Rechtspraxis in dieser gewichtigen Frage ohne Umschweife offengelegt und auch begrüßt. Ohne von den aktuellen Urteilen der deutschen Heeresgerichte Notiz zu nehmen, schrieb dagegen Alfons Waltzog 1942: Hat der Kriegsgefangene „die Völkerrechtsverletzung auf Befehl seiner Vorgesetzten begangen, z.B. Bombenabwurf auf die Zivilbevölkerung, so stellen sich die Verletzungen nicht als Einzeltaten des feindlichen Soldaten dar. Sie sind vielmehr Handlungen der feindlichen Kriegsmacht, des feindlichen Staates. Hierfür kann es keine Strafnorm geben [!]. Die Wiedergutmachung des Unrechts kann nur durch Vergeltungsmaßnahmen herbeigeführt werden" 436 . Die von Waltzog nicht gefundene Strafnorm war der § 47 Abs. 2 MStGB. Über dessen vermeintlich korrekte Interpretation und Anwendung verfaßte 1942/43 Kriegsgerichtsrat Kalberiah einen Aufsatz, in dem er allerdings die völkerrechtlichen Aspekte außen vor ließ und das Thema Strafverfahren gegen Kriegsgefangene mit keiner Silbe erwähnte. Die ungern gestellte Frage seiner Handhabung konzentrierte er ausschließlich auf die Angehörigen der Wehrmacht. Dabei tastete er sich sehr vorsichtig und umständlich an eine Definition für einen rechtswidrigen Befehl heran: „Liegen nun Verstöße gegen die formellen oder sachlichen Voraus« 3 Zitiert aus: Gericht der 286 Sich.Div., St.L. 154/43, Bl. 55. « 4 Zitiert aus: ebd., Bl. 55. 435 Zur historischen Entwicklung der Beurteilung des Befehlsnotstandes siehe auch: William A. Schabas, Genozid im Völkerrecht, Hamburg 2003, S. 430-439. 436 Vgl. Waltzog, Landkriegsführung, S. 45.

2. Der

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Setzungen eines Befehls vor, so kann dieser Befehl nicht rechtmäßig sein. Er steht mit dem gesetzten Recht nicht in Einklang. Er ist rechtsfremd. Dafür hat der Vorgesetzte einzustehen. Verletzt dieser Befehl ein Strafgesetz, so ist an der Verantwortlichkeit des Vorgesetzten nicht zu zweifeln. Nicht rechtmäßig sind eben jene Befehle, die etwas fordern, was auch mit dem soldatischen Dienst — dem Ehrendienst am deutschen Volke - unvereinbar ist. Dazu gehört auch ein Befehl, mit dem eine Straftat bezweckt ist."437 Welche Konsequenzen waren nun aber aus der Vorschrift des § 47 Abs. 2 zu ziehen? Kalberlah unterstrich zunächst, daß der Befehlsgewalt die Gehorsamspflicht gegenüberstehe. Dem Befehlenden war danach die „bessere Rechtsstellung" einzuräumen. Der Befehl des Dienstvorgesetzten stellte entsprechend eine Äußerung des „Staatswillens" dar. Der Untergebene war somit verpflichtet, den Befehl des Vorgesetzten auszuführen. Eine Durchbrechung dieser Gehorsamspflicht würde, so Kalberlah, „an den Grundfesten der Wehrmacht rütteln und würde dem Führerprinzip widersprechen" 438 . Andererseits kam er nicht umhin zu betonen, daß es einen „blinden Gehorsam" nach deutschem Militärrecht nicht gäbe. Kalberlah näherte sich damit jenem Punkt, den niemand auszusprechen wagte: Vermochte der Staatswillen einen „rechtsfremden" Befehl zu erteilen und dessen Befolgung einzufordern? In eine solche Situation gestellt, kam es nach Kalberlah dann „auf die mehr oder weniger starke Persönlichkeit des Befehlsempfängers an, auf sein Verantwortungsbewußtsein bzw. auf seine Verantwortungsfreudigkeit, wobei die Stellung des Befehlsempfängers (...) keine Rolle spielen kann" 439 . Mit etwas Phantasie konnte in diesen Zeilen ein gleichsam „moralisches" Recht auf Befehlsverweigerung gelesen werden. Auch der Kommentar zum Militärstrafgesetzbuch, in der Fassung von Oberstkriegsgerichtsrat Martin Rittau, hielt sich in der Frage der Befehlsverweigerung auf der Grundlage des § 47 Abs. 2 MStGB sehr bedeckt und schraubte die Bedingungen für die als rechtmäßig betrachteten Voraussetzungen einer Befehlsverweigerung derart in die Höhe, daß sie in der Praxis von niemanden mehr zu befolgen waren. So war die bloße Vermutung, das „bloße Sichsagenmüssen" eines rechtswidrigen Inhaltes eines gegebenen Befehls kein ausreichender Rechtsgrund für den Untergebenen, diesen verweigern zu dürfen. Ausschlaggebend hierfür war allein die Gewißheit des Befehlsempfängers, daß eine rechtswidrige Tat auch bezweckt war440. Neben einer profunden Kenntnis des Völkerrechts trat nun für den einfachen Soldaten eine ausgezeichnete Kenntnis der psychologischen Befindlichkeit seines Vorgesetzten als Erfordernis hinzu, um einen Befehl verweigern zu können. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte sich das Oberkommando der Wehrmacht in Ansehung der zu erwartenden Kriegsverbrecherprozesse mit der Frage des Befehlsnotstandes auseinandergesetzt. Von Interesse waren hierbei für das OKW zwei Fragen:

Kurt Kalberlah, Der bindende rechtswidrige Befehl (Beibehaltung des § 47 MStGB?), in: Zeitschrift für Wehrrecht 7 (1942/43), S. 306. 438 Vgl. ebd., S. 304. 439 Vgl. ebd., S. 309. 440 Vgl. Militärstrafgesetzbuch. In der Fassung der Verordnung vom 10. Oktober 1940, erläutert von Martin Rittau, Berlin 1943, S. 104. 437

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutseben Wehrmacht

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1. Wann ist ein Befehl verbindlich? und 2. Wann haftet der Untergebene strafrechtlich für die Ausführung eines Befehls? Auf die erste Frage gab das OKW eine Antwort, die vollkommem in Einklang stand mit jener, wie sie von Kalberlah aber insbesondere von Martin Rittau gegeben worden waren 441 . Die Haftung und damit die Bestrafung eines Soldaten war danach nur möglich, „wenn der Befehl nach deutschem Recht unverbindlich war, d.h. also, wenn der Untergebene mit Sicherheit erkannt hat, daß ein deutsches Vergehen oder Verbrechen bezweckt war" 442 . Die Bestrafung war jedoch nur möglich, wenn die betreffende Straftat auch durch das deutsche Strafrecht als solche erkannt war. So gestand das OKW im Nachhinein die mangelhafte Umsetzung kriegsrechtlicher Bestimmungen in das nationale Strafrecht selbst ein: „Völkerrechtsnormen können deutschen Verbrechen (...) nur gleichgestellt werden, wenn sie ausdrücklich in die innerstaatliche deutsche Rechtsordnung übernommen worden sind. Die allgemeine Bestimmung in Art. 4 der Weimarer Reichsverfassung, (...) ist keine ausreichende Rechtsgrundlage. Sie hat (...) keine praktische Bedeutung erlangt, weil den Völkerrechtsnormen die Strafandrohung fehlt." 443 Während des OKW-Prozesses in Nürnberg wurden von der amerikanischen Anklagebehörde mehrere ehemalige deutsche Heeresrichter über das Recht eines deutschen Soldaten auf Befehlsverweigerung befragt. Zur Verdeutlichung des Problems wählte sie einen fiktiven Fall, auf dessen Grundlage die Richter die Fragen zu erörtern hatten: Ein Divisions-Kommandeur X erhält den Befehl, für einen getöteten deutschen Soldaten 100 Geiseln zu erschießen. Der Kommandeur ist der Ansicht, daß das Verhältnis von 1: 100 rechtswidrig ist. Trotzdem läßt er die Geiseln erschießen. Hatte sich der Divisions-Kommandeur nach § 47 Abs. 2 MStGB strafbar gemacht? Die Antwort des vernommenen Generalrichters Schäfer: „Der Divisionskommandeur hat erkannt, daß die Ausführung des Befehls eine strafbare Handlung darstellt. Er hat sich infolgedessen strafbar gemacht." Über den Fall einer denkbaren Befehlsverweigerung äußerte Schäfer: „Der Befehl war rechtswidrig, weil er von dem Divisionskommandeur die Ausführung eines Verbrechens forderte. In Erkenntnis des verbrecherischen Charakters dieses Befehls, hat der Divisionskommandeur seine Ausführung abgelehnt, und zwar ohne die sonst für ihn bestehende Gehorsamspflicht zu verletzen. Er war zur Verweigerung des Befehls verpflichtet. Ein Kriegsgericht kann ihn daher nicht (...) verurteilen." 444

