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German Pages [351] Year 2018
Migrations- und Integrationsforschung Multidisziplinäre Perspektiven
Band 10
Herausgegeben von Heinz Fassmann, Richard Potz und Hildegard Weiss
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed. Advisory Board: Christine Langenfeld (Göttingen), Andreas Pott (Osnabrück), Ludger Pries (Bochum)
Jennifer Carvill Schellenbacher / Julia Dahlvik / Heinz Fassmann / Christoph Reinprecht (Hg.)
Migration und Integration – wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich Jahrbuch 4/2018
Mit 16 Abbildungen
V& R unipress Vienna University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-5243 ISBN 978-3-7370-0828-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Verçffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. 2018, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Sarah-Maria Kçlbl
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dawn Chatty The Syrian Humanitarian Disaster : Perceptions on Sustainability of Containment in the Region of Conflict . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Asyl Josef Kohlbacher / Gabriele Rasuly-Paleczek “From Destination to Integration” – First Experiences of Asylum Seekers from Afghanistan, Syria, and Iraq arriving in Austria . . . . . . . . . . .
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Sieglinde Rosenberger / Judith Welz Das Abschieberegime fast außer Kontrolle? Parlamentarische Anfragen zwischen Menschenrechten und Souveränität . . . . . . . . . . . . . . .
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Sibel Uranüs Die vergessene Verantwortung – Folteropfer im österreichischen Asylverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gesundheit und Pflege Ingrid Jez Die Impfpflicht in Zeiten der Migration – eine bipolare Patientin? . . . .
91
Katharina Leitner Die kultursensible Gesundheitsversorgung von geflüchteten Personen im Spannungsfeld zwischen staatlicher Verantwortung und Health Literacy . 107
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Inhalt
Christoph Reinprecht / Ina Wilczewska Die Rolle familienbezogener Verpflichtungsnormen (Familialismus) für die Akzeptanz von Pflegeeinrichtungen und sozialen Diensten . . . . . . 121 Anna Faustmann / Lydia Rössl Migration und Sucht – Herausforderungen für die Präventionsarbeit . . . 141 Daniela Wagner (Migrationsbedingte) Diversität in österreichischen Alten- und Pflegeheimen. … für das Leben lernen wir . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Familien und Sprache Viktoria Templ / Maria Weichselbaum / Katharina Korecky-Kröll / Wolfgang U. Dressler Deutschspracherwerb ein- und zweisprachiger Wiener Kindergartenkinder. Der Einfluss des sozioökonomischen Status der Familie, des sprachlichen Hintergrunds und der Sprechsituationen . . . 195 Monika Potkan´ski-Pałka Intergenerational Value Transmission in Polish Immigrant Families in Austria and Germany . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Integration und Identität Anna Faustmann / Lydia Rössl / Isabella Skrivanek Einflussfaktoren auf die regionale Integration und Bleibeabsichten von (hoch-)qualifizierten Zu- und Rückwanderern am Beispiel Oberösterreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Angelika Frühwirth / Ana Mijic´ An die Grenzen des Selbst. Identität und Diaspora . . . . . . . . . . . . . 255 Michael Parzer Offenheit als kulturelles Kapital. Kosmopolitischer Konsum in migrantischen Ökonomien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Ursula Reeger ArbeitsmigrantInnen aus den ostmitteleuropäischen EU-Ländern in Wien und Linz: Zwischen Gleichstellung und Integrationsbedarf . . . . . 289
Inhalt
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Arno Pilgram / Christina Schwarzl Kriminalstatistiken als Erzählung über soziale Teilhabe von MigrantInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Markus Rheindorf Integration durch Strafe? „Integrationsunwilligkeit“ im politischen Diskurs. Vom späten Erfolg eines umstrittenen Begriffes . . . . . . . . . 325 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
Vorwort
Die in diesem Band versammelten Aufsätze gehen auf die vierte Jahrestagung für Migrations- und Integrationsforschung in Österreich zurück, die gemeinsam von der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Forschungsschwerpunkt Migration, Citizenship and Belonging der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Wien im September 2016 an der Universität Wien durchgeführt wurde. Die insgesamt 17 Aufsätze sind eine Auswahl von ursprünglich mehr als 40 Beiträgen, die im Rahmen dieser Konferenz präsentiert wurden. Den Beiträgen vorangestellt ist das für diese Publikation überarbeitete Manuskript des Hauptvortrags von Dawn Chatty zum Thema The Syrian Humanitarian Crisis: Perceptions of Sustainability of Containment in the Region of Conflict. In seiner inhaltlichen und disziplinären Breite dokumentiert das vorliegende Jahrbuch erneut den Querschnittscharakter der Migrations- und Integrationsforschung. Die thematischen Schwerpunkte Asyl, Gesundheit und Pflege, Familie und Sprache sowie Integration und Identität dokumentieren, dass sich die Akzente der Forschung im Laufe der Jahre immer wieder verschieben. Unverändert bleibt die Anforderung, zu einer differenzierteren und kritischen Auffassung von Migration und Mobilität beizutragen, und zwar sowohl in Bezug auf ihre vielfältigen Erscheinungsformen und Dynamiken als auch hinsichtlich jener tieferliegenden gesellschaftlichen Transformationen, für die sie Symptome sind, wie etwa geopolitische Verwerfungen, transnationale Ungleichheiten oder die Globalisierung ökonomischer und ökologischer Risiken. In diesem Sinn trägt Migrations- und Integrationsforschung immer auch zur Erforschung von sozialem Wandel bei, seinen Ursachen, Begleiterscheinungen und Folgen. Die Ergebnisse der Forschung, das unterstreichen auch die Beiträge dieses Jahrbuchs, konterkarieren Halbwissen und vermeintliche Wahrheiten und bilden eine potentielle Grundlage für kollektive Lernprozesse und soziale, politische und kulturelle Innovation. Die gesellschaftliche Konflikthaftigkeit, die dem Thema Migration heute innewohnt, zwingt die Forschung aus dem Elfenbeinturm. Es geht um soziale Verantwortung und Engagement, um öffentliche Mei-
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Vorwort
nungsbildung und eine wissenschaftlich begründete Auseinandersetzung mit Regierungs- und Behördenhandeln. Wer im Bereich der Migrations- und Integrationsforschung tätig ist, sieht sich auch mit Fragen und Problemkonstellationen konfrontiert, die nach konkreten Antworten und Lösungen verlangen. Welche gesellschaftliche Funktion und Wirkung der Migrations- und Integrationsforschung dabei zukommt, gilt es (selbst-)kritisch zu befragen. Die zweijährliche Jahrestagung und die damit verbundene Veröffentlichung im Jahrbuch dienen dazu, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Themen Migration und gesellschaftliche Inklusion voranzutreiben. Ein vorrangiges Ziel ist es, die Vernetzung der institutionell nach wie vor recht dispers verteilten und disziplinär fragmentierten Forschungslandschaft zu stärken und den fächerübergreifenden, aber auch transdisziplinären Dialog zu fördern. Viele der in diesem Band versammelten Beiträge entstanden aus Disziplinen und Sektoren übergreifenden Forschungskooperationen. Wie bereits die drei vorangegangenen Jahrestagungen spiegelte die vierte Konferenz dieses facettenreiche Wirken einer Migrationsforschung, die im universitären und außeruniversitären Bereich gleichermaßen angesiedelt ist. Sie verfolgt sowohl grundlagen- als auch anwendungsorientierte Forschungsstrategien und positioniert sich in einem Forschungsfeld, das nicht nur wissenschaftsimmanent, sondern auch von Akteuren der Zivilgesellschaft, Verwaltung und Politik mit definiert ist. Dass Migrationsforschung eine Querschnittsmaterie ist, zeigte sich im Spektrum an behandelten Themen. Bildung und Sprache, Kinder und Jugendliche, Literatur und Medien waren ebenso im Fokus der vorgestellten Forschungsarbeiten wie Medizin, Gesundheit und Gender. Darüber hinaus wurden Migration und Integration aus den Blickwinkeln der Stadt sowie des Arbeitsmarkts beleuchtet, aber auch Fragen des Migrationsmanagements, der Ru¨ ckkehrmigration, des Asyls, und der Menschenrechte behandelt. Historisch-politisch gerahmt war die Tagung durch die zugespitzten Krisen im Nahen Osten und auf dem afrikanischen Kontinent, die dadurch ausgelösten Fluchtbewegungen und zunehmend polarisierte migrationspolitische Debatten auf europäischer wie nationaler Ebene. International übliche Qualitätsstandards und Begutachtungspraktiken waren für die Auswahl der Tagungsbeiträge ausschlaggebend. Ausgewählt wurden die Beiträge aus den auf Grundlage eines Call for Papers eingereichten Vorschläge für Panels und Vorträge. Die im vorliegenden Band versammelten Artikel wurden für eine Veröffentlichung eingereicht und nach nochmaliger wissenschaftlicher Begutachtung ausgewählt. Das vorliegende Jahrbuch gliedert sich in vier Abschnitte: (1) Asyl, (2) Gesundheit und Pflege, (3) Familie und Sprache sowie (4) Integration und Identität. Eingeleitet wird der Sammelband mit dem Eröffnungsbeitrag von Dawn Chatty (Refugee Studies Centre, Universität Oxford), The Syrian Humanitarian Crisis: Perceptions of Sustainability of Containment in the Region of Conflict. Unter
Vorwort
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Hinweis auf die zugespitzte humanitäre Krise in den Flüchtlingslagern in den Nachbarländern von Syrien plädiert Dawn Chatty für eine Politik, die den Flüchtenden über temporären Überlebensschutz hinaus längerfristige Lebensperspektiven eröffnet, wobei vor allem die Länder der Europäischen Union gefordert sind, entsprechende menschenrechtlich begründete Rahmenbedingungen, auch gegen rechtspopulistische Angstmache, umzusetzen. Im ersten Abschnitt zum Themenfeld „Asyl“ findet sich zunächst ein Beitrag von Josef Kohlbacher und Gabriele Rasuly-Paleczek, in dem sich die Autorin und der Autor mit den Erfahrungen von AsylwerberInnen aus Afghanistan, Syrien und Irak nach ihrer Ankunft in Österreich auseinandersetzen. Mit dem Abschieberegime und parlamentarischen Anfragen zwischen Menschenrechten und Souveränität setzen sich anschließend Sieglinde Rosenberger und Judith Welz auseinander. Im nachfolgenden Beitrag untersucht Sibel Uranüs die vergessene Verantwortung in Bezug auf Folteropfer im österreichischen Asylverfahren. Der zweite Abschnitt versammelt Beiträge zum Thema Gesundheit und Pflege. Ingrid Jez behandelt das Thema Impfpflicht in Zeiten der Migration. Mit den Anforderungen einer kultursensiblen Gesundheitsversorgung von geflüchteten Personen „im Spannungsfeld zwischen staatlicher Verantwortung und Health Literacy“ befasst sich der Beitrag von Katharina Leitner. Christoph Reinprecht und Ina Wilczewska befassen sich in ihrem Beitrag mit der Rolle familienbezogener Verpflichtungsnormen für die Akzeptanz von Pflegeeinrichtungen und sozialen Diensten. Herausforderungen für die Präventionsarbeit im Bereich Migration und Sucht untersuchen Anna Faustmann und Lydia Rössl im folgenden Beitrag. Der Beitrag von Daniela Wagner widmet sich migrationsbedingter Diversität in österreichischen Alten- und Pflegeheimen. Im dritten Abschnitt – „Familie und Sprache“ – befassen sich zunächst Viktoria Tempel, Maria Weichselbaum, Katharina Korecky-Kröll und Wolfgang Dressler mit dem Deutschspracherwerb ein- und zweisprachiger Wiener Kindergartenkinder und dem Einfluss des sozioökonomischen Status der Familie, des sprachlichen Hintergrunds und der Sprechsituationen. Monika Potkan´skiPałka resümiert in ihrem Artikel die Ergebnisse einer empirischen Forschung zu intergenerationalen Wertetransmission in Familien polnischer Herkunft in Österreich und Deutschland. „Integration und Identität“ lautet der Titel des vierten Abschnitts, in dem zunächst Anna Faustmann, Lydia Rössl und Isabella Skrivanek „Einflussfaktoren auf die regionale Integration und Bleibeabsichten von (hoch-)qualifizierten Zuund Rückwanderern in Oberösterreich“ vorstellen und diskutieren. Angelika Frühwirt und Ana Mijic´ widmen sich in ihrem Beitrag, anhand einer Analyse literarischer Werke, den „Grenzen des Selbst“ im Kontext von Identität und Diaspora. Unter dem Titel „Offenheit als kulturelles Kapital: Kosmopolitischer Konsum in migrantischen Ökonomien“ diskutiert Michael Parzer die These,
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Vorwort
dass bildungsprivilegierte Angehörigen der Dominanzgesellschaft den Konsum „fremder Kulturen“ als Ressource und Distinktionsmittel einsetzen. Ursula Reeger berichtet die Ergebnisse einer Forschung zur Situation von Arbeitskräften ausostmitteleuropäischen EU-Ländern in einem Städtevergleich Wien und Linz. Arno Pilgram und Christina Schwarzl liefern eine Analyse von „Kriminalstatistiken als Erzählung über soziale Teilhabe von MigrantInnen“. Im abschließenden Beitrag von Markus Rheindorf geht es um „Integration durch Strafe?“ sowie die erfolgreiche Durchsetzung des umstrittenen Begriffes „Integrationsunwilligkeit“ im politischen Diskurs. Den HerausgeberInnen dieses Jahrbuchs ist es ein Anliegen, ihre Wertschätzung all jenen zu vermitteln, die am Gelingen dieses immer wieder herausfordernden Projekts – Konferenz und Herausgabe eines Konferenzbandes – beteiligt waren. Besonderer Dank gilt den Mitgliedern des Programmkomitees fu¨ r ihre gutachterliche Ta¨ tigkeit, die bei der großen Anzahl der Einreichungen von entscheidender Bedeutung fu¨ r die Auswahl der Panels und Vortra¨ ge waren, sowie den unabhängigen GutachterInnen, die den vorliegenden Sammelband durch ihre Empfehlungen mitgestaltet haben. Dank gebührt den institutionellen Unterstu¨ tzerInnen dieser Tagung, insbesondere der Akademie der Wissenschaften und der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universita¨ t Wien. Dank gilt in spezieller Weise naturgemäß den Vortragenden der Jahrestagung und AutorInnen des Jahrbuchs. Die Beiträge dokumentieren nicht nur das stetig anwachsende Interesse an migrations- und integrationsrelevanten Fragestellungen, sondern auch das Bemühen um inhaltliche Originalität und methodologische und konzeptionelle Qualität. 2018 bietet sich mit der 5. Jahrestagung eine neue Gelegenheit, aktuelle Forschungen im Bereich der Migrations- und Integrationsforschung zu präsentieren und kennenzulernen! Jennie Carvill Schellenbacher, Julia Dahlvik, Heinz Fassmann und Christoph Reinprecht Wien, im November 2017
Dawn Chatty
The Syrian Humanitarian Disaster: Perceptions on Sustainability of Containment in the Region of Conflict
The speed with which Syria disintegrated into violent armed conflict shocked the world; it has also left the humanitarian aid regime in turmoil as agencies struggled to react effectively to the massive displacement which ensued initially in the Eastern Mediterranean but by 2015 on the borders of Europe as well. Each country bordering on Syria responded differently to this complex emergency : Turkey rushed to set up its own camps for displaced Syrians; Lebanon refused to allow the international humanitarian aid regime to do so; Jordan prevaricated for a year and then in 2012 invited the United Nations Agency for Refugees (UNHCR) to set up a massive encampment. Turkey and Jordan have permitted Syrians to enter as temporary ‘guests’; Jordan has also returned some of the displaced peoples arriving from Syria contrary to international norms. Lebanon has permitted Syrians to continue to enter Lebanon as ‘foreign workers’. Each of these states has established a variety of temporary measures to deal with this crisis. However, the Syrian humanitarian crisis is no longer in an ‘emergency’ phase. As we enter the 6th year of the crisis we also are seeing a protracted situation where not only the displaced, but also the local hosting community are intimately affected. Yet few governments or national and international agencies dealing with this critical situation have consistently consulted either the displaced or the local receiving areas (host communities); what little consultation has taken place has been piecemeal, sporadic, and opportunistic. Discrepancies are rapidly becoming visible and tensions and protests have quickly emerged among host communities, displaced Syrians and humanitarian policy-makers. The established humanitarian system appears to be struggling to assist those taking refuge from Syria’s implosion. And the policy of containment in the region shows signs of collapse. What I would like to do here in this presentation is first give you a sense of the global nature of forced migration and displacement and then also show you the heavy hosting burden which the Middle East bears. Then I will give you an overview of how containment of the displaced in Turkey, Lebanon and Jordan works and does not work. I will indicate the significance of historical migrations,
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Dawn Chatty
ethno-religious attachments, and social networks and trans-border affiliations. I will do this by focussing on the perceptions and aspirations of the displaced but also on the members of the hosting communities. I show how disparities in perceptions as well as failures to protect the displaced and the unsustainable burden across the three hosting countries have resulted in an onward migration to Europe. This fact is an inevitable and unstoppable reality that emerges out of the human need to escape from violence, but also to unite or reunite family and to find hospitality and solidarity.
World Wide Displacement In the closing years of World War II, more than 20 million people were displaced in Europe. The successor of the League of Nations, the United Nations, set out to create a temporary agency, the United Nations High Commission for Refugees (UNHCR), to complete the task of resettling Europe’s war refugees. Following on from the 1951 Convention on the Status of Refugees, the UNHCR recognized as refugees persons fleeing from their country as a result of violence or from fear of persecution on the basis of race, religion, political affiliation, or social group. It was assumed that after a few years the Agency would complete its task and be dissolved. That however did not happen. Gradually over the 1950s, it responded to the Hungarian Crisis in 1956 and helped to resettle more than 200,000 Hungarians in North America and in Europe. By the 1960s, it was clear that the UNHCR was not going to be temporary and in 1967 its mandate was expanded to include refugees outside of Europe. Even with that expansion, by 1975 persons of concern to the UNHCR worldwide were about 2.5 million. At the end of the Cold War, by 1999, that number had jumped to 22 million. And by 2011 at the start of the Arab Spring or Uprising it was 35 million and included not only refugees, but also stateless persons and IDPs (internally displaced peoples) – those who had not crossed an international border, but had nonetheless been displaced due to violence. By 2016 UNHCR’s people of concern – all persons whose protection and assistance needs were of interest to the Agency – exceeded 60 million people world-wide. Of these numbers 21.3 million were refugees. UNHCR Persons of concern 1975 1994
2.5 m 27 m
1999 2009
22 m 36 m
2010
34 m
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The Syrian Humanitarian Disaster
(Continued) UNHCR Persons of concern 2011 2012
35 m 35.84 m
2013 2014
35.83 m 59.5 m**
** Refugees under UNHCR mandate = 16.2 m Palestinians under UNRWA mandate= 5.1 m World-wide total refugees = 21.3 m The scale of world-wide displacement. Sources UNCHR, UNRWA.
The Major Refugee and IDP Source Countries Recent UNHCR figures indicate that the three main source countries for refugees are from Somali, Syria and Afghanistan. Together they have produced more than half of the world’s refugees: Somalia with 1.1 million, Syria with 4.9 million and Afghanistan with 2.7 million. Again from UNHCR figures we know that the major hosting countries are not in the developed world but in developing and middle income countries. Although one million displaced people entered Europe in 2015/2016, most of the world’s displaced have sought sanctuary in low and middle income counties. More than 80 % of the world’s forced migrants are hosted in the global South, mainly in the Middle East. Worldwide, Europe hosts 6 % of the world’s displaced people, the Americans 12 %, Africa 29 %, Asia and the Pacific 14 %, while the Middle East and North Africa hosts nearly 40 % (UNHCR 2016). However when the nearly 5,000 Palestinian refugees in the Middle East are added to these figures, the total percentage of the world’s refugees hosted in the Middle East becomes more than 60 % of the worlds’ total. UNHCR estimates that Middle East and North Africa host more than 40 % of all world’s refugees Total for MENA 8,700,000* World total 21,300,000 *When the nearly 5,000,000 Palestinian refugees in the region are added, the total percentage in the Middle East is more than 60 % of the world’s refugees.
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Recent history of forced migration in the Eastern Mediterranean and the Transcaucus How does one explain these enormous burdens? How has it happened that this part of the world has seen such massive forced migration in recent times? Here, history can be an explanatory source as well as an illustrative one. The past 180 years on the Eastern Mediterranean and the Trans-Caucasus have seen numerous wars fought between Empires. I will focus here briefly on the six Russo-Ottoman Wars of the 19th century, because each war ended with massive displacement of between half to one or more million people into the Ottoman Empire and eventually into the Eastern Mediterranean region. I begin my illustrations with the Crimean War of 1853–56 which was the only one of the six Russo-Ottoman wars which the Ottomans and their British and French Allies won. I often simplify that conflict by saying it was a war started over a dispute between France and Russia concerning who had the right to the keys of the Church of the Holy Sepulchre in Jerusalem. Following from the traditions of the Ottoman Capitulations, that royal prerogative was first instituted by the Ottomans with the Italian city states in the 15th century. It later became seen as gesture of goodwill or ‘favoured nation status’. The Ottoman Suleiman the Magnificent gave the first Capitulation to a French sovereign, Francis the 1st, in the 16th century. But by the mid-19th century these Capitulations came to be regarded as a right rather than a ‘favour’. France, under Napoleon III, wanted the French Catholic Church to have possession of the keys to the Church in Jerusalem transferred from the Russian Tzar to him and the Ottoman Sultan Abdul Majid I agreed. Obviously Imperial Russia was quite outraged and retaliated by going to war with the Ottomans, sinking its entire fleet at Sinop. Great Britain and France became concerned that a greatly weakened Ottoman Empire might collapse and thus came into the dispute on the side of the Ottomans. Despite victory, the Ottomans were forced to accept a mass influx of Muslim people, the Tatars from the Crimea, as part of the settlement at the Treaty of Paris at the conclusion of the War. The Crimean Tatars were given several months to sell their possessions and property and relocate to the European part of the Ottoman Empire in the Balkans. A few years later, in the 1860s, nearly 1 million Circassians and Chechnyans were forced out of the Caucuses where the Russian Empire was making significant territorial gains. By the 1880s these forced migrants, originally Crimean Tatars, and Circassian peoples were forced to move a second time as a result of Russian demands at the end of another Russo-Ottoman war in the Treaty of Berlin (1878). Over a period of 40 years, forced migrant numbers in excess of 3–4 million people, according to Ottoman records (see also McCarthy 1995 and Karpat 1985), were pushed into the Eastern Mediterranean, into Anatolia and the Arab provinces. These ex-
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pulsions were followed by nearly 1 million Armenian and Assyrian Christian forced migrants who sought sanctuary in Greater Syria between 1890 and the 1920s. These mass influxes during the Ottoman period were followed by more displacement and dispossession during the Interwar Mandatory Period in the Levant: Kurdish flight into Syria in the 1920s after the defeat of the Shaykh Said Revolt (about 10,000); about 100,000 Palestinian refugees fleeing the Arab Israeli War of 1947–48, and in the 21st century over one million Iraqis in the early 2000s.
Figure one. Forced migrations.
Yet until the outbreak of the Syrian Civil War in 2011, these millions were all accommodated locally and provided with refuge. Some of these groups were assimilated and granted citizenship, others such as the Palestinians were provided with ‘temporary protection’ as per the Casablanca Protocol of 1965. How was it possible that such large numbers of forced migrants were managed locally and regionally for such a long period of time? The key to understanding how local accommodation was so successful for nearly two centuries in our modern era is to look back at how the Ottoman Empire managed to accommodate and resettle these large numbers. One needs to keep in mind that over a period of about 50 years – between 1860 and 1910 – the
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Ottoman Empire received nearly 4 million forced migrants in an empire of only 35 million people. That would be as though the United Kingdom had received 8 million refugees since 1967, or Austria had received and accommodated 1 million refugees since 1967. These are immigration numbers that are hardly possible in our current political climate. What many modern humanitarian aid historians fail to realize was that the Ottoman Empire was the first modern state to set up a coherent code of legal practice for refugees and immigrants and establish a Commission to help integrate and resettle these people. In 1860 the Ottomans established the Refugee Commission and set about creating emergency support and resettlement incentives for these displaced peoples. With the Levant, or region known as Greater Syria largely underpopulated the emphasis was on resettlement in rural areas. Devolving practices and implementation to the local level, land, farm animals, seeds and other support were distributed to families setting out to farm. Further incentives included the right to build homes and places of worship as they liked. The newcomers were given tax relief for periods of 6–12 years depending on where they settled and their sons were provided with exemption for military service for extended periods of time. Some of these forced migrant newcomers built up frontier towns between feuding social groups and others were purposively scattered by Ottoman policy to create a network of communities tied together horizontally rather than by territorial roots. Such organization reflected commonality with the existing semi-autonomous organization of the ethnoreligious communities (the milla/millet) of the late Ottoman Empire (e. g. the Armenian Apostolic milla, the Jewish milla, the Armenian Protestant milla, the Bulgarian Catholic milla). These forced migrants found that they had significant horizontal ties based on their ethno-religious identity across the Ottoman Empire and the pattern of accommodation and resettlement promoted by the Refugee Commission strengthen those ties and created new ones. Belonging and identity to discrete ethno-religious communities thus reinforced by Ottoman settlement policy and was further encouraged in the 20th century during the Interwar Mandatory period. Some modern historians looking at the modern state of Syria saw it as having come into being as a refuge state – having integrated in the 20th century alone waves of displaced and dispossessed Armenians, Kurds, Assyrians, Palestinians (White 2011).
The Arab Uprisings and the Syrian Crisis of 2011 As demonstrators took to the streets of Der’aa, Homs, Hama and Syria in early 2011 to protest at the Bashar al-Asad’s Ba’athi government treatment of youth in the town of Der’aa, some raised the three star Syrian flag adopted at in-
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dependence in 1946.1 Many in the streets chanted slogans for a united Syria – united in the face of regime efforts to create a sectarian battlefield: wahed, wahed, wahed, al-sha’ab al-souri wahed (One, one, one, the Syrian people are one). Slowly at first, but with growing fury, the demonstrators clashed with security services; unarmed demonstrators were shot, people suspected of taking part in demonstrations or sympathetic to them were disappearing off the streets by forces allied with the regime or were being arrested from their homes. Slogans that supported the cities or neighbourhoods subjected to the harsh repression and retribution of the regime were relayed by social media throughout the country and a concerted effort by civil society activists emerged to counter the regime’s strategy of repression based on fragmenting the uprising. By April of 2011, the first wave of Syrians fled to Lebanon and to the Hatay province of Turkey (the Alexandretta governorate of Syria until 1938). As the fighting increased the Syrian army was called in and fierce clashes developed between them and local demonstrators in Hama, Homs and Der’aa. A shadowy set of men in various security militias supporting the regime emerged, the shabiha, spreading fear, and terror in their wake. Families targeted by the shabiha, or the army began to flee to safety in Lebanon, Turkey, and Jordan. The numbers were small at first but rapidly grew in 2012 and 2013. By 2014 it was obvious to many that had become a playing field for a number of international state and on-state actors: Saudi Arabia, Qatar, Turkey, Russia, and Iran, Al-Qaeda affiliates, and latterly the so-called Islamic State. These actors drew many radicalized extremist youth and hardened fighters from the Russian Wars in the Caucuses and Afghanistan as well as from Europe and other Middle Eastern countries. By 2015 the so-called Islamic state had taken over large swathes of Syrian territory, mainly the underpopulated semi-arid and arid regions of the West of the country near the Iraqi border. With the Asad regime seeming to totter, Russia began serious efforts to prop up the government and began to actively conduct joint air attacks on opposition forced in civilian areas. By the summer of this year, many middle class and educated professionals who had tried to hold on and remain in their homes and support local community services decided they had no choice but to leave. Syrians impacted by the fighting in or near their cities, towns, and villages continued to flee. Many tried to find safety within the country becoming internally displaced – in United Nations parlance IDPS (Internally Displaced People). And thus we saw the Syrian humanitarian crisis spill over to the shores of the Eastern and Northern Mediterranean as families who could afford to pay smugglers to reach 1 This flag was replaced with a number of variations starting in 1958 at the time of the Syrian Union with Egypt until a new design with two stars was accepted in the early 1970s as the Ba’ath party consolidated its control of Syria.
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safety in Greece, Italy and the Balkan states began to arrive in large numbers. This surge in numbers of forced migrants crossing the Mediterranean in rickety boats and inflatable rafts caught the attention of the West media – especially as the drowning and rates of death at sea soared. The Italian government launched the Mare Nostrum project to save lives at sea while the European Union established the project Trident to protect Europe’s Southern borders. The land bridge through the Balkans also attracted Western attention as a human line of forced migrants snaked its way north searching for safely, sanctuary and protection from hostility in Germany, Sweden and also the United Kingdom. This mass influx of people created a grave situation in Europe, but not, I would say, a crisis. The West began to address the issue of why the policy of containment of the dispossessed populations from the Syria crisis was failing. I will return to this point later. By 2016 there were estimated to be nearly 7 million Syrians internally displaced and another 5 million who had crossed international borders in the search for safety and sanctuary : nearly 3 million had sought asylum in Turkey, 1.1 million registered with the UNHCR in Lebanon and nearly 700,000 were registered in Jordan with the UNHCR. In total more than half of Syrians precrisis population of 22 million were displaced either in their country or abroad. Lebanon and Jordan have not signed the 1951 Refugee Convention that sets out principles and responsibilities of states in providing protection and asylum for those deemed to fit the definition of ‘refugee’ according to the 1951 Statutes and the 1967 Protocol which extends the definition of the refugee to beyond Europe. Although Turkey has signed the 1951 Convention and the 1967 Protocol, it has reserved its interpretation of the Convention to apply only to Europeans seeking refuge/asylum in Turkey. UN estimates are that over 85 % of the Syrian refugee flow across international borders is self-settling in cities, towns and villages where they have pre-existing social and economic networks. In Turkey, most Syrians are clustered in the Southern region of the country bordering Syria and circular migration in and out of the Syria is tolerated by the Turkish state. Despite a general rejection of encampment among those fleeing, still some 10–15 % of the Syrian flow into Turkey has been directed into Turkish temporary camps. In Lebanon, informal settlements – often based on pre-existing relationships with shawish (gang-master in the Lebanese agricultural hierarchies) – are proliferating with accompanying patron-client relationships overcoming more participatory and transparent management of humanitarian aid. In Jordan, most Syrians have settled with relatives of varying degree of kinship or tribal affiliation. Those found to be working are deemed to be engaged in an illegal activity and are ‘deported’ into the UN managed refugee camps from which there is no escape other than by paying to be ‘sponsored’ by a Jordanian or
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to be smuggled out and re-entering the liminal state of irregular status in the country.2
Mass Influx Contained Regionally? Turkey, Lebanon and Jordan have each established a variety of temporary measures to deal with this crisis. However, in no case have the displaced or the host communities been consulted. Discrepancies are rapidly becoming visible and tensions and protests have quickly emerged among host communities, displaced Syrians and humanitarian policy-makers. The current situation is unsustainable and threatens to test the humanitarian aid regimes’ preferred ‘solution’ of regionally containing the crisis. Without significant changes in policy and practice throughout the region, Syria’s forced migrants will continue to search for protection – temporary protection – elsewhere. Unable to work and provide their children with an education for the future they will move on or they will send younger members of their families on dangerous sea crossings and exhausting land marches led by people smugglers to give their family members a future; they search for safety, family unification, and a hospitable environment where education and employment is possible. The European Union member states as a whole (outside of Sweden and Germany) are trying to keep these forced migrants out of the EU. The contemporary ‘containment policy’ of the EU states is to send money to support humanitarian and development efforts in the hosting states of the Middle East as a way to solve the problem/crisis. However, containment alone as a policy has limited chances of success. If safety, family unification, and a future for their children are the primary goals of the Syrian forced migrants, then some recognition and adjustment of policy needs to occur; and recognition of these aspirations among Syrians is needed by the European states in setting out their refugee and migration policies. Trying to contain forced migrants of such massive numbers in a small part of the Eastern Mediterranean is simply unsustainable. Between October 2014–September 2015 I undertook a pilot study to ascertain the perceptions and aspirations of displaced Syrians in Turkey (Istanbul and Gazianteb), Lebanon (Bekaa Valley and Beirut), and Jordan (Amman and Irbid) as well as those of practitioners and policy makers in the region. Interviews were conducted in Arabic and in English and interpretation was only required in 2 In 2016 Jordan agreed a compact the terms of which included the provision of up to 200,000 jobs for Syrians but only in the agriculture or construction sector of the economy. Needless to say, the take-up for these work permits has been slow, with only 35,000 issued thus far. Many Syrians prefer to work in the informal economy at jobs that more closely match their skills even though that exposes them to possible arrest and deportation.
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Turkey when interviewing members of local communities hosting refugees from Syria. Once the initial key informants were selected using a purposive sampling approach, a snowballing technique was employed to identify further participants for interviewing keeping an eye on representativeness in terms of gender, class, education, ethnicity and origins. A participant observation strategy also defined this pilot study.
Lebanon Before the crisis in Syria, Lebanon regularly had in the region of 400,000 to 500,000 Syrian agricultural and construction industry workers. Many Syrians had social networks going back several decades in Lebanon if not longer. Syrians were permitted to buy residence permits every six months. They worked legally like any other foreigner. Many of the more than 1 million Syrians in Lebanon displaced by the conflict in Syria do not feel that they are refugees. However, they sense a growing level of social discrimination, especially in Beirut. In addition they articulate a fear that the Lebanese population associates them with a rise in criminality. The continuing armed conflict in Syria has meant that many of the Syrian workers’ wives and children had fled Syria and come to join husbands already working in Lebanon for some time. Their movements were largely progressive and in stages, first arriving at border regions in the Akkar or Wadi Khalid of Northern Lebanon and gradually making their way to join their spouses in the Bekaa Valley, Tripoli and Beirut. Those with jobs feared losing them once it were known that their families had joined them, contributing to the fear, distress, and isolation of many of these Syrians. “My husband came to Lebanon a long time ago, even before the war in Syria. He used to come over since he was 17, therefore he knows Lebanon very well. He used to come and go, stay for a while [working as a carpenter] and then go back to Syria. In 2011 he was in Lebanon; then the situation was very bad in Syria, so I came to Lebanon …, my husband had a job and we stayed at his boss’s house. Back then I couldn’t go back to Hama. My husband had no intention of bringing me to Lebanon, for him it was settled that he worked in Lebanon and I stayed in Syria. But after all the explosions in Hama, I couldn’t protect my kids. I decided to come and stay in Lebanon. My husband is always afraid he might be fired [if the children get into any trouble].” (Reem, Beirut, 2014)
Illegal curfews in over 40 municipalities have meant that many Syrians are afraid to go out at night, to work over time or to mix in any way with the Lebanese population. For many of the skilled and unskilled Syrians in Lebanon, these curfews have meant that older children and adolescents are being pulled out
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whatever schooling they had been entered into in order to work during daylight hours with their fathers. “My son should be in 9th grade, but he works in a supermarket now. But people tell me that it is a waste that my son is not in school. He will have no future without education. But our situation is very bad, I really want to send him to school, but at the same time we are in deep need of his financial help.” (Layla, Beirut, 2014)
In the Bekaa Valley, Syrians with no savings are accepting very low wages in order to provide their families with food. This has raised hostility among local Lebanese who see the Syrian workers as a threat to their own livelihoods, resulting in increased social discrimination and vigilantism. Many Syrians – despite their long association with Lebanon over decades and often close kinship ties – are feeling frightened and cut off from Lebanese society. Although a number of international NGOs and national and local NGOs operate in Beirut and in the Bekaa Valley to provide basic needs, there is little interaction with the Lebanese host community. Very little evidence emerged from the interviews of host community involvement in any ‘survival in dignity’ activity on an individual basis; NGO activity was limited to more ‘distant and distancing’ charity work or local civil society efforts in Beirut organized by middle class Lebanese and Syrians resident in the country. The UNHCR’s very slow uptake of cash assistance to the most needy and vulnerable Syrians in Lebanon has resulted in large numbers of women and children being seen on the streets of Beirut begging – something which is generally scorned upon and regarded with little sympathy by Lebanese.
Jordan Most Syrians regarded Jordan’s initial response to the humanitarian crisis and mass influx of people from the Der’aa region of Syria into the country as open and generous. Many of the first wave of Syrians to cross into Jordan had kinship ties in Northern Jordan or well-established social and economic networks developed over decades, and the hosting of this initial influx was regarded as a duty (to be generous and hospitable). However, over time, the Jordanian government has restricted access to the country and actively prevented some from entering (unaccompanied male youth and Palestinian refugees from Syria). “At the beginning you had a refugee crisis with a security component and it has become a security crisis with a refugee component. So in the early days it was “these are our brothers” and so the natural generosity has now given way to more suspicion about who these people are and the security card is played all the time now.” (Senior international practitioner, Amman 2015)
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A discrepancy between what is widely written about in the local press (the burden of Syrians on the Jordanian economy) and what policy makers and practitioners understand has emerged. Many policy makers feel that Syrians are contributing to the Jordanian economy in a greater fashion than is widely being written about in the media. Some point to a recent United Nations repot (cf. ILO) suggesting that the unemployment rate had dropped by 2 % in 2013 and 2014 due to the surge in Syrian-owned factories opening (200) and the heavy employment of Jordanians (estimated at about 6,000). The host community in Jordan is bombarded with information regarding the negative influence of Syrian refugees in the country – although this is not backed up by the studies that are emerging. However at the same time there is a widespread acknowledgement that Syrians are skilled workmen, especially carpenters. Employment in the informal sector has created significant stress for Syrians even though it brings in much needed funding. Syrians who are working are fearful of possible arrest as they have no work permits – even though they are largely replacing Egyptians, not Jordanians, in the work force. “Syrian refugees are skilled craftsmen, especially carpenters, we all know that. Jordanians are not skilled carpenters. Syrians are not taking jobs from Jordanians; but they may be taking jobs from Egyptians. They are working informally, but that puts a lot of stress on them because they can be arrested and deported if they are found out.” (Senior Jordanian policy maker, 2015)
There is some social discrimination levelled at Syrians in Jordan but it is muted compared with that expressed in Lebanon. Even though the majority of Syrians in Irbid and in Amman are tied in ‘real’ rather than fictive kinship, the negative social attitudes of Jordanians are kept closer to ‘the chest’. This may be associated with tribal custom and general conceptual concerns related to the duty to be generous and hospitable to tribal kin and others in patron/client relationships. Jordanians generally do recognize that the country benefits (from international aid) from its expenditure on refugees and that a significant percentage goes into direct government projects to assist Jordanians (e. g. the recent USJordanian bilateral announcement of $ 1 billion over the next 3 years for Jordanians infrastructure development and construction of 50 high schools for Jordanians). However the limited access to education in the form of three-hour afternoon second-shift schools is of grave concern to Syrian families with older children. The need to provide real education opportunities to their youth drives some Syrian families to seek such opportunities outside of the region. Pooling resources to pay a smuggler to take a youth from the family to Europe was not unusual in 2014 and 2015.
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Turkey Syrians in Turkey come from a variety of backgrounds and social classes. Many Syrians were concerned with the negative imagery of ‘dirty’ and ‘uncouth’ Arabs, commonly attributed to them by middle class Turks. Furthermore, many Syrians remarked that Turkish observers had difficulty differentiating between the general Syrian refugee population and the ‘nawwar’ (Gypsies) begging on the streets of Istanbul and Ankara. Gypsy communities have been a part of the fabric of Turkish, Iraqi and Syrian society for centuries and they too have been displaced by the Syrian crisis and the Iraqi sectarian conflict before. Largely unrecognized, the Gypsies of South-West Asia have also seen their peripatetic and seasonal economy disrupted by the armed conflict in Iraq and Syria and have gravitated to Turkey where they can survive in greater security. A widespread sentiment of recognizing the needs of Syrian refugees was widely articulated by members of local Turkish hosting communities. The importance of the third sector – charitable organizations and religion-based associations – in providing assistance was acknowledged. But street begging was widely condemned by both host community members and Syrian refugees themselves. “I don’t like to give money to beggars because it just encourages them.” (Turkish practitioner, Istanbul, 2014)
Lack of communications and poor understandings of the situation of Syrians led to demonstrations, arrests and a dozen or so deaths in the fall of 2014; many Turkish citizens felt that more transparency on the part of the government in terms of just what Syrians were entitled to would have relieved the critical situation and growing discriminatory attitudes. Many thought that refugees from Syria were being given salaries by the Turkish government; others felt that Syrians were working for lower wages (their Turkish employers did not have to pay taxes) and this was driving out the unskilled Turkish workers who had no safety net when they lost their jobs to Syrians. Balancing these concerns was the widespread support from the civil society especially among long-established NGOs and religious organizations; in recent years local community civil society activists have also worked to create a sense of hospitality and solidarity at the neighbourhood level among Turkish hosting communities; neighbourhood public kitchens providing free meals and bread to the poor as well as refugees resident in the area were widespread in Istanbul and in Gazianteb. “My husband and I are IT specialists from Homs. My husband came first and then I joined him 8 months later with our baby. At first we went to Mersin, but my husband couldn’t find a job. When we ran out of money we came to Gazianteb, because the Syrian
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Interim Government was here. We figured there would be more jobs here. So we came here and 2 months later we met this nice man who found a job for my husband in construction and rented us these two rooms. Our neighbours gave us some mattress and a TV to watch Syrian television. There is also a mosque nearby where I go and the people there give me diapers for the baby, bread and daily hot meals as well as supplies of sugar, pasta and oil.” (Hala, Gazianteb, 2014)
Lack of common language may have been a divide in other times and may have made it difficult for professional and skilled Syrians to find work in Turkey, but in the present crisis, language seems to be less insignificant in the short term. For professionals and skilled workers it has meant the inability to work at their professions (especially doctors, teachers, and others in syndicated professions). In the short term, being ‘very’ different (not speaking the same language) seems to have bred greater sympathy and general support at the local community level. In the long term, however, onward migration for education opportunities and the possibility of working in a professional capacity means that Europe remains a medium term destination.
Conclusion Across the board, what emerges is that history matters. Much of the discrepancies I found in my interviews with Syrians, and host community members, and practitioners can be linked to historical social ties and political relations between Syria and Turkey, Syria and Lebanon and Syria and Jordan. In Lebanon, the consociational shape of governance and long period of time during this crisis in which there was in effect ‘no government’ led to a paralysis within the UN humanitarian aid system. Thus, effective relief programmes for the poorest and most vulnerable of Syrians – such as cash transfer – were very late in getting started resulting in an exponential rise in street begging and other ‘negative coping’ strategies such as pulling young children out of school to work or moving into structures unfit for human habitation. These factors together with the close ties and often extended family networks among the very poor across the two countries has resulted in significant social discrimination and an unwillingness or inability – at the local level – to help Syrians with basic health and education needs. The lack of education opportunities for nearly 50 % of Syrian refugee children in Lebanon weighs heavily on the consciousness of their families. In Jordan, the majority of Syrian refugees are closely linked to the Jordanian population especially in Northern Jordan where close tribal ties are pronounced and where original refuge was granted with host families related either by blood or marriage. Jordanian sensitivity to the presence of Palestinian refugees from Syria (PRS) has resulted in draconian surveillance to identify such refugees, a
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dragnet that often pulls in non-Palestinian refugees from Syria. Those Syrians found to be ‘illegal’ because they are working in the informal economy are then ‘deported’ across the border (if Palestinian refugees from Syria) or to the UNHCR refugee camps creating greater mistrust and suspicion of the host government by the refugees from Syria. Education opportunities in Jordan are limited and many Syrians children are only able to attend second-shift schools with inferior curriculum and reduced hours. Some Syrians consider the situation in Jordan so dire that they are preparing to return to Syria rather than face what they consider ‘inhuman conditions’ any longer. In September 2015, Andrew Harper, the UNHCR senior humanitarian aid practitioner in Jordan, reported that 200 Syrians were returning to Syria each day. In Turkey, lessons learned have been more widely implemented in response to various critical events (demonstrations in October 2014) and widespread criticism of lack of transparency of the government. The camps set up by the Turkish emergency relief organization (IFAD) starting in 2012 without assistance of the UN experts and their camp templates, have rightly been described as 5*. These settlements are open – in that refugees may enter and leave on a daily basis and absences (generally to return temporarily to Syria) are tolerated if of a duration of less three weeks. Although interviewing in Turkey took place before the announcement of domestic law providing Syrians with formal IDs and temporary protection (including rights to health and education opportunities and permission to apply for work permits) in January 2015, it was clear that Turkey – of all the three countries – was far more humane and practical in its approach to the mass influx of refugees from Syria; and this despite a language barrier that did not exist in Lebanon or Jordan. It is ironic that Turkey, the one country which had not originally requested assistance from the UNHCR, seems to have managed the process of providing assistance without undermining the displaced Syrians’ agency and dignity. Largely working alone with local Turkish staff drawn from the Turkish civil service as well as the Disaster Management Unit of the Prime Minister’s Office (AFAD) and the main quasi-official Turkish NGO (IHH), Turkey has managed the Syrian refugee crisis with a modicum of sensitivity. The separate histories of Turkey and the countries of the Levant have obviously contributed to the disparities in perceptions, aspirations and behaviour among refugees, host community members and practitioners in each of the three countries. Temporary protection, not resettlement, is the main aspiration for those who have been forced to flee Syria – that is, to work and educate their youth until such a time as they can return to Syria. Finding safety from violence alone is not enough. Syrians are looking for opportunities to unite or reunite their families and to find sustainable livelihoods which offer them the opportunity to educate their children. These perceptions and aspirations cannot all be managed nor contained in the region. The crush of numbers is too large to be managed over the
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medium term. Lebanon, with a population of 4.5 million, has 1.1 million registered Syrians in the country (the non-registered probably number about another 500,000). That represents more than 30 % of the population. It would be as though the entire population of Mexico (128 million) had fled the country and poured into the USA (a population of 324 million) fleeing a disaster of some kind and seeking safety and protection. It is hardly imaginable, yet that is what we are asking Lebanon to carry on with as well as Jordan and Turkey with similarly heavy protection burdens. The present situation is unsustainable. Lebanon and Jordan, and even Turkey, cannot sustain these numbers for much longer without assistance that does not require only containment in the region. Without a change in policy and programming in the European Union we will continue to allow even the relatively small number of Syrians who resort to people smugglers to flee the region to face death and hostility at sea and on land. The right to flee violence and seek asylum in another country is a fundamental article of the Universal Declaration of Human Rights.3 However by criminalizing the journey and preventing an individual from the opportunity to secure survival in dignity in the medium term – an opportunity to work to feed and educate their families until the day they can return to Syria – do we undermine our own humanity? Can we all do a little more? Burden sharing has been raised off and on in the various European Union states. But growing populism and electoral politics put these concerns on a back burner. We need them to be considered again.
References Karpat, Kemal 1985: Ottoman Population 1830–1914: Demographic and Social Characteristics, Madison, Wisconsin. McCarthy, Justin 1995: Death and Exile: The Ethnic Cleansing of Ottoman Muslims, 1821–1922, Princeton. White, Benjamin Thomas 2011: The Emergence of Minorities in the Middle East: The Politics of Community in French Mandate Syria, Edinburgh. UNHCR 2016: Figures at a Glance, Geneva. http://www.unhcr.org/uk/figures-at-a-glance. html.
3 Article 14 – Universal Declaration of Human Rights: “Everyone has the right to seek and to enjoy in other countries asylum from persecution.”
Asyl
Josef Kohlbacher / Gabriele Rasuly-Paleczek
“From Destination to Integration” – First Experiences of Asylum Seekers from Afghanistan, Syria, and Iraq arriving in Austria
This paper summarizes the main results of a pilot study conducted by members of the newly established ROR-n (Refugee Outreach and Research Network, Vienna) from December 2015 to April 2016. Funding was primarily provided by the Institute for Urban and Regional Research (ISR) with substitute financial support from the Institute for Social Anthropology (ISA), both part of the Austrian Academy of Sciences. We were interested in a broad variety of issues covering the sending as well as the receiving context in Austria. Thus we investigated the life experiences of refugees in their home country or last place of residence,1 their reasons for leaving, the obstacles they witnessed during their flight including short term refugee in Turkey, and their first experiences in Austria. Asylum seekers from Afghanistan, Syria, and Iraq were selected as they constitute the largest segment of people currently applying for asylum in Austria.2 Following some brief notes on the interview sample and the methodology of our research this paper will highlight selected aspects of our rich data set. Herein we will focus on issues less studied in analyses on refugees and asylum seekers currently coming to Europe.3 Amongst others we will draw attention to the role of 1 This refers in particular to Afghan refugees who often came to Austria following years of exile in Iran or Pakistan. 2 According to official Austrian data a total of 88,151 individuals applied for asylum in 2015, among them 25,475 persons from Afghanistan (= 29 % of all applications), 24,538 from Syria (= 28 %) and 13,602 (= 15 %) from Iraq (BMI 2015). Since the beginning of the year 2016 the overall number of new applications has decreased. However, refugees from these countries still constitute the largest individual groups: Afghanistan 10,249 persons (= 29.57 %), Syria 6,972 (= 20.11 %) and Iraq 2,304 (= 6.64 %) (BMI 2016). Unaccompanied minor refugees (UMR) were excluded as interviewing them constitutes a legal challenge (interviews with them are only possible with authorization by the Austrian youth welfare office). Yet, UMR substantially contribute to the number of asylum seekers in Austria, accounting for around 10 % of all asylum applications in 2015. Among the later 68 % were of Afghan origin (BMI 2015). 3 Most current studies on refugees and asylum seekers focus on the reasons for fleeing, the challenges the latter are confronted with (e. g. struggles with human traffickers, border controls, imprisonment in camps in transit countries, hardship of flight etc.). For details cf.
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social relations (e. g. family members, kin, friends, and acquaintances) and social obligations (e. g. protecting the live of family members, offering one’s children a better future) in organizing and facilitating the flight by providing logistic and other support. Special attention will also be paid to the impact of initial interethnic social contacts in shaping refugees’ attitudes towards Austria and its population, thus questioning to what extent positive or negative first interactions influence their willingness to integrate into the host society.
The interview sample and methodology Our analyses are based on a sample of 60 extensive narrative interviews which were conducted from January to April 2016 in Vienna by native speakers (mostly former refugees or migrants originating from the refugees’ home countries) in the languages Arabic, Farsi-Dari, Pashto and Kurdish (Sorani) and were later on transferred by them into English and German transcripts. Due to initial difficulties in recruiting interview partners in accommodation facilities for newly arriving refugees we had to draw on personal networks to find individuals willing to participate in our study. From this follows that our sample does not represent a congruent profile of these asylum seekers and refugees, but rather reflects individual cases. Nevertheless, it shows certain conformities with other available empirical studies and statistical data on refugees and asylum seekers (cf. Brücker et al, 2016 ; Crawley et al. 2016 ; Österreichischer Integrationsfonds 2016a and 2016b). The majority of our 60 interviewees (20 individuals from each country) were male (46 persons out of a total of 60).4 Nearly half of them (22 out of 46) belonged to the age group 20 to 29 years, thus reflecting the overall impression that it is basically young males that migrate to Europe.5 Only 7 individuals were older than 50 years. Among the 14 female interviewees 7 originated from Syria, another 4 came from Iraq and 3 from Afghanistan. While the Syrian and Iraqi sample included several women who had fled alone or with other family members than their Crawley et al. 2016; Healy 2016; ICG 2016; IOM 2016; De Bel-Air 2016; Brücker et al. 2016; Bjelica 2016; Donini, Monsutti, and Scalettaris 2016; Echavez et al. 2014; Linke 2016; Hansen 2014; Marfleet 2011. 4 According to official Austrian statistics around 72.3 % of all asylum seekers in 2015 were male while only 27.6 % were female, cf. BMI 2015. Since the beginning of the year 2016 the number of new female applications has continuously increased from 32.87 % of all applications in January to 37.31 % in September 2016 (BMI 2016). 5 Cf. Figure 4: Distribution by age of (non-EU) first time asylum applicants in the EU and EFTA Member States, 2015 (last updated 18-03-2016); Eurostat: Asylum quarterly report; http://ec. europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php/Asylum_quarterly_report.
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husbands (e. g. children), 2 of the 3 Afghan women migrated with their husbands.6 Our sample encompassed members of a large variety of different ethno-linguistic and religious groups. Half of the Afghan refugees and asylum seekers were Pashtuns originating from the southeastern part of the country or from Kabul. Shia Hazara – either directly from Afghanistan or from Iran, where they had spent long years in exile – constituted the second largest group. Within the Iraqi sample Kurds (either Sunni or Yezidi) represented the largest group followed by Sunni and Shia Arabs. Another substantial group were individuals who made references to an ethnic or religious double identity (e. g. Sunni Turkmen Arab or Sunni-Shia – locally labeled as “Sushi”-Arab), signifying descent of parents of mixed ethnic or religious background. The Syrian sample included Sunni Muslims – both Arabs and Kurds – as well as members of Christian and other minority groups (e. g. Alawi and Yezidi). Methodically the analysis is based on qualitative content analysis according to Mayring (2000:2010).
Research Results: Part I) The sending context 1)
The reasons for fleeing
In line with other studies highlighting the reasons for taking refuge (cf. Brücker et al. 2016 ; Crawley et al. 2016 ; Donini, Monsutti, and Scalettaris 2016 ; Linke 2016 ; ICG 2016 ; IOM 2016a ; FMR 2014 ; De Bel-Air 2016) our data shows that it is usually a combination of causes that influenced the decision to flee or to renew a flight. Here it is often a mixture of general security concerns (increase in local violence and suicide attacks, heightening of ethnic and religious conflicts) and experienced violence (e. g. abduction by oppositional groups and/or criminals, death threats, assassination of close family members, etc.; persecution by religious radicals like the Taliban or Daesh for not subscribing to their regulations) that plays a role. “My life, not only my own personal one, but that of every Iraqi was molded since birth by war, oppression, threat by the state or a variety of militias, discrimination, violence and death. Since I have been living in Iraq I never experienced a single happy and calm day” (Iraq 2, male, 24).
6 The third one came alone to join her husband living in Austria.
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In addition, discrimination on ethnic and/or religious grounds in the home country or place of initial refuge (Afghan refugees in Iran, Iraqi and Syrian Kurds in Turkey, Yezidi in Iraq and Syria) may also inform the decision to leave. “Afghans in Iran have no easy life […]. An Afghan must work until he dies, he has no insurance, he has to pay for his education, his medicine […] an Afghan is treated like an animal, he has no rights […]” (Afghanistan 5, male, 25, Iran, Hazara).
While threats against people who have worked for foreigners (e. g. US military, international organizations) are specific for the Iraqi and Afghanistan case, the impact of the ongoing civil war often overrides other causes in the Syrian sample. Among the most often mentioned reasons for finally fleeing were the destruction of respondents’ homes, they fear of being involuntarily drafted for the Syrian army or of being forced to join one of the numerous oppositional forces fighting the government, and in particular the anxiety for the life of their children due to the daily bombings. “I left all my property and my money, I left everything in my country, and came for the sake of my children” (Syria 17, male, 54, Damascus).
Next to security related concerns, disillusionment about the current political situation and future perspectives in the home country as well as economic reasons (unemployment, lack of career advancement) often attributed to the final decision of fleeing. “According to my opinion the situation will not improve within the next hundred years. The government of Afghanistan will never be a stable one” (Afghanistan 5, male, 25, Iran, Hazara).
In addition to the above-mentioned causes, several of our interviewees highlighted very specific personal reasons, e. g. having been persuaded by friends to flee, avoiding a forced marriage, escaping an ongoing personal vendetta or conflicts with in-laws, fleeing from discrimination due to being handicapped or finding it impossible to adapt to the home country upon return from long years in exile.
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Factors determining the flight and its course
The manner how our respondents organized their flight, what refuge country they selected and how their flight process evolved depended on a host of personal factors (e. g. individual economic means and personal connections) as well as on legal and political conditions in transit countries and potential places of refuge. The flight often took place via several steps, e. g. waiting in transit places to organize further movements or to gain additional means to pay for the con-
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tinuation of their flight (e. g. by working – mostly illegally – for some months or years in Turkey). It included legal as well as illegal movements. In general legal means (e. g. applying for UN-resettlement or family reunification) are rather limited. Only seven of our 60 respondents were able to benefit from these possibilities.7 And even when these options were applicable they often constituted a huge challenge as the required procedures (in particular the UN-resettlement programme) are rather complicated (an applicant may have to travel to a neighbouring country for interviews) and time-consuming (often involving several months or even years). In cases of application for family reunification the bureaucratic hassles and long waiting periods may sometimes prevent children to join other family members (e. g. parents) as they turned 18 years8 before the application was finally granted. “My mother came to Austria via the Red Cross. A year later she was granted asylum in Austria [the mother then applied for family unification]. […]. In 2011 I and my brother travelled to Syria for an interview at the Austrian embassy. In the end our application was rejected as my brother got 18 years old. Only my father and my two younger siblings were allowed to follow our mother. My brother and me we returned to Iraq. [I 2 and his brother in the end illegally migrated to Austria]” (Iraq 2, male, 24, Kurd).
The majority of our interviewees had to organize their flight themselves or had to rely on the service of human traffickers, thereby being confronted with numerous challenges before reaching Austria. Among the most often mentioned – all well known from media reporting and scholarly publication (Bjelica 2016) – were several attempts to successfully cross the sea from Turkey to Greece in rubber boats unsuitable for rough sea, transportation in overcrowded buses, lack of fresh air, food and drinks during journey, long walks – often in darkness – in difficult terrain (e. g. when crossing the border from Iran to Turkey), violence and threats by smugglers and police). In order to ensure a safe flight our respondents mentioned to have taken a number of precautions. To prevent deportation from Turkey Iraqis tried to conceal their country of origin by attempting to adopt a Syrian-style pronunciation when speaking Arabic. On the “Balkan route” people sought to evade giving finger prints at border crossings (in particular in Hungary). And hearing of the changes in the Hungarian refugee law many started to speed up their journey to traverse Hungary before September 15th 2016, when the new regulation took effect. 7 According to data provided by BMI 761 persons came to Austria via this programme in 2015. Another 159 Syrians arrived in Austria between January and September 2016 (BMI 2015 and 2016). 8 According to Austrian immigration regulations children have to be below the age of 18 years to be eligible for family reunification.
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The importance of social ties and obligations during the flight process
Yet, personal connections do not only play an important role in determining the flight and its course, e. g. allowing individuals with connections an easier access to travel documents and thus a less time-consuming and challenging flight, they also have an impact on the decision whether to flee, with whom to flee, whom to ask for support, etc. While most studies referring to the importance of social relations in forced migration studies have highlighted the role of social networks in facilitating the establishment of refugees in their new places of residence (e. g. providing jobs, housing, and a first orientation in the new environment) or have analyzed the transnational connections of refugees with their relatives and friends left behind or in other locations of refugee (cf. Monsutti 2005, 2006, and 2010 ; Collective for Social Science Research 2006 ; Kazemi 2016 ; Cheung and Phillimore 2013 ; Castles 2003 ; Van Hear 2014), our interview data clearly illustrated the relevance of social ties and obligations in the sending context of refugees – an aspect often neglected in forced migration studies.9 Social obligations (e. g. fulfilling expected role models or feeling responsible for the well-being of family members, kinsmen and friends) often play an important role in the pre-flight decision-making process. Many of our interviewees voiced a strong commitment to comply with these obligations, highlighting that it was above all the responsibility to save the life of their children or other family members or to offer their children a better future that motivated them to flee. “I was fearing for my life. I had enough money to survive. But some of my friends died and I did not want my children to grow up as orphans” (Iraq 19, male, 36, Slemani, Kurd).
The decision to flee may, however, also be informed by other reasons than providing physical safety or offering a “good life”. Here social obligations closely connected to social norms (e. g. a married woman should live with her husband) as well as personal motives (e. g. evading conflicts that may stem from breaking social norms or escaping from an unbearable domestic relationship, e. g. conflict between daughter-in-law and mother-in-law) may play a role. An illustrative case in this respect was the story of a young Afghan woman who had been married at the age of 14 years to the son of her maternal uncle residing 9 Some studies have also highlighted the role of social networks for the re-integration of returning refugees to their former home region and/or in preventing people from becoming refugees at all by successfully securing a sustainable livelihood despite protracted war or civil war situations (cf. Berg Harpviken 2009). In addition, several recent studies have also focused on the mode of communication (cf. studies on the use of social media and i-phones by refugees, Kaufmann 2017; Witteborn 2015; Rohde et al. 2016).
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in Austria. Being below the officially accepted age of marriage in Austria she could not apply for a visa, but had to travel illegally to join her husband and inlaws in Austria. Another case demonstrating this link between social obligations and personal reasons was the case of an Afghan couple that fled together with their three children. Both mentioned different motives for their flight. The woman had been married by her widowed mother to pay off her debt. She had conflicts with her mother-in-law and felt disregarded by her husband, who rather sided with his parents than support her in her domestic struggles. Eventually she had enough of the conflicts with her in-laws and threatened to leave the family. This finally induced her husband to break with his family. “He loves his children, his father selected me [as his wife], I do not know whether he loves me, but he loves his children. He said, he did not want his children to lose their mother. That is the reason why we came here” (Afghan 7, female, 27, Mazar-e Sharif and Iran, Hazara).
Social relations and obligations do not solely influence the decision-making process, but are also intimately connected to the preparation of the flight, once the decision has been made. When deciding of whether to flee, where and how to flee people often seek the advice from close kin and friends.10 Family members (e. g. fathers, brothers), close relatives (e. g. paternal or maternal uncle, father-in-law) or friends are also crucial in providing the necessary financial means or in establishing contacts with officials to acquire travel documents or with human traffickers. “I called my brothers and asked them for money, in order to be able to leave. My life was in danger. My brothers heard of this and instantly gave me 4.000 dollars and organised a smuggler for me …” (Iraq 19, male, 36, Slemani, Kurd).
In addition, people turn to relatives and friends at home and abroad (e. g. in an European country) to gather information on flight routes, costs of transportation and asylum seeking procedures in potential countries of destination. A particularly crucial question is the selection of human traffickers. Herein most of our respondents relied on recommendations of relatives and friends. In general, individuals belonging to the same ethnic or religious group as the refugee himself/herself were preferred as they were considered as more trustworthy than others. “I fled with the support of a friend of the husband of my aunt [sister of his mother]. That person organized everything for me […]” (Afghan 14, male, 20, Herat).
10 For similar insights cf. Kazemi 2016 and IOM 2016.
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Yet, social ties are not only important in the decision-making and preparatory phase, they are equally crucial during the flight itself. People either undertake the journey together with family members (e. g. wife/husband and children, with another brother), with friends or alone.11 Women rarely flee alone (except when travelling by air). Mostly they travel in the company of male relatives (husband, brother or children). People starting their journey alone (e. g. single men) often continue their flight with other single men they meet on route. “I was alone, only in the course of my flight I met several young men on the boat, two Syrians and three Iraqis. I journeyed on with them” [Iraq 7, male, 22, al-Nasriye, Arab).
The dangers of the journey, especially the perilous sea crossing from Turkey to the Greek Islands in unfit rubber boats, seems to create a particularly tight bond between single travellers and motivates them to continue their journey together. The collectively endured hardships of the flight often lead fellow travellers to assist each other. Sometimes this support even becomes a question of life and death. “[…] a one hour boot trip was planned, but we travelled for three hours and the boat had a hole. If the young men on board would not have hold on our legs we and my youngest daughter would have tumbled from the boat and drowned […]” (Afghan 7, female, 27, Mazar-e-Sharif and Iran, Hazara).
To fall back on a supportive network of relatives, friends and fellow travellers is especially important in times of problems, e. g. when running short of funds to journey on or when having problems finding a trustworthy human trafficker or when needing advice for what to do next. Herein modern means of communication (e. g. whatsapp, facebook, etc.) play an important role. Refugees try to remain in contact with family members via smartphone to keep them updated about their whereabouts. The GPS function of smartphones helps refugees to orient themselves during their flight (cf. Kaufmann 2017 ; Rohde et al. 2011 ; Witteborn 2015). And finally social ties may also inform the choice of country of destination, e. g. by advising a family member or friend to stay in the current place and not to continue moving to another country. Social links with family members or friends already living in a country of refuge are also crucial in providing an important first orientation in the new place of residence. Family members or friends are supportive in accommodating a newly arriving person, accompany him/her to the authorities to submit his/her asylum application, etc.
11 Similar results were gathered by Linke 2016, Kazemi 2016, and IOM 2016.
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“No, I do not feel alone, I have relatives here, my uncle lives here, I always have contact with him. I visit them often and they visit me. My uncle helped me a lot, in the beginning when I did not know the language” [Afghan 10, female, 40, Pashtun].
Research Results: Part II) The receiving context 1)
General remarks
From the wealth of relevant aspects in the receiving context only some could be chosen. The focus of the following explanations lies in the analysis of the expectations of refugees for their future life and on the relevance of social interactions with Austrians in the process of transformation of expectations in the integration process. The majority of interviewees had emphasized the importance of social ties for their efforts in the fields of social and structural integration. Thus, the modes of social interactions during the early phase of stay in Austria, and the outcome are investigated. Frequency and nature of initial contacts with Austrians have an impact on the formation of weak and strong ties which are subsequently relevant in the process of social and structural integration and on the adaptation of initial expectations. Informal interethnic contacts are particularly relevant in the broader field of social integration of refugees, which is a process of exchange that involves both refugees and the host society and starts with the first contacts. There are many barriers on the way to social integration and in some cases refugees reported only very few contacts with Austrians.
2)
Some theoretical considerations
Past research on immigration has conceptualized the integration of immigrants as a multifaceted process involving different patterns in which individuals, government institutions, NGOs, and refugee organizations all have flexible roles (Ager et al. 2002 ; Ager and Strang 2008 and 2010). As integration is such a complex concept (Phillips 2006) much has already been written about it. The complexity of the receiving context and in particular the legal frameworks in Austria were described by Meyer and Rosenberger (2015) and Fritsche (2013). Integration as a term is often used in research and policy recommendations and means different things to different actors depending on their particular perspective (e. g. Portes and Rumbaut 2001 ; Zetter et al. 2002). Differences between ‘structural integration’ that is the participation of refugees in the institutions of the receiving society (e. g. the labour and housing
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markets) and ‘acculturation’ are relevant (Castles et al. 2001 ; Korac 2003). Esser (2001) emphasized the difference between system integration on the macro level and social integration as a micro-level process. As social ties are a significant factor in integration processes, special attention will be laid on this topic in the following analyses. Social interaction, be it intragroup or extra-group, is “producing” weak ties (Granovetter 1973). These are important for refugees as they increase the resources available to network members for example in labour market integration (Gurak and Caces 1992 ; Granovetter 1995). These mechanisms have been investigated for example by McMichael and Manderson (2004), Atfield et al. 2007 and Brücker et al. (2016) looking at refugee integration. Closer ties allow the establishment of social networks, which in long-term perspective are relevant for structural integration into the labour and housing market. Individual characteristics of migrants on the capacity to establish social ties (and to mobilise resources), such as extroversion, gender or social class, are obviously relevant. Actually there is still considerable need for research around refugees’ social and structural integration to focus on the relevance of social ties and the interconnectedness of a range of dimensions (Fiddian-Qasmiyeh et al. 2014).
3)
Social interactions during the refugees’ initial phase of stay
The majority of refugees interviewed outlined optimistic opinions of the social and structural integration process. The idea of learning and of making social contacts was strongly expressed. The respondents were keen to emphasize the positive aspects of their new lives in Austria and the relevance of their social contacts there. Involvement in the local community and contributing via paid work were seen as important aspects of their integration and ultimately steps on the way to “arrive” in Austrian society. The establishment of social ties is a step-by-step process, which was also described in the interviews. In the early stages of residence mainly the formal contacts with NGOs determine the chances of receiving housing and employment (see also Cheung and Phillimore 2013). Concerning NGOs the picture of interactive experiences was throughout positive: “In Vienna I stayed 8 months in an asylum shelter in Simmering. […] The staff there was really wonderful. […] They even drew my attention to many things and gave me useful tips of which I otherwise would have known nothing.” (Iraq 10, male, 35, Mosul, Kurd).
A specific contact quality with Austrians resulted from initial social interactions in the mood of the “welcoming culture” of 2015. Some of these coincidental
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relationships of weak tie quality proved sustainability and helped a lot in gaining a foothold in Austrian society : “When we crossed the Austrian border we wanted to travel to Vienna but we did not know how. Then we met three girls and a young man. […] They invited us into their car and then took us with them to Vienna. They even invited us to their place and provided us food and drinks. […]” (Iraq 9, male, 23, Bagdad, Arab).
4)
Expectations towards the future life in Austria
Barth and Guerrero Meneses (2012:5) have reported a high education motivation of young refugees and strong personal commitment for example in search of qualification opportunities. A generally high achievement motivation could be stated by Heckmann (2015:284). In our interviews high expectations concerning the integration in Austrian society were verbalized: the desire to achieve good education, a well-paid job, success, and life satisfaction. These goals were tried to reach by the acquisition of skills, e. g. mastering German, studying, and achieving some financial basis. Quick asylum decisions and education chances are ranging with priority on the scale of expectations. This fact mirrors the pronounced educational orientation of many refugees. An important goal for the majority is the effort for social advancement by higher education and for building social networks with Austrians. Older respondents are realistic in their estimations and to a higher degree transfer their expectations to the next generation. “What I want there is education. I want to learn, learn, learn, I want to become ‘somebody’, to lead a life of my own. To have a good future and for this I want to get adequate help from the Austrian government” (Afghanistan 5, male, 25, Iran, Hazara). “My first wish is to get a positive asylum decision. Then, I intend to work with my certificates. As I have two of it, one in biology the other in engineering, I am sure to find something” (Iraq 1, male, 35, Bagdad, Turkmen-Arab).
Most respondents were interested in quick labour market integration procedures (Brücker et al. 2016). The conditions of the Austrian labour market are highly appreciated, e. g. the absence of child labour, fixed working hours, leisure time which is prescribed by law, and fair payment. A problem which is relatively often cited is professional de-qualification. Thus, an adequate offering of language acquisition courses and Labour Market Service (AMS) training measures is greatly appreciated by the majority.
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Initial problems in Austria: From high expectations to some disappointment
After a relatively short stay in Austria and after the first euphoria about a successful flight had vanished most of the refugees were confronted with barriers which required an accommodation of the initially high expectations to reality. In some interviews this process of “disillusionment” (see Berg 2002) was described in detail. Hentges and Staszczak (2010) and Aumüller (2008:101) reported feelings of social rejection which caused disappointment and resignation. Also in our sample the lack of social contacts and even isolation were mentioned. In many cases the original image of living in Austria and the social reality were experienced as incompatible (see also Bretl and Kraft 2008:69). According to Scholz (2013:142) the distortions between expectations and reality are more poignant if the geographical distance between country of origin and receiving country is larger. In addition, the individual level of education and established migrant communities in the receiving country are relevant factors. Foremost the long asylum procedures were criticized as hindering future planning. It was stated that the education opportunities which were originally hoped for were not offered. Most refugees faced serious problems in labour market integration. Though their labour motivation was usually high, it was difficult for them to translate their plans into successful action (SVR 2016). Beside complaints about a lack of support from private social networks also Labour Market Service (AMS) was critizised, so that (often unsuccessful) selfreliant job search activities were necessary. “And then to use education we have and after have the chance to work in our previous field. Actually we are working either in a camp or in a restaurant. This work we have not done in Afghanistan [note: he had a high position in the Ministry of Education in Kabul]. I went to AMS and showed them my certificates and told them where I have worked. They told me, what shall we do? You have to work here.” (Afghanistan 9, male, 34, Laghman).
6)
The relevance of social ties in social and structural integration
It could be proved by our interview data that social networks are playing a fundamental role in the process of labour and housing market integration (see also Granovetter 1973 and 1995). Social interactions and the formation of networks are determined by two main factors: (1) personal initiative and (2) opportunity structures (Heckmann 2015:182f.). Early participation in the labour market is an indispensable prerequisite for social participation (SVR 2016:44). In our interviews it turned out that structural integration was often linked to
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disappointment when the respondents realized that their initial expectations were unrealistic and they lacked efficient social networks which are important for succeeding (Valenta 2008). In most cases structural integration proved to be much more difficult than social integration. As a coping strategy some refugees tried to systematically make use of their weak ties not only for social but in particular for structural integration. In this regard a dichotomy between single migrants and family migrants could be observed. Single migrants had to compensate lost social ties by establishing new contacts. Social integration is affected by language competency and the amount of time they have invested in social ties with Austrians having networks and providing support. “I spoke the language, but I had troubles and could not really learn, really now after some time I was able to find my way with my friends, I found Austrian friends and I can communicate with them. Now my heart became brighter.” (Afghanistan 17, male, 21, Ghazni, Hazara).
6.1
Housing market integration
Housing is one of the main fields in the context of structural integration (Castles et al. 2001 ; Esser 2001). In some cases it turned out that even weak ties proved to be very effective in organizing housing opportunities: “Actually I am sharing a flat with an Austrian. […] He left his bedroom to me and my brother and he himself is sleeping in the smaller room.” (Iraq 1, male, 35, Bagdad, Turkmen/Arab).
In other cases cultural barriers of living together with persons not belonging to the extended family produced initial reservations towards the mode of housing integration which was spontaneously offered by Austrian contact partners. Obviously after some time even emotional strong ties may have developed from this unfamiliar mode of living together : “One nice girl she called me and she told me that there is one house with Austrians to live. I say no, I want something alone, private. … Because we don’t have this type of sharing, […] friends or strangers never live together.” (Syria 4, female, 53, Dar’a)
6.2
Labour market integration
Labour market integration is actually one of the most hotly debated topics in the complex field of policies on refugee integration (see Bevelander and Pendakur 2013). The evidence for successful integration in this field is rather poor in our material. Some had already made the challenging experience of getting confirmed their qualifications and to find an adequate job. Their asylum status
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combined with their rather poor German language skills resulted mostly in unemployment or in some cases in engagement in low-skilled jobs. Many refugees reported that after a short time span the job search experiences became disappointing. Lacking effective functional networks finding a job was hopeless: “I applied at Vienna Municipal Education Authority. They did not give me any chance. Then I have visited the Arabic School. Again no chance. […] At Adult Education Center I noticed that the procedure there would be very complicated. […] then I was very disappointed” (Syria 14, male, 34, al-Malikiya, Kurd).
Among the rare reports about acquiring a job by weak ties with local people the path of taking up an occupation as a NGO volunteer was reported: “I got so great support from Austrians […] First there was my neighbour who supported me and then my integration chief and afterwards my chief in Red Cross, they all have very well accepted me, though I was no(body), but simply they wanted to help me” (Syria 14, male, 34, al-Malikiya, Kurd).
Only in one case a long-term perspective was reported in expecting support by Austrian friends for realizing the plans of a labour career : “I want to move to Klagenfurt, because I want to stay with this Austrian family. […] […] after I have finished my studies I want to start a praxis there.” (Syria 3, male, 24).
7)
Resume
This contribution focuses on two aspects: (1) the context of origin and refugee experiences: the respondents’ life experiences in their home country, their reasons for leaving, and the obstacles witnessed during their flight; (2) the receiving context in Austria of refugees, their expectations as well as their current challenges once they were confronted with the Austrian reality. In this context special attention was paid to the impact of social ties for integration. The project was exploratory, so the purposive sampling of respondents with specific demographic characteristics did not allow for generalizations. The study focused mainly on refugees who were recent arrivals and did not perceive themselves as having fully undergone the process of re-establishing social networks. Social relations are, however, not only important in facilitating a successful integration in the host country, they are similarly crucial in the pre-flight decision-making process and throughout the flight itself. Social obligations and the existence of relevant social networks inform the decision whether to flee, with whom to flee, whom to ask for support, etc. Remaining in contact with family members and friends during the flight is important to have access to badly
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needed information and financial support when problems emerge. Fellow travellers constitute another essential assets in enduring an often challenging journey. Our study clearly demonstrates the relevance of social relations in the sending context, an aspect so far often neglected in forced migration studies, yet worthwhile to be taken into further account in future studies. The self-evaluation of the quality of social ties by the refugees was positive. Many narratives were enthusiastic about the welcome and help. Refugees were very keen to emphasize the positive potential of their new social contacts. Involvement in the local community and fitting in with their new interaction partners are seen as important aspects of integration. There is clear evidence that the individual’s personality and opportunity structures are crucial factors in the establishment of new social ties. Social support was found to be an important factor which facilitated the refugees’ abilities to adapt to life. “Interethnic” support was provided by Austrian friends in the form of instrumental aid and emotional support. In particular single migrants are dependent on help which is provided by social ties with locals. It could be proved that weak and strong ties are playing an important role in both fields of integration, the social as well as the structural one. At the time of the interviews some refugees have already been successful on their path to integration but in many cases it was still a problem of maintaining contacts to local people. It turned out that structural integration is much more challenging than social integration even with the help of social ties to Austrians.
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Sieglinde Rosenberger / Judith Welz
Das Abschieberegime fast außer Kontrolle? Parlamentarische Anfragen zwischen Menschenrechten und Souveränität
1.