Vgl. Chef des Wehrmachtrechtswesens, Akt.z. (I) 01501/45, Flensburg, den 18. Mai 1945, Betr.: Verbindlichkeit militärischer Befehle, Bl. 1, in: MA-659, IfZ. « 2 Vgl. e b d , Bl. 3. 443 Zitiert aus: ebd., Bl. 3. 444 Zitiert aus: Vernehmung des Generalrichters Wilhelm Schäfer, Bl. 3, in: NOKW-1229, MA1564/17, IfZ. 441

3. Die Besat^ungspolitik in Polen aus völkerrechtlicher Sicht

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3. Die Besatzungspolitik in Polen aus völkerrechtlicher Sicht Die Besat^ungsverwaltung Am 26. Oktober 1939 wurde in Polen eine neue, bisher unbekannte Besatzungsverwaltung begründet, das Generalgouvernement Polen. Erstmals in der neuzeitlichen Militärgeschichte übernahm damit eine Zivilverwaltung die vollziehende Gewalt auf fremden Staatsgebieten während eines Kriegszustandes. Die Einrichtung einer vom Militär unabhängigen zivilen Besatzungsverwaltung in Polen war durch den Erlaß Hitlers „über die Verwaltung der besetzten polnischen Gebiete" vom 12. Oktober 1939 endgültig besiegelt worden. Nach § 2 des Erlasses wurde Reichsminister Dr. Hans Frank zum Generalgouverneur bestellt und Dr. Arthur Seyß-Inquart zu seinem Stellvertreter ernannt. Laut § 3 unterstand der Generalgouverneur Adolf Hitler unmittelbar445. Als „Zentralstelle" für die polnischen Gebiete fungierte fortan das Reichsministerium des Inneren (§ 8)446. Die Wehrmacht wurde entsprechend ihrer Verantwortung über die besetzten polnischen Gebiete entbunden. Verfassungsrechtlich besehen bildete das Generalgouvernement ein Gebilde sui generis, nicht Inland und nicht Ausland stand es als Kolonialland im Sinne der Schmittschen Großraumtheorie unmittelbar im Wirkungsbereich politischer Maßnahmen des Dritten Reiches. Die polnische Zivilbevölkerung war hierauf ihres Schutzes durch die Haager Landkriegsordnung resdos beraubt. Vielsagend waren die Worte des Oberbefehlshabers Ost, Generaloberst Johannes Blaskowitz, in seinem Tagesbefehl vom 26. Oktober: „Mit dem heutigen Tage hat das Ostheer rein soldatische Aufträge zu erfüllen. Von Verwaltungsaufgaben oder solchen der Innenpolitik wird es befreit."44^ Die Schaffung einer reinen Zivilverwaltung in Polen setzte den Schlußpunkt einer Entwicklung, die von der Wehrmacht in dieser Form nicht intendiert, gleichwohl aber mit eingeleitet worden war. So war die Einflußnahme des Zivilen auf ursprünglich rein militärische Aufgaben von Beginn des Krieges an neben der SS auch durch die Institution des Chefs der Zivilverwaltung (CdZ) ermöglicht worden. Schon in den Entwürfen für das 1. Reichsverteidigungsgesetz vom 21. Mai 1935 war der CdZ als unterstützendes Organ des jeweiligen mit der Ausübung der vollziehenden Gewalt beauftragten Armeeoberbefehlshabers vorgesehen 448 und schließlich als CdZ „Feindesland" in die Heeresdruckvorschrift „Versorgung des Feldheeres" vom l . J u n i 1938 rechtsverbindlich verankert worden 449 . Diese an den Ersten Weltkrieg erinnernde „Mischform" der Besatzungsverwaltung barg die Gefahr, daß das Amt des CdZ durch hochrangige Vertreter der Partei ausgefüllt werden konnte, die als Reichsminister oder Gauleiter direkten Zugang zu Adolf Hider besaßen. Die CdZ Feindesland wurden vom OKH noch vor Beginn des Angriffs auf Polen einberufen und den jeweiligen Armeeoberkommandos zugeteilt. Ihnen stellte das OKH eine Anzahl Landräte mit ausgewähltem Hilfspersonal zur Seite. In den sukzessive eroberten Gebieten hatten sich die CdZ vordringlich um den raschen « V g l . RGBl. I. 1939, S. 2077. 44 « Vgl. ebd., S. 2078. 44 " Zitiert aus: Broszat, Polenpolitik, S. 31. 448 Vgl. Umbreit, Kontinentalherrschaft, S. 5f. 449 Vgl. H. Dv. 90 Versorgung des Feldheeres, S. 25ff.

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Wiederaufbau einer geordneten Verwaltung zu kümmern. In jenen Gebietsteilen, die einst zum Deutschen Reich gehört hatten, sollten umgehend deutsche Behörden installiert werden. In wirtschaftlicher Hinsicht galt es zudem die Übernahme der wichtigen Industrieanlagen in Ostoberschlesien zu sichern und ebenso die Erbeutung polnischer Rohstoffvorräte und Erzeugnisse zu kontrollieren450. Die Annexion polnischer Gebiete und ihre wirtschaftliche Ausplünderung waren Programm. Die Aburteilung deutscher Soldaten wegen Plünderung muß daher auch in diesem Zusammenhang betrachtet werden. In der Praxis legten die organisatorischen Fesdegungen und Absprachen eine Polykratie der Ressorts offen, die nicht nur ein personelles Gegen- und Miteinander zwischen Wehrmacht, SS, Reichsministerien und NSDAP produzierte, sondern auch verheerende Auswirkungen auf die polnische Zivilbevölkerung erzeugen mußte. So verhinderten die politisch-ideologischen Zielsetzungen des Krieges eine annähernd reibungslos verlaufende Wiederherstellung der Verwaltungen in den Landkreisen (Starosten) und Ortsgemeinden. Entsprechend der rassenideologischen Vorgabe der Ausschaltung führender polnischer Schichten war die Errichtung einer bloßen „Aufsichtsverwaltung", wie sie nach der Haager Landkriegsordnung vorgesehen war, von vornherein unrealisierbar und auch nicht bezweckt. Für hauptamtlich wahrzunehmende Aufgaben forderten daher die CdZ in der Regel deutsches Personal beim Reichsinnenministerium an 451 . Zu den wichtigsten Aufgaben der Zivilverwaltungschefs gehörte die „polizeiliche Durchdringung" des eroberten Gebietes, was auf Grund der geringen Personalstärke kaum zu bewerkstelligen gewesen war. Ihre Landräte griffen deshalb häufig auf Einheiten des Volksdeutschen Selbstschutzes zurück oder auf ad hoc gebildete Einwohnerwehren. Ihre Sicherheitsvorkehrungen reichten dabei von der Einziehung der Waffen, der Munition und der Rundfunkgeräte über Verhaftungen bis zu Geiselnahmen und öffentlichen Exekutionen 452 . Unverkennbar war angesichts solcher Szenarien der Wehrmacht die Kontrolle über die Zivilverwaltungschefs entglitten und damit auch die Gewähr für eine halbwegs gesicherte rechtskonforme Besatzungspolitik. Das duale Besatzungssystem der Wehrmacht mußte zwangsläufig scheitern, allein infolge mangelnder Kompetenzabgrenzungen und einer zu starken Konzentration auf die militärischen Operationen in der Wehrmachts- und Heeresführung. Das zügige Vorrücken der deutschen Armeen erlaubte die Bildung der ersten Militärbezirke in Posen unter General der Artillerie Alfred von Vollard-Bockelberg am 8. und in Danzig-Westpreußen unter General der Artillerie Walter Heitz am 13. September 1939. Den CdZ-Stab beim Militärbefehlshaber Posen übernahm auf Befehl Hitlers der Danziger Senatspräsident Arthur Greiser und beim Militärbefehlshaber Danzig-Westpreußen der Danziger Gauleiter Albert Forster. Mit der Neuregelung der Befehlsverhältnisse am 3. Oktober wurden schließlich die Militärbezirke Lodz unter dem Oberbefehlshaber Ost, Generaloberst Gerd von Rundstedt, und Krakau unter Generaloberst Wilhelm List eingerichtet. Für den Bezirk Krakau bestimmte Hitler Arthur Seyß-Inquart zum Verwaltungschef und für Lodz sowie zugleich für das gesamte besetzte Gebiet wählte er schließlich Reichsminister Hans Vgl. Umbreit, Kontinentalherrschaft, S. 30. Vgl. Umbreit, Militärverwaltungen, S. 120. «2 Vgl. e b d , S. 128. 450 451

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Frank als „obersten Verwaltungsschef' 453 . Mit der Ernennung „alter Kämpfer" durch den Obersten Befehlshaber der Wehrmacht war der Verselbständigungsprozeß des „Zivilen" zusätzlich forciert worden. Unverkennbar sollte damit eine möglichst effiziente Durchsetzung ideologischer Ziele und eine rasche Vornahme der Annexion vorgeblich ehemaliger deutscher Gebiete angesteuert werden. So schrieb der „Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Gliederung und Verwaltung der Ostgebiete" vom 8. Oktober 1939 in § 1 die Bildung der „Reichsgaue Westpreußen und Posen" endgültig fest. Das Amt des „Reichsstatthalters" trat in Westpreußen - wenig überraschend — Albert Forster an und in Posen Arthur Greiser. Nach § 2 umfaßte der Reichsgau Westpreußen die Regierungsbezirke Danzig, Marienwerder und Bromberg, der Reichsgau Posen gliederte sich in die Regierungsbezirke Hohensalza, Posen und Kaiisch. Darüber hinaus wurde der Regierungsbezirk Kattowitz in die Provinz Schlesien eingegliedert sowie der Regierungsbezirk Zichenau in die Provinz Ostpreußen (§ 4) 454 . Ursprünglich für den 1. November geplant, erhielt der Erlaß zeitgleich mit Errichtung des Generalgouvernements am 26. Oktober Gesetzeskraft. Damit hatte das Dritte Reich etwa 90.000 qkm polnischen Staatsterritoriums mit ca. 10 Millionen Einwohnern annektiert. Gebietsumfang und Einwohnerzahl der eingegliederten Gebiete waren gegenüber den preußischen Abtretungsgebieten fast verdoppelt worden. So bestand beispielsweise die östliche Hälfte des Regierungsbezirks Hohensalza sowie nahezu der gesamte Regierungsbezirk Kaiisch im Reichsgau Posen, ab 29. Januar 1940 Reichsgau „Wartheland", aus kongreßpolnischem Gebiet 455 . Der 26. Oktober 1939 bedeutete für die Wehrmacht die Preisgabe ihrer Verantwortung für die besetzten polnischen Gebiete, die ihr nach Maßgabe der Haager Landkriegsordnung übertragen worden war. Gleichwohl blieben aber weiterhin Einheiten der Wehrmacht auf dem Gebiet des Generalgouvernements stationiert. Ihre Truppenstärke belief sich Ende Oktober auf 550.000 und im April 1940 auf 400.000 Mann 456 . Entsprechend der innerdeutschen Regelung waren in den annektierten Gebieten die Militärbezirke in Wehrkreise aufgeteilt worden. DanzigWestpreußen und Posen bildeten die neuen Wehrkreise X X und X X I , in denen Generalleutnant Max Bock und General der Artillerie Walter Petzel die bisherigen Militärbefehlshaber ersetzt hatten. Südostpreußen kam zum Wehrkreis I und Ostoberschlesien wurde dem Wehrkreis VIII zugeschlagen457. Die übrigen Militärbezirke Lodz (Grenzabschnitt Mitte) und Krakau (Grenzabschnitt Süd) verfügten schließlich über jene Territorien, auf denen das Generalgouvernement errichtet werden sollte. Sie unterstanden dem Kommando des Oberbefehlshabers Ost Johannes Blaskowitz, der am 26. Oktober 1939 Rundstedt abgelöst hatte. Am 1. Mai 1940, wenige Tage vor der Absetzung von Blaskowitz, erfolgte eine Neuregelung der militärischen Gebietseinteilung. So wurden auf Korpsebene „Höhere Kommandos" geschaffen und zwar das Höhere Kommando X X X I V (Krakau) für die Distrikte

453 Vgl. Broszat, Polenpolitik, S. 26; Umbreit, Kontinentalherrschaft, S. 36. Vgl. RGBl. I. 1939, S. 2042. Vgl. Broszat, Polenpolitik, S. 34f. 456 Vgl. Leon Herzog, Die verbrecherische Tätigkeit der Wehrmacht im Generalgouvernement in den Jahren 1939 bis 1945, in: Zeitschrift für Militärgeschichte 6 (1967), S. 449. 4 5 " Vgl. Umbreit, Kontinentalherrschaft, S. 41. 455

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Krakau und Radom unter Generalleutnant Metz und das Höhere Kommando XXXV (Minsk Mazowiecki) für die Destrikte Warschau und Lublin unter Generalleutnant Maximilian von Schenkendorff. Am 15. Juli 1940 wurde an Stelle des Oberkommandos Ost ein Militärbefehlshaber im Generalgouvernement eingesetzt. Diesen Posten übernahm Generalleutnant Curt Ludwig Freiherr von Gienanth, der Blaskowitz bereits am 5. Mai nachgefolgt war 458 . Der Annexion und dem Verzicht auf einem polnischen Reststaat westlich der sowjetischen Besatzungsgebiete lag die Aberkennung Polens als Völkerrechtssubjekt zugrunde und damit die gewollte Loslösung von jeglichen Bestimmungen der occupatio bellica. Der verfassungsrechtliche Schwebezustand des Generalgouvernements, der bis zum Ende des Krieges andauern sollte, war von der Führung des Reiches bewußt einkalkuliert worden. Entsprechend forderte der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst Freiherr von Weizsäcker, daß das Generalgouvernement rechtlich nicht mehr als besetztes Gebiet bezeichnet und behandelt werden dürfe, da sonst völkerrechtliche Normen Anwendung finden müßten, „denen wir uns zweifellos nicht unterwerfen wollten" 459 . Damit vollkommen im Einklang stand der Inhalt eines Gutachtens, das offenbar von der Akademie für Deutsches Recht erstellt worden war. Als erklärtes Ziel einer „Rechtsgestaltung" der besetzten Gebiete galt danach primär die „dauernde Sicherung des deutschen Lebensraumes im Rahmen des Deutschen Reiches" und die Ausschaltung der ,,kommunistische[n] Verseuchung und d[er] slawistische[n] Gefahr" 460 . Für die Zukunft der polnischen Bevölkerung sagte das Gutachten voraus: „Wie immer sich die Verhältnisse in Osteuropa entwickeln werden, dem polnischen Volk steht eine harte und schwere Zukunft bevor. Es wird in jeder Hinsicht Not leiden und daher hassen müssen." 461 Die Abkehr von Recht und Gesetz war im Kriegsgrund enthalten; die Inszenierung des Ausnahmezustandes war Teil der Kriegführung und Grundlage der Überlegungen über die organisatorisch-institutionelle Struktur der Besatzungsverwaltung in Polen. Verbindlichkeit und Berechenbarkeit, Charakteristika, welche dem Begriffe des Rechts unabdingbar zu eigen sind, blieben von vornherein für eine noch zu bestimmende Verfassungswirklichkeit Polens ausgeschlossen. Maßgabe für das weitere Vorgehen in Polen sollten daher „Normen" sein, die lediglich „elastisch gehaltene Grundzüge" aufwiesen. Eine an die Normen der Haager Landkriegsordnung gebundene Wehrmacht konnte bei der Umsetzung der erklärten Ziele nur hinderlich sein. Der Begriff des Lebensraumes verbot per se jegliche Bestimmungen des Völkerrechts: „Es besteht unbedingt das Interesse an Deutschlands Ostgrenze ein Defi458 Vgl Herzog, Die verbrecherische Tätigkeit, S. 447. 459 Vgl. Umbreit, Militärverwaltungen, S. 114; vgl. auch: Jacobmeyer, Überfall, S. 17. Zur Verurteilung Weizsäckers als einem der Hauptangeklagten im „Wilhelmstraßen-Prozeß" (Fall 11) siehe: Rainer A. Blasius, Fall 11 : Der Wilhelmstraßen-Prozeß gegen das Auswärtige Amt und andere Männer, in: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943—1952, Frankfurt a.M. 1999, S. 1 8 7 - 1 9 8 . 460 Vgl. Rechtsgestaltung deutscher Polenpolitik nach volkspolitischen Gesichtspunkten. Im juristischen Teil als Vorlage für den nationalitätenrechtlichen Ausschuß der Akademie für Deutsches Recht, abgeschlossen Januar 1940, Bl. 2, PS-661, IfZ. Das Dokument enthält weder Angaben zur Organisation oder Abteilung noch über den Autor. 461

Zitiert aus: ebd., Bl. 3.