Einleitung
Seit den 1990er Jahren zählen in vielen westlichen Demokratien Abschiebungen zum migrationspolitischen Standardrepertoire. Die Migrationsforschung bezeichnet die Entwicklung steigender Abschiebezahlen als deportation turn (Gibney 2008:146; Paoletti 2010:4). Charakteristisch für Abschiebungen ist, dass sie als staatliches Zwangsinstrument gravierend die persönlichen Freiheitsrechte der Betroffenen betreffen und verletzen. Trotzdem aber war die politische Debatte zum Abschieberegime (De Genova 2010) lange Zeit eher verhalten, insbesondere blieb die Debatte zur politischen Kontrolle der Implementierung weitgehend aus. Über Abschiebungen lag und liegt ein Schleier der Geheimhaltung. Lediglich Einzelfälle bekommen mediale Aufmerksamkeit und lösen in der Folge politische Auseinandersetzungen aus. In der akademischen Diskussion wird das Abschieberegime bereits seit mehr als einem Jahrzehnt aus verschiedenen Perspektiven thematisiert. So werden insbesondere die mit dem deportation turn einhergehenden Menschenrechtsverletzungen und die den Abschiebungen immanente Gewalt kritisiert (Ellermann 2009; Fekete 2003, 2011; De Genova 2002, 2010). Die Sozialwissenschaftlerin Liza Schuster (2004) bringt den Begriff der Menschenwürde ein, vertritt die Position, dass Abschiebungen ohne deren Beeinträchtigung nicht durchführbar seien, und fordert daher deren generelle Aussetzung. Ein vor allem in der politikwissenschaftlichen Forschung angesiedelter Literaturstrang analysiert die Funktion von Abschiebungen für die Aufrechterhaltung der imaginierten nationalstaatlichen Souveränität (Gibney und Hansen 2003; Gibney 2008). In diesem Kontext stehen universelle Menschenrechte, die liberale Demokratien in der Gestaltung ihrer Migrationspolitik beschränken, in einem Spannungsfeld mit souveräner nationalstaatlicher Handlungsfähigkeit (Castles 2004). Jüngere empirische Untersuchungen belegen und diskutieren diese Begrenzungen, indem sie auf den deportation gap (Gibney 2008:149), also auf eine beträchtliche Diskrepanz zwischen der Anzahl abschiebbarer Menschen und tatsächlich
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Sieglinde Rosenberger / Judith Welz
durchgeführter Abschiebungen verweisen (Paoletti 2010; Ellermann 2009; Kukovetz 2014). Politische, parlamentarische Kontrolle und Verantwortlichkeit der Regierenden zählen zu den Grundbedingungen und Standards liberaler Demokratien. Angesichts der quantitativen Bedeutung von Abschiebungen bei ihrer gleichzeitig hohen menschenrechtlichen Brisanz könnte erwartet werden, dass dieses migrationspolitische Feld Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen ist. Überraschenderweise aber liegen zur politischen Kontrolle von Abschieberegimen bisher nur wenige sozialwissenschaftliche Studien vor. So konstatieren Virginie Guiraudon und Gallya Lahav (2000:164) eher allgemein für die Migrationspolitik, dass durch die Streuung von Zuständigkeiten – „upward to intergovernmental fora […], downward to local authorities […], and outward to nonstate actors“ – eine zunehmende Verwässerung von Verantwortlichkeit stattfinde, wodurch einzelne Verwaltungsvorgänge kaum mehr nachvollziehbar würden und so der politischen Kontrolle entglitten. Als Beispiel für eine nach oben ausgelagerte Zuständigkeit haben Johannes Pollak und Peter Slominski (2009:917ff.) die europäische Grenzschutzagentur Frontex untersucht und aufgrund des diffusen rechtlichen Mandats sowie ungenügender politischer und unabhängiger Kontrollmechanismen auf grobe Verantwortungsmängel hingewiesen. Unklare Aufgabenverteilungen und Rechenschaftspflichten werden auch in Studien zur Auslagerung abschieberelevanter Aufgaben an privatwirtschaftliche Akteure festgestellt (Bacon 2005). Untersuchungen zu staatlichen Monitoringsystemen, wie sie in der EG-Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG vorgesehen sind, differenzieren zwischen den polizeilichen Abschiebeprozeduren vor Ort und der Post-Abschiebesituation im Rücknahmeland. Während in vielen Ländern die Aufsicht über Abschiebevorgänge institutionalisiert ist (Röthlisberger 2014), sind die meisten EU-Mitgliedstaaten bei der Einrichtung von PostAbschiebemonitorings bislang säumig – ein institutionelles Defizit, das nur bedingt durch NGOs und internationale Organisationen kompensiert werden kann (Schuster und Majidi 2013:222). Explizit der parlamentarischen Kontrolle und ihren Auswirkungen auf administratives Handeln in Deutschland und den USA hat sich bisher die Politologin Antje Ellermann (2009:89ff.) gewidmet. Der vorliegende Artikel knüpft an diese Studien an und will einen Beitrag zur politisch-parlamentarischen Kontrolle abschieberelevanter Vorgänge leisten. Das Untersuchungsmaterial sind 183 Schriftliche Anfragen, die während zwei Legislaturperioden von Abgeordneten in den österreichischen Nationalrat eingebracht wurden. Anhand dieser Schriftlichen Anfragen wird die Intensität und inhaltliche Ausrichtung der Kontrolle erhoben und im Kontext parlamentarischer Konstellationen und außerparlamentarischer Entwicklungen interpretiert. Wie hat sich die Kontrolltätigkeit quantitativ und inhaltlich im Zeitverlauf entwickelt und wie ist sie zu erklären? Gilt das Interesse der menschenrechtlichen
Parlamentarische Anfragen zwischen Menschenrechten und Souveränität
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Brisanz des deportation turn oder gilt es dem Scheitern, ausgedrückt im deportation gap? Der Beitrag zeigt, dass die parlamentarische Kontrolle im untersuchten Zeitraum intensiviert wird und dass sie eine Politisierung des Themas Abschiebungen reflektiert, mehr noch: sie mit-herstellt. Aber anders als es die wissenschaftliche Literatur erwarten ließe, geht die steigende Anfragetätigkeit nicht mit einer intensiveren menschenrechtlich orientierten Kontrolle von Abschiebungen einher. Im Gegenteil: Im Zeitverlauf verlieren die menschenrechtlich motivierten Anfrageinhalte an Bedeutung und die gescheiterte Durchsetzung gewinnt an Relevanz. Wir interpretieren diese empirischen Befunde mit innerparlamentarischen (veränderte Regierungs-Oppositions-Konstellation) und außerparlamentarischen Entwicklungen wie der wachsenden gesellschaftlichen und medialen Sensibilität gegenüber Abschiebungen.
2.
Vom deportation turn zum deportation gap
In rechtlicher Hinsicht sind drei Formen der Außerlandesbringung zu unterscheiden: die Abschiebung, die Dublin-Überstellung und die angeordnete Ausreise. Eine Abschiebung bezeichnet die zwangsweise Durchsetzung einer behördlichen oder gerichtlichen Aufenthaltsbeendigung. Sie kann MigrantInnen treffen, die über keinen legalisierten Aufenthalt (mehr) verfügen, aber auch rechtskräftig negativ beschiedene AsylwerberInnen. Dublin-Überstellungen betreffen ausschließlich Asylsuchende. Die Dublin-II-Verordnung 343/2003/CE1 sieht vor, dass AsylwerberInnen, die sich bereits in anderen Vertragsstaaten aufgehalten haben, dorthin zurück überstellt werden können. Die angeordnete Ausreise (Dünnwald 2012:181) bezeichnet das fremdenpolizeilich dokumentierte Verlassen des Staatsgebiets nach einer behördlichen oder gerichtlichen Aufenthaltsbeendigung. Offiziell wird diese Form als freiwillige Ausreise bezeichnet. Da sie, anders als andere Formen der dokumentierten Ausreise, „durch eine fremdenpolizeiliche Fristsetzung erzwungen wird“ (Slominski und Trauner 2014:157), ist der Begriff angeordnete Ausreise präziser. Der vorliegende Beitrag berücksichtigt parlamentarische Anfragen zu allen drei Formen der Außerlandesbringung. In den 1990er Jahren stiegen, ähnlich wie in anderen europäischen Ländern, auch in Österreich Abschiebungen sprunghaft an. Ab 1995 lagen die Zahlen bei über 10.000 jährlich (Welz 2014:5). Seit der Jahrtausendwende sind die Abschiebezahlen wieder rückläufig. Diese Entwicklung ist unter anderem durch steigende Dublin-Überstellungen und dokumentierte Ausreisen begründet 1 Die Dublin-III-Verordnung 604/2013/EU sieht lediglich geringfügige Veränderungen vor (Slominski und Trauner 2014:160).
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Sieglinde Rosenberger / Judith Welz
(Slominski und Trauner 2014:157). Letztere machen seit dem Jahr 2008 die häufigste Form der Außerlandesbringung aus. Ein weiterer Grund für den Rückgang von Abschiebungen mag das im Jahr 2009 in Kraft getretene Antragsrecht auf einen humanitären Aufenthaltstitel (umgangssprachlich Bleiberecht) sein. Allerdings kam dieses aufgrund strenger Kriterien bisher nur wenigen von Abschiebung bedrohten Menschen zugute. Welche Gruppen sind von welchen Formen der Außerlandesbringung betroffen? Tabelle 1 zeigt, dass Abschiebungen häufiger MigrantInnen als negativ beschiedene AsylwerberInnen treffen. Unter Berücksichtigung von DublinÜberstellungen allerdings, die ausschließlich Asylsuchende treffen, halten sich zwangsweise Außerlandesbringungen von MigrantInnen und Asylsuchenden (Zeitraum 2008 bis 2012) etwa die Waage. Statistiken über dokumentierte Ausreisen (angeordnete Ausreisen werden nicht gesondert ausgewiesen) differenzieren nicht zwischen Asylsuchenden und Nicht-Asylsuchenden. Eine Veröffentlichung des Innenministeriums belegt jedoch für die Jahre 2005 bis 2009, dass der Anteil an RückkehrerInnen, die zumindest für einen kurzen Zeitraum dem Asylgesetz unterstellt waren, zwischen 72 und 100 % lag (BMI 2010:43). Tabelle 1: Abschiebungen, Dublin-Überstellungen und dokumentierte Ausreisen in Österreich zwischen 2002 und 2013 Davon abgelehnte AsylwerberInnen 462b 349b 455b 330b 477b 579a 445a 461a 194
Davon NichtAsylwerberInnen 3.851 3.741 2.383 1.696 2.004 1.998 1.575 1.392 1.709
DublinÜberstellungen 408d 627d 109a 894a 1.345a 1.583a 1.460a 932a 984a 1.059
DokuAbschiementierte Jahr bungen Ausreisene 2002 6.842 878f 2003 4.041a 1.063f 2004 5.811a 1.158d 2005 4.277 1.406a 2006 4.090 2.189a 2007 2.838 2.164a 2008 2.026 2.736a 2009 2.481 4.088a 2010 2.577 4.517a 2011 2.020a 3.400a a 2012 1.853 3.211a 2013 1.903 3.512 Eigene Zusammenstellung Quellen und Anmerkungen: Alle Zahlen ohne hochgestellten Buchstaben sind dem BMIDownloadbereich entnommen. - Keine Daten verfügbar, a Nationalrat 2014, b BMI 2010, c Bis 2003 sind Dublin-Überstellungen in der Fremdenstatistik unter Abschiebungen angeführt, d BMI 2012, e Der Anteil an angeordneten Ausreisen wird nicht gesondert erhoben. 2000–2003: Enthält nur Rückkehrende im Rahmen des humanitären Rückkehrprogramms von IOM Wien. EMN 2006.
Parlamentarische Anfragen zwischen Menschenrechten und Souveränität
55
Dass eine behördliche oder gerichtliche Entscheidung zur Aufenthaltsbeendigung nicht automatisch zu einer Abschiebung führt, zeigt die Kennzahl deportation gap. Zieht man von allen aufenthaltsbeendenden Entscheidungen die vollzogenen Abschiebungen und dokumentierten Ausreisen ab, so ergibt sich für das Jahr 2013 eine Diskrepanz von 63 %. Tabelle 2: Deportation gap in Österreich zwischen 2002 und 2013 Aufenthaltsbeendende Abschiebungen Entscheidungen plus dokumentierte Deportation Ausreisen gapa Jahr insgesamt 2002 23.705 7.720 67 % 2003 22.588 5.104 77 % 2004 20.646 6.969 66 % 2005 16.491 5.683 66 % 2006 12.813 6.279 51 % 2007 13.461 5.002 63 % 2008 14.162 4.762 66 % 2009 20.219 6.569 68 % 2010 20.165 7.094 65 % 2011 16.285 5.420 67 % 2012 14.439 5.064 65 % 2013 14.604 5.415 63 % Eigene Zusammenstellung Quellen und Anmerkungen: BMI-Downloadbereich, Nationalrat 2014, BMI 2012, EMN 2006. a Da Abschiebungen und dokumentierte Ausreisen nicht zwingend im Jahr der Aufenthaltsbeendigung erfolgen, ergibt sich eine statistische Ungenauigkeit.
3.
Die Schriftliche parlamentarische Anfrage
Die österreichischen Abgeordneten besitzen gegenüber der Regierung im Wesentlichen drei Kontrollinstrumente: das Untersuchungs-, das Resolutions- und das Interpellationsrecht (Schriftliche, Mündliche und Dringliche Anfrage). Da die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses bis vor kurzem, der Beschluss einer Resolution noch heute, eine parlamentarische Mehrheit voraussetz(t)en,2 die Regierung aber im Normalfall das Vertrauen dieser Mehrheit genießt, kamen die ersten beiden Kontrollrechte bisher selten zur Anwendung (Fallend 2000:179).3 Das Interpellationsrecht gilt dagegen als klassisches parlamentari2 Seit 1. 1. 2015 ist das Einsetzen eines Untersuchungsausschusses parlamentarisches Minderheitsrecht. 3 Dieses Defizit wurde deutlich, als in der XX. Gesetzgebungsperiode alle vier Anträge auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Aufklärung eines Todesfalls auf einem Ab-
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Sieglinde Rosenberger / Judith Welz
sches Minderheitenkontrollrecht. Es kann von einzelnen (Mündliche Anfrage) oder von fünf Abgeordneten (Schriftliche und Dringliche Anfrage) ausgeübt werden. Parlamentarische Anfragen thematisieren exekutive Vorgänge und richten sich an die Regierung bzw. an einzelne Regierungsmitglieder, die sie innerhalb einer festgesetzten Frist zu beantworten haben. Die politische Wirkkraft liegt in erster Linie in der Herstellung transparenter administrativer Abläufe und im Verantwortlich-Machen der zuständigen Regierungsmitglieder (Siefken 2010; Fallend 2000; Nödl 1995). Anfragen können Regierungshandeln aber nicht nur ex post kontrollieren, sondern mitunter auch ex ante inhaltlich steuern, indem sie bis dato unbeachtete Themen politisieren und einen deliberativen Prozess über alternative Positionen anstoßen. In diesen Fällen sind Anfragen ein Mittel des Agenda-Settings (Page 2006) oder der Machtausübung durch Antizipation (Patzelt 2013).
4.
Material und Methode
Der vorliegende Beitrag umfasst zwei Gesetzgebungsperioden (XXII. GP, Dezember 2002 bis Oktober 2006; XXIV. GP, Oktober 2008 bis Oktober 2013). Die Entscheidung für diese Gesetzgebungsperioden (GP) ist durch unterschiedliche Regierungsformen und Oppositionskonstellationen begründet (S#nchez de Dios und Wiberg 2011:357f.). Von 2002 bis 2005 amtierte eine Koalitionsregierung aus ÖVP und FPÖ. Nach innerparteilichen Konflikten spaltete sich das BZÖ von der FPÖ ab und übernahm von April 2005 bis zum Ende der GP die Regierungsfunktionen. In der XXIV. GP regierte eine Koalition aus SPÖ und ÖVP. In diesen beiden GP gingen insgesamt 15 Entschließungsanträge, vier Dringliche Anfragen, drei Mündliche Anfragen sowie 183 Schriftliche Anfragen zu Abschiebungen ein. Die Schriftliche Interpellation war also das zur Kontrolle abschieberelevanter Vorgänge am häufigsten eingesetzte Instrument. Die folgenden Untersuchungsergebnisse basieren auf diesen 183 Schriftlichen Anfragen. Um die Anfrageintensität der einzelnen Parteien im Zeitverlauf und nach Formen der Außerlandesbringung sowie nach aufenthaltsrechtlichen Gruppen zu erheben, haben wir die relevanten Anfragen mithilfe von Schlüsselbegriffen ausgehoben4 und systematisiert. Daran anschließend haben wir analysiert, schiebeflug von der parlamentarischen Mehrheit abgelehnt wurden (217/GO, 219/GO, 232/GO, 303/GO). 4 Der Zugang erfolgte elektronisch über die Internetseite des Österreichischen Parlaments: http://www.parlament.gv.at/PAKT/JMAB/.
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welche Aspekte von Abschiebungen (Implementierung, Nicht-Implementierung, Post-Abschiebephase) thematisiert wurden und aus welcher migrationspolitischen Perspektive (liberal/Menschenrechte oder restriktiv/Souveränität) die Befragungen erfolgten. Die Datenerhebung und -auswertung folgte dem inhaltsanalytischen Verfahren von Früh (2004) in drei Schritten: Zunächst wurde das Material anhand von textimmanenten Kategorien kodiert, hierauf die Kategorien ihrer Häufigkeit nach dargestellt und schließlich das Ergebnis unter Berücksichtigung parlamentarischer und außerparlamentarischer Ereignisse interpretiert (Früh 2004:63–64).
5.
Die Kontrolle nimmt zu
Die Erhebung und Analyse der Schriftlichen Anfragen zu abschieberelevanten Themen verdeutlicht im Verlauf der beiden Gesetzgebungsperioden eine zunehmende Anfragefrequenz aller Parteien:5 Die Grünen, sie agieren in beiden Perioden als Oppositionspartei, verdreifachen ihre Anfragen; ebenso die SPÖ, obwohl sie von der Opposition in die Regierung wechselt; die FPÖ stellt in der ersten Phase vier Anfragen und in der zweiten 94 (24-fache Steigerung). Des Weiteren ist eine relative Veränderung der anfragenden Parteien festzustellen: So brachten die Grünen in der ersten Periode 50 % aller Anfragen ein, in der zweiten 19 %; die FPÖ ist in der ersten für 18 % und in der zweiten für 58 % aller Anfragen verantwortlich. Der Anteil der Anfragen von SPÖ-Abgeordneten sinkt dagegen von 32 % auf 12 % und das BZÖ, das erst in der zweiten Untersuchungsphase aktiv wird, kommt auf 11 %.6 Die FPÖ entwickelt sich also von der anfrageschwächsten zur anfragestärksten Partei: Insgesamt kommen zwei Drittel aller Anfragen der späteren GP von den migrationskritischen Parteien FPÖ und BZÖ.
5 Berücksichtigt man die unterschiedliche Dauer der GP, entspricht der Anstieg einer vierfachen Steigerung pro Jahr. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der eingebrachten Anfragen steigt der Anteil themenrelevanter Anfragen zwischen den GP von 0,4 auf 1 %. 6 ÖVP und Team Stronach stellen keine Anfragen. Team Stronach erlangte erst im September 2012 Klubstatus. Die ÖVP bekleidet seit März 2000 durchgehend das Innenressort.
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Sieglinde Rosenberger / Judith Welz
Tabelle 3: Schriftliche parlamentarische Anfragen zu Außerlandesbringungen (nach GP und Parteien)
Partei
XXII. Gesetzgebungsperiode Anfragen
absolut 7 SPÖ ÖVP – FPÖ 4 Die Grünen 11 BZÖ – Team Stronach / GESAMT 22 Eigene Zusammenstellung
6.
in Prozent 32 – 18 50 – / 100
XXIV. Gesetzgebungsperiode Anfragen
8 Anfragen
absolut 19 – 94 30 18 – 161
absolut 26 – 98 41 18 – 183
in Prozent 12 – 58 19 11 – 100
in Prozent 14 – 54 22 10 – 100
Kontrollthemen und Deutungsmuster
Tabelle 4 fasst das Ergebnis der Inhaltsanalyse zusammen und stellt dar, welche Schritte des Abschiebeprozedere7 befragt werden und welche migrationspolitischen Positionierungen den Befragungen zugrunde liegen.
7 Die Begriffe Außerlandesbringung und Abschiebung werden für alle drei Formen der Außerlandesbringung austauschbar verwendet. Dies scheint aufgrund ihres Zwangscharakters gerechtfertigt.
59
Parlamentarische Anfragen zwischen Menschenrechten und Souveränität
Tabelle 4: Befragungen zu den einzelnen Phasen des Abschiebeprozedere und migrationspolitische Perspektiven der Fragen (nach GP) XXII. Gesetzgebungsperiode Perspektive Phasen im Abschiebeprozess Implementierung NichtImplementierung PostAbschiebephase TOTAL ABSOLUT
Restriktiv / Souveränität 31 33
Liberal / MR 162 104
– 6
XXIV. Gesetzgebungsperiode Perspektive 8
8
Liberal / MR 392 204
8
19 13
Restriktiv / Souveränität 861 733
8
75
7
–
35
3
33
39
159
62
221 2608
125 144 93 106 10
TOTAL RELATIV 15 85 100 72 28 100 100 Eigene Zusammenstellung Anmerkung: MR = Menschenrechte Behandelte Themen: 1 Durchsetzungserfolg, 2 Rechts- bzw. Menschenrechtskonformität bei der Implementierung, 3 Durchsetzungsmisserfolg, 4 Kritik an der Durchsetzung, 5 Verantwortlichkeiten in der Post-Abschiebephase
Im Folgenden werden die qualitativen Ergebnisse der Inhaltsanalyse entlang der zwei dominanten migrationspolitischen Perspektiven präsentiert: Frageinhalte, die die administrativen Abläufe von Abschiebungen mit dem Blickwinkel a) liberaler Migrationspolitik und Menschenrechtsschutz und b) restriktiver Migrationspolitik und nationalstaatlicher Souveränität thematisieren.
6.1.
Liberale Perspektive: Menschenrechte
Sozialwissenschaftliche Arbeiten, die Abschiebungen aus menschenrechtlicher Perspektive untersuchen, beziehen sich meist auf internationale Bestimmungen wie die Genfer Flüchtlingskonvention oder die Europäische Menschenrechtskonvention (Fekete 2003, 2011; Welz und Winkler 2014). Andere Arbeiten stellen auch auf nicht kodifizierte Freiheitsrechte wie allgemeine Bewegungsfreiheit oder die freie Wahl des Wohnorts ab (De Genova 2002, 2010). Auf dem Feld der parlamentarischen Kontrolle ist in der ersten Phase die menschenrechtliche Orientierung ausgeprägt zu finden. Die parlamentarische Fragetätigkeit der XXII. GP bezieht sich auf menschenrechtlich sensible Aspekte der Implementierung, übt Kritik an einzelnen Abschiebungen und thematisiert fehlende Verantwortlichkeiten für die Post-Abschiebephase. Die Dominanz 8 Die Diskrepanz zur Anzahl der Anfragen ergibt sich daraus, dass eine Anfrage meist mehrere Teilfragen zu unterschiedlichen Aspekten des Abschiebeprozedere enthält.
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menschenrechtlicher Überlegungen lässt sich dadurch erklären, dass 80 % der Anfragen auf die Oppositionsparteien Grüne und SPÖ zurückgehen. Diese formieren sich als liberales Kontrollbündnis gegenüber der Mitte-Rechts-Regierung, das auf die Einhaltung der Menschenrechte pocht und die Konsequenzen für die Betroffenen fokussiert. In der XXIV. GP thematisieren die Grünen abschieberelevante Fragen weiterhin im Kontext von Grundrechten und Menschenwürde, bekommen aber nur mehr teilweise Unterstützung durch die jetzige Regierungspartei SPÖ. Da in dieser Phase die FPÖ und das BZÖ die Schriftlichen Anfragen dominieren, relativiert sich der menschenrechtliche Duktus der Anfragen noch weiter. Im Folgenden wird kurz dargestellt, welche Implementierungsschritte problematisiert und welche liberalen Argumente vorgebracht werden. Auf der Ebene der Implementierung von Abschiebungen greifen die FragestellerInnen diskursstrategisch Einzelfälle auf, deren penible Rekonstruktion mögliche Rechtsbrüche der involvierten Behörden aufdecken soll. So zum Beispiel in einer Anfrage der Grünen mit dem Betreff „Abschiebeversuch trotz psychischen Ausnahmezustands, Familie P.“ (8290/J, GP XXIV) oder der SPÖ „betreffend [den] Vorwurf der illegalen Flüchtlingsabweisung an der österreichisch-slowakischen Staatsgrenze“ (487/J, GP XXII). Begründet wird die Kontrolle der Implementierung mit internationalem Recht und Menschenrechten. Liberale Befragungen in der Kategorie Nicht-Implementierung kritisieren Abschiebungen in Einzelfällen oder bei bestimmten Betroffenengruppen und fordern mitunter deren Aussetzung. Bezugspunkte stellen hier nicht mehr nur internationale Abkommen dar, sondern auch breiter gefasste Vorstellungen von Gerechtigkeit und deservingness (Paoletti 2010:19). Abschiebungen werden vor allem dann als menschenrechtlich problematisch eingestuft, wenn besonders schutzwürdige Personen wie traumatisierte und kranke Menschen oder Familien mit Kindern involviert sind. Letztere stehen im Zentrum einer Anfrage mit dem Betreff „Familienabschiebungsoffensive der Bundesregierung“ (Die Grünen 1928/J, GP XXIV), in der die Abgeordneten der Regierung vorwerfen, Familien zu einer prioritären Zielgruppe für Abschiebungen zu machen. Zum Argument der moralischen Schutzwürdigkeit kommt in der Phase zwischen 2006 und 2013 das Argument der ,erfolgreichen Integration‘ (Die Grünen 6978/J, GP XXIV; 4186/J, GP XXIV). So wird beispielsweise der Fall eines „Musterbeispiel[s] eines integrierten Asylwerbers“ (Die Grünen 2562/J, GP XXIV) stellvertretend für alle anderen „langjährig integrierte[n] Personen“ befragt. Hier wird argumentiert, dass Menschen sich durch erbrachte Integrationsleistungen (soziale Beziehungen, Erwerbstätigkeit, Sprachkenntnisse etc.) den Verbleib in Österreich verdient hätten. Die Post-Abschiebephase wird in der früheren Periode aus menschenrechtlicher Perspektive befragt. Ebenfalls mit Einzelfällen wird dem Anliegen Ausdruck
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verliehen, dass österreichische Behörden sich des Schutzes der Menschenrechte abgeschobener Menschen in den Zielländern zu versichern hätten (Die Grünen 2110/J, GP XXII; 5314/J, GP XXIV; SPÖ 1334/J, GP XXII). Eine solche Anfrage betrifft Personen, die trotz posttraumatischer Belastungsstörung in einen anderen Dublin-Vertragsstaat überstellt werden: Die Abgeordneten wollen wissen „[w]ie […] in solchen Fällen die Vergewisserung [erfolgt], dass die notwendige med. Behandlung in der Einrichtung des Zielstaates geleistet wird?“ (Die Grünen NR, 4066/J, GP XXII). Die Post-Abschiebephase gerät in der späteren GP wieder aus dem Interesse der Abgeordneten, obwohl journalistische Beiträge und wissenschaftliche Arbeiten wiederholt auf Mängel in Asylverfahren mit teilweise fatalen Konsequenzen für die Betroffenen hingewiesen haben (Funk und Stern 2010:249; Brickner und Ruep 2013). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die menschenrechtliche Perspektive in der früheren GP dominiert. Im Mittelpunkt der Auskunftsersuchen stehen bestimmte Betroffenengruppen – zuerst schutzbedürftige, später auch integrierte –, deren Abschiebung auf Menschenrechtskonformität hin überprüft wird; teilweise wird die Aussetzung der Abschiebung gefordert. Dem Instrument der Schriftlichen Anfrage entsprechend fokussiert die Kontrolle die Implementierung, übt aber keine grundsätzliche Kritik am Rechtsinstitut der Abschiebung.
6.2.
Restriktive Perspektive: Deportation gap
In der Migrationsforschung findet sich die Position, dass Abschiebungen zwar mit liberalen Prinzipien in Konflikt stehen, ihre grundsätzliche Legitimität jedoch nicht infrage gestellt wird. Zwangsweise Außerlandesbringungen, so wird argumentiert, seien nicht nur ein souveränes Recht von Nationalstaaten, sie seien für ihr Bestehen konstitutiv (Gibney und Hansen 2003; Gibney 2008). Ein Blick auf Tabelle 4 legt nahe, dass diese Argumentationsweise in der früheren GP noch marginalisiert ist, in der späteren aber den Rahmen des Großteils der Interpellationen bildet. Nicht mehr die Menschen stehen im Zentrum der Befragungen, sondern Zahlen, die der Bemessung von Durchsetzungserfolg bzw. -misserfolg dienen. Zurückzuführen ist diese Entwicklung auf den Wechsel der beiden migrationsskeptischen Parteien FPÖ und BZÖ aus der Regierung in die Opposition. Sie legen daraufhin die taktische Zurückhaltung ab und beginnen das Frageinstrument intensiv zu nutzen (Meyer und Rosenberger 2015). Abschiebungen werden als notwendige Maßnahme einer funktionierenden Migrationskontrolle behandelt; Abschiebegesetze seien strikt anzuwenden und eine effektive Außerlandesbringung nicht (mehr) aufenthaltsberechtigter Personen zu gewährleisten.
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Wie setzt sich das restriktive Narrativ zusammen? Die Fragetätigkeit zur Implementierung versucht in Erfahrung zu bringen, wie viele Außerlandesbringungen in verschiedenen Zeiträumen effektiv vollzogen wurden (FPÖ 11/J, GP XXIV; 178/J, GP XXIV; SPÖ 1554/J, GP XXIV). Dabei stehen bestimmte soziale oder aufenthaltsrechtliche Gruppen diskursstrategisch im Zentrum. Das BZÖ bezieht sich in zwei Dritteln, die FPÖ in knapp der Hälfte der Anfragen auf als deviant markierte AsylwerberInnen (BZÖ 420/J, GP XXIV; FPÖ 890/J, GP XXIV). Begriffe wie „Asylmissbrauch“ (FPÖ NR, 864/J, GP XXIV) und „Drogenkriminalität“ (FPÖ 13408/J, GP XXIV) werden in diesem Zusammenhang häufig eingesetzt. Eine beispielhafte Frage des BZÖ lautet: „Wie viele Asylwerber wurden wegen jeweils wie vieler strafbarer Delikte in den Jahren 2007 und 2008 angezeigt? […] Wie viele dieser Asylwerber wurden bisher abgeschoben?“ (420/J, GP XXIV). Die Fragen im Bereich der Nicht-Implementierung thematisieren ein breites Spektrum an Faktoren, die Abschiebungen verhindern oder erschweren, und reichen von zivilgesellschaftlichen Protestaktionen und Widerstandspraktiken der Betroffenen über Transportunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen bis hin zu fehlenden Rückführabkommen mit Zielländern (FPÖ 5296/J, GP XXIV; 178/J, GP XXIV; 810/J, GP XXIV; BZÖ 3901/J, GP XXIV). Ziel der Befragungen ist es, Informationen über Ausmaß, Gründe oder Kosten für nicht erfolgte Abschiebungen zu erhalten. Auch wird gegen Nicht-Implementierung Position bezogen, so zum Beispiel in einer Anfrage bezüglich der gescheiterten Abschiebung einer armenischen Mutter und ihrer Tochter. Gefragt wurde, ob das Mädchen von der Schulleitung oder der Jugendwohlfahrt im Vorhinein gewarnt worden sei, um ihr das Untertauchen zu ermöglichen, und zu welchem Termin die geplante Abschiebung nun durchgeführt werde (FPÖ 6667/J, GP XXIV). Rückführabkommen sind dagegen nicht nur FPÖ und BZÖ ein Anliegen, sondern auch der SPÖ. In einer Anfrage betonen sozialdemokratische Abgeordnete die Notwendigkeit, das „Thema über die Wahrnehmungsschwelle der Bevölkerung“ zu heben, denn „alle bedarfsorientierten Adaptionen im nationalen Zuwanderungsgesetz sind letztendlich sinnlos, wenn nicht vorab auf die Möglichkeit zur Rückführung […] durch entsprechend vorhandene bilaterale oder europäische Abkommen geachtet wird“ (SPÖ 12927/J, GP XXIV). Keine Fragen werden aus restriktiver Perspektive zur Post-Abschiebephase gestellt. Resümierend halten wir fest, dass der Anstieg von Interpellationen zu abschieberelevanten Themen von der Sorge angetrieben ist, dass zu wenige Abschiebungen durchgeführt werden. Das Hauptinteresse gilt den Zahlen, Verweise auf bestimmte Personen(gruppen) werden zur Skandalisierung eingesetzt. Den restriktiven Anfragen liegt das Anliegen zugrunde, im Bereich der Abschiebe-
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politik, die als gescheitert angesehen wird, wieder Durchsetzungskraft herzustellen.
7.
Interpretation: Parteien und Proteste
Reale Entwicklungen können den Anstieg der Interpellationen sowie die thematische Ausrichtung nur bedingt erklären. Die Annahme jedenfalls, dass mehr Abschiebungen zu mehr Interpellationen führen könnten, trifft nicht zu. Eher trifft zu, dass die sinkende Zahl an Abschiebungen zu Anfragen motiviert, denn es sind die seit 2004 rückläufigen Abschiebezahlen, die im Bereich der NichtImplementierung besonders häufig restriktiv problematisiert werden. Da der Rückgang der Abschiebezahlen aber bereits Anfang der 2000er Jahre begann und sich der deportation gap zwischen den Untersuchungsperioden nur unwesentlich steigerte, sind alternative Erklärungen zu diskutieren, nämlich die veränderte Regierungs-Oppositions-Konstellation und gesellschaftliche Entwicklungen, die die öffentliche Wahrnehmung und Sichtbarkeit von Abschiebungen befördern.
7.1.
Politische Parteien
Der zeitliche Kontext, in dem die untersuchten Anfragen eingingen, ist von einem migrationskritischen bis -ablehnenden politischen Klima geprägt. Dies ist nicht zuletzt Folge einer seit Mitte der 1980er Jahre andauernden Mobilisierung der FPÖ gegen Migration. Die FPÖ hat das Thema immer wieder in Wahlkämpfen eingesetzt und die Migrationspolitik entscheidend beeinflusst. Die langjährigen Regierungsparteien SPÖ und ÖVP setzten kaum eigenständige migrationspolitische Akzente, sondern integrierten zentrale FPÖ-Forderungen in ihre Aktivitäten. Als einzige Parlamentspartei diskutieren die Grünen Migration und Integration im Rahmen von Chancen und Menschenrechten, allerdings im Zeitverlauf mit abnehmender Intensität (Meyer und Rosenberger 2015). In der XXII. GP gehört die parlamentarische Kontrollbühne den Grünen und der SPÖ. Die Kontrolle von Abschiebungen ist numerisch sehr bescheiden, aber von einer liberalen Perspektive auf Migrationspolitik dominiert. Die rechtspopulistische FPÖ deutet ihr Interesse für Durchsetzungserfolg bzw. Durchsetzungsmisserfolg zwar bereits an, hält sich als Regierungspartei aber noch zurück, sinkende Abschiebezahlen zu thematisieren. In der XXIV. GP ändern sich die politischen Verhältnisse: Die rechtspopulistischen Parteien wechseln in die Oppositionsrolle und nutzen in dieser Posi-
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tion intensiv die Schriftliche Anfrage an das Innenministerium. Nun stellen sie die meisten Anfragen. In regelmäßigen Abständen werden nicht durchgeführte Abschiebungen und Dublin-Überstellungen befragt und so der Regierung ein Scheitern der Abschiebepolitik attestiert. Mit anderen Worten: Der deportation gap wird in die politische Arena gebracht und zum Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Opposition und Regierung. Es ist also auch für Österreich zu beobachten, was Gibney (2008:154) als „politics of the deportation gap“ bezeichnet – der parteipolitische Streit über ein Thema, bei dem es nicht nur um betroffene Menschen, sondern auch um Ideologien wie die staatliche Handlungssouveränität geht. Das vehemente Auftreten der rechtspopulistischen Opposition bringt eine stärkere parteipolitische Polarisierung mit sich, die an den Rändern des LinksRechts-Spektrums zu einer Betonung der jeweiligen Positionierungen zu Migration führt. Abschiebungen werden im Diskursfeld Migration und Asyl verhandelt, die langjährige migrationspolitische Polarisierung zwischen Rechts und Links, zwischen den rechtspopulistischen Parteien einerseits und den Grünen andererseits überlagert auch den Teilaspekt Abschiebungen. Auf einer inhaltlichen Ebene läuft diese Polarisierung auf einerseits mehr ,Schutz vor Fremden‘ (FPÖ und BZÖ) und andererseits mehr ,Schutz von Fremden‘ (die Grünen) hinaus (vgl. Gruber 2010:74ff.). Interessant, weil ambivalent, ist die Rolle der Regierungspartei SPÖ: In ihrer Bereichsopposition gegenüber dem Regierungspartner ÖVP übt sie in einigen Härtefällen Kritik an der Implementierung, andererseits pocht sie gemeinsam mit BZÖ und FPÖ auf eine Beseitigung von Abschiebehindernissen. Dies verweist auf eine wechselhafte Positionierung der SPÖ in Migrationsfragen, die Bale et al. als „wanting it both ways“-Strategie bezeichnet haben und auf das Erstarken der FPÖ zurückführen (2010:420).
7.2.
Proteste und mediale Aufmerksamkeit
Der Anstieg der parlamentarischen Anfragen ist aber nicht nur Ergebnis der Regierungs-Oppositions-Dynamik, sondern er ist in eine neue gesellschaftliche Sensibilität gegenüber Abschiebungen eingebettet. Die steigende Kontrolltätigkeit ist auch als eine Reaktion der Abgeordneten auf außerparlamentarische Phänomene zu interpretieren. Obwohl Migration zu den am stärksten politisierten Themen im österreichischen Parteienwettbewerb zählt (Gruber, Herczeg und Wallner 2012; Gruber 2010), trifft diese Feststellung nicht im gleichen Maße auf Abschiebungen zu. Die Zwangsmaßnahme wurde erstmals im Anschluss an den Erstickungstod von Marcus Omofuma auf seinem Abschiebeflug im Jahr 1999 öffentlich breit und emotional diskutiert (Karner 2011:155). Diese Debatte war aber zunächst nur
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von kurzer Dauer und flammte erst im Jahr 2006/07 wieder auf, als eine kosovarische Schülerin öffentlich mit Selbstmord drohte, sollte ihre Familie abgeschoben werden. Seitdem reißt die mediale Berichterstattung über Abschiebungen und zivilgesellschaftlichen Protest nicht mehr ab (Gruber, Herczeg und Wallner 2012; Rosenberger und Winkler 2014). Diese veränderte Aufmerksamkeit spiegelt sich in Anfragen der Grünen, die sich gehäuft auf Medienberichte beziehen, wider. Waren in der früheren Periode Stellungnahmen von Menschenrechtsorganisationen oder FremdenrechtsexpertInnen wichtige Referenzpunkte, sind es in der späteren Presseartikel über Abschiebungen. Ein weiterer Hinweis auf die Verbindung zu außerparlamentarischen Phänomenen ist, dass die Einzelfälle und Schicksale in den Anfragen der Grünen oft genau jene Profile aufweisen, für die bei Anti-Abschiebeprotesten mobilisiert wird. Vulnerabilität oder erfolgreiche Integration spielen dabei eine Rolle. Die zivilgesellschaftlichen Proteste gegen Abschiebungen rufen ihrerseits einen Gegendiskurs hervor. Vehementes Pochen auf die Implementierung der Abschiebegesetze durch die rechtspopulistischen Parteien mag zumindest teilweise eine Antwort auf das Unbehagen in der Bevölkerung sein. FPÖ und BZÖ nehmen auf einige Protestfälle Bezug und benutzen diese, um der Regierung zu signalisieren, sich nicht dem Druck der Proteste zu beugen. Dies wird beispielsweise in der folgenden Frage deutlich: „Wird bei den heuer abgeschobenen Familien dieselbe Vorgehensweise gewählt werden, wie beim Fall Komani?“ (FPÖ 6678/J, GP XXIV). Zu erwähnen ist, dass der Ausweisungsbescheid der genannten Familie nach gesellschaftlichen Protesten vom Innenministerium aufgehoben wurde. Diese Evidenzen erlauben die Schlussfolgerung, dass die Thematisierung und Politisierung von Abschiebungen außerhalb des Parlaments, also auf den Straßen, in den Schulen, Kindergärten und in den Medien, in der parlamentarischen Arbeit auf Resonanz stößt. Sowohl die Grünen als auch die FPÖ nehmen darauf Bezug, bieten jedoch entgegengesetzte Lesarten an: Milde für bestimmte Fälle versus ausnahmslose Durchsetzung.
8.
Conclusio
Der Beitrag hat 183 Schriftliche parlamentarische Anfragen zum Themenkomplex Abschiebungen im Nationalrat untersucht und dabei ein dynamisches, innerhalb von zwei Legislaturperioden sowohl zahlenmäßig als auch inhaltlich stark verändertes Kontrollfeld entdeckt. Die inhaltsanalytische Untersuchung der Anfragen macht nachvollziehbar, wie und von wem Abschiebungen und insbesondere deren Implementation politisch diskutiert werden, wie und mit
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welchen Topoi sie in die politische Debatte kommen. Die Analyse der Kontrollintensität, der Themen und der diesen eingeschriebenen migrationspolitischen Rahmungen und Narrative hat zusammenfassend folgende empirische Befunde und analytische Erkenntnisse gebracht: Im Vergleich der Phasen 2002 bis 2006 und 2008 bis 2013 ist ein deutlicher Anstieg von themenrelevanten Anfragen zu beobachten – wenn auch ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau – sowie eine Verschiebung der menschenrechtlichen Rahmung der Anfragen hin zu nationalstaatlichen Souveränitätsansprüchen. Die menschenrechtliche Thematisierung von Abschiebungen ist in der ersten Phase deutlich stärker ausgeprägt als in der zweiten und sie erfolgt hauptsächlich in Anfragen, die die Grünen eingebracht haben. Diskursstrategisch wird häufig Bezug zu schutzwürdigen Personengruppen, in der späteren Phase auch zu integrierten Personen hergestellt. Anders als es die migrationsund abschiebebezogene Literatur erwarten ließe, werden die Anfragen in der Legislaturperiode 2008–2013 zunehmend weniger aus einer menschenrechtlichen Perspektive formuliert, sondern beinhalten stärker nationalstaatliche Souveränitätsüberlegungen und migrationspolitisch restriktive Positionierungen, die eine strikte Durchsetzung von Gesetzen der Grenzkontrolle fordern. Mit anderen Worten: In der zweiten Untersuchungsphase wird der deportation gap zum zentralen Thema gemacht. Zu erklären sind diese Entwicklungen nicht durch die zahlenmäßige Entwicklung des Phänomens Abschiebungen, sondern durch machtpolitische Verschiebungen, insbesondere durch den Wechsel von FPÖ/BZÖ aus der Regierung in die Opposition. Die Zunahme der Anfragen im (untersuchten) Zeitverlauf sowie deren polarisierte Ausrichtung geht des Weiteren mit außerparlamentarischen Entwicklungen einher, allen voran mit der wachsenden öffentlichen und medialen Thematisierung im Zuge von AntiAbschiebeprotesten. In diesem Sinne spiegelt der über das Instrument der Schriftlichen Anfrage geführte parlamentarische Diskurs sowohl innerparlamentarische Konstellationen als auch die Politisierung von Abschiebungen im außerparlamentarischen Raum, d. h. in Gesellschaft und Medien wider.
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Sibel Uranüs
Die vergessene Verantwortung – Folteropfer im österreichischen Asylverfahren
1.
Einleitung
Viele in Österreich ankommende AsylwerberInnen stammen aus krisengeschüttelten Regionen, in denen Gewalt und Folter zum Alltag gehören. Nach ihrer Ankunft kämpfen Schutzsuchende häufig – neben den unmittelbaren Verletzungen – auch mit Traumafolgeerkrankungen, wie etwa posttraumatischen Belastungsstörungen, Angstzuständen, Suizidgedanken und Depressionen. Diese stellen im Asylverfahren eine zunehmende Herausforderung dar, da psychische Erkrankungen die Wahrnehmung der Rechte und Pflichten im Verfahren erheblich beeinträchtigen können. So kann beispielsweise die inkonsistente Wiedergabe der Fluchtgeschichte in der Entscheidung über den Asylstatus bedeutend sein. Sowohl unionsrechtliche als auch internationale Bestimmungen sehen daher vor, dass Opfer von Gewalt und Folter besonders schutzwürdig sind und auf ihre Bedürfnisse im Verfahren besonders Bedacht zu nehmen ist; dies vor dem Hintergrund, dass es für traumatisierte Personen schwieriger ist, der Wahrung ihrer Interessen im Verfahren nachzugehen, als für Gesunde. Konkret sieht die Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU, ABl L 180/60) vor, dass Opfern von Gewalt und Folter besondere Verfahrensgarantien zukommen und betroffenen Personen durch die Mitgliedstaaten entsprechende Unterstützung im Verfahren geleistet werden muss. Um die Schutzbedürftigkeit jedoch frühzeitig zu erkennen und gegebenenfalls mittels Verfahrensgarantien zu wahren, ist es unerlässlich, Mechanismen zur Identifizierung von Folter- bzw. Gewaltopfern im Asylverfahren vorzusehen. In der Ausgestaltung dieser Verfahrensgarantien und Mechanismen zur Erkennung von Betroffenen zeigen sich europaweit uneinheitliche Herangehensweisen. Der österreichische Gesetzgeber hat hierfür § 30 Asylgesetz (BGBl I 2005/100 idF BGBl I 2015/70) geschaffen, der bei Vorliegen eines Verdachts auf eine durch Folter oder durch ein gleichwertiges Ereignis ausgelöste verfahrensrelevante „belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung“ vorsieht, dass der Asylstatus zuerkannt oder das Asylverfahren
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Sibel Uranüs
zugelassen wird, wobei auch im weiteren Lauf des Verfahrens auf die besonderen Bedürfnisse der AslywerberInnen Bedacht zu nehmen ist. Dieser Beitrag widmet sich dem Anwendungsbereich des § 30 AsylG und untersucht, wann, durch wen und wie Folter- bzw. Gewaltopfer im Asylverfahren erkannt werden; diskutiert wird zudem, ob die gegenwärtige Gesetzeslage ausreichend Schutz für die besonders schutzwürdige Gruppe der Folter- bzw. Gewaltopfer im Asylverfahren ermöglicht.
2.
Unionsrecht
Den Rechtsrahmen des gemeinsamen Europäischen Asylsystems bilden die Asylverfahrensrichtlinie, die Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU, ABl L 180/96), die Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU, Abl L 337/9) und die Dublin-IIIVerordnung (VO (EU) 604/2013, ABl L 180/31). Sowohl die VerfahrensRL als auch die AufnahmeRL sehen spezielle Bestimmungen für AsylwerberInnen vor, die aufgrund ihrer besonderen Bedürfnisse außerordentlich schutzbedürftig sind und denen daher besondere Garantien durch die Mitgliedstaaten zu gewährleisten sind. Als AsylwerberInnen, die besondere Verfahrensgarantien benötigen, sind jene zu verstehen, deren Fähigkeit, Rechte wahrzunehmen und Pflichten nachzukommen, aufgrund individueller Umstände eingeschränkt ist (Art. 2 lit d VerfahrensRL). Solche Umstände können etwa „aufgrund ihres Alters, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Ausrichtung, ihrer Geschlechtsidentität, einer Behinderung, einer schweren Erkrankung, einer psychischen Störung oder infolge von Folter, Vergewaltigung oder sonstigen schweren Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt“ vorliegen (Erwägungsgrund 29 der VerfahrensRL). Die Mitgliedstaaten haben innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach Antragstellung zu prüfen, ob der/die AntragstellerIn besondere Verfahrensgarantien benötigt, wobei hierfür kein gesondertes Verwaltungsverfahren einzurichten ist (Art. 24 Abs. 2 VerfahrensRL). Die konkrete Ausgestaltung der Verfahrensgarantien, nämlich die Art und Weise, wie AsylwerberInnen bei der Wahrnehmung von Rechten und Pflichten unterstützt werden sollen, bleibt den Mitgliedstaaten selbst überlassen. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass vergleichbare Bestimmungen in der AufnahmeRL Aufnahmegarantien für Personen mit besonderen Bedürfnissen vorsehen (vgl. Art. 22f AufnahmeRL). So ist beispielsweise Opfern von Folter und Gewalt Zugang zu adäquater medizinischer und psychologischer Behandlung oder Betreuung zu ermöglichen (Art. 25 AufnahmeRL). Der gegenständliche Beitrag befasst sich ausschließlich mit der Umsetzung der Verfahrensgarantien für Opfer von Folter und Gewalt in Österreich. Die Mitgliedstaaten mussten die entsprechenden Bestimmungen bis spätestens 20. 7. 2015 in nationales Recht umsetzen.
Folteropfer im österreichischen Asylverfahren
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Aktuelle Berichte der Europäischen Grundrechteagentur (Fundamental Rights Agency, kurz: FRA) und des International Rehabilitation Council for Torture Victims (IRCT) zeigen, dass die Umsetzung der aus Art. 24 VerfahrensRL erwachsenden Verpflichtung in 13 untersuchten Mitgliedstaaten unzureichend erfolgte (FRA 2017; IRCT 2016). Konkret ist zur effektiven Erfüllung der Verpflichtung nämlich eine systematisierte Untersuchung aller asylwerbenden Personen notwendig. Die untersuchten Mitgliedstaaten führen jedoch die Überprüfung, ob Verfahrensgarantien anzuwenden sind, auf Ad-hoc-Basis durch, wonach erst bei auftretenden Verdachtsmomenten eine Überprüfung erfolgt. Inwiefern die österreichische Rechtslage diese Verpflichtung umgesetzt hat, soll nachstehend untersucht werden.
3.
Nationales Recht
Die im nationalen Recht relevante Schutzbestimmung für Folter- bzw. Gewaltopfer findet sich in § 30 AsylG. Sie sieht vor, dass jenen Personen, welche durch Folter oder ein gleichwertiges Erlebnis an einer belastungsabhängigen krankheitswertigen psychischen Störung leiden, besondere Verfahrensgarantien zukommen. Konkret darf gemäß § 30 AsylG im Zulassungsverfahren keine inhaltliche Abweisung (durch eine negative Status-Entscheidung) des Antrags erfolgen und die Anträge sind daher in der Regel zum Asylverfahren zuzulassen oder – wie in der Praxis eher selten – ihnen inhaltlich durch eine positive StatusEntscheidung stattzugeben (Filzwieser et al. 2016:906). Das Zulassungsverfahren ist dem inhaltlichen (eigentlichen) Asylverfahren vorangestellt und dient im Wesentlichen der Klärung, ob Österreich für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, während im inhaltlichen Asylverfahren der Status der schutzsuchenden Personen ermittelt werden soll. Die Zurückweisung des Antrags aufgrund der Unzuständigkeit Österreichs nach Dublin-III-VO wird durch die Anwendung von § 30 AsylG nicht verhindert, da durch die Harmonisierung der Aufnahmebedingungen und Betreuungsgarantien ein entsprechender Schutz innerhalb der Europäischen Union angenommen wird (vgl. ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 51). Jedoch ist von der Durchführung einer Außerlandesbringung betroffener Personen (vorübergehend) abzusehen, sofern dies eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen würde (Filzwieser et al. 2016:906; Schrefler-König 2016 § 30 Anm. 7). Weiters kann einer Feststellung im Sinne des § 30 AsylG auch bei negativer Entscheidung im Asylverfahren Bedeutung zukommen, wenn über die subsidiäre Schutzberechtigung entschieden wird. Aufgrund der verfahrensrechtlichen Auswirkungen für die asylwerbende Person sowie der Notwendigkeit der medizinischen und psychologischen Betreuung betroffener Personen ist es geboten, eine frühzeitige Identifikation all-
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Sibel Uranüs
fälliger besonderer Bedürfnisse zu ermöglichen. Ferner ist anzumerken, dass der Identifikation und damit einhergehenden Dokumentation von Folter bzw. Gewalt sowohl bei der Aufarbeitung durch (völker-) strafrechtliche Verfolgung als auch bei der Rehabilitation der betroffenen Person und Integration in die Gesellschaft weitreichende Relevanz zukommen kann. Es stellt sich daher die Frage, unter welchen Bedingungen Verfahrensgarantien nach § 30 AsylG zum Tragen kommen und welche Instrumente bestehen, um eine allenfalls verfahrensrelevante „belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung“ zu erkennen und zu dokumentieren.
3.1.
Anwendungsbereich der Verfahrensgarantien
Die Verfahrensgarantien des § 30 AsylG kommen nur dann zur Anwendung, wenn die gesetzlich (wenn auch relative vage) festgelegten Kriterien vorliegen. So muss ein hoher Grad der Wahrscheinlichkeit vorliegen, dass die asylwerbende Person Opfer von Gewalt ist und hierdurch eine belastungsunabhängige krankheitswertige psychische Störung ausgelöst wurde. Eine nähere Definition, wann dieser hohe Grad an Wahrscheinlichkeit gegeben ist, bleibt jedoch offen. Die Erläuterungen sehen hierfür unter Umständen eine Feststellung durch sachverständige ÄrztInnen vor, wonach diese zu beurteilen haben, ob eine verfahrensrelevante psychische Störung mit einer über die normale Wahrscheinlichkeit hinausgehenden Wahrscheinlichkeit vorliegt (vgl. ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 52; Filzwieser et al. 2016:905). Weiters wird nicht jede belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung von der Bestimmung erfasst, sondern vielmehr nur jene, welche durch Folter, Anwendung schwerer Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt oder ein gleichwertiges Ereignis hervorgerufen wurde. Die nicht zu vernachlässigenden und durchaus häufig auftretenden psychischen Erkrankungen infolge der Flucht selbst, der damit einhergehenden Verluste von Familie und gewohnter Lebenssituation oder infolge des Asylverfahrens und der unsicheren Aufenthaltssituation fallen nicht unter § 30 AsylG (Filzwieser et al. 2016:906). Diesen Betroffenen kommt im Verfahren grundsätzlich kein besonderer Schutz zu. In seltenen Fällen kann jedoch bei Entwicklung psychischer Erkrankungen infolge der Flucht oder des Asylverfahrens von der Durchführung einer Außerlandesbringung abgesehen werden, wenn diese eine Verletzung des Art. 3 EMRK befürchten lässt. Eine solche Verantwortung der Vertragsstaaten bei abschiebeschutzrelevanten psychischen Erkrankungen im Sinne des Art. 3 EMRK ist jedoch entsprechend der Judikaturlinie des EGMR an sehr hohe Anforderungen gebunden und in der Praxis daher bislang kaum relevant (im Detail siehe Premissl 2008:54; auch Bezemek 2016:319 und 323).
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Eine belastungsunabhängige krankheitswertige psychische Störung ist darüber hinaus nur dann relevant, wenn sie den/die AsylwerberIn daran (i) hindert, die eigenen Interessen im Verfahren wahrzunehmen oder (ii) für ihn/sie die Gefahr eines Dauerschadens oder von Spätfolgen darstellt. Entscheidend ist daher die Prüfung der Auswirkungen der psychischen Krankheit, die laut Gesetzgeber „im Hinblick auf den Schutzzweck während des Asylverfahrens, [eine] Einschränkung auf die real Schutzbedürftigen erlaubt“ (ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 52). Konkret ist hier zu prüfen, ob die Verfolgung eigener Interessen beeinträchtigt wird oder Spät- bzw. Dauerfolgen zu befürchten sind. Spiegelbildlich erachtet der Gesetzgeber Opfer von Gewalt und Folter, die (noch) keine Auswirkungen nach Z. 1 oder 2 vermuten lassen, demnach nicht als besonders schutzbedürftig. Es stellt sich daher die Frage, ob die Schutzbestimmung in Art. 24 VerfahrensRL ausreichend umgesetzt wurde; denn die VerfahrensRL sieht in ihren Erwägungsgründen vor, dass besondere Verfahrensgarantien unter Umständen all jenen Personen zukommen sollten, die Opfer von Folter, Vergewaltigung oder sonstigen schweren Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt wurden, und nicht nur denjenigen, die infolgedessen eine diagnostizierte psychische Störung aufweisen. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die demonstrative Aufzählung der „u. U. Verfahrensgarantien benötigenden Gruppe“ in den einleitenden Erwägungsgründen der VerfahrensRL angeführt wird und daher Raum zur Diskussion über deren Umsetzungspflicht eröffnet. Richtlinien sind nämlich zwar hinsichtlich der zu erreichenden Ziele für Mitgliedstaaten verbindlich, überlassen ihnen aber bei der Umsetzung in die innerstaatliche Rechtsordnung die Wahl der Form und Mittel selbst (Borchardt 2015:246). Dem Normtext vorangestellten Erwägungsgründen kommt in der Ermittlung des Gesetzgeberwillens eine zentrale Rolle zu, allerdings begründen sie nur dann Rechte und Pflichten, wenn sie auch im verfügenden Teil (den Artikeln der Richtlinie) geregelt sind (vgl. Riesenhuber 2015 § 9 Z 38). Art. 21 AufnahmeRL sieht darüber hinaus eine demonstrative Aufzählung und umfassendere Liste im Zuge der Aufnahme schutzbedürftiger Personen vor (hierzu im Detail Matti 2016:331f.). Ob die Einschränkung des Anwendungsbereichs im Verfahren auf (nur) jene Gewaltopfer mit diagnostizierter belastungsunabhängiger psychischer Störung als unionsrechtskonform zu erachten ist, kann daher angezweifelt werden. Die in Art. 24 der VerfahrensRL vorgesehene Verpflichtung, dass Mitgliedstaaten innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz zu prüfen haben, ob Antragsteller besondere Verfahrensgarantien benötigen, war jedenfalls in die innerstaatliche Rechtsordnung umzusetzen. In den für das österreichische Asylverfahren relevanten Gesetzesbestimmungen wurde kein eigenständiges Prüfverfahren zur Untersuchung des
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(Nicht-)Vorliegens besonderer Bedürfnisse oder der Notwendigkeit von besonderen Verfahrensgarantien eingerichtet, sodass eine solche Feststellung lediglich im Zuge des Ermittlungsverfahrens erfolgen kann. 2007 griff die Europäische Kommission in einem Bericht an den Rat und das Europäische Parlament diesen Mangel an Identifikationsmechanismen auf und äußerte ernsthafte Bedenken, ob und wie Personen mit besonderen Bedürfnissen in Österreich überhaupt erkannt werden können (Europäische Kommission 2007:9). Darüber hinaus hat in diesem Zusammenhang der Menschenrechtsbeirat bereits 2003 auf die Notwendigkeit eines Identifikationsmechanismus hingewiesen und empfohlen, die Feststellung einer Traumatisierung von Amts wegen durchzuführen (Menschenrechtsbeirat im BMI 2003, Empfehlung Nr. 235 [6]). Der Verwaltungsgerichtshof erachtet die Prüfung der Verfahrensgarantien hingegen als mit der Feststellung von besonderen Bedürfnissen (bei der Aufnahme) verknüpft und sieht keine Notwendigkeit eines separaten (Verwaltungs-)Verfahrens „weil (auch) diese Prüfung in vorhandene nationale Verfahren und/oder in die Prüfung nach Art. 22 der RL 2013/33/EU einbezogen werden kann und nicht in Form eines Verwaltungsverfahrens vorgenommen werden muss (Art. 24 Abs. 2 RL 2013/32/EU)“ (VwGH 25. 2. 2016, Ra 2016/19/0007). Es soll daher im nächsten Schritt anhand der besonders schutzwürdigen Gruppe der Folter- und Gewaltopfer untersucht werden, wann, durch wen und wie eine Erkennung in den vorhandenen nationalen Verfahren erfolgen kann.
3.2.
Identifikation von Gewaltopfern
3.2.1. Wann? Die Behörden sind nach den allgemeinen Verwaltungsverfahrensvorschriften verpflichtet, den maßgebenden Sachverhalt festzustellen. Die dazu erforderlichen Feststellungen werden im Zuge des Ermittlungsverfahrens erhoben. Dieses besteht im Wesentlichen aus der Befragung (bei bzw. nach Antragstellung im Zulassungsverfahren), der Einvernahme (das sogenannte Interview im inhaltlichen Verfahren) und weiteren fallspezifisch-relevanten Erhebungen. § 30 AsylG legt nicht fest, wann im Ermittlungsverfahren allfällige Feststellungen erfolgen sollen, allerdings sehen die Materialien vor, dass zur Feststellung, ob eine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung vorliegt und ob sie verfahrensrelevant ist, Sachverständige beigezogen werden können. Die Beiziehung von Sachverständigen ist im Verwaltungsverfahren gemäß § 52 AVG (BGBl 1991/51 idF BGBl 1995/471) in zwei Fällen „notwendig“: wenn die Verwaltungsvorschrift eine solche Befassung Sachverständiger vorsieht (hier nicht gegeben) oder wenn zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts besondere
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Fachkenntnisse notwendig sind und die Behörde über ebendieses Fachwissen nicht verfügt (hier wohl gegeben; im Detail dazu VwGH 27. 11. 1995, 93/10/0209; Hengstschläger und Leeb 2014:240; Kolonovits, Muzak und Stöger 2014:222). Verabsäumt die Behörde in einem solchen Fall die Einholung eines Sachverständigengutachtens, liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel vor (Zahrl 2008:102). Da allerdings, wie zuvor erläutert, keine systematische Prüfung im Gesetz vorgesehen ist, stellt sich die Frage, wann Sachverständige zu einer solchen Beurteilung beigezogen werden. Hierzu sind grundsätzlich drei Szenarien denkbar : 1. AsylwerberInnen ist im Zulassungsverfahren neben den erforderlichen Ermittlungs- und Verfahrensschritten im Zuge der sogenannten „technischen Straße“ eine ärztliche Untersuchung zu ermöglichen (§ 28 Abs. 4 AsylG; ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 50). Im Rahmen dieser fakultativen ärztlichen Untersuchung kann eine Abklärung der psychischen Gesundheit erfolgen. 2. Der/die AsylwerberIn verlangt selbst eine ärztliche Untersuchung bzw. medizinische Unterstützung. 3. Ein Organ der Sicherheitsbehörde oder des Bundesamtes für Fremden- und Asylwesen (BFA) hegt den Verdacht, dass eine psychische Erkrankung infolge einer Gewalttat bzw. Folter vorliegen könnte, und ordnet daher eine medizinisch-sachverständige Abklärung an. Während die Szenarien 1 und 2 einen direkten Kontakt mit ÄrztInnen zur Abklärung der psychischen Gesundheit ermöglichen, eröffnet Szenario 3 weitere Fragestellungen: Im Asylverfahren hat zumindest eine Befragung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes (bei Antragstellung oder im Zulassungsverfahren) sowie eine Einvernahme durch Organe des BFA im inhaltlichen Asylverfahren zu erfolgen (vgl. § 19 AsylG); Ausnahmen gelten für Folgeanträge und minderjährige AsylwerberInnen. Die Befragung dient der Ermittlung der Identität und der Reiseroute, allerdings darf keine Erkundigung zu den Fluchtgründen erfolgen (§ 19 Abs. 1 AsylG). Hintergrund dieser Bestimmung ist, dass Personen, die gerade vor der Staatsmacht des Herkunftsstaates geflohen sind, nicht von uniformierten Beamten zu den Beweggründen ihrer Flucht befragt werden sollen (ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 45 sowie ErläutRV 330 BlgNR 24. GP 20). Diese Befragungen standen in der Vergangenheit vermehrt im Zentrum der Kritik, da durch die hohen Antragszahlen (insbesondere seit dem Frühjahr/ Sommer 2015), die mangelnde Sensibilität der Befragenden, die Mitwirkung ungeeigneter Dolmetscher und den erheblichen Zeitdruck Sorge um die Qualität und Sorgfalt bei der Prüfung der einzelnen Fälle aufkam (vgl. Filzwieser et al. 2016:837). Ungereimtheiten und Widersprüche, welche im Vergleich zwischen ebendieser Erstbefragung und späteren Angaben im Asylverfahren auftreten, werden oftmals als einziges Argument für die Abweisung von Asylan-
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trägen verwendet (Filzwieser et al. 2016:837; dazu auch Schrefler-König 2016 § 19 Anm. 4). Nach der Befragung eröffnen sich seitens der Behörde gemäß § 29 Abs. 3 AsylG verschiedene Handlungsvarianten, wie etwa eine inhaltliche Entscheidung oder aber die Absicht einer Zurückweisung, Abweisung oder die Zulassung zum inhaltlichen Asylverfahren. Zur Wahrung des Parteiengehörs hat die Behörde dem/der AsylwerberIn die beabsichtigte Verfahrensvariante per Verfahrensanordnung mitzuteilen und dem/der Betroffenen in der oben erwähnten Einvernahme die Möglichkeit einzuräumen, weitere Tatsachen oder Beweismittel anzuführen oder vorzulegen (Schrefler-König 2016 § 29 Anm. 23), wobei das Gesetz keine inhaltlichen Anforderungen an die Einvernahme stellt. Selbstverständlich besteht die Möglichkeit, im Zuge der Ermittlungen – soweit erforderlich – weitere Einvernahmen (also vor jener zur Wahrung des Parteiengehörs) bzw. Ermittlungsschritte vorzunehmen (vgl.auch Filzwieser et al. 2016:901). Das Gesetz sieht vor, dass den in der Einvernahme gemachten Angaben „verstärkte Glaubwürdigkeit“ zukommt (siehe § 19 Abs. 4 AsylG). Der Gesetzgeber begründete dies damit, dass sich in der Praxis gezeigt hätte, dass den Angaben im Zulassungsverfahren ein höherer Beweiswert zukomme (ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 45). Nach Ansicht von Schrefler-König geht der Gesetzgeber hier wohl davon aus, dass AsylwerberInnen bei der ersten Gelegenheit, die Gründe für das Verlassen der Heimat näher zu schildern, umfassendere und detailliertere Angaben machen würden (Schrefler-König 2016 § 19 Anm. 8). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR 31. 5. 2005, 1383/ 04, Ovdienko/Finnland; EGMR 10. 10. 2005, 14492/03, Paramsothy/Niederlande) vertritt diese Ansicht und hat posttraumatische Belastungsstörungen, welche durch traumatische Erlebnisse im Herkunftsstaat ausgelöst wurden, als umso unglaubwürdiger bzw. unbeachtlicher erachtet, je später die der Erkrankung zugrunde liegenden Erlebnisse vorgebracht wurden; dies vor dem Hintergrund, dass von AsylwerberInnen erwartet werden könne, dass der traumakausale Sachverhalt schon in einem früheren Verfahrensstadium erwähnt werde (Premissl 2008:54). Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass Gedächtnislücken und verfälschte Erinnerungen typische Begleiterscheinungen eines traumatischen Erlebnisses sind (Mandel und Worm 2007:21), weshalb ersten Befragungen gerade deswegen nicht erhöhte Glaubwürdigkeit zukommen dürfte. Auch dies ist im Lichte der Schutzbestimmung des Art. 24 der AsylverfahrensRL kritisch zu betrachten, denn Abs. 4 sieht vor, dass Mitgliedstaaten sicherzustellen haben, dass der Notwendigkeit besonderer Verfahrensgarantien auch Rechnung getragen wird, wenn diese erst in einer späteren Phase des Verfahrens zutage treten, wobei das Verfahren deshalb nicht notwendigerweise von Anfang an neu durchgeführt werden muss.
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Ferner ist festzustellen, dass, obwohl den Angaben gleich zu Beginn des Asylverfahrens eine erhöhte Wertigkeit in der Beweiswürdigung zugeschrieben wird, das Gesetz hier keine präzisen Verfahrensgarantien oder besondere Fachkunde bzw. Qualifizierung durch die betreffenden Organe vorsieht, weshalb ein starkes Ungleichgewicht zwischen den rechtlichen Konsequenzen der Angaben und den mangelnden Vorkehrungen zum Schutz der AsylwerberInnen zu erkennen ist (dazu auch Filzwieser et al. 2016:837). Mit dem Fremdenrechtsänderungsgesetz 2015 wurde darüber hinaus die Möglichkeit geschaffen, nunmehr bei allen Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes oder Sicherheitsbehörden einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, wonach fortan alle Polizeibeamten einen Antrag aufnehmen und eine entsprechende Befragung durchführen können. In der Praxis stellt ebendies ein großes Problem der Identifizierung von Gewaltopfern dar (IRCT 2016:12). Denn es können sich aus der Unsicherheit der asylwerbenden Person Bedenken hinsichtlich der Haltung der Beamten ihr gegenüber ergeben, wodurch die Gefahr besteht, dass der relevante Sachverhalt nicht ans Licht kommt. Die Offenlegung der erlebten Erfahrungen erfordert zumindest eine grundlegende Vertrauensbasis; es kann daher nicht erwartet werden, dass diese Erfahrungen gegenüber unbekannten (etwa uniformierten) Beamten dargelegt werden (vgl. Ammer et al. 2013:186ff). AsylwerberInnen treffen in Befragung und Einvernahme allerdings Mitwirkungspflichten, wonach sie zur Erforschung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen haben. Diese leiten sich einerseits aus dem Recht auf Parteiengehör und andererseits aus der Pflicht, alle zur Verteidigung dienlichen Tatsachen und Beweismittel vorzubringen, ab (statt vieler Hengstschläger und Leeb 2014:458; vgl. § 41 Abs. 1 Z 2 VStG und § 42 Abs. 1 Z 2 VStG). Die konkreten Mitwirkungspflichten finden sich in §§ 15 und 15a AsylG sowie § 13 BFA-VG und sehen beispielsweise ein persönliches und rechtzeitiges Erscheinen bei Untersuchungen des/der Sachverständigen vor. Eine Verletzung dieser Pflichten kann gemäß § 24 Abs. 1 Z 1 und Z 3 AsylG zur Einstellung des Verfahrens führen. Zudem sieht § 15 Abs. 2 AsylG eine erhöhte Mitwirkungspflicht vor, da die Feststellung des Sachverhalts nur durch Mitwirkung der asylwerbenden Person möglich ist (vgl. Filzwieser et al. 2016:790; deutlich auch in Kolonovits, Muzak und Stöger 2014:203). Bei Betrachtung dieser Vorgaben erscheint zunächst unklar, wann sich der Verdacht des Vorliegens einer Gewalttat oder Folter entsprechend § 30 AsylG überhaupt ergeben soll, wenn die Befragung keine Untersuchung der näheren Umstände der Flucht oder des persönlichen bzw. gesundheitlichen Befindens der asylwerbenden Person beinhalten darf. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass es sich hierbei für die Schutzsuchenden oftmals um den ersten Kontakt mit den österreichischen Behörden handelt. Wenn überhaupt, ergibt sich daher der Verdacht erst in der Einvernahme aufgrund des eigenen Vorbringens des/der
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AsylwerberIn, wobei in weiterer Folge dem Organ die Beurteilung obliegt, ob den Aussagen ein ausreichender Wahrheitsgehalt zugeschrieben werden kann, ob ein entsprechender Krankheitswert vorliegt und schließlich, ob medizinische Sachverständige hinzugezogen werden sollen. Den Beamten wird daher zugemutet, ein entsprechendes Krankheitsbild zu erkennen, zu beurteilen und die verfahrensrelevanten Maßnahmen zu setzen. Zweifellos erfordert dies eine entsprechende Ausbildung und Sensibilisierung. Auch die Rechtsprechung hat sich des Problems bereits angenommen und in der Entscheidung des AsylGH vom 10. 9. 2010, A2 316.668-1/2008/6E, festgestellt, dass „die allein auf einen Augenschein im Rahmen der Einvernahme gegründete Einschätzung der Behörde […] schon mangels medizinischer Fachkenntnis des betreffenden Organwalters nicht geeignet [ist], die in Bezug auf den psychischen Gesundheitszustand getroffenen Feststellungen schlüssig zu begründen.“ Zusammenfassend lässt sich daher nicht feststellen, in welchem Verfahrensschritt ein allfälliges medizinisches Sachverständigengutachten hinzugezogen wird, allerdings wird dies wohl in der Regel erst nach der Einvernahme erfolgen. Ferner obliegt es dem Ermessen der Behörde, ob sie über die notwendige Fachkenntnis verfügt oder ob zur Erforschung des materiellen Sachverhalts besonderes Fachwissen durch Beiziehung medizinischer Sachverständiger erforderlich ist (vgl. Attlmayr 1997:103). Es besteht demnach kein Anspruch auf Einholung eines Gutachtens, sondern es entscheidet die Behörde über dessen Notwendigkeit (Hengstschläger und Leeb 2014:240). 3.2.2. Durch wen? Als für die Feststellung einer belastungsabhängigen krankheitswertigen psychischen Störung geeignete Sachverständige erachtet der Gesetzgeber FachärztInnen der Psychiatrie, der Psychiatrie-Neurologie oder Neurologie-Psychiatrie sowie praktische ÄrztInnen mit dem „PSY III-Diplom“ (siehe ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 52). Aufgrund der lediglich demonstrativen Aufzählung in den Materialien ist jedoch davon auszugehen, dass auch andere ÄrztInnen zur Beurteilung herangezogen werden können, sofern sie die entsprechende Qualifikation und das entsprechende Fachwissen vorweisen können. Ein psychotherapeutisches Gutachten ist jedoch, auch wenn ein solches durchaus im weiteren Verfahren als Beweismittel relevant sein kann, zur Identifikation von Gewaltopfern nicht ausreichend. Da das Vorliegen einer belastungsabhängigen krankheitswertigen psychischen Störung wohl nur in Einzelfällen sofort feststellbar ist und GutachterInnen in ihren zeitlichen Möglichkeiten sehr eingeschränkt sind, ist in der Regel nur eine Wahrscheinlichkeitsprognose durchführbar. Konkret ist bei der Beurteilung des Krankheitswerts und der Auswirkungen auch insbesondere auf die
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Glaubwürdigkeit des/der Betroffenen abzustellen, wobei sachverständigen ÄrztInnen eine möglichst breite Beurteilungsgrundlage durch die Behörde einzuräumen ist. Darüber hinaus soll die Diagnose nicht nur die Aufzählung bestimmter Symptome enthalten, sondern insbesondere deren Auswirkungen auf das weitere Verfahren beurteilen. Inhaltlich sehen die Erläuterungen allerdings vor, dass keinesfalls „eine Bewertung von Gegebenheiten, Situationen, Umständen, etc. des Herkunftsstaates […] etwaige Folgen (fehlende Behandlungsmöglichkeiten etc.) für den Asylwerber im Falle der Ausweisung“ aufzunehmen sei und diese Beurteilung nur den Behörden obliegt (zum Ganzen ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 52). 3.2.3. Wie? In Anbetracht der Tragweite eines Gutachtens über das (Nicht-)Vorliegen einer belastungsabhängigen krankheitswertigen psychischen Störung soll nun untersucht werden, welche Anforderungen medizinische Sachverständigengutachten erfüllen müssen. Die allgemeinen Verwaltungsverfahrensvorschriften und auch die asylrechtlichen Bestimmungen sehen keine inhaltlichen oder formellen Anforderungen an Sachverständigengutachten vor ; diese ergeben sich vorwiegend aus ständiger Rechtsprechung und dem Ärztegesetz (kurz: ÄrzteG; BGBl I 1998/169). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs besteht ein schlüssiges und nachvollziehbares Gutachten grundsätzlich aus zwei Teilen: dem Befund und dem eigentlichen Gutachten (im engeren Sinne). Konkret behandelt der Befund die bekannten bzw. erhobenen Tatsachen sowie die Angabe, wie diese beschafft wurden, und das Gutachten die aufgrund des besonderen Fachwissens und der Erfahrung gezogenen Schlussfolgerungen über das (Nicht-)Vorliegen entscheidungsrelevanter Umstände. Der Befund bildet demnach die Grundlage, auf welcher die Schlussfolgerungen im Gutachten gründen (vgl. zum Ganzen Zahrl 2008:105; aber auch Emberger in Emberger und Wallner 2008:269; VwGH 4. 4. 2003, 2001/06/0115; VwGH 17. 2. 1992, 91/15/0101). Nach § 2 Abs. 3 ÄrzteG ist jede zur selbständigen Ausübung des Arztberufs berechtigte Person befugt, ärztliche Zeugnisse und Gutachten auszustellen. Entsprechend § 55 ÄrzteG dürfen ÄrztInnen medizinische Zeugnisse (gilt gleichermaßen für Gutachten, vgl. Emberger in Emberger und Wallner 2008:268) nur nach gewissenhafter ärztlicher Untersuchung, genauer Erhebung der im Zeugnis zu bestätigenden Tatsachen und nach bestem Wissen und Gewissen erstellen. Im Unterschied zum ärztlichen Zeugnis enthält ein Gutachten nicht nur Wahrnehmungen, sondern aus dem Befund gezogene Schlussfolgerungen (Wallner 2011:135). In wenigen Ausnahmefällen kann es auch ausreichend sein, eine Stellungnahme und Begutachtung „schematisiert zu erstellen“;
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so etwa formularmäßige verkehrspsychologische Gutachten (Kröll 2015:1322; vgl. Saurma 2014:6). Davon zu unterscheiden sind „gutachterliche Stellungnahmen“: Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um Kurzgutachten, die die Tatsachenfeststellungen und Schlussfolgerungen – wenn auch nur kurz – darlegen (Kröll 2015:1323). Da nach § 30 AsylG festzustellen ist, ob sich die psychische Störung auf das Verfahren auswirkt, ist jedenfalls ein Gutachten erforderlich und ein ärztliches Zeugnis nicht ausreichend. Darüber hinausgehende inhaltliche oder formelle Anforderungen sind weder im Gesetz noch durch ständige Rechtsprechung definiert. Es bestehen auch keine in der Praxis angewandten „soft law“-Standards oder Richtlinien des BMG bzw. der Österreichischen Ärztekammer, die ein einheitliches Vorgehen bei der Erstellung von psychiatrischen Gutachten im Asylverfahren vorsehen. Gleichwohl bestehen diverse Richtlinien des BMG für die Erstellung von psychologischen bzw. psychotherapeutischen Gutachten (Ammer et al. 2013:226). Neben den „äußeren“ Anforderungen haben sich in Bezug auf die inhaltliche Qualität allgemein anerkannte Standards bzw. Voraussetzungen für ein rechtserhebliches Gutachten entwickelt (Jakober 2005:155). Eingangs sei auf die fachliche Kompetenz der GutachterInnen zu verweisen, die sich aus der beruflichen Qualifikation und der Erfahrung ergibt. Es ist daher für die gegenständlichen Ausführungen grundsätzlich irrelevant, ob es sich um Amtssachverständige oder nichtamtliche Sachverständige handelt, sofern die Fachkompetenz gegeben ist. Zudem ist stets Objektivität zu wahren, wonach die Fachauskunft neutral und ohne Befangenheit zu erfolgen hat. Diese ist auch bei Privatgutachten stets zu wahren, denn überschießendes Engagement (beispielsweise durch rechtliche Bewertungen oder Kritik der politischen oder rechtlichen Lage) oder persönliche Identifikation mit der begutachteten Person mindert den rechtlichen Wert des Gutachtens. ÄrztInnen dürfen sich demnach keine rechtliche Bewertung des Falls anmaßen, obwohl sie verfahrensrelevante Tatsachen und deren Folgen befunden müssen, was durchaus als Spannungsfeld und Herausforderung für Gutachter angesehen werden kann. Im Befund haben die GutachterInnen die vollständige Tatsachengrundlage wiederzugeben, welche den maßgeblichen Sachverhalt für ihre Befundung darstellt. Konkret beinhaltet dies alle Vorbefunde, alle schriftlichen Unterlagen des bisherigen Verfahrens sowie genaue Angaben zur Art und Methode der eigenen Befunderhebung (vgl. zum Ganzen Jakober 2005:155). Im Zuge der Analyse der erhobenen Aussagen haben GutachterInnen die Glaubhaftigkeit zu prüfen. Auch wenn Sachverständige aufgrund des besonderen Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt/Ärztin und PatientIn grundsätzlich von der Wahrheit der Aussagen ausgehen dürfen, haben sie gegebenenfalls Unstimmigkeiten und Wiedersprüchen nachzugehen und diese auch kritisch zu hinterfragen. Auf Basis dieser Feststellungen ist ein schlüssiges Ergebnis – also
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das Vorliegen bzw. Nicht-Vorliegen einer psychischen Krankheit – zu formulieren. Dieses hat in sich schlüssig und nachvollziehbar zu sein, wobei insbesondere die Diagnosemethode (beispielsweise konkretes Diagnosesystem zur Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung) und eine allfällige Differentialdiagnose darzulegen sind. Schließlich ist eine Beurteilung und Prognose zu erstellen, die den zu erwartenden Krankheitsverlauf, mögliche Therapiemöglichkeiten bzw. Erfolge, aber auch gesundheitliche Folgen prognostizieren soll. Wesentlich ist, dass keine Feststellungen zu den tatsächlichen Umständen gemacht werden können (beispielsweise Folter durch Staatsgewalt), sondern es ist entscheidend, wie die Person ein solches Erlebnis verarbeitet und ob dies einen Krankheitswert erkennen lässt oder nicht. Darüber hinaus hat entsprechend § 30 AsylG eine Beurteilung zu erfolgen, ob die Person ihre Rechte im Verfahren wahrnehmen wird können und ob Spät- bzw. Dauerfolgen zu erwarten sind. Das medizinische Gutachten dient daher nicht der Feststellung, ob und wie eine Person Opfer von Gewalt wurde, sondern vielmehr der Entscheidung, ob ein beachtlicher Krankheitswert vorliegt (vgl. zum Ganzen Jakober 2005:152ff.; ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 52). a) Dokumentationspflichten Neben der Erstellung einer Verschriftlichung des Gutachtens entsprechend den obigen Anforderungen treffen medizinische Sachverständige auch Dokumentationspflichten, die sich aus dem ÄrzteG ergeben. Ärzte sind nach § 51 Abs. 1 ÄrzteG gesetzlich verpflichtet, jede Beratung bzw. Behandlung zu dokumentieren, was insbesondere den Zustand der Person bei Übernahme der Beratung oder Behandlung, die Vorgeschichte der Erkrankung, die Diagnose, den Krankheitsverlauf sowie Art und Umfang der beratenden, diagnostischen oder therapeutischen Leistungen beinhaltet (zum Ganzen Jahnel und Zahrl 2008:47; Kopetzki 2008:40). Darüber hinaus stellt die Dokumentation eines der wichtigsten und effektivsten Mittel der Folterbekämpfung bzw. Prävention dar. Dies aus der logischen Konsequenz, dass der Dokumentation von schwerwiegenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit besondere mediale und politische Aufmerksamkeit zukommt. So kann richtige und umfassende Dokumentation zum Aufbau von politischem Druck genutzt und effektiv eingesetzt werden. Außerdem kann die strafrechtliche Verfolgung der TäterInnen präventive Wirkung entfalten, aber auch zur Rehabilitation der Opfer sowie der gewaltgeprägten Gesellschaft beitragen (vgl. Mendel und Worm 2007:18). Ergänzend ist festzuhalten, dass ÄrztInnen und ihre Hilfspersonen zur Verschwiegenheit über alle ihnen in Ausübung ihres Berufs anvertrauten oder bekannt gewordenen Geheimnisse gemäß Art. 54 ÄrzteG verpflichtet sind. Die Verschwiegenheitspflicht darf nur unter besonderen, gesetzlich vorgesehenen
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Ausnahmen durchbrochen werden. Fallaktuell wäre eine Entbindung durch Betroffene oder aber – so wie in der Judikatur anerkannt – eine Durchbrechung aufgrund eines höherwertigeren Interesses der Rechtspflege an der Offenbarung des Geheimnisses (Leitner in Emberger und Wallner 2008:265) denkbar. b) Internationale Standards zur Identifikation Aufgrund der uneinheitlichen Vorgehensweisen von Staaten in der Erkennung und Dokumentation von Gewalt und Folter wurde im Jahr 2000 nach interdisziplinärer Zusammenarbeit von Experten das sogenannte Istanbul-Protokoll verabschiedet und durch das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte und die UN-Generalversammlung angenommen. Es legt Mindeststandards zum systematisierten Vorgehen bei der Untersuchung und Dokumentation von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe fest und enthält Empfehlungen, Leitfäden, Untersuchungsmethoden und allgemeine Standards im Umgang mit Opfern von Gewalt, welche aufgrund der praxisnahen Ausgestaltung des Dokuments insbesondere für ÄrztInnen, JuristInnen und Behörden als Arbeitsunterlage dient. Obwohl in der Asylverfahrensrichtlinie (Erwägungsgrund 31) und auch in unionsrechtlicher Rechtsprechung auf das Istanbul-Protokoll verwiesen wird, fanden die Standards bislang keine Würdigung im österreichischen Asylrecht. Es handelt sich hierbei um keinen völkerrechtlichen Vertrag, sondern um ein Handbuch, welches als „soft law“ zwar Mindeststandards festlegt, jedoch keinerlei rechtliche Bindungswirkung entfaltet. Nichtsdestotrotz eröffnet es die Möglichkeit einer Umsetzung in die nationale Rechtsordnung oder auch die Implementierung in der Praxis. Auch wenn es in der Praxis noch relativ unbekannt ist, kann die komplementäre Anwendung des Istanbul-Protokolls durchaus sinnvoll sein (Frewer et al. 2009:24). Das Dokument selbst ist nicht bloß auf Dokumentationspflichten im Asylverfahren ausgelegt, sondern umfasst neben einer Einführung in allgemeine menschenrechtliche Grundlagen und Ausführungen zum Folterverbot insbesondere Vorlagen für rechtliche Beurteilungen, medizinische Untersuchungen und die Führung von Interviews mit Gewaltopfern.