ì. Die Besat^ungspolitik in Polen aus völkerrechtlicher Sicht

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nitivum zu schaffen, dessen Beurteilung nicht in den R a h m e n der V e r h a n d l u n g e n mit dritten Staaten hineingehört." 4 6 2 Z u r „inneren" Legitimation seiner K o n z e p t i o n f ü r das polnisch besetzte G e b i e t wies das G u t a c h t e n darauf hin, daß der polnische Staat auf G r u n d des deutschsowjetischen

„Grenz-

und

Freundschaftsvertrages"

vom

28. S e p t e m b e r 1 9 3 9 4 6 3

a u f g e h ö r t h a b e zu existieren und es daher einer „völkerrechtlichen Regelung des polnischen Raumes" nicht m e h r bedürfe 4 6 4 . D a s G u t a c h t e n zielte damit auf die Debellation Polens ab, ein A r g u m e n t , das auch viele Rechtsgelehrte des Dritten Reiches b e m ü h e n sollten, wie beispielsweise W a l t e r Schätzel 4 6 5 o d e r A l f o n s W a l tzog 4 6 6 . D o c h eine solche fadenscheinige Begründung w a r nur allzuleicht durch jene M a ß n a h m e n zu widerlegen, die mit Beginn des Krieges bereits in die W e g e geleitet w o r d e n waren. Hierzu gehörte auf organisatorischer

E b e n e die G r ü n d u n g

des

V o l k s d e u t s c h e n Selbstschutzes, die Installierung der zivilen Sondergerichte auf jenen Gebieten, w e l c h e f ü r die A n n e x i o n v o r g e s e h e n w a r e n und daher nur v o r ü b e r g e h e n d unter der K o m m a n d o g e w a l t der Militärbefehlshaber gestanden hatten 4 6 7 , o d e r die Etablierung des „Reichskommissars f ü r die Festigung deutschen V o l k s t u m s " ( R K F ) durch einen geheimen Führererlaß am 7. O k t o b e r 1 9 3 9 . Mit diesem f ü r ein besetztes G e b i e t absolut rechtswidrigen A m t w u r d e der R e i c h s f ü h r e r SS Heinrich H i m m l e r be-

Zitiert aus: Rechtsgestaltung deutscher Polenpolitik, Bl. 25. Siehe dazu: Rohde, Hitlers erster „Blitzkrieg", S. 127; Slutsch, 17. September 1939, S. 232f. 464 V g ] Rechtsgestaltung deutscher Polenpolitik, Bl. 26. Zur sowjetischen Besetzung Polens siehe: J a n T. Gross, Die Sowjetisierung Ostpolens, in: Bernd W e g n e r (Hrsg.), Zwei W e g e nach Moskau. V o m Hitler-Stalin-Pakt bis zum „Unternehmen Barbarossa", München, Zürich 1991, S. 5 6 - 7 4 . 4 6 5 Vgl. Schätzel, Gerichtsbarkeit, S. 163. 466 Vgl Waltzog, Landkriegsführung, S. 75. 46~ In einem Sonderbefehl v o m 20. September 1939 gab der Militärbefehlshaber in Posen, General Alfred von Vollard-Bockelberg, bekannt, daß in Posen ein Sondergericht errichtet worden sei, das dem Militärbefehlshaber unmittelbar unterstellt sei. Über die Zuständigkeit des Gerichts führte er aus: „Das Sondergericht ist zuständig für die Aburteilung der strafbaren Handlungen, die von Bewohnern des Befehlsbereichs des Militärbefehlshabers von Posen (Polen, anderen Ausländern und solchen Deutschen, die nicht unter die Wehrmachtgerichtsbarkeit fallen) begangen werden. Strafbare Handlungen nach § 2 Nr. 4 K S t V O (Spionage, Freischärlerei, Zuwiderhandlungen gegen Verordnungen, die ein Befehlshaber in dem von der deutschen Wehrmacht besetzten polnischen Gebiet zur Sicherung der Wehrmacht oder des Kriegszwecks erlassen hat, Zersetzung der Wehrkraft, Hoch- und Landesverrat) verbleiben jedoch der Aburteilung [sie] durch Feldkriegsgerichte." Siehe: Militärbefehlshaber von Posen, Abt. III, Posen, den, 20. Sept. 1939, Sonderbefehl, Betr.: Sondergericht, in: MA-508, IfZ. Die hier vorgetragene Regelung der Gerichtsbarkeit im besetzten polnischem Gebiet erinnerte unschwer an die vergleichbare „Verordnung betreffend die Gerichtsverfassung in den dem Oberbefehlshaber Ost unterstellten russischen Gebieten" vom 14. Januar 1916. Die deutschen Zivilgerichte waren damals als Ersatz für die russischen vorgesehen und unterstanden der Dienstaufsicht des Oberbefehlshabers Ost. Angehörige des deutschen Heeres verblieben nach wie vor unter der Militärgerichtsbarkeit. Auch nach Bockelbergs Befehl war das Sondergericht dem Militärbefehlshaber unterstellt und die Angehörigen der Wehrmacht unterstanden weiterhin der Wehrmachtgerichtsbarkeit. Sein Hinweis auf Personen, die nicht unter Jurisdiktion deutscher Wehrmachtgerichte fielen, deutete schließlich daraufhin, daß die polnische zivile Gerichtshoheit nicht mehr anerkannt werden sollte. 462 4W