4.
Schlussfolgerungen
Die obigen Ausführungen zeigen auf, dass in Österreich kein systematischer Identifikationsmechanismus zur Erkennung von AsylwerberInnen mit besonderen Bedürfnissen und deren allenfalls notwendigen Verfahrensgarantien vorhanden ist. Vor dem Hintergrund, dass die relevante Bestimmung in Art. 24 der VerfahrensRL eine Überprüfung (aller) AntragstellerInnen vorsieht und nicht nur jener, die einen (glaubhaften) Verdacht auslösen, erscheint die Ad-hoc-
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Überprüfung bei entsprechenden (für die Behörde glaubhaften) Verdachtsmomenten nicht ausreichend, um eine Identifikation zu gewährleisten. Darüber hinaus ist die meines Erachtens überschießende Eingrenzung des Anwendungsbereichs der Verfahrensgarantien auf Personen, die an einer belastungsabhängigen krankheitswertigen psychischen Störung infolge von Gewalt oder Folter leiden, nicht mit den Vorgaben der Richtlinie in Einklang zu bringen. Es ist daher anzuzweifeln, dass Österreich der Verantwortung, Personen mit besonderen Bedürfnissen – insbesondere Opfern von Gewalt und Folter – besonderen Schutz im Verfahren zu gewährleisten, ausreichend nachkommt. Auch wenn die unionsrechtlichen Bestimmungen vorsehen, dass zur Erkennung der besonderen Bedürfnisse und der Notwendigkeit von Verfahrensgarantien kein gesondertes Verwaltungsverfahren erforderlich ist, so ist trotzdem sicherzustellen, dass eine Prüfung entsprechend Art. 24 VerfahrensRL durchgeführt wird, um ein unionsrechtskonformes und faires Asylverfahren sicherzustellen. Wenngleich die Einrichtung eines gesonderten Verwaltungsverfahrens als Identifikationsmechanismus für AsylwerberInnen den Vorteil eines Rechtsschutzes gegen die Beurteilung ihrer Bedürfnisse (in Verfahren) bieten würde, ist auch eine effektivere Einbettung in das Ermittlungsverfahren möglich. So wäre beispielsweise eine zwingend vorgesehene medizinische Begutachtung im Zuge der sogenannten „technischen Straße“ denkbar. Es ist zu betonen, dass dies nicht bedeuten soll, dass Österreich nunmehr alle asylwerbenden Personen mit psychischen Störungen infolge von Gewalt aufzunehmen hat, sondern vielmehr aufzeigen soll, dass ebendiesen durch Zusicherung von Verfahrensgarantien zumindest die Möglichkeit der Wahrnehmung ihrer Rechte im Verfahren gewährleistet werden muss und zu diesem Zweck ein fachgerechtes medizinisches Gutachten unerlässlich ist. Eine einheitliche Methodik in Begutachtung und Dokumentation erscheint darüber hinaus sinnvoll, um die Qualität der Gutachten für die Rechtsunterworfenen zu wahren.
Literatur Ammer, Margi/Kronsteiner, Ruth/Schaffler, Yvonne/Kurz, Barbara/Kremla, Marion 2013: Krieg und Folter im Asylverfahren, Wien, Graz. Amnesty International 2014: Folter 2014. 30 Jahre gebrochene Versprechen. https://www. amnesty.at/de/view/files/download/showDownload/?tool=12& feld=download& sprach _connect=22 (abgerufen am 15. 9. 2016). Attlmayr, Martin 1997: Das Recht des Sachverständigen im Verwaltungsverfahren, Wien. Bachmann, Susanne/Baumgartner, Gerhard/Feik, Rudolf/Fuchs, Claudia/Giese, Karim/ Jahnel, Dietmar/Lienbacher, Georg 2014: Besonderes Verwaltungsrecht, Wien. Bezemek, Christoph 2016: Grundrechte, Wien. Borchardt, Klaus-Dieter 2015: Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, Wien.
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Sibel Uranüs
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Folteropfer im österreichischen Asylverfahren
87
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Gesundheit und Pflege
Ingrid Jez
Die Impfpflicht in Zeiten der Migration – eine bipolare Patientin?
A.
Einleitung und Problemstellung „Die Gelegenheit, aus fernen Ländern Ansteckungsstoffe zu bekommen, steigt mit der heute sich ständig vermindernden Reisezeit in der Welt und der Zunahme des Reiseverkehrs […].“
Was wie ein Beitrag zur aktuellen Debatte um die Einschleppung von Krankheiten durch Asylwerbende anmutet, ist de facto Stimmungsbild aus Österreich im Jahre 1948 (AB 651 BlgNR 5. GP 1). Die damaligen Befürchtungen bezogen sich vor allem auf die mögliche Einschleppung von ansteckenden Krankheiten durch die sogenannten „Alliierten“ (AB 651 BlgNR 5. GP 1). Diese konnten nicht ohne Weiteres österreichischen Gesetzen unterworfen werden und so wurde letztlich die Impfpflicht gegen Pocken (Bundesgesetz über die Schutzimpfung gegen Pocken [Blattern], BGBl 1948/156) wiedereingeführt bzw. mehr oder weniger nach Ende des Zweiten Weltkrieges beibehalten (RV 618 BlgNR 5. GP Allg Erläut). Aktuell wird vielfach befürchtet, geflüchtete Personen, die Österreich durchqueren oder hier um Asyl ansuchen, könnten ansteckende Krankheiten einschleppen. Am Beispiel Syriens wird deutlich, dass im Zuge von Kriegen oft auch ganze Gesundheitssysteme vernichtet werden. In Syrien etwa betrug die Impfquote im Jahr 2010 noch 95, 2013 nur noch 45 %. Asylwerbende Personen haben bei ihrer Ankunft in Österreich oft keinerlei Dokumente bei sich, die über den jeweiligen Impfstatus Aufschluss geben könnten. Im Zusammenspiel mit der immer „impfmüder“ werdenden österreichischen Bevölkerung wird so immer wieder die Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht für Asylwerberinnen und Asylwerber diskutiert. Ob eine solche Maßnahme sinnvoll wäre, wie sie gegebenenfalls umgesetzt werden könnte und wie sie in grundrechtlicher Hinsicht zu bewerten ist, wird im folgenden Beitrag beispielhaft anhand der Masern untersucht.
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B.
Ingrid Jez
Epidemiologie
Eine der derzeit gefährlichsten und infektiösesten Krankheiten sind die Masern. Aktuell wurden nach Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit von 1. Jänner bis 26. August 2015 in Österreich 304 Masernfälle gemeldet; 16 wurden aus dem Ausland importiert: acht aus Deutschland, drei aus Bosnien-Herzegowina und je ein Fall aus Indien, Ungarn, Rumänien, Spanien und Frankreich. Seit 27. August 2015 gab es keine neuen bestätigten Fälle. 71 % der betroffenen Personen waren ungeimpft, bei 20 % war der Impfstatus nicht bekannt (vgl. zum Ganzen: BMG 2016). Das Masernvirus (rubeola) verursacht eine akute und hochinfektiöse Kinderkrankheit, die sich in laufender Nase, geröteten Augen, Husten und Fieber bemerkbar macht. Das Virus wird über die Luft auf Nase und Rachen übertragen und führt binnen kürzester Zeit zu klinischen Symptomen. Als Folge der Erkrankung kann eine Reihe von Komplikationen auftreten: Mittelohrentzündung, Lungenentzündung und in wenigen Fällen Masernenzephalomyelitis. Letztere kann zu neurologischen Störungen und einer Form von Epilepsie führen und endet in rund 20 % der Fälle tödlich (Brock 1997:904ff). Zuletzt wurde entdeckt, dass die Erkrankung sogenannte „Immun-Amnesien“ auslöst. Dies führt dazu, dass die Immunabwehr des Körpers gegenüber unterschiedlichsten Krankheitserregern unterdrückt wird. Auch Jahre nach der Ansteckung mit den Masern können Erkrankungen auftreten, deren Ausbrüche letztlich auf eine längst überstandene Maserninfektion zurückzuführen sind. Die Anzahl aller auf diese Art hervorgerufenen Erkrankungen und Todesfälle ist derzeit nicht abschätzbar (zum Ganzen Mina et al. 2015:694). Für die Immunisierung durch Impfung werden im Falle der Masern abgeschwächte Viren verwendet. Derzeit empfiehlt der österreichische Impfplan, die beiden Impfungen gegen Masern, Mumps und Röteln zwischen dem elften Lebensmonat und dem zweiten Lebensjahr mit einem Abstand von vier Wochen vornehmen zu lassen. Als Nebenwirkung kann es vor allem zu den nicht ansteckenden „Impf-Masern“ kommen (BMG 2016). Von Herden-Immunität wird gesprochen, wenn eine Gruppe von Menschen gegen ein gewisses Pathogen resistent ist, da ein großer Teil der Gruppe immun gegen den Erreger ist (z. B. durch Schutzimpfung). Um die Masern an ihrer Ausbreitung zu hindern, ist eine Herden-Immunität von 95 % notwendig (Heissenberger 2016: 56).
Die Impfpflicht in Zeiten der Migration – eine bipolare Patientin?
C.
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Geltende Rechtslage
Seit Aufhebung der Pockenimpfpflicht im Jahre 1980 (durch BGBl 1980/583) besteht in Österreich – zumindest auf den ersten Blick – keine allgemeine Impfpflicht mehr (Langbauer 2010:37 ff). Gegenwärtig gibt es in Österreich als Richtschnur den zuvor erwähnten Impfplan sowie diverse Impfempfehlungen, z. B. „Impfungen für MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens“ (WiedermannSchmidt et al. 2012) vom Bundesministerium für Gesundheit; rechtlich bindend wirken diese aber nicht (Langbauer 2010:43ff. [48]). Motivierend für die Bevölkerung soll weiters das Österreichische Impfkonzept wirken, das kostenlose Impfungen bis zum 15. Lebensjahr vorsieht; ein weiteres Instrument ist der Mutter-Kind-Pass (Kunze 2010:9). Rechtlich bindende Grundlagen finden sich im Bundesgesetz über die Entschädigung für Impfschäden – Impfschadengesetz und in der Verordnung über empfohlene Impfungen 2006 (BGBl 1973/371 i. d. F BGBl I 2013/71 und BGBl 2006/526) die in Ausführung des § 1 b Abs. 2 Impfschadengesetz von der Bundesministerin für Gesundheit (BMG) erlassen wird. Da es stark vom „Aufopferungsmotiv“ geprägt wird, kann die BMG in der entsprechenden Verordnung jene Impfungen bestimmen, die im Falle des Auftretens von Nebenwirkungen staatliche Entschädigung im Sinne des § 2ff. Impfschadengesetz nach sich ziehen sollen (Langbauer 2010:44). Folgen von Schutzimpfungen, die primär dem eigenen Interesse dienen und nicht der Allgemeinheit zugutekommen (z. B. Schutz gegen Tropenrisiken), ziehen nach Impfschadengesetz keine Ansprüche nach sich. Eine weitere rechtlich bindende Grundlage ist § 17 Abs. 3 und 4 Epidemiegesetz 1950 – EpidemieG (BGBl 1950/186 idF BGBl I 2013/8). Unter dem Titel „Vorkehrungen zur Verhütung und Bekämpfung anzeigepflichtiger Krankheiten“ ist vorgesehen, dass die jeweils zuständige Bezirksverwaltungsbehörde (BVB) in gewissen Fällen Schutzimpfungen anordnen kann. Da Masern nach § 1 Abs. 1 Z 1 EpidemieG zu den anzeigepflichtigen Krankheiten zählen, ist wohl auch die Schutzimpfung dagegen von § 17 Abs. 4 erfasst.
D.
Welche Grundrechte können allenfalls von der Einführung einer Impfpflicht betroffen sein?
Im Falle der Einführung einer Impfpflicht wäre wohl vor allem die physische Integrität jener Personen betroffen, die sich einem solchen Eingriff unterwerfen müssten. Folgende Grundrechte sind deshalb einer näheren Prüfung zu unterziehen:
94 I.
Ingrid Jez
Das Recht auf Leben
Die Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK steht in Österreich im Verfassungsrang. Ihr Art. 2 schützt das Recht auf Leben. Er umfasst weder bestimmte Lebensbedingungen oder Lebensqualitäten, noch besteht eine Pflicht zu(m) Leben (Kopetzki 1995:401). Auslegungen, die aus Art. 2 auch ein Recht auf physische Integrität ableiten, sind nach der herrschenden Lehre kritisch zu hinterfragen. Nichtsdestotrotz folgen aus Art. 2 gewisse positive Schutzpflichten des jeweiligen Staates (Kopetzki 1995:401). „Gewichtige potentielle Lebensbedrohungen“, die von staatlicher Seite nicht verhindert werden, können durchaus Eingriffe in Art. 2 darstellen (Kopetzki 2002 Rz 20ff.). Eine Verletzung des Schutzbereichs wäre etwa dann gegeben, wenn im Falle lebensgefährlicher Epidemien oder Pandemien nichts von staatlicher Seite unternommen würde, um das Leben der Staatsbürger und Staatsbürgerinnen zu schützen. Zu fragen ist, ob staatliche Impfprogramme selbst solch „gewichtige potentielle Lebensbedrohungen“ darstellen können – etwa wenn es in ihrer Folge zu schwerwiegenden Zwischenfällen kommt. Trotz einiger impfassoziierter Todesfälle wurde von der Europäischen Kommission für Menschenrechte dann keine Verletzung von Art. 2 angenommen, wenn ausreichende staatliche Vorkehrungen getroffen worden waren, um solche Zwischenfälle zu minimieren (EKMR, Appl. 7154/75, DR 14, 31). Diese Vorkehrungen waren im Falle Großbritanniens: Einsatz eines Expertenrats, Vorgabe genauer Anamnese- und Berichts-Richtlinien an bzw. Bereitstellen von Literatur und informativen Rundschreiben für alle impfenden Ärzte und Ärztinnen, Überarbeitung der ImpfSchemata, Kontrolle von Produktion und Distribution, Erstellung strenger Zulassungskriterien unter Einbeziehung des Expertenrats sowie Einrichtung eines Sub-Komitees zur Sammlung und Auswertung schwerer Impfreaktionen in Verbindung mit Berichtsaufrufen an alle impfenden Ärzte und Ärztinnen. Wollte Österreich eine allgemeine Impfpflicht einführen, wären die staatlichen Vorkehrungen wohl ebenfalls als ausreichend zu bewerten, um dem Staat keine Eingriffe in das Recht auf Leben seiner Bürger und Bürgerinnen vorwerfen zu können – selbst wenn Impfzwischenfälle naturgemäß nicht ausgeschlossen werden können. Das Impfschadengesetz, das Arzneimittelgesetz – AMG (BGBl 1983/185 idF BGBl I 2013/162), welches etwa in § 26 umfassende Qualitätssicherungsnormen hinsichtlich der Impfstoffe bereitstellt, und die Tatsache, dass durch Beiziehung von Beiräten auch in Österreich stetig daran gearbeitet wird, Impfzwischenfälle zu vermeiden bzw. zu minimieren, ließen eine Verletzung von Art. 2 EMRK aus heutiger Sicht wohl nicht befürchten.
Die Impfpflicht in Zeiten der Migration – eine bipolare Patientin?
II.
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Das Recht, keiner Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden
Das in Art. 3 EMRK statuierte, absolut wirkende Folterverbot schützt die physische und psychische Integrität von Menschen, wenn der Eingriff mit einem „Mindestmaß an Schwere“ verbunden ist (Mayer et al. 2015 Rz 1394). Da dieses Grundrecht u. a. in Krisensituationen an Relevanz gewinnt, hat der Staat im Falle des Auftretens von gefährlichen Epidemien oder Pandemien für den Schutz seiner Bevölkerung zu sorgen (Tretter 2011 Rz 47). Dementsprechend wird Art. 3 auch Gewährleistungscharakter zugesprochen (Mayer et al. 2015 Rz 1395). Hinsichtlich des gegenständlichen Themas bedeutet dies, dass der Staat eher durch Nicht-Vorsehen als durch Vorsehen einer Impfpflicht Gefahr läuft, Art. 3 EMRK zu verletzen.
III.
Das Recht auf Privatleben
a)
Was ist vom Schutzbereich umfasst?
In Österreich ergibt sich der Schutz der körperlichen Integrität, abgesehen vom oben Dargestellten, vor allem aus Art. 8 EMRK. Die physische Integrität wird durch Eingriffe am oder in den Körper berührt – unabhängig davon, ob sie als therapeutisch, diagnostisch, invasiv/nicht-invasiv, eigennützig/fremdnützig zu qualifizieren sind (Wiederin 2002 Rz 34). Der EGMR sprach im Fall einer ohne Einwilligung vorgenommenen Impfung gegen Diphterie aus, dass die körperliche Integrität die intimsten Bereiche des Privatlebens betrifft und daher jede zwangsweise medizinische Intervention, mag sie auch noch so minimal sein, das Recht auf Privatleben berührt (EGMR 24. 9. 2012, 24429/03, Solomakhin/Ukraine); dies hatte der EGMR schon zuvor, eine unfreiwillige Impfung gegen Kinderlähmung betreffend, ausgesprochen (EGMR 9. 7. 2002, 42197/98, Salvetti/Italy). Schutzimpfungen betreffen also zwangsläufig die körperliche Integrität und stellen unter Umständen Eingriffe in das entsprechende Grundrecht dar (Wiederin 2002 Rz 40). b)
Wo fängt ein Eingriff an?
Eine fachgerecht durchgeführte Heilbehandlung, die von der Zustimmung der betroffenen Person gedeckt ist, greift nicht in deren Grundrechte ein. Im Unterschied dazu stellen Behandlungen ohne Zustimmung Eingriffe in das Recht auf Privatleben dar ; dies macht eine Verhältnismäßigkeitsprüfung notwendig (dazu etwa Kopetzki 2012 Rz 590f.). Aus diesem Grund ist entscheidend, ob eine
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Ingrid Jez
Heilbehandlung durch Zwang oder durch Zustimmung erwirkt wird. Im Verwaltungsverfahren wird der Begriff „Zwang“ oft so verwendet, dass eine Rechtspflicht durchsetzbar, vollstreckbar ist. Anschaulich wird dies etwa am Beispiel der in § 7 Verwaltungsvollstreckungsgesetz 1991 – VVG (BGBl 1991/53 idF BGBl I 2013/33) normierten zwangsweisen Vorführung: Hier wird eine geladene, nicht erschienene Person physisch von Ort A zu Ort B transferiert (Hengstschläger und Leeb 2014 Rz 186ff.). Es darf aber nicht übersehen werden, dass eine Rechtspflicht, die nicht mittels physischen Zwangs durchgesetzt werden kann, noch lange keine „Freiwilligkeit“ und für die betroffene Person nur scheinbar die Möglichkeit ergibt, zwischen zwei Optionen wählen zu können (Kopetzki 1985:53). Beim Thema „Impfen“ wird besonders deutlich, dass unter den Schlagworten „Zwang“ und „Pflicht“ in der Literatur zum Teil synonyme, zum Teil ganz unterschiedliche Szenarien beschrieben werden; zusätzlich wird mitunter noch zwischen direktem (durch eigenes Gesetz vorgesehenem) und indirektem (sich als sekundäre Folge ergebendem) Impfzwang bzw. allgemeiner und individueller Impfpflicht differenziert. In der vorliegenden Untersuchung werden die Begriffe „Pflicht“ und „Zwang“ synonym verwendet. Eine Differenzierung, ob die jeweilige Rechtspflicht mittels physischen Zwangs vollstreckbar ist, wird nicht auf Ebene der Qualifikation als Zwang oder Nicht-Zwang, sondern allenfalls im Zuge der Verhältnismäßigkeitsprüfung des jeweiligen Eingriffs relevant sein (in diesem Sinne auch Kopetzki 1995:408). Das Jahr 1948 wird wegen der eingeführten Pockenimpfpflicht jedenfalls hartnäckig als Beginn der „Impfzwang-Epoche“ in Österreich benannt. Ein kurzer Blick in die fernere Vergangenheit reicht jedoch für die Feststellung aus, dass schon vor dem Jahr 1948 über lange Strecken ein sogenannter „indirekter Impfzwang“ bestand (Memmer 2016:7). Mehr oder weniger seit 1980 die erste (Massen-)Schutzimpfung in Österreich stattgefunden hatte (Memmer 2016:7), gab es eine zähe Debatte über Sinn und Ausmaß staatlicher Einflussnahme auf die Impfentscheidungen der Bürgerinnen und Bürger. Die Motivationsmaßnahmen von staatlicher Seite gingen mitunter so weit (Ausschluss nicht geimpfter Personen von Stipendien, keine Aufnahme in staatliche Versorgungsanstalten und Waisenhäuser, Entzug von Armenunterstützung, Beerdigung ohne Verwandte und geistlichen Beistand etc.), dass die Bevölkerung – im Sinne der obigen Ausführungen wohl völlig zutreffend – über weite Strecken vom Bestehen eines Impfzwangs ausging (Memmer 2016:7). Hier stellt sich die Frage, ob auch das geltende Recht solch massive Instrumente vorsieht, die das Bestehen eines „Impfzwangs“ oder einer „Impfpflicht“ nahelegen. Auf der Suche nach vergleichbaren zeitgenössischen Regelungen kommen – soweit überblickbar – das NÖ Grundversorgungsgesetz (LGBl 9240-0 idF LGBl 9240-2) und das Epidemiegesetz in Betracht. Ersteres sieht in seinem § 8 Abs. 1 Z 10 vor, dass Grundversorgungsleistungen
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im Sinne des § 5 (Unterbringung in geeigneten Unterkünften, Versorgung mit angemessener Verpflegung, Versorgung mit notwendiger Bekleidung …) verweigert, eingeschränkt und eingestellt werden können, wenn die betroffene Person im Falle von „die öffentliche Gesundheit gefährdenden Krankheiten“ gewisse Untersuchungspflichten nicht umsetzt oder ihren medizinischen Heilungsverlauf gefährdet. Hier stellt sich die Frage, welche Szenarien der Landesgesetzgeber vor Augen hatte, als er die entsprechende Regelung erließ. Für den Akutfall stehen ohnehin seuchenrechtliche Vorkehrungen bereit bzw. sind im Rahmen des Tuberkulosescreenings breite Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten statuiert. Welche Gesundheitsgefährdungsrestmenge hier übrigbleiben soll bzw. ob Schutzimpfungen allenfalls darunterfielen, ist vorerst nicht ersichtlich. Die zweite in Frage kommende Norm ist § 17 EpidemieG. Im Fall eines Notstandes ist vorgesehen, dass die Durchführung von Schutzimpfungen durch die jeweilige BVB für bestimmte Personen (Hebammen etc.) angeordnet werden kann, bzw „verhält“ die BVB nach Heissenberger Personen dazu (Heissenberger 2016:70). Dies wird wohl nichts anderes bedeuten können, als dass die BVB anlassbezogen einen (Mandats-)Bescheid erlässt. Den Erläuterungen zufolge soll hier eine Behandlungspflicht (Erläut. zu IA 822 BlgNR 22. GP 3) vorliegen, die aber nicht mit Zwang (gemeint ist hier wohl physischer Zwang) durchgesetzt werden können soll, sondern allenfalls Verwaltungsstrafen oder Quarantänemaßnahmen nach sich zieht (Grimm 2016:88). Ob aus der bloßen Ermächtigung der BVB für den „Ernstfall“ bzw. aus dem Fehlen gesetzlich explizit vorgesehenen physischen Zwangs als Durchsetzungsinstrument folgt, dass nicht von einer bestehenden Impfpflicht bzw. einem Impfzwang gesprochen werden kann (so offenbar die herrschende Lehre), bleibt – wie oben diskutiert – letztlich eine Frage der Definition von „Zwang“. Immerhin sieht § 40 EpidemieG unter „Sonstige Übertretungen“ vor, dass Handlungen oder Unterlassungen nach § 17 eine Verwaltungsübertretung darstellen und mit Geldstrafe bis zu 1.450,– E bzw. Ersatzfreiheitsstrafe von bis zu vier Wochen zu bestrafen sind. Wie zu Beginn des Kapitels dargestellt, folgt daraus, dass eine Rechtspflicht nicht mittels physischen Zwangs durchgesetzt werden kann, noch lange keine „Freiwilligkeit“ – anschaulich dargestellt wird dies beispielsweise durch die Willensbeugungen, die in § 1 Abs. 2 Z 5 Anti-Doping-Bundesgesetz 2007 (BGBl I 2007/30 idF BGBl I 2014/93) und in § 99 Abs. 1 lit c Straßenverkehrsordnung 1960 – StVO 1960 (BGBl 1960/159 idF BGBl I 2015/123) jeweils vorgesehen sind (Kopetzki 1985:53; Zeinhofer 2010:326). Bedenkt man, welche Funktion Strafen im Allgemeinen haben, d. h. dass sie „Tadel“ und „Unwerturteil“ sein und general-, spezialpräventiv sowie vergeltend wirken sollen (Hengstschläger und Leeb 2015 Rz 668), steht wohl außer Frage, dass im Rahmen von § 17 Abs. 3 und 4 in Verbindung mit § 40 in diesem Sinn gegen „impfrenitente“ Personen vorge-
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gangen werden soll. Diese können keineswegs völlig freiwillig und privatautonom darüber entscheiden, ob sie sich impfen lassen oder nicht. In Anbetracht dessen, dass es sich bei § 17 EpidemieG um Notstandsregelungen handelt, kann wohl auch nichts anderes sinnvoll angenommen werden, als dass in diesem Fall eine Willensbeugung der betroffenen Personen – dringend und völlig schlüssig – bezweckt wird und es sich nicht bloß um „gutes Zureden“ durch den Gesetzgeber handelt. Dafür spricht auch, dass das – stets ohne Weiteres im Sinne einer generellen Impfpflicht verstandene – Bundesgesetz über Schutzimpfungen gegen Pocken seinerzeit ebenfalls (bloß) eine Verwaltungsstrafe von 1.000,– Schilling bzw. Ersatzfreiheitsstrafe bis zu 14 Tagen festlegte. Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten: Dass in Österreich, wie offenbar von der herrschenden Lehre vertreten (Langbauer 2010:36; Hummelbrunner 2015, Kap. 7 Rz 147) bzw. vorausgesetzt, keine generelle Impfpflicht vorliegt, erscheint nachvollziehbar. Anders verhält es sich, was eine allenfalls vorliegende individuelle Impfpflicht angeht. Hinsichtlich § 8 Abs. 1 Z 10 NÖ GrundversorgungsG muss wohl umso mehr davon ausgegangen werden, dass der völlige Entzug der Grundversorgung nicht als „Anreiz“, sondern als „Unwerturteil“ anzusehen ist. Im Sinne der obigen Ausführungen kann damit in beiden Fällen wohl nicht vom freiwilligen Wählen zwischen zwei Optionen die Rede sein. In beiden Fällen liegen daher wohl Eingriffe in den unter materiellem Gesetzesvorbehalt stehenden Art. 8 EMRK vor, die auf ihre Rechtfertigung hin zu prüfen sind: c)
Einfachgesetzliche Grundlage
Um überhaupt in das Recht auf Privatleben eingreifen zu können, muss der Gesetzgeber eine sogenannte einfachgesetzliche Grundlage dafür schaffen. Das Epidemiegesetz erscheint nach den Vorgaben des Art. 8 EMRK (siehe dazu Wiederin 2002 Rz 16ff.) sowohl kompetenzrechtlich als auch inhaltlich (Langbauer 2015:58) unproblematisch. Bezüglich § 8 Abs. 1 Z 10 NÖ GrundversorgungsG ist hingegen zu fragen, ob seine Ausgestaltung überhaupt den Vorgaben der EU entspricht, d. h. in Art. 13 Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU) Deckung findet. Hier wird normiert, welche medizinischen Untersuchungen die Mitgliedstaaten für die asylantragstellenden Personen vorsehen können. Art. 13 sieht solche Anordnungen nur „aus Gründen der öffentlichen Gesundheit“ vor. Das NÖ GrundversorgungsG hingegen sieht in seinem § 8 Abs. 1 Z 10 vor : „Grundversorgungsleistungen können verweigert, eingestellt oder eingeschränkt werden, wenn die Hilfe suchende bzw. leistungsempfangende Person: […] eine die öffentliche Gesundheit gefährdende Krankheit aufweist und den Untersuchungsverpflichtungen nicht nachkommt bzw. den medizinischen Heilungsverlauf durch ihr Verhalten gefährdet.“ Von der Gefährdung des „medizinischen Heilungsverlaufs“, unter den
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die Verweigerung von Schutzimpfungen wohl allenfalls zu subsumieren wäre, ist in der AufnahmeRL in diesem Zusammenhang ebenso wenig die Rede wie von Kürzung oder gänzlicher Streichung der Grundversorgungsleistungen. Das NÖ GrundversorgungsG erscheint daher hinsichtlich der Vorgaben der AufnahmeRL – aber auch hinsichtlich der Kompetenzbestimmungen des B-VG (im Detail dazu Oswald 2009:51) – problematisch.
d)
Verhältnismäßigkeit
Legitimes Ziel, Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft Angesichts einer Herdenimmunität von weniger als jenen 95 %, die effektiven Schutz gewährleisten würden, wäre eine wie auch immer auszugestaltende Impfpflicht im Sinne der Erhaltung der öffentlichen Gesundheit durchaus begründbar. Eignung In seiner Entscheidung über die bestehende Pflicht zur Impfung gegen Diphtherie, Tetanus und Kinderlähmung sprach der französische Verfassungsrat im Vorjahr aus, dass die entsprechenden straf- und zivilrechtlichen Bestimmungen „nicht offensichtlich ungeeignet“ seien, den Schutz der Gesundheit von einzelnen Personen sowie jener der Bevölkerung zu gewährleisten. Allerdings, darauf wies der Verfassungsrat hin, sei es ihm nicht möglich, in Frage zu stellen, ob der Gesetzgeber dieses Ziel auch auf andere Weise hätte erreichen können (Conseil Constitutionnel 20. 3. 2015, 2015-458 QPC). Allein ein Blick in die jüngere Vergangenheit macht aber wohl eindrucksvoll deutlich, wie geeignet Schutzimpfungen sind, die Ausbreitung von Infektionserkrankungen großflächig zu verhindern (Memmer 2016:8). Erforderlichkeit Kaum eine Krankheit weist eine derart hohe Kontagiosität auf wie die Masern. Mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit stecken sich nichtimmune Personen an – dies durch bloßes Sprechen. Maserninfektionen bringen darüber hinaus schwerwiegende Gefahren mit sich. Abgesehen von bereits bekannten, wie der oftmals tödlich verlaufenden Masernenzephalitis, ergeben neueste wissenschaftliche Erkenntnisse – wie eingangs kurz dargestellt – noch weitaus schlimmere Risiken (Mina et al. 2015:694). Sowohl die World Health Organisation (WHO) als auch das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) betonen, dass Asylwerbende derzeit in puncto übertragbare Krankheiten keine Gefährdung für die europäische Bevölkerung darstellen (ECDC 2016). Williams et al. zeigen aber auf, dass Europa
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über weite Strecken gar nicht über Daten verfügt, die derartige – oder wie immer geartete – Schlüsse zuließen. Die Studie zeigt eindrucksvoll, dass kein (europäischer) Konsens darüber besteht, wer Migrant oder Migrantin ist. Hinzu kommt, dass die Surveillance-Systeme der einzelnen Länder in sehr unterschiedlicher Art und Qualität ausgestaltet sind (Williams et al. 2016). Das von Williams et al. skizzierte Bild spiegelt auch die österreichische Situation wider. Die eingangs dargestellten Masernfälle werden zwar nach Herkunftsländern qualifiziert. Nicht jedoch wird untersucht, wer in diesen Fällen die Krankheit „importiert“ hat. Ob Asylwerbende, Migranten bzw. Migrantinnen, Reisende, bleibt auch nach statistischer Erhebung unklar. Fest steht nichtsdestotrotz, dass zwischen 27. August und 31. Dezember 2015 keine neuen Masernfälle gemeldet wurden. Betrachtet man diese Tatsache laienhaft in Zusammenschau mit den Flüchtlingsströmen des vergangenen Winters, so lässt sich keine Korrelation feststellen; epidemiologisch betrachtet kann es sich wohl genauso gut um Zufall handeln. Um Eignung und Erforderlichkeit einer Impfpflicht in Bezug auf Österreich konkret prüfen zu können, müsste auf empirische Daten zurückgegriffen werden (Heissenberger 2016: 57). Dass solche Daten nicht in idealem Umfang vorliegen, kommt in verschiedensten Rechtsbereichen vor und entbindet den jeweiligen Staat nicht davon, Risikovorsorgemaßnahmen zu ergreifen – auch jenseits „traditionell begründeter Wahrscheinlichkeitsprognosen“ (etwa zum Beispiel des Atomrechts: Di Fabio 1994:73ff.).
Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Auch wenn die Wirksamkeit der einzelnen Faktoren unbekannt ist, so führt anscheinend das Zusammenspiel von Anreizsystemen, Awareness-Kampagnen und bestehender Immunisierung doch im Endeffekt zu einer relativ weitreichenden Durchimpfungsrate von 95 % bei der ersten und 80 % bei der zweiten MMR-Impfung (Heissenberger 2016: 56). Diese Faktoren wären im nächsten Prüfungsschritt zu berücksichtigen, wenn die Erforderlichkeit eines Impfzwangs feststünde. Auf der anderen Seite fielen Anzahl und Schwere der auftretenden Impfschäden – zwischen 1990 und 2012 wurden 726 Anträge auf Entschädigung gestellt, 307 wurden abgewiesen, 402 Fälle [TBC- und Pocken-Impfung] wurden anerkannt (Wehringer 2014:118) – ebenso ins Gewicht wie der Eingriff in die Autonomie der Einzelperson bzw. in Erziehungsrechte von Eltern (zur Rechtslage in Deutschland und Frankreich: Conseil Constitutionnel 20. 3. 2015, 2015458 QPC; Waruwschewski 2016:220; Pierer 2015:101). Schließlich wären hinsichtlich der staatlichen Schutzpflichten zwei Grundrechte der jeweils betroffenen Person, das Recht auf Leben und das Recht auf Selbstbestimmung, einander gegenüberzustellen und gegeneinander abzuwägen
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(allgemein: Littwin 1993:20ff.). Würde die Erforderlichkeit der Impfpflicht ohne Weiteres bejaht, so käme spätestens auf Ebene der Verhältnismäßigkeit die Erhebung genauerer Daten als sogenanntes gelinderes Mittel ins Spiel – ebenso die Ausweitung bzw. Vereinheitlichung und Effizienz-Steigerung (Bioethikkommission 2016) von Monitorings bzw. Screenings (Kärki et al. 2014:11) und insbesondere die Vertiefung länderübergreifender Zusammenarbeit (begrüßenswert insofern: B 1082/2013/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. 10. 2013 zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren und zur Aufhebung der Entscheidung 2119/98/EG). e) Zwischenergebnis Teilen der Lehre folgend wäre die Einführung einer Impfpflicht gegen Masern, die zweifellos Art. 8 EMRK berührte, wohl durchaus zu rechtfertigen; vor allem die hohe Ansteckungsgefahr und das mögliche Auftreten schwerwiegender Folgeerkrankungen wären ausschlaggebend (Schaks und Krahnert 2015:33). Folgert man aus § 17 Abs. 3 und 4 EpidemieG und § 8 Abs. 1 Z 10 NÖ GrundversorgungsG, dass eine individuelle Impfpflicht in Österreich derzeit zum Teil bereits besteht, wäre diese nicht per se als unzulässig zu beurteilen (die Ausgestaltung von § 8 Abs. 1 Z 10 NÖ GrundversorgungsG bleibt freilich zu überdenken). Vor der endgültigen Stellung dieses Befundes wäre allerdings die Prüfung obligat, ob derartige eingriffsintensive Maßnahmen derzeit überhaupt erforderlich wären.
IV.
Gleichheitssatz, BVG Rassendiskriminierung
Ganz allgemein hat der Gesetzgeber stets Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Ist ihm dies nicht möglich, so muss eine sachliche Begründung vorliegen. Das BVG Rassendiskriminierung – BVG-RD (BGBl 1972/ 390) wurde zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung (CERD) erlassen und verbietet „jede Form rassischer Diskriminierung“, wenn sie nicht ohnehin bereits durch Art. 7 B-VG, den allgemeinen Gleichheitssatz, bzw. Arti. 14 EMRK verhindert wird. Fremden Personen soll durch das BVG Rassendiskriminierung (BVG-RD) „ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht i. S. d. Art. 144 BVG“ gewährt werden; es handelt sich insofern um einen „spezielle[n] Gleichheitssatz“ (etwa Pöschl 2008:411ff.). Soweit dem nicht entgegenstehend, soll es Österreich nach Art. 1. Abs. 2 BVG-RD aber unbenommen bleiben, „[…] Staatsbürgern besondere Rechte einzuräumen oder besondere Verpflichtungen aufzuerlegen“. Ob dies einer sachlichen Rechtfertigung bedürfte, wird von der Lehre nicht einheitlich beurteilt (zum Gleichbehandlungsgesetz: Ludwig und
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Frey 2016:49; zum Gleichheitssatz: Pöschl 2008:433ff. [440]; Korinek 1994:192). Ginge also erwiesenermaßen von Personen „ausländischer Herkunft“ eine größere Masern-Übertragungsgefahr aus als von inländischen Personen, so ist wohl auch nach Korineks insofern strengerer Ansicht eine Differenzierung im Sinne einer reinen „Ausländerimpfpflicht“ denkbar. Herausfordernder ist die Beantwortung der Frage, ob eine Ungleichbehandlung der verschiedenen fremden Personen untereinander ohne Weiteres möglich wäre. Hier wird von der Lehre einhellig gefordert, dass nur sachliche Rechtfertigungsgründe (z. B. völkerrechtliche Übung, Unterscheidung zwischen EUbzw. EWR- und sonstigen fremden Personen) unterschiedliche Behandlungen zulassen (Korinek 1994:187 und 189). Bei übertragbaren Krankheiten wäre – beispielsweise im Falle EU-weiter einheitlicher Präventions-Standards – wohl schlüssig argumentierbar, dass EU-Bürger und -Bürgerinnen mangels Gefährdung anders zu behandeln wären als „sonstige fremde Personen“. Schwieriger wäre eine Differenzierung nach „Art des Fremdseins“ (nach asylwerbenden Personen, Personen mit Migrationshintergrund und Touristen/Touristinnen) bzw. eine Differenzierung nach verschiedenen Herkunftsländern. Um nicht als Unterscheidung „aus dem alleinigen Grund der Rasse, Abstammung oder Herkunft“ zu gelten und damit verboten zu sein, müssten gewichtige Gründe hinzutreten, die eine Differenzierung denkbar machten. In weiterer Folge stellte sich die Frage, ob eine solche Differenzierung überhaupt zweckmäßig wäre. Anhand von Syrien etwa wird deutlich, dass das Land lange Zeit umfassenden Impfschutz für seine Staatsbürger und Staatsbürgerinnen bereitstellte. Erst seit relativ kurzer Zeit kann dieser nicht mehr gewährleistet werden. Eine aus Syrien geflüchtete Person kann also – je nach Alter, Herkunftsort und Fluchtzeitpunkt – einen sehr umfangreichen Impfstatus „mitbringen“ oder eben gar keinen. Die Staatsangehörigkeit allein lässt keinerlei Schlussfolgerungen darüber zu. Etwa alle aus Syrien geflüchteten Personen einer Impfpflicht zu unterwerfen, bedürfte somit jedenfalls zusätzlicher sachlicher Rechtfertigungsgründe. Hinsichtlich des NÖ Grundversorgungsgesetzes ist anzumerken, dass die einzelnen Bundesländer durchaus unterschiedliche Reglements vorsehen können, ohne dabei gleichheitsrechtliche Probleme zu schaffen. Sämtliche diesbezüglich ergangenen Landesgesetze sind aber dort verfassungsrechtlich nicht unproblematisch, wo sie einen „Konnex“ zu Art. 10 Abs. 1 Z 3 B-VG aufweisen (Oswald 2009:51). Käme man zum Ergebnis, dass etwa der Entzug der Grundversorgung eigentlich hoheitlich vollzogen werden müsste und damit in die Zuständigkeit des Bundes fiele, wäre auch der gleichheitsrechtliche Spielraum (Mayer 2015 Rz 1356) des Landes Niederösterreich zu hinterfragen.
Die Impfpflicht in Zeiten der Migration – eine bipolare Patientin?
E.
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Conclusio
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es rechtlich betrachtet unerheblich ist, ob die Verletzung einer Pflicht physischen Zwang oder andere „Unwerturteile“ nach sich zieht. Dies beachtend, sind in der österreichischen Rechtsordnung zwei Bestimmungen zu finden, die eine Impfpflicht statuieren könnten: § 17 Abs. 3 und 4 EpidemieG sowie § 8 Abs. 1 Z 10 NÖ GrundversorgungsG; wobei Letztere sowohl kompetenzrechtlich als auch in Bezug auf die Vorgaben der Aufnahmerichtlinie problematisch erscheint (infolgedessen könnten sich auch gleichheitsrechtliche Probleme ergeben). Ob eine – über die bestehenden Bestimmungen hinausgehende – Impfpflicht überhaupt notwendig ist, lässt sich aufgrund fehlender empirischer Untersuchungen nicht ohne Weiteres beurteilen. Dennoch hat die Republik Österreich gegebenenfalls geeignete Risikovorsorgemaßnahmen zu treffen. In jedem Fall scheint es geboten, ein gemeinsames „Behandlungsschema“ für die Impfpflicht und ihre Symptomatik zu entwickeln und die Problematik möglichst länderübergreifend bzw. EU-weit akkordiert zu regeln.
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Katharina Leitner
Die kultursensible Gesundheitsversorgung von geflüchteten Personen im Spannungsfeld zwischen staatlicher Verantwortung und Health Literacy
1.
Problemstellung
Jasmin ist eine 30-jährige Frau aus Syrien. Als im Jahr 2014 das Haus, in dem sie wohnte, zerstört wurde sowie das Versorgungsnetz und das Gesundheitssystem zusammengebrochen sind, flüchtete Jasmin zunächst in die Türkei, wo sie sechs Monate in einem Auffanglager blieb. Als die Situation dort jedoch mangels sanitärer Einrichtungen und aufgrund von Überfüllung unerträglich wurde, begab sich Jasmin in die Hände von Schleppern und erreichte auf diese Weise Ende 2015 Österreich. Mittlerweile hat Jasmin den Status eines anerkannten Flüchtlings in Österreich. Bei einem Besuch beim Arzt führt dieser zwar die dringend notwendige Behandlung durch, nicht jedoch zusätzlich empfohlene Eingriffe, da die Kosten nicht von der Sozialversicherung abgegolten würden. Er geht davon aus, dass Jasmin die Kosten für die weiterführenden Behandlungen nicht tragen könne. Er klärt sie auch nicht darüber auf, dass es die Möglichkeit der zusätzlichen kostenpflichtigen Behandlungen gäbe. In der Folge erleidet Jasmin einen dauerhaften körperlichen Schaden.1 Der vorliegende Beitrag erörtert anhand des Falles der fiktiven Asylwerberin Jasmin, unter welchen Voraussetzungen geflüchtete Personen das Recht auf medizinische Behandlung sowie auf Selbstbestimmung haben. Umgekehrt wird diskutiert, inwieweit jede einzelne geflüchtete Person eine gewisse Mitverantwortung trifft, und es werden konkrete Möglichkeiten aufgezeigt, um das Informationsbedürfnis geflüchteter Personen adäquat befriedigen zu können. Der Fokus liegt dabei auf den rechtlichen Rahmenbedingungen der staatlichen Gesundheitsversorgung. 1 Dieser Fall ist angelehnt an einen vom OLG Oldenburg entschiedenen Fall, bei dem eine minderjährige Asylwerberin beim Arzt vorstellig wurde und dieser zwar einen Minderwuchs prognostizierte, der Asylwerberin jedoch keine Therapie vorschlug, da er davon ausging, sie könne diese nicht bezahlen. In der Folge erreichte die 17-jährige Patientin statt 156 cm eine um 12 cm geringere Körperendgröße von nur 144 cm (OLG Oldenburg 30. 05. 2014, 5 U 216/11).
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Wenngleich Jasmin die Geschichte vieler Asylwerbender repräsentiert, darf im Folgenden nicht außer Acht gelassen werden, dass diese Gruppe sehr heterogen ist. Die einzelnen Personen kommen aus unterschiedlichen Herkunftsländern, gehören unterschiedlichen ethnischen Gruppen und Religionen an. Hinzu kommen Unterschiede hinsichtlich der Aufenthaltsdauer, des Migrationsgrunds, der Sprachkenntnisse, des Bildungsstands, des Alters und des Aufenthaltsstatus. Wird im Folgenden daher von geflüchteten Personen gesprochen, ist stets zu bedenken, dass es sich um Individuen handelt und Barrieren bei der Gesundheitsversorgung oder Lösungsstrategien zur Steigerung der Health Literacy nicht für alle einheitlich gelten.
2.
Gesundheitsversorgung von Asylwerbenden
2.1.
Zugang zur Gesundheitsversorgung
Die Grundversorgungsvereinbarung (GVV, BGBl. I 2004/80), eine Art.-15a-BVG-Vereinbarung zwischen Bund und Ländern über gemeinsame Maßnahmen zur vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde, sieht die Durchführung einer medizinischen Untersuchung im Bedarfsfall bei der Erstaufnahme nach den Vorgaben der gesundheitsbehördlichen Aufsicht vor (Art. 6. Abs. 1 Z. 4 GVV). Ebenso ist die Krankenversorgung im Sinne des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes (ASVG, BGBl. 1955/189 i. d. F. BGBl. I 2016/75) durch Bezahlung der Krankenversicherungsbeiträge (Art. 6 Abs. 1 Z. 5 GVV) sowie die Gewährung allenfalls darüber hinausgehender notwendiger, durch die Krankenversicherung nicht abgedeckter Leistungen nach Einzelfallprüfung (Art. 6 Abs. 1 Z. 6 GVV) gesichert. Asylwerbende sind daher je nach Aufenthaltsort bei der jeweiligen Gebietskrankenkasse versichert und haben in diesem Rahmen Zugang zur medizinischen Versorgung. Wollen sie darüber hinausgehende Leistungen in Anspruch nehmen, müssen sie diese selbst bezahlen. Flüchtlinge, die keinen Antrag auf Asyl gestellt haben, oder Personen, die sich bei der Einreise in Österreich lediglich auf der Durchreise befinden, gelten als „Transitflüchtlinge“ und sind nicht versichert. Auch sie können Behandlungen gegen Bezahlung des ärztlichen Honorars in Anspruch nehmen; zudem stehen für nicht versicherte PatientInnen diverse soziale Einrichtungen (z. B. Krankenhaus der Barmherzigen Brüder, AmberMed, Luise-Bus/Caritas Wien) und Ordinationen, die kostenlose Behandlung für Flüchtlinge anbieten, zur Verfügung.
Die kultursensible Gesundheitsversorgung von geflüchteten Personen
2.2.
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Diskriminierungsverbote
Wie nicht geflüchtete PatientInnen können Asylwerbende den/die BehandlerIn frei wählen. Rechtsgrundlage des Verhältnisses zwischen Arzt/Ärztin und PatientIn ist in der Regel der Behandlungsvertrag. Dieser wird zwischen Arzt/Ärztin bzw. Krankenanstaltenträger und PatientIn meist konkludent, also ohne explizit darüber zu sprechen, geschlossen (Kletecˇka-Pulker 2003:I/3). Weder PatientIn noch Arzt/Ärztin sind jedoch zum Abschluss eines Behandlungsvertrags verpflichtet. Der Arzt/die Ärztin darf grundsätzlich ohne Angabe von Gründen PatientInnen ablehnen und deren Behandlung nicht übernehmen (Aigner 2003:III.1.3.3.7; Emberger 2008 § 49, 177). Ausgenommen davon sind Fälle der notwendigen ersten Hilfe (§ 22 Abs. 4 Bundesgesetz über Krankenanstalten und Kuranstalten BGBl. 1957/1 i. d. F. BGBl. I 2016/3; § 48 Ärztegesetz 1998 BGBl. I 1998/169 i. d. F. BGBl. I 2016/ 75). Das Recht auf Erste Hilfe beinhaltet einen ausdrücklichen Kontrahierungszwang für Ärzte/Ärztinnen, weshalb diese Personen, die Erste Hilfe benötigen, unabhängig von Staatsbürgerschaft, Geschlecht, sozialem Status usw. behandeln müssen (Emberger 2008 § 48 Erläut. 2). Auch undokumentierte MigrantInnen bzw. Flüchtlinge, die lediglich auf der Durchreise sind und sich nicht registrieren lassen, haben somit das Recht auf ärztliche Erste Hilfe. Des Weiteren sind Vertragspflichten gegenüber den Krankenversicherungs-Trägern zu beachten (Rebhahn 2013:238 ff). Davon abgesehen darf die Ablehnung nicht diskriminierend sein. In Umsetzung der RL 2000/43/EG2 und 2004/113/EG3 hat der österreichische Gesetzgeber in den §§ 30ff. des Gleichbehandlungsgesetzes (GlBG, BGBl. I 2004/66 i. d. F. BGBl. I 2015/34) die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts sowie der ethnischen Herkunft verboten. Vom Anwendungsbereich dieser Diskriminierungsverbote sind u. a. „der Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen“ erfasst, worunter auch Dienstleistungen von freiberuflichen Ärzten/ Ärztinnen fallen. Die Ankündigung oder der tatsächliche Ausschluss von Personen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit zieht somit Konsequenzen nach dem GlBG nach sich. Lehnt ein/e BehandlerIn pauschal die Behandlung von Asylwerbenden oder MigrantInnen ab, indem er/sie etwa ein Schild an die Ordinationstür hängt, liegt daher ein Verstoß gegen das GlBG vor. Der Begriff „ethnische Zugehörigkeit“ ist dabei weit auszulegen. Es müssen keine tatsächlichen Unterschiede vorliegen, sondern es genügt die durch herabsetzende Be2 RL 2000/43/EG des Rates vom 29. 7. 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. L 2000/180, 22. 3 RL 2004/113/EG des Rates vom 13. 12. 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. L 2004/373, 37.
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zugnahme auf die ausländische Herkunft zum Ausdruck gebrachte „Fremdzuschreibung“. Eine Ablehnung von Flüchtlingen oder Asylwerbenden – die ja keine homogene Gruppe oder Ethnie darstellen – fällt daher ebenfalls unter den Tatbestand der Diskriminierung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit (Tichy 2008; Ludwig/Frey 2016). Auch in Krankenanstalten dürfen PatientInnen nicht aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert werden. Der Bund hat im Rahmen seiner Grundsatzgesetzgebungskompetenz nach Art. 12 B-VG für Krankenanstalten in den §§ 40a–40c GlBG einen ethnizitätsbezogenen Diskriminierungsschutz umgesetzt. Konkret findet sich der Diskriminierungsschutz in Krankenanstalten für PatientInnen im Antidiskriminierungsrecht der Länder. Dieses bindet die Träger der Krankenanstalten sowie deren Personal bei der Erbringung von Anstaltsleistungen gegenüber PatientInnen an die Diskriminierungsverbote. Wird der Behandlungsvertrag mit einer geflüchteten Person geschlossen, gelten die allgemeinen medizinrechtlichen Grundlagen. Darüber hinaus können sich Besonderheiten bei der Behandlung daraus ergeben, dass der/die PatientIn nicht Deutsch spricht oder ein anderes kulturelles Verständnis von Gesundheit und Krankheit mitbringt. Diese Besonderheiten äußern sich vor allem bei der Ausübung des Rechts auf Selbstbestimmung.
3.
Recht auf Selbstbestimmung
Unabhängig vom Abschluss des Behandlungsvertrags bedarf jede medizinische Behandlung der Zustimmung des/der einsichts- und urteilsfähigen Patienten/ Patientin (§ 110 Abs. 1 StGB, § 173 ABGB, § 283 ABGB, § 8 Abs. 3 KAKuG). Verweigert der/die PatientIn die Einwilligung in eine Heilbehandlung oder widerruft diese, darf die Behandlung nicht begonnen oder eine bereits begonnene Behandlung muss abgebrochen werden, da die Einwilligung eine zwingende Voraussetzung für die Zulässigkeit der Behandlung darstellt. Dem Patienten/der Patientin kommt ein uneingeschränktes Vetorecht zu, bei dem Dritte keine Mitentscheidungsrechte haben (Kopetzki 2007; OGH 21. 10. 1987, 8 Ob 652/87). Auch objektiv unvernünftige Entscheidungen sind zu akzeptieren (Aigner 2007). Eine rechtswirksame Einwilligung – aber auch eine Verweigerung – setzt neben der Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Patienten/der Patientin eine entsprechende Aufklärung voraus. Die Aufklärung muss so erfolgen, dass der/die PatientIn auf Grundlage der gegebenen Informationen eine Entscheidung treffen kann, ob er/sie in die Behandlung einwilligen möchte oder nicht. Dabei hat die Aufklärung umso weniger umfassend zu sein, je notwendiger der Eingriff für die Gesundheit des Patienten/der Patientin ist. Ist umgekehrt der medizinische Eingriff für die Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit des Patienten/
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der Patientin empfohlen, aber aus Sicht eines/einer vernünftigen Patienten/Patientin nicht eilig, so ist grundsätzlich eine umfangreiche Aufklärung erforderlich (OGH 23. 6. 1982, 3 Ob 545/82; OGH 12. 9. 1990, 1 Ob 651/90; OGH 28. 4. 1993, 6 Ob 542/93; OGH 25. 1. 1994, 1 Ob 532/94). Von der Aufklärungspflicht umfasst sind jedenfalls mögliche Diagnose- und Behandlungsarten, deren Risiken und Folgen (Art. 16 Abs. 1 Patientencharta) sowie die Kosten der Behandlung (Art. 16 Abs. 5 Patientencharta). Dies auch dann, wenn mögliche Behandlungen nicht von der Sozialversicherung gedeckt sind. Der Kassenarzt/die Kassenärztin ist verpflichtet, den Patienten/die Patientin darüber zu informieren, dass er/sie mehr tun kann, als die Kasse bezahlt. Dazu besteht zwar keine Pflicht, wenn die von der gesetzlichen Krankenversicherung gebotene Leistung medizinisch ausreichend ist. Eine Pflicht zur Aufklärung besteht aber dann, „wenn die Versorgung dieses Kranken in dem konkreten Zustand, in dem er sich befindet, mit den Möglichkeiten, die die gesetzliche Krankenversicherung eröffnet, nach dem modernen Stand der Medizin nicht mehr gewährleistet werden kann“ (Steffen 2000:502). In unserem Eingangsfall hätte der behandelnde Arzt Jasmin daher darüber aufklären müssen, dass eine weitere Behandlung möglich wäre, und sie auch über die anfallenden Kosten informieren müssen. Die Aufklärung hätte ungeachtet dessen erfolgen müssen, dass die Patientin zu erkennen gegeben hat, dass sie Asylwerberin ist, und dem Arzt bekannt war, dass ihre Versicherung die Kosten für die zusätzliche Behandlung nicht getragen hätte (OLG Oldenburg 30. 5. 2014, 5 U 216/11). Die Aufklärung hat darüber hinaus an die Persönlichkeitsstruktur des Patienten/der Patientin sowie an dessen/deren „Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kulturkreis4“ angepasst zu sein (OGH 15. 3. 2001, 6 Ob 258/00k). Kulturelle Prägungen des Patienten/der Patientin müssen beim Aufklärungsgespräch berücksichtigt werden und der Arzt/die Ärztin darf nicht davon ausgehen, dass PatientInnen mit Migrationshintergrund an die Paradigmen der westlichen Medizin angepasst sind. Konkret hat dies der OGH anhand der Verabreichung einer Vollnarkose im Rahmen einer Wurzelbehandlung bei einem libyschen Patienten festgehalten: „Wenn auch im Allgemeinen davon ausgegangen werden kann, dass einem Patienten durchschnittlicher Bildung bekannt ist, dass eine Vollnarkose höhere Risken in sich birgt als eine Lokalanästhesie, ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass der Patient im vorliegenden Fall aus einem anderen Kulturkreis kam und offenbar von der Einstellung geprägt war, dass die Verabreichung einer Vollnarkose bloß für den relativ kleinen zahnärztlichen Eingriff ,nichts Besonderes‘ sei.“ Der Zahnarzt hätte den Patienten daher „mit entspre4 Der Begriff „Kulturkreis“ ist aufgrund seiner konzeptuellen Verbundenheit mit dem essenzialistischen Kulturbegriff problematisch. Da ihn der OGH jedoch verwendet, wird er auch hier genannt.
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chendem Ernst und Nachdruck auf die mit einer Vollnarkose einhergehenden hohen gesundheitlichen Risken“ hinweisen und ihm erklären müssen, dass trotz bester Vorbereitung und bestmöglicher Abklärung individueller Risikofaktoren schwere, bis zum Tod führende gesundheitliche Schäden auftreten können (OGH 15. 3. 2001, 6 Ob 258/00 k). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Arzt/die Ärztin im Rahmen der Aufklärung auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten/der Patientin einzugehen hat und es nicht ausreicht, die Aufklärung unabhängig von der Herkunft und den Eigenschaften des Patienten/der Patientin stets gleich zu gestalten (Memmer 2003:I/94ff.). Die Aufklärung gestaltet sich allerdings schwierig, wenn Arzt/Ärztin und PatientIn keine gemeinsame Sprache sprechen oder aufgrund kultureller Barrieren Missverständnisse auftreten.
3.1.
Sprach- und Kulturbarrieren
Im Rahmen der Aufklärung können sich Sprach- und Kulturbarrieren ergeben, wobei von den ÄrztInnen die Sprache in der Praxis als die größte – und im Vergleich zu kulturell-religiösen Hintergründen – als schwerwiegendere Behandlungshürde dargestellt wird (Kronenthaler und Eissler 2014:436). So wie Jasmin werden viele AsylwerberInnen nicht oder nicht ausreichend aufgeklärt, weil Sprachbarrieren oder kulturelle Missverständnisse das Gespräch erschweren oder verunmöglichen. Rechtlich gesehen darf jedoch die mündliche Aufklärung nicht entfallen, nur weil der/die PatientIn nicht ausreichend Deutsch spricht (Leischner-Lenzhofer 2013:14; Kletecˇka-Pulker 2013:46ff.). Ebenso wenig ist es rechtmäßig, deutschsprachige Angehörige anstelle des/der nicht deutschsprachigen Patienten/Patientin aufzuklären (OGH 10. 6. 2008, 4 Ob 87/ 08 k; Memmer 2003:I/106/b; Engljähringer 1996:139; Laufs 1993 Rz 222; Prutsch 2004:81) oder die Aufklärung rein durch das Aushändigen von schriftlichen, fremdsprachigen Informationen durchzuführen (RIS-Justiz RS0102906).
3.2.
Überwindung der Sprach- und Kulturbarriere beim Aufklärungsgespräch
Die Überwindung der Sprach- und Kulturbarrieren erfolgt am besten durch die Beiziehung eines professionellen Dolmetschdienstes. Dies ist nicht nur aus Gründen der Qualitätssicherung, sondern auch aus haftungsrechtlicher Sicht ratsam. Ist dies aktuell nicht möglich, ist es empfehlenswert, den Patienten/die Patientin unter Einbeziehung eines professionellen Dolmetschdienstes wiederzubestellen. Dolmetschdienste werden sowohl in Form von DolmetscherInnen
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vor Ort als auch in Form von Telefon- oder VideodolmetscherInnen angeboten (Kletecˇka-Pulker/Parrag 2015; Parrag/Leitner 2016). In der Praxis werden professionelle Dolmetschdienste allerdings selten beigezogen und es wird in der Regel auf sogenannte LaiendolmetscherInnen zurückgegriffen. Dazu zählen sowohl Angehörige oder BegleiterInnen des Patienten/der Patientin, die als SprachmittlerInnen fungieren, als auch MitarbeiterInnen der Gesundheitseinrichtungen, die zum Dolmetschen herangezogen werden. Nicht selten werden auch sprachkundige MitpatientInnen oder sonstige zufällig in der Gesundheitseinrichtung anwesende Personen als LaiendolmetscherInnen eingesetzt. Oftmals sind die LaiendolmetscherInnen auch Minderjährige, da Kinder oftmals besser Deutsch sprechen als ihre Eltern, oder sonstige Angehörige (Leitner 2013:141ff.; Kletecˇka-Pulker/Parrag 2015). Obwohl sich ExpertInnen seit Jahrzehnten einig sind, dass LaiendolmetscherInnen wenig bis gar nicht geeignet sind, die Qualität der Verständigung zu gewährleisten (Pöchhacker/Kadric 1999; Pöchhacker 2008; Pöchhacker 2009; Fatahi et al. 2010; Langer et al. 2013; Leitner 2013; Kletecˇka-Pulker/Parrag 2015), ist aus rechtlicher Sicht die Beiziehung von LaiendolmetscherInnen in Ordnung, solange es für den Arzt/die Ärztin nicht offensichtlich ist, dass grobe Mängel beim Dolmetschen auftreten. Neben den Sprachbarrieren stellen auch kulturbedingte Barrieren eine Herausforderung bei der Behandlung von Asylwerbenden dar. Diese äußern sich in unterschiedlichen Erklärungsmodellen von BehandlerIn und PatientIn von Krankheit und Gesundheit bzw. in einem Gesundheitsverhalten des Patienten/ der Patientin, das dem/der BehandlerIn nicht vertraut ist und nicht den Paradigmen der westlichen Medizin entspricht (Löschke-Yaldiz et al. 2010:146f.; Kutalek 2011:26; Greifeld 2003:20ff.). Um dem/der Asylwerbenden das Recht auf Selbstbestimmung bestmöglich zu gewährleisten, benötigen Angehörige der Gesundheitsberufe daher jene Kompetenzen, die unter dem Schlagwort „Kultursensibilität“ zusammengefasst werden. Sie sollen kulturell kompetent sein und kulturelle Aspekte in Verhalten sowie Interaktionen erkennen, um einfühlsam reagieren zu können. Dabei wird nicht vorausgesetzt, dass sich der/die BehandlerIn mit jeder Kultur auseinandersetzt oder Kenntnisse darüber aufweist. Vielmehr setzt kulturell kompetentes Verhalten eine gewisse Sensibilisierung auf drei Ebenen voraus: (1) Es ist ein Wissen und ein Bewusstsein über das Vorhandensein verschiedener Lebenswelten und Umwelten, die kulturell geprägt sein können und ihren Niederschlag auch in Symptomvariationen, Krankheitskonzepten und Heilungsverläufen finden, gefordert. (2) Die Haltung des Behandlers/der Behandlerin soll von Offenheit, Neugier und dem Respekt vor anderen und deren Biografien getragen werden. (3) Der/die BehandlerIn soll über Fertigkeiten in der Gestaltung eines therapeutischen Prozesses verfügen
114
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und z. B. das Behandlungskonzept an den kulturellen Hintergrund des Patienten/der Patientin flexibel anpassen können (Knischewitzki et al. 2014:434).
4.
Obliegenheit des Patienten/der Patientin zur Information und Mitwirkung
Aus dem Behandlungsvertrag ergeben sich neben den Rechten auch Obliegenheiten des Patienten/der Patientin. So hat der/die PatientIn die Obliegenheit, dem Arzt/der Ärztin die nötigen Informationen zu erteilen, soweit sich der Arzt/ die Ärztin diese nicht selber durch die Untersuchung verschaffen kann (z. B. über bereits eingenommene Medikamente, frühere Erkrankungen). Zudem soll der/die PatientIn im Rahmen seiner/ihrer Möglichkeiten bei der Behandlung mitarbeiten, indem er/sie sich etwa an Therapien hält oder Untersuchungen an sich vornehmen lässt. Da es sich um bloße Obliegenheiten und nicht um Pflichten handelt, kann der/die PatientIn nicht zur Auskunftserteilung oder Mitwirkung gezwungen werden, die Verletzung dieser Obliegenheiten kann aber dennoch Folgen nach sich ziehen. So kann der Arzt/die Ärztin etwa die Behandlung vorzeitig beenden, ohne den Honoraranspruch zu verlieren, wenn der/ die PatientIn den Obliegenheiten nicht nachkommt (Memmer 2003:I/46f.; OGH 12. 3. 1963, 8 Ob 34/63). Ist der/die PatientIn aufgrund der Sprach- oder Kulturbarriere nicht in der Lage, Informationen zu geben oder an der Behandlung mitzuwirken, so ist dies rechtlich auch nicht vorwerfbar. Es lässt sich also keine rechtliche Pflicht für PatientInnen ableiten, sich über das Gesundheitssystem oder konkrete Erkrankungen zu informieren. Tatsächlich weisen viele PatientInnen mangelnde Health Literacy auf (Sorensen et al. 2015), AsylwerberInnen sind als vulnerable Gruppe davon besonders betroffen (Löschke-Yaldiz et al. 2010). Dies ist insofern bedenklich, als das Recht auf Selbstbestimmung in engem Zusammenhang mit Health Literacy steht. Nur wenn der/die PatientIn die angebotenen Informationen versteht und ein Grundverständnis der Körperfunktionen und Behandlungsabläufe mitbringt, kann er/sie selbstbestimmt entscheiden. Auch unser Eingangsfall wäre vielleicht anders abgelaufen, wenn Jasmin über ihre PatientInnenrechte Bescheid gewusst hätte oder sich selbständig über Behandlungsalternativen hätte informieren können. Freilich ist ihr – weder rechtlich noch menschlich – vorwerfbar, dass sie nicht über die nötige Sprach- und Gesundheitskompetenz verfügt hat. Der Fall gibt jedoch Anlass zu Überlegungen, wie die Health Literacy für Asylwerbende verbessert werden kann.
Die kultursensible Gesundheitsversorgung von geflüchteten Personen
4.1.
115
Hürden bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsangeboten
Hürden für die Inanspruchnahme von Gesundheitsangeboten sowie für den Zugang zu Informationen darüber können sowohl auf Seiten der NutzerInnen als auch auf Seiten der AnbieterInnen auftreten. Zu anbieter- bzw professionenbezogenen Barrieren zählen fehlende Konzepte zur Umsetzung neuer Zugangswege, Vorbehalte gegenüber MigrantInnen, Mittelschichtorientierung sowie mangelnde interkulturelle Kompetenz. Auf Seiten der AdressatInnen treten häufig Sprachbarrieren, ethnozentristische Fehldeutungen sowie Fehlinformationen auf (Leitner 2016:158ff.).
4.2.
Lösungsansätze zur Verbesserung der Health Literacy von geflüchteten Personen
Zahlreiche Projekte beschäftigen sich mit der Verbesserung der Health Literacy von PatientInnen im Allgemeinen (z. B. Einrichtung einer Österreichischen Plattform Gesundheitskompetenz (ÖPGK) durch den Bundes-Zielsteuerungsvertrag: operatives Ziel 8.3.2., Maßnahme 2) und von MigrantInnen bzw. Asylwerbenden im Besonderen (z. B. Projekt MiMi). Auch die Literatur beschäftigt sich umfassend mit dem Thema Health Literacy. An dieser Stelle kann der Diskurs nicht vollständig nachgezeichnet werden, es sei lediglich auf eine aktuelle Studie aus dem Jahr 2016 (Ganahl et al.) in diesem Bereich hingewiesen. Im Auftrag des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger in Kooperation mit dem Fonds Gesundes Österreich und der Merck Sharp & Dohme GesmbH Österreich wurde eine Studie zur „Gesundheitskompetenz bei Personen mit Migrationshintergrund aus der Türkei und Ex-Jugoslawien in Österreich“ durchgeführt, die u. a. folgende zehn Empfehlungen zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz anführt: – Entwicklung von speziellen Gesundheitskompetenz-Strategien für MigrantInnen auf einer bundesweiten, institutionalisierten Ebene, – Einbezug von MigrantInnen in die Planung, Umsetzung und Evaluation dieser Strategien, – umweltbezogene Interventionen wie PatientInnen-Navigatoren, übersetzte Beschilderung, professionelle DolmetscherInnen und muttersprachliche Angebote, – Diversity Management; Schulungen für Gesundheitspersonal für bessere Kommunikation und Kultursensibilität, – Netzwerke und sektorenübergreifende Interventionen, z. B. Zusammenarbeit mit Apotheken, Schulen, NGOs, Unternehmen etc., – Angebote für spezielle Zielgruppen (Ältere, Männer …),
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5.
Katharina Leitner
Angebote auch in ländlichen Gegenden, niederschwellige und aufsuchende Angebote, kostenlose Angebote, Informationsvermittlung und PatientInnen-Edukation in verschiedenen Bereichen (Ganahl et al. 2016:160).