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traut468. Die Einsetzung ziviler Organisationen und „staatlich-parteilicher" Organe während der laufenden Kampfhandlungen sowie der ihnen aufgetragene Zweck, wie z.B. die Vernichtung „reichsfeindlicher Elemente", ließen eine Rechtfertigung für die Außerkraftsetzung des Völkerrechts beim Aufbau einer Besatzungsverwaltung auf der Grundlage einer Debellation äußerst unglaubwürdig erscheinen. Vielmehr diente der Krieg an sich zur Entfachung des Ausnahmezustandes: „Abschließend muß noch darauf verwiesen werden, daß es erforderlich ist, gerade die härtesten Maßnahmen möglichst schnell durchzuführen, da nicht nur propagandistisch, sondern auch tatsächlich der Kriegszustand, nach außen wie nach innen, Maßnahmen rechtfertigt und übertönt, die sich bei einem wieder befriedeten Zustand ohne Selbstbeschädigung gar nicht anpacken lassen."469 Öffentliche Bekundungen Deutschlands, welche die Einhaltung des Völkerrechts bekräftigten, erscheinen unter diesen Gesichtspunkten unter einem anderen Licht. Sie dienten nicht nur der Propaganda und der Verschleierung, sie trugen auch einen neuen Begriff des Rechts in sich, nämlich den Begriff des werdenden Rechts, wie er bereits vor dem Kriege von deutschen Juristen diskutiert und vielfach akzeptiert worden war. Indirekt nahm Conrad Roediger, Leiter des Völkerrechtsreferats im Auswärtigen Amt, auf diesen Rechtsbegriff in seinem Vortrag vom 2. Mai 1941 Bezug, indem er betonte, daß die Haager Landkriegsordnung „kein ein für allemal geschaffenes starres Rechtssystem" darstelle. Es sei daher immer wieder die „Interessenlage der Staaten", welche „diese Normen jeweils zu einer neuen Interpretierung oder zu einer Abänderung" bringen werde470. Zur „Illustrierung" seiner Ausführungen wählte Roediger das „Beispiel" Polen: „So steht die Praxis, wie Sie wissen, auf dem Standpunkt, daß im Generalgouvernement Polen durch Auflösung des polnischen Staates und durch Schaffung eines völlig neuen Rechtszustandes die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung nicht mehr Anwendung finden."471 Das Generalgouvernement Polen begründete in seinen Grundstrukturen das Modell einer zivilen Besatzungsverwaltung, das auch in anderen von deutschen Truppen besetzten Gebieten in West- und Osteuropa zur Umsetzung gelangen sollte. So wurden im weiteren Verlauf des Krieges sogenannte „Reichskommissariate" in Norwegen und in den Niederlanden errichtet sowie in den besetzten sowjetischen Gebieten die Reichskommissariate „Ostland" und „Ukraine" geschaffen472. Ihre verfassungsrechtliche Ausgestaltung sowie die ergriffenen politischen Maßnahmen der Reichskommissare waren entsprechend den ideolgisch-völkischen Vorgaben der nationalsozialistischen Regierung angepaßt. Die Installierung von Zivilverwaltungen auf militärisch okkupierten Territorien implizierte notwendig die Anmaßung fremder Hoheitsrechte und ließ unzweideutig das Bestreben erkennen, ohne eine endgültige Friedensregelung abzuwarten, das eroberte Gebiet endgültig zu behalten bzw. zu annektieren473. Diese völkerrechtswidrige Form einer Besatzungsverwaltung zeigte Vgl. Broszat, Polenpolitik, S. 20. Zitiert aus: Rechtsgestaltung deutscher Polenpolitik, Bl. 40. 470 Vg] [Roediger], Das kodifizierte Landkriegsrecht, Bl. 4. 471 Zitiert aus: [Roediger], Das kodifizierte Landkriegsrecht, Bl. 5. 472 Vgl. Umbreit, Kontinentalherrschaft, S. 50-54, S. 6 0 - 6 4 und S. 85-90. 473 Vgl. Diemut Majer, Systeme des Besatzungsrechts 1 9 3 9 - 1 9 4 8 . Ein Beitrag zum Verhältnis von Politik und Völkerrecht am Beispiel der von Deutschland 1 9 3 9 - 1 9 4 5 besetzten Gebiete und der Besetzung Deutschlands durch die Alliierten nach 1945, in: Tel Aviver Jahrbuch für 468 469

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sich neben anderem besonders in der Installierung deutscher Zivilgerichte, wodurch eine Gewährleistung des Art. 43 H L K O kaum mehr zu realisieren gewesen war. So verfügte das Generalgouvernement Polen im Jahre 1940 über 12 Sondergerichte sowie über acht „Deutsche Gerichte" und vier „Deutsche Obergerichte" 474 . Diese Interpretation enthielt auch der „Abschlußbericht" der Abteilung Kriegsverwaltung des Generalquartiermeisters im O K H vom April 1945. Danach sei für den Oberbefehlshaber des Heeres während der Planungen für den Westfeldzug die Entscheidung zur Errichtung einer militärischen Besatzungsverwaltung davon abhängig gewesen, daß die betreffenden Gebiete für eine „Vereinigung mit dem Großdeutschen Reich nicht in Betracht" kommen würden. Entsprechend wurde von ihm der „Standpunkt vertreten, daß eine Zivilverwaltung als Ausdruck einer Annexionsabsicht (...) gewertet werden müsse (,..)"475. Diese rückblickende Feststellung deckte sich mit den Anweisungen Hitlers in seinem „Erlaß über die Verwaltung der besetzten Gebiete Frankreichs, Luxemburgs, Belgiens und Hollands" vom 9. Mai 1940. Darin ordnete er u.a. an: „2. Der Oberbefehlshaber des Heeres hat für die zu besetzenden Gebiete Frankreichs, Luxemburgs, Belgiens und Hollands eine Militärverwaltung einzusetzen 476 . (...) 3. Die Handhabung der Militärverwaltung hat so zu erfolgen, daß der Eindruck einer beabsichtigten Annexion der besetzten Gebiete nicht entsteht. Die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung sind zu achten." 477 deutsche Geschichte Bd. XIX (1990), S. 145; siehe auch: Hagen Fleischer, Nationalsozialistische Besatzungsherrschaft im Vergleich: Versuch einer Svnopse, in: Wolfgang Benz, Johannes Houwink ten Cate, Gerhard Otto (Hrsg.), Anpassung, Kollaboration, Widerstand. Kollektive Reaktionen auf die Okkupation, Berlin 1996, S. 268f. 474 Vgl. Umbreit, Kontinentalherrschaft, S. 178. Zur Gerichtsbarkeit in den besetzten Niederlanden und in Norwegen siehe: Geraldien von Frijtag Drabbe Künzel, Rechtspolitik im Reichskommissariat. Zum Einsatz deutscher Strafrichter in den Niederlanden und in Norwegen 1940-1944, in: VfZ 48 (2000), S. 461^190; Andreas Toppe, Besatzungspolitik ohne Völkerrecht? Anmerkungen zum Aufsatz „Rechtspolitik im Reichskommissariat" von Geraldien von Frijtag Drabbe Künzel, in: VfZ 50 (2002), S. 99-110. 475 Vgl. Hans Umbreit, Die Kriegsverwaltung 1940 bis 1945, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 2 (1968), S. 114. 416 Für die Niederlande wurde noch während des Westfeldzuges die Entscheidung geändert. So ernannte Hider bereits am 18. Mai 1940 Arthur Seyß-Inquart zum Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete. Vgl. Umbreit, Kontinentalherrschaft, S. 60. 4-7 Erlaß über die Verwaltung der besetzten Gebiete Frankreichs, Luxemburgs, Belgiens und Hollands vom 9. Mai 1940, in: Martin Moll (Hrsg.), „Führer-Erlasse" 1939-1945. Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrieges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung, Stuttgart 1997, S. 118. In den „Sonderbestimmungen für die Verwaltung und Befriedung der besetzten Gebiete Hollands, Belgiens und Luxemburgs" vom 29. Oktober 1939 hatte es bereits geheißen: „1. (...) Die Art der Besetzung, sowie Form und Inhalt der einzurichtenden Verwaltung sollen nicht den Eindruck aufkommen lassen, als ob eine Annexion der besetzten Gebiete beabsichtigt sei. Die Verwaltung hat sich auf die Sicherung und Versorgung der deutschen Truppen zu beschränken und gegenüber dem Lande betont treuhänderischen Charakter zu tragen [!]. Die völkerrechtlichen Bestimmungen sind in jedem Falle streng zu beachten. (...) 5.a Aus Gründen der außenpolitischen Wirkung und der Geheimhaltung bei den Vorarbeiten hat der Führer und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht für die besetzten Gebiete eine reine Militärverwaltung ohne Einsatz von Chefs der Zivilverwaltung angeordnet." Siehe: IMT, Bd. XXX, S. 212 und S. 214.

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Die Rechtsgrundlagen der deutschen Besatzungsverwaltungen bildeten auch den Gegenstand der Diskussion unter den Mitgliedern des Vorausschusses Kriegsrecht. Unter der Maßgabe Keitels, ein neues, der deutschen Interessenlage entsprechendes, Kriegsrecht zu formulieren, weckte die Verschiedenheit der Besatzungssysteme das Interesse nach deren Ursachen und Fragen über deren möglichen Verortung in einem einheitlichen Rechtsgefüge. Die aufgefundenen Ungereimtheiten und entstandenen Fragen wurden schließlich u.a. von den Mitgliedern des Ressorts „Landkrieg" des Ausschusses, Ernst Schmitz und Werner von Tippeiskirch, in einem Katalog für das O K H zusammengestellt 478 . Die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen erfolgte durch das O K H nur schleppend und widerwillig und sollte schließlich nach starken Drängen Leopold Bürkners, dem Leiter der Abteilung Ausland im O K W , von Eduard Wagner der Gruppe V der Abteilung Kriegsverwaltung zur Bearbeitung übergeben werden 479 . Der Fragenkatalog des Vorausschusses Kriegsrecht war in die Bereiche „Miltärische Verwaltung" und „Zivile Verwaltung" aufgeteilt worden. A m Ende des ersten Teils enthielt er die ganz entscheidende Frage über die Rechtsgrundlagen der Besatzungsverwaltungen: „Halten sich die bestehenden oder die aus den Erfahrungen dieses Krieges abzuleitenden Grundsätze in Übereinstimmung mit der Haager Landkriegsordnung oder inwieweit würde eine Abänderung der Landkriegsordnung wünschenswert oder erforderlich sein?" 480 Die Antwort der Abteilung Kriegsverwaltung hierauf war klar und eindeutig: „Die innere Ordnung der Dienststellen der Besatzungsmacht richtet sich nicht nach den Regeln des Völkerrechts. Sie kann frei nach militärischen Notwendigkeiten und nach politischer Zweckmäßigkeit gestaltet werden." 481 Damit waren die wesentlichen Gesichtspunkte genannt, welche für die Entscheidung zur Errichtung von Zivilverwaltungen maßgebend waren 482 : „Die 478 Vgl Nach Müller war der Fragenkatalog von Helmuth James Graf von Moltke erstellt worden. Dafür gibt es allerdings keinen Beleg. Da Fragen des Besatzungsrechts das Landkriegstecht betrafen und für diesen Bereich Schmitz und Tippeiskirch eingeteilt worden waren, gibt es keinen Beweggrund, die Urheberschaft dieses Katalogs allein Moltke zuzuschreiben. Vgl. Rolf-Dieter Müller, Kriegsrecht oder Willkür? Helmuth James Graf von Moltke und die Auffassungen im Generalstab des Heeres über die Aufgaben der Militärverwaltung vor Beginn des Rußlandkrieges, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 41 (1987), S. 130. 479 So schrieb Bürkner am 29. Januar 1941 dem Generalquartiermeister: „Ausgangspunkt für etwaige neue Vorschläge muß jedoch neben dem unseren Interessen nicht entsprechenden und den modernen Wirtschaftskrieg nicht berücksichtigenden Text der Haager Landkriegsordnung vornehmlich die deutsche Praxis während dieses Krieges sein, die im einzelnen auf ihre Übereinstimmung mit den allgemeinen deutschen Interessen zu prüfen ist. Für die Beurteilung der deutschen Interessenlage liegt bei dem OKW kein vollständiges Material vor [!]; es ist erwünscht, mit der Sammlung dieses Materials schon jetzt zu beginnen, um die Zeit bis zur Bearbeitung der Fragen durch die Wehrmachtteile für eine Förderung gerade dieses wichtigen Fragenkomplexes auszunutzen." Siehe: Oberkommando der Wehrmacht, Nr. 377/41 geh. Chef Ausland, 29. 1. 1941, An Gen.Qu., in: BA-MA, RM 8/1313, Bl. 159. 480 Zitiert aus: [Fragenkatalog], Berlin, 24. 1. 1941, in: BA-MA, RM 8/1313, Bl. 154. Siehe auch: Müller, Kriegsrecht oder Willkür?, S. 139 (Dok. 1). 481 Zitiert aus: Abt. K. Verw. (V), 10. 2. 1941, Vortragsnotiz für den Herrn GenQu, in: BAMA, RM 8/1313, Bl. 180. Siehe ebenso: Müller, Kriegsrecht oder Willkür?, S. 144 (Dok. 3). 482 Entsprechend lautete die erste Frage zu Teil 2: „Welche Gesichtspunkte sind dafür maßgebend, daß die Verwaltung besetzter Gebiete von der Wehrmacht auf zivile Dienststellen

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Zivilverwaltung entlastet die militärischen Dienststellen von der Verantwortung für alle die Angelegenheiten, an denen kein unmittelbares militärisches Interesse gegeben ist. Das Verhältnis zwischen Besatzungstruppe und Zivilverwaltung kann ähnlich geregelt werden, wie im Heimatgebiet [!], das nicht Operationsgebiet ist."483 Die Übertragung der vollziehenden Gewalt auf eine vom Militär unabhängige Zivilverwaltung ließ allerdings die Frage der Verantwortung im Hinblick auf die Einhaltung der Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung, die der Wehrmacht durch Art. 1 des IV. Haager Abkommens aufgetragen worden war, in den betreffenden Gebieten offen. Dieser äußerst kritische Punkt wurde von den Mitgliedern des Vorausschusses eindeutig identifiziert und bildete den Gegenstand der letzten Frage an das OKH: „Wie ist in diesen Fällen sichergestellt, daß die militärischen Dienststellen ihrer Verpflichtung, für die Einhaltung der Haager Landkriegsordnung einzustehen, genügen können?" 484 Eine Gewähr für die Befolgung des Völkerrechts unter den Zivilverwaltungen gab es nicht. Dies wußte auch das OKH und wehrte deshalb die Frage ab, indem es die besagte Verantwortung auf das „Reich" schob: „Die Verpflichtung zur Einhaltung der H.L.K.O. trifft das Reich als kriegführende Macht. Das Reich muß nicht nur für Maßnahmen militärischer Dienststellen, sondern in gleicher Weise für Handlungen seiner Zivilbehörden einstehen. Eine unmittelbare Verantwortung militärischer Dienststellen gegenüber dem anderen Land ist nicht gegeben. Gegenüber dem Reich tragen militärische und zivile Dienststellen die Verantwortung stets nur im Rahmen ihrer Zuständigkeit." 485 Das OKH wollte danach seine Verantwortung ausschließlich auf die Strategie und Taktik militärischer Operationen beschränkt wissen, d.h. territorial auf das Operationsgebiet. Verpflichtungen, die über diesen Rahmen hinausgingen, wurden somit nicht mehr als in der eigenen Zuständigkeit stehend anerkannt. Die Entscheidung über die Organisationsstruktur der Besatzungsverwaltung war demnach eine rein politische und eng verknüpft mit den entsprechenden Kriegszielen. Zu diesem Fazit gelangte auch Prof. Ernst Schmitz in einer Aktennotiz vom 4. März 1941, nachdem er die Antworten des OKH ausgewertet hatte: „Ferner spiele auch eine Rolle, was man mit dem besetzten Gebiet künftig vorhabe, ob man es z.B. annektieren wolle. Für die Frage, ob die Verwaltung besetzter Gebiete zivilen Dienststellen übertragen werden solle, seien im wesentlichen innerpolitische Gesichtspunkte [!] von Bedeutung. Uberall, wo nicht nachgewiesen werden könne, daß das besetzte Gebiet unmittelbar für militärische Operationen gebraucht werde und daher ein überwiegendes militärisches Interesse bestehe, sei es nicht möglich, das Gebiet unter militärischer Verwaltung zu behalten." 486 Aufschlußreich war in diesem Zusammenhang auch die Bemerkung von Schmitz über die zögerliche Haltung des OKH gegenüber einer Mitarbeit im Vorausschuß Kriegsrecht: „Da der Generalquartiermeister (...) nicht gerne jetzt an die Sache heran will, soll vorbehaltlich der Zustimmung Admiral Gladischs von einer Be-

übertragen wird? Welches sind die militärischen Interessen?" Siehe: [Fragenkatalog], Berlin, 24. 1. 1941, Bl. 154. 483 Zitiert aus: Abt. K. Verw. (V), 10. 2. 1941, Vortragsnotiz für den Herrn GenQu, Bl. 177. 484 Zitiert aus: [Fragenkatalog], Berlin, 24. 1. 1941, Bl. 155. 485 Zitiert aus: Abt. K. Verw. (V), 10. 2. 1941, Vortragsnotiz für den Herrn GenQu, Bl. 181f. 08 Ausi. V i e . , Berlin, den 4. 3. 1941, Aktennotiz, in: BA-MA, RM 8/1313, Bl. 174. Siehe auch: Müller, Kriegsrecht oder Willkür?, S. 145 (Dok. 4).