Conclusio
Der Fall von Jasmin hat anschaulich gemacht, auf welche rechtlichen Herausforderungen und praktischen Grenzen die medizinische Versorgung von Asylwerbenden trifft. Auch wenn die Gesundheitsversorgung für Asylwerbende grundsätzlich gewährleistet ist und diese als ASVG-Versicherte einen Zugang zum Gesundheitssystem haben, scheitert die tatsächliche Versorgung oftmals an Sprach- und Kulturbarrieren und erhalten Asylwerbende eine schlechtere Gesundheitsversorgung als die Durchschnittsbevölkerung. Auch werden die Gesundheitsangebote seltener wahrgenommen (Ganahl et al. 2016). Dem Gesetzgeber kann nicht abgesprochen werden, sich in der Handhabung dieser Herausforderungen durchaus lösungsorientiert zu zeigen. Er hat insofern für Kultursensibilität im medizinischen Kontext gesorgt, als die PatientInnenrechte, die ebenso für Asylwerbende gelten, in unterschiedlichster Form die Selbstbestimmung und somit auch kulturelle und religiöse Besonderheiten, absichern. ÄrztInnen müssen die Aufklärung so gestalten, dass sie auch für nicht deutschsprachige PatientInnen verständlich ist, und bei Vorliegen einer Sprachbarriere eine/n DolmetscherIn beiziehen. Ebenso sind kulturelle Prägungen bei der Aufklärung zu beachten. BehandlerInnen dürfen nicht davon ausgehen, dass PatientInnen aus dem Ausland das gleiche Verständnis von Behandlungen bzw. Behandlungsabläufen haben wie österreichische PatientInnen. Ist die Aufklärung rechtmäßig erfolgt, hat der/die PatientIn die Möglichkeit, jegliche Behandlung – etwa aus kulturellen oder religiösen Gründen – abzulehnen. Allerdings muss festgestellt werden, dass die in der Theorie gewährleisteten Rechte von Asylwerbenden bzw. geflüchteten Personen in der praktischen Umsetzung nur bedingt genutzt werden (können). Der Fall von Jasmin steht stellvertretend für die Hürden, die Asylwerbende bei medizinischen Behandlungen erfahren. Der Arzt hätte in ihrem Fall die Verpflichtung gehabt, sie über zusätzliche Behandlungsmöglichkeiten und deren Kosten zu informieren. Vorurteile und die falsche Annahme, Jasmin wäre ohnehin nicht in der Lage, diese in Anspruch zu nehmen, haben ihn jedoch davon abgehalten. Zwar wird in solchen Fällen in der Regel Schadenersatz aufgrund übergangener Sprach- oder Kulturbarrieren zugesprochen, sofern der Ge-
Die kultursensible Gesundheitsversorgung von geflüchteten Personen
117
richtsweg beschritten wird, nur die Schließung systemischer Lücken könnte jedoch die qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung auch von vulnerablen Gruppen wie MigrantInnen oder AsylwerberInnen garantieren. Derzeit liegt es in der Verantwortung der behandelnden Person, ob und wie sie für Verständigung und Information sorgt. Eine standardisierte kultursensible, mehrsprachige Vermittlung von relevanten Informationen ist daher unabdingbar, um Fälle wie jenen von Jasmin zu vermeiden. Darüber hinaus wird es unumgänglich sein, durch spezielle Angebote die Gesundheitskompetenz von Asylwerbenden zu stärken, sodass sie ihre Rechte einfordern bzw dem/der BehandlerIn relevante Informationen geben können und somit die Behandlung vereinfacht oder ermöglicht wird. Es existieren bereits zahlreiche Beispiele und Literatur zum Thema, notwendig wäre jedoch eine institutionalisierte, staatlich gestützte Gesundheitskompetenz-Strategie speziell für Asylwerbende.
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118
Katharina Leitner
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= iFamZ. 2008/123 = RZ. 2009, 39 = ZVR 2009/38 (Danzl, tabellarische Übersicht) = EFSlg 119.580 = SZ. 2008/82. OLG Oldenburg 30. 05. 2014, 5 U 216/11.
Rechtsquellen Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für die gesammten deutschen Erbländer der Oesterreichischen Monarchie (ABGB) JGS 1811/946 i. d. F. BGBl. I 2015/87. Bundesgesetz über die Ausübung des ärztlichen Berufes und die Standesvertretung der Ärzte (Ärztegesetz 1998 – ÄrzteG 1998) BGBl. I 1998/169 i. d. F. BGBl. I 2016/75. Bundesgesetz über die Gleichbehandlung (Gleichbehandlungsgesetz – GlBG) BGBl. I 2004/ 66 i. d. F. BGBl. I 2015/34. Bundesgesetz über Krankenanstalten und Kuranstalten (KAKuG) BGBl. 1957/1 i. d. F. BGBl. I 2016/3. Bundesgesetz vom 23. Jänner 1974 über die mit gerichtlicher Strafe bedrohten Handlungen (Strafgesetzbuch – StGB) BGBl. 1974/60 i. d. F. BGBl. I 2015/154. Bundesgesetz vom 9. September 1955 über die Allgemeine Sozialversicherung (Allgemeines Sozialversicherungsgesetz – ASVG.) BGBl. 1955/189 i. d. F. BGBl. I 2016/75. Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) BGBl. 1930/1 i. d. F. BGBl. I 2016/62. RL 2000/43/EG des Rates vom 29. 7. 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. L 2000/180, 22. RL 2004/113/EG des Rates vom 13. 12. 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. L 2004/373, 37. Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern gemäß Art. 15a B-VG über gemeinsame Maßnahmen zur vorübergehenden Grundversorgung für hilfs- und schutzbedürftige Fremde (Asylwerber, Asylberechtigte, Vertriebene und andere aus rechtlichen oder faktischen Gründen nicht abschiebbare Menschen) in Österreich (Grundversorgungsvereinbarung – Art. 15a B-VG) BGBl. I 2004/80.
Christoph Reinprecht / Ina Wilczewska
Die Rolle familienbezogener Verpflichtungsnormen (Familialismus) für die Akzeptanz von Pflegeeinrichtungen und sozialen Diensten
Einleitung Wie in anderen europäischen Ländern wächst auch in Österreich die Zahl der MigrantInnen, die auch ihr Alter im Migrationsland verbringen. Aktuell leben in Österreich rund 190.000 Menschen, die älter als 65 Jahre und im Ausland geboren sind, unabhängig von der aktuellen Staatsbürgerschaft. Ältere MigrantInnen sind eine vielfältig zusammengesetzte Bevölkerungsgruppe mit unterschiedlichen Migrationsbiographien und Gründen für Migration wie Arbeitsmigration und Familienzusammenführung, Flucht und Asyl, europäische Binnen- und globale Eliten-, aber auch Armutsmigration. Zwei Drittel der Älteren sind in einem der (heutigen) EU-Länder geboren, rund ein Drittel gehört der ersten Generation der ehemaligen Arbeitsmigration aus der Türkei und Jugoslawien an. Etwa die Hälfte besitzt die österreichische Staatsbürgerschaft. Demographische Prognosen lassen darauf schließen, dass die Zahl der älteren MigrantInnen in den kommenden Jahren weiter zunehmen wird. Seit 1991 hat sich ihre Zahl mehr als verdreifacht.1 Die zunehmende Bedeutung der Migrationserfahrung in nachrückenden Alterskohorten wird als Teil eines umfassenden Strukturwandels des Alters angesehen, mit weitreichenden Implikationen für den Gesundheits- und Sozialbereich, insbesondere in Hinblick auf den Zugang und die Inanspruchnahme von Angeboten und Leistungen im Bereich von Betreuung und Pflege. Da vielfach davon ausgegangen wird, dass der Umgang mit altersbezogenen Einschränkungen und Belastungen kulturell geprägt bzw. herkunftsbezogen orientiert ist, dominieren in der Diskussion Stichworte wie diversity care, transkulturelle Kompetenz und Kultursensibilität (Khan-Zvornicˇanin 2016; 1 Die in dem Absatz genannten Zahlen stammen aus eigenen Berechnungen von Daten der Statistik Austria. Die Analysen wurden im Rahmen der Studie zum Einfluss der Migration auf Leistungserbringung und Inanspruchnahme von Pflege- und Betreuungsleistungen durchgeführt, die 2016 für Wien vorgelegt wurde, und in dem Studienbericht (Reinprecht et al. 2016) ausführlicher dargestellt.
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Christoph Reinprecht / Ina Wilczewska
Reinprecht 2014). Auch werden Angebote und Einrichtungen darauf überprüft, ob sie den veränderten Bedürfnissen und Anforderungen in soziokulturell diversifizierten Kontexten gerecht werden (vgl. Scharlach und Hoshino 2013). Diese Deutung der Implikationen migrationsbezogener Diversifizierung wird in der Fachliteratur aber auch als Ausdruck einer unkritischen Übernahme von Ethnizität und Kultur als Beobachtungs- und Analyseeinheit kritisiert (vgl. Wimmer 2009). Empirische Forschungen legen nahe, dass nicht Kultur und Ethnizität, sondern die Klasselage und der sozioökonomische Status die entscheidenden Parameter einer In- bzw. Exklusion in das Gesundheits- und Pflegesystem sind (Blacksher 2008; Razum 2006). Giuntoli und Cattan (2011) empfehlen in einer britischen Studie zu den pflegebezogenen Erfahrungen und Erwartungen in unterschiedlichen ethnischen Milieus, den kulturellen Hintergrund nicht überzubewerten; vielmehr gelte es, die Interaktion kultureller, institutioneller und individueller Faktoren zu berücksichtigen und im Detail zu untersuchen. In der sozialwissenschaftlichen Forschung werden unterschiedliche Einstellungen und Praktiken im Bereich der Pflege, insbesondere in Bezug auf die Inanspruchnahme von institutionellen Stützungsangeboten und Leistungen, auch auf die Rolle und Bedeutung familienbezogener Verpflichtungsnormen zurückgeführt. Als Familialismus wird dabei die idealisierte Vorrangstellung von Familie und familiären Beziehungen definiert (vgl. etwa Flores et al. 2009; Luna et al. 1996). Familialismus bezeichnet ein Set an Normen und Werten, das bewirkt, dass individuelle Bedürfnisse hintangestellt werden, während sich das einzelne Familienmitglied zu solidarischem Handeln den anderen Familienmitgliedern gegenüber moralisch verpflichtet fühlt. Die familialen Verpflichtungsnormen sind geschlechtlich konnotiert und haben langfristig und generationsübergreifend, oftmals auch im Kontext von Migration und Akkulturation, Bestand. Dass im Zusammenhang mit Tätigkeiten des Sorgens und Sichkümmerns („Care-Arbeit“) Erwartungen an die Familie und vor allem an weibliche Angehörige der nachfolgenden Generation(en) gerichtet werden, ist keine Eigenheit migrantischer Familien. Forschungen weisen jedoch darauf hin, dass spezifische Herkunfts- und Akkulturationskontexte (gering ausgebaute Wohlfahrtsstaatlichkeit in der Herkunftsgesellschaft, Erfahrungen von sozialer Randständigkeit und sozialer Unsicherheit im Aufnahmeland) dazu beitragen, die Erwartungen an die familiale Solidargemeinschaft zu festigen (Nauck 2000). Migrantische Milieus variieren aber auch in Hinblick auf den Stellenwert der sozio-emotiven und ökonomisch-utilitaristischen Werte bzw. Funktionen. Nach Nauck (2000) sind Generationsbeziehungen in vietnamesischen oder türkischen Familien stärker durch emotionale und ökonomisch-utilitaristische Werte definiert, während in deutschen, griechischen und italienischen Familien utilitaristische Aspekte in den Hintergrund treten und die emotionale Dimension
Die Rolle familienbezogener Verpflichtungsnormen (Familialismus)
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dominiert. Kulturelle Deutungsmuster (Kollektivismus/Individualismus, Geschlechterrollen) legitimieren die Unterstützungserwartungen an die Familie als Solidargemeinschaft, und hier vor allem an Frauen. Diese Erwartungen und Werte beeinflussen schließlich auch die Akzeptanz und Inanspruchnahme von professionellen Pflege- und Betreuungsleistungen. In unserem Artikel diskutieren wir diese Thesen auf empirischer Grundlage. Den Ausgangspunkt bildet eine Studie zum Einfluss der Migration auf Leistungserbringung und Inanspruchnahme von Pflege- und Betreuungsleistungen, die 2016 für Wien vorgelegt wurde (Reinprecht et al. 2016). Die Studie beruht auf einer Fragebogenerhebung unter 429 über 50-jährigen Personen mit Herkunft aus der Türkei, aus Serbien, Bosnien, Iran und Polen. Hauptanliegen der Befragung war es, Ursachen für die (von Leistungserbringern berichtete) unverhältnismäßig geringe Inanspruchnahme von professionellen Pflege- und Betreuungsleistungen in manchen Herkunftsgruppen zu identifizieren. Für unseren Artikel wurden die Daten nochmals aufbereitet und mithilfe von Regressionsmodellen der Einfluss familienorientierter Präferenzen und Werte bei Pflegebedürftigkeit überprüft.
Forschungsstand Familialismus gilt in der Forschungsliteratur als ein prädisponierender Faktor für die Nicht-Inanspruchnahme von sozialen Diensten im Migrationskontext (vgl. Herrera et al. 2008). Weitere Einflussfaktoren sind die Kenntnis des System(s) der sozialen Dienstleistungen und andere Kompetenzen, die den Grad der Akkulturation anzeigen, aber auch Aspekte der Lebenslage wie Einkommen, Berufsstatus und Bildung, soziodemographische Variablen wie Alter oder Familienstand sowie religiöse Orientierung, Pflegevorstellungen und Pflegeerwartungen. Familienzentrierte Erwartungen sind nicht nur im Kontext konkreter Betreuungs- und Pflegesettings bedeutsam; sie sind alltagstheoretisch verankert und auch durch sozialstaatliche Prinzipien wie Subsidiarität (Familie hat Vorrang vor gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen) legitimiert. Sie wirken generationsübergreifend als kulturell definierte Rechte und Pflichten, die festlegen, wie Familienmitglieder miteinander umgehen und welche Unterstützung sie gegenseitig leisten sollen (Rossi und Rossi 1990). Diese Verpflichtungsnormen bilden sich im Sozialisationsprozess aus, werden im Lebenslauf (und Migrationsprozess) abgeschliffen, überformt, teilweise auch neu formuliert (Burr und Mutchler 1999). Migrationssoziologische Forschungen analysieren die Faktoren, die für die Übertragung der Verpflichtungsnormen im Generationszusammenhang rele-
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Christoph Reinprecht / Ina Wilczewska
vant sind. Nach Carnein und Baykara-Krumme (2013) sind die überdurchschnittlich ausgeprägten generationsübergreifenden Solidaritätsnormen in Familien türkischer Herkunft, die auch in der zweiten Generation und in allen Altersgruppen bestehen bleiben, durch Geschlechtervorstellungen und Bildungsstatus definiert: Männer und Personen mit höherem Bildungsabschluss sind eher in der Lage, sich von den Solidaritätsnormen zu distanzieren. Weitere Einflussgrößen, welche die Erwartungen der Solidarität zwischen den Generationen stärken, sind Religiosität sowie Gefühle von Einsamkeit und sozialer Isolation. Familienzentrierte Verpflichtungsnormen werden häufig für muslimische Communities berichtet (Cehajic 2011) und als ausschlaggebend für die geringe Inanspruchnahme von sozialen Diensten angesehen (für die türkeistämmige Bevölkerung in Deutschland vgl. Okken, Spallek und Razum 2008). Vergleichende Studien weisen darauf hin, dass in migrantischen Milieus die Persistenz generationsübergreifender Verpflichtungsnormen generell stärker ausgeprägt ist als in autochthonen Bevölkerungsgruppen (de Valk und Schans 2008). Die Wahrnehmung und Bewertung dieser Solidaritätsnormen variiert in Abhängigkeit vom Bildungsniveau, aber auch von der materiellen Lebenslage (so erwarten Eltern mit niedrigem sozioökonomischem und Bildungsstand mehr Hilfe von ihren erwachsenen Kindern; vgl. Lee et al. 1998); Einflüsse zeigen auch Migrationskontext und Milieuzusammenhang. Auf der Grundlage der Ergebnisse ihrer Studie zu den pflegebezogenen Erfahrungen und Erwartungen in unterschiedlichen ethnischen Milieus in UK plädieren Giuntoli und Cattan (2011) dafür, kulturelle Aspekte nicht isoliert, sondern im Wechselverhältnis zu den institutionellen Praktiken und den individuellen Merkmalen der Personen zu untersuchen. Auf diese Weise können individuelle Bedürfnisse von allgemeinen Ansprüchen und Erwartungen unterschieden und auch etwaige kulturelle Deutungsmuster, die überindividuelle Geltung beanspruchen, identifiziert werden. Für den vorliegenden Artikel wurden mithilfe statistischer Verfahren mögliche Einflussfaktoren auf pflegebezogene Präferenzen getestet. Pflegebezogene Präferenzen sind dabei als Typen von Pflegesettings definiert. In der Analyse ging es darum, herauszufinden, inwiefern für die Akzeptanz der jeweiligen Pflegesettings Herkunft und/oder ethnisch-kulturelle Parameter verantwortlich gemacht werden können oder vielmehr (auch) alternative Erklärungsansätze (soziale Klassenlage, Status gesellschaftlicher Anerkennung, Akkulturationserfahrungen) miteinbezogen werden müssen. Die aus fünf Herkunftsgruppen komponierte Stichprobe erlaubt eine systematische Überprüfung dieser Zusammenhänge.
Die Rolle familienbezogener Verpflichtungsnormen (Familialismus)
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Daten und Methoden Für die Studie „Einfluss der Migration auf Leistungserbringung und Inanspruchnahme von Pflege- und Betreuungsleistungen in Wien“ wurden 429 Personen aus fünf Haupteinwanderergruppen (Türkei, Polen, Bosnien-Herzegowina, Serbien und Iran) in Wien befragt. Tabelle 1 enthält die Stichprobebeschreibung. Das Durchschnittsalter betrug 63 Jahre (SD = 8,88), die untere Altersgrenze wurde auf 50 Jahre festgelegt. Alle Befragten wurden außerhalb Österreichs geboren. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Österreich für die gesamte Stichprobe betrug 30 Jahre (SD = 11,34), der längste Aufenthalt betrug 70 Jahre und der kürzeste ein Jahr. Das Sample enthält ein der Grundgesamtheit entsprechendes Verhältnis von Frauen und Männern und korrespondiert mit den sozialstrukturellen Merkmalen der Grundgesamtheit (etwa in Hinblick auf Einkommen und Bildungsstatus). Die TeilnehmerInnen an der Befragung wurden teilweise mittels Schneeballsystem und teilweise über Vereine und/oder institutionelle Kontexte rekrutiert. Umgesetzt wurde die Befragung von einem mehrsprachigen Forschungsteam. Die Erhebung erfolgte mittels Face-to-face-Interviews und basierte auf einem dafür entwickelten standardisierten Fragebogen, der in deutscher, türkischer, polnischer und bosnisch-serbisch-kroatischer Sprache zur Verfügung stand. Die TeilnehmerInnen konnten die Interviewsprache (Deutsch oder die jeweilige Muttersprache) auswählen. Alle Befragten haben sich für die Muttersprache entschieden. Ergänzend wurden im Rahmen einer Spezialerhebung 85 ältere Personen autochthoner Herkunft als Kontrollgruppe befragt; diese Zusatzerhebung wird in die folgende Analyse nicht einbezogen. Die Erhebung wurde im Zeitraum von November 2014 bis April 2015 durchgeführt. In der Studie wurden neben Aspekten der Lebenslage, Alterserwartungen und Pflegeerwartungen, Einstellungen zu mobilen und stationären Angeboten und Einrichtungen, zu Familien- und intergenerationalen Beziehungen, Wertorientierungen und ethnische Zugehörigkeit sowie verschiedene Aspekte der Migrationserfahrung und des Akkulturationsprozesses erhoben.
Abhängige Variable In Bezug auf die (abhängige) Variable „pflegebezogene Präferenzen“ wurde den TeilnehmerInnen folgende Frage gestellt: Falls Sie im Alter hilfebedürftig sind, d. h. Sie nicht mehr alleine ohne Unterstützung leben können, und Sie die freie Wahl hätten: Welche der folgenden Wohnformen kämen für Sie, aus heutiger Sicht, auf alle Fälle in Frage und welche kämen nicht in Frage? Eine Auswahl möglicher Optionen war vorgegeben und die TeilnehmerInnen gaben ihre Prä-
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ferenzen auf einer 5-Punkte-Likert-Skala an. Diese reichte von 1 = kommt nicht in Frage bis 5 = kommt definitiv in Frage. In Bezug auf den Typ des Pflegesettings wurden drei Faktoren extrahiert: 1) Familienwohnung (a = 0.59), wobei die folgenden Positionen inkludiert werden: in der eigenen Wohnung mit Rund-umdie-Uhr-Betreuung von Familie/Verwandten; in der Wohnung meiner Kinder (oder anderer Familienmitglieder); bei der Familie/Verwandten in meinem Herkunftsland, 2) Eigenwohnung (a = 0.62), wobei die folgenden Positionen inkludiert werden: in der eigenen Wohnung betreut von mobilen Diensten; in der eigenen Wohnung mit professioneller 24-Stunden-Betreuung (gegen Bezahlung), und 3) stationäre Pflegeeinrichtung (a = 0.65), wobei die folgenden Positionen inkludiert werden: in einer Einrichtung (Pflegeheim, Pensionistenwohnhaus …) speziell für meine Landsleute; in einer stationären Einrichtung, die für alle offen ist. Bei der Frage nach dem bevorzugten Pflegesetting handelt es sich naturgemäß um eine hypothetische Frage, weshalb Rückschlüsse auf das tatsächliche Verhalten nicht legitim sind. Ablesbar ist jedoch der Grad der Akzeptanz der Pflegeangebote. In der Analyse kann darüber hinaus festgestellt werden, durch welche Prädiktoren die Präferenzen erklärt werden können, woraus sich wiederum Anhaltspunkte für eine potentielle Inanspruchnahme stationärer und extramuraler sozialer Dienste ableiten lassen.
Unabhängige Variablen Die Liste der unabhängigen Variablen gruppierte sich um die vorhin genannten Einflussfaktoren. Das Bildungsniveau wurde anhand von drei Kategorien gemessen. Als niedrige Ausbildung wurde eine Ausbildung ohne Reifeprüfung (Matura) betrachtet. Mittlere Ausbildung bedeutete eine Ausbildung mit erfolgreich bestandener Reifeprüfung (Matura) und höhere Ausbildung bedingte einen Universitätsabschluss. Die wirtschaftliche Lage der TeilnehmerInnen wurde auf zwei Arten gemessen. Einerseits wurden die TeilnehmerInnen gebeten, anhand einer der vorgegebenen Bandbreiten das durchschnittliche monatliche Nettoeinkommen ihres Haushalts anzugeben. Eine weitere Frage bezog sich auf die subjektive Einschätzung der eigenen gegenwärtigen Einkommenssituation. Die Einschätzung erfolgte dabei anhand einer 7-Punkte-Likert-Skala, die von 1 = sehr schlecht bis 7 = sehr gut reichte. Die Autoren haben sich dafür entschieden, die subjektive Einschätzung für die Analyse zu verwenden, zumal die persönliche Einkommenssituation von höherer Relevanz für die Studie ist als die Einkommenssituation des Haushalts. Des Weiteren kamen Zweifel an der Verlässlichkeit der Informationen über das Haushaltseinkommen auf, insbesondere aufgrund
Die Rolle familienbezogener Verpflichtungsnormen (Familialismus)
127
der Schwierigkeit, mit der sich manche Befragten konfrontiert sahen, sobald sie das Einkommen aller Haushaltsmitglieder einzuschätzen versuchten. Sprachkenntnisse (Wie fließend sprechen Sie Deutsch?) wurden anhand einer 7-Punkte-Likert-Skala gemessen, wobei diese von 1 = gar nicht bis 7 = fließend reichte. Zugehörigkeitsgefühle (Fühlen Sie sich in Österreich eher fremd oder eher zu Hause?) wurden ebenfalls anhand einer 7-Punkte-Likert-Skala gemessen, wobei diese von 1 = fühle mich sehr fremd bis 7 = fühle mich richtig zu Hause reichte. Empfundene Diskriminierung wurde in Bezug auf drei Aspekte gemessen: Kontakt mit Behörden und Ämtern, beruflicher Alltag sowie Nachbarschaftsbeziehungen. Die TeilnehmerInnen wurden ersucht anzugeben, wie oft sie Diskriminierung in den oben genannten Bereichen begegnet sind. Die Beantwortung dieser Frage erfolgte auf einer 5-Punkte-Skala: 1 = nie, 2 = selten, 3 = manchmal, 4 = immer wieder, 5 = häufig. In den vorgestellten Analysen wurde ausschließlich die Diskriminierung im Kontakt mit Behörden und Ämtern verwendet, zumal dieser Aspekt die höchste Relevanz für den Kontext der Studie aufweist. Die familialen Verpflichtungsnormen wurden anhand von folgenden Aussagen, beginnend mit „Kinder sollten“, gemessen: „mit den Eltern wohnen, wenn sie alt und pflegebedürftig sind“; „die Kosten für Pflege und Betreuung übernehmen“; „die Eltern betreuen und pflegen, auch wenn sie dafür auf etwas verzichten müssen, weil das die Aufgabe der Familie ist“; „die Pflege und Betreuung der Eltern nicht selbst übernehmen, weil die Pflege die Aufgabe von professionellen Kräften ist“. Die TeilnehmerInnen gaben ihre Zustimmung zu diesen Aussagen auf einer 7-Punkte-Likert-Skala an. Diese reichte von 1 = stimme überhaupt nicht zu bis 7 = stimme ganz zu. Die Skala zeigt eine gute Reliabilität, wobei a = 0.75. Die familialen Konformitätsnormen wurden anhand von zwei Items gemessen: „Kinder sollten die Ratschläge der Eltern befolgen“ und „Kinder sollten sich zur Kultur und Religion der Eltern bekennen“. Die Antwortskala war gleich wie bei den Verpflichtungsnormen. Die Skala zeigt eine gute Reliabilität, wobei a = 0.70. Zusätzlich wurden in den Analysen auch Religiosität und Erwartungen an die Pflegekraft berücksichtigt. Religiosität wurde anhand folgender Frage gemessen: Wie wichtig ist Religion in der Lebensführung für Sie? Die Antwort wurde anhand einer 4-Punkte-Skala gegeben: 1 = gar nicht wichtig, 2 = eher nicht so wichtig, 3 = eher schon wichtig, 4 = sehr wichtig. Die Wichtigkeit von zwei Typen von Erwartungen wurde inkludiert: Ethnizität der Pflegekraft (Zugehörigkeit zu gleicher Volksgruppe und gleiche Muttersprache wie die befragte Person) und Professionalität (ausgebildete Pflegekraft, Pflegekraft aus einer professionellen Einrichtung). Alle Skalen wurden auf Basis einer Hauptkomponentenanalyse mit Promax Rotation entwickelt.
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Christoph Reinprecht / Ina Wilczewska
Ergebnisse2 Deskriptive Darstellung von Gruppenunterschieden Alle Befragten zusammengenommen, wird unter den „pflegebezogenen Präferenzen“ die Option Eigenwohnung (mit mobiler, professioneller Betreuung) am häufigsten genannt (54 %), gefolgt von der Option stationäre Einrichtung (35 %) und Familienwohnung (24 %). Im Vergleich der fünf Herkunftsgruppen zeigen sich allerdings teils deutliche Unterschiede (Tabelle 2). So findet die Familienwohnung als Pflegesetting bei den Befragten aus Polen, der Türkei und BosnienHerzegowina stärkeren Anklang als bei den Befragten aus Serbien sowie, vor allem, dem Iran (niedrigster Wert). Letztere bevorzugen das Pflegesetting Eigenwohnung (mit mobiler, professioneller Betreuung), ebenso ein Teil der Befragten aus Bosnien-Herzegowina, im Unterschied zu Befragten aus Serbien und auch Polen.3 Ein institutionelles Setting können sich am ehesten die Befragten aus Serbien, hingegen am wenigsten die Befragten aus der Türkei vorstellen. Wie die Werte für die Standardabweichung zeigen, streuen die Aussagen in Bezug auf die institutionelle Variante (stationäre Einrichtung) relativ stark, was auf ein inhomogenes Meinungsspektrum hinweist. Unter den Herkunftsgruppen zeigen die Werte für die Kategorie Iran eine durchgehend geringe Streuung, im Unterschied zu den Befragten aus dem ehemaligen Jugoslawien. Im Zusammenhang mit der weiterführenden Analyse (multiple Regression) wurde Iran deshalb auch als Referenzgruppe gewählt.
Regressionsanalysen Woraus aber erklären sich die Gruppenunterschiede? Sind sie kulturell zu deuten, somit als Ausdruck unterschiedlicher Einstellungen zu Pflege und zu Familienpflichten? Welche Rolle spielen Akkulturationsfaktoren (Dauer des Aufenthalts, Sprachkenntnisse, emotionale Bindung, soziale Anerkennung bzw. 2 Strategie der Datenanalyse: (Ko-)Varianzanalyse (univariat) zur Untersuchung von Gruppenunterschieden bei einzelnen Variablen der pflegebezogenen Präferenz, der Verpflichtungs- und der Konformitätsnormen. In Bezug auf die Effektgrößen für Mittelwertunterschiede folgen wir Cohens (1977, 1992) Leitlinien für Effektgrößeninterpretation. In einem dritten Schritt wurden hierarchische Regressionsmodelle für jede abhängige Variable gerechnet. Die ethnischen Gruppen wurden als Dummy-Variablen codiert und andere erklärende Variablen wurden aufgenommen. Die Durchführung der statistischen Analysen erfolgten mithilfe von IBM SPSS Statistics 22. 3 Die Effektgrößen für diese beiden Variables (familienbasierte und professionelle mobile Pflege) sind eher klein (partial g2 = .03 beziehungsweise .05). Für das institutionelle Pflegesetting konnte eine mittlere Effektgröße gefunden werden (partial g2 = .07).
Die Rolle familienbezogener Verpflichtungsnormen (Familialismus)
129
Diskriminierung)? Welchen Stellenwert hat Religion? Und welchen Einfluss haben Variablen wie Alter, Einkommen und Bildung? Für die Analyse möglicher Einflussfaktoren wurde für jedes der drei Pflegesettings eine fünfstufige hierarchische multiple Regressionsanalyse berechnet (vgl. Tabelle 3). Als unabhängige Variablen in der Analyse getestet wurden im ersten Schritt die Herkunftsländer (Referenzkategorie Iran), im zweiten Schritt Bildung (niedrigste Bildungskategorie als Referenz), Einkommen und Alter, im dritten Schritt deutsche Sprachkenntnisse, Zugehörigkeitsgefühle zu Österreich sowie Diskriminierungserfahrungen bei Ämtern und Behörden, in einem vierten Schritt Religiosität und Erwartungen an die Pflegekraft, sowie in einem abschließenden fünften Schritt familiale Verpflichtungs- und Konformitätsnormen.4 Die Analyseergebnisse verweisen auf folgende Zusammenhänge: Nationale Herkunft beeinflusst primär das Pflegesetting Familienwohnung; höhere Bildung und höheres Einkommen begünstigen die Präferenz für das Setting Eigenwohnung; akkulturationsbezogene Variablen begünstigen eine Präferenz für das Setting Familienwohnung (bei emotionaler Distanz zu Österreich) sowie für das institutionelle Setting (Fehlen von Diskriminierungserfahrungen); Ethnizität (Religion, Wunsch nach ethnisch gleicher Betreuungsperson) ist ohne Einfluss, professionalitätsbezogene Erwartungen begünstigen hingegen die Präferenz für die Inanspruchnahme mobiler Dienste (Setting Eigenwohnung); familiale Verpflichtungsnormen begünstigen signifikant eine Präferenz für das Setting Familienwohnung; hingegen fallen familiale Konformitätsnormen nicht ins Gewicht. In Bezug auf die einzelnen Pflegesettings lässt sich zusammenfassen (die Darstellung bezieht sich im Folgenden nur auf die fünfte Stufe der multiplen Regressionsanalyse; für die vollständige Übersicht siehe Tabelle 3): Eigenwohnung mit mobilen Diensten und/oder professioneller 24-StundenBetreuung: Dieses Pflegesetting wird signifikant häufiger präferiert bei guter Einkommenssituation, einer höheren Bildung sowie einer professionalitätsbezogenen Erwartung an die Pflegekraft bzw. die Pflegeleistungen. In Bezug auf die Herkunftsländer (mit Referenz zu Befragten aus dem Iran, welche die höchste Präferenz und am homogensten eine Präferenz für dieses Setting äußerten) sinkt für Befragte aus Polen tendenziell die Wahrscheinlichkeit einer positiven Bewertung dieses Pflegesettings. Die erklärte Varianz bei Einbeziehung aller unabhängigen Variablen beträgt 15,5 %, insgesamt erweist sich das Modell als gut an die Daten angepasst F (13, 369) = 4,23, p & lt; 0,001. Stationäre Einrichtung: Die Wahrscheinlichkeit, dass für dieses Pflegesetting 4 Für alle drei abhängigen Variablen – familienzentrierte Pflege, mobile Betreuung und institutionelle Betreuung – ist das Modell signifikant.
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Präferenz geäußert wird, steigt mit mittlerer Bildung und fehlenden Diskriminierungserfahrungen in Ämtern und Behörden. In Bezug auf die Herkunftsgruppen ergibt sich für Befragte aus Serbien eine etwas stärkere Wahrscheinlichkeit für diese Präferenz. Die erklärte Varianz beträgt 10,7 %, das Modell ist gut an die Daten angepasst F(16, 370) = 2.78, p < .001. Familienwohnung: Befragte aus der Türkei und Bosnien (in Bezug auf die Referenzgruppe Iran) zeigen eine leicht stärkere Tendenz zur Befürwortung dieses Pflegesettings. Begünstigend wirken zudem die gefühlte Distanz zu Österreich (Zugehörigkeitsgefühl) sowie, vor allem, familiale Verpflichtungsnormen; für diese zeigt sich ein stark signifikanter Einfluss. Die erklärte Varianz unter Einschluss aller unabhängigen Variablen beträgt 25,5 %, das Modell ist gut an die Daten angepasst F(16, 378) = 7.91, p < .001.
Schlussfolgerungen und Diskussion Welche Dimension kultureller Prägung (bzw. Akkulturation) ist also von Relevanz? Die Analysen lassen keine einfache Antwort zu. Zum einen zeigen sich für nationale Herkunft und Ethnizität keine eindeutigen Effekte. Diese finden sich am ehesten im Zusammenhang mit dem Pflegesetting Familienwohnung, wobei diese Ausrichtung auch durch eine fehlende Akkulturation (Distanzgefühle zum Aufnahmeland) sowie durch die Orientierung an familialen Verpflichtungsnormen begünstigt wird. Wie weiterführende Analysen zeigen, werden diese Orientierungen bei geringem Bildungskapital, vor allem aber durch Religiosität favorisiert. In Bezug auf das von allen Befragten am häufigsten präferierte Pflegesetting Eigenwohnung mit mobilen Diensten manifestiert sich die inklusions- bzw. integrationsfördernde Funktion von (stabilem) Einkommen und (höherer) Bildung: Während Letztere nicht zuletzt bedeutsam ist, um an Informationen zu kommen und diese einzuordnen, aber auch für die Ausbildung von „modernen“ Erwartungen an die Pflege(kraft), minimiert eine stabilere sozioökonomische Situation die im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von sozialen Diensten allgemein existierenden, in migrantischen Kontexten aber verstärkten Befürchtungen, etwa vor finanziellen Belastungen, behördlicher Herabsetzung etc. In Hinblick auf die Präferenz für eine stationäre Einrichtung wiederum ist es gerade dieser zuletzt genannte Aspekt, nämlich die Bedeutung von Diskriminierungserfahrungen, die für eine Inanspruchnahme von sozialen Diensten hinderlich ist. Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Nicht eine bestimmte nationale Herkunft oder das Faktum der Migration als solches sind die bestimmenden Variablen für die Akzeptanz von Pflegesettings. Strukturierend wirkt vielmehr
Die Rolle familienbezogener Verpflichtungsnormen (Familialismus)
131
die vom Bildungskapital sowie vom Migrations- bzw. Integrationserfolg (gemessen an Variablen wie relatives sozioökonomisches Wohlergehen oder Fehlen von Diskriminierung) mitbeeinflusste Stellung in der Gesellschaft. Als bedeutsam erweisen sich die Inklusionserfahrung (Diskriminierung) für die Akzeptanz institutioneller Settings, Sozial- und Bildungsstatus für die Akzeptanz mobiler Dienste, während generationsübergreifende Verpflichtungsnormen die Orientierung am Pflegesetting Familienwohnung stärken. Diese Normen wirken jedoch nicht (weder negativ noch positiv) auf die an mobilen oder auch stationären Einrichtungen orientierten Präferenzen. Für Konformitätsnormen und Religiosität zeigt die Analyse hingegen keinen Effekt. Diese Ergebnisse stützen somit das Argument, dass, auch als Folge des Wandels von Migrationsmustern und Eingliederungsprozessen, Milieudifferenzierungen jenseits vereinfachender Zuschreibungen entlang nationaler oder ethnischer-kultureller bzw. religiöser Kategorien erfolgen. Die Ergebnisse dieser Forschung werfen somit ein kritisches Licht auf die verbreitete und kulturalisierende Perspektive auf den Stellenwert der Familie im Migrationsprozess und insbesondere familienorientierter Präferenzen und Normen bei Pflegebedürftigkeit. Auch wenn Familialismus die Wahrscheinlichkeit einer Binnenorientierung erhöht, erklärt sich die Nichtinanspruchnahme von sozialen Diensten im Migrationskontext letztlich weniger aus der Dominanz von Verpflichtungsnormen als aus der Erfahrung ökonomischer Marginalisierung und gesellschaftlicher Isolation. Der Rekurs auf Verpflichtungsnormen begründet in solchen Kontexten der Marginalität die vollständige und radikale Orientierung am „Gemeinwesen der häuslichen Welt“ (Boltanski und Thevenot 2007), aus der heraus Kritik an der Welt formuliert und private Arrangements entworfen werden, bis hin zum Selbstausschluss.
Literatur Blacksher, Erika 2008: ,Healthcare disparities: the salience of social class‘, Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics, vol. 17, no. 2, 143–153. Boltanski, Luc/Thevenot, Laurent 2007: Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft, Hamburg. Burr, Jeffrey A./Mutchler, Jan E. 1999: ,Race and ethnic variation in norms of filial responsibility among older persons‘, Journal of Marriage and the Family, vol. 61, no. 3, 647–687. Carnein, Mari/Baykara-Krumme, Helen 2013: ,Einstellungen zur familialen Solidarität im Alter: Eine vergleichende Analyse mit türkischen Migranten und Deutschen‘, Zeitschrift für Familienforschung, no. 25, 29–52. Cehajic, Alma 2011: Erfahrungen zur kultursensiblen Pflege und Betreuung aus der Perspektive von muslimischen Migrantinnen im Seniorenalter mit Schwerpunkt Bosnien
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und Herzegowina. Unveröffentlichte Master-Arbeit, Fakultät für Sozialwissenschaften, Universität Wien. Cohen, Jacob 1992: ,A power primer‘, Psychological Bulletin, vol. 112, 155–159. de Valk, Helga A./Schans, Djamlia 2008: ,„They ought to do this for their parents“: Perceptions of filial obligations among immigrant and Dutch older people‘, Ageing and Society, vol. 28, 49–66. Flores, Yvette G./Hinton, Ladson/Barker, Judith C./Franz, Carol. E./Velasquez, Alexandra 2009: ,Beyond familism: a case study of the ethics of care of a latina caregiver of an elderly parent with dementia‘, Health Care for Women International, vol. 30, no. 12, 1055–1072. Giuntoli, Gianfranco/Cattan, Mima 2011: ,The experiences and expectations of care and support among older migrants in the UK‘, European Journal of Social Work, vol. 15, no. 1, 131–147. Herrera, Angelica P./Lee, Jerry/Palos, Guadalupe/Torres-Vigil, Isabel 2008: ,Cultural influences in the patterns of long-term care use among Mexican-American family caregivers‘, Journal of Applied Gerontology, vol. 27, 141–165. Khan-Zvornicˇanin, Meggi 2016: Kultursensible Altenhilfe? Neue Perspektiven auf Programmatik und Praxis gesundheitlicher Versorgung im Alter. Bielefeld. Lee, Gary R./Peek, Chuck W./Coward, Raymon T. 1998: ,Race differences in filial responsibility expectations among older parents‘, Journal of Marriage and the Family, vol. 60, no. 2, 404–412. Luna, Isela/de Ardon, Esperanza T./Lim, Young M./Cromwell, Sandra L./Phillips, Linda R./ Russell, Cynthia K. 1996: ,The relevance of familism in cross-cultural studies of family caregiving‘, Western Journal of Nursing Research, vol. 18, 267–283. Nauck, Bernhard 2000: ,Eltern-Kind-Beziehungen in Migrantenfamilien – ein Vergleich zwischen griechischen, italienischen, türkischen und vietnamesischen Familien in Deutschland‘, in: Sachverständigenkommission, 6. Familienbericht (Hg.): Empirische Beiträge zur Familienentwicklung und Akkulturation. Materialien zum 6. Familienbericht, Bd. 1, Opladen, 347–392. Okken, Petra-Karin/Spallek, Jacob/Razum, Oliver 2008: ,Pflege türkischer Migranten‘, in Ullrich Bauer/Andreas Büscher (Hg.): Soziale Ungleichheit und Pflege. Wiesbaden, 396–422. Razum, Oliver 2006: Globalisierung – Gerechtigkeit – Gesundheit. Einführung in International Public Health, Bern. Reinprecht, Christoph 2014: ,Interkulturelle Altenpflege‘, WISO Wirtschafts- und Sozialpolitische Zeitschrift, vol. 37, no. 4, 92–106. Reinprecht, Christoph/Rossbacher, Eva/Zarkovic, Tatjana/Wilczewska, Ina/Alpagu, Faime/ Koyupinar, Devran 2016: Einfluss der Migration auf Leistungserbringung und Inanspruchnahme von Pflege- und Betreuungsleistungen in Wien, Wien (Wiener Sozialpolitische Schriften, Bd. 9). Rossi, Alice S./Rossi, Peter H. 1990: Of Human Bonding: Parent-Child Relations across the Life-Course, New York. Scharlach, Andrew E./ Hoshino, Kazumi 2013: Healthy Aging in Sociocultural Context. New York and London. Wimmer, Andreas 2009: ,Herder’s heritage and the boundary-making approach: studying ethnicity in immigrant societies‘, Sociological Theory, vol. 27, 244–270.
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Die Rolle familienbezogener Verpflichtungsnormen (Familialismus)
Tabelle 1. Stichprobebeschreibung Variable
Gesamt Türkei Polen
BosnienHerzegowina Serbien Iran
N Alter (M, SD) Geschlecht: männlich (%)
409 62,5 (8,79) 43,0 %
111 62,5 (9,32) 46,8 %
88 59,1 (7,86) 33,0 %
74 62,4 (8,28) 36,5 %
62 64,2 (8,20) 54,8 %
74 65,1 (8,87) 45,9 %
Ausbildung (%) niedrig mittel hoch Einkommenssituation (M, SD)
47,7 % 25,2 % 27,2 % 1,25 (1,26)
81,3 % 14 % 4,7 % 3,96 (1,22)
18,2 % 33 % 48,9 % 4,41 (1,07)
55,4 % 32,4 % 12,2 % 4,62 (1,26)
71 % 21 % 8,1 % 4,37 (1,50)
6,8 % 28,4 % 64,9 % 4,03 (1,20)
Aufenthaltsdauer (Jahre) (M, SD) Dt. Sprachkenntnisse (M, SD)
29,8 (11,34) 4,23 (1,53)
33,1 (10,53) 3,75 (1,37)
25,1 (9,27) 4,75 (1,47)
27,7 (11,84) 3,92 (1,50)
34,3 (11,12) 4,44 (1,54)
28,6 (11,81) 4,48 (1,63)
Zugehörigkeit zu Österreich (M, SD) Diskriminierung durch Ämter (M, SD)
5,27 (1,73) 1,82 (1,06)
5,50 (1,81) 2,09 (1,34)
5,48 (1,20) 1,70 (0,81)
5,16 (1,75) 1,54 (0,98)
4,67 (2,17) 1,56 (0,79)
5,28 (1,64) 2,05 (1,01)
Religiosität (M, SD) Ethnizität der Pflegekraft (M, SD)
2,9 (1,16) 2,93 (1,36)
2,9 (1,19) 2,95 (1,49)
3,5 (0,76) 2,86 (1,27)
3,2 (1,09) 3,09 (1,43)
2,8 (1,00) 3,10 (1,37)
1,8 (0,98) 2,70 (1,15)
Professionalität der Pflegekraft (M, SD) Familiale Verpflichtungsnormen (M, SD)
4,13 (1,10) 3,25 (1,63)
4,32 (0,95) 3,64 (1,48)
3,65 (1,13) 3,16 (1,60)
4,18 (1,06) 3,20 (1,71)
4,06 (1,11) 3,28 (1,79)
4,43 (0,85) 2,80 (1,54)
Familiale Konformitäts4,78 4,64 4,12 5,43 5,65 4,34 normen (M, SD) (1,87) (1,91) (1,66) (1,82) (1,68) (1,81) Anmerkungen: T = Türkei, P = Polen, BH = Bosnien-Herzegowina, I = Iran, S = Serbien. Höhere Werte weisen auf höhere Übereinstimmung mit familialen Verpflichtungsnormen und familialen Konformitätsnormen. Statistical test for differences: ANOVA F-test (means) and w2 test (frequencies): not significant = ns.
406 2,46 (1,17)
3,37 (1,26) 2,78 (1,37)
N Familienwohnung (M, SD)
Eigenwohnung (M, SD) Stationäre Pflegeeinrichtung (M, SD)
3,35 (1,26) 2,41 (1,26)
109 2,65 (1,18)
Türkei
3,17 (1,25) 2,48 (1,29)
87 2,68 (1,22)
Polen
3,61 (1,37) 3,09 (1,55)
74 2,58 (1,06)
BosnienHerzegowina
3,06 (1,40) 3,34 (1,59)
62 2,29 (1,18)
Serbien
Iran
3,66 (0,89) 2,92 (0,96)
74 1,96 (1,05) F(4, 401) = 3.29, p < .05 (I > S) F(4, 401) = 7.18, p < .001 (T, P < BH, S)
(und Paarvergleich) F(4, 401) = 5.59, p < .001 (T, P, BH > I)
Statistischer Test
Effektgröße
,07
,03
,05
(partiell g2)
Anmerkungen: T = Türkei, P = Polen, BH = Bosnien-Herzegowina, I = Iran, S = Serbien. Höhere Werte weisen auf stärkere Präferenzen für gegebenen Pflegesetting hin.
Gesamt
Variable
Tabelle 2. Gruppenunterschiede in Bezug auf Präferenzen für drei Pflegesettings
134 Christoph Reinprecht / Ina Wilczewska
.07 .23**
.24** .23**
.12 (ref)
-.08
.01
Polen BosnienHerzegowina
Serbien Ausbildung: niedrig
Ausbildung: mittel Ausbildung: hoch
-.11 (ref)
-.19** .03
(ref) .02
-.19**
(ref) .24**
.02
B
-.18** -.03
(ref) -.12
Iran Türkei
.07
D R2 .05***
.11
.26*** .22**
Polen BosnienHerzegowina
.05
R2
Serbien Schritt 2
(ref) .25***
b
Iran Türkei
Regressoren Schritt1
Familienwohnung
Tabelle 3. Hierarchische multiple Regressionsanalyse für drei Pflegesettings
.11
.04
R2
Eigenwohnung
.07***
D R2 .04**
.10
.14*
.16* (ref)
-.12 .09
(ref) -.09
.11
-.13* .04
(ref) -.17*
B
.08
.07
R2
.01
D R2 .07***
Stationäre Pflegeeinrichtung
Die Rolle familienbezogener Verpflichtungsnormen (Familialismus)
135
.23**
.09 (ref)
-.06
.06
Serbien Ausbildung: niedrig
Ausbildung: mittel Ausbildung: hoch
Dt. Sprachkenntnisse
Einkommenssituation Alter
.07
.24*** .20**
Polen BosnienHerzegowina
-.02
-.05
-.11*
-.07
.18**
-.00
-.10 (ref)
-.19** .03
(ref) .02
-.03
B .21***
(ref) .26**
.03**
D R2
Iran Türkei
.10
R2
-.10
-.06
b
Familienwohnung
Alter Schritt 3
Regressoren Einkommenssituation
(Fortsetzung)
.12
R2
Eigenwohnung
.01
D R2
.05
-.00
-.05
.09
.13*
.15* (ref)
-.13* .08
(ref) -.09
.01
-.02
B
.09
R2
.01
Stationäre Pflegeeinrichtung D R2
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.22**
-.02
.11
Ausbildung: mittel Ausbildung: hoch
Dt. Sprachkenntnisse
Einkommenssituation Alter
.08
.05 (ref)
.02
-.04
-.11*
-.02
.18**
B
-.01
-.10 (ref)
-.17* .01
Serbien Ausbildung: niedrig
(ref) .01
-.07
.08
.09 .13
.05***
D R2
Polen BosnienHerzegowina
.15
R2
(ref) .21**
-.07
b -.17**
Familienwohnung
Iran Türkei
Diskriminierung durch Ämter Schritt 4
Regressoren Zugehörigkeit zu Ö.
(Fortsetzung)
.15
R2
Eigenwohnung
.03**
D R2
.06
-.01
-.05
.06
.12*
.17* (ref)
-.06 .11
(ref) -.06
-.10
.03
B
.10
R2
.01
Stationäre Pflegeeinrichtung D R2
Die Rolle familienbezogener Verpflichtungsnormen (Familialismus)
137
.11***
-.10
.05
Ausbildung: hoch
Ausbildung: niedrig Ausbildung: mittel
.01
.15*
BosnienHerzegowina Serbien
.21**
.07
-.01
.12
(ref)
(ref)
.01 -.18*
(ref)
(ref)
.18* .13
.17**
-.07
Türkei Polen
.06
B
.10
.05
.07
.20**
.26
D R2
-.08
R2
-.05
-.13*
b
Familienwohnung
Schritt 5 Iran
Ethnizität der Pflegekraft Professionalität der Pflegekraft
Diskriminierung durch Ämter Religiosität
Regressoren Zugehörigkeit zu Ö.
(Fortsetzung)
.16
R2
Eigenwohnung
.01 V
D R2
.06
.12*
(ref)
.17*
.11
-.05 -.06
(ref)
.08
.05
-.09
-.11*
.02
B
.11
R2
.01
Stationäre Pflegeeinrichtung D R2
138 Christoph Reinprecht / Ina Wilczewska
-.01
-.07
.36***
Familiale .01 Konformitätsnormen Anmerkungen: *p < .05, ** p < 0.1, *** p < .001
.17**
-.07
Professionalität der Pflegekraft Familiale Verpflichtungsnormen
.07 .07
.11 .02
-.08
-.04
B
Religiosität Ethnizität der Pflegekraft
.07
-.05 .02
.18**
-.13*
D R2
Zugehörigkeit zu Ö. Diskriminierung durch Ämter
R2
-.06 -.02
-.01
b
Familienwohnung
Alter Dt. Sprachkenntnisse
Regressoren Einkommenssituation
(Fortsetzung)
R2
Eigenwohnung D R2
.02
-.07
.08
-.08 .07
-.11*
.02
-.01 .06
-.05
B
R2
Stationäre Pflegeeinrichtung D R2
Die Rolle familienbezogener Verpflichtungsnormen (Familialismus)
139
Anna Faustmann / Lydia Rössl
Migration und Sucht – Herausforderungen für die Präventionsarbeit
Die Pluralisierung der österreichischen Bevölkerung und die damit einhergehenden Dynamiken unterschiedlicher migrationsbedingter Erlebnisse und Lebensumstände beeinflussen die Prävalenzstrukturen für Sucht und Abhängigkeit. Im österreichischen Drogenbericht 2013 wird darauf hingewiesen, dass nicht der Migrationshintergrund per se, sondern derzeitige Lebensumstände und soziale Faktoren eine Gruppe vulnerabel und somit in einem erhöhten Ausmaß von Sucht betroffen machen (vgl. Weigl et al. 2013:25). Bei Betrachtung der Rahmenbedingungen von Migration, Integration, Flucht und der Lebenssituation von MigrantInnen (z. B. kritische Lebensereignisse, schwierige Re-Sozialisierungsprozesse, unsicherer Aufenthaltsstatus, ungesicherte finanzielle Lebenssituation, traumatisierenden Erlebnissen etc.) zeigt sich eine Vielzahl an Faktoren, die eine höhere Wahrscheinlichkeit der Entwicklung eines Substanzmissbrauchs begünstigen (vgl. Weigl et al. 2016:108; BPtK 2015:8; Marik-Lebeck und Wiesbauer 2010; Biffl 2007). Auch wenn die Migration an sich kein Auslöser für Suchtverhalten ist, so kann doch das Zusammenwirken vieler Faktoren, etwa migrationsbedingte Erlebnisse in Kombination mit den Lebensumständen in Österreich, die Prävalenz für Sucht unter Personen mit Migrationshintergrund beeinflussen. Betreffend die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung und insbesondere die Suchtprävention, die ein zentrales Anliegen dieses Beitrags darstellt, kann allerdings davon ausgegangen werden, dass sich das Gesundheitssystem generell und die Präventionsarbeit im Besonderen1 mit neuen und zum Teil sehr spezifischen Herausforderungen auseinandersetzen müssen. Dies wiederum entspricht der Zielgruppendefinition der selektiven Suchtprävention (vgl. Weigl et al. 2013:23)
1 Es gibt mehrere Möglichkeiten, Unterscheidungen zwischen Präventionsmaßnahmen vorzunehmen. In diesem Beitrag wird zwischen „struktureller“, „universeller“, „selektiver“ und „indizierter“ Suchtprävention differenziert. Während strukturelle und universelle Suchtprävention sich an die breite Bevölkerung richten, sprechen die selektive und indizierte Suchtprävention bestimmte Zielgruppen an (vgl. EMCDDA 2011:20f.).
142
Anna Faustmann / Lydia Rössl
und verleiht dem Thema Migration, Sucht und Suchtprävention besondere Bedeutung.
1.
Hintergrund und Problemdarstellung
Die öffentliche Wahrnehmung der Zuwanderung nach Österreich ist stark geprägt von der sprunghaft angestiegenen Fluchtmigration, die 2014 einsetzte und 2015 ihren Höhepunkt erreichte. Österreich hat jedoch eine lange Tradition der Zuwanderung, die in mehreren Migrationswellen verlaufen ist. Dazu zählen die traditionelle Gastarbeiterzuwanderung in den 1960er und 1970er Jahren aus Ländern des ehemaligen Jugoslawien und der Türkei, die Fluchtmigration als Folge der Balkankriege in den 1990er Jahren sowie auch die Zuwanderung aus anderen Ländern der Europäischen Union nach dem Beitritt Österreichs 1995, die insbesondere ab der Osterweiterung der Europäischen Union 2004 stark zugenommen hat. Dies spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der ausländischen Bevölkerung in Österreich wider : Die fünf größten Migrantengruppen Österreichs gemessen an der ausländischen Staatsbürgerschaft kommen aus Deutschland (176.463 Personen), Serbien (116.626 Personen), der Türkei (116.026 Personen), Bosnien und Herzegowina (93.973 Personen) und Rumänien (82.949 Personen) (vgl. Statistik Austria 2016:27). Nichtsdestotrotz hat die aktuelle Flüchtlingswelle vor allem aus Syrien und Afghanistan die Zuwanderungsstruktur deutlich verändert. Während 2014 die wichtigsten Herkunftsregionen der Neuzugewanderten noch Rumänien, Deutschland und Ungarn waren2 (vgl. Statistik Austria 2015:8), entfielen 2015 die höchsten Wanderungssalden bereits auf Personen aus Syrien (21.900), Afghanistan (18.600) und Irak (10.000), erst danach folgten Rumänien, Ungarn und Deutschland. Die Zuwanderung aus Drittstaaten machte 2015 aufgrund der stark angestiegenen Fluchtmigration in Summe die Hälfte der gesamten Zuwanderung aus (107.000 von gesamt 214.400 Zuzügen aus dem Ausland) (vgl. Statistik Austria 2016:8). Eine Migrationserfahrung ist ein Ereignis im Leben eines Menschen, das mit unterschiedlichen tiefgreifenden Veränderungen auch auf psychischer und psychosozialer Ebene einhergeht. Neben Verlust des gewohnten sozialen Umfelds im Herkunftsland und Anpassungsanforderungen während des Migrationsprozesses wirken auch Integrationsanforderungen und mögliche Ausgrenzungserfahrung im Zielland als psychische Belastungsfaktoren auf Gesundheit und Wohlbefinden (vgl. Schellong, Epple und Weidner 2016:434; Okken, Spallek und Razum 2008:282f.). Der Grad der psychischen Belastung in Zusammenhang 2 2014 gab es bereits einen deutlichen Anstieg von AsylwerberInnen, insbesondere aus Syrien (7.730) und Afghanistan (5.076) (vgl. Statistik Austria 2015:8).
Migration und Sucht – Herausforderungen für die Präventionsarbeit
143
mit einer Migrationserfahrung hängt aber auch von der Aufenthaltsdauer ab: Insbesondere in den ersten Jahren nach der Ankunft im Aufnahmeland kann es häufig zu Desillusionierung und Demoralisierung und damit auch zu wachsender Stressbelastung kommen. Eine darauf folgende Adaptions- und Stabilisationsphase führt zu einer Stressreduktion und damit auch zu mehr Wohlbefinden. Mit steigender Aufenthaltsdauer jedoch nehmen psychische Belastungen bei MigrantInnen wieder zu, da oftmals ungünstiges Gesundheitsverhalten und ein nachteiligerer Lebensstil übernommen und gleichzeitig Ressourcen aus sozialen Netzwerken und kulturellen Traditionen vernachlässigt werden (vgl. Kirkcaldy et al. 2006:879). Hinzu kommen auch Ausgrenzung und Marginalisierung im Aufnahmeland sowie Unsicherheiten etwa in Bezug auf die aufenthaltsrechtliche Situation als weitere verstärkende psychische Belastungsfaktoren (vgl. Schouler-Ocak 2015:527). Diese Zusammenhänge sind auf multifaktorielle Ursachen zurückzuführen. So etwa zeigen die Ergebnisse von Di Gallo (2010:53f.), dass soziale Risikofaktoren insbesondere bei Kindern und Jugendlichen zu psychischen Belastungsstörungen führen können. Fazel et al. (2012) identifizieren anhand von MetaAnalysen vielfältige Risikofaktoren, denen insbesondere Kinder, die in reichere Länder migrieren, ausgesetzt sind. Dazu zählen Gewalterfahrungen (vor und nach der Migration), nichtbegleitete Migration, Diskriminierungserfahrungen, mehrere Umzüge im Einwanderungsland, Armut, alleinerziehende Eltern und psychische Störungen der Eltern. Weitere Faktoren sind unsichere Lebensbedingungen, eine anhaltende belastende Integrationssituation oder ein traumatisierendes Migrationserlebnis. Ein traumatisches Ereignis kann definiert werden „[…] als die Erfahrung von Gewalt, die das eigene Leben oder die körperliche Integrität bedroht und starke Angst, Schrecken und Hilflosigkeit auslöst. Auch das Mitansehen von Gewalt gegen andere fällt unter diese Definition“ (Kuhn 2004:111). Am häufigsten untersuchte traumatische Erfahrungen umfassen Kriegserlebnisse, Naturkatastrophen, sexuelle Übergriffe und das Erleben körperlicher Gewalt (vgl. Kuhn 2004:111). Zu den Folgen von Traumata zählen u. a. Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), deren Symptome umfassen: das Wiedererleben des Traumas (z. B. Albträume, Flash-backs), intensive traumabezogene Emotionen, Vermeidungsverhalten (Vermeidung traumabezogener Erinnerungen, psychogene Amnesie, Absonderung, sozialer Rückzug, Entfremdung) oder Übererregbarkeit (Konzentrationsstörungen, allgemeine Reizbarkeit, Wutausbrüche, vermehrte Wachsamkeit, Schreckreaktionen) (vgl. Kuhn 2004:111). PTBS und damit verbundene Symptome treten häufig erst in deutlichen Zeitabständen zu den verursachenden Erlebnissen auf und sind in ihrer Behandlung sehr kosten- und zeitintensiv. Forschungsergebnisse zeigen eindeutige Zusammenhänge zwischen PTBS und Substanzabhängigkeit. Einige Studien sprechen von einem 4,5-mal erhöhten
144
Anna Faustmann / Lydia Rössl
Risiko des Substanzmissbrauchs bei einer Belastung durch PTBS. Substanzmissbrauch ist hierbei häufig eine Folge des Versuchs Betroffener, Symptome von PTBS zu lindern (vgl. Breslau 2002:927). Laut Schellong, Epple und Weidner (2016:434) zählen auf Basis klinischer Erfahrungen neben PTBS auch Depressionen, Angststörungen und psychosomatische Beschwerden zu jenen psychischen Störungen, die rund um Migrationserfahrungen besonders häufig auftreten. Dies gilt insbesondere für Menschen mit einer Fluchterfahrung, die häufig mit traumatisierenden Erlebnissen einhergeht. Neben PTBS als Traumafolgestörung treten in diesem Zusammenhang sehr häufig auch Störungen auf psychosozialer Ebene sowie komorbide Störungsbilder wie etwa Abhängigkeitserkrankungen auf (vgl. ebd. 434f.). Das Gesundheits- und Präventionsverhalten der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Österreich wurde bisher nur begrenzt beforscht. Es handelt sich hier in vielerlei Hinsicht um ein offenes Forschungsfeld, was nicht zuletzt an der Komplexität des Themenfeldes und den vielseitigen Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Faktoren liegt. In den Berichten zur Drogensituation in Österreich wurden MigrantInnen bis 2016 kaum erwähnt (siehe dazu die Drogenberichte für Österreich seit 20023). Im Bericht 2016 wird als neue Maßnahme erstmals die Verringerung von Zugangsbarrieren für MigrantInnen zu drogenbezogener Behandlung angesprochen (vgl. Weigl et al. 2016:130) und werden MigrantInnen erstmalig als eigene Zielgruppe der selektiven Suchtprävention definiert: „Die Lebenssituation von Personen mit Migrationshintergrund kann mit einem höheren Risiko der Entwicklung einer Suchterkrankung verbunden sein, da Migration an sich ein traumatisierendes und in der Folge suchtauslösendes Lebensereignis darstellen kann. Im Sinne der selektiven Prävention werden vor allem jene Migrantinnen und Migranten als Zielgruppe gesehen, die aufgrund ihrer aktuellen Lebensumstände und sozialer Faktoren besonders vulnerabel sind und im Rahmen von universeller Suchtprävention nicht ausreichend erreicht werden können“ (Weigl et al. 2016:108). Zu den wenigen vorhandenen Daten gehört die Österreichische Gesundheitsbefragung (ATHIS), die ergibt, dass Menschen mit türkischer oder ex-jugoslawischer Staatsangehörigkeit wesentlich seltener präventive Gesundheitsleistungen (wie etwa Früherkennungs- und Vorsorgeangebote) in Anspruch nehmen und außerdem auch häufiger nötige Arztbesuche auslassen (vgl. Statistik Austria 2015:68). Auf Basis der vorhandenen Datenlage können allerdings keine Aussagen zur Inanspruchnahme von Maßnahmen der Suchtprävention 3 Die Berichte zur Drogensituation in Österreich gehen bis in das Jahr 2002 zurück und werden vom Ministerium für Gesundheit und Frauen in Auftrag gegeben. Sie können unter folgender Website abgerufen werden: https://www.bmgf.gv.at/home/Schwerpunkte/Drogen_Sucht/Dro gen/Berichte_zur_Drogensituation_in_Oesterreich (abgerufen am 13. 6. 2017).
Migration und Sucht – Herausforderungen für die Präventionsarbeit
145
durch Menschen mit Migrationshintergrund getroffen werden. Gleichzeitig legt das Spektrum migrationsbegleitender Rahmenbedingungen eine besondere Gefährdung von Menschen mit Migrationshintergrund in Bezug auf Sucht und Abhängigkeit nahe, unabhängig davon, ob diese Faktoren migrations- oder kulturspezifisch sind: Neben kritischen Lebensereignissen im Zuge der Migration, schwierigen Adaptions- bzw. Integrationsprozessen, unsicherem Aufenthaltsstatus und ungesicherter ökonomischer Situation können auch Traumatisierungen aufgrund von Krieg und Gewalt und in Zusammenhang mit Fluchtmigration zu einer erhöhten Prävalenz von Substanzmissbrauch beitragen (vgl. Ameskamp et al. 2016:1ff.; BPtK 2015:8). Erschwerend bestehen für Menschen mit Migrationshintergrund höhere Zugangsschwellen zu Unterstützungseinrichtungen; sie haben keine oder nur wenige soziale Netzwerke im Aufnahmeland, meist geringe Sprach- und Systemkenntnisse und sind häufiger von sozioökonomischen Benachteiligungen betroffen (vgl. Marik-Lebeck und Wiesbauer 2010; Biffl 2007). Der vorliegende Beitrag4 beschäftigt sich daher mit der Frage, wie Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen auf individueller Ebene wahrgenommen werden, welche Rolle dabei migrationsspezifische Aspekte spielen und welche Implikationen dies für die Suchtprävention in Österreich hat.
2.
Methodische Vorgehensweise, Zielgruppen und Datengrundlage
Um die komplexen Fragestellungen in Bezug auf die Zusammenhänge zwischen Migration, Prävalenz von Sucht und Abhängigkeit sowie kultur- und migrationsspezifischen Besonderheiten im Verständnis von Sucht und Abhängigkeit zu beantworten, ist es notwendig, ein differenziertes methodisches Vorgehen zu verfolgen. Zu diesem Zweck wurde ein methodischer Zugang auf Basis einer „Sequential Explanatory Strategy“ (Creswell 2009:211f.) entwickelt: Der angewandte Mixed-Methods-Ansatz beinhaltete qualitative Einzelinterviews mit MigrantInnen, eine quantitative Online-Befragung mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit und ohne Migrationshintergrund sowie Fokusgruppen mit ExpertInnen, wobei die einzelnen Forschungsschritte sequentiell aufgebaut 4 Dieser Beitrag basiert auf den Ergebnissen aus dem Forschungsprojekt „Das Verständnis von Sucht von MigrantInnen in Österreich und Implikationen für die Präventionsarbeit“, das am Department für Migration und Globalisierung der Donau-Universität Krems unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Gudrun Biffl durchgeführt wurde. Eine ausführliche Beschreibung der Forschungsergebnisse findet sich in Biffl, Gudrun/Rössl, Lydia 2015 (Hg.): Suchtverhalten & Migration. Zur Praxis der Präventionsarbeit in Österreich, Bad Vöslau. Das Forschungsprojekt und die Publikation dazu wurden aus Mitteln der Gemeinsamen Gesundheitsziele aus dem Rahmen-Pharmavertrag gefördert.
146
Anna Faustmann / Lydia Rössl
wurden. Dieses Vorgehen gewährleistet, möglichst unterschiedliche Perspektiven und Sichtweisen auf die Forschungsfrage zu erhalten, weshalb die einzelnen Forschungsschritte auch auf jeweils spezifische Zielgruppen mit unterschiedlichen Fragekomplexen und Ebenen des Erkenntnisgewinns fokussieren (vgl. Flick 2011:37). Obwohl Flüchtlinge als Zielgruppe nicht spezifisch benannt wurden, wurden Flucht als besondere Form der Migrationserfahrung, Traumatisierungen und die oftmals besonders schwierig Situation von AsylwerberInnen im qualitativen wie auch im quantitativen Erhebungsteil thematisiert. Nicht zuletzt deshalb stellen Flüchtlinge und insbesondere AsylwerberInnen eine besondere Zielgruppe im Kontext von Migration und Sucht als Folge psychischer Belastungen dar.
2.1.
Qualitative Einzelinterviews mit MigrantInnen
Die qualitativen episodischen Interviews wurden explorativ angelegt und stellten somit den ersten Forschungsschritt dar. Im Rahmen von episodischen Interviews können durch unterschiedliche Fragetypen auch unterschiedliche Datensorten erhoben werden, wie Erzählungen, Argumentationen und Begriffsexplikationen. Die Qualität episodischer Interviews besteht darin, dass soziale Konstruktionen und Erfahrungswissen gemeinsam erhoben werden (vgl. Flick 2011:37). Die Interviews beinhalten narrativ-episodische Anteile, die sich auf bestimmte Situationen und deren räumlich-zeitliche Komponenten (Ablauf) beziehen, sowie auch begrifflich-semantische Anteile, in denen Begriffe abstrahiert von Situationen und Kontexten angesprochen werden (Begriffe, Definitionen, Relationen). Es wird somit narrativ-episodisches und begrifflich-semantisches Wissen miteinbezogen. Häufig sind im Interview allerdings vor allem graduelle Misch- und Übergangsformen relevant, die sowohl narrativepisodische wie auch begrifflich-semantische Elemente enthalten (vgl. Flick 2011:28). Es wurden insgesamt 14 qualitative Interviews mit MigrantInnen durchgeführt, wobei bei der Zusammensetzung der InterviewpartnerInnen auf möglichst große Heterogenität geachtet wurde. Die InterviewpartnerInnen wurden in Form eines Schneeballverfahrens erreicht. Die interviewten MigrantInnen stammen aus zehn verschiedenen Geburtsländern, alle wurden jedoch außerhalb Österreichs geboren und zählten somit zur ersten Migrationsgeneration mit eigenen Migrations- und Integrationserfahrungen. Zu den Herkunftsländern der InterviewpartnerInnen gehören Albanien (1 Person), Deutschland (1 Person), Iran (1 Person), Türkei (2 Personen), Kroatien (2 Personen), Mexiko (1 Person), Nigeria (1 Person), Peru (1 Person), Serbien (3 Personen) und Südtirol (1 Person). Neun der InterviewpartnerInnen waren weiblich, fünf männlich. Vier
Migration und Sucht – Herausforderungen für die Präventionsarbeit
147
der InterviewpartnerInnen waren zwischen 20 und 29 Jahre alt, weitere vier Personen zwischen 30 und 39, fünf InterviewpartnerInnen zählten zu der Altersgruppe der 40- bis 49-Jährigen und ein Interviewpartner war 72 Jahre alt. Aufenthaltsdauer und Zeitpunkt der Zuwanderung waren stark unterschiedlich: Manche sind als Erwachsene nach Österreich gekommen, andere (fünf Personen) migrierten bereits in der Kindheit nach Österreich und haben, zumindest zu einem großen Anteil, auch ihre Schulbildung in Österreich absolviert. Zwei Personen (P7, P9)5 aus dieser Gruppe berichteten, dass sie auch keinen Kontakt zu Freunden und Familie im Herkunftsland haben und somit in ihren Erzählungen auch auf keine Erfahrungen im Herkunftsland zurückgreifen können. Die Interviews wurden auf Deutsch und Englisch durchgeführt.6 Da Forschungsergebnisse aufzeigen, dass die Religionszugehörigkeit Einfluss auf Einschätzung und Bewertung von Suchtmitteln und Suchtmittelkonsum haben kann (vgl. Braun, Kornhuber und Lenz 2016; Gorsuch 1995; Benson 1992), wurde auch die religiöse Zugehörigkeit erhoben: Vier InterviewpartnerInnen bezeichneten sich als Christen (unabhängig von der Zugehörigkeit zur Kirche), zwei als orthodoxe Christen (Herkunftsland Serbien) und drei weitere als Muslime/Musliminnen. Eine Person ordnete sich zwei Richtungen des Christentums, nämlich der römisch-katholischen und der evangelischen, zu. Vier der InterviewpartnerInnen gaben an, ohne religiöses Bekenntnis zu sein. Bereits hier zeigt sich, dass die religiöse Zugehörigkeit ein höchst individuelles Merkmal ist und Glaube sehr unterschiedlich gelebt werden kann. Die Inhalte der qualitativen Interviews bezogen sich auf die Verwendung und das Verständnis von Begriffen aus dem öffentlichen Diskurs zum Thema Sucht und Abhängigkeit, migrations- und kulturspezifische Merkmale von Sucht und Abhängigkeit, mögliche mit Suchterkrankungen einhergehende Tabuisierungen sowie auch einen Vergleich der Erfahrungen der InterviewpartnerInnen in Österreich und in ihrem Herkunftsland in Bezug auf den Umgang mit und den öffentlichen Diskurs zu Sucht und Abhängigkeit.
5 Direkte und indirekte Zitate aus den qualitativen Interviews sind im Text mit einem Hinweis auf den Interviewpartner/die Interviewpartnerin (P bei einem Interviewpartner/einer Interviewpartnerin und EW bei einem Experten/einer Expertin und eine Zahl) und die Textstelle im Atlas.ti-Dokument (eine Zahl) ausgewiesen. Atlas.ti ist eine Software, die eine systematische qualitative Inhaltsanalyse unterstützt: ATLAS.ti – The Knowledge Workbench. Copyright 1993–2009 atlas.ti scientific software development GmbH Berlin, Germany. 6 Personen, deren Deutsch- oder Englischkenntnisse für die Durchführung des Interviews nicht ausreichend waren, konnten bei der Befragung nicht berücksichtigt werden.
148 2.2.
Anna Faustmann / Lydia Rössl
Quantitative Online-Befragung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit und ohne Migrationshintergrund
Aufbauend auf den Ergebnissen aus den qualitativen Interviews wurde ein quantitativer Fragebogen entwickelt, der auf einer breiteren Basis das Verständnis von Sucht und Abhängigkeit, die Einschätzung der Betroffenheit von Sucht und Abhängigkeit (in Bezug auf Risikogruppen und spezifische Suchtformen) sowie den Umgang mit Sucht und Abhängigkeit abbildet. Die Erhebung erfolgte in Form einer Online-Befragung, welche auf Jugendliche und junge Erwachsene mit und ohne Migrationshintergrund (zwischen 15 und 30 Jahren) in Gesamt-Österreich fokussierte.7 Der Fokus auf diese spezifische Altersgruppe ergibt sich daraus, dass eine Vielzahl von Maßnahmen der Suchtprävention eben bei jener Altersgruppe ansetzen und die Informationen zu dieser Zielgruppe daher besonders relevant für die Implikationen auf Ebene der Präventionsarbeit sind (vgl. Uhl und Springer 2002:3). Von 752 vollständig ausgefüllten Fragebögen fielen 460 in diese Altersgruppe, im Analyseprozess wurde weiterführend auch nach Geschlecht unterschieden. Eine Differenzierung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen jenen mit und ohne Migrationshintergrund ist besonders bedeutsam, da dadurch etwaige migrations- und integrationsspezifische Besonderheiten herausgearbeitet werden können. Für das Merkmal ,Migrationshintergrund‘ wurde aufgrund der für differenzierte Analysen vergleichsweise kleinen Stichprobe eine breite Definition gewählt: Als MigrantInnen der ersten Generation gelten Personen, die selbst im Ausland geboren wurden (unabhängig vom Geburtsort der Eltern). MigrantInnen der zweiten Generation sind Personen, die zwar selbst in Österreich geboren wurden, von denen aber zumindest ein Elternteil im Ausland geboren wurde.8 In der Analyse wurde differenziert zwischen Personen ohne Migrationshintergrund, Personen der ersten Migrationsgeneration, Personen der zweiten Migrationsgeneration und Personen mit einem Gastarbeiter-Hintergrund.9 Zudem wurde die konkrete 7 Der Fragebogen war sowohl auf Deutsch wie auch auf Englisch verfügbar. Personen ohne ausreichende Deutsch- oder Englischkenntnisse konnten an der Befragung nicht teilnehmen. 8 Die Definition von Migrationshintergrund orientiert sich an jener der United Nations Economic Commission for Europe (vgl. UNECE [Hg.] 2006:90) und basiert auf dem Merkmal des Geburtslandes. Laut dieser Definition sind MigrantInnen der ersten Generation als jene Personen definiert, die selbst im Ausland geboren wurden (unabhängig vom Geburtsort der Eltern). Als MigrantInnen der zweiten Generation gelten Personen, die selbst zwar in Österreich, deren beide Elternteile jedoch im Ausland geboren wurden. 9 Die Gruppe der Personen, die selbst oder deren Eltern als sogenannte GastarbeiterInnen in den 1960er und 1970er Jahren nach Österreich gekommen sind, ist zwar in Bezug auf die geographische Herkunft recht heterogen (Türkei, Länder des ehemaligen Jugoslawien), aber hinsichtlich sozioökonomischer Merkmale recht homogen. Zu Personen mit GastarbeiterHintergrund zählen im Folgenden also jene Personen, die selbst oder von denen zumindest ein Elternteil in der Türkei oder einem Land des ehemaligen Jugoslawien geboren wurde(n).
Migration und Sucht – Herausforderungen für die Präventionsarbeit
149
geographische Herkunft miteinbezogen, allerdings war aufgrund der hohen Anzahl verschiedener Geburtsländer der befragten Personen mit Migrationshintergrund eine Differenzierung nur eingeschränkt möglich, die Gruppe der sogenannten GastarbeiterInnen wurde hierbei gesondert betrachtet. Die Zielgruppe wurde mittels eines Schneeballverfahrens erreicht, wobei vorrangig MultiplikatorInnen aus der Jugendarbeit (z. B. über Jugendzentren) die nötige Unterstützung lieferten, den Link zum Online-Fragebogen zu verbreiten. Die Analyse erfolgte mittels vorrangig deskriptiver statistischer Methoden, da Rückschlüsse auf die gesamte österreichische Population der 15- bis 30-Jährigen aufgrund der – für diesen Zweck – zu geringen Fallzahl und in einigen Merkmalen mangelnden Repräsentativität nur äußerst eingeschränkt möglich wäre.
2.3.
Fokusgruppen mit ExpertInnen
Um das Themenfeld Sucht, Abhängigkeit und Migration um eine Meso- und Makroperspektive erweitern zu können, wurden ExpertInnen-Befragungen in Form von Fokusgruppen durchgeführt. Die FokusgruppenteilnehmerInnen waren allesamt ExpertInnen der wissenschaftlichen und der praktischen Arbeit zu Sucht, Substanzmissbrauch und Konzepten der Suchtprävention und setzten sich aus ForscherInnen, SozialarbeiterInnen, Ärzten/Ärztinnen, PsychologInnen, PsychotherapeutInnen, aber auch Personen aus der öffentlichen Verwaltung zusammen. So wurde zusätzliches Wissen insbesondere auch aus der Präventionspraxis in den Forschungsprozess eingebracht. Insgesamt wurden zwei Fokusgruppen mit ExpertInnen durchgeführt. Eine Fokusgruppe, zu Beginn des Forschungsprojekts, hatte explorativen Charakter und war zentrale Grundlage für die Durchführung der Interviews mit MigrantInnen (siehe dazu auch Kapitel 2.1.). Eine weitere Fokusgruppe diente der finalen kommunikativen Ergebnisvalidierung: Nach Analyse und Darstellung der Ergebnisse aus den qualitativen Interviews sowie aus der quantitativen OnlineBefragung wurden diese im Rahmen der Fokusgruppe präsentiert und in Hinblick auf ihre Umsetzbarkeit auf Ebene der Präventionsarbeit diskutiert. Dieser Forschungsschritt bildete somit eine wesentliche Basis für die Ableitung von handlungspolitischen Schlussfolgerungen und Implikationen für die Präventionsarbeit.
150 2.4.
Anna Faustmann / Lydia Rössl
Ergebniszusammenführung
Das sequentielle Vorgehen im Rahmen des Forschungsprozesses war in Bezug auf die Zielsetzungen der Studie sehr vorteilhaft: Die Ergebnisse der ersten, explorativ angelegten Fokusgruppe mit ExpertInnen lieferte die Grundlage für die qualitative Interviewsequenz mit MigrantInnen. Deren Ergebnisse wiederum dienten als Basis für die Erstellung des quantitativen Online-Fragebogens. Die Analyse der quantitativen Daten im Zusammenspiel mit der qualitativen Datenanalyse bilden die Basis für weitere Interpretationen und Schlussfolgerungen. Resultate aus den qualitativen Erhebungen und der quantitativen Befragung wurden im abschließenden Prozess – soweit möglich – miteinander verglichen, es wurden also sowohl sich bestätigende als auch widersprüchliche Aussagen noch wiederholt in ihrer jeweiligen Kontextualität analysiert. Außerdem wurden Resultate komplementär betrachtet, um eine umfassendere Perspektive auf die Forschung zu erhalten. Die abschließende Fokusgruppe mit ExpertInnen ermöglichte eine Ergebnisdiskussion im Sinne einer kommunikativen Validierung und lieferte so wichtige Erkenntnisse in Bezug auf die Umsetzbarkeit der abgeleiteten Schlussfolgerungen. Im nachfolgenden Kapitel 3 werden die zentralen Ergebnisse in ihrer Zusammenschau dargestellt.
3.
Empirische Ergebnisse
Aus den unterschiedlichen Forschungsschritten und der Zusammenführung der Ergebnisse ergeben sich zentrale und wiederkehrende Themen, die nachfolgend abgebildet werden. Einerseits zeigt sich, dass das Verständnis von Sucht und Abhängigkeit als Krankheit von kulturellen Merkmalen geprägt ist, aber auch die Einschätzung der Betroffenheit und gesellschaftlichen Akzeptanz von Sucht und Abhängigkeit. Auffallend ist dabei die besondere Bedeutung von Alkoholkonsum und -missbrauch, dessen soziale Akzeptanz in stark unterschiedlichem Ausmaß als kritisch wahrgenommen wird. Wesentliche Unterschiede und migrations- bzw. kulturspezifische Besonderheiten zeigen sich auch im Umgang mit Sucht und Abhängigkeit, insbesondere in Bezug auf innerfamiliäre Reaktionsmechanismen und die Inanspruchnahme professioneller Unterstützungsformen.
3.1.
Sucht und Krankheit: kulturell geprägte Begriffsverständnisse
Die Forschungsergebnisse zeigen deutlich, dass das Verständnis von den Begriffen Sucht, Suchtmittel und Suchterkrankung unterschiedlich geprägt ist,
Migration und Sucht – Herausforderungen für die Präventionsarbeit
151
wobei verschiedene Definitionsmerkmale (wie etwa Einfluss auf die Gesundheit, Grad der gesellschaftlichen Akzeptanz und Legalität/Illegalität) eine Rolle spielen. Insbesondere die Ergebnisse der qualitativen Einzelinterviews zeigen einen kritischen Umgang mit spezifischen Unterscheidungen von Suchtmitteln und eine Differenzierung zwischen gesetzlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten sowie eigenen Erfahrungen und Meinungen auf Seiten der interviewten MigrantInnen. Die Verständnisse der Begriffe Sucht und Krankheit beziehen sich einerseits auf den gesellschaftlichen Diskurs dazu. Andererseits werden die Begriffsverständnisse an bestimmten Situationen festgemacht und von eigenen Erfahrungen in Österreich sowie auch dem Herkunftsland geprägt, wobei diese von gesellschaftlichen Erklärungsmustern abweichen können. Unter anderem spielt dabei die Tabuisierung von Sucht eine Rolle, wie von InterviewpartnerInnen aus Serbien berichtet wird. Auch persönliche Erfahrungen mit Abhängigkeit und Drogen bereits in früher Kindheit in Schule, Familie und Alltag prägen dabei das Verständnis von Sucht, wie etwa im Falle von Interviewpartnerinnen aus Mexiko und Nigeria. Die individuellen Erfahrungen der InterviewpartnerInnen unterscheiden sich stark, insbesondere auch in Bezug auf die gesellschaftlichen und staatlichgesetzlichen Rahmenbedingungen, die sie jeweils im Herkunftsland, aber auch in Österreich vorgefunden haben. Es zeigt sich jedoch ein nachvollziehbarer Einfluss dieser Faktoren auf das jeweilige Verständnis und die sozialen Konstruktionen von Sucht und Suchtbehandlung, insbesondere aber auf die Wahrnehmung von Sucht als Krankheit und damit in Zusammenhang stehend die erwarteten Möglichkeiten der Betroffenen, sich aus eigener Kraft oder mit professioneller Unterstützung von der Sucht zu befreien (oder nicht). In den meisten Fällen wird ein direkter Zusammenhang zwischen Krankheit und Sucht bzw. Abhängigkeit attestiert, wie es etwa ein(e) InterviewpartnerIn in nachfolgendem Zitat formuliert: „Aber ich glaube eben bei Drogen besonders, wenn das wirklich schon so lange konsumiert wird, sind die Zellen wahrscheinlich oder im Kopf, dass das alles beschädigt wird, dass das dann so ist, dass man wirklich nicht mehr von selbst wegkommt, dass man dann wirklich erkrankt ist, das glaube ich.“ (P8: 59)
In den meisten Fällen wird eine direkte Kausalität zwischen Sucht und Krankheit gesehen, wobei davon ausgegangen wird, dass Krankheit durch Sucht entsteht. Die körperlichen Folgen des Drogenmissbrauchs stehen dabei im Mittelpunkt. Dennoch werden Entzugssymptome und die psychischen Aspekte von Sucht und Abhängigkeit kaum miteinbezogen. Demgegenüber wird Gesundheit zumeist als ein Freisein von Einschränkungen im täglichen Leben angesehen, wobei sehr wohl zwischen physischer und psychischer Gesundheit, die sich wechselseitig beeinflussen können, differenziert wird (vgl. P11:21; P9:36). Demzufolge wird
152
Anna Faustmann / Lydia Rössl
auch deutlich, dass Belastungen durch den Migrations- und Integrationsprozess nicht nur körperliche Auswirkungen hinterlassen können, sondern auch Ausdruck in psychischen Belastungen und Erkrankungen finden, wie Anpassungsund Posttraumatische Belastungsstörungen sowie chronifizierte Depressionen (vgl. Stompe, Aboutaha und Holzer 2010:141f.). Die besondere Rolle von Fluchterfahrungen und oftmals damit einhergehenden traumatisierenden Erlebnissen bei der Entstehung von körperlichen und psychischen Gesundheitsproblemen und damit als suchtauslösender Faktor zeigt sich auch in den Ergebnissen der quantitativen Befragung. Einschneidende negative Erlebnisse und Traumata werden in hohem Ausmaß als Ursache für Substanzmissbrauch – sowohl von Personen mit wie auch ohne Migrationshintergrund – gesehen. Tabelle 1 zeigt, welche Ursachen für die Entstehung von Sucht als am wichtigsten eingeschätzt werden.10 Die am häufigsten genannte Ursache ist dabei fehlender sozialer Rückhalt und instabile Beziehungen (13,8 % aller Nennungen) und nahezu ebenso viele entfallen auf einschneidende negative Ereignisse im Leben wie etwa den Tod einer/eines Angehörigen oder andere Traumata (12,8 % aller Nennungen). Auch negative Vorbilder bzw. Suchterfahrungen in der Familie oder Verwandtschaft werden als Grund für die Entstehung von Sucht besonders häufig genannt (12,3 % aller Nennungen). Die Bedeutung von Trauma als suchtbegünstigender Faktor nimmt, wie aus der Tabelle 1 hervorgeht, über alle Herkunftsgruppen hinweg eine sehr zentrale Rolle ein. Zwar spielen kultur- und migrationsspezifische Faktoren grundsätzlich eine untergeordnete Rolle bei der Enstehung von Sucht, trotzdem zeigen die Ergebnisse, dass soziale Entwurzelung als wesentliche Ursache für Suchtentstehung wahrgenommen wurde. In Bezug auf die einzelnen Migrationsgruppen ist das Ergebnis sehr interessant, dass Personen der ersten Migrationsgeneration überdurchschnittlich oft negative Vorbilder und Suchterfahrungen in der Familie oder Verwandtschaft sowie verminderten Selbstwert als suchtauslösende Faktoren sehen. Der Fokus bei der Erklärung der Entstehung von Sucht liegt hier stark auf der individuellen Ebene. Betrachtet man die Gruppe der Personen mit einem sogenannten Gastarbeiter-Hintergrund, so zeigt sich, dass instabile Familienverhältnisse und Gruppendruck im Freundeskreis wichtige Suchtursachen darstellen. Die Erklärungsmuster für die Entstehung von Sucht sind in dieser Gruppe also eher sozial geprägt. Dies deckt sich auch mit der häufigen Beobachtung der starken Familienorientierung dieser Gruppe. Auch eine schwache Persönlichkeit wird von Personen mit einem Gastarbeiter10 Auf die Frage „Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Ursachen, die zur Entstehung von Sucht führen können?“ konnten die Befragten maximal fünf der vorgegebenen Antwortkategorien (mit der Möglichkeit einer offenen Antwort) wählen. Die Antwortkategorien wurden auf Basis der Ergebnisse aus den qualitativen Interviews mit MigrantInnen entwickelt.
3,5
2,4 1,6 0,5
Genetische Veranlagung Sonstiges
2,8 1,2
6,3
4,8
6,3
5,7
Trennung von Familie und Freunden oder auch vom Heimatort Niedriger Bildungshintergrund
6,7
5,6
5,5
7,6
Schwache Persönlichkeit Psychische oder körperliche Erkrankungen, die eine Medikamenteneinnahme erfordern
9,1
10,0
Gruppendruck im Freundeskreis Fehlende materielle Sicherheit (z. B. Arbeitslosigkeit)
9,8 12,2
13,0
12,6 11,2 11,1
12,2
11,4
12,8
14,2
Instabile Familienverhältnisse Verminderter Selbstwert
Einschneidende negative Erlebnisse (z. B. Tod einer/eines Angehörigen, Trauma) Negative Vorbilder, Suchterfahrungen in der Familie/Verwandtschaft
Fehlender sozialer Rückhalt (z. B. instabile Beziehungen)
1,2 0,4
2,1
7,1
4,1
7,5
7,5
10,4
11,6 9,5
11,6
12,4
14,5
2,6 0,0
3,6
7,8
3,6
10,9
6,3
12,0
13,0 9,4
10,4
9,9
10,4
1,5 0,5
2,1
5,3
5,5
5,5
8,0
9,9
11,5 11,2
12,1
12,8
14,1
2,2 1,1
3,3
5,5
5,5
7,7
5,9
9,6
10,3 10,3
13,1
12,7
12,9
1,7 0,6
2,4
5,4
5,5
6,1
7,4
9,8
11,2 11,0
12,3
12,8
13,8
Ohne 1. 2. GastarbeiterMigrations- Gene- Genec) weiblich männlich Gesamt a) b) Hintergrund hintergrund ration ration
„Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Ursachen, die zur Entstehung von Sucht führen können? Bitte nennen Sie maximal fünf.“ (in Prozent der Nennungen)
Tabelle 1. Einschätzung der Ursachen von Sucht, nach Herkunft und Geschlecht.
Migration und Sucht – Herausforderungen für die Präventionsarbeit
153
Quelle: Donau-Universität Krems, Erhebung zu „Migration und Sucht“ im Zeitraum von Juli bis Oktober 2014, eigene Darstellung. a) 1. Generation: selbst im Ausland geboren. b) 2. Generation: selbst im Inland und zumindest ein Elternteil im Ausland geboren. c) Gastarbeiter-Hintergrund: selbst oder zumindest ein Elternteil in der Türkei oder einem Land des ehemaligen Jugoslawien geboren.
Ohne 1. 2. GastarbeiterMigrations- Gene- Genec) weiblich männlich Gesamt a) b) Hintergrund hintergrund ration ration 1.504 254 241 192 1.499 544 2.043
„Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Ursachen, die zur Entstehung von Sucht führen können? Bitte nennen Sie maximal fünf.“ (in Prozent der Nennungen)
Zahl der Nennungen gesamt
(Fortsetzung)
154 Anna Faustmann / Lydia Rössl
Migration und Sucht – Herausforderungen für die Präventionsarbeit
155
Hintergrund häufiger als suchtbegünstigender Faktor angesehen. Bei MigrantInnen der zweiten Generation, also jenen, die bereits in Österreich geboren sind, ist es insbesondere der fehlende soziale Rückhalt, der Suchtproblematiken auslösen kann. Insgesamt findet sich bei den Personen der zweiten Migrationsgeneration aber ein ähnliches Muster für die Erklärung der Suchtentstehung wie bei Personen ohne Migrationshintergrund. Eine Ausnahme stellt die Trennung von Familie und Freunden oder auch vom Heimatort dar : Dieser Faktor wird von allen Personen mit Migrationshintergrund häufiger als suchtauslösender Faktor angesehen und deutet auf die psychischen Belastungsfaktoren im Zusammenhang mit einer Migrationserfahrung hin (siehe dazu auch Kapitel 1). Das unterschiedliche Verständnis von Sucht als Krankheit sowie die Annahmen über Ursachen und mögliche Behandlungsoptionen zeigen auf, dass Krankheit nicht nur eine Faktizität, sondern auch eine gewachsene soziale Konstruktion darstellt. Ausführlich dargestellt wird dieser Sachverhalt bereits von Kleinman, Eisenberg und Good (1978/2006), die zwischen „disease“ und „illness“ unterscheiden: „[…] disease in the Western medical paradigm is malfunctioning or maladaption of biologic and psychophysiologic processes in the individual; whereas illness represents personal, interpersonal, and cultural reactions to disease and discomfort“ (Kleinman, Eisenberg und Good 2006:141). Dabei liegt die Annahme zugrunde, dass „illness“ von unterschiedlichen kulturellen Faktoren beeinflusst wird, die Implikationen für die Wahrnehmung, Zuschreibungen und Bewertung der Krankheitserfahrung haben und in einem engen Zusammenhang mit Gesellschaft, Familie und Kultur gesehen werden müssen. „Illness“ ist somit kulturell konstruiert (vgl. Kleinman, Eisenberg und Good 2006:141). Auch wenn dieser Ansatz ebenfalls auf die soziale Konstruktion von Sucht übertragbar ist, wird davon abgeraten, kulturelle Faktoren in den Mittelpunkt zu stellen: „Migranten mit Abhängigkeitsstörungen ethno-kulturell zu differenzieren ist […] problematisch und basiert ausschließlich auf klinischen Eindrücken in der Routinebehandlung. Da es bislang an systematischen Untersuchungen fehlt, verbieten sich vorschnelle Generalisierungen“ (Assion und Koch 2013:17). Migrations- und kulturspezifische Faktoren werden häufig überbewertet, was durchaus auch zu Fehldiagnosen führen kann. Trotzdem dürfen ebendiese Faktoren nicht ignoriert werden (vgl. Ebner 2010:216f.).
3.2.
Kulturspezifische Aspekte der Akzeptanz und Betroffenheit von Sucht und die besondere Rolle des Alkoholkonsums in Österreich
Die Einschätzung der gesellschaftlichen Akzeptanz bestimmter Suchtformen geht mit dem Grad der Legalität einher : Mehr als 90 % der Befragten der quantitativen Online-Erhebung schätzen Alkohol- und Tabakkonsum sowie
156
Anna Faustmann / Lydia Rössl
übermäßige Internet- oder Handynutzung und übermäßiges Arbeiten als gesellschaftlich völlig oder eher akzeptierte Suchtform ein. 60 % betrachten Glücksspiel oder andere Spiele als völlig oder eher gesellschaftlich akzeptierte Sucht. Auffallend ist hier, dass 9,8 % der Personen ohne Migrationshintergrund angeben, Glücksspiel oder andere Spielformen seien gesellschaftlich völlig akzeptierte Suchtformen, während dieser Anteil bei den Personen mit einem Gastarbeiter-Hintergrund bei 30,8 % liegt. Die gesellschaftliche Akzeptanz illegaler Drogen wird insgesamt als sehr niedrig eingeschätzt. Unter den Einschätzungen, welche Gruppen von Sucht am ehesten betroffen seien, werden primär Jugendliche, aber auch Personen im Erwachsenenalter wie auch arbeitslose Personen genannt. Alkoholkonsum und dessen besonders hohe soziale Akzeptanz in Österreich zeigen sich auch am empfundenen gesellschaftlichen Druck zum Alkoholkonsum: Knapp 30 % der Befragten geben an, sich immer oder oft unter Druck gesetzt zu fühlen, in bestimmten Situationen (wie zum Beispiel bei Geburtstagsfeiern) Alkohol zu trinken. Bei MigrantInnen der zweiten Generation ist dieser Anteil mit mehr als einem Drittel besonders hoch. Dies deckt sich mit den Ergebnissen aus den qualitativen Interviews mit MigrantInnen: Der Konsum von Alkohol wird in vielerlei Hinsicht sogar gesellschaftlich erwartet, ab einem gewissen Alter trinken zu dürfen ist ein Teil des „Erwachsen seins“ (P14:94), wie ein Interviewpartner kritisch anmerkte. Die Interviews zeigen, dass die InterviewpartnerInnen den Konsum von Alkohol bei sozialen Anlässen auch als Mittel der Zugehörigkeit und weiterführend als Symbol der Integration wahrnehmen, sich oftmals aber genau dadurch unter Druck gesetzt fühlen, selber Alkohol zu konsumieren. Eine Interviewpartnerin aus Peru erzählt dazu: „Der Wein ist hier ein wichtiges Kapitel, hier in dieser Zone. Wenn ich unterwegs bin, sehe ich ein paar Charakteren, bei denen ich denke: Die sind entweder schon drin oder am Weg – weil es ist schwer Nein zu sagen in dieser Gesellschaft.“ (P14:65) Anschließend bezeichnet sie Alkoholismus als eine „gesellschaftliche Krankheit“ in Österreich (vgl. P14:93).
Eine Interviewpartnerin beschreibt die gesellschaftliche Erwartungshaltung, Alkohol zu konsumieren, und dadurch dessen soziale Funktion folgendermaßen: „Hier, wo wir sind, in dieser Stadt, wo Wein sehr wichtig ist: Da gehst du auf dieses Fest, da wird Wein getrunken. Am nächsten Tag gibt es eine Eröffnung, da gibt es Wein. Am nächsten Tag gibt es einen Vortrag, da gibt es Wein. Ohne zu wollen, kommst du nicht weg vom Wein. Und da hast du ein Problem, du willst es nicht, aber trotzdem kann das sein – es muss nicht sein, aber es kann sein. Gratis Wein – warum nicht?“ (P14:95)
Migration und Sucht – Herausforderungen für die Präventionsarbeit
157
In Österreich, wie auch in anderen Ländern, zählt Alkohol zu den „kultivierten“ Suchtmitteln,11 (1) deren Konsum in bestimmtem Ausmaß (zu bestimmten Anlässen) gewünscht bzw. erwartet wird; (2) die im Sozialleben der Bevölkerung eine größere Rolle spielen/bestimmte Funktionen haben; (3) die leicht (legal) zu erwerben/besorgen sind. Alkohol ist z. B. in der Türkei und Bosnien und Herzegowina kein kultiviertes Suchtmittel und der Umgang damit ist für MigrantInnen aus diesen und anderen Herkunftsländern keine Selbstverständlichkeit. Stompe et al. (2016) haben die Substanzkonsummuster von psychisch kranken MigrantInnen untersucht und ebenfalls zwei wesentliche Einflussfaktoren festgestellt: (1) Substanzkonsumgewohnheiten und Verfügbarkeit von Alkohol und Drogen in den Herkunftsländern der MigrantInnen (Unterschiede nach Herkunftsregionen und religiösem Hintergrund in der ersten Migrationsgeneration) und (2) Substanzkonsumgewohnheiten und Verfügbarkeit von Alkohol und Drogen in Österreich, wobei sich MigrantInnen der ersten Generation noch stärker an Gebräuchen des Herkunftslandes orientieren und jene der zweiten (und dritten) Generation sich bereits stärker an die Mehrheitsgesellschaft annähern. Bestimmte kulturelle oder religiöse Besonderheiten wie etwa das Alkoholverbot im Islam behalten jedoch ihre Bedeutung und führen zu abweichenden Konsumprofilen (vgl. Stompe et al. 2016:143). Die Wahrnehmung und Akzeptanz von bestimmten Suchtmitteln sowie von Sucht als Krankheit gründen sich in vielen Fällen auf positive und negative Erfahrungen, oft innerhalb der Familie. So unterscheidet sich etwa die Einstellung zum Alkoholkonsum eines Interviewpartners mit einem alkoholabhängigen Vater (vgl. P9:48) fundamental von jener einer Interviewpartnerin, die sich mit Freude an die Weingüter ihres Großvaters erinnerte (vgl. P8:117). Beide wurden in Kroatien geboren.
3.3.
Kulturell geprägter Umgang mit Sucht und Abhängigkeit: innerfamiliäre und professionelle Unterstützungsprozesse
Neben den vorhandenen kulturell geprägten Erklärungsmustern für die Entstehung von Sucht und die wahrgenommene gesellschaftliche Akzeptanz bestimmter Suchtformen spielen die Strategien zum Umgang mit Sucht und Abhängigkeit und die jeweiligen vorhandenen Unterstützungsprozesse eine bedeutende Rolle, nicht zuletzt für die Suchtprävention. Die Ergebnisse der 11 Kultivierung wird hier verstanden als: „[…] kulturell reguliertes bzw. zu regulierendes Phänomen, das allgemein akzeptiert und in bestimmten Situationen sogar erwünscht ist (Kultivierung)“. Im Fall von „Akzeptanz“ handelt es sich um unerwünschtes Verhalten, das aber gleichwohl in der Verantwortung des Individuums steht (vgl. Hess et al. 2004:7, zitiert nach Nolte 2007:20).
158
Anna Faustmann / Lydia Rössl
quantitativen Befragung zeigen, dass MigrantInnen häufiger innerfamiliäre Unterstützungsmechanismen in Bezug auf den Umgang mit Sucht aufgreifen: Während lediglich 7,0 % der Personen ohne Migrationshintergrund angeben, im Falle einer Suchterkrankung eines Familienmitglieds mit niemandem außerhalb der Familie darüber zu sprechen, beträgt dieser Anteil bei Personen der ersten Migrationsgeneration 12,3 %, bei den Personen der zweiten Migrationsgeneration 19,3 % und bei den Personen mit einem Gastarbeiter-Hintergrund sogar 23,3 %. Wenn es darum geht, professionelle Unterstützung beim Umgang mit der Suchtproblematik eines Familienmitglieds in Anspruch zu nehmen, so sind die wichtigsten Akteure/Akteurinnen hier Ärzte/Ärztinnen, stationärer oder ambulanter Entzug sowie Kliniken und Notfallambulanzen. Diese Ergebnisse zeigen, dass sich MigrantInnen im Falle einer Suchtproblematik in höherem Ausmaß an Institutionen des Gesundheitswesens wenden, als dies Personen ohne Migrationshintergrund tun. Personen ohne Migrationshintergrund geben häufiger als Personen mit Migrationshintergrund an, im Falle einer innerfamiliären Suchtproblematik Suchtberatungseinrichtungen zu kontaktieren oder psychologische Beratung einzuholen. Diese Ergebnisse zeigen, dass der Umgang mit Sucht und Abhängigkeit stark von kulturell geprägten Tabuisierungen bestimmt ist. Eine Interviewpartnerin aus dem Iran, selbst praktizierende Allgemeinärztin, schildert dies folgendermaßen: „Das ist dort immer noch so ein Tabuthema auch, obwohl wir ja untereinander [innerhalb der Familie, Anm.] offen darüber reden. Aber es ist etwas, was man nicht gern zugibt. Es kann sein, dass viele eine Suchtkrankheit haben, aber es nicht zugeben, sie verstecken das. Oder dass das ihre Kinder verstecken. Aber hier [in Österreich] ist das nicht so, da ist das nicht so, dass man etwas verstecken muss. Wenn z. B. irgendwer ein süchtiges Kind hat, sagt er auch, dass sein Sohn oder Tochter das Problem hat. Also da [in Österreich] redet man leichter und offener darüber als in meinem Land. Da redet man nicht gern über solche Sachen.“ (P11:84)
Ähnlich beschreibt eine Interviewpartnerin aus Peru die Tabuisierung von Sucht in ihrem Herkunftsland sowie die Bedeutung innerfamiliärer Umgangsmechanismen: „Nein, darüber redet man nicht. Vielleicht die neue Generation, aber zu meiner Generation waren diese Sachen tabu, man redet nicht darüber. Außer in der Familie, wenn ich hinfahre. Und dann sagen meine Eltern: Der ist Alkoholiker geworden. Dann reden wir darüber. Oder : Der ist gestorben, weil er zu viel geraucht hat. Dann reden wir darüber.“ (P14:91)
Die Bedeutung, die die Forschungsergebnisse und deren Interpretation für die Suchtprävention und Präventionsarbeit haben, werden im nachfolgenden Ka-
Migration und Sucht – Herausforderungen für die Präventionsarbeit
159
pitel 5 dargestellt. Einen wesentlichen Teil der Ableitung der Schlussfolgerung bilden auch die Ergebnisse aus den Fokusgruppen mit ExpertInnen, die im Rahmen einer Ergebnisvalidierung durchgeführt wurden (siehe dazu Kapitel 2.3.).
4.
Conclusio und Implikationen für die Suchtprävention
Die in Kapitel 4 dargestellten Ergebnisse umfassen die Wahrnehmung von Sucht und Suchterkrankung, die Einschätzung der Betroffenheit von Sucht und der Akzeptanz bestimmter Suchtformen, den innerfamiliären Umgang mit Suchtproblematiken, die Inanspruchnahme professioneller Unterstützungsangebote und die jeweils kultur- und migrationsspezifischen Besonderheiten. Diese Ergebnisse haben hohe Relevanz für die Suchtprävention, denn Suchtpolitik, also der gesellschaftliche Umgang mit Suchtproblematiken, gestaltet sich immer entsprechend den vorhandenen Rahmenbedingungen, die ethische, gesellschaftliche, kulturelle, finanzielle und politisch-legislative Dimensionen einschließen. Gleichzeitig hat die jeweils gesellschaftliche und sozial anerkannte Definition von Drogenkonsum und Sucht Einfluss auf die gesellschaftliche Konstruktion von Drogen und Sucht (vgl. Uhl et al. 2013:19f.). Die Bewertung von und der Umgang mit Drogenkonsum und Suchterkrankungen sind immer auch Teil des gesellschaftlichen Wandels: Zuweisungen, Stereotype oder auch Kategorisierungen wachsen im jeweiligen nationalstaatlichen, kulturellen, religiösen sowie individuellen Kontext und unterscheiden sich voneinander (vgl. Schabdach 2009:11f.). Hess et al. (2004) beschreiben vier mögliche – sich auch überschneidende – Betrachtungsweisen von Suchtmittelkonsum: (1) Kultivierung: Suchtmittelkonsum als allgemein akzeptiertes und in bestimmten Situationen sogar erwünschtes Phänomen, das kulturell reguliert bzw. zu regulieren ist, (2) Akzeptanz: unerwünschtes Verhalten, für das aber das Individuum selbst verantwortlich ist, (3) Pathologisierung: Suchtmittelkonsum als Krankheit, die behandelt werden kann oder muss, oder (4) Kriminalisierung: Verbrechen, das mit Freiheits- oder Geldstrafen geahndet werden muss (vgl. Hess et al. 2004:7). Wie in Kapitel 4.2. gezeigt wurde, ist Alkohol in Österreich ein kultiviertes Suchtmittel, was in vielen Herkunftsländern von MigrantInnen jedoch nicht der Fall ist. Die vorherrschende Art der gesellschaftlichen Betrachtungsweise von Suchtmittelkonsum sowohl im Herkunftsland wie auch in Österreich beeinflussen beide das Konsumverhalten von MigrantInnen. Daraus lässt sich schließen, dass es weder empfehlenswert noch in einem Praxisbezug sinnvoll ist, Standardlösungen für die Suchtprävention oder -behandlung für unterschiedliche Gruppen von MigrantInnen zu entwickeln. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es keinen Mehrwert darstellt, über kulturell unterschiedliche Krankheits-
160
Anna Faustmann / Lydia Rössl
modelle und kollektive Repräsentationen und deren Kontext Hintergrundwissen zu besitzen und dieses einzubringen.12 Im Rahmen der qualitativen Interviews und der quantitativen Online-Erhebung der hier vorgestellten Studie wurden unterschiedliche Themenbereiche adressiert, die für Suchtprävention eine Rolle spielen und in der interkulturellen Suchtprävention verstärkt Anwendung finden können. Hierzu gehören – soziale Normen und damit verbundene soziale Konstrukte, – Vorstellungen zu und Erwartungen an Suchtprävention, – Umgang im sozialen Umfeld zu den Themen Sucht und Drogen, – Wissensstand und Einschätzungen zu Sucht, Drogen und Suchtprävention, – individuelle Erfahrungen und soziale bzw. soziokulturelle Rahmenbedingungen. Viele der dargestellten Ergebnisse sind nicht pauschalisierend auf den Migrationshintergrund einer Person zu beziehen, sondern können in Hinblick auf die Diversität der Gesellschaft an sich betrachtet werden. Somit sind einige der angesprochenen Resultate sicherlich nicht nur für MigrantInnen zutreffend, sondern können auch auf weitere Teile der Bevölkerung bezogen werden, wie ein Fokusgruppenteilnehmer ausführte: „Die Konsequenzen können ja unterschiedlich sein, wenn man denkt, man will etwas tun – ein Gedanke bei uns ist auch die institutionelle Öffnung für Diversitäten. Dass wir nicht sagen – jetzt haben wir eine neue Problemgruppe zu bearbeiten, […] nicht defizitorientiert, sondern […] sich eher die Frage zu stellen: Was sind eigentlich die Bilder von unseren KlientInnen, von einem Ziel: Wohin soll es eigentlich gehen in der Suchtprävention etc., und was blenden wir durch bestimmte Bilder etc. eigentlich aus?“ (EW11:236)13
Migrationsspezifische Dimensionen, die im Zuge von Suchtprävention und -behandlung miteinbezogen werden müssen, sind vor allem als Teil der selektiven und indizierten Suchtprävention, aber auch der strukturellen und universellen Suchtprävention von großer Bedeutung. Die folgende Unterteilung in strukturelle und universelle wie auch selektive und indizierte Suchtprävention fokussiert auf die jeweiligen Zielgruppen von Konzepten der Suchtprävention. 12 Laut der WHO sind es weltweit traditionelle Heilmethoden, die entweder die Haupt-Gesundheitsversorgung garantieren oder diese zumindest ergänzen (vgl. WHO 2013:11). Es kann somit nicht davon ausgegangen werden, dass ein Arzt bzw. eine Ärztin (oder PsychiaterIn, PsychologIn, PsychotherapeutIn, SozialarbeiterIn etc.) immer das gleiche Welt- und Krankheitsverständnis, Körperbild oder die gleichen Vorstellungen zur Behandlung haben wie ihre PatientInnen. Häufig werden traditionell verankerte Krankheitsursachen auch einem Arzt/einer Ärztin verschwiegen (vgl. Ritter und Stompe 2010:93f.). 13 Zitate von ExpertInnen aus den Fokusgruppen werden in der Quellenangabe mit EW gekennzeichnet. Siehe dazu Fußnote 5.
Migration und Sucht – Herausforderungen für die Präventionsarbeit
161
Maßnahmen der strukturellen und universellen Suchtprävention richten sich an die breite Bevölkerung, die selektive und indizierte Suchtprävention spricht hingegen bestimmte Zielgruppen an (vgl. EMCDDA 2011:20f.). Zentrale Aspekte, die eine umfassende interkulturelle Suchtprävention beinhalten sollte, werden nachfolgend dargestellt.
4.1
Strukturelle und universelle Suchtprävention
Die strukturelle und universelle Suchtprävention setzen bei der Umgebung und den strukturellen Rahmenbedingungen an und richten sich an die gesamte Bevölkerung. Dafür werden u. a. die öffentliche Verwaltung und Einrichtungen wie Schulen und Gemeinden genützt (vgl. EMCDDA 2011:20f.). Sowohl die Ergebnisse der qualitativen Befragung von MigrantInnen wie auch der Fokusgruppen mit ExpertInnen geben Auskunft darüber, wie sich interkulturelle Suchtprävention gestalten sollte und wie die spezifischen Zielgruppen am besten erreicht werden können: Bezogen auf strukturelle Suchtprävention sind Maßnahmen wie die Verankerung interkultureller Kompetenzen und diversitätssensibler Maßnahmen in pädagogischen sowie sozialarbeiterischen Berufsfeldern, die Etablierung von Diversity-Management-Maßnahmen, die gezielte Vernetzung spezialisierter Einrichtungen sowie der Miteinbezug der österreichischen Medien (insbesondere Fernsehen und Internet) zentral genannt worden. Auch universelle Suchtprävention kann durch die breite Informationsdissemination über verschiedenste mediale Kanäle (Fernsehen, Internet, gedruckte Information etc.) umgesetzt werden. Der Entwicklung und Gestaltung solchen Materials sollte jedoch eine intensive Auseinandersetzung mit Konstrukten von substanzgebundener oder substanzungebundener Sucht vorausgehen, was insbesondere aus den Interviews mit MigrantInnen hervorgeht. Allerdings steht dabei nicht unbedingt der Migrationshintergrund an sich im Vordergrund, sondern die unterschiedlichen individuellen Erfahrungen, die im Herkunftsland und in Österreich gemacht worden sind. Die ExpertInnen der Fokusgruppen stimmten darin überein, dass auch die gezielte Förderung der Entwicklung von bestimmten Fähigkeiten (z. B. Kommunikationskompetenz, Lösungsstrategien, Umgang mit Stress usw.) und die Erweiterung familienbasierter Arbeit (Coachings für MultiplikatorInnen usw.) wesentliche Maßnahmen der strukturellen und universellen Präventionsarbeit darstellen. Solche Maßnahmen sind keine Neuerungen und bereits ausreichend bekannt, werden allerdings in Österreich und auch in anderen EU-Ländern nur begrenzt umgesetzt (vgl. EMCDDA 2011:20f.).
162 4.2.
Anna Faustmann / Lydia Rössl
Selektive und indizierte Suchtprävention
Selektive und indizierte Suchtprävention richtet sich bereits an klar definierte Zielgruppen. Selektive Suchtprävention adressiert besondere vulnerable Teile der Bevölkerung. Dazu zählen StraftäterInnen, SchulaussteigerInnen, SchulschwänzerInnen, obdachlose Personen, marginalisierte Gruppen oder Minderheiten. Sie sind häufig von sozialer Exklusion betroffen und sollten mit spezifischen Maßnahmen angesprochen werden. „Selektive Prävention zielt auf kleinere Gruppen ab, die aufgrund biologischer, psychologischer, sozialer oder umweltbezogener Risikofaktoren – unabhängig von der individuellen Situation – eine höhere Wahrscheinlichkeit der Entwicklung eines Substanzkonsums aufweisen als die allgemeine Bevölkerung (z. B. Kinder suchtkranker Eltern)“ (Weigl et al. 2013:23). Indizierte Suchtprävention richtet sich an Personen, die bereits DrogengebraucherInnen sind. In Österreich werden diese Präventionsmaßnahmen in erster Linie in Form von Maßnahmen für die Früherkennung und -intervention bei Drogenkonsum umgesetzt (vgl. Weigl et al. 2013:26f.). In den Fokusgruppen weisen ExpertInnen in diesem Zusammenhang auf die besondere Situation von AsylwerberInnen in Österreich hin: „Zu den Asylzentren: Mit dieser Exklusion, die da stattfindet, mit Traumatisierung, die nicht aufgegriffen wird, die kaum bearbeitet werden kann. Und was heißt das dann speziell für die Suchtprävention?“ (EW15:167)
Die besondere Vulnerabilität sowie die vielzähligen psychischen Belastungsfaktoren, denen gerade Personen mit einer Fluchterfahrung ausgesetzt sind (siehe dazu auch Kapitel 1), legen ein erhöhtes Risiko des Auftretens psychischer Erkrankungen, insbesondere auch von Abhängigkeitsstörungen, nahe. Selektive Suchtprävention wäre in diesem Zusammenhang zu einem frühen Zeitpunkt und gezielt bereits im Rahmen des Asylprozesses umzusetzen, um späterem Substanzmissbrauch vorzubeugen. Dies ist jedoch besonders schwierig, da aufgrund der vielzähligen existenziellen Herausforderungen, denen AsylwerberInnen direkt nach der Ankunft in Österreich gegenüberstehen, Suchtprävention ein sehr nachgeordnetes Thema ist, wie auch ein Experte/eine Expertin im Rahmen einer Fokusgruppe schildert: „Trauma als Ursache für Sucht kennen wir schon lange […] Aus den Medienberichten der letzten Tage, Wochen wissen wir, dass es da auch um andere Dinge geht: Viele Personen, die auf engstem Raum ihr Zimmer teilen, das ewige Anstellen, um Grundbedürfnisse gestillt zu bekommen – die Essensschlange z. B. […] Da brauchen wir gar nicht an Suchtprävention zu denken.“ (EW15:167)
Die insbesondere bei AsylwerberInnen nötige frühe Aufarbeitung von Gewalterlebnissen und traumatisierenden Erfahrungen in Herkunfts- und Aufnahmeländern zeigt zudem den Bedarf an mehrsprachigen PsychotherapeutInnen,
Migration und Sucht – Herausforderungen für die Präventionsarbeit
163
PsychologInnen und PsychiaterInnen auf, die jedenfalls auch über interkulturelle Kompetenzen und kulturspezifisches Wissen in Zusammenhang mit Sucht und Krankheit verfügen. Neben Maßnahmen der universellen und strukturellen Suchtprävention sowie auch der selektiven und indizierten Suchtprävention ist es in diesem Kontext nötig, ein spezifisches Aus- und Weiterbildungsangebot zu schaffen, den Einsatz von professionellen und entsprechend qualifizierten DolmetscherInnen zu unterstützen sowie Aufklärungsmaßnahmen und mehrsprachiges Informationsmaterial an spezifische Zielgruppen zu adressieren.
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Daniela Wagner
(Migrationsbedingte) Diversität in österreichischen Altenund Pflegeheimen. … für das Leben lernen wir
Einleitung Alter(n) und Migration stellen zwei menschheitsgeschichtlich verankerte Entwicklungen dar, die durch zahlreiche gesellschaftlich-konstruierte Zuschreibungen allgegenwärtig (mehr oder weniger bewusst) das Leben beeinflussen. Dies nahm ich zum Anlass, um in meinem Dissertationsprojekt das von (migrationsbedingter) Diversität geprägte Für- und Miteinander in stationären Einrichtungen der Betreuung und Pflege alternder Menschen in Österreich ins Zentrum zu stellen. Zu Beginn wird anhand statistischer Daten eruiert, inwieweit Personen mit Migrationserfahrungen in österreichischen Alten- und Pflegeheimen als BewohnerInnen, Angehörige und MitarbeiterInnen der Betreuung, der Pflege sowie des Managements verortet sind. Darauf aufbauend wird das Forschungsdesign vorgestellt. Ausgehend von einem Ausblick zum allgemeinen Ergebnis fokussierte ich in dieser Auseinandersetzung auf einen Teilaspekt, der sich als wesentlich für das Leben, Besuchen und Arbeiten im Kontext Diversität herauskristallisiert hat, nämlich die Handlungsstrategie „Lernen“.
Alter(n) und Migration in Österreich im Kontext der Langzeitbetreuung und -pflege Zum Alter(n): Mit jedem Moment, der vorübergeht, wird ein Mensch älter. Ob gewollt oder nicht, Alter(n) ist allgegenwärtig, unaufhaltbar und irreversibel. Gleichzeitig erreichen immer mehr Menschen ein hohes Lebensalter, was zu einer fortwährenden Alterung der Bevölkerung und damit zu einer Herausforderung der ständig im Wandel befindlichen Gesellschaft führt. Von den in Österreich im Jahr 2010 lebenden knapp 8,4 Millionen Menschen waren 2010 über 1,2 Millionen Menschen mindestens 65 Jahre alt, 570.000 davon waren mindestens 75 Jahre alt. 2010 zeigt die Statistik bereits 1,5 Millionen Menschen
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über 64 Jahre, und von diesen sind 670.000 über 74 Jahre. Dabei wächst die Gruppe der Hochaltrigen (85+) am schnellsten, aber auch die Gruppe der 70- bis 84-Jährigen folgt dem Wachstumstrend. Diese alternden Menschen werden etwa 2030 ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen (vgl. Statistik Austria 2010/ 2011). Alter(n) und Pflege: Mit dieser fortwährenden Zunahme an alternden und hochaltrigen Menschen in Österreich steigt deren Bedeutung für die Gesellschaft. Auch wenn 80 % der Langlebigen eine gute bis befriedigende Lebensqualität aufweisen, darf nicht vergessen werden, dass gesundheitliche – psychische und physische – Beeinträchtigungen mit zunehmendem Lebensalter wahrscheinlicher werden und damit die Hilfs- sowie Pflegebedürftigkeit steigt (vgl. Statistik Austria 2011; Reinprecht 2009a:57; bmsk 2008). Etwa 8.000 Personen zwischen 60 und 74 Jahren befinden sich in Heil-/Pflegeanstalten bzw. Pensionisten-/Altersheimen, was 0,7 % dieser Altersgruppe entspricht. Bereits 7 % der Menschen ab 75 Jahren, also mehr als 46.000 Personen, leben in stationären Einrichtungen. Insgesamt verteilen sich etwa 59.000 Personen, das entspricht 0,7 % der Bevölkerung und 16 % aller alternden betreuungs- und pflegebedürftigen Personen, auf etwa 70.000 Plätze der Betreuung und Pflege, die österreichweit angeboten werden (vgl. Statistik Austria 2011; Reinprecht 2009a:57; bmsk 2008). Die steigende Anzahl an betreuungs- und pflegebedürftigen Personen sowie der zunehmend intensivere Pflegeaufwand aufgrund eines Anstiegs hochaltriger, multimorbider und dementer Pflegefälle durch die gesellschaftlichen Restriktionen (Anhebung der Pflegestufen als Hürde, ab der finanzielle Unterstützung gewährt wird) führen in weiterer Folge zu einem wachsenden Arbeitsbereich. Die Gesundheits- und Sozialdienste stellen bereits jetzt den größten Beschäftigungs- und Wirtschaftsfaktor in Österreich dar (vgl. Hundstorfer 2009:7). Erhebungen zeigen, dass in österreichischen Alten- und Pflegeheimen etwa 33.000 Personen in unterschiedlichen Berufssparten arbeiten: diplomiertes Gesundheits- und Pflegepersonal, Pflegehilfspersonal, Hilfspersonal, verschiedene Fachkräfte, ärztliches Personal (vgl. Schneider et al. 2011:1f., 104–107; bmask 2008, 2007). Die Dynamik der vergangenen Jahre führte zu einem enormen Zuwachs des Beschäftigungsstands seit 1997 und unterschiedliche Szenarien prognostizieren ausnahmslos einen weiteren Anstieg von Kosten und Beschäftigungszahlen in diesem Bereich (vgl. Schneider et al. 2011:1f.). Ausgehend vom Fehlen adäquater Nachwuchspflegekräfte in Österreich wird ein Personalmangel prognostiziert. Diesbezüglich verweisen die AutorInnen auf die Möglichkeit, dem zukünftigen Fehlen qualifizierter Arbeitskräfte durch die Beschäftigung von MigrantInnen zu begegnen (vgl. Schneider et al. 2011:104–107). Daraus ergibt sich ein Anknüpfungspunkt zu
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dem zweiten dieser Auseinandersetzung zugrunde liegenden Gedanken an historisch-demographisch verankerte und weiter im Zunehmen begriffene Migrationsprozesse. Zur migrationsbezogenen Diversität: Zum 31. 12. 2013 lebten laut Bevölkerungsstand von Statistik Austria (2014) 8.507.786 Personen in Österreich. Knapp 1,6 Millionen Menschen (18,6 %) sind ausländischer Herkunft, sind also nichtösterreichische Staatsangehörige und im Ausland geborene österreichische Staatsangehörige. Die Mehrzahl der Personen ausländischer Herkunft kommt aus dem europäischen Raum. In Österreich kann man verschiedene Zuwanderungswellen ausgehend von prägenden historischen Einschnitten benennen, als wesentlich gelten vertriebene und geflüchtete Menschen infolge des Zerfalls der Monarchie, des Ersten Weltkriegs, der Weltwirtschaftskrise, der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs, der politischen Neuordnung Europas und des Wirtschaftsaufschwungs in der ersten Hälfte, des Umbruchs in Ostmitteleuropa (Ungarn 1956/57) in der zweiten Hälfte und gegen Ende des 20. Jahrhunderts durch den Fall des Eisernen Vorhangs und durch die Auswirkungen der Kriegshandlungen im ehemaligen Jugoslawien (Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien bzw. Kosovo). Dazu kommen noch die Zuwanderungen durch die rekrutierten ArbeitsmigrantInnen und der Familiennachzug (Türkei) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die zugewanderten Menschen fanden meist in Grenzgebieten oder urbanen Gebieten ihren neuen Lebensmittelpunkt. Auch durch die Öffnung der Grenzen innerhalb der Europäischen Union kamen viele EuropäerInnen nach Österreich, um hier zu leben und zu arbeiten, was sich in den Gruppen der MitarbeiterInnen, der BewohnerInnen und deren Angehöriger1 zeigt (vgl. Reinprecht 2009b:243; Han 2000:64–77; Lebhart und Münz 1999, 9–22). Zur Gruppe der MitarbeiterInnen: Im erwerbsfähigen Alter wurden zwischen etwa 15 und 25 % aller Frauen und Männer nicht in Österreich geboren bzw. besitzen nicht die österreichische Staatsbürgerschaft. Lenhart (2009) bestätigt meinen Befund, dass in Österreich zur Anzahl der Pflegekräfte in Alten- sowie Pflegeheimen und deren Herkunft keine genauen Statistiken vorhanden sind. Die vorliegenden Daten beziehen sich auf Ergebnisse der OECD2 und Schätzungen. Zudem beziehen sich die einzelnen WissenschaftlerInnen auf unterschiedliche Indikatoren, etwa das Geburtsland, die Staatsbürgerschaft oder den Ort der Ausbildung. Auch werden unterschiedliche Tätigkeitsbereiche für die dargestellten Ergebnisse zusammengefasst, etwa der gesamte soziale Dienst1 Zur Herkunft der Angehörigen gibt es (wie insgesamt) zu dieser Gruppe sehr wenige Informationen. 2 Organization for Economic Co-operation and Development.
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leistungsbereich, die gesamten Pflegekräfte – also jene in Krankenhäusern, der mobilen Pflege oder Behindertenarbeit – oder Alten- und Pflegeheime. Es wird davon ausgegangen, dass zwischen 6,75 und 14,5 % der in Österreich beschäftigten Pflegekräfte im Ausland, vorwiegend den Nachbarstaaten, geboren sind. Lenhart (2009) bezieht sich weiters auf eine selbst durchgeführte schriftliche Befragung. Dabei kam sie zum Ergebnis, dass etwa 10,5 % der in Alten- und Pflegeheimen tätigen Pflegekräfte im Ausland ausgebildet wurden. Diese kamen vorwiegend aus einem Land der Europäischen Union sowie 7 % aus Indien und von den Philippinen. In Wien, Niederösterreich und dem Burgenland wurde ein besonders hoher Anteil an Pflegekräften verzeichnet, die ihre Ausbildung im Ausland absolvierten. Auf die tatsächliche Vielfalt der Herkunftsländer unter den Beschäftigten in österreichischen Alten- und Pflegeheimen lässt sich aus der aktuellen Datenlage noch kein genauer Rückschluss ziehen, doch die Diversität zeigte sich mir in meinen Besuchen verschiedener Häuser der stationären Betreuung und Pflege.3 In einem Haus4 beispielsweise besitzen von 240 Beschäftigten 103 Personen nicht die österreichische Staatsbürgerschaft und 184 MitarbeiterInnen sind nicht in Österreich geboren. Diese MitarbeiterInnen kommen aus Ägypten, Äthiopien, Australien, Bolivien, Bosnien, Bulgarien, China, Indien, Kroatien, Mazedonien, Nigeria, Österreich, den Philippinen, Polen, Rumänien, Russland, Serbien, Slowakei, Slowenien, Südafrika, Tschechien, der Türkei, der Ukraine, Ungarn und Valegrande. Die meisten MitarbeiterInnen anderer Herkunft leben in Österreich, einige pendeln täglich oder wöchentlich zwischen Beruf und Familie und damit zwischen zwei Ländern (BerufspendlerInnen). Zu den Gruppen der BewohnerInnen und Angehörigen: Auch BewohnerInnen und Angehörige verfügen über diverse Migrationserfahrungen. Laut Statistik Austria (2016) haben am 1. 1. 2016 von den 1,6 Millionen Menschen über 64 Jahren etwa 77.564 Personen nicht die österreichische Staatsbürgerschaft, das entspricht 4,8 %. Die nachstehende Abbildung zeigt, dass dieser Anteil in der jüngeren Bevölkerungsgruppe ansteigt, also bereits die darunter liegende Altersgruppe von 50 bis 64 Jahren einen AusländerInnenanteil von 9,3 % aufweist. Es lässt sich ein Anstieg an (männlichen) Personen ausländischer Herkunft unter den möglichen BewohnerInnen von Langzeitpflegeeinrichtungen erwar3 Auch die Rückmeldungen diverser Träger, eines Ansprechpartners des Landes Steiermark sowie von Pflegekräften in von mir begleiteten Bildungsangeboten betonen die migrationsbedingte Diversität von MitarbeiterInnen der Betreuung, der Pflege und des Managements. 4 Ich bat in allen Einrichtungen, in denen ich Interviews (siehe Forschungsdesign) führte, um eine Übersicht über Diversitätsdimensionen von MitarbeiterInnen, BewohnerInnen und Angehörigen, allen voran der Geburtsländer und Staatsbürgerschaften. Lediglich in einem Wiener Haus wurde diesem Wunsch entsprochen, worauf ich mich in den Ausführungen beziehe.
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(Migrationsbedingte) Diversität in österreichischen Alten- und Pflegeheimen Ausländische Staatsangehörige 100% 90% 80% 70% 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0%
1.043.514
203.333
1.287.902
319.396
1.965.319
483.129
Österreichische Staatsangehörige
1.173.370
1.215.795
135.245
104.000
672.331
74.566
21.083
1.488
Abbildung: Bevölkerung nach Staatsangehörigkeit und Altersgruppen. Quelle: Statistik Austria (2016).
ten. Eine Studie aus Wien von Knapp und Dogan (o. J.) zeigt auf, dass trotz migrationsspezifischer sozioökonomischer Bedingungen (mangelnde Deutschkenntnisse, rechtliche Situation, prekäre materielle und finanzielle Versorgung) und möglicher vorangegangener Diskriminierungserfahrungen die Akzeptanz für multikulturell angelegte Wohnheime bei den zugewanderten Personen steigt. Vor allem allein lebende alternde Menschen sowie jene, die mit der aktuellen Wohnsituation unzufrieden sind, erwägen diesen Schritt. Auch die Möglichkeit familiärer Versorgung wird laut Knapp und Dogan (o. J.) zunehmend hinterfragt. Meine Erlebnisse bei der Suche und Kontaktaufnahme in den Einrichtungen der Betreuung und Pflege alternder Menschen im Rahmen meines Dissertationsprojekts decken sich mit den Erkenntnissen von Knapp und Dogan (o. J.), wonach Trägerorganisationen kaum (bewusste, reflektierte) Erfahrungen mit betreuungs- und pflegebedürftigen Menschen mit Migrationserfahrung haben. Häufig erfolgten erst auf meine Anfrage genaue Recherchen in den Datenblättern, gefolgt vom Erstaunen über die vorherrschende Herkunftsvielfalt. In einem Wiener Haus wurde festgestellt, dass 26 BewohnerInnen, von insgesamt knapp 270 betreuungs- und pflegebedürftigen Personen in diesem Haus, in der Tschechischen Republik, in Deutschland, Rumänien, Polen, Moldawien, Jugoslawien, Ungarn und Indonesien geboren wurden. Die nationale Heterogenität sei an dieser Stelle exemplarisch hervorgehoben, um der beispielsweise von Reinprecht (2009:57–61) georteten Gefahr der Homogenisierung entgegenzuwirken. Gerisch, Knapp und Töpsch (2010) schließen sich Reinprecht an und fordern aufgrund der wachsenden Anzahl betreuungsund pflegebedürftiger Menschen mit Migrationserfahrung den sensiblen Umgang mit anderen Kulturen, was neue Ansprüche an die Kenntnisse und Kompetenzen der Pflegekräfte – ebenso wie der BewohnerInnen oder Angehörigen –
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inkludiert. Zur Inklusion von MigrantInnen und um die notwendigen Vertrauensbeziehungen aufbauen zu können, bedarf es Handlungsstrategien zur (gegenseitigen) Anerkennung der Biographien und von deren Auswirkungen. Bilinguales und bikulturelles Personal, mehrsprachige Informationen und soziale Einbettung seien wesentlich, um derartige Inklusionsprozesse für die Betroffenen zu unterstützen, so Reinprechts (2009:64f.) Rückschlüsse. (Leitende) MitarbeiterInnen von sozialen Einrichtungen sind gefordert, inhärente Werte und Normen zu hinterfragen sowie ihr Angebot an diversifizierten Lebensstilen zu orientieren, um den (möglichen) BewohnerInnen eine qualitätvolle Lebenswelt zu eröffnen. Dass auch eine Vielzahl an Hilfs- und Pflegekräften Migrationserfahrungen aufweisen, scheint vor diesem Hintergrund durchaus Potenziale zu eröffnen. Die Forschungsergebnisse, die diesem Beitrag zugrunde liegen, schließen durch die vorherrschende, explizit zum Ausdruck gebrachte Handlungsstrategie „Lernen“ an diese Perspektiven an.
Das Forschungsdesign Die Basis für die genannten Forschungsergebnisse bildete mein Dissertationsprojekt, insbesondere die in diesem Rahmen 2011 geführten Interviews5 und deren Analyse (vgl. Wagner 2015). Aufgrund der zum Zeitpunkt meiner Dissertation wenig bearbeiteten Thematik in Österreich und im Bestreben, neuartige Erkenntnisse hervorzubringen, war es für mich selbstverständlich, neben der Recherche vorhandener Literatur und von Statistiken auch ein empirisches Vorgehen zu inkludieren. „Empirisch vorzugehen heißt, Erfahrungen über Realität zu sammeln, zu systematisieren und diese Systematik auf den Gegenstandsbereich […] anzuwenden“ (Brosius, Koschel und Haas 2008:18).
Dabei werden detaillierte individuelle Relevanzsetzungen – also Gedanken, Erfahrungen, Situationsdeutungen, Einstellungen, Meinungen und Begründungen einzelner Menschen – zu dem interessierenden Thema mittels bestimmter Verfahren erhoben und analysiert. Die Basis für das methodische Design bildet die Grounded Theory von Strauss und Corbin (1996:7f.) als leitendes Paradigma, die als Ziel das Entwickeln von Theorien hervorheben: „Eine ,Grounded‘ Theory ist eine gegenstandsverankerte Theorie, die induktiv aus der Untersuchung des Phänomens abgeleitet wird, welches sie abbildet. Sie wird durch systematisches Erheben und Analysieren von Daten, die sich auf das untersuchte 5 Eine Auflistung der von mir geführten Interviews sowie deren Abkürzungen finden sich im Literaturverzeichnis im Teilbereich „Interviews“.
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Phänomen beziehen, entdeckt, ausgearbeitet und vorläufig bestätigt. Folglich stehen Datensammlung, Analyse und die Theorie in einer wechselseitigen Beziehung zueinander.“
Zentral sind die Kriterien der Übereinstimmung mit dem Gegenstandsbereich, die Verständlichkeit, die Allgemeingültigkeit, um durch Abstraktion die Theorie auf andere Kontexte übertragen zu können, und die Kontrolle des Handelns im Kontext des Phänomens, die ermöglicht werden kann. Offenheit, Flexibilität, Sorgfalt, Kreativität und Systematik sind weitere unabdingbare Tugenden, um wertvolle Entdeckungen zu machen, die eine Grounded Theory charakterisieren. In diesem pragmatisch-interaktionistisch verorteten Forschungsprozess schreibt Charmaz (2006:10) den Forschenden eine zentrale Rolle zu: „we are part of the world we study and the data we collect.“ Breuer (2010) ergänzt dieses konstruktivistische Verständnis, indem er davon ausgeht, dass die Perspektiven der WissenschaftlerInnen – beeinflusst durch Grundannahmen, theoretische Modelle, disziplinär verankerte Forschungstraditionen, soziokulturell geprägte eigene Involviertheit (Präkonzepte) und dergleichen – die forschungsinhärenten Wahrnehmungen beeinflussen. Es ergeht die Forderung, die interessierte, offene und respektvolle Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten, zwischen der eigenen Rolle und der subjektiven methodologischen Position bis zur konkreten Datenanalyse bewusst zu reflektieren (reflektierte Erkenntnishaltung).6 Zur Auswahl des Samplings anhand der Forschungsfrage: Ausgehend von der sehr offen formulierten Forschungsfrage „Wie gestaltet sich das von Diversität geprägte Zusammenleben und -arbeiten in stationären Einrichtungen der Betreuung und Pflege alternder Menschen?“ erfolgte eine weitere Anpassung der wesentlichen Elemente des Forschungsdesigns. Einen wesentlichen Schritt in der Grounded Theory stellt die Auswahl der Stichprobe dar, welche nach Strauss und Corbin (1996:148) „auf der Basis von Konzepten, die eine bestätigte theoretische Relevanz für die sich entwickelnde Theorie besitzen“ vorzunehmen ist. Es wurden stationäre Einrichtungen der Betreuung und Pflege alternder Menschen ausgewählt, die aufgrund ihrer typischen Kultur (Strukturen, Abteilungen, Hierarchien, Regeln, Normen, Praxen) und Rahmenbedingungen den Aufbau sozialer Wirklichkeitsvorstellungen und die Gestaltung von Handlungsorientierungen der AkteurInnen mitbestimmen (vgl. Froschauer und Lueger 2009; Dechmann und Ryffel 2006). Ausgehend von dem Wissen um länderspezifische Personalschlüssel und deren Auswirkungen auf die Heimwelten galt es zunächst, Erhebungen in mindestens zwei Bundesländern mit möglichst unterschiedli6 Ich nutze einen pragmatischen und eklektizistischen Zugang, also unterschiedliche Ausführungen zur Grounded Theory, zu Erhebungs- und Auswertungsmethoden, um mit meinem Vorgehen möglichst adäquat dem Thema zu entsprechen.
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chen Rahmenbedingungen (Verständnis von Pflegequalität, Personalschlüssel) durchzuführen. Schließlich fiel aufgrund der Kontakte durch meine Studien die Wahl auf die Steiermark, und durch die Rückmeldung größerer Trägerorganisationen auf meine Kontaktversuche boten Wiener Häuser die Kontrastmöglichkeit. Durch weitere Überlegungen zu Einflussfaktoren fokussierte ich auf die unterschiedlichen Träger der Häuser und es gelang mir, konfessionell, städtisch und privat geführte Einrichtungen für die Unterstützung meines Vorhabens zu gewinnen. Schließlich leitete mich die Überlegung, dass eventuell Bedingungen zwischen ländlich und städtisch gelegenen Alten- und Pflegeheimen variieren. Die Entscheidung für die integrierten AkteurInnengruppen ist ebenfalls wesentlich, denn Ereignisse und Handlungsweisen erhalten Sinn und Bedeutung durch die Einbettung in einen Kontext. Entscheidend ist dabei „die Kommunikation als sinngenerierender Prozess, der Sinn selbst als Ordnungsform des Erlebens und Handelns sowie die Strukturierung als Produktion von Ordnung“ (Froschauer und Lueger 2009:241). Bei der Auswahl profitierte ich von meiner Masterarbeit, in der bereits die wesentliche Bedeutung der Inklusion aller Beteiligten – BewohnerInnen, Angehörige und MitarbeiterInnen – deutlich wurde (vgl. Wagner und Hegenbart 2010). Die Interdependenzen zwischen BewohnerInnen, deren Angehörigen, MitarbeiterInnen und leitendem Personal bestätigten sich abermals im Feld. Die organisationstheoretische Perspektive offenbart zudem die Notwendigkeit, bei den MitarbeiterInnen darauf zu achten, dass diese aus allen vorhandenen Hierarchieebenen kommen. Daraus entstand die Intention, alle genannten Personen- und Berufsgruppen in die Erhebung einzubeziehen. Weitere angestrebte Differenzierungen ergeben sich aus dem Geschlecht, dem Alter, dem Gesundheitszustand, dem Bildungsstand, der Herkunft, der Berufsgruppenzugehörigkeit. Durch diese angestrebte Variation des Samplings wird das Anstellen von Vergleichen begünstigt. Ein „[t]heoretisches Sampling garantiert das Aufspüren von Variation, Prozeß und auch Dichte. Dementsprechend ist auch ein gewisser Grad an Flexibilität notwendig, da der Forscher auf datenrelevante Situationen, die während seines Feldaufenthaltes auftreten, reagieren“ muss (Strauss und Corbin 1996:150). Ausgehend von der Forderung nach Flexibilität gelang es mir, in den Einrichtungen zuvor nicht bedachte Berufsgruppen aufzuspüren und Vertreterinnen für mein Vorhaben zu gewinnen (Sozialarbeiterin, ehrenamtliche Mitarbeiterin). Auch bei den BewohnerInnen hatte ich die Gelegenheit, mein Sampling zu erweitern, etwa den möglichen Einfluss einer Kriegsgefangenschaft mit in die Untersuchung aufzunehmen. Zur Erhebungsmethode: Für die Dissertation wählte ich als Erhebungsmethode qualitative Interviews, die ich mit den so ausgewählten BewohnerInnen, deren Angehörigen, MitarbeiterInnen und dem leitenden Personal der Altenund Pflegeheime führte. Mich interessierten einerseits die Lebensgeschichten
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der Personen, wobei sich Parallelen zum biographischen Interview von Schütze (1983) erkennen lassen, in dem die InterviewpartnerInnen frei von ihrer Lebensgeschichte und besonders hinsichtlich der interessierenden Phasen zu ihrem Leben bzw. Arbeiten im Haus erzählen können. Ereignisverstrickungen und lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtungen sind für mich von Interesse, weil diese das Für- und Miteinander im Haus prägen – so meine These. Vor allem soziale und kulturelle Entwicklungsprozesse könnten den Umgang mit dem Alter(n) beeinflussen. Auf der anderen Seite fokussierte ich auf die subjektiven Wahrnehmungen des Für- und Miteinanders in österreichischen Alten- und Pflegeheimen. Einblick in diese gewährten mir die AkteurInnen solcher Einrichtungen in deren Erzählungen. Um dies umzusetzen, orientierte ich mich in der Gestaltung der konkreten Interviews am problemzentrierten Interview nach Witzel (2000). Dabei liegt der Fokus auf den subjektiven Perspektiven der AkteurInnen. Dies zeigt sich in der möglichst unvoreingenommenen Erfassung subjektiver Handlungsbeschreibungen, Wahrnehmungen und Verarbeitungsweisen dieses Fürund Miteinanders. Handlungsbegründungen und Situationsdeutungen sind dabei zentral, da diese bei Individuen durch gesellschaftliche Anforderungen entwickelt und durch subjektive Betrachtungsweisen im Gespräch (re)konstruiert werden. Bei beiden inspirierenden Interviewformen wird zudem der kommunikative, erzählgenerierende Charakter der Interviews hervorgehoben, wenngleich ein völlig narratives Interview aufgrund der beiden Themenschwerpunkte nicht zielführend erscheint. In der vorliegenden Untersuchung sind die Fragen des Leitfadens so strukturiert, dass sie einer chronologischen Reihenfolge entsprechen und von sehr persönlichen Erfahrungen der Berufsund Migrationsbiographie hin zu aktuellen Wahrnehmungen des Für- und Miteinanders im Alten- und Pflegeheim leiten. Diese Fragen waren entsprechend dem Anspruch der Grounded Theory provisorisch und wurden in der Forschungsarbeit variiert, um weitere Entdeckungen und Vertiefungen zu ermöglichen (vgl. Gläser und Laudel 2009:41–63; Cropley 2005:107; Flick 2002:151f.; Strauss und Corbin 1996:161f.). Die befragten Personen antworteten frei auf diese Fragen und konnten so unterschiedliche Relevanzsysteme entfalten, individuelle Wirklichkeitsdefinitionen, Bedeutungen sowie Interpretationen mitteilen und Interpretationsrahmen rekonstruieren. Zur Aufbereitung und Analyse der Interviews: Nach den insgesamt 29 aufgezeichneten Gesprächen wurden jeweils ein Postskriptum und ein wörtliches, vollständiges Transkript entsprechend den in meiner Dissertation festgelegten Transkriptionsregeln angefertigt (vgl. Deppermann 2008; Witzel 2000; Wagner 2015). Diese Transkripte boten die Grundlage für die Auswertung im Rahmen der Grounded Theory :
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„Analyse in der Grounded Theory besteht aus sehr sorgfältigem Kodieren der Daten, welches hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, durch mikroskopische Untersuchung der Daten geschieht“ (Strauss und Corbin 1996:40).
Dabei werden drei Haupttypen des Kodierens – das offene Kodieren, das selektive Kodieren und das axiale Kodieren – differenziert, charakterisiert durch Interpretationsarbeit, Vergleiche und gestellte Fragen. Am Ende steht eine gegenstandsbezogene, in den Daten verankerte Theorie. Zum Ergebnis: Das Ergebnis der Analyseprozesse und dessen Präsentation und Reflexion finden sich ausführlich dargestellt in meiner Dissertation (vgl. Wagner 2015). Wirkzusammenhänge für das von (migrationsbedingter) Diversität geprägte Zusammenleben und -arbeiten in stationären Einrichtungen der Betreuung und Pflege alternder Menschen wurden identifiziert und bilden die Grundlage für diesen Beitrag. Es lässt sich in den Interviewanalysen erkennen, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen, denen die historische Gewordenheit, die demographischen und sozialen Veränderungen, die institutionellen und professionellen Anforderungen sowie die politischen Restriktionen inhärent sind, die Basis bilden. Die Entwicklungen, genauer die daraus entstehenden Ansprüche, Erwartungen und Rahmenbedingungen wirken sich auf die einzelnen Akteurinnen und Akteure ebenso aus wie auf die Einrichtungen der Betreuung und Pflege alternder Menschen. Durch lebensgeschichtliche Erfahrungen und die (Aus-)Bildungsbiographien – also die erworbenen Qualifikationen mitsamt deren Relevanzsetzungen – machen sich die MitarbeiterInnen des Managements, der Pflege und der Betreuung, die BewohnerInnen sowie deren Angehörige die Strukturen in Alten- und Pflegeheimen, innerhalb der gegebenen gesetzlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen, zu eigen. Als wesentlich haben sich Bereiche der räumlich-materiellen Gestaltung, der Betreuung und Pflege, der sozialen Kontakte, der Freizeitgestaltung sowie des Essens und Trinkens herauskristallisiert. Durch Lern- und Aneignungsprozesse in diesen Bereichen – der als wesentlich hervorgehobenen Handlungsstrategie – wird die Wahrnehmung des Für- und Miteinanders und in weiterer Folge die Zufriedenheit der BewohnerInnen, von deren Angehörigen, aber auch der MitarbeiterInnen maßgeblich beeinflusst.
Lernen als Aneignungs- und Handlungsstrategie Ausgehend von personalen (biographisch, migrationsspezifisch und professionell geprägten), institutionellen sowie gesellschaftlichen Dimensionen finden sich BewohnerInnen, Angehörige und MitarbeiterInnen im gemeinsamen Betreuungs- und Pflegealltag wieder. Angesichts der Vielfalt der Menschen, der
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Dynamik des Lebens, Besuchens und Arbeitens sowie der darin enthaltenen Anforderungen ergeben sich immer wieder neue Herausforderungen und Potenziale, denen sich die Beteiligten stellen (müssen). Unaufhaltsam rückte während der Analyse der Interviews eine Handlungsstrategie ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit: Lernen. In (biographischen, professionellen und alltagsweltlichen) Lern- und Aneignungsprozessen versuchen alle AkteurInnen durch eine Veränderung von Verhalten, Kognitionen sowie Emotionen das größt(möglich)e Maß an Zufriedenheit und Qualität für ihr Leben, Besuchen und Arbeiten in den Einrichtungen zu erlangen.
Lernen in formalen und non-formalen Bildungsangeboten Die formalen und non-formalen Bildungserfahrungen der AkteurInnen – wobei ich mich auf das Verständnis von Overwien (2006:35–62) und Dohmen (2001:18) beziehe – sind äußerst heterogen. Während bei BewohnerInnen oftmals das Lernen in Kriegszeiten für Hilfsarbeiten zurückgestellt wurde, konnten zwei von mir befragte betreuungs- und pflegebedürftige Menschen eine akademische Bildung erfahren. Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen wurden nur von einer Bewohnerin genannt. Die Angehörigen erwarben die Matura (HTL) oder können sogar einen akademischen Abschluss vorweisen. Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen werden von einer Angehörigen im Kontext meiner Befragung hervorgehoben, da diese ihre besondere Sensibilität für diese Thematik dadurch betont. Bei BewohnerInnen und deren Angehörigen wurde die formale (und auch non-formale) Qualifikation als Teil der biographischen Komponente betrachtet. Bei den MitarbeiterInnen werden formale und non-formale Qualifikationen für die Arbeit und den Aufstieg der MitarbeiterInnen vorausgesetzt.7 Die diplomierten MitarbeiterInnen von stationären Einrichtungen der Betreuung und Pflege alternder Menschen benötigen den Abschluss von spezifischen formellen Qualifizierungsmaßnahmen, durch welche sie das notwendige Wissen und die erforderlichen Kompetenzen erlangen, um ihre Tätigkeit eigenverantwortlich nach Qualitätsmaßstäben ausführen zu können und zu dürfen. Hervorzuheben ist, dass nur zwei Pflegedienstleiterinnen und die Sozialarbeiterinnen ihre Berufsbildung in Österreich erworben haben. Alle anderen von mir befragten MitarbeiterInnen der gehobenen Gesundheits- und Krankenpflege absolvierten ihre Ausbildung in ihren Herkunftslän7 Da die befragten MitarbeiterInnen ihre Ausbildungen noch weit vor den Änderungen durch die aktuelle Novelle des GuKG (2016) absolviert haben, wird von einer detaillierten Darstellung abgesehen.
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dern, was eine Nostrifizierung bedingt. Diese formale Anerkennung beinhaltet eine Gegenüberstellung der Berufsqualifikation mit den Qualifikationsanforderungen in Österreich. Der Vergleich wird Nostrifikation genannt: „Als Nostrifikation bezeichnet man die formale Anerkennung ausländischer Schulund Reifezeugnisse. Hierbei kommt es zu einem Vergleich des im Ausland zurückgelegten Schulbesuches und der im Ausland abgelegten Prüfungen mit österreichischen Lehrplänen. Gibt es gröbere Abweichungen bei den Lehrinhalten, müssen Ergänzungsprüfungen absolviert werden“ (ÖIF o. J.).
Die Gleichhaltung der Inhalte wird als wesentlich für die Qualitätssicherung hervorgehoben (vgl. ÖIF 2014). Nostrifikationskurse an den Schulen für Gesundheits- und Krankenpflege bieten eine entsprechende Vorbereitung, um schließlich die mündliche Nostrifikationsprüfung vor einer Kommission abzulegen. Die Zeit der Nostrifizierung wird unterschiedlich wahrgenommen, wie die Erzählungen der drei slowenischen Diplompflegekräfte zeigen. Aufgrund der Kombination aus Vollzeitbeschäftigung und den berufsbegleitenden Qualifikationsergänzungen wurde dies als eine sehr schwierige und vor allem anstrengende Zeit wahrgenommen, welche durch das Ziel vor Augen und den eigenen Willen überwunden wurde (vgl. WBL_H5 2011:19f., 95; DGKP_H5 2011:19). Die Stationsleiterin zeigt sich begeistert: „ich glaub ich war eine von sehr wenigen die sich darüber gefreut haben, ehrlich gesagt, ich hab zwölf Prüfungen abgelegt da“ (SL1_H1 2011:18). Dies begründet sie wie folgt: „hier der Start mit diesen Prüfungen ja, hat mir sehr geholfen wieder aus diesen zehn Jahre ausbleiben wegbleiben von Pflegeberuf das ich wieder am neuesten Stand war“ (SL1_H1 2011:21).
Zwei Personen schlugen in Östereich einen zweiten Bildungsweg ein und wählten aufgrund der Berufschancen die Ausbildung zur Heimhilfe für den beruflichen Einstieg im fremden Land (vgl. PH_H2; HH_H2 2011). Eine der beiden nutzte den Einstieg als Heimhilfe, um erste Erfahrungen zu machen und ihre sprachlichen Fähigkeiten zu erweitern sowie zu festigen. Nach kurzer Zeit bildete sich diese Hilfskraft zur Pflegehelferin weiter (vgl. PH_H2 2011). Abgesehen von den Ausbildungswegen nutzen die MitarbeiterInnen nonformale Lernangebote zur Fort- und Weiterbildung, vorrangig um den beruflichen Aufstieg in den Einrichtungen zu forcieren. Wann welche Bildungsmöglichkeiten genutzt werden, ist abhängig von den Inhalten (pflege- und medizinspezifische Themen), den persönlichen Faktoren (Interesse, Motivation), den Initiativen in den Häusern (Einstellung und Unterstützung von Vorgesetzen, interne Veranstaltungen), den Kontextbedingungen der Bildungsanbieter (Zeit, Ort, Kosten, Inhalte) und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (Situation am Arbeitsmarkt). Grundsätzlich wird ein leistbares Angebot erwartet, welches
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berufsbegleitend organisiert ist und neue Inhalte kurz und prägnant an die Teilnehmenden vermittelt. Zudem sollte das Angebot möglichst nahe dem Wohn- und Arbeitsort sein. Kürzere Bildungsmaßnahmen werden gegenüber langfristig andauernden Möglichkeiten präferiert. Es werden materielle, zeitliche sowie didaktische Kriterien als Bedingungen für die Wahl der Teilnahme an Bildungsangeboten genannt (vgl. SL2_H1 2011:29–31; PH_H2 2011:54; PDL_H4 2011:63f.; SL1_H4 2011:19)8.
Informelle Lernprozesse in Alten- und Pflegeheimen Die von Overwien (2006:42) als „selbstgesteuerte intrinsisch motivierte Lernprozesse“ beschriebenen informellen Lernprozesse sind vom Anregungs- und Unterstützungspotenzial der Umwelt abhängig und geprägt von Erfahrungen, impliziten Prozessen, Alltagssituationen sowie Selbststeuerung (vgl. Dohmen 2001:19). Informelles Lernen fungiert damit als Schnittstelle zwischen verschiedenen Lernformen. Das Lernen im Austausch mit anderen war und ist kulturevolutionär betrachtet wesentlich für den Umgang mit Menschen (vgl. Overwien 2006:35–62; Becker 2000:9–13). Gerade in – von Heterogenität der Beteiligten charakterisierten – stationären Einrichtungen der Betreuung und Pflege alternder Menschen ist informelles Lernen ein unabdingbarer Prozess für die Interaktion zwischen AkteurInnen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen. Auch die MitarbeiterInnen unterstreichen die Bedeutung des informellen Austauschs im Team, finden diesen positiv konnotierten Aspekt sehr wichtig (vgl. PDL_H1 2011:62; SL1_H1 2011:27, 41; SL_H2 2011:45). Es zeigt sich eine Vielfalt an Austauschmöglichkeiten, es kann hinsichtlich – der sich austauschenden Personengruppen (interdisziplinäres Team, Berufsgruppe einer Station oder des gesamten Hauses, KollegInnen oder Führungskräfte mit hierarchisch untergeordneten MitarbeiterInnen), – der Häufigkeit (täglich mehrmals bis einmal jährlich) sowie – des Kontextes (gemeinsame Jause, MitarbeiterInnengespräche, Dienstübergaben und -besprechungen, zufällige Treffen in Aufenthaltsräumen, initiierte gemeinsame Treffen außerhalb des Hauses, Feste mit oder ohne BewohnerInnen)
8 Da das Thema Diversität von den MitarbeiterInnen nicht ohne Nachfragen genannt wird, verweise ich für weitere Informationen auf meine Dissertation (vgl. Wagner 2015).
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unterschieden werden (vgl. PDL_H1 2011:52–62; SL1_H1 2011:27; SL2_H1 2011:41–79; SL_H2 2011:39–51; PH_H2 2011:Abs. 26; SL_H3 2011:38; SA_H3 2011:46–82; SL1_H4 2011:25; SL2_H4 2011:91; Ang1_H4 2011:89). Der Austausch beinhaltet berufliche9 ebenso wie private Themen, in privaten, informellen Gesprächen erfolgt ein Austausch über Arbeitserfahrungen in diversen Ländern, kulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Dieser persönliche Austausch gibt nicht nur Einblick in das Leben anderer, sondern bewirkt Entspannung, dient der Beziehungsarbeit und stärkt die Bindung untereinander, wie folgendes Zitat verdeutlicht: „und es is wichtig auch wenn ma zwei Mal im Jahr Station extra ohne Haus Essen (mhm) das is auch sehr wichtig und dann red ma von untereinand nicht von ***heim sondern von unsere Privatleben und da kenn ma uns besser wirklich sehr gut“ (SL_H2 2011:59).