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III. Die Umsetzung des Kriegsrechts in der deutschen Wehrmacht

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sprechung zwischen diesem und dem Generalquartiermeister vorläufig Abstand genommen werden (,..)."487 Schmitz hatte in seinem Resümee die Stichworte geliefert, die für eine Zivilverwaltung kennzeichnend gewesen waren. Nach der Annexion stellte die Zivilverwaltung die extremste Form der Übertragung inländischer Rechtsverhältnisse auf fremde Hoheitsgebiete dar. Die Trennung zwischen den Rechtssphären des Privaten und des Militärischen, wie sie durch eine Militärverwaltung, beschränkt auf die Wahrung der Sicherheit der Besatzungstruppen, gewährleistet sein konnte, mußte durch Installierung einer Zivilverwaltung, die zwangsläufig nach „innenpolitischen" Richtlinien verfahren würde, aufgehoben sein, denn für die Besatzungstruppen zeichneten die Wehrmachtbefehlshaber verantwortlich. In dem Begriff „Zivilverwaltung" steckte somit ein stark erweiterter Aufgabenkreis, der sich notwendig nach völkischen Kriterien und Ideen definieren sollte. Die Zivilverwaltung war daher gleichsam der institutionelle Ausdruck der Aufhebung des Art. 45 HLKO. Sowohl für die Besatzungen in West- als auch in Osteuropa mußte sich im Ergebnis schließlich erweisen, daß der Begriff „Zivil" selbst irreführend war. Das Zivile war nicht mehr zivil, es war Partei. Den hier skizzierten rechtlichen und politischen Konsequenzen einer Zivilverwaltung lagen Rechtsanschauungen zugrunde, die mit den Regeln und dem „Geist" der Haager Landkriegsordnung nicht mehr in Einklang zu bringen waren. Sie enthielten den Anspruch der Treue von den besetzten Völkern und bei Verletzung dieses Anspruches die Strafandrohung des Landesverrats. Diese Rechtsauffassung wurde in der Sitzung des Ausschusses für Völkerrecht vom 27. Juni 1940 entschieden vorgetragen von Kriegsgerichtsrat Prof. Gerber. Der Titel seines Referates gab bereits die Richtung seiner Argumentation vor: „Treupflicht von Kriegsgefangenen und Einwohnern besetzter Gebiete." In seinem Vortrag verlieh Gerber der deutschen Rechtspraxis ein Gesicht und sprach tatsächliche Absichten und Fakten offen aus. Im Anschluß seines Referates entspann sich eine ungewöhnlich heftige Kontroverse, in der sichtbar wurde, daß nicht alle Juristen in Deutschland die Gebote des internationalen Rechts über Bord geworfen hatten. Ein wichtiger Bestandteil von Gerbers Vortrag bildete die Frage nach dem Rechtszustand des Generalgouvernements Polen. Wie andere Rechtsgelehrte auch ging Gerber zuvorderst davon aus, daß Polen als Subjekt des Völkerrechts nicht mehr existiere. Von dieser Rechtsgrundlage aus entfaltete er die folgende Argumentation: „Polen ist völkerrechtlich durch die deutsche Macht vernichtet. Der Zustand, der heute im Generalgouvernement besteht, entspricht daher nicht den Voraussetzungen, von denen die Haager Landkriegsordnung bei ihren Bestimmungen im dritten Abschnitt ausgeht (...). Die besetzten polnischen Gebiete, soweit sie nicht unmittelbar in das Deutsche Reich eingegliedert worden sind, stehen heute als erobertes Land unmittelbar und ausschließlich unter deutscher politischer Verfiigungsmacht. Wie ihr künftiger Verfassungszustand auch sein mag, es wird sein Dasein deutscher politischer Entscheidung zu danken haben. (...) Der Erlaß des Führers über die Verwaltung der besetzten polnischen Gebiete vom 12. Oktober 1939 bedeutet daher eine Ubergangsregelung aus deutscher verfassungspolitischer Macht, nicht aber eine Notregelung völkerrechtlicher Art im Sinne des Art. 43 der Haager Landkriegsordnung. Da"87 Ausi. Vie., Berlin, den 4. 3. 1941, Aktennotiz, in: BA-MA, RM 8/1313, Bl. 175.

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raus folgt aber wohl für unseren Betrachtungszusammenhang: die Bewohner der besetzten polnischen Gebiete sind ausschließlich unter die politische Verfügungsmacht des Deutschen Reiches gestellt. Für sie besteht ein irgendwie geartetes primäres Treueverhältnis zu einem polnischen Gemeinschaftswesen nicht mehr. (...) Wenn die polnischen Einwohner des Gouvernements auch nicht deutsche Staatsangehörige sind, so sind sie doch in einem ganz bestimmt erfaßbaren Sinne deutsche Schutzgenossen [!], und als solche stehen sie in einem verpflichtenden positiven Zusammengehörigkeitsverhältnis zum Deutschen Reich. (...) Dem hat aber dann ein bestimmtes Treueverhältnis zu entsprechen." 488 Die polnische Bevölkerung wurde kurzerhand vom Völkerrecht ausgeschlossen und in das deutsche Strafrecht eingeschlossen. Dieses eigenmächtig deklarierte Rechtsverhältnis erstreckte sich auch auf die polnischen Kriegsgefangenen, wie bereits ausgeführt worden ist. Nach Gerber waren die Kriegsgefangenen deshalb „den Personen gleichzusetzen, die heute im Gouvernement leben" 489 . Die deutsche Theorie von der Nichtexistenz des polnischen Staates erlitt an dieser Stelle auch in Gerbers Ausführungen Schlagseite, da er zur Veranschaulichung des unterstellten Treueverhältnisses ein Beispiel wählte, daß noch in die Zeit der Kämpfe fiel und somit einen weiteren Fall der Antizipation politischer Ziele in den deutschen Kriegsakten offenlegen sollte. Das „Mädchen von Warschau" beschrieb einen Fall deutscher Rechtspraxis, in dem der Gedanke des Landesverrats in vollem Umfange zu Tage treten sollte. So hatte sich zu Beginn des Krieges eine polnische Studentin in ein Regiment einschreiben lassen und bei der Verteidigung Warschaus mitgekämpft. Nach der Kapitulation der Stadt war sie in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. In einem unbemerkten Augenblick aber hatte sie aus den von ihren Kameraden abgegeben Gewehren die Schlösser entfernt und unbrauchbar gemacht. Ihre „Straftat" begriff Gerber als ein todeswürdiges Verbrechen: „Das Objekt der Tat war (...) eigenes, soeben verlorenes Kriegsmaterial, nicht unser Kriegsmaterial, Kriegsmaterial des Gewahrsamsstaates. Man kann auch die Handlung als letztmöglichen Kampfakt gegen den Feind ansehen. Aber sofort wendet sich das Blatt: ein Kampfakt der nach der Gefangennahme stattfand. Da nun mit der Gefangennahme die Pflichten gegen den Gewahrsamsstaat beginnen und die persönliche Bekämpfung des Feindes aufhört, dafür aber auch das eigene Leben in Feindeshand gesichert wird, kann man in diesem Falle wohl um eine kriminelle Bestrafung nicht herumkommen; sie muß dann eben aber die Todesstrafe sein." 490 Kriegsgerichtsrat Gerber verlor kein Wort über die Durchführung eines Kriegsgerichtsverfahrens noch über die hierfür nach KStVO gesetzlich vorgeschriebene Einschaltung der Schutzmacht Polens. Es liegt daher der Verdacht nahe, daß die polnische Soldatin kurzerhand erschossen worden ist 491 . Zitiert aus: Akademie für Deutsches Recht. 1. Sitzung der Arbeitsgemeinschaft des Ausschusses für Völkerrecht am Donnerstag, den 27. Juni 1940, in: BA, R 6 1 / 3 6 0 , Bl. 34f. 4 8 9 Vgl. ebd., Bl. 48. 4 9 0 Zitiert aus: Akademie für Deutsches Recht, 27. Juni 1940, Bl. 46. 4 9 1 Die Bedeutung des Anspruches der Treue legte Gerber auch anhand eines weiteren Falles dar, der, erstaunlich genug, von einem französischen Kriegsgefangenen handelte. Über dessen etwaige Bestrafung sagte er diesmal allerdings nichts, kam es ihm doch nur darauf an, den Treuebruch anzuzeigen. So hatte der französische kriegsgefangene Soldat seiner Mutter in einem Brief u.a. geschrieben: „Es ist eine Sache, die mich in dieser verfluchten Gefangenschaft 488