Die Pflegedienstleitung in Haus 4 (2011:39) gibt Ausblick auf mögliche weitere Lernfelder und betont: „da könnt ma über Kultur Geschichte Einstellung (mhm) ja lernen.“ Aufgrund der hohen Anforderungen im Betreuungs- und Pflegealltag würde jedoch die Zeit für ein Kennenlernen der MitarbeiterInnen zu gering ausfallen. Nicht immer geschieht der Austausch mit den anderen Hilfs- und Pflegekräften direkt. Die als Herausforderung wahrgenommene Heterogenität der MitarbeiterInnen gibt Anlass, um mit anderen KollegInnen über „problematisches“ Verhalten zu sprechen. Bei derartigen Gesprächen werden jedoch durchaus essenzialistische Zuschreibungen vorgenommen. Zusammenhänge von nationaler Herkunft („die philippinischen Mitarbeiterinnen“, „die Leute aus China“), kultureller Verortung und Arbeitsverhalten (Motivation, Engagement, Sauberkeitsverständnis) werden den MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund zugeschrieben. Um mit den georteten Herausforderungen umzugehen, wird der Austausch mit KollegInnen im Rahmen von Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen10 genannt, aber schlussendlich wird deutlich, dass nicht das Sprechen über, sondern mit den anderen zum Ziel führt. Durch den Austausch würden individuelle Ausprägungen in den Vordergrund gerückt, weniger Konflikte entstehen. Missverständnissen würde vorgebeugt durch das bessere, gegenseitige Verständnis. Weitere Wirkungen, die durch die unterschiedlichen Austauschformen intendiert werden, sind die Befriedigung der Neugierde, die Wertschätzung anderen kulturellen Ausprägungen gegenüber und das (Kennen-)Lernen anderer Erfahrungen (SL1_H4 2011:85; PDL_H4 211:41). 9 Diesbezüglich überwiegen Gespräche über medizinische Aspekte der Betreuung und Pflege im Team. 10 Mit den Bildungsveranstaltungen zu diesem Thema ist die Stationsleiterin 1 in Haus 4 (2011:85) wenig zufrieden aufgrund des Vorrangs von theoretischer und politisch korrekter Auseinandersetzungen statt Problem- und Lösungsorientierung.
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Die Rolle der Sprache Wesentlich für den Austausch sowie generell im Pflegeberuf ist die Sprache, wie auch Esser (2006:i) proklamiert. In allen Tätigkeiten sind kommunikative Anteile enthalten, Sprache prägt den gesamten Alltag, ist in der Interaktion von BewohnerInnen, Angehörigen, KollegInnen, interdisziplinären Teammitgliedern und Vorgesetzten zentral. (Bessere) Deutschkompetenzen werden von den meisten InterviewpartnerInnen – ohne und mit Migrationserfahrung – als bedeutend für die Arbeit in österreichischen Langzeitpflegeeinrichtungen bewertet11 (vgl. SA_H3 2011:68; SL1_H1 2011:44; SL2_H1 2011:22–59; HH_H2 2011:49). Dies bekräftigt Esser (2006:i), indem er die integrative Funktion von Sprache ebenso hervorhebt wie die infolge mangelnder Sprachkompetenz bestehende Gefahr von Diskriminierung und Behinderung für den beruflichen Erfolg. Dieser Eindruck lässt sich nur bedingt bestätigen, sowohl Hilfskräfte als auch diplomiertes Personal und Leitungspersonen sprechen teilweise nicht gut Deutsch. Eine Mitarbeiterin (Heimhilfe) in einem steirischen Haus beantwortete mir viele Fragen nur in englischer Sprache, mit der Begründung, sich so besser ausdrücken zu können. Stationsleiterin 2 (H4 2011:79) erzählt, dass sie MitarbeiterInnen-Gespräche und Informationsgespräche mit Angehörigen detailliert vorbereiten muss, um sich verständlich in deutscher Sprache ausdrücken zu können: „ein Gespräch muss ich immer vorher ganz gut planen ja normalerweise (3) darf nicht das etwas spontan fällt und (2) hab ich auch noch nicht geübt diese ((lacht)).“ Auch konnte ich eine Konfliktsituation – ausgehend von den sprachlichen Defiziten der Stationsleitung – mit einer Bewohnerin beobachten, was die Bedeutung von guten Deutschkompetenzen für mich noch weiter unterstreicht. Dabei umfassen die Kommunikationsanforderungen sowohl Kenntnisse der adäquaten Fachsprache, mündlich, aber auch schriftlich, etwa zur Dokumentation von Diagnosen und Pflegehandlungen, als auch alltagssprachliche Kompetenzen. Erschwerte Kommunikationsbedingungen ergeben sich im Kontext von Alten- und Pflegeheimen einerseits aus der starken Präsenz medizinischer Bezeichnungen und andererseits aus der Heterogenität der Personen hinsichtlich Alter, Geschlecht, sozialer und geographischer Herkunft (vgl. Haider 2008:195). So lassen sich unterschiedliche Faktoren differenzieren, die auf die Sprachkompetenzen wirken. Die von Esser (2006:ii) für die Sprachkompetenzen als bedeutsam identifizierten Determinanten des Einreisealters und der Aufenthaltsdauer lassen sich in den von mir geführten Interviews nur tendenziell bestätigen. Zwei der drei oben genannten Mitarbeiterinnen leben und arbeiten 11 Die Forderung nach Deutschkompetenzen richtet sich ausschließlich an die MitarbeiterInnen mit Migrationserfahrung, nicht an BewohnerInnen oder Angehörige.
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bereits seit mehreren Jahren in Österreich. Vielmehr kristallisieren sich die persönlichen Bedeutungszuschreibungen der InterviewpartnerInnen als wesentlich heraus, beispielsweise durch den Wunsch, in Österreich zu bleiben. Zwei Mitarbeiterinnen waren motiviert, Deutsch zu lernen, da die Pflegehilfe zu ihrem österreichischen Mann zog und die bosnische Pflegekraft bereits in ihrer Kindheit und Jugend Österreich von Besuchen kannte, woraus eine Motivation zur Migration entstand. Beide hatten bereits bei der Einreise den Wunsch, in Österreich zu bleiben. Auch alle drei pendelnden MitarbeiterInnen sehen sich beruflich weiterhin in Österreich verankert, wodurch das große Engagement im Spracherwerb zu erklären wäre (vgl. HH_H2; PH_H2; SL1_H4; SL2_H1; WBL_H5; DGKP_H5; DGKP_H4; SL2_H4 2011). Weiters zeigen sich unterschiedliche Strategien zum Spracherwerb. Deutsch kann – so die Erzählungen der MigrantInnen und Beobachtungen der anderen MitarbeiterInnen – bereits in der Schulzeit oder erst im Zuge der Migrationsüberlegungen, im Herkunftsland oder in Österreich, an externen Einrichtungen (Volkshochschule) oder durch im Haus angebotenen Deutschunterricht erworben werden (vgl. PDL_H1 2011:56; SL1_H1 2011:18; DGKP_H4 2011:28–30; WBL_H5 2011:60). Die Erzählungen lassen darauf schließen, dass in österreichischen non-formalen Bildungsangeboten erworbene Sprachkenntnisse und -kompetenzen qualitativ besser zu bewerten sind als in den Herkunftsländern absolvierte Deutschkurse. Die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten von MitarbeiterInnen mit in Herkunftsländern erworbenen Deutschkenntnissen seien sowohl mündlich wie auch schriftlich völlig unzureichend: „die basalsten Dinge fehlen“ (PDL_H1 2011:56; vgl. SL1_H1 2011). Daraus entsteht die Forderung nach weiteren Deutschkursen in Österreich, die die MitarbeiterInnen besuchen sollten. In diesem Zusammenhang zeigt sich jedoch in diesem Haus von der Pflegedienstleitung ein ambivalentes Unterstützungsverhalten. Einerseits wird zur Teilnahme an einem zwei Monate dauernden Deutschkurs aufgerufen. Andererseits sei die Freistellung der MitarbeiterInnen zweimal wöchentlich dafür ebenso wenig möglich wie die Berücksichtigung im Dienstplan (vgl. PDL_H1 2011:56). Dieser auch von Haider (2008:32) proklamierten Forderung zur Eigenverantwortung gegenüber äußern sich die MitarbeiterInnen kritisch. Einerseits ist eine Kursteilnahme unter diesen Bedingungen kaum möglich und für MitarbeiterInnen gestaltet sich autonomes Lernen wesentlich schwieriger als ein Lernen mit ausgebildeten TrainerInnen. Andererseits haben MitarbeiterInnen mit der Nostrifikation und dem Erwerb aller notwendigen Fachkenntnisse bereits so viel zu lernen, dass keine Zeit mehr für den Spracherwerb bleibe, so die Begründung einer Mitarbeiterin (vgl. PDL_H1 2011:56; DGKP_H4 2011:28–30; WBL_H5 2011:60). Sehr positiv bewertet wird hingegen der einrichtungsinterne Deutschunter-
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richt in einem steirischen Haus. Durch den in Kleingruppen stattfindenden Sprachunterricht haben sich die mündliche Ausdrucksfähigkeit sowie die Schreibkompetenz deutlich verbessert. Zudem wird der Wunsch nach einer Vertiefung in die deutsche Sprache abermals mit der Hilfe des lehrenden Germanisten geäußert (vgl. WBL_H5 2011:60). Trotz Wohnsitz in Slowenien und erst kurzer Beschäftigungsdauer in Österreich sprechen und verstehen die Mitarbeiter im steirischen, privaten Haus im Vergleich sehr gut Deutsch, was dieses unterstützende Vorgehen unterstreicht. Für den Spracherwerb sind neben non-formalen Lernangeboten auch informelle Unterstützungsmechanismen wirkungsvoll. Um die Sprache zu lernen, seien ein wertschätzender Umgang, gegenseitige Hilfe und die stetige Verbesserung nicht nur des mündlichen, sondern auch des schriftlichen Ausdrucks unumgänglich. Die intensive Arbeit, die sich hinter dieser Unterstützung verbirgt, wird gerne auf sich genommen, wenn das Engagement der Lernenden wahrgenommen wird: „ich hab vor einem Jahr eine Mitarbeiter aus der Slowakei aufgenommen und sie konnte kaum Deutsch also das war nur vielleicht eh Grüß Gott und Auf Wiedersehen aber ich hab mich trotzdem für sie entscheiden weil ich ich hab die Energie gespürt sie will das sie will das nun diese Mitarbeiterin hat von mir verlangt das ich ihr Deutsch kontrollieren wenn sie falsch schreibt soll ich das soll ich es sagen also was nicht stimmt oder wenn wir im Gespräch sind soll ich sie ausbessern und sie hat sich ziemlich gut entwickelt“ (SL1_H4 2011:99).
Für den raschen Spracherwerb wirken besonders KollegInnen mit deutscher Erstsprache unterstützend. Auch BewohnerInnen können den Spracherwerb positiv beeinflussen, einerseits durch respektvolles Verhalten, andererseits durch Korrekturen (vgl. SL1_H4 2011:77). Wesentlich ist für die BewohnerInnen, dass die fremdsprachigen MitarbeiterInnen die deutsche Sprache erlernen wollen, ihre Ausdrucksfähigkeit verbessern möchten.12 Dann erfahren sie Verständnis und Unterstützung von den meisten BewohnerInnen, wie folgendes Zitat zeigt: „das einzige was das Problem is ahm die Sprachkommunikation, das manche Worte anders aufgefasst werden des muss ich schon sagen […] aber sie bemühen sich sehr […] was ich festgestellt habe was ich auch frage oder gfragt habe ist es recht wenn eh oder manche sogns von selber so ,Wenn i was falsch sag tuans mir nur korrigieren das i waß i wü lernen i wü die österreichische Sprache lernen‘ […] do sans sehr froh dankbar wenn man a bissl korrigiert“ (Bew4_H4 2011:42).
12 Nicht alle BewohnerInnen seien jedoch verständnisvoll: „es gibt auch jenigen die sagen um Gottes willen sie sind nicht für diesen Beruf geeignet weil sie nicht ausreichend Deutsch können, unterschiedlich kommt drauf an hab ich verschiedenes erlebt“ (SL1_H4 2011, 77).
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Während bei den MitarbeiterInnen vorwiegend auf mangelnde Sprachkompetenzen fokussiert wird, gibt es auch BewohnerInnen und vereinzelt Angehörige, die über andere Sprachkenntnisse verfügen. Die Stationsleiterin in Haus 3 (2011:34) erzählt von einem in Tschechien lebenden Sohn, der nicht Deutsch spricht. Dies erschwert die Kommunikation über die Befindlichkeit des Vaters. Gemeinsam mit Tschechisch sprechenden MitarbeiterInnen – die als DolmetscherInnen fungieren – wird der Austausch gewährleistet. Im Hinblick auf die sprachliche Vielfalt der BewohnerInnen dominieren unterschiedliche Strategien, um damit umzugehen. Grundsätzlich gilt es anzumerken, dass keine der befragten BewohnerInnen mit Migrationsbiographie schlecht Deutsch sprechen konnte oder aufgrund meiner österreichischen Aussprache Probleme hatte, mich zu verstehen.13 Dialekte werden als interessant und witzig wahrgenommen, wobei eine Bewohnerin zugibt, bei stark im Dialekt sprechenden anderen betreuungs- und pflegebedürftigen Personen gut aufpassen zu müssen, um alles zu verstehen (vgl. Bew1_H2 2011:55–57). Dennoch haben einige der befragten BewohnerInnen noch weitere sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten durch ihre Auslandsaufenthalte (Fremdsprachen) oder Geburtsorte (Erstsprachen) erworben. Deutsch, Englisch, Kroatisch, Französisch und Italienisch wurden von unterschiedlichen BewohnerInnen im Rahmen ihrer Bildungs- und Migrationsbiographien erlernt (vgl. Bew1_H2 2011:19; Bew2_H2 2011:15–43; Bew1_H3 2011). In einem steirischen Haus wird die während ihres Amerikaaufenthalts (40 Jahre) erlernte englische Sprache einer Bewohnerin völlig vernachlässigt, was diese traurig macht, denn sie würde sich gerne in Englisch austauschen, um diese Sprache nicht zu verlernen (Bew1_H2 2011:15–59). Der Bewohner (2011) aus Haus 3 erlernte nach seiner Immigration die deutsche Sprache so gut, dass er Gedichte in kroatischer wie deutscher Sprache verfasst. In Haus 3 werden englischsprachige Gesprächsrunden durch ehrenamtliche MitarbeiterInnen initiiert, wie die Koordinatorin (2011) hervorhebt. In Haus 4 sprechen die BewohnerInnen mit MitarbeiterInnen aus den gleichen Sprachregionen miteinander in den verschiedenen Sprachen. Dies wird von den BewohnerInnen sehr geschätzt, es vermittle ein Gefühl von Heimat.
Die Rolle der sozialen Kontakte Für die BewohnerInnen stellt der informelle Austausch eine Möglichkeit der Freizeitgestaltung dar. Soziale Kontakte zu anderen BewohnerInnen, Angehö13 Die Gründe dafür liegen in den biographischen Erfahrungen, vor allem der Herkunft, der Dauer des Aufenthalts in Österreich und den historischen Bedingungen.
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rigen, aber auch anderen BesucherInnen in den Einrichtungen werden als willkommene Abwechslung hervorgehoben. Laut meinen InterviewpartnerInnen wird bei zufälligen Treffen (Begegnungsräume) oder gemeinsamen Aktivitäten (Speisesaal, Animation) vorrangig auf gesundheitliche Befindlichkeiten und die Wahrnehmung anderer BewohnerInnen fokussiert, nicht aber auf Migrationserfahrungen (vgl. Bew2_H3 2011:26–49; Ang_H3 2011:49). Angehörige und BesucherInnen von anderen BewohnerInnen stellen zudem eine Verbindung zur Außenwelt dar und knüpfen an Gewohntes an. Mitgebrachtes Essen (Kuchen, Wurstsemmerl) und Geschenke, meist den persönlichen Vorlieben entsprechend, Geschichten vom Leben außerhalb des Alten- und Pflegeheims sowie Ausflüge in die nähere Umgebung der Häuser charakterisieren diesen Austausch. Durch diesen Austausch wird eine Steigerung der Zufriedenheit der BewohnerInnen erreicht (vgl. Bew2_H2 2011:25; Bew2_H3 2011:26–59; Ang_H3 2011:23–49). Schließlich stehen die BewohnerInnen und Angehörigen noch in einem intensiven Austausch mit den MitarbeiterInnen. Die Gespräche umfassen Informationen zur Betreuung und Pflege, wie die Beschreibung von Pflegetätigkeiten oder die Weitergabe von Terminen (Ärzte/Ärztinnen, Therapien) und zur Tagesgestaltung (Essen, Veranstaltungen und Aktivitäten). Insbesondere zur biographischen Verortung können Angehörige das vermittelte (Selbst-)Bild der BewohnerInnen erweitern (Fremdbild). Dies ist wichtig, um das biographisch begründete Verhalten interpretieren und darauf im Sinne der BewohnerInnen reagieren zu können (vgl. SL_H3 2011:24). Darüber hinaus erzählen sich BewohnerInnen, Angehörige und MitarbeiterInnen persönliche Geschichten, berichten von Erlebnissen und Wahrnehmungen. In diesem persönlichen Austausch haben Migrationserfahrungen durchaus Platz, vor allem stellen gemeinsame Herkunftsorte, in Kriegsgefangenschaft oder Urlauben kennengelernte Regionen Anknüpfungspunkte dar, die ein gegenseitiges Kennenlernen und einen wertschätzenden Umgang miteinander unterstützen (vgl. Ang_H3 2011:28–38; SL_H3 2011:22–36). Aber nicht nur biographische Migrationserfahrungen prägen das Für- und Miteinander, sondern auch verschiedene Veranstaltungen im Rahmen der Freizeitgestaltung enthalten eine kulturelle Prägung, beispielsweise wenn Wiener Lieder vorgetragen oder religiös verankerte Feiern ausgerichtet werden (Weihnachten). Diese werden von meinen GesprächspartnerInnen jedoch nicht als solche bewertet oder hervorgehoben. Anders bei spezifischen Veranstaltungen, die im Zeichen der Vermittlung von ethnisch-kulturellen Dimensionen initiiert wurden. Bei der Planung eines Jubiläumsfestes zum langjährigen Bestehen von Haus 3 wurde der Sozialarbeiterin (2011:70) bewusst, dass die Ausrichtung an den – für die BewohnerInnen mit zahlreichen Erinnerungen behafteten – 1960er Jahren wenig Anknüpfungspunkte für MitarbeiterInnen an-
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derer Länder bereithält. Da die Trägerinstitution zugleich Integration ins Zentrum rückt, arrangierte die Sozialarbeiterin einen zweiten, internationalen Teil, in dem MitarbeiterInnen Traditionen und Spezialitäten ihrer Herkunftsländer vorstellen konnten. Alle InterviewpartnerInnen dieses Hauses berichteten begeistert von diesem Fest und dem Kennenlernen bzw. der Bewusstwerdung der Vielfalt der Betreuungs- und Pflegekräfte (vgl. Ang_H3; Bew1_H3; Bew2_H3; SL_H3; MA_H3 2011). Während allgemein bei derartigen Festen die BewohnerInnen mit integriert werden, entwickelt die Pflegedienstleitung in Haus 4 (2011:41) im Gespräch die Idee, die MitarbeiterInnen im Rahmen der Mitarbeiterfeste zu kurzen Vorträgen über das Herkunftsland und dessen Geschichte als kulturelle Einführung zu motivieren. Dabei gelte es auch österreichische Spezifika (historische Erfahrungen der BewohnerInnen) den ausländischen Pflegekräften näherzubringen. Bei den Erzählungen wird deutlich, dass eine bestimmte Kultur mit regionalspezifischer Religion, Sprache, Geschichte, Musik, Kleidung (Tracht, Kopftuch) oder Speisen in Verbindung gebracht wird. Inwieweit individuelle Ausprägungen berücksichtigt werden, bleibt hier offen. Insgesamt wird eine Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Menschen intendiert, Synergieeffekte aus dem kulturellen Austausch werden erwartet. Die Wertschätzung der unterschiedlichen Kulturen – ausgedrückt im Interesse – würde helfen, aufgrund des besseren Verständnisses Probleme zu vermeiden und die Zufriedenheit aller Beteiligten zu steigern (vgl. PDL_H4 2011:39–41).
Fazit Zusammenfassend zeigt sich, dass MitarbeiterInnen, BewohnerInnen und Angehörige durch Lernen auf unterschiedliche Anforderungen des Lebens, Besuchens und Arbeitens im Kontext Langzeitpflegeeinrichtung reagieren. Lebensbegleitendes Lernen ist allgegenwärtig. Immer wieder wird in den bildungswissenschaftlichen Diskursen, aber auch in den Interviews die Bedeutung der Individuen und der Institutionen in diesem Kontext hervorgehoben. Dabei schließe ich mich Sprungs (2002:17f.) und Scheunpflugs (2003:129–139) Einschätzung an, dass eine Qualifizierung des Personals in sozialen Betätigungsfeldern für den Umgang mit heterogenen Menschen unumgänglich ist. Jedoch gilt es zu berücksichtigen, dass Menschen mit Migrationserfahrungen und Mehrheitsangehörige individuelle Bildungsbedürfnisse haben, was grundlegende Herausforderungen an die Aus- und Weiterbildung in modernen Gesellschaften in sich birgt (vgl. Sprung 2002:23f.). Zudem gilt es neben formalen und non-formalen Bildungsprozessen auch den informellen Austausch der MitarbeiterInnen, der BewohnerInnen und Angehörigen miteinander und unterein-
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ander zu forcieren, um die Chancen der Diversität der AkteurInnen bestmöglich nutzen zu können. In den Interviews wird die Bedeutung des Lernens ebenso explizit gemacht wie die Forderung nach einer besseren Unterstützung informeller Lernstrukturen durch die Träger und das Management. Enge Zeitpläne, strukturelle und räumliche Gestaltungskriterien wirken hinderlich auf einen Austausch. Odenthal (1996:12) und Tippelt et al. (2009:30) bestärken diese Forderung, informelle Netzwerke weiter in den Fokus zu rücken. Der informelle Austausch kann dazu beitragen, dass ungenutzte Potenziale eher wahrgenommen und innovative Lernstrukturen gefördert werden. Professionalität und Kompetenz der AkteurInnen werden gesteigert. Und dies ist wesentlich für ein Dienstleistungsunternehmen, welches die Lebens- und Arbeitszufriedenheit aller Beteiligten intendiert.
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Interviews Bewohnerin [Bew] 1, Haus 2 [H2] 2011, geführt am 22. März 2011, Dauer : 40 Minuten. Bewohnerin 2, Haus 2 2011, geführt am 22. März 2011, Dauer : 31 Minuten. Bewohner 1, Haus 3 2011, geführt am 30. März 2011, Dauer : 1 Stunde 12 Minuten. Bewohnerin 2, Haus 3 2011, geführt am 14. Juli 2011, Dauer 1 Stunde. Bewohnerin 1, Haus 4 2011, geführt am 12. Juli 2011, Dauer : 52 Minuten. Bewohnerin 2, Haus 4 2011, geführt am 12. Juli 2011, Dauer : 19 Minuten. Bewohnerin 3, Haus 4 2011, geführt am 12. Juli 2011, Dauer : 20 Minuten. Bewohnerin 4, Haus 4 2011, geführt am 12. Juli 2011, Dauer : 28 Minuten. Bewohnerin 5, Haus 4 2011, geführt am 11. Juli 2011, Dauer : 25 Minuten. Bewohnerin 6, Haus 4 (2011), geführt am 11. Juli 2011, Dauer : 32 Minuten. Bewohner, Haus 6 (2011), geführt am 10. November 2011, Dauer : 1 Stunde 06 Minuten. Angehörige [Ang], Haus 3 (2011), geführt am 7. April 2011, Dauer : 57 Minuten. Angehörige 1, Haus 4 (2011), geführt am 11. Juli 2011, Dauer : 32 Minuten. Angehöriger 2, Haus 4 (2011), geführt am 12. Juli 2011, Dauer : 30 Minuten. Pflegedienstleitung [PDL], Haus [H] 1 (2011), geführt am 28. Februar 2011, Dauer : 1 Stunde 21 Minuten. Pflegedienstleitung, Haus 4 (2011), geführt am 15. März 2011, Dauer : 52 Minuten. Stationsleitung [SL] 1, Haus 1 (2011), geführt am 3. März 2011, Dauer : 54 Minuten. Stationsleitung 1, Haus 4 (2011), geführt am 11. Juli 2011, Dauer : 1 Stunde 10 Minuten. Stationsleitung 2, Haus 1 (2011), geführt am 3. März 2011, Dauer : 38 Minuten. Stationsleitung 2, Haus 4 (2011), geführt am 11. Juli 2011, Dauer : 1 Stunde 07 Minuten. Stationsleitung, Haus 2 (2011), geführt am 22. März 2011, Dauer : 48 Minuten. Stationsleitung, Haus 3 (2011), geführt am 7. April 2011, Dauer : 1 Stunde. Wohnbereichsleiter [WBL], Haus 5 (2011), geführt am 28. April 2011, Dauer : 30 Minuten. Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin [DGKP], Haus 4 (2011), geführt am 12. Juli 2011, Dauer : 27 Minuten.
(Migrationsbedingte) Diversität in österreichischen Alten- und Pflegeheimen
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Diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger, Haus 5 (2011), geführt am 4. Mai 2011, Dauer : 41 Minuten. Pflegehilfe [PH], Haus 2 (2011), geführt am 22. März 2011, Dauer : 1 Stunde 24 Minuten. Heimhilfe [HH], Haus 2 (2011), geführt am 22. März 2011, Dauer : 1 Stunde. Mitarbeiterin [MA], Haus 3 (2011), tätig als Koordinatorin der ehrenamtlichen MitarbeiterInnen und Rezeptionistin, geführt am 7. April 2011, Dauer : 46 Minuten. Sozialarbeiterin [SA], Haus 3 (2011), geführt am 15. März 2011, Dauer : 30 Minuten.
Familien und Sprache
Viktoria Templ / Maria Weichselbaum / Katharina Korecky-Kröll / Wolfgang U. Dressler
Deutschspracherwerb ein- und zweisprachiger Wiener Kindergartenkinder. Der Einfluss des sozioökonomischen Status der Familie, des sprachlichen Hintergrunds und der Sprechsituationen 1.
Einleitung
Kinder werden mit Eintritt in den Kindergarten mit sprachlichen Handlungen konfrontiert, die einer anderen Logik folgen als in der gewohnten sprachlichen Umgebung der Familie. Die Möglichkeiten der Peer-Kommunikation sowie die institutionelle Lernumgebung regen neue Interaktionserfahrungen an und Kinder sammeln im Verlauf ihrer (institutionellen) Sozialisation unterschiedliche kommunikative Erfahrungen, die wiederum Einfluss auf die weitere sprachliche Entwicklung haben. Auch Albers (2009) betont die besondere Funktion von Kindertageseinrichtungen für die sprachliche Entwicklung, da in dieser Altersspanne wichtige Meilensteine der kindlichen Sprachentwicklung liegen. Trotz dieser unbestrittenen Relevanz des frühkindlichen Bildungsbereichs und obwohl die Erkenntnisse Grundlage für weiterführende Überlegungen im gesamten schulischen Bildungskontext sind, gibt es kaum linguistische Untersuchungen im Kindergarten. Der folgende Beitrag zielt darauf ab, sich mit bis heute noch vernachlässigten Forschungsfragen im elementaren Bildungsbereich wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Die dabei vorgestellten Ergebnisse stammen aus dem Input-Projekt, das die sprachliche Entwicklung von Wiener Kindergartenkindern (im Alter von drei Jahren, drei Monaten bis vier Jahre, sechs Monate), die entweder einsprachig aufwachsen oder Türkisch als Familiensprache sprechen und Deutsch als frühe Zweitsprache erwerben, untersucht. Im Zentrum steht die Frage, ob und wie sich der sprachliche Input, den die Kinder zu Hause und im Kindergarten hören, auf den Spracherwerb auswirkt. Im vorliegenden Beitrag beschäftigen wir uns mit dieser Frage aus drei Blickwinkeln: Zunächst möchten wir klären, inwiefern der sozioökonomische Status (SES) der Familie Einfluss auf den elterlichen Input, die sprachliche Produktion der Kinder und auf das sprachliche Verhalten der PädagogInnen nimmt (1). Vorab möchten wir festhalten, dass wir mit unserer Untersuchung
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Viktoria Templ et al.
nicht zur Verbreitung stereotyper Ansichten über Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status beitragen wollen, und wir grenzen uns von der Behauptung ab, dass Familien mit niedrigerem sozioökonomischem Status weniger dazu in der Lage wären, einen wertvollen Beitrag zur sprachlichen Entwicklung ihrer Kinder beizutragen. Dennoch gehen wir davon aus, dass der sprachliche Input eine wesentliche Grundlage für einen gelungenen Spracherwerb darstellt, und behauptet wird, dass sich wesentliche Aspekte des elterlichen Sprachverhaltens sozioökonomisch bedingt unterscheiden (siehe u. a. HoffGinsberg 1991). Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt sind der sprachliche Hintergrund der Kinder und die Frage, inwiefern sich die ein- und zweisprachigen Kinder hinsichtlich ihrer deutschsprachigen Kompetenzen unterscheiden. Ob die unterschiedlichen sprachlichen Hintergründe der Kinder auch auf das sprachliche Verhalten der PädagogInnen Einfluss nehmen, wird in einem weiteren Schritt geklärt (2). Aufbauend auf dieser multifaktoriellen Betrachtungsweise möchten wir abschließend die Frage klären, inwiefern verschiedene Sprechsituationen im Kindergartenalltag Auswirkungen auf das sprachliche Verhalten der PädagogInnen und die sprachliche Produktion der Kinder haben (3), um besonders förderliche Situationen zu beschreiben und professionell Tätigen Hilfestellungen für ihren beruflichen Alltag zu liefern. Ziel unseres Vorhabens ist es, durch die umfassende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem elementaren Bildungsbereich auf dessen wesentliche Rolle in der kindlichen Sprachentwicklung aufmerksam zu machen und auf die Bedeutung von interaktionsreichen Aktivitäten und für den Spracherwerb besonders förderliche Aspekte des Inputs hinzuweisen. Bevor wir uns mit diesen drei Themenkomplexen (sozioökonomischer Status, sprachlicher Hintergrund und Sprechsituationen) auseinandersetzen, stellen wir das Forschungsprojekt Input vor.1
2.
Das INPUT-Projekt
Das Input-Projekt (Investigating Parental and Other Caretakers’ Utterances to Kindergarten Children) untersucht sprachliche Äußerungen von Eltern mit unterschiedlichen sprachlichen und sozialen Hintergründen, aber auch von KindergartenpädagogInnen an 58 Wiener Kindern zwischen drei und fünf Jahren. Es sind dies Kinder mit Deutsch als Erstsprache sowie in Österreich 1 Mehr Informationen zum Projekt liefert die Projekthomepage: http://comparative-psycholin guistics.univie.ac.at/projects/input/.
Deutschspracherwerb ein- und zweisprachiger Wiener Kindergartenkinder
197
geborene Kinder mit Türkisch als Erstsprache, die Deutsch systematisch ab dem Kindergarteneintritt erwerben. Ergänzend zu den Inputdaten der Hauptbezugspersonen (zu Hause und im Kindergarten) wurde die sprachliche Produktion der Kinder erfasst und analysiert. Die Auswahl der Kinder erfolgte über die Bereitschaft zur Mitarbeit durch die Kindergärten2 und PädagogInnen, wobei die Vergleichskriterien vor allem durch die Kinder gegeben waren (SES, Alter, sprachlicher Hintergrund). Der SES wurde über den höchsten Bildungsabschluss der Hauptbezugsperson operationalisiert, wobei hier die Grenze im Wesentlichen beim Abschluss der Matura gezogen wurde.3 Untersucht wurden spontane Interaktionen zwischen mono- und bilingualen Kindern und ihren KindergartenpädagogInnen bzw. Eltern (meist Mütter). Diese in natürlichen Settings auftretenden Dyaden wurden mit Video- und Audiogeräten aufgenommen und mithilfe des Childes-Programms (Child Language Data Exchange System) (MacWhinney 2000) transkribiert und analysiert. Zusätzlich zu den aufgenommenen Spontansprachdaten wurden diverse Sprachtests auf Deutsch und Türkisch mit den Kindern und Interviews mit den PädagogInnen sowie familiären Hauptbezugspersonen durchgeführt, um unter anderem Informationen über Geburts- und Bildungsort der Eltern, Bildungswege und Berufsprestige, ihre Sprach(en)profile sowie ihre Haltung zum Spracherwerb ihrer Kinder zu erhalten. Die Datenerhebung fand zu vier Untersuchungsperioden in 18 Monaten statt. Die statistische Auswertung wurde mit dem Programm R durchgeführt (R Core Team 2015). Die Kinder des Projekts setzen sich wie folgt zusammen: TeilnehmerInnen L1 Deutsch HSES4 LSES5
2 3 4 5
16 ?7/!9 15 ?9 / !6
L1 Türkisch 14 ?6/!8 13 ?7 / !6
21 öffentliche Kindergärten der MA10, 8 private Kindergärten, 10 private Kindergruppen. Für weiterführende Informationen zur SES-Einteilung siehe Korecky-Kröll et al. 2016 b. HSES = high socioeconomic status. LSES = low socioeconomic status.
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3.
Viktoria Templ et al.
Einfluss des sozioökonomischen Status
Zahlreiche Studien zeigen, dass die Menge und Qualität des elterlichen sprachlichen Inputs (der kindgerichteten Sprache/Child Directed Speech, CDS), wie der gemeinsame Fokus auf ein Objekt oder eine Handlung sowie die Verwendung von Fragen, um eine Äußerung beim Kind auszulösen, je nach sozioökonomischem Status der Familien variieren (Hoff-Ginsberg 1991). Diese Unterschiede sollen dabei direkten Einfluss auf die sprachlichen Fähigkeiten und in weiterer Folge auf die schulischen Leistungen des Kindes haben (Hart und Risley 1995; Nelson et al. 2011). Auf der Grundlage dieser Ergebnisse nehmen wir an, dass Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Familien einen geringeren Sprachentwicklungsstand haben als Kinder aus sozioökonomisch stärkeren Familien. Dies betrifft sowohl monolinguale Kinder als auch bilinguale Kinder in ihrer Erst- und Zweitsprache (Hypothese zum sozioökonomischen Status). Die Analysen der Spontansprachdaten im Kindergarten zeigen, dass der SES sowohl den deutschen Erstspracherwerb der Kinder (Einfluss auf die lexikalische Diversität,6 t value = -2.128, Pr(>jtj) = 0.0379) als auch den deutschen Zweitspracherwerb bilingualer Kinder (Einfluss auf die lexikalische Diversität, t value = -2.823, Pr(>jtj) = 0.0106 und Länge der Äußerungen, t value = -1.701, Pr(>jtj) = 0.09935) beeinflusst. Weitere Ergebnisse zeigen, dass der familiäre SES insbesondere bei den einsprachig aufwachsenden Kindern eine wesentliche Rolle spielt, während die deutschsprachige Entwicklung der zweisprachigen Kinder von anderen wesentlichen Faktoren – wie etwa der Kontaktdauer zum Deutschen – beeinflusst wird (Korecky-Kröll et al. 2016 a). Auch beim elterlichen Input scheint der SES bei einsprachigen Familien eine wichtigere Rolle zu spielen als bei den zweisprachigen Familien (Korecky-Kröll et al. 2017). Bei den einsprachigen Eltern konnten relevante sozioökonomisch bedingte Unterschiede bei den Kommunikationsstrategien gefunden werden: Beispielsweise werden konversationsauslösende Fragen häufiger von HSES-Familien verwendet, wohingegen direkte Aufforderungen und entmutigende Äußerungen durchschnittlich öfter in LSES-Familien vorkommen (ebd.). Dieser SES-variierende Sprechstil konnte bereits bei anderen Untersuchungen des elterlichen (v. a. mütterlichen) Inputs festgestellt werden (Hoff-Ginsberg 1991; Snow et al. 1976). Bei den zweisprachigen Eltern konnten lediglich Tendenzen bezüglich des 6 Die Diversität des Wortschatzes wird mit VOCD (Vocabulary Diversity – einer Funktion des CHILDES-Programms) gemessen.
Deutschspracherwerb ein- und zweisprachiger Wiener Kindergartenkinder
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Einflusses des SES gefunden werden. Hier scheinen andere Faktoren eine größere Rolle zu spielen (Korecky-Kröll et al. 2017). Ein Blick in die Kindergartenpraxis zeigt interessanterweise, dass – vergleichbar mit den Ergebnissen der einsprachigen Eltern – Aspekte des Inputs der PädagogInnen abhängig vom familiären SES-Hintergrund des kindlichen Gesprächspartners/der kindlichen Gesprächspartnerin variieren und zwar insofern, als PädagogInnen an LSES-Kinder mehr verhaltenssteuernde Äußerungen richten als an HSES-Kinder (siehe Beispiele 1 und 2). „Verhaltenssteuernde Äußerungen“ sollen das Verhalten steuern oder die Aufmerksamkeit des Kindes lenken. Beispiel 1, zweisprachiger Bub: *Pädagogin: na komm. *Pädagogin: schau. *Pädagogin: da drüben lieg(e)n auch noch welche. *Pädagogin: und da sind auch noch zwei. Beispiel 2, zweisprachiges Mädchen: *Pädagogin: holst du noch andere Farben? *Kind: 0 [=! nickt].
Im Gegensatz dazu stehen „äußerungsauslösende Äußerungen“, die das Kind zu sprachlichen Handlungen motivieren sollen. Dies betrifft offene Fragen (Beispiel 3), Verständnisfragen (Beispiel 4) und Äußerungen, bei denen bewusst auf eine Vervollständigung seitens des Kindes gewartet wird (Beispiel 5). Beispiel 3, einsprachiger Bub: *Pädagogin: was ist denn das? *Kind: ein Kürbis. *Pädagogin: aber welcher Kürbis? Beispiel 4, einsprachiges Mädchen: *Kind: ganz heiß. *Pädagogin: bitte? *Kind: ganz heiß! Beispiel 5, zweisprachiges Mädchen: *Pädagogin: das Schloss hieß … *Kind: weiß nicht. *Pädagogin: Schloss & Sch …
Ob diese unterschiedlichen Sprechstile der PädagogInnen durch das (sprachliche) Verhalten der Kinder erklärt werden können oder auch soziologische Begründungen herangezogen werden müssen (kulturelles Kapital, HSES-Zentrierung der Bildungsinstitutionen), muss an dieser Stelle noch unbeantwortet bleiben.
200
4.
Viktoria Templ et al.
Einfluss des sprachlichen Hintergrunds
Ergänzend zur Diskussion über den Einfluss des SES stellt sich in weiterer Folge die Frage, inwiefern der sprachliche Hintergrund der Familie die deutschsprachigen Leistungen der Kinder beeinflusst. Aufgrund der unterschiedlichen Kontaktdauer der ein- und zweisprachigen Kinder mit der deutschen Sprache und natürlichen Prozessen des Zweitspracherwerbs nehmen wir an, dass einsprachige Kinder mehr Äußerungen als zweisprachige Kinder produzieren, dass ihre Äußerungen länger sind und ihr Wortschatz diverser ist (Hypothese zum sprachlichen Hintergrund). Unsere Analysen bestätigen die Hypothese: Kinder mit einer anderen Erstsprache als Deutsch (hier Türkisch), die ab dem Alter von drei Jahren eine Wiener Betreuungseinrichtung besuchen, unterscheiden sich hinsichtlich ihrer deutschsprachigen Fähigkeiten erwartungsgemäß von den einsprachig aufwachsenden Kindern. Sie produzieren in ihrer Zweitsprache weniger Äußerungen (t value = -2.200, Pr(jtj) = 0.00287), nicht aber in der Diversität des Wortschatzes und der Äußerungsmenge signifikante Veränderungen zwischen zweitem und drittem Datenpunkt (also innerhalb eines Jahres). Darauf aufbauend stellt sich die Frage, welchen Einfluss der deutschsprachige Entwicklungsstand des Kindes auf das sprachliche Verhalten der PädagogInnen nimmt. Zahlreiche Untersuchungen im schulischen Kontext lassen darauf schließen, dass PädagogInnen einen defizitären Blick auf Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, haben und viele Lehrpersonen davon ausgehen, dass Kinder mit Migrationshintergrund aufgrund ihrer Sprache und Kultur sowie auch wegen der behaupteten mangelnden Unterstützung des Elternhauses Defizite aufweisen (Gomolla 2000; Huxel 2011; Weber 2003). Im Bildungsbereich muss grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass von vielen Lehrpersonen die Fähigkeiten und Leistungen von Kindern (mit Migra-
Deutschspracherwerb ein- und zweisprachiger Wiener Kindergartenkinder
201
tionshintergrund) über die deutsche Sprache definiert werden, was häufig zu einer Minderung der tatsächlichen Kenntnisse führt (Weber 2003:73). Unser Einblick in den Kindergartenalltag lässt jedoch vermuten, dass weniger stereotype oder defizitorientierte Zuweisungen Unterschiede im Input verursachen. Vielmehr ist es die (bewusste oder unbewusste) Anpassung an den sprachlichen Entwicklungsstand des Kindes, der die Aspekte des Inputs der PädagogInnen beeinflusst. Aufbauend auf diesen Überlegungen nehmen wir an, dass einsprachige Kinder mehr Deutsch-Input7 hören als zweisprachige Kinder (Hypothese zur Inputmenge) und dass der Wortschatz, den die PädagogInnen an zweisprachige Kinder richten, weniger divers ist (Hypothese zur Wortschatzdiversität). Unsere Ergebnisse zeigen, dass PädagogInnen ihren Sprachgebrauch an den (deutsch-)sprachigen Entwicklungsstand der Kinder anpassen: Parallel zum Sprachentwicklungsstand der Kinder produzieren auch PädagogInnen im Gespräch mit zweisprachigen Kindern signifikant kürzere Äußerungen (t value = -2.918, Pr(>jtj) = 0.00584) und die Diversität des Wortschatzes ist weniger vielfältig (t value = -3.816, Pr(>jtj) = 0.00028). Obwohl sie – gemessen an der Äußerungs- und Wortanzahl – gleich viel Input anbieten. Parallel dazu zeigen zahlreiche psycholinguistische Studien im familiären Kontext, dass Eltern ihren Input an den Entwicklungsstand des Kindes anpassen (sogenanntes Fine-Tuning) (Pine 1994; Snow 1996). Unterstützt wird diese Annahme auch von der Akkommodationstheorie (Giles und Ogay 2007), die einen Rahmen für Vorhersagen und Erklärungen für (sprachliches) Anpassungsverhalten von SprecherInnen bietet und unser Ergebnis dadurch erklären kann, dass PädagogInnen weniger sprechen, weil auch die Kinder weniger sprechen. Aber auch generelle Aspekte der CDS erklären das sprachliche Verhalten der PädagogInnen: Erwachsene GesprächspartnerInnen passen sich an den kindlichen Gesprächspartner/die kindliche Gesprächspartnerin an, um effektiv auf den Spracherwerb einzuwirken. Darüber hinaus zeigen unsere Analysen, dass PädagogInnen in Kommunikationssituationen mit älteren Kindern längere Äußerungen produzieren. Bereits innerhalb von drei Monaten (Alter der Kinder : vier Jahre, drei Monate und vier Jahre, sechs Monate) zeigt der Input der PädagogInnen signifikante Veränderungen: PädagogInnen sprechen mit älteren Kindern in signifikant längeren Äußerungen (t value = 2.187, Pr(>jtj) = 0.03376). Die beobachteten Unterschiede bestätigen unsere Vermutung, dass sich PädagogInnen an die
7 Die Menge des Inputs wird gemessen an der durchschnittlichen Äußerungslänge (Mean Length of Utterances) sowie der Äußerungs- und Wortanzahl.
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Viktoria Templ et al.
deutschsprachigen Kompetenzen der Kinder anpassen und versuchen, unterstützend auf den Spracherwerbsprozess der Kinder einzuwirken.
5.
Einfluss von Sprechsituationen
Viele Studien zeigen, dass qualitative und quantitative Aspekte der mütterlichen CDS situationsspezifisch variieren (u. a. Hoff-Ginsberg 1991; Hoff 2010). Dieser Umstand ist für die Mutter-Kind-Kommunikation bereits umfassend erforscht und bekannt. Für uns stellt sich die Frage, ob diese situationsspezifische Sprachverwendung auch im institutionellen Kontext – bei professionell Handelnden – zu finden ist und inwiefern unterschiedliche Sprechsituationen Einfluss auf das sprachliche Verhalten sowie auf die sprachliche Produktion der Kinder haben. Durch die umfassende Analyse der Kindergartenaufnahmen des dritten Datenpunkts kann bereits auf Effekte unterschiedlicher Situationen auf das sprachliche Angebot der KindergartenpädagogInnen und die sprachlichen Leistungen der Kinder hingewiesen werden. Basierend auf Leseman et al. (2001) und der projektinternen Zusammenarbeit von Christine Czinglar und Dorit Aram wurden die im Kindergartenalltag aufgenommenen Situationen in vier Gruppen eingeteilt: (1) Von den KindergartenpädagogInnen angeleitete und regulierte Aktivitäten: Bastelaktivitäten, pädagogisches Kochen oder Malen. (2) Freie Aktivitäten: Rollenspiele, Spiele mit Perlen oder Plastilin, Esssituation, Puzzlespiele. (3) Regelspiele: Brett-, Würfel-, oder Kartenspiele. (4) Aktivitäten mit Medien: Buchlesen oder Gespräche über Bücher, Fotos, Bilder, etc.8 Unsere Ergebnisse zeigen, dass sowohl bei Regelspielen als auch in von PädagogInnen angeleiteten Aktivitäten Bezugspersonen weniger sprechen – die durchschnittliche Äußerungslänge ist signifikant kürzer (t value = -2.077, Pr(>jtj) = 0.0417; t value = -5.551, Pr(>jtj) = 5.26e-07). Auch die Kinder sprechen während Würfel- oder Brettspielsituationen (Regelspiele) weniger (t value = -2.379, Pr(>jtj) = 0.02147). Erklärt werden kann dieser Umstand durch die charakteristischen Eigen8 Obwohl Morgenkreissituationen wichtige sprachliche Situationen für die kindliche Sprachentwicklung darstellen, wurden sie in unserer Analyse aufgrund zu geringer direkter Äußerungen an das Fokuskind ausgeschlossen. Außerdem kommt es in Morgenkreissituationen zu vielen speziellen Inputformen (bspw. singen, reimen), sodass es sich beim kindlichen Output sehr häufig um zitierartiges Wiederholen des Gesagten handelt.
Deutschspracherwerb ein- und zweisprachiger Wiener Kindergartenkinder
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schaften der jeweiligen Situationen: Regelspiele und angeleitete Aktivitäten verlangen ein rasches Verständnis und eine schnelle Handlungsausführung. Nicht die „Sprache“ an sich steht im Vordergrund, sondern der reibungslose Ablauf der Aktivität. Im Gegensatz dazu wird in freien Aktivitäten kein spezielles Ziel verfolgt, wodurch Zeit und Platz für eine offene Konversation ist. Hinsichtlich der lexikalischen Diversität zeigen unsere Ergebnisse keine signifikanten Unterschiede der Wortschatzmenge im Input der PädagogInnen. Hier unterscheiden sich unsere Ergebnisse von früheren Untersuchungen von Hoff-Ginsberg (1991) oder Weizmann und Snow (2001), die davon ausgehen, dass der elterliche Input in Buchlesesituationen eine komplexere Sprache und einen komplexeren Wortschatz aufweist. Angemerkt werden muss an dieser Stelle, dass in der von uns durchgeführten Situationsanalyse keine Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Büchern vorgenommen wurde, wodurch diese divergierenden Ergebnisse möglicherweise erklärbar sind. Eine detaillierte Untersuchung wäre in Hinblick auf die Formulierung von Empfehlungen für die Kindergartenpraxis und für Eltern relevant. Die analysierten Kindersprachdaten zeigen, dass die Anzahl an verschiedenen Wörtern in angeleiteten Aktivitäten tendenziell geringer ist (t value = -1.870, Pr(>jtj) = 0.0675). Dieses Ergebnis erscheint v. a. im Zusammenhang mit der kindlichen Sprachentwicklung von enormer Relevanz: Ein breiter Wortschatz spielt sowohl für Sprachentwicklungsprozesse und die erfolgreiche Teilhabe an Schulprozessen als auch für die Aneignung von Lese- und Schreibkompetenzen eine wichtige Rolle (El-Khechen et al. 2012). Die Ergebnisse zeigen ferner, dass nicht nur die Menge, sondern auch qualitative Aspekte des Inputs durch die Situation beeinflusst werden. So zeigt sich, dass in Buchlesesituationen und freien Aktivitäten die meisten kommunikationsfördernden Äußerungen von den PädagogInnen produziert werden, wohingegen angeleitete Situationen und Spielsituationen mit klaren Regeln mehr verhaltenssteuernde Äußerungen hervorrufen. Bei den Input-Daten innerhalb des familiären Kontexts wird sichtbar, dass wöchentliche Lesestunden mit spontansprachlichen Leistungen der Kinder korrelieren (Korecky-Kröll et al. 2015). Besonders wichtig ist dieses Ergebnis aufgrund der Behauptungen, LSES-Eltern würden weniger Zeit zum Lesen mit ihrem Kind aufbringen (bspw. Hoff 2006).
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6.
Viktoria Templ et al.
Zusammenfassung der Ergebnisse
Im Rahmen dieses Aufsatzes haben wir versucht, einen Beitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit bis heute noch vernachlässigten Forschungsfragen im elementaren Bildungsbereich zu leisten. Es zeigen sich folgende Ergebnisse: (1) Fine-Tuning-Effekte auf den sprachlichen Input: PädagogInnen passen ihren Input – sei es in ihrer Äußerungslänge bzw. Inputmenge oder ihrem Wortschatz – an den Entwicklungsstand der Kinder an. Einerseits hören monolinguale Kinder längere Äußerungen und einen diverseren Wortschatz als bilinguale Kinder, andererseits werden vom dritten auf den vierten Datenpunkt (innerhalb von drei Monaten) von den PädagogInnen signifikant mehr Äußerungen produziert. Ob diese Anpassung von den PädagogInnen bewusst eingesetzt wird oder durch intuitives Handeln erklärt werden kann, muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Hinweisen möchten wir aber noch auf die besondere Herausforderung, mit denen PädagogInnen vor allem bei zwei- und mehrsprachigen Kindern konfrontiert werden. Sie müssen eine Balance zwischen spracherwerbsprozess-gerechtem Input und dem tatsächlichen kognitiven und altersgerechten Entwicklungsstand des Kindes schaffen. Das heißt, einerseits muss Sprache angeboten werden, die einen Schritt über dem deutschen Sprachstand des Kindes liegt (Zone der nächsten Entwicklung nach Wygotski 1987), andererseits darf die Reduktion der linguistischen Komplexität nicht auf Kosten der Förderung altersgerechter und individueller kognitiver Fähigkeiten durchgeführt werden. (2) Unterschiedlicher deutschsprachiger Entwicklungsstand der ein- und zweisprachigen Kinder und Kinder aus HSES- und LSES-Familien: Zunächst stellen wir fest, dass LSES-Kinder kürzere Sätze produzieren und über einen geringeren Wortschatz verfügen als HSES-Kinder. Zugleich zeigen unsere Daten, dass Kinder aus LSES-und HSES-Familien unterschiedliche sprachliche Erfahrungen sammeln. Zwar kann zu diesem Zeitpunkt über Gründe nur spekuliert werden, aber eventuell ist eine unterschiedliche Wahrnehmung der Bedeutung der eigenen elterlichen Rolle in der kindlichen Sprachentwicklung dafür verantwortlich. An dieser Stelle möchten wir noch einmal auf die Ergebnisse von KoreckyKröll et al. (2016 a, 2017) hinweisen, die zeigen, dass der familiäre sozioökonomische Status insbesondere bei den einsprachigen Familien eine Rolle spielt. Die Interaktionseffekte zwischen sprachlichem und sozioökonomischem Hin-
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tergrund scheinen beim elterlichen Input und der deutschsprachigen Entwicklung der zweisprachigen Kinder wesentlich geringer zu sein. Folgende Faktoren könnten uns eine Begründung liefern: Familien, die sich bewusst für eine Migration entscheiden, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern, zeigen höhere (auch soziale) Mobilitäts- und Bildungsaspirationen – unabhängig vom sozioökonomischen Status. Einsprachige HSES-Familien der Mehrheitsgesellschaft haben aber ihr gut entwickeltes Netzwerk, das ihnen höher qualifizierte Bildungs- und Berufschancen bietet. HSES-Familien mit Migrationshintergrund haben diese Beziehungen nicht, sondern müssen sich darum bemühen, was zu größerem sozialem Druck führt. Legen wir unser Augenmerk nun rein auf die Sprachentwicklung der Kinder, so zeigen unsere Analysen ferner, dass sich die zweisprachigen Kinder in einer anderen Phase ihres deutschsprachigen Entwicklungsstandes befinden als einsprachig aufwachsende Kinder. An dieser Stelle möchten wir noch auf einen in der Literatur häufig diskutierten Nachteil von Zwei- oder Mehrsprachigkeit hinweisen, der vor allem die Menge des Wortschatzes betrifft. Zweisprachige Kinder entwickeln in jeder Sprache einen geringeren Wortschatz als einsprachig aufwachsende Kinder. Erklärbar ist dieser Umstand dadurch, dass die lexikalische Entwicklung stärker vom tatsächlichen Input abhängt, als dies beispielsweise bei grammatikalischen Strukturen der Fall ist (Gogolin und Krüger-Potratz 2012). Zwar verfügen Mehrsprachige in Summe über mehr lexikalische Mittel, aber mit einem kritischen Blick auf die Anforderungen des monolingual agierenden Bildungswesens9 muss dieser – die weitere Bildungslaufbahn mitbestimmende – Aspekt bei weiteren Überlegungen mitbedacht werden (ebd.). Nach Gogolin und Krüger-Potratz (2012) müssen diese Nachteile „durch entsprechende Lehrstrategien aufgefangen werden, damit sie nicht über die Schule kumulieren“. Eine Anforderung, die bereits für elementare Bildungseinrichtungen formuliert werden muss. (3) Einfluss der Sprechsituationen auf Menge und Qualität des Inputs der PädagogInnen und des kindlichen Outputs: Insbesondere Buchlesesituationen und freie Aktivitäten wirken unterstützend auf den kindlichen Spracherwerbsprozess ein. Anmerken möchten wir an dieser Stelle jedoch, dass das Angebot an Buch9 Ingrid Gogolin hat bereits 2004 den Begriff des monolingualen Habitus der multilingualen Schule geprägt (Gogolin 2004). Der darin beschriebene Grundgedanke der Einheitlichkeit und Einsprachigkeit scheint nach wie vor im öffentlichen, institutionellen sowie (sprachen-)politischen Denken fortgesetzt zu sein. Auch wenn das gerade auch in multilingualen Gesellschaften wie in Wien fragwürdig erscheint.
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lesesituationen allein noch keine Garantie für den positiven Einfluss auf den kindlichen Spracherwerbprozess darstellt. Auch Albers (2009:70) merkt an, dass sich die Qualität von Buchlese-Aktivitäten enorm unterscheiden kann, wenn etwa von den Bezugspersonen lediglich Bilder benannt werden, ohne dass darüber hinaus Gespräche über diese Bilder initiiert werden.
7.
Empfehlungen
Nur wenige der uns bisher bekannten Untersuchungen haben sich mit den Besonderheiten der Institution Kindergarten beschäftigt, obwohl bekannt ist, dass KindergartenpädagogInnen einen wesentlichen Einfluss auf die sprachliche Entwicklung der Kinder haben (Sadker et al. 1991:296). Insbesondere die aktuelle Situation von Migration und Fluchtbewegungen zeigt uns die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen Fragen, um professionell Tätigen Hilfestellungen bieten zu können.
Empfehlungen für die Wissenschaft: (1) Die umfassende Auseinandersetzung mit bisherigen Studien und die Analyse der Daten des Input-Projekts machen deutlich, dass eine disziplinübergreifende Auseinandersetzung mit Fragen der Elementarpädagogik von großer Bedeutung ist, da einige Fragen aus linguistischer Sicht unbeantwortet bleiben müssen. (2) Berücksichtigt werden sollte dabei die Relevanz eines Mixed-Methods-Designs. Mit unserer Arbeitsweise und dem Versuch, Daten mit unterschiedlichen Verfahren zu erfassen und auszuwerten, konnte gezeigt werden, dass je nach Methode unterschiedliche Ergebnisse präsentiert werden können. Wir plädieren demnach dafür, verschiedene Methoden zu verwenden, um ein umfassendes Ergebnis und ein tatsächliches Bild der sprachlichen Entwicklung zu erhalten, wobei auch die Kompetenzen in der Familiensprache mitberücksichtigt werden müssen, da sonst der tatsächliche Entwicklungsstand nicht eruiert werden kann (Gogolin 2008). Wir möchten an dieser Stelle auch auf den wichtigen Stellenwert der Kommunikation unter Gleichaltrigen hinweisen, der v. a. für bilinguale Kinder neben den Gesprächen mit dem pädagogischen Personal häufig die einzige Quelle deutschsprachigen Inputs darstellt (Albers 2009). Die Analyse von Czinglar et al. (2017) zeigt einen positiven Zusammenhang zwischen dem Anteil von Kindern mit deutscher Muttersprache und einer rezeptiven Wortschatzsteigerung bei den L2-Kindern.
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(3) Auch auf den von Albers (2009:90) definierten Forschungsauftrag möchten wir in diesem Zusammenhang hinweisen: „Mit dem Wissen, dass der soziale Status einen erheblichen Einfluss auf die sprachliche und kognitive Entwicklung des Kindes nimmt und die schulische Laufbahn determiniert, ist neben der sprachspezifischen Diagnostik eine Reflexion der individuellen Kontextfaktoren und Analyse der sozialen Umwelt nötig.“ Nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht ergeben sich aus unserem umfassenden Einblick in frühkindliche Bildungsinstitutionen weiterführende Empfehlungen. Auch auf den Ebenen Bildungssteuerung, Kindergartenstandort und pädagogisches Personal geben wir Empfehlungen ab, die jedoch eng miteinander verwoben und schwer voneinander getrennt beschreibbar sind. Auch wenn bei den folgenden Anregungen bestimmte Ebenen eventuell stärker in den Fokus rücken, ist es wichtig, dass alle Bereiche, die Einfluss auf die Institution Kindergarten und ihre AkteurInnen nehmen, mitgedacht und adressiert werden. (4) Unsere Ergebnisse zeigen, dass sowohl bilinguale Kinder als auch Kinder aus LSES-Familien geringere Wortschatzleistungen aufweisen. Vergleicht man Studien aus dem Schulkontext, kann dies unweigerlich mit später zu erwartenden schwächeren Lese- und Schreibkompetenzen in Verbindung gebracht werden (El-Khechen et al. 2012:54). Obwohl sich zeigt, dass insbesondere die zweisprachigen Kinder Fortschritte in ihrer Entwicklung machen, erscheint uns eine zusätzliche Unterstützung durch Sprachförderprogramme von großer Bedeutung. Vor allem für Kinder mit Migrationshintergrund zeigt sich im Schulalltag eine große Benachteiligung, denn durch einen mangelnden Ausgangswortschatz im Deutschen fällt es den Kindern schwerer, aus dem Kontext Wörter zu erschließen und, im Schulunterricht oder durch das Erfassen von Texten, zu lernen (ebd. 54). Ergänzend dazu zeigen Studien jedoch, dass Kinder durch die Teilnahme an Sprachfördersituationen signifikant schnellere Wortschatzzuwächse aufweisen als ihre Kontrollgruppen (Schröder und Schründer-Lenzen 2012:29). Chancengleichheit besteht jedoch nicht nur darin, zusätzliche Bildungsprogramme anzubieten, sondern Bildung so zu gestalten, dass jedes Kind durch die Teilnahme individuell profitiert. (5) Nicht nur die besondere Bedeutung zusätzlicher Sprachförderprogramme muss somit an dieser Stelle hervorgehoben werden. Die Analyse bisher gebotener Strukturen zeigt, dass im Kindergartenalltag Situationen geschaffen werden können, die besonders förderlich für die sprachliche Entwicklung der Kinder sind. Dieser Umstand sollte insbesondere für Kinder mit LSES- oder mit mehrsprachigen Hintergründen berücksichtigt werden.
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Wir plädieren daher für die Gestaltung und das Angebot möglichst vielfältiger Settings, da unterschiedliche Sprechsituationen zu unterschiedlichem Sprechverhalten führen. Hinweisen möchten wir darauf, dass jedes Angebot, das im Kindergarten geschaffen wird, für die kindliche Entwicklung bedeutungsvoll sein kann. Einerseits können beispielsweise durch Regelspiele – bei denen Sprache per se nicht so sehr im Vordergrund steht – wichtige Aspekte des „soziales Lernens“ vermittelt werden, andererseits können auch in diesen eher „sprachärmeren“ Situationen durch einen bewussten und reflektierten Umgang mit Sprache wertvolle Interaktionsprozesse angeregt werden. Aufbauend auf unseren Ergebnissen kann gesagt werden, dass sowohl Situationen geschaffen werden sollten, in denen das Kind zum Sprechen motiviert wird, als auch Situationen, in denen ein reicher – d. h. vielfältiger und umfassender – Input seitens der Bezugspersonen angeboten wird. (6) PädagogInnen machen keine (quantitativen) Inputunterschiede hinsichtlich des sozialen Hintergrunds des kindlichen Gesprächspartners/der kindlichen Gesprächspartnerin, wodurch soziale Inputunterschiede der Familien ausgeglichen werden könnten. Dies belegen auch Murray et al. (2006), die auf der Basis ihrer Untersuchung annehmen, dass Kinder – in qualifizierten Einrichtungen (kleine Gruppengröße, hoher Betreuungsschlüssel, hohe Qualifikation der PädagogInnen, ansprechende Räumlichkeiten) – mit einem ähnlichen sprachlichen Input konfrontiert werden wie Kinder, die in HSES-Familien aufwachsen. Die durchgeführten Interviews mit den PädagogInnen liefern Einblicke in den Kindergartenalltag und die Bildungs- bzw. Betreuungsarbeit wie auch in die Rahmenbedingungen der unterschiedlichen Einrichtungen. Derzeit liegt aber noch keine Auswertung vor, sodass über mögliche Effekte auf die Sprachentwicklung der Kinder noch keine Aussagen möglich sind. Was aber unsere qualitative Analyse zeigt, ist, dass PädagogInnen an LSESKinder mehr verhaltenssteuernde Äußerungen als an HSES-Kinder richten. Wichtig wäre es demnach, dass PädagogInnen sich hier gegenüber LSES-Kindern nicht von stereotypen Annahmen leiten lassen und ihre Sprache bewusst und reflektiert einsetzen. Da im Rahmen des Input-Projekts auch signifikante Effekte der Dauer des Kindergartenaufenthalts sowohl auf die Leistungen bilingualer Kinder beim deutschsprachigen Wortschatz als auch bei LSES-Kindern festgestellt werden konnten, untermauern unsere Ergebnisse den positiven Einfluss vorschulischer Erfahrungen auf die kindliche Sprachentwicklung.
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Monika Potkan´ski-Pałka
Intergenerational Value Transmission in Polish Immigrant Families in Austria and Germany
A family usually plays a significant role in transmitting both the cultural heritage and the historical narratives of an ethnic or national group from one generation to the next. Therefore, intergenerational value transmission can be seen as one possible way to transmit cultural heritage and traditions of the society of origin (Nauck 2001). As cultural transmission secures the consistency of a society and maintains culture-specific knowledge and beliefs, international migration can be identified as a critical event and turning point in an individual’s life. The experience can lead to the formation of a family-specific social capital, although this effect might become less pronounced after a certain period of time and for the offspring already born in the host society. The migration context places immigrants in a situation where they are facing greater difficulties and greater need for intergenerational transmission. Based on previous research, there are two possible mechanisms of how parents might respond to the situation of living in a new cultural context: On the one hand, in a discontinuous cultural context with drastic changes, parents might tend to neglect the transmission of their own norms and values to their children more readily, assuming those will no longer be applicable in the children’s future. On the other hand, as parents fear they might lose their function as role models in the receiving society, they tend to make an even greater effort to transmit their own cultural values, traditions, customs, etc. to their offspring than they would if they had no migration experience. The purpose of this study is to investigate the transmission of values from parents to their children. Taking intergenerational relationships and individual expressions into consideration, it investigates whether the parents’ migration process has a significant impact on the value transmission to their children. In this context, the concept of transnational migration (Welsch 1994; StolarczykGembiak 2015) is employed. Transnational migration takes place on both an individual and group level, and therefore also on intergenerational level (Schönpflug 2003; Phinney 2003). The study focuses on second generation Polish immigrants whose parents immigrated to Austria and Germany in the late 1970s and 1980s, and it explores
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the consequences of international migration on family relationships as measured on parent-child value similarity. It is expected that immigration conditions influence positively intergenerational value transmission. In order to examine value-similarity between second generation Poles and their parents in Austria and Germany, a control group of Polish non-immigrants and their parents with the same demographic characteristics but no migration experience is used.
1.
Theoretical Background
1.1.
Values
Values are leading for each culture. Accordingly, the behaviour of individuals of a certain cultural context is determined by a specific system of values. In intercultural encounters, where interaction partners are characterized by different values, the probability of arising of misunderstandings and cultural barriers in communication as well as in other everyday life domains is present. The beginnings of Western research on values and personal development can be traced back to Allport (1961). A definition of the term value which indicates a more action-guiding function, is given by Kluckhohn (1951). He defines value as “a conception, explicit or implicit, distinctive of an individual or characteristic of a group, of the desirable which influences the selection from available modes, means, and ends of action” (Kluckhohn 1951:395). Geert Hofstede defines values as internalized preferences for social situations and relationships. They are latent and communicate indirectly via external phenomena. In this study, values are defined as the core of culture (Phalet and Schönpflug 2001:187) and their transmission as the core task for culture maintenance and culture change (Schönpflug 2001:175). Values provide standards for human conduct and regulate daily behavior and critical life decisions (Schönpflug 2001:175). Boski’s Emic Culture Values and Scripts Questionnaire (1999; 1999a; 1999b) and Kwast-Welfel’s research about intergenerational value similarity in Polish immigrant families in Canada and USA (Kwast-Welfel et al. 2004) serve as main sources for this research. Boski (1992) offers a theoretical and methodological framework to study cultural identity. His model distinguishes between two components of cultural identity : symbolic identity and correlative identity (based on values). Symbolic identity pertains to symbolic attributes of national identity related to symbols that are characteristic for a certain culture (Lewandowska 2008:211), such as heroes of the present and the past, symbolic sites, traditional celebrations or anniversaries of national events. Symbolic identity evolves in the process of enculturalization through attendance of national events, visiting historical places etc. (ibid. 211f.). In earlier studies, Boski (1992) shows
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that both components, values and symbols, correlate positively, even though the level of correlation varies. An individual accepts values existing in its culture as universal without doubting or questioning them. However, when stable life conditions change drastically, for instance in case of immigration, an individual might become “aware” of cultural values (Lewandowska 2008:212). The studies among Polish immigrant families in Canada and USA indicate that the second generation of immigrants seems to maintain Polish values to a much greater extent than Polish symbols (Boski 1992; Kwast-Welfeld 2004).
1.2.
Value Transmission in an Immigration Context
Traditionally, the concept of culture is often linked with the terms integration and assimilation in migration-theoretical discussions. Early theories on migration are characterized by a nation-state view of the 18th century regarding ethnic groups and their crossing of national borders. The origin of these theories is marked by a politically motivated viewpoint and the ideology of the nation state. Cultural adaptation is understood as a prerequisite for the incorporation of immigrants into host societies. The acculturation processes succeeds when orientation knowledge has been replaced by the host society’s knowledge. An even stronger form of adaptation is the assimilation process, namely the idea of the “approximation” of ethnic groups over the course of several generations (Esser 2001:18).
1.3.
Acculturation theories
1.3.1. Assimilation The classic starting point of theories of incorporation is the assimilation (also inclusion) concept of the so-called Chicago school. Taft’s three forms of assimilation – the monistic, the interactist, and the pluralistic assimilation – can be regarded as exemplary for assimilation concepts (Taft 1953). The monistic assimilation form can be understood as the passive adaptation of one group to the other entirely. The pluralistic and interactionist assimilation forms involve reciprocal influence and transformation change processes between two groups (Pries 2003:31). When distinguishing different assimilation forms, Esser draws on the concept of social integration and thus refers to the inclusion of social actors (immigrants) in an already existing social system (host society) (Esser 2003:7). One of the most important criticisms of the assimilation theory is the fact that
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the model does not take any cultural pluralism into account. The end of an inclusion process of immigrants into host society marks a complete assimilation – a condition that not only contradicts other theories but also a reality of a global, networked and multicultural society we are living in. According to the one-sided and one-dimensional course of the assimilation approach, immigrants would have to reject their values, which they have incorporated in their home country in the course of their socialization process, and replace them with those of the host culture. In many political debates, this is praised as a much desired goal and as a successful integration of immigrants. The author dissociates herself from that point of view and points out that such a state of total assimilation is hardly feasible – and also not desirable. Referring to Bourdieu’s theory of practice, the author points to the concept of habitus as an embodied internal compass which guides the way in which one acts, feels, thinks, and talks (Asimaki and Koustourakis 2014:126). Values are incorporated through the socialization process and are understood as part of the cultural, social and/or symbolic capital (Bourdieu 1986:241). Bourdieu highlights that dispositions which one acquires during childhood within family implant the primary habitus (Asimaki and Koustourakis 2014:126). Even though the secondary habitus appears in later days and is incorporated through school or other institutions, the primary one is longer lasting and has a greater impact on one’s personal development. Assimilation theory has undergone many revisions and refinements. Newer assimilation concepts since the 1990s try to modify the term by focussing on the structural understanding of assimilation as a process of similarity gradually (Aumüller 2009:42). Alba and Nee, for instance, define assimilation as “the decline, and at its endpoint the disappearance of an ethnic/racial distinction and the cultural and social differences that express it” (Alba and Nee 2003:863). Regarding the second generation of immigrants, there are three possible assimilation patterns: upward, downward, and upward mobility combined with biculturalism (Portes and Rumbaut 2001). According to Portes and Zhou (1993), globalization and deindustrialization processes have gradually prevented a social rise for immigrants in recent decades. Unemployed immigrants who take up activities at the lower end of the labour market or have no legal status cannot support the second generation. Poverty forces them to live in inner-city areas, where their children are “daily exposed to gangs and deviant lifestyles” (Portes 2007:88). This downward assimilation of second immigrant generation leads to an “acculturation to the norms and values of the host society” which “is not a ticket to material success and status advancement, but exactly the opposite” (Portes 2007: 88).
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1.3.2. Integration Integration can be defined as a process as well as a target state, and both as settings as well as a behavioural level (Zick 2010:62). Berry (2005) describes integration as an acculturative orientation and a behavioural and reactionary strategy. Echoing Parsons, internalized values produce the unity of society. “Social order is possible if social actors share a culture of common values, which unites them together to share and perform co-operative activities. It is these general values which determined the ultimate goals of action and which structure the norms by which the means of action are selected.” (Parsons 1991:20).
In the context of political integration debates, the question is asked how to live together in a diverse society. In addition to language acquisition which is often seen as the “key to integration”, values are identified as the central building block of integration. Values appear as fixed and immovable, the diversity of social practices falls into the background. Religion, culture, traditions, or values can be an obstacle for integration in certain situations. A common example is the religion-based non-participation of Muslim girls in coeducational sports lessons at school. In such situations, a strong contrast between religious freedom and a religion-based value system is present. In the context of socialization theorems, it is assumed that due to the changed cultural conditions for primary socialization and its lifelong significance for the internalisation of values the second generation is necessarily acculturated in the host society. A strong value discrepancy between first and second generation of immigrants is the consequence. However, other scholars have shown that the second generation has weaker ties to the parents’ home country and less social relations with its members. As a result, they become increasingly irrelevant to social comparative processes (Nauck 2001:8). 1.3.3. Separation Separation is present if the culture of origin is accentuated and developed as a minority subculture without any interaction with members of the host society or an exchange between the minority and the majority culture (Nauck 2001:17). While separation refers to exclusion on an individual level, segregation refers to the exclusion of an ethnic group and means a consolidation of social relations in one’s own minority. Nauck emphasizes that this process of “self-reinforcing” may be seen as an understandable reaction of self-protection of immigrant groups against an imminent marginalization (Nauck 2001:17). In political discussions, segregation has often a negative association. The resident segregation of minorities or low-status populations, for instance, is often seen as forced as the place of residence in a low-status district might limit the
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access to public facilities (schools, educational institutions, etc.). However, the minorities themselves do not always see their situation as a disadvantage, and voluntary segregation may sometimes even serve social distinction, identity assurance and group solidarity. In both cases – forced and voluntary segregation – the minority group maintains their culture of origin including values, norms, and habits. Thus, there should be a successful intergenerational value transmission within immigrant families, resulting in a high value similarity between parents and their children. However, this is not entirely possible as the young immigrants live in a globalized and networked world without being isolated from external influences, such as school, peers, etc. 1.3.4. Marginalization If the respective culture of the country of origin has been abandoned or lost without acquiring the culture of the host society at the same time, marginalization (also exclusion) of a minority group occurs (Nauck 2001:16). Marginalization is characterized by a strong rejection of one’s own culture and the refusal to build up relationships with other cultural groups. Echoing Berry and Kim (1988), feelings of marginality and the loss of identity mark immigrants who have failed to establish psychological and cultural contact with their own culture as well as with the new culture of the host society. Subjective belonging forms one’s (cultural) identity. As described above, values are seen as the core of culture and cultural identity. If immigrants of the second (and third) generation feel neither affiliated with the culture of their parents nor with the culture of the host society, a lack of subjective belonging is present. Hence, the conditions for a – successful or failed – intergenerational value transmission are not present. Others are used for orientation. In such cases, a strengthening of marginalization and (self-) xclusion may take place. Values which do not correspond either to the values of the parents or to the values of the society can be internalized and lead to the formation of an identity.
1.4.
Transnational migration
Why a transnational and transcultural approach and a turn away from the “classic” integration or assimilation? The main reason that these concepts are outdated in their cores is the fact that today’s second generation immigrants are confronted with a “pluralistic, fragmented environment that simultaneously offers a wealth of opportunities and major dangers to successful adaptation” (Portes, Fernandez-Kelly, and Haller 2005:1000). While up to the 1990s, migration theorists viewed cultural adaptation as an essential prerequisite for the
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socio-structural incorporation of immigrants into host societies, the current trend of new migration approaches emphasizes the process of transmigration (Portes, Fernandez-Kelly, and Haller 2005; Amelina 2008). In contrast to other theories, the transmigration approach neglects the unilateral and one-dimensional aspect, such as for instance the concept of assimilation while highlighting the assumption that migration can be understood as cross-border mobility of individuals and collectives situated in plural-locally generated, transnational contexts (Amelina 2008:3). The transnationalism approach is connected to the globalization discussion and proposes new ways of analyzing and understanding the dynamics and structures of transmigration processes as it involves a new perspective on the questions and factors compared to approaches traditionally taken into account by classical migration research (Apitzsch and Siouti 2007:15). Transnational migration is characterized by a constant maintenance of kinship, ethnic, religious and professional contacts after the migration process is completed (Amelina 2008:3). The relatively strong embeddedness of immigrants and their descendants can lead to the formation of specific cross-border structures. In the long term, based on networks, organizations, diasporas and institutions, specific social spaces located between the country of origin and the host society may be created (Amelina 2008:3). However, there is disagreement among scholars as to whether transnational practices refer only to the first generation of immigrants or whether they continue to be widespread among the second generation (Levitt and Jaworsky 2007:139). While some scholars argue that the second generation of immigrants has no intention of “returning” to their parents’ home countries as they have weaker ties to these countries (Alba et al. 2002), others focus on the double life of immigrants (Lüthi 2005:1).The ability to speak several languages, to be involved in several cultures, and to feel at home in several places characterize this life of multiple identifications and affiliation. Immigrants may develop a hybrid and transcultural identity.
1.5.
Transcultural identity among second generation immigrants
Transculturality is not the in-between or the juxtaposition but the cultural going beyond, the transboundary, and the re-unifying to the center (Domenig 2007:172). In terms of the formation of a transcultural identity, a variety of elements from different origins come into play and a decoupling of transcultural identity from civic and territorial determination takes place (Stolarczyk-Gembiak 2015:192). According to Welsch (2009), the concepts of national cultures are no longer compatible with the understanding of a globalized, complex world. Cultures are characterized by an internal pluralism of possible identities, while displaying external border contours. When it comes to second generation im-
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migrants, studies have shown that cross-border movements shape biographical reconstructions and are considered positive opportunities (Apitzsch and Siouti 2007:17). Having had the opportunity to attend school and get to know the school system in two different countries can be seen as a biographical resource which second generation immigrants can activate and use to succeed at school and in other social environments (Apitzsch and Siouti 2007:17). Likewise, bilingualism or multilingualism might not only strengthen one’s own identity but also be identified as cultural capital. Thus, it is assumed that language acquisition is a life-long, never completed process and that bilingual or multilingual individuals have the ability to switch between languages in most situations if necessary (Oksaar 2003:31). The terms source language and family language also fall into this category as these two concepts are often used synonymously in language teaching (Lüttenberg 2010:306). Other linguistic phenomena such as code-switching and code-mixing as well as pidgin languages and creoles can be named as relatively frequent occurrences within immigrant families. Language mixtures used by first generation immigrants do not correspond with the respective standard languages in the countries of origin. Considering the specific linguistic situation of immigrants, in most cases only two individual languages characterize their daily lives. Lüttenberg (2010:303) defines identity-based bilingualism as the aspect of self-identification of bilinguals emphasized by two languages. The sociological concept of migration is relegated to a secondary position, as it is not always connected to bilingualism and multilingualism. Bilingualism or multilingualism does not only mean being able to communicate in two or more languages but also identifying with a language and its cultural context. Transnational migration has resulted in the creation of new social and economic networks for individuals but has furthermore led to a double anchoring in language (Lüttenberg 2010:305). Especially transmigration is closely associated with the concept of identityrelated bilingualism/multilingualism as it involves not only the ability of good communication skills in each of the used languages but also self-identification with any of these languages. Studies show that immigrants do not give up their first language, no matter the duration of their stay in the host country. Instead, in most cases, they are forced to learn a new language. Thus, immigrants become multilingualists, which is true for the second generation in particular (Lüttenberg 2010:306). The second immigrant generation tends to intensively use and prefer the locally dominant language while ascribing a subordinate status to their language of origin (Dietz 2000:2006). Studies prove that children from immigrant families tend to adopt the language of the host country faster and easier than their parents and that they strengthen their communication skills through interaction with their peers outside the family (Alba et al. 2002; Haug 2008; Nauck 2007; Nauck 2009, Gärtig et al. 2011).
Intergenerational Value Transmission in Polish Immigrant Families
219
Furthermore, parental influence on second language acquisition has a significant impact on second immigration generation. The parents’ sociocultural and educational background is often linked to their children’s attitudes towards learning a second language as well as to their success as second language learners. For many first generation immigrants it is highly important that their children develop sufficient proficiency in the host society’s language in order to be able to fully participate in an academic context (Carhill, Suarez-Orozco, and Paez 2008). Apart from parents and peers, siblings have a great impact on the (second) language acquisition of their younger brothers/sisters. In bilingual or multilingual immigrant families younger siblings benefit from their older siblings’ knowledge and ability in regard to their oral and written language skills which they have already acquired at school and/or from contact with other peers (Rosowsky 2006; Obied 2009). Older siblings often act as resources and mediators concerning language and literacy practices (Kibler et al. 2016:71). Furthermore, media consumption can be seen as another important source of language acquisition.
2.
Method
2.1.
Participants and Sampling
Due to the sampling in three different countries, the access to the potential interview partners was challenging. In addition to the cross-country sampling, the target group itself was not easy to reach. People with Polish heritage living in Austria and Germany are a very heterogeneous and complex population group, not always very visible and easy to get in touch with. In addition, not everyone with a Polish heritage could participate in this study. As there have always been Polish migration movements to Austria and Germany during the last decades, a complex and mixed diaspora characterizes the Polish population in Austria and Germany. As the focus was on people who immigrated to these countries in the late 1970s and 1980s, the selection group was significantly reduced. Reaching the target group in Poland was much easier than in Austria and Germany as the selection criteria were not as limited as in the two other countries. All participants volunteered for the study. Voluntary consent was obtained by means of a personal introduction or written letter, explaining the general aim of the study. The participants’ sample was composed of three groups of older adolescents and young adults. While the young adults were from 21 to 39 years old at the time of data collection, the age of their parents ranged from 44 to 70 years. In Poland, the non-immigrant group consisted of 252 participants, the Austrian-Polish immigrant group of 160 participants, and the German-Polish
220
Monika Potkan´ski-Pałka
immigrant group of 168 participants. The total sample size consisted of 580 volunteers. The recruitment of the potential interviewees was undertaken through several sources: personal contacts, contacts via friends, family and coworkers, contacts via social media, contacts via announcements in student magazines, contacts via local Polish clubs and organizations, via Polish schools in Vienna and Munich, and via the Ministry of Foreign Affairs of the Republic of Poland in Munich. Another way to reach out for new participants was the snowball method. Participants of the study were asked whether they knew other people in their circle of relatives or friends who would fit in the target group. In order to keep a bias low, this method was only used to recruit a small number of participants. Austria Adults (25-35 years) Polish heritage Migration experience of parents
Adults’ parents Polish heritage Immigration to Austria in 1970s/80s
Germany Purposive sampling of three target groups
Adults (25-35 years) Polish heritage Migration experience of parents
Adults’ parents Polish heritage Immigration to Germany in 1970s/80s
Poland Adults (25-35 years) Polish heritage No migration experience of parents
Adults’ parents Polish heritage No migration experience
Figure 1. Characteristics of the selective sampling of the three investigation groups.
2.2.
Multivariate Analysis
A standardized questionnaire in Polish and German was developed. While in Austria and Germany a German version of the questionnaire for the young adults and a Polish version of the questionnaire for their parents were used, in Poland both the young adults’ version and the parents’ version were in Polish. The standardized questionnaire was composed inter alia of a battery of 41 items consisting of statements of values, preferences, attributions, scripts, and beliefs. This battery was based on Boski’s Emic Culture Values and Scripts Questionnaire (EQCVS, 1999; 1999a; 1999b) and Kwast-Welfeld’s research on intergenerational value similarity in Polish immigrant families in Canada (2004). The 41 items were applied in order to evaluate the level of internalization of values by young second generation adults of Polish heritage living in Austria and Germany as compared to young Polish adults without migration experience living in Poland. Multivariate statistics were applied for data analysis, and exploratory factor
Intergenerational Value Transmission in Polish Immigrant Families
221
analysis was used for the analysis of EQVCS data. The remaining four scales showed a relatively high reliability (a > .70): “Family Values” (F1), “Altruistic and Community Values” (F2), “Work Ethics and Patriotism” (F3), and “SelfReliance” (F4). Table 1. Four value scales of EQVCS data Values a Family values Family values, Hospitality, Family solidarity 0.762 Altruistic and community values Helpfulness, Enhance welfare 0.725 Work ethics and patriotism Self-reliance
Patriotism, Morality, Hard work Achievement, Independence, Pleasure
0.687 0.713
On the EQCVS’s 6-point scale where 1 = I totally agree, 2 = I agree, 3 = I slightly agree, 4 = I slightly disagree, 5 = I disagree and 6 = I totally disagree.
3.
Results
3.1.
Inter-group analysis
Value priority was measured between the three groups of Austrian-Polish immigrants (API), German-Polish immigrants (GPI), and Polish non-immigrants (PNI) at the group level with ANOVA. The mean ratings of the four value sets were compared between the three groups as well as between the generation of parents and the generation of grown-up children. It was tested if migration experience of the groups of Austrian-Polish immigrants and German-Polish immigrants as well as the generational aspect have an impact on the value sets ratings. In order to examine which groups differ from each other, the Turkey HDS test was used for conducting post-hoc tests on the ANOVA. A cultural group membership effect is present for “Altruistic and Community Values” (F2) and “Self-Reliance” (F4). The effect is highly significant for “Altruistic and Community Values” (F2) as both immigrant groups differ significantly from the Polish non-immigrant group (p = .000), while the cultural group membership effect for “Self-Reliance” (F4) can be considered as being weaker as it only occurs between the Polish non-immigrant group and the German-Polish immigrant group (p = .013). In order to investigate a potential relationship between the four value sets among the three groups, correlation and regression analyses were performed. A relative impact on “Altruistic and Community Values” (F2) by the independent variables “Family Values” (F1) and “Work Ethics and Patriotism” (F3) could be found among all three groups. The theoretical models presented in this study consider the other value sets as pre-
222
Monika Potkan´ski-Pałka
dictors for the dependent variables and as important factors. Certain trends in the influence of the individual factors are shown, however, other intervening variables are not taken into account. It can be concluded that the tested independent variables serve to a certain degree as an explanation for the value set “Altruistic and Community Values” (F2), whereby the strongest relationship is present among the German-Polish immigrant group. However, it must be highlighted that the ratings of the four value sets among all three groups are also influenced to a high degree by external factors. These external factors might be personality-conditioned, personal experiences, and individual life circumstances. German-Polish immigrant group
Austrian-Polish immigrant group
Family Values
Family Values Altruistic and Community Values
.134
Altruistic and Community Values
Work Ethics and Patriotism
.229
Work Ethics and Patriotism
.134
Self-Reliance
Polish non-immigrant group
Family Values .336
Altruistic and Community Values
.168
Work Ethics and Patriotism
Self-Reliance
Figure 2. Path models for F1, F2, F3, and F4 among all three groups.
3.2.
Intra-group analysis
Multivariate analysis on the within-group level discloses that there is a significant cultural as well as a generational effect. Among all groups, parents rate the value sets with similar preference: “Family Values” (F1), “Altruistic and Community Values” (F2), “Work Ethics and Patriotism” (F3), and “Self-Reliance” (F4). The cultural effect interacts with generation. Both German-Polish immigrant and Polish non-immigrant adults exhibit a similar value preference: “Family Values” (MGPI : 2.05, and MPNI : 2.29), “Self-Reliance” (MGPI : 2.44, MPNI :
Intergenerational Value Transmission in Polish Immigrant Families
223
2.54), “Altruistic and Community Values” (MGPI : 2.49, MPNI : 2.95), and “Work Ethics and Patriotism” (MGPI : 3.21, MPNI : 3.20). The Austrian-Polish grown-up group has a more differentiated picture in terms of value prioritization, as “Altruistic and Community Values” is rated with a mean rating score of 2.21, and thus this value is the one with the highest importance among all four value sets. However, “Family Values” is rated on the second place with an almost negligible distance. In contrast to both comparison groups, “Self-Reliance” ranks on third place with a mean score of 2.67 according to importance. Likewise remarkable is the fact that while factors 1, 2, and 4 obtain different importance among all three grown-up groups, “Work Ethics and Patriotism” (F3) is assigned the lowest significance, whereas German-Polish and Polish non-immigrant grown-ups tend to rate this value set more negatively than the Austrian-Polish immigrant grown-up group. Culture-specific differences in the ratings among the four value sets between parents and their grown-up children in the Austrian-Polish immigrant, the German-Polish immigrant and the Polish non-immigrant group are present. While for Austrian-Polish immigrants differences between the mean values scored by parents and their grown-up offspring for “Family Values”, “Work Ethics and Patriotism” and “Self-Reliance” (p-values < 0.05) are significant, the same is true only for “Self-Reliance” among German-Polish immigrants. The Polish non-immigrant group shows significant differences of mean scores between parents and their offspring in terms of “Work Ethics and Patriotism” and “Self-Reliance”. Comparing these three in-between-group differences, a significant generational effect is displaced regarding “Self-Reliance” (F4). This value set is rated more positively by grown-up children than by their parents. It can be concluded that a higher degree of selfishness and self-realization marks the younger generation compared to their parents, particularly shown in regard to work and financial aspects. The younger generation is more concerned with their own advantages such as financial prosperity and independence. Through an unprecedented measure of freedom, this generation is globalized and experiences a freedom of self-realization, which was possible for their parents who were born and socialized in a postwar communist Poland, characterized by restrictions, scarcity, and the impossibility of traveling abroad. Independently of where the young generation with Polish heritage lives, they use the current opportunities for international travel. They do not neglect that to get ahead in life they have to be selfish sometimes. This attitude is accompanied by the will and openness to meet new people, and the appreciation and care for long-term friendships. Furthermore, the relatively high importance of “Self-Reliance” (F4) does not contradict the fact that “Family Values” (F1) are very important for this young generation. A strong family cohesion and the support of the family are not in
224 4,0
Monika Potkan´ski-Pałka 4,0
Austrian-Polish immigrants
3,5 3,0
3,0
2,5
2,5 Grown-up children
2,0
Mother
1,5
Father
0,5
0,5
4,0 3,5
Mother
1,5 1,0
0,0
Family Values Altruis!c and Work Ethics and Self-Reliance Community Patrio!sm Values
Grown-up children
2,0
1,0
0,0
German-Polish immigrants
3,5
Father
Family Values Altruis!c and Work Ethics and Self-Reliance Community Patrio!sm Values
Polish non-immigrants
3,0 2,5
Grown-up children
2,0
Mother Father
1,5 1,0 0,5 0,0
Family Values Altruis!c and Work Ethics and Self-Reliance Community Patrio!sm Values
Figure 3. Mean value ratings by two generations in groups API, GPI and PNI. On the EQCVS’s 6-point scale where 1 = I totally agree, 2 = I agree, 3 = I slightly agree, 4 = I slightly disagree, 5 = I disagree and 6 = I totally disagree.
contradiction to a high importance of self-reliance values. It is particularly noticeable that this more selfish attitude is not in conflict with the care for the own family, and in particular for one’s parents. Among all groups, grown-up children agree that it is the duty of children to care for their parents in old age.
3.3.
Dyadic analysis on a family level
Parent-child dyadic comparison shows a statistically significant difference between mothers and their grown-up children with regard to “Family Values” (p = .000) as well as “Self-Reliance” (p = .000) among the Austrian-Polish immigrant group. Austrian-Polish immigrant mothers tend to rate this value more positively (M = 1.69), while they slightly disagree with values such as personal achievements, pleasure, and independence (“Self-Reliance”) (M = 3.44). Fatherchild-dyad comparison within the Austrian-Polish immigrant group shows that only the value set “Self-Reliance” (p = .001) indicates a statistically significant difference. This is also true for the German-Polish immigrant group, but in particular for the Polish non-immigrant group. Both mothers (M = 3.41) and fathers (M = 3.38) rate “Self-Reliance” more negatively than their grown-up
Intergenerational Value Transmission in Polish Immigrant Families
225
children (M = 2.77). Polish non-immigrant dyadic analysis indicates significant differences for “Work Ethics and Patriotism” (p = .000) and “Self-Reliance” (p = .000) for mother-child comparison, and significant differences for “Self-Reliance” (p = .000) as well as “Altruistic and Community Values” (p = .017) for father-child comparison. Within the German-Polish immigrant group, motherchild-dyad comparison signals significant differences concerning “Altruistic and Community Values” (p = .000) and “Self-Reliance” (p = .000). Like among the Austrian immigrant group, German-Polish immigrant father-child-dyad comparison shows a highly significant difference only for the value set “SelfReliance” (p = .000).
3.4.
Belonging and Cultural Revival
Subjectively perceived belonging to the host country or the country of origin of the parents shapes transcultural identity. To operationalize the cognitive dimension of identity, both immigrant grown-up children as well as their parents could name on a 11-point scale how much they felt Austrian/German and Polish. In the course of data analysis, the 11-point scale was summarized into three categories: “I feel Austrian/German”/“I feel Polish” (scale-points 8 to 11), “Neutral” (scale-points 5 to 7) and “I don’t feel Austrian/German”/“I don’t feel Polish” (scale-points 1 to 4). Analysis signifies that among the second Polish immigrant generation in Austria and Germany transcultural identity, involving a hybrid form of identity from at least two cultural contexts, is present. Instead of excluding certain aspects of the Polish cultural context and involving only those of the Austrian or German context, a mixing of cultures due to the hybridization of individual cultures occurs (Welsch 1994; Kannengießer 2012). Among the Austrian-Polish immigrant grown-ups, 88 % feel to be Polish or at least “in-between Polish”, and 92 % feel to be Austrian or at least “in-between Austrian”. Among the GermanPolish immigrant grown-ups, 77 % feel to be Polish or “in-between Polish”, and 67 % feel to be German or “in-between German”. Feeling Polish and Austrian/ German at the same time is not a contradiction for the second generation of Polish immigrants in Austria and Germany. These young grown-ups have developed a transcultural identity, and they are at home in two cultures. At the same time, this generation has shaped an ethnic revival due to globalization and transnational processes, which have cleared the way for diversity and heterogeneity (Sharaby 2015:491). Previous studies indicate a significant correlation between high levels of identification with the mainstream culture, language fluency, and the degree of the individuals’ subjective perceptions of managing dual cultural identities
226
Monika Potkan´ski-Pałka
(Chen, Benet-Mart&nez, and Bond 2008:808). In this study, there is a high proportion of bilingual respondents among the second generation of Polish immigrants in Austria and Germany. In Austria, 90 % of the grown-ups name both German and Polish to be their mother tongues, while in Germany this proportion lies around 66 %. At least 15 % of German-Polish immigrant grown-up children state German to be their only mother tongue; 19 %, however, name Polish. However, correlation analysis shows no significant relationship between bilingualism and the subjectively perceived belonging to Poland of the immigrant young grown-ups in Austria and Germany (p > .05).
4.
Conclusion
4.1.
Main Results
This study explores the consequences of international migration on family relationships as measured through parent-child value similarity. It was expected that immigration conditions have a positive influence on intergenerational value transmission and that parent-child value similarity in Polish immigrant families living in Austria and Germany is stronger than in Polish non-immigrant families living in Poland. Results reveal that the hypothesis needs to be rejected partially. A cultural effect can be observed in terms of value prioritization. “Family Values” is rated as the most important value among all value sets among all groups. As other studies have shown (Kwast-Welfeld 2004; Lewandowska 2008; Boski 2009; Boski 2010; Wesołowska 2013), population with Polish heritage assigns family a superior important role. However, it needs to be highlighted that in this study, family values do not correspond with Christian values as in other investigations (e. g. Kwast-Welfeld 2004). It can be stated that the participants do not equate values concerning family, parents, and own children with religious aspects. Two contrary cultural effects on the group comparison level appear. For “Family values”, an inter-cultural effect is present among all groups as this value set is rated mostly positively and with the highest agreement to the items figuring behind this value. Population with Polish heritage tend to assign family an important role. Strong family relationships, intense contact to parents as well as other relatives are seen as essential in one’s life. They care for family members, especially one’s own children and parents. An intra-cultural effect regarding “Altruistic and Community Values” is latent as mean scores for both immigrant groups are significantly different from the Polish non-immigrant group. It can be concluded that Polish non-immigrants tend to assign less importance to responsibility regarding ecological lifestyle and the reduction of pollution. Less interest in politics as well as in community and social welfare can be attributed to
Intergenerational Value Transmission in Polish Immigrant Families
227
the non-immigrant group. A generational effect is present on a dyadic-parentchild comparison within the groups of German-Polish immigrants, AustrianPolish immigrants, and Polish non-immigrants. “Self-Reliance” is rated more positively by grown-up children than by their parents. In conclusion, a higher degree of selfishness and self-realization marks the younger generation compared to their parents, in particular in the area of work and financial aspects. Due to an unprecedented measure of freedom, this generation is globalized and enjoys an opportunity for self-realization unimaginable for their parents born in postwar communist Poland. Even though they ascribe high importance to “SelfReliance”, “Family Values” are equally significant to the young generation. Transcultural identity characterizes the second generation of Polish immigrants both in Austria and in Germany. The majority of the Austrian-Polish/GermanPolish grown-ups feel a strong equal belonging to both Austria/Germany and Poland. This phenomenon is also reflected in the high proportion of bilingual respondents among the Austrian-Polish immigrants and German-Polish immigrants.
4.2.
Strengths and limitations of the study
As intergenerational relationships are on-going processes and identity building is understood as “the processual and never-ending task of each person” (Spreckels and Kotthoff 2007:416), longitudinal analysis would provide a better data set as intra-individual differences and the relationships between the changes in several variables could be examined. Especially as migration may be seen as an important turning point in life, it represents the challenge of reflecting one’s own identity and new cultural context(s). However, the problem of panel mortality would have to be taken into consideration. Furthermore, the examination of intergenerational value similarities is always problematic. The case of Polish immigrant families in Austria and Germany presents a further challenge due to political and historical circumstances over the last decades (Jedrzejczyk and Rassadin 2006:45). Values are constantly changing, and a transformation process with varying degrees of severity is taking place in different social groups. Therefore, a general generational gap needs to be taken into consideration. The same is also true for differences between rural and urban areas which may exist and may have a significant influence on value prioritization within a certain social group.
228
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Integration und Identität
Anna Faustmann / Lydia Rössl / Isabella Skrivanek
Einflussfaktoren auf die regionale Integration und Bleibeabsichten von (hoch-)qualifizierten Zu- und Rückwanderern am Beispiel Oberösterreich
1.
Einleitung und Hintergrund
Oberösterreich ist ein Bundesland mit vergleichsweise starker Produktionsorientierung und vorteilhafter Wirtschaftsentwicklung in Relation zu anderen Bundesländern, vor allem in den letzten Jahren. Während Anfang der 2000er Jahre die oberösterreichische Wachstumsdynamik noch im österreichischen Durchschnitt lag, verlief sie seit Mitte der 2000er Jahre günstiger, mit guter Produktivitätsentwicklung vor allem in den letzten Jahren.1 Demgegenüber verläuft die Bevölkerungsentwicklung eher nachteilig: Oberösterreich ist für die ansässige Bevölkerung nach wie vor ein Abwanderungsbundesland, d. h. mehr Personen verlassen jährlich Oberösterreich, als von anderen Bundesländern nach Oberösterreich zuziehen. Relativ gesehen verzeichnet Oberösterreich damit – nach Kärnten – die höchsten Binnenwanderungsverluste (je 1.000 der Bevölkerung) und diese haben in den letzten zehn Jahren weiter zugenommen. Das Bevölkerungswachstum durch positive Geburtenbilanzen und Zuwanderung aus dem Ausland blieb somit hinter dem Österreich-Schnitt. Während sich österreichweit der Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung von 13,8 % im Jahr 2002 auf 17,3 % im Jahr 2015 erhöhte, blieb dieser Anteil in Oberösterreich mit 13,6 % weiterhin niedrig (gegenüber 11,6 % im Jahr 2002).2 Die Wanderungsdynamik in Oberösterreich auf kleinräumiger Ebene ist in nachfolgender Abbildung 1 dargestellt, wobei hier Binnen- und Außenwanderungssalden gegenübergestellt werden. Abbildung 1 zeigt, dass die oberösterreichischen Bezirke wanderungsbedingt teils stark unterschiedlichen Bevölkerungsentwicklungen gegenüberstehen. Die 1 Vgl. Daten von Statistik Austria zu Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen: http://www.sta tistik.gv.at/web_de/statistiken/wirtschaft/volkswirtschaftliche_gesamtrechnungen/bruttoin landsprodukt_und_hauptaggregate/index.html. 2 Vgl. Statistik Austria/Bevölkerung nach Staatsangehörigkeit und Geburtsland: http://www.statis tik.gv.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/bevoelkerung/bevoelkerungsstruktur /bevoelkerung_nach_staatsangehoerigkeit_geburtsland/index.html.
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Außenwanderungssaldo je 1.000 EW
Vöcklabruck 140
Bezirke weisen eine Binnenabwanderung auf, die jedoch mit Zuwanderung von außen kompensiert werden kann
120 Bezirke gewinnen Bevölkerung durch Binnen- sowie Außenzuwanderung
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Linz-Stadt Perg Bezirke links/unterhalb der Linie weisen eine Ne!oAbwanderung auf
Wels-Stadt
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Kirchdorf Schärding
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Binnenwanderungssaldo je 1.000 EW
Abbildung 1: Summierte Salden der Binnen- und Außenwanderung 2002–2014 nach oberösterreichischen Bezirken, je 1.000 EinwohnerInnen. Quelle: Statistik Austria, DUK-Berechnungen und -Darstellung.
Zentralregionen (Linz-Stadt, Linz-Land, Wels-Land, Eferding, Urfahr-Umgebung und Steyr-Land) erzielten demnach im Durchschnitt der Jahre 2002 bis 2014 ein Netto-Bevölkerungswachstum, das sich durch Zuwanderung aus anderen Bundesländern Österreichs sowie aus dem Ausland ergibt. Demgegenüber verzeichneten alle anderen oberösterreichischen Bezirke eine Binnenabwanderung. Während jedoch die Bezirke Vöcklabruck, Perg, Wels-Stadt, Gmunden und Grieskirchen dies mit ausreichender Zuwanderung aus dem Ausland kompensieren konnten, ist das in den Bezirken Steyr-Stadt, Kirchdorf, Ried, Schärding, Freistadt und Rohrbach nicht der Fall, was wiederum zu einem Netto-Bevölkerungsrückgang führte. Vor diesem Hintergrund ergibt sich folgende Forschungsfrage: „Wie kann die regionale Standortattraktivität erhöht werden, damit einerseits (hoch-)qualifizierte ausländische Arbeitskräfte gewonnen und langfristig an die Region gebunden werden können (ZuwandererInnen) sowie andererseits aus Oberösterreich Weggezogene zur Rückkehr in die Region motiviert werden können (RückwandererInnen)?“
Seit 2014 bearbeitet das Regionalmanagement Oberösterreich (RMOÖ) gemeinsam mit der Wirtschaftsagentur des Landes Oberösterreich Business Upper Austria diese Frage. Zielsetzung ist dabei die Etablierung strukturierter Informations- und Willkommensangebote sowohl in Unternehmen als auch in Ge-
Einflussfaktoren auf die regionale Integration und Bleibeabsichten
237
meinden.3 Basierend darauf wurden vom Regionalmanagement Oberösterreich in Kooperation mit Business Upper Austria leitfadengestützte Interviews und Fokusgruppen in allen oberösterreichischen Regionen durchgeführt. Dieses umfassende Datenmaterial wurde in weiterer Folge im Auftrag des RMOÖ 2016 von den Autorinnen inhaltsanalytisch ausgewertet, um eine wissenschaftliche Basis für ein weiteres Vorgehen und die Entwicklung von Handlungsoptionen zu schaffen. Dieser Beitrag stellt eine gekürzte, inhaltlich verdichtete Fassung dieser Forschungs- und Analysearbeit dar (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016) und präsentiert die zentralen Ergebnisse.
1.1.
Methode
Das im Rahmen dieser Forschungsarbeit analysierte Material besteht aus insgesamt 94 leitfadengestützten Interviews4 mit 101 Personen in allen oberösterreichischen Regionen (30 RückwanderInnen, 68 ZuwanderInnen, drei InterviewpartnerInnen konnten nicht eindeutig zugeordnet werden). Ziel der qualitativen Interviews war es, die Motive, Erfahrungen und Erwartungen von Zuund RückwanderInnen an die oberösterreichischen Regionen in Bezug auf die Integration zu erheben. Die Einzelinterviews wurden durch 19 Fokusgruppen5 mit regionalen Stakeholdern ergänzt (Gemeinden, Betriebe, Sozialpartner, NGOs, Behörden, Vereine).6 Die Auswertung dieses umfangreichen empirischen Datenmaterials erfolgte in Form der Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) entlang der folgenden Dimensionen: – Motive für Zu- und/oder Rückwanderung in die Region und Bestimmungsfaktoren für die Attraktivität einer Region, – Faktoren für den dauerhaften Verbleib von Zu- und/oder RückwanderInnen in der Region (unterstützende/erschwerende Faktoren), 3 Das Vorhaben wurde vom Regionalmanagement und Business Upper Austria als Pilotprojekt unter dem Titel „Rewenio“ im Jahr 2014 begonnen und 2015/16 im Projekt „Willkommenskultur Oberösterreich“ fortgeführt und findet im Weiteren als „Willkommen Standort OÖ – ein Service für Gemeinden und Unternehmen“ seine Fortführung. 4 Die Interviews wurden im Rahmen der Projekte „Rewenio“ und „Willkommenskultur Oberösterreich“ von RMOÖ und Business Upper Austria sowie auch der FH Oberösterreich geführt. 5 Die Fokusgruppen wurden vom RMOÖ und der FH Oberösterreich moderiert. 6 Die Interviews und Fokusgruppen wurden von Juli bis September 2014 sowie von März 2015 bis März 2016 durchgeführt. 54 der Interviews wurden vollständig transkribiert, 40 Interviews wurden protokolliert und beinhalteten die wichtigsten Schlagworte und Zusammenfassungen der Gespräche. Von den Fokusgruppen wurden 16 transkribiert und drei mit Protokollen dokumentiert.
238
Anna Faustmann / Lydia Rössl / Isabella Skrivanek
– Erwartungen von Zu- und/oder RückwanderInnen an die Gesellschaft und die Institutionen in der Region in Bezug auf ihre Eingliederung (unterstützende/ erschwerende Faktoren), – Herausforderungen und Chancen in Bezug auf die umfassende Integration in die Region und Handlungsbedarfe, – Zusammenspiel von Integration in verschiedenen Lebensbereichen (Arbeitsmarkt, Bildung, Freizeit, Gesellschaft, Gesundheit, Wohnen etc.). Zur Analyse der Interview- und Fokusgruppentranskripte wurden in einem ersten Schritt Kategorien gebildet, die deduktiv aus den Fragen der Interviewund Fokusgruppenleitfäden sowie aus den Ergebnissen der Vorgängerstudie von Biffl et al. 20157 abgeleitet wurden. Daraus ergab sich ein vorläufiger inhaltlicher Strukturierungsrahmen, der im Rahmen des weiteren Kodierungsprozesses entsprechend dem analysierten Material in einem induktiven Vorgehen adaptiert wurde. Fehlende bzw. nicht eindeutig auf einen inhaltlichen Aspekt anwendbare Kategorien wurden angepasst bzw. um Kategorien erweitert. Das analysierte Textmaterial wurde nach Abschluss der Kodierung nach den definierten Kategorien ausgewertet und thematisch sowie entsprechend der Häufigkeitsverteilungen strukturiert. Die Inhaltsanalyse wurde softwaregestützt mit Atlas.ti durchgeführt.8
1.2.
Zusammensetzung der InterviewpartnerInnen
Die interviewten Zu- und RückwanderInnen unterscheiden sich in ihrer Geschlechts- und Altersverteilung. Im Vergleich zu den interviewten ZuwanderInnen weist die Gruppe der RückwanderInnen einen höheren Frauenanteil und eine jüngere Altersstruktur auf: Unter den ZuwanderInnen waren 48 % weiblich und 52 % männlich, bei den RückwanderInnen lag der Frauenanteil bei 60 %. Bei den ZuwanderInnen lag der Anteil der unter 35-Jährigen bei 28 %, 40 % waren zwischen 36 und 50 Jahren, 7 % über 50 und von 24 % fehlte die Angabe zum Alter. Dahingegen waren bei den RückwanderInnen 57 % zwischen 21 und 35 Jahren alt, 27 % zwischen 36 und 50 Jahren, 3 % über 50 und von 13 % fehlte die Angabe zum Alter. Der Forschungsfrage entsprechend wies die Mehrheit der Interviewten einen höheren Bildungsabschluss auf: Von den RückwanderInnen verfügten 60 % über einen Hochschulabschluss, 13 % über eine Matura, 3 % 7 Diese Studie wurde im Rahmen des Projekts „Rewenio“ im Auftrag von RMOÖ und Business Upper Austria durchgeführt (vgl. Biffl et al. 2015). 8 Atlas.ti ist eine Software, die eine systematische qualitative Inhaltsanalyse unterstützt: ATLAS.ti – The Knowledge Workbench. Copyright 1993–2009 atlas.ti scientific software development GmbH Berlin, Germany.
Einflussfaktoren auf die regionale Integration und Bleibeabsichten
239
über einen mittleren Abschluss und von 23 % war der Bildungsabschluss nicht bekannt bzw. nicht zuordenbar. Unter den ZuwanderInnen hatten 66 % einen Hochschulabschluss, 6 % eine Matura, 6 % einen mittleren Abschluss, 4 % (maximal) einen Pflichtschulabschluss und bei 18 % war die Bildungsinformation nicht zuordenbar bzw. unbekannt. Unter den ZuwanderInnen waren 25 unterschiedliche Nationalitäten vertreten (inkl. Österreich). 28 % waren Staatsangehörige aus den „alten“ EU-Ländern (EU-15), 16 % aus einem der seit 2004 beigetretenen EU-Staaten, 7 % aus anderen europäischen Ländern, 10 % aus Nord-/Südamerika, 13 % aus Asien, 1 % aus Ozeanien und 24 % waren österreichische Staatsangehörige. Von den interviewten RückwanderInnen hatten 20 % ihren letzten Wohnort im Ausland, 37 % in Wien, 13 % kamen aus Tirol, Kärnten, Niederösterreich bzw. der Steiermark nach Oberösterreich zurück, 20 % waren aus einer anderen oberösterreichischen Region zugewandert und von 20 % war der letzte Wohnort vor der Rückkehr nicht erfasst (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:24, 35f.).
2.
Ergebnisse
Die analysierten Interviews und Fokusgruppen ergeben ein differenziertes Bild über (1) die Motive für die Wahl eines oberösterreichischen Ortes als Lebensmittelpunkt und die Bestimmungsfaktoren für den langfristigen Verbleib in der Region, (2) die Erwartungen der Zu- und RückwanderInnen an die Gesellschaft und Institutionen der Region sowie die Rahmenbedingungen, die eine Region als Lebensmittelpunkt attraktiv machen, aber auch über (3) die Herausforderungen und Chancen in Bezug auf eine umfassende Integration.
2.1.
Einflussfaktoren auf Wanderungsentscheidungen und dauerhafte Niederlassung
Die Analyse der Gründe, aus denen sich die InterviewpartnerInnen dazu entschlossenen hatten, nach Oberösterreich zu ziehen,9 zeigt die zentrale Bedeutung attraktiver Arbeitsplätze vor Ort auf. In den meisten Fällen war bereits ein konkretes Jobangebot vorhanden, bevor weitere Faktoren wie etwa die Attrak9 Es muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass es sich hier um eine retrospektive Betrachtung durch die InterviewpartnerInnen handelt. Die im Nachhinein als ausschlaggebend angeführten Gründe für die Zu- bzw. Rückwanderung sind daher im Kontext etwaiger im Laufe der Jahre gemachter Erfahrungen und dadurch geprägter Überzeugungen sowie später hinzugekommener Begründungen zu sehen.
240
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tivität der Region als möglicher Wohnort in die Entscheidung miteinbezogen wurden. Diese sind allerdings für die Entscheidung einer Zu-/ Rückwanderung ebenfalls wesentlich. Als Gründe für eine Rückkehr in die Heimat werden von „(Bildungs-)AbwanderInnen“ Beruf und Ausbildung stark hervorgehoben (auch einzeln für sich stehend). Dies erfolgte dabei häufig in Kombination mit anderen Motiven, insbesondere im Zusammenhang mit Familie und Freunden. Sie spielen auch bei der Familiengründung, und damit einem „guten“ Umfeld für die Kinder sowie Betreuungsmöglichkeiten durch Großeltern, eine zentrale Rolle. Auf die Familie und das Aufziehen von Kindern bezogen, wurden die Vorteile einer ländlichen Umgebung, die höhere Lebensqualität und der geeignete Wohnraum hervorgehoben (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:25f.) Ein Rückwanderer (49 Jahre) betont den eindeutigen Zusammenhang zwischen der Familiengründung und seiner Rückkehr ins Traunviertel folgendermaßen: „Wenn wir keine Kinder gehabt hätten, […], dann wären wir noch heute in Wien. Dann würde ich im siebten Bezirk wohnen, […], in der Wohnung. […] Nur für die Kinder wollte ich das nicht haben. […] […] Der Job war wichtig, […] und dass die Kinder ein gutes Umfeld haben.“ (P21: 82)10
Unter den interviewten ZuwanderInnen ist ein Arbeitsplatz in der Region das am häufigsten genannte Zuwanderungsmotiv. Eine 36-jährige spanische Zuwanderin bringt diese Bedeutung der Arbeit folgendermaßen zum Ausdruck: „For me is […] to have a job, that everything goes through that. Because when I have a job, I have money, when I have money, my kids have possibilities here, and if there is no university here, they have the opportunity to go to Vienna, but I can send them there.“ (IP1: 71)
Auch bei ZuwanderInnen ist es häufig eine Kombination aus regionalen Arbeitsmöglichkeiten und familiären Bindungen/(Ehe-)PartnerInnen, die in der Region aufgewachsen sind und/oder für die sich in der Region berufliche Möglichkeiten ergeben haben, die ausschlaggebend für die Wanderungsentscheidung ist. Weitere wichtige Motive für die Zuwanderung nach Oberösterreich sind die landschaftliche Schönheit Oberösterreichs sowie Möglichkeiten für günstigen Wohnraum bzw. zum Hausbau (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:38ff.) Die große Bedeutung sozialer Beziehungen bei Wanderungsentscheidungen legen auch internationale Befunde dar. So zeigt etwa die Analyse der Motive von Rückwanderinnen in die strukturschwache Region Sachsen-Anhalt, dass trotz 10 Direkte und indirekte Zitate aus den qualitativen Interviews sind im Text mit einem Hinweis auf die InterviewpartnerIn (IP und eine Zahl) und die Textstelle im Atlas.ti-Dokument (eine Zahl) ausgewiesen.
Einflussfaktoren auf die regionale Integration und Bleibeabsichten
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guter Ausbildung und beruflicher Karriereambitionen die Rückwanderungsentscheidung dieser Frauen aufgrund familiärer oder partnerbezogener Faktoren getroffen wurde. Dabei spielen die Nähe zur Familie und die damit verbundene Unterstützung bei der Kinderbetreuung eine Rolle, aber auch eine Unterordnung der eigenen beruflichen Pläne unter jene des Partners (vgl. Leibert und Wiest 2014:38). Diese Aspekte sind aus einer Gleichstellungsperspektive von besonderer Bedeutung, wenn man bedenkt, dass ein zentrales Entscheidungskriterium bei der Wahl des Lebensmittelpunkts für Familien die Verwirklichung von Erwerbschancen darstellt. Umzugsentscheidungen im Familienverband können somit zur Reproduktion geschlechtsspezifischer Unterschiede in der Erwerbssituation (z. B. Erwerbsunterbrechungen, qualifikationsadäquate Beschäftigung, Einkommensperspektiven) beitragen (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2014:183; Geist und McManus 2012; Riano et al. 2015). Ein stabiler, bestehender Arbeitsplatz ist oftmals nicht nur ausschlaggebend für die Wanderungsentscheidung, sondern sichert in vielerlei Hinsicht den langfristigen Verbleib in einer Region. Sowohl für die interviewten RückwanderInnen (67 %) wie für die ZuwanderInnen (46 %) würde ein Berufswechel zu einer (neuerlichen) Abwanderung aus der Region führen. Weitere wichtige Gründe für eine (Wieder-)Abwanderung sind für die RückwanderInnen Ausbildungsmöglichkeiten, die in der Region nicht verfügbar sind (30 %), sowie private Veränderungen (27 %), bei den ZuwanderInnen sind es vor allem auch private Veränderungen (31 %) (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:27, 41). Die hohe Bedeutung der familiären Situation wird auch in Bezug auf die Perspektiven für eine dauerhafte Niederlassung in der Region sichtbar. Oftmals werden Zu- und RückwanderInnen von ihren (Ehe-)PartnerInnen und Kindern begleitet. Dabei machen die Interviewergebnisse deutlich, dass ihre erfolgreiche Einbindung in Gesellschaft und Arbeitsmarkt, verbunden mit ansprechenden Lebensbedingungen, auch ein wichtiges Motiv für den längerfristigen Verbleib in der Region darstellt. In der Zusammenschau lässt sich aus den Interviews ableiten, dass die Arbeitsmöglichkeiten, die Angebote bzw. Möglichkeiten für Familien (vor allem Kinder), die soziale Integration, die Wohnsituation und das Wohnumfeld, das Freizeitangebot, Mobilität und die soziale Absicherung zu den entscheidenden Faktoren für ein optimales Lebensumfeld zählen. In Abhängigkeit von der privaten Situation stehen bei der Wanderungs- und Niederlassungsentscheidung somit nicht immer nur die/der Zu-/RückwanderIn als Einzelperson im Fokus, sondern die gesamte Familie (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:86).
242
Anna Faustmann / Lydia Rössl / Isabella Skrivanek
2.2.
Erwartungen an die Gesellschaft und ihre Institutionen in Bezug auf die regionale Integration
Nach Oberösterreich zu- und rückgewanderte Personen erwarten sich vor allem die Bereitstellung (bzw. Auffindbarkeit) von Informationen, Ansprechpersonen zur Unterstützung im Bedarfsfall sowie Möglichkeiten des sozialen Zusammentreffens und Austauschs als Unterstützung bei ihrer Integration vor Ort. Viele Zu- und RückwanderInnen berichten über positive Erfahrungen bei ihrer Ankunft, die verdeutlichen, dass Gemeinden, Betriebe und Vereine zum Teil bereits verschiedene Maßnahmen umsetzen, damit sich die Zu- und RückwanderInnen aufgenommen und unterstützt fühlen (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:104ff.). Die unterschiedlichen Formen von Willkommensgesten, wie z. B. ein „Willkommensbrief“ der Gemeinde oder eine „Willkommensveranstaltung“ für NeubürgerInnen, werden positiv angenommen. Eine 40-jährige Zuwanderin aus Ungarn beschreibt ihre Erfahrungen einer Willkommensveranstaltung der Gemeinde folgendermaßen: „Ich finde, es war sehr positiv im Gemeindeamt, dass der Bürgermeister eine Veranstaltung organisiert hat. Er hat alle neuen Einwohner eingeladen und wir haben uns ein bisschen persönlich kennengelernt, er hat seine Hilfe angeboten er hat gesagt, wenn wir etwas Hilfe brauchen, dürfen wir ruhig zu ihm gehen. […] Natürlich, […] ein Neueinwohner ist ahnungslos. Ich habe nicht gewusst, wo finde ich ein Geschäft, wo ist ein Bankomat? Wo kann ich mein Auto reparieren?“ (P71:250–255)
Die Ergebnisse zeigen aber, dass die Zielgruppen dabei teils nur zufällig bzw. in unterschiedlichem Ausmaß erreicht werden (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:31ff., 51ff.) Vor allem die interviewten ZuwanderInnen äußern einen großen Informationsbedarf, der durch die bestehenden Angebote (Websites, Broschüren) nur zum Teil abgedeckt wird. Bestehende Informationen seien oftmals schwierig auffindbar oder nur auf Deutsch verfügbar, wie z. B. eine 35jährige Zuwanderin aus Italien schildert: „I think there is a lot of information but in Deutsch. I like to try to read all the documents that arrive but it is not easy. So it could be useful, if something would also be available in English. Because I saw, that every time there were a lot of things and also the thing that every week we get the newspaper of the town, you feel inside the town because they advise you and import you. Sometimes it would be useful to have something in English, in particular at the beginning, the first year, because afterwards you have to speak and learn. But here a lot of people speak English so they understand you and they help you. But it would be an opportunity to have something sometimes in English.“ (P10:157–167)
Das bestehende Online-Informationsangebot ist, so die Erfahrungen von interviewten ZuwanderInnen, über verschiedene Websites verteilt, teils über-
Einflussfaktoren auf die regionale Integration und Bleibeabsichten
243
schneiden sich Informationen, teils sind sie widersprüchlich. Insgesamt ist nicht alles online verfügbar. Gewünscht wird eine Bündelung der Informationen und Services (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:51f.) Aus ihren eigenen Erfahrungen heraus sprechen sich die interviewten ZuwanderInnen für einen Leitfaden mit Checkliste über die notwendigen Schritte bei Zuzug aus, der vollständige Informationen über die jeweiligen Voraussetzungen, den Ablauf, zuständige Stellen und notwendige Unterlagen beinhaltet (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:52f.) Ein 42-jähriger britischer Zuwanderer unterstreicht dies folgendermaßen: „Because you wake up and you are somewhere completely different, […] So it is that sort of induction or introduction and almost like a checklist to go through and say okay this is this and this is that, getting a phone, a bank account you know all this kind of stuff that you need in everyday life.“ (P16:191–198)
Die von den ZuwanderInnen gewünschten Informationen betreffen somit vorrangig die ersten Schritte im Alltag, d. h. zur Wohnungssuche, Eröffnung eines Bankkontos, Anmeldung von Strom, Gas, Internet, Telefon, TV/Radio (GIS), Versicherungen, Funktionsweise des österreichischen Gesundheitssystems (Krankenversicherung, Zugang), Steuersystems, Pensionssystems, Schulsystems, Kinderbetreuung, Arbeitsrecht, Anerkennung von Qualifikationen, Regeln und Vorschriften (z. B. Mülltrennung, Verkehrsregeln, Ausweispflicht für ausländische Staatsangehörige) (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:52). Obwohl RückwanderInnen vermutlich in höherem Ausmaß auf frühere Erfahrungen und Kontakte (Familie, Freunde) aufbauen können, werden trotz ihres Bezugs zur Herkunftsregion auch von ihnen Informationen und Unterstützung bei der Rückwanderung benötigt bzw. geschätzt. Informationen und Informationsmaterialien seien zwar zum Teil schon vorhanden, aber nicht immer leicht auffindbar, manchmal sind diese auch nur den Ortsansässigen bekannt, z. B. dass es einen eigenen Stromerzeuger im Ort gibt. Die von den RückwanderInnen geäußerten Bedarfe sind hauptsächlich gebündelte Informationen über das Angebot in der Region/Gemeinde, die notwendigen administrativen Schritte bei Zuzug sowie Zuständigkeiten, Öffnungszeiten und Ansprechpersonen. Lediglich vier der interviewten RückwanderInnen äußern keine Erwartungen bzw. wenig Informations- oder Unterstützungsbedarf durch die Gemeinde oder andere Stellen (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:31). Neben der Bereitstellung von Informationen werden konkrete Ansprechpersonen gewünscht, an die man sich bei Fragen im Zusammenhang mit dem Zuzug in die Gemeinde, aber auch beim Ankommen im Alltag wenden kann. Die Nennungen betreffen hier eine Ansprechperson in der Gemeinde, im Betrieb und/oder auch eine regionale Anlaufstelle für Zu- und RückwanderInnen. Von
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Anna Faustmann / Lydia Rössl / Isabella Skrivanek
den ZuwanderInnen wurden des Weiteren auch MentorInnen für Alltagsfragen und eine Infohotline als potenziell hilfreich vorgeschlagen (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:35f., 56). In einem oberösterreichischen Unternehmen wurden positive Erfahrungen etwa damit gemacht, neuen MitarbeiterInnen eine konkrete Ansprechperson für unterschiedlichste Belange zur Verfügung zu stellen: „Wir haben Personen, die die neuen Personen durchführen, zumeist die alten. Niemand muss sich alles selbst besorgen, jeder bekommt immer eine Person zur Hand gestellt, die alles macht. Meldezettel, Girokonto, Deutschkurs, … einfach alles. […] Ich denke, wenn ein Zuwanderer jemanden zur Hand bekommt, der ihm alles besorgt, dann wird das alles leichter.“ (P100:541–543)
Obwohl viele der interviewten ZuwanderInnen zwar die Bereitstellung von Informationen (auf Englisch) als wichtigen und hilfreichen ersten Schritt sehen, wird die Wichtigkeit direkter Ansprechpersonen immer wieder hervorgehoben. Vieles sei nicht selbstverständlich, sondern müsse erst gelernt werden oder erfordere deutlich mehr Zeit. Ein 43-jähriger indischer Zuwanderer drückt dies folgendermaßen aus: „We can search the internet, there is a book of Linz available. These are basic things […] but it would be great if there was sort of a real time or real life support that makes me feel a little bit more comfortable.“ (P25:85–87)
Ein 31-jähriger chinesischer Zuwanderer meinte dazu: „I think it is also when it comes to pension, when it comes to health care, when it really comes to understanding the system, if really there is somebody who is here who can really help you in these aspects. […] This is how the pension is working in Austria, this is how health care is in Austria, that would be perfect.“ (P3:226–230)
ZuwanderInnen sehen somit vorrangig Informations- und Beratungsbedarf zum österreichischen Pensions- und Gesundheitssystem, über Versicherungen, Steuern, Schulen, Freizeitaktivitäten für Kinder, Wohnungsmiete, Konsumentenschutz, Anerkennung von Qualifikationen und gemeindespezifische Fragen (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:56). Die Bandbreite der von den RückwanderInnen genannten Bedarfe umfasst sowohl „erste wesentliche Schritte“ wie (Unterstützung bei der) Wohnungssuche oder Behördengänge, Fragen der Freizeitangebote für Familien/Kinder, Unterstützung bei der Kindergartensuche, Einschulung, Empfehlungen für Handwerker und Ärzte, aber auch Beratung über Selbständigkeit und notwendige Schritte (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:35f.) Eine Rückwanderin nach Oberösterreich beschreibt umfassend gute Erfahrungen bei ihrer Niederlassung in der Gemeinde: „So wie wir da aufgenommen worden sind, es geht nicht besser. Es ist ein Wahnsinn, wie sie uns unterstützt haben. […] Sie haben uns in jeder Hinsicht unterstützt, […] sie
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haben uns keinen einzigen Stein in den Weg gelegt. Das ist ein Wahnsinn, wie das damals abgelaufen ist – es gibt kein negatives Wort.“ (P11:124–135)
Während RückwanderInnen vor allem Austauschmöglichkeiten als Gelegenheit zur sozialen Integration thematisieren, werden von ZuwanderInnen auch spezifische Informationsveranstaltungen gewünscht. Die Vorschläge der gewünschten Formate reichen von einmaligen Informationsveranstaltungen (z. B. „Willkommensworkshop“, „Infoworkshop“) über themenspezifische Workshops/Treffen bis zu regional verankerten regelmäßigen Treffen (etwa als „Stammtisch“) zur laufenden Begleitung. Letztere, wie eine Zuwanderin aus Kanada vorschlägt, könnten auch genutzt werden, um Verständnis zu schaffen und etwaige Missverständnisse aufzuklären, im Sinne von „How is it going? Do you guys have any questions? Have you experienced anything?“ (P15:256–264) Was die Umsetzung betrifft, besteht auch der Wunsch nach mehreren (bzw. wiederholten) Informationsveranstaltungen, damit die Möglichkeit zur Teilnahme besteht, wenn ein Termin versäumt wird (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:58). Sowohl Zu- als auch RückwanderInnen erachten organisierte Austausch- und Begegnungsmöglichkeiten als wichtige Unterstützung bei der sozialen Integration. Die interviewten RückwanderInnen verweisen dabei auf eigene Erfahrungen im Ausland, auf die Vorstellung, selbst in der Region ganz fremd zu sein, oder eigene Erfahrungen der Hemmnis als rückgekehrte/r „Neue/r“ (allein) wohin zu gehen, wie ein 71-jähriger Rückwanderer es darstellt: „Es gibt Angebote eigentlich, aber man geht nicht gleich dazu. Man fühlt sich weniger angesprochen, als wenn man eingeladen wird. Es wird explizit gesagt, da kommen andere neue auch.“ (P74:170)
Von den interviewten ZuwanderInnen werden die Möglichkeit, soziale Kontakte zu knüpfen, und die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch unter Gleichgesinnten zu ähnlichen Fragen/Problemen hervorgehoben. Zwei Aspekte sind ihnen dabei besonders wichtig: einerseits mit Ortsansässigen in Kontakt zu kommen, andererseits der Wunsch nach Angeboten vor Ort/in der Region. Die räumliche Distanz kann die Teilnahme erschweren und führt vielfach nicht zum Aufbau von sozialen Kontakten vor Ort. Ein 52-jähriger Brite meint dazu unter Bezugnahme auf die Angebote von welcome2upperaustria in Linz: „Da krieg ich regelmäßig auch Einladungen, wo die Expats aus verschiedenen Ländern einmal im Monat einladen zum Stammtisch, wo man sich untereinander austauscht und über Probleme reden [kann], das find ich auch eine gute Einrichtung. […] Wenn man das auch in der Region hätte, dann ist auch die Integration vielleicht ein bisschen leichter.“ (P19:107–109)
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Wie schon die Analyse der Motive für Zuzug und Niederlassung aufgezeigt hat, sind vielfach die Perspektiven für Familienangehörige bedeutsam. Das gilt auch in Bezug auf die Erwartungen an die regionale Bevölkerung und ihre Institutionen zur sozialen Integration der Familienmitglieder (mitgezogene Partner, Kinder). Ein indischer Zuwanderer meint dazu: „The difficult part is the weekend. I don’t have a single contact with whom I can talk openly face to face. […] Now since my family is going to come, I have more need to find contacts because otherwise they would feel really lonely.“ (P25:133–137)
Möglichkeiten für Begegnungs- und Austauschmöglichkeiten werden von Zuund RückwanderInnen im Freizeitbereich gesehen, insbesondere im sportlichen oder kulturellen Bereich (Verbände, Vereine). Konkrete Vorschläge sind organisierte Ausflüge und Veranstaltungen, bei denen (zum Teil) auch Ortsansässige eingebunden werden, wie organisierte Ausflüge in der Region, Exkursionen zu Freizeiteinrichtungen und Vereinen, fixe Treffen (z. B. als „Stammtisch“) und ein „internationales Netzwerk“ auf regionaler/lokaler Ebene, das leicht zu kontaktieren ist und sich regelmäßig trifft, ergänzt etwa um eine Facebook-Gruppe (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:37, 61).
2.3.
Herausforderungen und Chancen für die Integration
Die Erfahrungen der InterviewpartnerInnen bei ihrer Ankunft und Niederlassung sowie ihr jeweils erlebter Integrationsprozess zeigen verschiedene Herausforderungen wie auch Chancen für gelingende Integration auf. Dabei bestehen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Zu- und RückwanderInnen: RückwanderInnen sind im Gegensatz zu ZuwanderInnen nicht mit einem komplett neuen Umfeld konfrontiert, wenn sie sich für den Umzug entscheiden. Außerdem beherrschen sie die Sprache und den jeweiligen Dialekt und können auf bereits bestehende Kontakte zurückgreifen. Ein positives Rückkehr- und Integrationserlebnis wird primär durch die Familie, den Betrieb/Arbeitsplatz und das (soziale) Umfeld geprägt und zeigt sich in emotionaler Unterstützung, Hintergrundwissen über die Gemeinde und Region, beim Umzug (Wohnungssuche bzw. Hausbau), der Kinderbetreuung bis hin zur Vermittlung wesentlicher Kontakte zu Gemeindemitgliedern. Negative Erfahrungen werden von RückwanderInnen seltener berichtet als von ZuwanderInnen. Wiederkehrende Themen sind dabei die Suche nach geeignetem Wohnraum (insbesondere im Zusammenhang mit Mietwohnungen), mangelnde Offenheit gegenüber Neuzugezogenen (selbst wenn diese RückwanderInnen sind, sowie von „Fremden“) und Schwierigkeiten bei der Kinderbetreuung (fehlende Nachmittagsbetreuung,
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keine Betreuungsangebote für Kleinkinder) (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:27ff.). Eine Rückwanderin aus dem Mühlviertel erzählt: „Also das eine war das Umfeld, das sehr dafür gesprochen hat, meine Familie, die einfach da ist, und dass ich mich mit der Infrastruktur hier auskenne. Wenn ich auch vielleicht nach zwanzig Jahren nicht mehr genau weiß, wer jetzt der ist, aber vom Gesicht her kennt man den noch und man hat hier einfach keine Berührungsängste, weil man ist ja mit fast allen Leuten per du.“ (P33:32)
ZuwanderInnen stehen hingegen verschiedenen bürokratischen Erfordernissen und Sprachbarrieren beim Zuzug gegenüber und können seltener auf bestehende Kontakte vor Ort aufbauen. Wie auch bei RückwanderInnen können der Betrieb/KollegInnen wichtige Hilfestellungen und Unterstützung geben. ZuwanderInnen, aber auch RückwanderInnen betonen Herausforderungen und Chancen bei der Haltung der ansässigen Bevölkerung gegenüber Neuzugezogenen. Herausforderungen im Umgang und Kontakt mit Behörden stellen sich für ZuwanderInnen, während RückwanderInnen darauf kaum Bezug nehmen bzw. von verschiedenen Erfordernissen nicht betroffen sind. Einige der interviewten ZuwanderInnen erzählen von belastenden Erfahrungen mit Behörden, insbesondere der Fremdenpolizei und dem Sozialamt. Solche Erfahrungen werden hierbei von EU- und Nicht-EU-BürgerInnen berichtet. Ein hochqualifizierter US-Amerikaner schildert dies anschaulich: „So negative would be the highlight, was from the Polizei, they stood up there, really not helpful at all, not only not helpful but distractive. At one point I gave up, and I just wanted to get back home. And I had all of my important documents in my hand, and I have a lot of patience. And I had all of my documents in my hands, and I just, you know, give up. Because there were so many barricades for them in my way, to stay here, I was going to work for a nuclear medicine company, where I can put medicine to help cure a lot of cancer patients around Europe, and they don’t want me here. They rather not have the worker than to have me.“ (P28: 136)
Einige ZuwanderInnen beschreiben das Gefühl, „im Kreis geschickt worden zu sein“, andere fühlen sich schlecht beraten und empfinden die Situation als sehr belastend, wie es zum Beispiel ein zugewandertes Paar, sie mit ungarischer und er mit ungarischer und rumänischer Staatsbürgerschaft, beschreibt: „Naja und das war überhaupt nicht so einfach, weil wir eine Bestätigung von der Gebietskrankenkasse brauchen damit wir versichert sind. Aber die Gebietskrankenkasse wollte uns nicht versichern, weil ich keine Anmeldebestätigung habe. Aber das war wirklich ein Teufelskreis. Ich habe nicht die Anmeldebestätigung bekommen weil ich keine Gebietskrankenkassenbestätigung habe.“ (P71:153–155)
Deutlich mehr positive als negative Erfahrungen werden hingegen auf kleinräumiger Ebene der öffentlichen Verwaltung, wie etwa auf Gemeindeämtern,
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geschildert. Viele der interviewten ZuwanderInnen fühlen sich freundlich behandelt, haben das Gefühl, willkommen zu sein, und empfinden die Prozesse als relativ unkompliziert und die Beratung professionell (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:47). Ein interviewter Zuwanderer schildert seine positiven Erfahrungen mit den Behörden folgendermaßen: „Well I was, I mean to be fair, that was really good, the Bürgerservicecenter with the registration and so on that was in the end relatively easy. I mean you had to go from place to place whatever, getting into the process was a bit more difficult but the process itself and the interactions were quite good.“ (P16:239–242)
Für RückwanderInnen stellen tendenziell eher die neue Arbeit bzw. der neue Betrieb den Ankerpunkt für die Integration dar : Die berichteten Erfahrungen sind dabei durchgängig positiv und betreffen die Hilfsbereitschaft der neuen KollegInnen und Ansprechpersonen bei Problemen und Fragen, interkulturelle Offenheit, eine vorhandene Willkommenskultur und Angebote sozialer Events des Betriebs. Auch für viele der interviewten ZuwanderInnen sind die Kontakte, Informationen und Hilfestellungen vom Betrieb und ArbeitskollegInnen äußerst wertvoll, wobei die Art und das Ausmaß der Unterstützung unterschiedlich ausfallen. Ein 43-jähriger Neuseeländer berichtet: „I communicated with him [his superior] before I came here, I was asking a bit about what [the place] was like and he shared his perspective with me, kind of a small town. And also the secretaries there have been very helpful, sometimes they organised things like the Theaterpark, hotels just down there and also taking me to the BH, to the Fremdenpolizei and filling the paperwork that I needed.“ (P6:144)
Während RückwanderInnen vor allem von positiven Erfahrungen am neuen Arbeitsplatz berichten, hat ein Teil der interviewten ZuwanderInnen Schwierigkeiten, einen adäquaten und erreichbaren Arbeitsplatz zu finden. Der Kontakt mit dem AMS wird dabei positiv beschrieben, führt aber vor allem bei Personen mit höheren Qualifikationen kaum zu einem Arbeitsplatz. Auch thematisiert wird die Schwierigkeit, mit höherer Qualifikation, aber ohne umfassende Deutschkenntnisse, einen Arbeitsplatz zu finden. Ähnliches berichten Personen, die aufgrund von Flucht und nicht aufgrund von Arbeit nach Oberösterreich gekommen sind (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:44). Die Erwerbschancen der Personen (zumeist Frauen), die als Familienmitglieder nach Österreich gekommen sind, sind von strukturellen und individuellen Faktoren geprägt, die in Wechselwirkung miteinander stehen. Zu nennen sind insbesondere vorherrschende Geschlechterrollenbilder, familien- und sozialpolitische Maßnahmen, die eigene Migrationsgeschichte, mit dem rechtlichen Status zusammenhängende Einschränkungen des Arbeitsmarktzugangs, aber auch psychische Belastungen infolge von Ausgrenzungserfahrungen und prekären Lebenslagen (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2014:182). Empirische Be-
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funde zu den beruflichen Umzugsentscheidungen von Paaren zeigen dabei, dass eine Umzugsentscheidung vor allem dann ernsthaft in Erwägung gezogen wird, wenn beide Partner vergleichsweise gute Erwerbsoptionen haben. Dies bedeutet, dass für die längerfristige Niederlassung in der Region Erwerbsoptionen sowohl für Männer als auch für Frauen von zentraler Bedeutung sind. Bei traditionell orientierten Personen sind dabei Umzüge wahrscheinlicher, wenn das konkrete Stellenangebot an Männer ergeht (vgl. Auspurg, Frodermann und Hinz 2014:42ff.) Auch die Aneignung von Deutschkenntnissen zählt zu den Herausforderungen. Generell besteht bei den interviewten ZuwanderInnen ein großes Bemühen und Interesse, sich diese rasch anzueignen. Sprachliche Hürden ergeben sich für sie vor allem bei erst kurzer Aufenthaltsdauer. Als Probleme wurden die fehlende Möglichkeit/Bereitschaft bei Behörden, auf Englisch zu kommunizieren, genannt, das Verstehen von „Amtsdeutsch“ in behördlichen Schreiben sowie überwiegend auf Deutsch zu Verfügung stehenden Informationen (Online-Informationen, Broschüren etc.). Eine aus den USA zugewanderte Spanierin beschreibt ihre Probleme folgendermaßen: „When we arrived here I was in vacation and I was trying to register, because I know how to register, and there was no way to do it. I was not able, there was no one who spoke English. There are very few people here, public servants, people that work for the government, that they speak English, there are people that speak English but not everyone, and that’s very difficult. I can’t even fill a Formular.“ (P1:116)
Der gesellschaftliche Umgang mit Neuzugezogenen kommt in vielen der Interviews mit ZuwanderInnen zur Sprache (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:49f.). Sowohl („alte“ und „neue“) EU-BürgerInnen als auch außereuropäische ZuwanderInnen schildern eine distanzierte, teils misstrauische Haltung ihnen gegenüber. Eine 33-jährige US-amerikanische Zuwanderin erfuhr dies folgendermaßen: „I learned to wear an ,Austrian face‘ as well. For some people it took me a year to answer my friendly ,Guten Morgen‘. I often hear unfriendly comments about ,die Ausländer‘, even from neighbours and friends. They do not talk about me, I know, but I feel like a Ausländer because I am, and our children too.“ (P70:72–75)
Deutlich mehr der interviewten ZuwanderInnen erzählen von positiven Erfahrungen (20 % mit explizit negativen gegenüber 49 % mit explizit positiven Erfahrungen) wie Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Offenheit und dem Gefühl, gut aufgenommen worden zu sein. Es kommt aber auch Ambivalenz zum Ausdruck, wie die nachfolgende Schilderung eines 54-jährigen Briten zeigt: „I think it helps, that they can speak English, and it really helps with computers and internet. Most people speak a little bit of English, or are familiar with it. So I’ve never
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had any kind of problems being a foreigner in Austria at all. Never. I can’t think of a single example. If I was a different nationality maybe I don’t know, where I’ve worked, I had some friends from Bosnia or Serbia, or places like that and you know, people were not very friendly to them, but I’ve never experienced myself.“ (P29:170–172)
Ausgehend von einigen explizit positiven beschriebenen Integrationserfahrungen (12 Personen) im Zusammenhang mit Vereinen, der Freizeitgestaltung und in einigen Fällen auch durch die kirchliche Gemeinschaft, zeigen sich hier Chancen und Ansatzpunkte für die soziale Integration. Generell sprachen RückwanderInnen öfter von Vereinen als Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung und um Anschluss zu finden. Ein Zuwanderer aus Brasilien erklärt die Bedeutung eines Sportvereins für das Erlernen der deutschen Sprache: „Weil ich viel Kontakt mit Österreichern habe und das ist von Vorteil. Wir sitzen nach dem Training, nach dem Spiel, zusammen. Ich habe einen Deutschkurs besucht und wir waren, keine Ahnung, 20 Leute von verschiedenen Nationen und viele Leute haben super geschrieben, waren da viel besser als ich, aber ich konnte besser kommunizieren. Die haben nie die Möglichkeit zu sprechen.“ (P31:109)
Diese Einschätzungen weisen auf ein Potenzial hin, das stärker genutzt werden könnte. Die Vorschläge von Zu- und RückwanderInnen, die sich darauf beziehen, ähneln sich, wobei vorrangig Informationen über die Vereine, ihre Angebote und Möglichkeiten, mit den Vereinen niederschwellig in Kontakt zu kommen, als hilfreich genannt wurden (vgl. Faustmann, Rössl und Skrivanek 2016:33, 47f., 54).
3.
Schlussfolgerungen und Möglichkeiten der Übertragbarkeit
Die im vorliegenden Beitrag dargestellten Inhalte zeigen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene, dass für Oberösterreich die Herausforderung besteht, die Bevölkerung trotz guter Wirtschaftsentwicklung in der Region zu halten bzw. als Region für Zu- und RückwanderInnen attraktiv zu sein. Dahingegen demonstrieren die Wanderungsmotive, Erfahrungen und Erwartungen der 101 interviewten Zu- und RückwanderInnen auf individueller und kleinräumiger Ebene, dass ländliche Regionen ein attraktiver Arbeits- und Lebensraum sein können und einzelne Gemeinden, Betriebe, Vereine und regionale Initiativen vielfältige Angebote und Aktivitäten zur Förderung einer Willkommens- und Offenheitskultur umsetzen. Der Vergleich der individuellen Erfahrungen von Zu- und RückwanderInnen mit der institutionellen Perspektive von VertreterInnen von Gemeinden, Behörden, Betrieben verdeutlicht dabei, dass es zwar eine Vielzahl von Informations- und Unterstützungsangeboten gibt, diese aber nicht immer bekannt sind
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bzw. die Zielgruppe teils zufällig erreichen oder regional begrenzt sind (z. B. auf den Großraum Linz). Eine Ergänzung und systematische Zusammenführung dieser bereits vorhandenen (themenspezifischen) Angebote wird daher als sehr hilfreich angesehen. Neben Informations- und Unterstützungsangeboten sind es die Rahmenbedingungen des Wohnorts und des Arbeitsplatzes sowie Möglichkeiten zur sozialen Integration, die eine Region attraktiv machen. Konkrete Maßnahmen umfassen dabei etwa die folgenden: Integriertes mehrsprachiges Informationsmanagement: Informationen zu zentralen Bereichen der Integration sind vielfach bereits verfügbar, allerdings oft unvollständig, unstrukturiert oder nur in deutscher Sprache vorhanden. Bedarf besteht an einem integrierten, zielgruppenspezifischen Informationsmanagement, das sowohl einen Leitfaden mit den wichtigsten administrativen Schritten umfasst als auch Informationen verschiedener Stellen in einem leicht auffindbaren und nachvollziehbaren Format bündelt und mehrsprachig (und leicht auffindbar) anbietet. Ansprechpersonen und Schnittstellen: ZuwanderInnen, aber auch RückwanderInnen, sehen in der Möglichkeit, eine direkte Ansprechperson kontaktieren zu können, eine wichtige Unterstützung. Dies trägt wesentlich zur umfangreichen Beratung bei. In Betrieben und Vereinen übernehmen vielfach Einzelpersonen diese Schlüsselfunktion, häufig auch informell. Bedarf zeigt sich bei der Erarbeitung gemeinsamer Zielsetzungen und dem Ausbau bzw. der Schaffung von Schnittstellen zwischen Behörden, insbesondere aber auch zu Gemeinden, Betrieben und Vereinen. Eine interkulturelle Öffnung, Diversitätskompetenz und große Kommunikationsbereitschaft von allen Seiten bilden hierfür eine Voraussetzung. Betriebe als Integrationsakteure – Stärkung und Förderung von betrieblichen Willkommensmaßnahmen: Viele RückwanderInnen und etwa ein Drittel der interviewten ZuwanderInnen berichten von hilfreicher Information und Unterstützung durch den Betrieb bzw. ArbeitskollegInnen. Maßnahmen zur Stärkung und Förderung betrieblicher Integrationsangebote können somit ein wichtiges Element für eine rasche soziale Eingliederung der zu- bzw. rückgewanderten Arbeitskräfte sein und zur Attraktivität der Region und ihrer Arbeitsplätze beitragen, etwa durch Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung über die Bedeutung solcher betrieblichen Angebote und zur Förderung von Kooperationen zwischen (kleinen) Betrieben sowie zwischen Betrieben und Gemeinden. Vereine als Integrationsakteure – proaktive Einbindung von Zu- und RückwanderInnen in Freizeit- und Kulturangebote: Strukturierte Vernetzungs- und Austauschmöglichkeiten untereinander, aber auch mit Ortsansässigen werden von Zu- wie auch von RückwanderInnen wiederholt als sehr bedeutsam für die soziale Integration hervorgestrichen. Die Beibehaltung bzw. die Schaffung eines kontinuierlichen Angebots vor allem auch auf kleinräumiger Ebene wird ge-
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wünscht. Die Einbindung in regionale Freizeit- und Kulturangebote – zum Beispiel durch Vereine – kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten, auch um Neuzugezogene und Ortsansässige miteinander in Kontakt zu bringen und etwaige Berührungsängste und Vorurteile abzubauen. Adäquate Wohnraumangebote: Einen geeigneten Wohnraum zu finden, stellt meist eine der ersten Herausforderungen nach der erfolgreichen Arbeitssuche dar, wobei die Bedürfnisse hier je nach Lebenssituation sehr individuell sind und von Hausbau, Häusern für Familien mit Garten bis zu Wohnungen für Alleinstehende reichen. Geeigneten und bedürfnisorientierten Wohnraum zeitgerecht zur Verfügung zu stellen, ist für manche Gemeinden eine große Herausforderung, der oftmals nur durch gemeindeübergreifende Kooperationen begegnet werden kann. Regionale Gesamtmarketingstrategie: Zu- und RückwanderInnen betonen vielfach die hohe Lebensqualität in Oberösterreich und regen an, diese attraktiven Lebensbedingungen auch in der Außendarstellung stärker zu betonen. Als relevante Aspekte werden dabei die oft sehr vielfältigen Freizeitmöglichkeiten in den einzelnen Gemeinden/Regionen sowie die regionalen Arbeitsmöglichkeiten (beginnend mit Praktika für junge Erwachsene schon während der Ausbildung) genannt. Wesentlich scheint hierbei die Entwicklung und Umsetzung einer gezielten Gesamtmarketingstrategie, die die Angebote der Region bündelt und damit ihre Attraktivität stärker betont und sichtbar macht. Aktive Standortpolitik: So wie für die ansässige Bevölkerung in ländlichen Regionen sind für Zu- und RückwanderInnen die regionalen Arbeitsmöglichkeiten und die regionale/lokale Infrastruktur zentral, um sich dauerhaft niederzulassen. Wichtige Themen in den Interviews mit Zu- und RückwanderInnen sind die beruflichen Möglichkeiten vor Ort (Schaffung von Arbeitsplätzen durch Betriebsansiedelungen wie auch Unterstützung bei der Selbständigkeit), die Verkehrsinfrastruktur (Verkehrsanbindung und öffentlicher Verkehr) sowie die soziale Infrastruktur, insbesondere das verfügbare Kinderbetreuungsangebot. Sie unterstreichen die Bedeutung einer aktiven Standortpolitik und Regionalentwicklung. Aus einer Gleichstellungsperspektive sind dabei auch Maßnahmen zur Eingliederung von Frauen in den Arbeitsmarkt bedeutsam, wenn diese als Familienmitglieder in die Region mitziehen und ihre eigenen Erwerbschancen (vorerst) nicht umsetzen können. Offenheit der Gesellschaft gegenüber Zu- und RückwanderInnen proaktiv fördern: Sowohl die Erfahrungen der befragten Zu- und RückwanderInnen als auch der ExpertInnen haben gezeigt, dass es in alltäglichen Situationen oftmals zu Missverständnissen kommt, die zum Teil sprachlicher und kultureller Natur sind, zum Teil aber auch einer zurückhaltenden Einstellung der ,Einheimischen‘ gegenüber Zu- oder RückwanderInnen zuzuschreiben sind. Ausdruck findet dies in einer mangelnden Offenheit gegenüber Zu- und RückwanderInnen, die
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teilweise auch als Unhöflichkeit empfunden wird. Bedarf zeigt sich bei der proaktiven Förderung einer offenen und freundlichen Einstellung gegenüber Zugezogenen. Eine derartige Haltung sollte sich im Sinne einer Willkommenskultur auf Verwaltungs-, Gemeinde-, Vereins-, Betriebs- sowie Bevölkerungsebene spiegeln. Konkret geht es hier um bewusstseinsbildende Maßnahmen, die Neugierde, Offenheit und Empathie fördern und dadurch Vorurteile und Stereotype gegenüber Zu- und RückwanderInnen abbauen. Insbesondere ist es bedeutsam, Migration in einem wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Kontext für die oberösterreichischen Regionen in den Vordergrund zu stellen und Ängste abzubauen. Die erfolgreiche Umsetzung der oben genannten Empfehlungen erfordert Kooperation auf verschiedensten Ebenen, insbesondere auf Verwaltungsebene, kommunaler Ebene, Unternehmensebene, Vereinsebene, aber auch auf Ebene der Zivilgesellschaft. Um der Entstehung von Doppelgleisigkeiten vorzubeugen, sollte den verschiedenen Kooperationsaktivitäten ein umfassender Abstimmungsprozess vorangehen, bei dem alle AkteurInnen im Bereich der Integration von Zu- und RückwanderInnen eingebunden werden und sich beteiligen. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft zur und proaktive Förderung von Schnittstellenarbeit auf politischer Ebene. Die umfassende und nachhaltige Vernetzung der unterschiedlichen AkteurInnen bietet eine Vielzahl an Potenzialen zur Verbesserung der Integration von Zu- und RückwanderInnen in den oberösterreichischen Regionen und kann damit nachhaltig zur Attraktivität Oberösterreichs als Lebens- und Arbeitsraum beitragen.
Literatur Auspurg, Katrin/Frodermann, Corinna/Hinz, Thomas 2014: ,Berufliche Umzugsentscheidungen in Partnerschaften. Eine experimentelle Prüfung von Verhandlungstheorie, Frame-Selektion und Low-Cost-These‘, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 66, no. 1, 21–50. Biffl, Gudrun/Berger, Johannes/Schuh, Ulrich/Skrivanek, Isabella/Strohner, Ludwig 2015: Volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Kalkulationen zur wirtschafts- und arbeitsmarktbezogenen Zu- und Rückwanderung in Oberösterreich. Studie finanziert von der Regionalmanagement Oberösterreich GmbH. Schriftenreihe Migration und Globalisierung, Krems (Edition Donau-Universität Krems). Faustmann, Anna/Rössl, Lydia/Skrivanek, Isabella 2014: ,Die Erwerbsintegration von Migrantinnen in der ländlichen Steiermark‘, in Manuela Larcher/Theresia Oedl-Wieser/ Mathilde Schmitt/ Gertraud Seiser (Hg.): Frauen am Land. Potentiale und Perspektiven, Innsbruck, Wien, Bozen, 173–185. Faustmann, Anna/Rössl, Lydia/Skrivanek, Isabella 2016: Einflussfaktoren auf die regionale Integration von ZuwanderInnen und RückkehrerInnen. Studie finanziert von der Re-
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Angelika Frühwirth / Ana Mijic´
An die Grenzen des Selbst. Identität und Diaspora „In einem Paralleluniversum bin ich auf Weltreise.“ (Gugic´ 2015:97)
I.