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In der anschließenden Diskussion, in der die Teilnehmer ihr Für und Wider bekundeten, trat vor allem ein Jurist hervor, der den Mut besessen hatte, Gerbers Ausführungen dezidiert zu verneinen. Es war dies Prof. Ernst Schmitz von der Völkerrechtsgruppe des Amtes Ausland/Abwehr. Sein erster Kommentar zu Gerbers Referat lautete klar: „Ich stehe in vollkommenen Gegensatz zu den Auffassungen von Kollegen Gerber. Mir scheint die Annahme einer Treupflicht in dem hergebrachten Sinne sowohl für die Einwohner des besetzten Gebiets wie für die Kriegsgefangenen eine pure Fiktion [!] zu sein, die in keiner Weise gerechtfertigt ist." 492 Diese Fiktion war aber vielfach Rechtswirklichkeit in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten. Sie wurde gestaltet von Militärs, Parteileuten und Juristen, zu denen der Referent, Kriegsgerichtsrat Gerber, selbst gehört hatte. Schmitz verfocht gegen diese Rechtswirklichkeit seine Auffassung, daß in allen besetzten Gebieten die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung durchaus ausreichend seien. Deshalb bedürfe es keineswegs einer „Erstreckung des deutschen internen Rechts" auf die besetzten Territorien. Es sei dies nicht erforderlich, „da die Haager Landkriegsordnung die Möglichkeit gibt, durch Verordnungen das dort bestehende Recht so abzuändern, daß der Kriegszweck erreicht wird, nämlich die Sicherung der Besatzungstruppe und die Verhinderung von Akten, die aus dem besetzten Gebiet heraus die allgemeine Kriegführung schädigen (...). Ich glaube also, daß ein Teil dieser Probleme gar keine Probleme sind, nämlich dann, wenn man sich noch auf die Haager Landkriegsordnung stützen will" 493 . Im Falle Polens wiesen deutsche Juristen in ihrer Legitimierung der Annexion westpolnischer Gebiete und der Errichtung des Generalgouvernements auf die Debellation Polens hin und begründeten damit die Auslöschung des polnischen Staates als Völkerrechtssubjekt. Die Fragwürdigkeit dieser Argumentation wurde bereits anhand der antizipierenden Maßnahmen des Deutschen Reiches noch während der Kampfhandlungen unterstrichen. Sie wurzelten im Kriegsgrund, der einen Verstoß gegen das ius ad bellum bewußt in Kauf genommen hatte. Dies gab sogar Staatsanwalt Dr. Bertram in seinem Vortag „Völkerrechtliche Fragen, die sich aus dem Zerfall der polnischen Republik ergeben haben" indirekt zu, indem er ausführte, der „Zerfall Polens im September 1939 ist in erster Linie ein politischer Vorgang und nicht ein Akt rechtsgeschäftlicher Natur" 494 . Die Verletzung des ius ad bellum aber konnte die Behauptung einer Debellation und der hieraus abgeleiteten „staatsrechtlichen" Akte unwirksam machen. Gebietserwerb konnte entsprechend der vom Völkerbund anerkannten „Stimson-Doktrin" nur auf dem Wege der „Legalität" erfolgen. Durch eine nichtautorisierte Gewaltanwendung, die durch den rechtswidrigen Angriffskrieg Deutschlands eindeutig gegeben war, blieben territoriale Veränderungen von vornherein rechtlich wirkungslos. In seiner Note vom 7. Januar 1932 immer wieder verfolgt: das ist, daß ich augenblicklich nicht in Frankreich bin und daß ich mich nicht rächen kann. Ich werde also erst mein Gleichgewicht und die Lust zum Leben wiederbekommen, wenn ich 20 Stück von diesem Vieh umgebracht haben werde." Gerber kommentierte diesen „Fall" mit den Worten: „Hier wird eben der Rahmen dessen überschritten, was man als nationale Empfindung einem Kriegsgefangenen zubilligen kann." Zitiert aus: ebd., Bl. 46. 492 Zitiert aus: ebd., Bl. 53. 493 Vgl. Akademie für Deutsches Recht, 27. Juni 1940, Bl. 54f. 494 Vgl. ebd., Bl. 63.

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hatte Staatssekretär Henry Stimson gegenüber Japan diesen Rechtsgrundsatz gestützt auf den Briand-Kellogg-Pakt hervorgehoben und betont, daß die Regierung der Vereinigten Staaten „does not intend to recognize any situation, treaty or agreement which may be brought about by means contrary to the covenant and obligations of the Pact of Paris (,..)"495. Auf dieses rechtliche wie politische Problem kam schließlich Staatsrat Prof. Axel Freiherr von Freytagh-Loringhoven zu sprechen und erinnerte an eine Erklärung Präsident Roosevelts vom 10. Juni 1940, wonach die USA gewaltsame territoriale Veränderungen in Frankreich nicht anerkennen würden. Dies bedeutete sogar eine Verschärfung der Stimson-Doktrin, denn Frankreich hatte am 3. September 1939 Deutschland den Krieg erklärt. Von einem rechtswidrigen Angriffskrieg gegen Frankreich konnte somit nicht ausgegangen werden. Roosevelts Warnung mußte daher als Vorstoß begriffen werden, der sich gegen jede territoriale Veränderung unter Ausnutzung des Kriegszustandes wandte. Damit wurde das Dilemma deutscher Außenpolitik sichtbar, denn hinter den völkerrechtlichen Problemen territorialer Erwerbungen verbarg sich auch die politische Frage der Anerkennung vollzogener Tatsachen durch die internationale Staatengemeinschaft. Wer keine Anerkennung wollte, mußte einen vollständigen Sieg erringen. Freytagh-Loringhoven befürchtete deshalb, daß die USA die Stimson-Doktrin „aller Wahrscheinlichkeit nach auch auf Polen anwenden" würden: „Amerika erkennt bekanntlich auch die Errichtung des Protektorats nicht an. In Amerika fungiert eine tschechische Gesandtschaft, genau wie in England und Frankreich. Es ergeben sich da also sehr starke Analogien zu Polen. (...) Politisch wird die Entscheidung natürlich vom Ausgang des Krieges, von der Vollständigkeit unseres Sieges abhängen." 496 Die Konstatierung der Debellation Polens selbst war darüber hinaus rechtlich bedeutungslos, da mit dem Angriff auf Polen Deutschland in einen Krieg gegen eine Militärallianz getreten war, den es zu seinen Gunsten noch nicht beendet hatte. Wie bereits im Jahre 1925 Karl Heyland ausgeführt hatte, dauerte in einer solchen Situation der Kriegszustand damit fort. Die Vornahme von Annexionen waren entsprechend als rechtswidrig einzustufen 497 . Diese Auffassung vertrat im Ausschuß für Völkerrecht auch Helmuth James Graf von Moltke und erklärte: „Ich muß gestehen, daß ich nicht verstehe, wie man die Geltung der Haager Landkriegsordnung in dem

Vgl. Asche G r a f v o n Mandelsloh, Die Auslegung des Kelloggpaktes durch den amerikanischen Staatssekretär Stimson, in: Z a ö R V 3 (1933), S. 623; auch S. 626. 4 9 6 Zitiert aus: Akademie für Deutsches Recht, 27. Juni 1 9 4 0 , Bl. 78. Nach Mattern, der die Stimson-Doktrin selbst als „allgemeines Völkerbundsrecht" bezeichnet, sei durch das Verhalten der Völkerbundsmitglieder während des Abessinienkrieges im Jahre 1 9 3 6 diese Doktrin infolge ihrer „Nichtanwendung" außer K r a f t gesetzt worden. Einzig die U S A hatten die Annexion des Landes durch Italien weder de jure noch de facto anerkannt. Vgl. Karl-Heinz Mattern, Die Exilregierung. Eine historische Betrachtung der internationalen Praxis seit dem Beginn des Ersten Weltkrieges und deren völkerrechtliche Wertung, Tübingen 1953, S. 70f. D e m muß jedoch entgegengehalten werden, daß die Stimson-Doktrin durch Völkerbundsresolution v o m 11. März 1 9 3 2 positives Recht wurde. Durch Nichtbefolgung wird ihr Rechtsgehalt deshalb nicht unwirksam, ebensowenig wie die Unterlassung einer strafrechtlichen Ahndung wegen Mordes den § 2 1 1 R S t G B aufheben läßt. 4