Einleitung
Olja Alvir – „Journalistin, Jugosˇlawienerin, Jungautorin“ (www.olja.at) – veröffentlichte im Januar 2016 ihren Debütroman Kein Meer. Zu Beginn desselben diagnostiziert ihre Protagonistin Lara Voljic: „Ich bin zu jung, um das Recht zu haben, vom Krieg traumatisiert zu sein. Und ich bin zu alt, um nichts mehr davon zu wissen, nichts mehr damit zu tun haben zu wollen“ (Alvir 2016:8). Diese Feststellung ist in einer zeitlichen Dimension angesiedelt, könnte aber durch eine soziale und räumliche Dimension ergänzt werden (vgl. Schütz und Luckmann 2003): Ich bin/war den Ereignissen (sozial und räumlich) zu fern, als dass ich vom Krieg traumatisiert sein könnte. Andererseits bin/war ich den Ereignissen (sozial und räumlich) zu nah, als dass ich mein Leben und meine Identität vom Krieg abkoppeln könnte. Vereinfacht gesagt: Lara hinterfragt die Grenzen ihrer Lebenswelt, die durch Krieg und Migration geprägt wurden; was liegt innerhalb bzw. außerhalb dieser Grenzen? Was kann bzw. darf sie von ihrer individuellen Biographie abgrenzen? Und was muss sie auch weiterhin als Teil ihrer selbst begreifen? Im Rahmen eines aktuell an der Universität Wien angesiedelten soziologischen Forschungsprojekts beschäftigt sich Ana Mijic´ mit ähnlichen Fragestellungen. Dabei beleuchtet sie im Speziellen die Selbstbilder der in Wien lebenden bosnischen Diaspora. Es wird von der Annahme ausgegangen, dass Krieg, Nachkrieg und Migration einen sehr spezifischen Erfahrungsraum darstellen, innerhalb dessen Identitäten und Selbstbilder entworfen werden. Der forschungsleitenden Annahme zufolge vereinen diese Selbstbilder aufgrund der gemachten Erfahrungen Nationalismus und Kosmopolitismus in sich. Sie oszillieren zwischen der Aufrechterhaltung ethnischer oder nationaler Grenzziehungen auf der einen und der Transzendenz dieser Grenzen auf der anderen Seite. Die nationalistische Komponente verdankt sich der direkten oder indi-
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Angelika Frühwirth / Ana Mijic´
rekten Kriegserfahrung, denn im Zuge der kriegerischen Auseinandersetzungen entlang ethnischer Grenzen im ehemaligen Jugoslawien kam es zu einer nachhaltigen Reduktion der Identität auf die ethnische Zugehörigkeit und von der „Fiktion einer ,reinen‘ ethnischen Identität“ (Ignatieff 1996:33) konnte sich bald kaum mehr jemand befreien. „Ethnic Cleansing“, so die Anthropologin Katherine Verdery treffend, „does not mean only that people of the ,other‘ group are being exterminated: it also means the extermination of alternative identity choices“ (Verdery 1994:38). An diesem Sachverhalt hat sich in Bosnien-Herzegowina bis in die Gegenwart hinein nicht wesentlich viel verändert; seit mehr als 20 Jahren befindet sich das Land im Zustand des Nachkriegs, der geprägt ist durch eine anhaltende Dominanz der ethnischen Schließung (Mijic´ 2014). Auch die im Ausland lebenden Menschen können sich dieser Dominanz – Benedict Anderson prägte hier den Begriff des long-distance nationalism – oft kaum entziehen (Anderson 1994). Sie sind jedoch, darüber hinaus, auch gezwungen, ihre direkte oder indirekte Migrationserfahrung zu verarbeiten. Wie gehen diese Menschen mit Wissenskrisen um, die durch sich möglicherweise widersprechende Realitätskonzepte hervorgerufen werden? Und welche Auswirkungen haben diese Disruptionen auf die Selbstbilder dieser Menschen? Im Rahmen des erwähnten Projekts sollen diese Identitäten mittels einer objektiv-hermeneutischen Analyse von Interviews mit in Wien lebenden Menschen bosnischer Herkunft entziffert werden (Oevermann 2002). Mit dem Ziel, diesen rein soziologischen Blickwinkel auf die Thematik aufzuweiten, richten wir im folgenden Beitrag unseren Blick auf zwei von Wiener Autorinnen mit „jugoslawischem“ Bezug verfasste Romane, für deren Analyse wir das Instrumentarium der Literaturwissenschaften anwenden. Evidenterweise lassen sich die Ergebnisse einer solchen literaturwissenschaftlichen Untersuchung belletristischer Texte nicht gleichstellen mit den Resultaten einer objektiv-hermeneutischen Rekonstruktion von Interviews oder anderen nonfiktionalen lebensweltlichen „Protokollen“ (Oevermann 2002:3–5). Selbst in Texten mit einem hohen autobiographischen Anteil sind soziale Gegebenheiten sowie individuelle Erfahrungen in jedem Fall künstlerisch verarbeitet und reflektiert. Oevermann zufolge bildet ein literarischer Text „nämlich nicht irgendein alltagspraktisches Handeln ab, sondern stellt die methodisch kontrolliert erzeugte Objektivation eines künstlerischen Handelns dar“ (Oevermann 1990:246). Hat man sich darüber einmal Klarheit verschafft, spreche, so Oevermann, nichts dagegen, auch literarische Texte objektiv hermeneutisch auszulegen.1 Wir haben uns im vorliegenden Fall gegen eine hermeneutische Vor1 In dem hier zitierten Text wendet sich Oevermann der „Exemplarische[n] Analyse eines Gedichts von Rudolf Alexander Schröder mit dem Verfahren der objektiven Hermeneutik“ zu (Oevermann 1990).
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gehensweise entschieden. Unseres Erachtens birgt auch eine literaturwissenschaftlich inspirierte Auslegung der Texte für die Soziologie einen Mehrwert, denn sie trägt zu einer Erweiterung der genuin soziologischen Erkenntnismöglichkeiten bei. Mit den Soziologen Kuzmics und Mozeticˇ (2003a; 2003b) lässt sich etwa argumentieren: „Die Differenz zwischen dem Fiktiven und dem Faktischen postmodernistisch-konstruktivistisch oder sonst wie völlig zu verwischen, halten wir für einen Irrweg […] Wir plädieren daher – nicht für eine Ersetzung von Soziologie durch Literatur, sehr wohl aber – für eine Soziologie, die in ihren Perspektiven, Kategorisierungen und Methoden so angelegt ist, daß sie eine bestimmte Art von Literaturanalyse als fruchtbare Bereicherung zu integrieren vermag“ (Kuzmics und Mozeticˇ 2003a 7f.). Im konkreten Fall lässt die Erforschung der bewussten oder unbewussten Reflexionen über Erfahrenes eine zusätzliche Ebene in die Erforschung diasporischer Nachkriegsidentitäten einfließen. Denn im Gegensatz zu den in der empirischen Analyse untersuchten Narrativen lebensweltlicher „Protokolle“, die zur identitären Verortung der Sprecherin/des Sprechers beitragen, sind die literarischen Narrative im uns konkret vorliegenden Fall als Kontrastfolie einer durch Migration geprägten Wirklichkeit zu lesen: Mit einem für gesellschaftliche Dynamiken empfindlichen Blick verhandeln die Autorinnen Prozesse der Identitätsbildung multidimensional und zeigen, wie Mechanismen der Verortung funktionieren oder scheitern können. Der Identifikationsfaktor für die Autorinnen selbst liegt dabei nicht im Erzählten (histoire), sondern vielmehr im Erzählenden (discours), d. h. im kreativen Akt des Schreibens bzw. im „Wie des Erzählens“. Daran lässt sich auch die Wichtigkeit des Faktors Sprache (Ausdruck) und sprachlicher Konstruktion im Kontext der Identitätsbildung von AutorInnen festmachen. Literarische Imaginationen sind sich ihrer Fiktionalität bewusst und hegen keinen Anspruch auf Wirklichkeit, sehr wohl aber auf eine Wahrheit, die der behandelten Thematik innewohnt und die wir im Folgenden parallel zu theoretischen Positionen zum „Dazwischensein“ analytisch zu ergründen suchen. Gerade im Anfangsstadium eines qualitativ verfahrenden und rekonstruktiv angelegten soziologischen Forschungsprojekts können eine solche Analyse und der damit einhergehende interdisziplinäre Dialog zwischen Literaturwissenschaft und Soziologie helfen, den Fokus zu öffnen und losgelöster von spezifisch soziologischen Thesen über das zu beforschende Phänomen an die Untersuchung des Datenmaterials heranzutreten. Dieser Dialog wird im vorliegenden Fall auch dadurch befördert, dass sich Angelika Frühwirth im Rahmen ihrer literaturwissenschaftlichen Forschung mit strukturell ähnlich gelagerten empirischen Phänomen beschäftigt hat: Ihrer Dissertation (Frühwirth 2016) liegt als Ausgangsmaterial die Textproduktion iranischer Autorinnen zugrunde, die ihre „Heimat“ im Zuge der Revolution des Jahres 1979 verlassen mussten. Die ausgewählten Autorinnen haben die Verle-
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gung ihres Lebensmittelpunkts in ein europäisches Land (Frankreich bzw. England) gemeinsam. Die Untersuchung der Werke zielt im Speziellen darauf ab, narrative Strukturen und Topoi zu erforschen, die ursächlich, jedoch nicht ausschließlich, mit der Exilerfahrung der Autorinnen in Zusammenhang zu bringen sind. Unter dem Gesichtspunkt, dass der Schaffensraum innerhalb des Exils aufgrund der Koexistenz und/oder Kollision unterschiedlicher Referenzräume von erhöhter Dynamik durchzogen sei, bemüht sich Angelika Frühwirth um die Entwicklung einer literarischen Exiltheorie unter Berücksichtigung der Theorien von Autoren bzw. Denkern, die sich des Phänomens der kulturellen Über-Setzung angenommen haben: Edward Said (1996; 2000; 2002), Salman Rushdie (2010), Homi Bhabha (1990; 1998; 2000), Jurij Lotman (2010a; 2010b), Mahmoud Darwich (2000), Pdouard Glissant (2009) etc. Im Mittelpunkt des folgenden Beitrags steht die Analyse zweier Romandebüts: Olja Alvirs eingangs erwähntes Kein Meer (2016) und Sandra Gugic´s Astronauten (2015). Die Untersuchung beschränkt sich bewusst auf diese beiden Werke, obwohl eine Reihe anderer AutorInnen, darunter Denis Mikan (2002) und Ana Tajder (2012), in die Fokusgruppe dieser Analyse fallen würden. Zum einen deshalb, weil sich die Auseinandersetzung mit der Thematik Migration insbesondere in den Werken von Alvir und Gugic´ vielschichtig präsentiert. Und zum anderen, da die beiden Romane vergleichbare Dimensionen beinhalten. Beide Autorinnen wurden noch zur Zeit des sozialistischen Jugoslawien geboren. Allerdings mit dem Unterschied, dass Olja Alvir (geb. 1989) nach Ausbruch des Krieges mit ihrer Familie nach Wien geflohen ist, während Sandra Gugic´ (geb. 1976) als Kind eines sogenannten GastarbeiterInnen-Paares in Wien zur Welt gekommen und aufgewachsen ist. Ihre Eltern stammen beide aus dem heutigen Serbien. Nach einem kurzen Abriss zu Inhalt und Erzählstruktur der beiden Werke (vgl. II.) richten wir unseren Fokus auf die literaturwissenschaftliche Interpretation diasporischer Identitäten. Es wird zu zeigen sein, dass sich in beiden Werken das Dazwischensein in vielerlei Hinsicht als zentrale identitäre Herausforderung darstellt (vgl. III.1): Die Autorinnen schreiben sich ein zwischen Herkunft und Ankunft, zwischen Zugehörigkeit und Entfremdung, zwischen Öffnung und Schließung. In beiden Texten nimmt dabei Körperlichkeit einen besonderen Stellenwert ein. Beide Autorinnen beschreiben die Haut als wichtigste Berührungsfläche zwischen Selbst und Umwelt. In ihrer Qualität als semipermeable Membran kann sie sowohl als Medium der Grenzziehung als auch der Entgrenzung, als Atmungs- wie auch als Erstickungsorgan, fungieren. Unter Berücksichtigung einiger Erkenntnisse aus der feministischen Theorie (Ahmed 2000; Ahmed und Stacey 2001) konzentrieren wir die Analyse (vgl. III.2 und III.3) auf diesen Aspekt der Körperlichkeit.
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II.
Werkschau
II.1.
Olja Alvir: Kein Meer (2016)
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Die Protagonistin in Olja Alvirs Kein Meer ist die junge Studentin Lara Voljic´. Während des Jugoslawienkrieges ist sie als Kind gemeinsam mit ihren Eltern nach Wien geflüchtet. Fragen nach ihrer Herkunft begegnet sie in der Regel mit einer Gegenfrage: „Bugojno, Zentralbosnien?“ (Alvir 2016:7f.) Als würde sie nicht nur das geographische Wissen ihres Gegenübers, sondern auch ihre eigene Lebensgeschichte abfragen. Besonders deutlich geht ihre Unsicherheit hinsichtlich eines biographischen Narrativs aus der anfangs zitierten Passage hervor, in der sie ihren Bezug zum Jugoslawienkrieg in Worte zu fassen sucht. Um sich ihrer eigenen Identität klarer zu werden, stellt Lara Untersuchungen zur Familiengeschichte an, die zum roten Faden der Erzählung werden. Insbesondere stehen dabei für sie Fragen zum angeblichen Heldentod ihres Onkels Ivan im Mittelpunkt, der während des Bosnienkrieges ums Leben gekommen ist. Mithilfe des Tagebuchs ihres Großvaters, der Interviews mit Verwandten und der Informationen, deren sie in öffentlichen Archiven habhaft wird, unternimmt Lara Reisen durch Raum und Zeit. Die Erzählung dieser Recherche umfasst drei Hauptkapitel, die drei Nationen zugeordnet sind: Österreich, Kroatien und Bosnien. Die Kapitelgrenzen, die also gleichzeitig Nationalgrenzen darstellen, werden von der Protagonistin gedanklich und räumlich aufgebrochen. Strukturell schreibt sich Laras (ideelle sowie reale) Beweglichkeit direkt in den Text ein: Der Roman ist als Collage verschiedener Textsorten mit jeweils unterschiedlichen Vermittlungslevels und Erzählperspektiven konzipiert: Neben Rezensionen stehen kurze szenische Einschübe, historische Archivbeiträge oder auch Tagebuch- und Blogeinträge. Vor allem auf Letztere wird im Zuge der Analyse noch genauer eingegangen werden. Der Erzählrhythmus ist daher aufgewühlt und bildet eine Dynamik ab, die dem Prozess identitärer Verortung innewohnt und am Leser/an der Leserin nicht spurlos vorübergeht: Er/Sie nimmt abwechselnd die Rolle eines direkt oder indirekt angesprochenen Zuhörers, eines Verbündeten, eines Voyeurs etc. ein. Durch den ständigen Wechsel der Erzählperspektive ist der Leser/die Leserin herausgefordert, sich immer wieder von Neuem auf unterschiedliche Grade von Nähe und Distanz zum erzählten Ereignis einzulassen, und findet sich schließlich mit dem Zweifel an der eigenen Verortung konfrontiert. Dies nicht zuletzt, als Lara verkündet: „Bloß sollte eins sich nicht zu viel mit den eigenen Genen beschäftigen, und schnell kommt man auf die Idee, etwas Besonderes zu sein. Wer nach seinen Wurzeln fragt, begreift sich als Frisur“ (ebd. 40).
260 II.2.
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Sandra Gugic´ : Astronauten (2015)
Sandra Gugic´s Astronauten ist ein profanes Triptychon, das die Lebensgeschichten von sechs Charakteren miteinander verknüpft. Dabei ist die launenhafte Mara die einzige weibliche Hauptfigur, die durch ihr angeborenes Mal im Auge (Kolobom) aus der Sechserkonstellation hervorsticht. Ihre Geschichte ist durch mehr oder weniger intensive Verbindungen mit den anderen fünf Hauptfiguren verknüpft: mit dem jugendlichen Darko; mit dessen Vater Alen, der als Taxifahrer und gescheiterter Autor auftritt; mit Darkos rebellischem Freund Zeno; mit Alex, dem Drogenabhängigen aus „guter Familie“; und mit dem Polizisten Niko. Alle sind sie Menschen, in denen etwas „kaputtgegangen ist“ (Gugic´ 2015:46). Die einzelnen Charaktere bewegen sich in den jeweils für sie vorgesehenen Kapiteln, in denen sie aus der Ich-Perspektive ihre Welt erzählen. Daraus ergibt sich ein Nebeneinander unterschiedlicher Weltsichten (unterschiedlichen „Inder-Welt-Seins“), das in der Zusammenschau multiperspektivisch die Thematik der Entwurzelung beleuchtet. Dabei entzieht sich die als Figurenpanorama angelegte Erzählung einer linearen oder gar eindeutigen Entschlüsselung. Dieser Umstand spiegelt sich auch in den Einzelteilen der Erzählung wider. So stößt etwa Mara beim Versuch, den Selbstmord ihres Vaters aufzuklären, an die Grenzen des Verstehens. Sie beschreibt den Tatbestand als „Polyptychon aus Mutter, Vater, Kind, Gewehr, das sich unendlich auffächert. Es ist unmöglich, das ganze Bild zu begreifen“ (ebd. 156). Eines der von Maras Mutter gemalten Bilder trägt den Titel „Polyptychon mit der unwirklichen Atmosphäre einer Mondlandschaft“ (ebd. 41), worin wiederum ein Verweis auf den gesamten Erzählkosmos des Romans steckt. Gugic´s Charaktere sind Gestrandete in einer namenlosen Stadt (ebd. 16), einer Stadt zwischen irgend- und nirgendwo. Deren Zukunft ist ungeschrieben, die Vergangenheit verloren, sie schweben wie Astronauten im Weltall. Sogar Gott wird in Gugic´s Romandebüt als Astronaut (ebd. 7) bezeichnet, wie der Eingangssatz des Romans verrät. Die Verbindungen zwischen den sechs Charakteren sind so lose wie die eines Astronauten zu seinem Mutterschiff. Sie scheinen, so Alens Urteil „… nicht mehr als ein Zufall [zu sein], ich glaube, wir waren nur gleichzeitig am falschen Ort zur falschen Zeit. Freundschaft ist vielleicht grundsätzlich nur eine Frage von Zufall, Gewohnheit und Trägheit“ (ebd. 35). Überhaupt spielt Zufall eine große Rolle für die Existenzen von Gugic´s Charakteren. Willkürlich ihrem Kontext entrissene Fragmente sind scheinbar zu Lebensgeschichten zusammengesetzt, in denen nicht nur Freundschaft, sondern auch familiäre Zugehörigkeit über den Zufall nicht hinauswachsen. Parameter von Herkunft, Tradition und Genealogie sind verloren: Der Erzählkörper des Romans, das Triptychon, ist seines sakralen Charakters enthoben: Jesus „bau-
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melt am Rückspiegel“ (ebd. 164) im Auto von Darkos Großeltern. Er kann keine Antworten mehr geben, sondern dient lediglich als Versatzstück einer verloren gegangenen religiösen Tradition. Und Darko, dessen Geschichte sowohl Eröffnungs- als auch Endkapitel einnimmt, ist weit davon entfernt, auf die Existenz einer allumfassenden und reglementierenden Instanz (alpha-omega) zu verweisen. Ganz im Gegenteil, er scheint viel eher in einer Endlosschleife gefangen zu sein, die, kaum zu Ende, wieder am Anfang beginnt. Die Schwerelosigkeit der Astronauten verspricht daher statt Freiheit Gefangenschaft, in der jedes Fortkommen unmöglich erscheint.
III.
Analyse
III.1. Herausforderungen des „Dazwischen“ Beide Romane fokussieren auf eine durch Entwurzelung geprägte Suche nach Identität. Diese subjektiv empfundene Entwurzelung ist die Konsequenz einer direkten oder indirekten Migrationserfahrung, aber auch das Ergebnis der Flucht vor sozialen Erwartungen. Alvirs und Gugic´s ProtagonistInnen finden sich in offenen Räumen wieder, in denen es keine vorgefertigten Antworten auf die mehr oder weniger existenziellen (und oft auch vorgefertigten) gesellschaftlichen Fragen gibt. Wie auch theoretische Texte nahelegen, birgt diese Offenheit Risiken und Chancen gleichermaßen (vgl. z. B. Park 1928; Park 1950; Bhabha 2000; Said 2002; Schütz 1972a). In der klassischen Soziologie war es zuerst Robert E. Park, der sich mit dem Phänomen des Dazwischenseins beschäftigt hat. Im Anschluss an Georg Simmels Figur des Fremden (Simmel 1992) entwickelt er den marginal man, einen durch Mobilität entstandenen Persönlichkeitstypus: „a cultural hybrid, a man living and sharing intimately in the cultural life and traditions of two distinct peoples; never quite willing to break, even if he were permitted to do so, with his past and his traditions, and not quite accepted […] in the new society in which he not sought to find a place […] a man on the margin of two cultures and two societies, which never completely interpenetrated and fused“ (Park 1928:892). Diese Lokalisierung im Dazwischen ist mit existenziellen Krisen verbunden: Das Alte kann nicht gänzlich abgelegt, das Neue nicht bedingungslos angenommen werden. Die „Zivilisations- und Kulturmuster“ der Ankunftsgesellschaft sind, so auch Alfred Schütz in seinem Exkurs über den Fremden, „kein Schutz, sondern ein Feld des Abenteuers, keine Selbstverständlichkeit, sondern ein fragwürdiges Untersuchungsthema, kein Mittel, um problematische Situationen zu analysieren, sondern eine problematische Situation selbst“ (Schütz 1972a:67). Anpassungen können zwar stattfinden, jedoch nie vollumfänglich sein. Auf der Grenze
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verbleibend leide der marginal man unter „spiritual instability, intensified selfconsciousness, restlessness and malaise“ (Park 1928:893). Gleichzeitig befreie die transzendierende Positionierung im Zwischenraum aber auch von sozialen Zwängen und befähige zur kritischen Distanzierung und intensiveren Reflexion:2 „The marginal man is a personality type that arises at a time and place where […] new societies, new peoples and cultures are coming into existence. The fate which condemns him to live, at the same time, in two worlds is the same which compels him to assume […] the role of a cosmopolitan and a stranger“ (Park 1950:375). Es ist vor allem diese positive Konnotation des Dazwischenseins, die von Homi K. Bhabha hervorgehoben wird. Das Dazwischen wird als „dritter Raum“ verstanden, der eine objektive Wahrnehmungsperspektive privilegiert: „Im Bereich des darüber Hinauszugehenden zu sein heißt also, […] einen Zwischenraum zu bewohnen. Aber im ,Darüber Hinaus‘ zu wohnen heißt auch […] an einer re-visionären Zeit teilzuhaben, an einer Rückkehr zur Gegenwart, um unsere kulturelle Gleichzeitigkeit neu zu beschreiben; […] die Zukunft auf der uns zugewandten Seite zu berühren. In diesem Sinne wird also der Zwischenraum des ,Darüber Hinaus‘ zu einem Raum der Intervention im Hier und Jetzt“ (Bhabha 2000:10).3 Kehren wir zurück zu den beiden Werken: Allein schon geographisch betrachtet, sind die Romane in solchen „spaces in-between“ angesiedelt: Gugic´s Astronauten leben in einer Stadt ohne Namen und ohne Geschichte. Und Lara, die Protagonistin in Alvirs Kein Meer, bewegt sich, wie bereits erwähnt, zwischen drei sozial-historischen Räumen – zwischen Österreich, Kroatien und Bosnien –, der Gegenwart und der Vergangenheit. Die Reichweite der „Entbundenheit“ von einem bestimmten gesellschaftlichen Ort ist jedoch noch sehr viel umfassender : Wie bereits zu Beginn der Ausführungen erwähnt, beschäftigt sich Lara etwa mit der Frage, inwiefern es ihr gestattet ist, vom Krieg im ehemaligen Jugoslawien (also ihrem Herkunftsland) und den traumatischen Erfahrungen ihrer Familie berührt zu sein – bzw. inwiefern dies von ihr erwartet wird. Es geht hier um die Frage nach der Zugehörigkeit, die sich nicht darauf beschränken lässt, welcher Gruppe oder gesellschaftlichen Kategorie ein Individuum angehört. Sie be2 Dieser Aspekt eines vergrößerten Reflexionspotenzials findet sich auch in den Abhandlungen von Simmel (Simmel 1992) und Schütz (Schütz 1972a). Park formuliert jedoch sehr explizit: „Inevitably he [the marginal man] becomes, relatively to his cultural milieu, the individual with the wider horizon, the keener intelligence, the more detached and rational viewpoint. The marginal man is always relatively the more civilized human being“ (Park 1950:375f.). 3 Über die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Dazwischenseins reflektiert z. B. Said in seiner Abhandlung über das Exil. So schreibt er etwa: „Paris may be a capital famous for cosmopolitan exiles, but it is also a city where unknown men and women have spent years of miserable loneliness […] what do these experiences [of war and flight] add up to? Are they not manifestly and almost by design irrecoverable?“ (Said 2002:139).
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inhaltet darüber hinaus auch immer die Frage, was zu dem Individuum gehört und was nicht. Wie noch zu zeigen sein wird, lotet Alvir diese Frage auch anhand einer unmittelbar körperlichen Erfahrung aus: der kosmetischen Haarentfernung. Doch insbesondere in Gugic´s Astronauten drängt sich das Dazwischen auch in Gestalt einer „Leerstelle“ bzw. der „Haltlosigkeit“ auf: Alen, einer ihrer Astronauten, überarbeitet etwa seit Jahren ein und dasselbe Romanmanuskript, indem er es immer wieder übersetzt: aus dem Deutschen in seine Muttersprache und aus seiner Muttersprache ins Deutsche: „Das Hin-und-Her-Übersetzen ist eine Manie geworden, weil er immer Fehler findet, Ungereimtheiten, in jeder Sprache andere“ (Gugic´ 2015:13). Er oder besser gesagt: das, was er zu sagen hat, ist zwischen den Sprachen verloren gegangen. Übrig geblieben zu sein scheint Substanzlosigkeit: „Ich entdecke ein Leerzeichen zu viel zwischen trotz und allem“, so Alen, „eine Leerstelle, ein Wurmloch, das die Erinnerung und den Raum, in dem ich mich befinde, zwischen diese beiden Worte saugt. Alles könnte darin verschwinden. Der Cursor ist ein Ausrufungszeichen, wirft schwarze Buchstaben auf die weiße Fläche und läuft rückwärts, verschluckt alle wieder, pulsiert im Atemrhythmus auf dem weißen Bildschirm“ (Gugic´ 2015:30). Das Nichtvorhandensein der Plausibilität von vorbestimmten Realitätskonzepten, d. h. das Fehlen von Plausibilitätsstrukturen und damit auch von selbstverständlichen Verbindungen zur Wirklichkeit, zwingt die ProtagonistInnen dazu, ständig neue Antworten zu finden auf die wiederkehrenden Fragen: „Wer bin ich?“ Oder : „Wer möchte ich sein?“
III.2. Begegnungen mit/in dem „Dazwischen“ Bemerkenswert ist, dass im Rahmen dieser Suche nach Identität in beiden Romanen der Körper eine herausragende Rolle zu spielen scheint. Die Haut wird bei beiden Autorinnen als erste (primäre) und offenbar wichtigste Grenze des Selbst betrachtet. Aus diesem Grund erschien es uns vielversprechend, einen genaueren Blick darauf zu werfen, wie Körperlichkeit in den beiden Romanen aufgegriffen wird. Dabei orientieren wir uns an dem von Sara Ahmed und Jackie Stacey in Thinking through the Skin formulierten „dermographischen Manifest“ (Ahmed und Stacey 2001:1–17). Die Verfasserinnen positionieren sich darin in der feministischen Forschungstradition, wollen jedoch über die Einführung der Haut als symbolische Denkfolie der Gefahr einer reduktionistischen Betrachtungsweise des Körpers als paradigmatischem Ort der Differenz entgehen: „What is required, we suggest, is a recognition of the function of social differences in establishing the very boundaries which appear to mark out ,the body‘. Otherwise, we are in danger of fetishising ,the body‘ by assuming that it contains
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these differences within the singularity of its figure“ (Ahmed und Stacey 2001:3). So macht Ahmed in Strange encounters auch deutlich, dass die alleinige Anerkennung des „anderen“ bzw. des „Fremden“ als körperlicher Organismus lediglich der Tarnung von Prozessen der In- bzw. Exklusion diene. Es seien, so Ahmed, diese Prozesse, die die Grenzen der individuellen Körper und Gemeinschaften ziehen (vgl. Ahmed 2000:3–6). Die Verhandlung der Identität am äußersten Rande der individuellen bzw. der gemeinschaftlichen Existenz gleicht Ahmed und Stacey zufolge dem Akt des Schreibens: „In linking writing to skin […], we suggest that both are processes that involve materiality and signification, limits and possibilities, thought and affect, difference and identity“ (Ahmed und Stacey 2001:15). Dieser Auffassung entsprechend verstehen wir die in den Romanen erzählten Hautgeschichten als Oberflächen, die weit über sich hinausweisen. Und dieses „Jenseits“ gilt es näher zu betrachten. Lara, Olja Alvirs Protagonistin, richtet ihren Beauty-Blog explizit an Frauen wie sie selbst, an „Frauen mit Damenbärten. Frauen mit Narben. Frauen mit Kriegen. Frauen mit schrecklichen Schönheiten, entsetzlich schöne Frauen“ (Alvir 2016:8). Wer weniger suche, der sei bei ihr falsch. Bereits der Titel des Blogs „Beauty with a knife“ kündigt einen unverblümten und scharfen Zugang zu körperbezogenen Themen an, die unter die Haut gehen. Die Identitätssuche wird hier mit einer zutiefst körperlichen Erfahrung verkettet: Sie behandelt die Thematik der professionellen Haarentfernung – der Entwurzelung der Haare – und zieht dabei auch Parallelen zu der durch Migration verursachten Entwurzelung. Die Haut, betrachtet als primäre Grenze des Körpers, ist nach der Behandlung, d. h. nach der Entwurzelung, geschwächt, porös und weniger schützend. Sie wird von Lara als überempfindlich und anfällig für äußere Reize beschrieben. Außerdem bleibe, so Lara, nach der Haarentfernung ein Phantomschmerz bestehen, so als wären die Haare selbst nach der Entwurzelung noch da (Alvir 2016:40). Der darin anklingende Topos eines schattenhaften Fortbestehens des Lebens vor der Migration wurde von Theoretikern wie Salman Rushdie (2010) oder Edward Said (2002) beschrieben: „The achievements of exile are permanently undermined by the loss of something left behind forever“ (Said 2002:137). Eines Tages wird Lara mit einem weiteren Dilemma der Haarentfernung konfrontiert. Nach ihrer Behandlung entdeckt sie drei gebrauchte Wachsstreifen unter dem Behandlungstisch des Studios. Sie ist fasziniert von der Bloßlegung dieser zutiefst privaten Angelegenheit. Sie stellt sich die Frage, ob die entwurzelten Haare nach wie vor Teil ihres Körpers, Teil ihrer selbst sind, und tastet damit erneut die Grenzen ihrer Identität und ihrer Lebenswelt ab: Sie versucht herauszufinden, was innerhalb und was außerhalb dieser Grenzen liegt; was sie getrost eliminieren/ausgrenzen darf und was sie weiterhin als Teil ihrer selbst betrachten muss. Schließlich verlässt sie das Studio mit den Wachsstreifen in der
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Handtasche. Sie spielt kurz mit den Gedanken, zumindest einen der Streifen einzurahmen und in ihrer Wohnung aufzuhängen, beschließt dann jedoch, sie besser zu entsorgen – „denn sonst hätte ich“, so Lara, „Besuch umständlich erklären müssen, was das für ein Bild ist und warum es da hängt“ (Alvir 2016:38). Zudem erscheint es ihr paradox, etwas, das sie eigentlich zu verstecken sucht, auszustellen. Neben dieser Charakterisierung der Haut als bearbeitbare und verletzliche Membran findet sich auch die Beschreibung der Haut als isolierende Schicht, die Individuen voneinander trennt: „Menschen können einander gar nicht berühren. Die Atome, aus denen zum Beispiel Haut zusammengesetzt ist, kommen nie miteinander in Kontakt, weil sie jeweils von Elektronen umgeben sind“ (ebd. 138). Solch eine narrative Technisierung des Körpers findet sich in beiden Romanen. Bei Gugic´, die ihre ProtagonistInnen mit Astronauten vergleicht, kann sie gar als Leitmotiv betrachtet werden. Ihre Figuren führen vorprogrammierte Existenzen mit automatisierten Abläufen. Mitunter reicht Gugic´s Figurenzeichnung an die eines digitalen Animationsfilms heran: „Verschwimmende Nullen und Einsen. Einschlafen und aufwachen, der Geruch von verbrauchter Atemluft. …“ (Gugic´ 2015:89). Die Beschreibung des menschlichen Körpers, die Gugic´ in das bereits erwähnte Romanmanuskript von Alen integriert, ist Alvirs technischer Auffassung des Körpers erstaunlich nahe: „Vielleicht sind wir nicht wirklich hier, sind nur Moleküle, die sich irgendwo neu zusammensetzen, vielleicht wachen wir jedes Mal in einem anderen Universum auf, am falschen Ort, zur falschen Zeit“ (ebd. 132).
III.3. Bewältigungen des „Dazwischen“ Sowohl die Körper als auch die namenlose Stadt, die in Astronauten mehrfach als „falscher Ort“ bezeichnet wird (vgl. ebd. 35, 132) haben keine Geschichte. Die ProtagonistInnen selbst geben der ausdruckslosen, glatten Stadt ihre Inschriften. Blanke Oberflächen werden mit Graffiti markiert. So erhebt eine der gesprayten Parolen beispielsweise auch territorialen Besitzanspruch: „Die Stadt gehört uns“ (ebd. 7). Darin mag sich eine Möglichkeit verbergen, mit der Schwerelosigkeit, mit dem Mangel an Halt und Verbundenheit umzugehen. In Kein Meer findet sich hingegen eine andere, viel körperlichere Art der Einschreibung, die auf den ersten Blick in Widerspruch zu Laras Vorlieben zu stehen scheint: Ihrer Auffassung gemäß sollen Oberflächen „glatt und konstant [sein], da stören alle Ungleichmäßigkeiten, Knöpfe wie Löcher“ (Alvir 2016:138). Nichtsdestotrotz fügt sie ihrer Haut in Momenten der Verzweiflung Verletzungen zu, wie sie in ihrem Beauty-Blog beschreibt:
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„Mit dem Ritzen kühle ich das überhitzte, gefährlich hochtourig dröhnende Angstmaschinen-Ich ab […]. Die Abfolge der Bilder im Kopf, die verschiedenen durchgerechneten Gesprächsabläufe, Entscheidungsbäume, Parallelwelten und möglichen Situationen werden in den Millimetern zwischen Messer und Haut zu Singularitäten zurückgestaucht, die Vorwürfe gegen mich vorerst in die Geraden gebannt“ (ebd. 197).
Indem sich Lara „ritzt“, inskribiert sie ihre eigene Haut, so wie die Astronauten die Wände der Stadt beschriften, in der sie leben. In ihrem Fall jedoch gleicht die Inschrift, die sie sich selbst verpasst, das „selbstverletzende Verhalten“ (Herpertz et al. 1997:297), einem Ausbruch aus einer überfordernden Welt. Lara scheint an dem Wunsch nach makelloser Haut, nach Unversehrtheit, zu scheitern. Glatte Oberflächen offenbaren nichts. Glätte in Bezug auf Haut bedeutet im weitesten Sinn auch Taubheit: Der Tastsinn und damit auch die Berührungsmöglichkeit des anderen bzw. durch den anderen sind von der Oberfläche der Haut verschwunden. Mit dem Verlust der taktilen Kontaktaufnahme mit dem Außen geht oft auch die verbale Kommunikation verloren: Sprachlosigkeit und Entfremdung sind wichtige Topoi in beiden Romanen. So stellt Mara in Astronauten beispielsweise fest: „Da ist etwas, das mir fremd ist, dem ich keinen Namen geben kann, ich betrachte mich wieder und wieder, komme an keinem Spiegel vorbei, ohne anzuhalten. Aber mein Gegenüber bleibt stumm, kann die Geschichte, die es in sich trägt, nicht aussprechen, vielleicht, wenn ich genauer hinsehe, näher, dann. Es ist immer noch da“ (Gugic´ 2015:127).
Laras Strategie gegen die Selbstentfremdung, die Aufspaltung von Körper und Selbst, ist die Selbstverletzung. Diese Lesart findet eine Bestätigung in der Theorie des französischen Psychoanalytikers Didier Anzieu, der zufolge man mittels der eigenen Verletzung die Integrität des Selbst wiederherzustellen versucht. In seinem Buch Le moi-peau (Anzieu 1995) betrachtet Anzieu die Haut als paradigmatischen Begegnungs- und Begrenzungspunkt von Körper und Geist (Anzieu 1984:55–68; zitiert in Benthien 1999:150). Anzieu geht davon aus, dass das erste vage Bewusstsein der Identität eines Kindes mit der Wahrnehmung der eigenen Körpergrenzen auftritt. Diese werden von Lara herausgefordert, nicht nur, indem sie ihre Haut verletzt, sondern auch indem sie die Grenzen ihrer selbst im Zuge der Entwurzelung austestet. Der Phantomschmerz, den Lara hier empfindet (durch die Entwurzelung der Haare einerseits und die Entwurzelung als Folge von Migration andererseits), verwandelt sich in einen wirklichen physischen Schmerz, hervorgerufen durch Selbstverletzung. Fremdbestimmte (abstrakte) Kontrolle (in Laras Fall die Bestimmung ihrer Biographie durch alle Parameter, die mit der Migrationserfahrung einhergehen: soziale Kategorisierung, gesetzliche Vorgaben etc.) verwandelt sich durch die Selbstverletzung in
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autonome Kontrolle: Sie übernimmt die Kontrolle über sich selbst, indem sie die Oberfläche ihrer Haut, die Grenze ihres Körpers – „one of the few available arenas of control we have left“ (Bordo 1997:228) – zur Außenwelt bearbeitet.
IV.
Schluss
Die wesentliche Auseinandersetzung mit Grenzen oder begrenzenden Oberflächen, die wir hier nicht nur thematisch, sondern auch erzähltechnisch in den beiden ausgewählten Texten erörtert haben, dringt im Kontext der Identitätsfrage bis in die Körperlichkeit der literarischen Figuren ein. Die Haut der ProtagonistInnen wird zum individuellen Verhandlungsschauplatz und Prüforgan von unterschiedlichen Normgrenzen: Dabei spielen soziale Konzeptionen von Schönheitspflege ebenso eine Rolle wie die – auch aufgrund gesellschaftlicher Diskurse – sehr viel sicht- und greifbareren nationalen oder nationalstaatlichen Grenzen. All diese Normgrenzen, mitsamt der Haut, können dabei als Brennpunkte von Gegensätzen gelesen werden. Begrenzung wie Entgrenzung, Schutz (und damit auch Einengung) wie Verletzlichkeit/Vulnerabilität/Schutzlosigkeit treffen an den Oberflächen der mit unterschiedlichen Vorzeichen versehenen Bedeutungsräume aufeinander. Am Beispiel der Haut wird allerdings deutlich gemacht, dass in diesem Aufeinandertreffen im Sinne eines Umschlagspunkts die Äquivalenz, d. h. also die Aufhebung und Überwindung des Widerspruchs zwischen den Gegensätzen, steckt, und damit der Punkt der absoluten Kraft. Das Umfassende der Grenze liegt so nicht nur im Aufeinandertreffen des Getrennten, sondern auch in ihrer in jedem Moment wandelbaren Funktion zwischen trennendem und verbindendem Element. Die Autorinnen beschäftigen sich mit dem Mehrwert von gesellschaftlichen Rahmungen und den damit gewährleisteten Sicherheiten, legen allerdings den Fokus auf durch die Auflösung von Grenzen, durch das Wegfallen von Sicherheiten ausgelöste Krisen. Dies geschieht nicht zufällig, kann doch plausibel davon ausgegangen werden, dass beide Romane durch die direkte oder indirekte Migrationserfahrung ihrer Autorinnen sowie durch die (mittelbare) Erfahrung eines Krieges geprägt sind. Die Reaktion auf Unsicherheiten im Kontext von Krieg und Gewalt ist dabei typischerweise die Schaffung von Eindeutigkeiten, wie beispielsweise die durch die kriegerischen Auseinandersetzungen beförderte umfassende Selbst- und Fremdethnisierung, d. h. die Reduktion der Identität auf die ethnische Zugehörigkeit im ehemaligen Jugoslawien sehr deutlich zeigt (Mijic´ 2014). In ihren Romanen lassen die Autorinnen ihre „entbundenen“ ProtagonistInnen jedoch in einem Dazwischen verharren, welches sich den Figuren als Leerstelle oder Haltlosigkeit aufdrängt: die anhaltende Unsicherheit, der persistente Mangel an (sozialer wie auch glaubensmäßiger)
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Vorherbestimmung zwingt sowohl die AstronautInnen wie auch Alvirs Schönheitsexpertin und Familiendetektivin Lara dazu, stets an ihrer Identität zu zweifeln. Auch sich selbst wollen die Autorinnen nicht durch ihre Herkunft bestimmt sehen. Ihr Dazwischen – so legt zumindest das Ergebnis unserer Analyse nahe – kann tatsächlich als ein „Darüber Hinaus“ im Sinne von Bhabha gelesen werden, als „eine Rückkehr zur Gegenwart […] ein Raum der Intervention im Hier und Jetzt“ (Bhabha 2000:10). Mit ihren Romanen vermitteln sie, dass die Beschäftigung mit der Frage „Wer bin ich?“ als ein dynamischer Prozess der Verortung betrachtet werden muss, welcher in jedem Augenblick aufs Neue vollzogen wird. Weit davon entfernt, sich schlicht über ihre Wurzeln, sozusagen als eine vorgefertigte Frisur zu definieren – wie Alvir in dem vorhin erwähnten Zitat polemisiert (Alvir 2016:40) –, schlägt die Autorin vor, sich Identität durch eigene Erfahrung und eigenes Handeln zu erarbeiten. Auch Gugic´ plädiert für die Überwindung von Äußerlichkeiten, indem sie kreatives Schaffen (also quasi die stärkere Entäußerung subjektiv gemeinten Sinns in eine objektivierte Welt hinein) als identitätsstiftendes Moment aufdeckt. „Was ich schreibe, ist wichtiger als meine Herkunft“, so die Autorin in einem Interview auf die Frage hin, welchen Einfluss ihr eigener Migrationshintergrund auf ihre Arbeit habe (Buzic´ 2015). Oder in den Worten ihrer einzigen weiblichen Protagonistin: „Sagen wir Jetzt, sagen wir : Ich befinde mich hier“ (Gugic´ 2015:39).
Literatur Ahmed, Sara 2000: Strange Encounters: Embodied Others in Post-Coloniality, London and New York. Ahmed, Sara/Stacey, Jackie (Hg.) 2001: Thinking Through the Skin, London and New York. Alvir, Olja 2016: Kein Meer, Wien. Anderson, Benedict 1994: ,Exodus‘, Critical Inquiry, vol. 20, no. 4, 314–327. Anzieu, Didier 1984: ,La peau de l’autre, marque du destin‘, Nouvelle Revue de Psychanalyse, vol. 30, 55–68. Anzieu, Didier 1995: Le moi-peau, Paris. Benthien, Claudia 1999: Haut. Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek bei Hamburg. Bhabha, Homi K. (Hg.) 1990: Nation and Narration, London and New York. Bhabha, Homi K. 1998: ,The third space‘, in Jonathan Rutherford (Hg.): Identity: Community, Culture and Difference, London, 207–222. Bhabha, Homi K. 2000: Die Verortung der Kultur, Tübingen. Bordo, Susan 1997: ,Anorexia Nervosa. Psychopathology as the Crystallization of Culture‘, in Carole Counihan/Penny Van Esterik (Hg.): Food and Culture. A Reader, New York, 226–250.
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Michael Parzer
Offenheit als kulturelles Kapital. Kosmopolitischer Konsum in migrantischen Ökonomien
1.
Einleitung
Der Konsum „ethnischer“ Produkte als eine Form der Auseinandersetzung mit „dem Fremden“ gilt als bedeutsamer Forschungsgegenstand der Kultur- und Sozialwissenschaften (Heldke 2003; Long 2004; Duruz, Luckman und Bishop 2011; Cappeliez und Johnston 2013). Während diese Form des Konsums lange Zeit an geographische Mobilität gebunden war, haben mittlerweile Migration und zunehmende Diversität im urbanen Raum einen lokalen Kosmopolitismus hervorgebracht (Beck 2002; Molz 2004; Nava 2006). Eine zentrale Rolle dabei spielt das reichhaltige Angebot migrantischer Ökonomien: Zahlreiche von Zuwanderern betriebene Geschäfte, Spezialitätenläden und Restaurants bieten vielfältige Möglichkeiten der interethnischen Annäherung. Der Einkauf beim „türkischen“ Bäcker ums Eck, das Flanieren entlang „multikultureller“ Märkte oder der Erwerb asiatischer Lebensmittel zählen mittlerweile zu kulturellen Aktivitäten, die sich zunehmender Beliebtheit unter Angehörigen der sogenannten Mehrheitsgesellschaft erfreuen (Stock 2013; Zukin, Kasinitz und Chen 2016). Inwiefern diese Art kosmopolitischen Konsums auch einen positiven Einfluss auf Prozesse sozialer Kohäsion und Integration hat, ist Gegenstand zahlreicher aktueller Debatten (Wise 2011; Hiebert, Rath und Vertovec 2015). Ein Großteil der Literatur geht davon aus, dass dadurch interethnische Begegnungen gefördert werden und in weiterer Folge die Toleranz gegenüber MigrantInnen erhöht wird (Everts 2008; Peters und de Haan 2011; Yıldız 2013). Andere Befunde relativieren diese positive Sichtweise, indem sie auf die Flüchtigkeit interethnischer Begegnungen hinweisen (Valentine 2008; Parzer, Rieder und Astleithner 2016) oder die Tendenz zur Exotisierung und Essenzialisierung kultureller Differenzen herausstreichen (Pang 2002; Heldke 2003). Weitgehend unbeachtet blieb bisher, dass kosmopolitischer Konsum nicht nur für die Aufrechterhaltung und/oder Erosion von ethnischen Grenzen relevant ist, sondern auch in Hinblick auf klassenspezifische Grenzziehungen. Eine
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Michael Parzer
Reihe von Studien zeigen, dass die jeweilige Auseinandersetzung mit „Fremdheit“ nach Klassenzugehörigkeit variiert (Kendall, Woodward und Skrbis 2008; Cappeliez und Johnston 2013) und insbesondere bildungsnahe StädterInnen ihre Aufgeschlossenheit für ethno-kulturelle Diversität gerne zur Schau stellen (Butler 2003; Blokland und van Eijk 2010; Weck und Hanhörster 2015). Allerdings wissen wir nur wenig darüber, wie kosmopolitischer Konsum im Kontext migrantischer Ökonomien als kulturelle Ressource zur sozialen Distinktion genutzt wird. Ausgehend von dieser Forschungslücke widmet sich der Beitrag bildungsprivilegierten Angehörigen der „Mehrheitsgesellschaft“ und ihren Konsumpraktiken in migrantischen Lebensmittelgeschäften. Konkret soll anhand der Ergebnisse einer qualitativen Studie1 die Bedeutung von kosmopolitischem Konsum für klassenspezifische Grenzziehungsprozesse näher beleuchtet werden. Unter Rückgriff auf Bourdieus Kapitalsortentheorie wird die diesem Konsum zugrunde liegende Offenheit als spezifische Form kulturellen Kapitals interpretiert. Als „kosmopolitisches kulturelles Kapital“ trägt sie zur Verfestigung klassenspezifischer Grenzen bei, insbesondere dann, wenn die mit dieser Konsumpraxis zum Ausdruck gebrachte kosmopolitische Haltung zur Demonstration von moralischer Überlegenheit und als Mittel sozialer Abgrenzung genutzt wird.
2.
Alltäglicher Kosmopolitismus
Die positive Bewertung des, der „Fremden“ bildet die Grundlage für einen Lebensstil, der in der sozialwissenschaftlichen Literatur auch als „everyday cosmopolitanism“ bezeichnet wird. Häufig wird darunter die „tendency to view otherness and cultural difference as something desirable“ (Kendall, Woodward und Skrbis 2008:105) verstanden. Als zentrales Charakteristikum gilt eine grundlegende Offenheit für divergierende kulturelle Erfahrungen (ebd. 113; Hannerz 1990:239), die ihren Ausdruck in den Bereichen Kunst, Musik, Mode sowie im Konsum von Lebensmitteln findet (Beck 2002:28; Vertovec und Cohen 2002:1). In ihrer Typologie differenzieren Kendall, Woodward und Skrbis (2008:114–123) unterschiedliche kosmopolitische Stile je nach Intensität der Auseinandersetzung mit „fremder Kultur“. Während der „sampling style of 1 Die Studie Integration durch Konsum? ,Einheimische‘ Konsumpraktiken im migrantischen Lebensmittelhandel wurde vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank gefördert (Nr. 14.706) und im Zeitraum von 2012 bis 2014 an der Universität Wien durchgeführt. Die empirische Forschungsarbeit fand im Team gemeinsam mit Eva Wimmer, Irene Rieder und Franz Astleithner statt.
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cosmopolitanism“ einen tendenziell oberflächlichen, zufälligen und beiläufigen Umgang mit „fremder Kultur“ beschreibt, ist der „immersive style of cosmopolitanism“ durch eine tiefergehende Beschäftigung charakterisiert, die häufig auch mit ExpertInnentum einhergeht. Während es in dieser Typologie um die Auseinandersetzung mit „fremder Kultur“ im Allgemeinen geht, untersuchen Cappeliez und Johnston (2013) den kosmopolitischen Umgang mit „ethnischem“ Essen. Anhand von qualitativen Interviews mit KonsumentInnen in Toronto und Vancouver unterscheiden sie ebenfalls drei unterschiedliche Arten kosmopolitischen Konsums: den „Connoisseur“-, den pragmatischen sowie den tentativen Kosmopolitismus. Diese Typologien geben Aufschluss über das Ausmaß der kosmopolitischen Auseinandersetzung. Das ist nicht nur für unser Verständnis von Annäherungsprozessen zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft wichtig, sondern auch in Hinblick auf klassenspezifische Grenzziehungen. So zeigen die Befunde, dass es in der Art und Weise des Umgangs mit dem „Fremden“ Unterschiede entlang sozialstruktureller Merkmale gibt, die – ähnlich wie die von Bourdieu (1987) so eindrucksvoll analysierten „feinen Unterschiede“ – in Hinblick auf soziale Abgrenzung höchst relevant sind (Ollivier 2008; Coulangeon 2017). Weitgehend unbeantwortet blieb bislang die Frage, ob und wenn ja, wie kosmopolitischer Konsum als Distinktionsmittel wirksam wird. Dazu bedarf es einer Erweiterung des Blicks auf die Bedeutung, die ein spezifischer Umgang mit „fremder Kultur“ für die Selbstwahrnehmung und -präsentation der AkteurInnen hat: Wie wird Offenheit von den KonsumentInnen in migrantischen Geschäften zum Ausdruck gebracht? Inwiefern sehen sie sich selbst als offen und aufgeschlossen oder sogar toleranter als andere? Und welchen Einfluss haben diese Darstellungen und Inszenierungen von kosmopolitischer Offenheit auf Grenzziehungen? Um diese Fragen zu beantworten, braucht es einen theoretischen Rahmen, der der symbolischen Dimension von Exklusionsprozessen gerecht wird.
3.
Symbolische Grenzziehungen
In Anlehnung an Pierre Bourdieus kulturtheoretisch fundierte Gesellschaftstheorie verstehen Lamont und Moln#r (2002) unter „symbolic boundaries“ jene konzeptionellen Distinktionen, die von sozialen AkteurInnen geschaffen und verwendet werden, um Dinge, Menschen und/oder Praktiken zu kategorisieren, und die in Einstellungen und Praktiken sowie Vorlieben und Aversionen zum Ausdruck kommen. Sie sind nicht nur wichtig für Zugehörigkeitsmanagement und Identitätsstiftung, sondern auch ein probates Mittel, um Status zu erlangen
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und Ressourcen zu monopolisieren (Lamont und Moln#r 2002). Im Gegensatz zu symbolischen Grenzen sind soziale Grenzen objektivierte Formen von sozialen Differenzen, die sich im ungleichen Zugang zu bzw. in ungleicher Verteilung von Ressourcen und Chancen manifestieren (Lamont und Moln#r 2002). Insbesondere die Wechselwirkung zwischen sozialen und symbolischen Grenzen spielt in einer kultursoziologischen Ungleichheitsforschung eine zentrale Rolle. Um dieser Wechselwirkung analytisch Rechnung zu tragen, schlagen Lamont und ihre KollegInnen den Begriff „kulturelle Prozesse“ vor: „We conceptualize cultural processes as ongoing classifying representations, practices that unfold in the context of structures (organizations, institutions) to produce various types of outcomes. These processes shape everyday interactions and result in an array of consequences that may feed into the distribution of resources and recognition“ (Lamont, Beljean und Clair 2014:14).
Kulturelle Prozesse tragen auf subtile Weise zur Reproduktion von sozialer Ungleichheit bei – und das oft als Nebeneffekt von Handlungen und ohne dass dies den AkteurInnen bewusst oder von diesen intendiert ist (ebd. 2). Darüber hinaus finden diese Prozesse nicht nur auf einer individuellen kognitiven Ebene statt, sondern auch intersubjektiv „through shared scripts and cultural structures, such as ,frames‘, ,narratives‘ and ,cultural repertoires‘“ (ebd. 2f.). In Anlehnung an diese kultursoziologische Konzeption von sozialer Ungleichheit zielt die hier dargestellte Untersuchung von Konsumpraktiken im migrantischen Lebensmittelhandel auf jene kulturellen Repertoires ab, auf die KundInnen der „Mehrheitsgesellschaft“ in ihrer Grenzziehungsarbeit zurückgreifen.
4.
Methoden
Im Mittelpunkt der in Wien durchgeführten Datenerhebung standen 31 qualitative Interviews und 15 Go-Alongs mit österreichischen KundInnen ohne Migrationshintergrund.2 Die mit einer erzählgenerierenden und offenen Einstiegsfrage eingeleiteten problemzentrierten Interviews (Witzel 2000) zielten darauf ab, die Relevanzstrukturen und Bewertungen der Befragten in Hinblick auf migrantische Lebensmittelgeschäfte, die dort angebotenen und erworbenen Produkte sowie Interaktionen sichtbar zu machen. 2 Die für eine Rekrutierung entscheidende Klassifikation „ÖsterreicherIn ohne Migrationshintergrund“ wurde nicht von den Forschenden vorgenommen, sondern den potenziellen InterviewpartnerInnen selbst überlassen. Die generelle Problematik der Kategorie „Migrationshintergrund“ sowie ihrer Vagheit bleibt auch hier bestehen.
Offenheit als kulturelles Kapital
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Bei der Methode der Go-Alongs, die aus der phänomenologisch orientierten Ethnographie stammt, werden „kundige“ Menschen auf alltäglichen Wegen begleitet (Kusenbach 2003). Währenddessen werden die Befragten motiviert, alles zu erzählen, was ihnen durch den Kopf geht. Das Interesse gilt hierbei den Wissensbeständen, Praktiken und dem Alltagshandeln der AkteurInnen. Diese Methode ermöglichte es, die konkrete Einkaufssituation systematisch zu beobachten sowie den Einkauf in einem migrantischen Lebensmittelgeschäft zu begleiten. So konnten sowohl die konkreten körperlichen Handlungen als auch die damit zusammenhängenden (oft impliziten) Wissensbestände und Deutungsmuster erfasst und rekonstruiert werden. In Hinblick auf den Erkenntnisgewinn bot die Kombination von Interviews und Go-Alongs auch einen Einblick in die Diskrepanzen zwischen dem Handeln und den Erzählungen der KundInnen: zwischen dem, was sie während ihres Einkaufs tun, und dem, wie sie den Einkauf retrospektiv darstellen. Gerade wenn es um die demonstrative Zurschaustellung von Offenheit geht, erweist sich diese Diskrepanz als besonders relevant.3 Die Rekrutierung fand größtenteils unmittelbar vor den Geschäften statt, die wiederum mit dem Ziel größtmöglicher Variation hinsichtlich geographischer Lage, Größe bzw. Geschäftsform sowie ethnischer Selbstzuschreibung ausgewählt wurden:4 Geachtet wurde auf die Einbeziehung unterschiedlicher Stadtteile unter besonderer Berücksichtigung ihrer demographischen Zusammensetzung und ihres Ausmaßes an Gentrifizierungstendenzen (Leopoldstadt, Wieden, Margarethen, Mariahilf, Neubau, Josefstadt, Alsergrund, Meidling, Rudolfheim-Fünfhaus, Ottakring, Brigittenau, Floridsdorf). Rekrutiert wurde darüber hinaus vor Supermärkten ebenso wie Bäckereien, Fleischereien oder kleinen Lebensmittelgeschäften; berücksichtigt wurden insbesondere Geschäfte mit nationalen Zuschreibungen (vorwiegend „türkisch“, „indisch“, „chinesisch“), transnationalen Zuschreibungen („orientalisch“, „asiatisch“, „arabisch“) sowie internationalen, multiethnischen Zuschreibungen (z. B. „Exotic Supermarket“).5 Die Auswahl der KundInnen erfolgte in Anlehnung an das im Rahmen der Grounded Theory vorgeschlagene theoretische Sampling – auch hier war es das Ziel, in möglichst vielerlei Hinsicht größtmögliche Variation zu erzielen, vor 3 Über die Potenziale (sowie die Limitationen) von Go-Alongs und ihrer Kombination mit qualitativen Interviews siehe Parzer, Rieder und Wimmer 2016. 4 Der Rekrutierung gingen systematische Stadtteilbegehungen in sämtlichen 23 Wiener Bezirken voran, die zum Ziel hatten, einen Überblick über das Forschungsfeld im Allgemeinen sowie über die Ausdifferenzierung des migrantischen Lebensmittelhandels im Besonderen zu schaffen. 5 Von besonderer Bedeutung erweist sich auch die unterschiedliche Akzeptanz von bestimmten MigrantInnengruppen in der „Mehrheitsgesellschaft“, was wiederum für die UnternehmerInnen unterschiedliche Grade der Vermarktbarkeit ihrer „ethnischen Identität“ begünstigt oder mitunter auch erschwert.
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allem, was die Ausprägung unterschiedlicher Konsumpraktiken betrifft. Insgesamt zeigt das Sample eine Dominanz von Personen mit hohen Bildungsabschlüssen: Von den insgesamt 33 InterviewpartnerInnen (zwei Interviews wurden mit Paaren geführt) haben laut eigenen Angaben 21 einen Hochschulabschluss und sechs Matura als höchste abgeschlossene Ausbildung.6 Die computerunterstützte Datenanalyse (Atlas.ti) der Transkriptionen sowie der Beobachtungsprotokolle erfolgte in Anlehnung an das von Charmaz (2014) in der Tradition der Grounded Theory entwickelte Kodierverfahren.
5.
Kosmopolitische Offenheit als Mittel symbolischer Grenzziehung
Der migrantische Lebensmittelhandel stellt einen Bereich des alltäglichen Lebens dar, der sich sehr gut eignet, um positive Bewertungen der/des „Fremden“ sowie ethnokultureller Diversität zum Ausdruck zu bringen. Worin zeigen sich diese Bewertungen im Konkreten? Anhand des Datenmaterials lassen sich zwei unterschiedliche Evaluierungsschemata identifizieren: Zum einen können positive Bewertungen auf Basis einer (zugeschriebenen) Alterität fungieren. Dabei wird das „Anderssein“ des Geschäfts, der Produkte, des Personals oder der Kundschaft hervorgehoben; als Referenzrahmen gilt das „Eigene“ – also meist das typisch österreichische bzw. „heimische“ Geschäft. Das „Fremde“ wird als etwas Besonderes dargestellt: „Je fremder, desto besser.“ Zum anderen können sich positive Bewertungen auch auf eine (ebenfalls zugeschriebene) Diversität beziehen. Hier wird nicht das „Andere“, sondern die Vielfalt unterschiedlicher „fremder Kulturen“ im migrantischen Lebensmittelhandel betont. Diese Vielfalt wird als Bereicherung für die „Mehrheitsgesellschaft“ gesehen, die Mischung unterschiedlicher „Kulturen“ als etwas Wünschenswertes dargestellt. Hier gilt: „Je vielfältiger, desto besser“.7 Gegenstand der Bewertung ist aber nicht nur der migrantische Lebensmit6 Das spiegelt mitunter die höhere Teilnahmebereitschaft bildungsprivilegierter KonsumentInnen wider, aber auch die Tatsache, dass migrantische Angebote von Bildungsprivilegierten tendenziell positiv bewertet (Verwiebe et al. 2015:80) und deshalb vermutlich auch stärker genutzt werden. 7 Neben diesen evaluativen Schemata wurden eine Reihe weiterer Bewertungsmuster identifiziert wie z. B. „Praktikabilität“, „Authentizität“ und „Nostalgie“. Darüber hinaus ließen sich nicht nur positive, sondern auch ambivalente und negative Bewertungen von Fremdheit beobachten (siehe dazu ausführlich Parzer, Rieder und Astleithner 2016). Die folgende Beschreibung von kosmopolitischen Konsumpraktiken beschränkt sich auf die positiven Bewertungen von „Alterität“ und „Diversität“, die im vorliegenden Sample für bildungsprivilegierte KonsumentInnen typisch sind und sich in besonderem Maße für die Mobilisierung von kosmopolitischem kulturellem Kapital eignen.
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telhandel, sondern auch die eigene Konsumpraxis. Diese wird als etwas Besonderes zelebriert und als Ausdruck von Toleranz und Aufgeschlossenheit hervorgehoben. Grundlage dafür ist die Klassifikation migrantischer Geschäfte vor dem Hintergrund ihrer „Alterität“ und „Diversität“, zumal dies die Voraussetzung dafür darstellt, dass die Grenze zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“ überschritten werden kann. Diesem Moment der Grenzüberschreitung wird eine große ethische Bedeutung verliehen, es geht schließlich um den „richtigen“ – oder in Bourdieus Worten „legitimen“ – Umgang mit kultureller Vielfalt und „fremder“ Kultur. Dem gegenüber steht der „illegitime“ Umgang, der auch entsprechend verachtet wird. Dies wird besonders deutlich, wenn sich die aufgeschlossen wähnenden KonsumentInnen über diejenigen empören, die ihnen als nicht so tolerant und offen erscheinen. Dieser Grenzziehungsarbeit und ihrer Rolle in sozialen Distinktionsprozessen soll im Folgenden nachgegangen werden.
5.1.
Selbstzuschreibungen: Weltoffenheit und „echte“ Aufgeschlossenheit
Insbesondere jene interviewten KonsumentInnen, die einen hohen Bildungsabschluss aufweisen, beschreiben sich selbst als offen, tolerant und experimentierfreudig. So meint Frau Klug:8 „Man muss schon ein bisschen offen sein für fremde Kultur oder eine, die man vielleicht nicht so gut kennt.“ Und auch Frau Fritz ist der Ansicht, „dass da nur Leute reingehen, die sowieso ein bisschen mehr open-minded sind“. In ähnlicher Weise sind für Frau Schmidt die typischen („einheimischen“) KonsumentInnen im migrantischen Lebensmittelhandel diejenigen, „die experimentierfreudiger sind, die auch eben offen sind anderen gegenüber“. Besonderer Wert wird auf die Echtheit und Glaubwürdigkeit der eigenen Offenheit gelegt: Für eine „wahre“ kosmopolitische Haltung bedürfe es einer Auseinandersetzung mit der jeweiligen „Kultur“, die weit über den reinen Erwerb von „ethnischen“ Produkten hinausgeht. Drei Merkmale dieser „echten“ Offenheit werden dabei ins Treffen geführt: (1) Wissen, Expertise: Wissen und Expertise gelten vielen InterviewpartnerInnen als Ausweis einer ehrlich gemeinten Auseinandersetzung mit dem/den „Fremden“. Diese Expertise kann sich auf den Umgang mit bestimmten Produkten oder Zubereitungsweisen beziehen, aber auch auf Wissen über das jeweilige 8 Um Anonymität zu gewährleisten, wurden die Namen der zitierten KundInnen durch Pseudonyme ersetzt. Die sprachliche Glättung der ausgewählten Passagen dient der besseren Lesbarkeit.
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Herkunftsland. Eine Abgrenzung findet gegenüber jenen statt, die nur beiläufig migrantische Geschäfte nutzen, ohne sich mit der jeweiligen „Kultur“ auseinanderzusetzen. Herr Frank etikettiert solche KonsumentInnen als „PassivKonsumentInnen“: „Wenn man so in den Laden geht und dann gezielt nach Produkten sucht, dann ist man schon wahrscheinlich einen Schritt weiter als der Passiv-Konsument, der gerne zum Chinesen um die Ecke geht.“ Die Differenzierung zwischen „Aktiv-“ und „Passiv-KonsumentInnen“ findet sich auch bei Herrn Angerer, der besonderen Wert auf die Expertise in Form eines originalgetreuen Umgangs mit ethnospezifischen Produkten legt: „Ja, da muss man sich aber echt damit auseinandersetzen; also das nur zu beobachten und einzukaufen […] Weil, wie behandelt man die Okra-Schoten, wie wird das dann unten in dem Land gemacht, man muss ja zuerst einmal was machen mit dem Zeug eigentlich, wie verwende ich die Gewürze? Wir würden die ja alle falsch verwenden, wir würden den Kurkuma drüberstreuen, das würd der Inder nie machen.“
Die (imaginierte) Originalität der Zubereitungsweise spielt dabei eine zentrale Rolle. Häufig finden sich Zuschreibungen von Authentizität auch auf Produktebene, z. B. wenn Kichererbsen im „türkischen“ Geschäft gegenüber den im „heimischen“ Supermarkt angebotenen bevorzugt werden. Die Bewertung von Produkten aufgrund ihrer zugeschriebenen „Echtheit“ fungiert dabei als Ausdruck von Expertise, zumal als evaluatives Schema das implizite Wissen über die symbolische Ordnung in diesem Feld die Voraussetzung darstellt. (2) Interesse, Wertschätzung: Neben Wissen und Expertise spielen auch Interesse an und Wertschätzung der jeweiligen „Kultur“ eine wichtige Rolle. Nur weil jemand in einem migrantischen Geschäft einkauft, so die Annahme, heiße das nicht, dass auch ein wertschätzender Umgang gepflegt werde. Frau Bannert beobachtet andere KundInnen in migrantischen Geschäften, denen sie nicht automatisch Offenheit und Toleranz attestiert: „Es gibt Menschen, die zwar dann das einkaufen, weil das vielleicht preiswert auch noch ist, aber ob sie die wirklich schätzen, das weiß ich nicht.“ Und Frau Lang äußert sich über die Weltoffenheit und Toleranz der anderen KonsumentInnen: „Ob das jetzt tief verwurzelt ist im Herzen der Menschen oder ob das einfach nur ein, wie soll ich sagen, eine Maske ist, die man sich aufsetzt, das will ich nicht bewerten. Ich bin eigentlich total offen für alle Menschen, egal woher die kommen.“
Aus Sicht dieser Interviewpartnerin kann Offenheit im Umgang mit „anderen Kulturen und Ethnien“ „tief verwurzelt“ sein oder auch „einfach nur eine Maske, die man sich aufsetzt“. Wenngleich Frau Lang keine Bewertung vornehmen möchte, wird zwischen den Zeilen deutlich, dass die „echte“ Offenheit gegenüber der „aufgesetzten“ als höherwertig gilt.
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(3) Bereitschaft für interethnische Interaktionen und soziale Beziehungen: Eine Abgrenzung von den „Passiv-KonsumentInnen“ findet sich auch auf einer Interaktionsebene. Denn glaubwürdig sei Offenheit erst dann, wenn auch eine Bereitschaft für interethnische Interaktionen besteht. So betont Frau Klug, dass es „nur“ durch den Kauf von Fladenbrot nicht automatisch zu einer „Auseinandersetzung mit der Kultur“ komme: „Wenn ich jetzt nur dort hingeh und mein Fladenbrot kauf, das find ich zu wenig. Da setze ich mich noch nicht wirklich mit der Kultur auseinander.“ Auf die Frage nach der Voraussetzung für diese Auseinandersetzung betont sie die Rolle interethnischer Interaktionen: „Na ich glaub das würd schon damit anfangen, wenn man mit denen in persönlichen Kontakt irgendwie treten kann oder sich ein bisschen mehr austauscht.“
5.2
„Die Anderen“: Wenig aufgeschlossen und Vermeidung des/der „Fremden“
Während Offenheit das zentrale Charakteristikum der Selbstbeschreibung vieler bildungsprivilegierter KundInnen darstellt, wird denjenigen, die in diesen Geschäften nicht einkaufen, genau diese Eigenschaft abgesprochen. So erläutert Frau Gruber : „Und ich glaub Leute, die prinzipiell Ausländern dann nicht so offen gegenüber sind, die würden da nicht einkaufen gehen, einfach weil’s da dagegen sind oder weil sie sich nicht zu dem zugehörig fühlen oder so.“
Offenheit gilt vielen als zentrale Bedingung für einen Einkauf im migrantischen Lebensmittelgeschäft; im Umkehrschluss werden fremdenfeindliche Ressentiments als größtes Hindernis dafür gesehen. So expliziert Frau Klug: „Leute, die sagen, ,naja, dass dir da graust, da geh ich nicht hin, die servieren da Hundefutter‘, die werden wahrscheinlich nicht in den asiatischen Supermarkt reingehen.“ Herr Fuchs beschreibt die Menschen, die aus seiner Sicht migrantische Geschäfte kategorisch ablehnen, folgendermaßen: „Die find ich dann weniger prickelnd solche Leute […], zum Teil der typische Wiener, ,was i ned kenn, friss i ned‘, oder so.“ Der „Durchschnittsösterreicher“, in Variationen auch der „Durchschnittspensionist“, der „klassische Österreicher“, der „typische Österreicher“ oder der „typische Wiener“, gilt als zentrale Kontrastfolie, wenn die InterviewpartnerInnen ihre eigene Konsumpraxis darstellen. Mit der Adressierung des „Durchschnittsösterreichers“ wird ein Bild suggeriert, das den „typischen“ österreichischen Bürger repräsentieren soll – und der gilt als fremdenfeindlich und/oder als Neuem gegenüber reserviert. So erzählt Herr Fröhlich von seiner Wohnungsnachbarin, die nur in „heimischen“ Supermärkten einkaufen
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gehe: „Die ist eher, glaube ich, zu Ausländern ein bisschen distanziert. Das ist so der Durchschnittsösterreicher […], die hat keine Erfahrungen.“ Dem „Durchschnittsösterreicher“ fehle es vor allem an Erfahrung und Wissen im Umgang mit „fremden Kulturen“, was sich dann in seiner Unsicherheit niederschlage. Frau Baumer zieht ihre als „Durchschnittsösterreicher“ etikettierten Vereinskollegen im (bereits vor mehreren Jahren verlassenen) Heimatdorf heran, um zu verdeutlichen, dass diese sicher kein migrantisches Lebensmittelgeschäft betreten würden: „Also, wenn ich denen vorschlagen würd [in ein migrantisches Geschäft zu gehen], uhh, die würden aber motschkern. Und die würden aber ehrlich gesagt sagen: ,Sicher nicht.‘“ Beschrieben werden die Kollegen als „so klassische Österreicher, die ein bisschen genervt sind, weil eben anscheinend die Ausländer die österreichischen Arbeitsplätze wegschnappen“. Die Figur des „Durchschnittsösterreichers“ fungiert als Kontrastfolie, vor deren Hintergrund die eigene Konsumpraxis als moralisch überlegen dargestellt wird. In Hinblick auf soziale Distinktion wird diese Grenzziehung relevant, wenn damit auch eine soziale Superiorität zum Ausdruck gebracht wird. Das zeigt sich implizit, wenn Offenheit als Eigenleistung betrachtet wird und den „Durchschnittsösterreichern“ unterstellt wird, sie seien vor allem deshalb nicht offen, weil sie sich zu selten Fremdheitserfahrungen aussetzen würden. Nur wenig reflektiert wird dabei die Genese der eigenen Offenheit, die zumeist in engem Zusammenhang mit den familiären und schulischen Sozialisationsbedingungen steht. Auch explizit wird der „Durchschnittsösterreicher“ häufig mit niedrigem sozialem Status assoziiert. So beschreibt Frau Klug jene, die aus ihrer Sicht migrantische Geschäfte überhaupt nicht nutzen, folgendermaßen: „Also ich mein gerad dort, wo ich wohn, da gibt’s eine ziemlich starke Kluft. Also auf der einen Seite hat man da am Meidlinger Markt den Marktstand, ich sag’s jetzt mal unter Anführungszeichen, den typischen Österreicher. Wobei solche, die keine Arbeit haben und schon in der Früh halt ein bisschen Alkohol trinken übern Tag verteilt. Also ich glaub sicher nicht, dass die dann gegenüber, also ich weiß nicht wie viele Meter das sind, aber dass die dann bei diesem türkischen Geschäft das Brot kaufen. […] Ich hätt da auch noch nie wen gesehen dort.“
Die bei vielen bildungsprivilegierten KonsumentInnen beobachtete Zurschaustellung der eigenen Offenheit bei gleichzeitiger moralischer Geringschätzung jener, die als nicht so offen angesehen werden, scheint eine zentrale Rolle in Prozessen symbolischer Grenzziehung zu spielen. Vieles spricht dafür, dass kosmopolitische Offenheit als eine Art kulturelles Kapital fungiert – als „kosmopolitisches kulturelles Kapital“, das nicht nur in Hinblick auf soziale Distinktion, sondern auch als bedeutsame Ressource im Streben nach sozialer Superiorität wirksam wird.
Offenheit als kulturelles Kapital
6.
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Kosmopolitisches kulturelles Kapital
Die symbolische Ordnung sozialer Ungleichheit hat Pierre Bourdieu (1987) in seinem 1979 erstmals erschienenen Werk „Die feinen Unterschiede“ zum Gegenstand gemacht: Nicht nur materielle Verteilungskämpfe, sondern auch die kulturelle Dimension sozialer Exklusion sei für das Verständnis der Sozialstruktur moderner Gesellschaften von Bedeutung. Eine zentrale Rolle dabei spielt „kulturelles Kapital“. Darunter versteht Bourdieu jene Wissensbestände, Fertigkeiten und Verhaltensweisen, die im Rahmen familiärer und schulischer Sozialisation erworben und insbesondere von Angehörigen (groß)bürgerlicher Milieus als effektives Mittel klassenspezifischer Distinktion genutzt werden. Besonders deutlich zum Ausdruck komme kulturelles Kapital in der Vertrautheit mit hochkulturellen Konsumpraktiken. Anhand alltäglicher Geschmacksurteile veranschaulicht Bourdieu, wie z. B. die Vorliebe für klassische Musik privilegierten Gesellschaftsmitgliedern dazu diene, ihre soziale Position in Form eines spezifischen Lebensstils auszudrücken. Dieser „legitime Geschmack“ gilt Bourdieu als eine wichtige Ressource: Denn kulturelles Kapital könne sowohl in ökonomisches Kapital (z. B. gut bezahlter Job) als auch in soziales Kapital (verstanden als nutzenbringende Netzwerke) umgewandelt werden. Eine reichliche Ausstattung mit kulturellem Kapital verschaffe den Privilegierten also eine ganze Reihe von ökonomischen Vorteilen und trage darüber hinaus zur Zementierung sozialer Klassenverhältnisse bei. Nun wurde von vielen Seiten kritisiert, dass Bourdieus Analyse ihre Gültigkeit längst eingebüßt habe. Weder lasse sich heutzutage von kulturellen Präferenzen auf den sozialen Status schließen noch garantiere die Vorliebe für Hochkultur eine bessere Position im Streben nach sozialer Mobilität und moralischer Überlegenheit (zur Diskussion siehe Parzer 2011). An die Stelle des ehemaligen Klassensnobismus sei vielmehr eine kulturelle Offenheit getreten: Die Rede ist von „kultureller Allesfresserei“; damit gemeint ist ein breit gefächerter Geschmack, der sich durch Toleranz und Aufgeschlossenheit gegenüber der Vielfalt ästhetischer Ausdrucksformen auszeichnet (Peterson und Kern 1996; Rössel und Schroedter 2015). Auf den ersten Blick scheint es tatsächlich so, als ob die einstige Intoleranz (insbesondere gegenüber dem Populären) einer inklusiven Haltung gewichen sei. Umstritten ist allerdings, ob sich an der Distinktionslogik, wie sie Bourdieu beschrieben hat, dadurch etwas verändert hat. Für MichHle Ollivier stellt die ostentative Demonstration von Offenheit nichts anderes als eine neue Form kulturellen Kapitals dar, eine, die im Gewand der Inklusivität jene Abgrenzung vornimmt, die sie zu überwinden vorgibt (Ollivier 2004). Gilt dies auch für die in diesem Beitrag dargestellte kosmopolitische Offenheit in migrantischen Ökonomien? Im Folgenden soll anhand drei zentraler Charakteris-
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tika kulturellen Kapitals (Lamont und Larreau 1988) dieser Frage nachgegangen werden. (1) Kosmopolitisches kulturelles Kapital als Ressource: Für Bourdieu war die Vorliebe für Hochkultur Ausdruck eines gehobenen Lebensstils, der Zugang zu den gesellschaftlich relevanten Ressourcen ermöglicht. Neuere Studien weisen darauf hin, dass mit einem derartigen Klassensnobismus keinerlei Vorteile mehr zu erwarten seien; vielmehr gehe es heutzutage darum, möglichst vielseitige und umfangreiche kulturelle Präferenzen zu haben. Betont wird die Fähigkeit, je nach Situation zwischen unterschiedlichen kulturellen Codes zu switchen (Emmison 2003) bzw. in auch heterogenen Netzwerken zu navigieren (Erickson 1996). Diese Vorteile verschaffen sich vor allem diejenigen, die kosmopolitische Offenheit – oft gepaart mit entsprechender Expertise – zum Prinzip erheben: Das Wissen über unterschiedliche MigrantInnengruppen, deren Herkunftsländer und deren Produkte sowie eine grundlegende Aufgeschlossenheit gegenüber „anderen“ sind Eigenschaften, die in vielen beruflichen und auch alltäglichen Kontexten an Bedeutung gewinnen (Parzer 2010). (2) Kosmopolitisches kulturelles Kapital als Distinktionsmittel: Bourdieu (1987) betonte nicht nur die Rolle von kulturellem Kapital als Ressource, sondern auch als Mittel sozialer Distinktion: Denn durch die Vorliebe für die Werke der Hochkultur würden sich die privilegierten Gesellschaftsmitglieder nicht nur ihrer Zugehörigkeit zu einer statushöheren Gruppe versichern, sondern auch von weniger privilegierten abschotten. Exklusiver Geschmack verschafft heutzutage allerdings kaum noch Distinktionsgewinn. Viel eher ist es eine spezifische Form von kosmopolitischer Offenheit, die sich als Mittel der Abgrenzung eignet. Ollivier spricht von einer „conspicuous openness to diversity“ und sieht darin ein Indiz für die Emergenz eines neuen Typs legitimer Kultur: „The positive effects associated with diversity in social discourse may have over time a normative effect, prescribing new criteria for defining what is desirable and undesirable in the acquisition of culture. This legitimate culture, in turn, may be part of a larger discursive configuration based on a series of binary oppositions, whereby terms such as diverse, open, eclectic, global, cosmopolitan, educated, enlightened, dominant, and desirable on the one hand are opposed to what is defined as homogeneous, local, closed upon itself, uneducated, regressive, dominated, and undesirable on the other“ (Ollivier 2004:206).
Wie oben bereits erwähnt, zeigt sich auch beim Konsum „fremder Kultur“, dass eine symbolische Grenze zwischen jenen gezogen wird, die offen und tolerant sind, die sich für „fremde Kulturen“ interessieren und migrantischen Gruppen Wertschätzung entgegenbringen, und jenen, die migrantische Geschäfte meiden,
Offenheit als kulturelles Kapital
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die nicht so offen und tolerant sind, die vielleicht sogar Berührungsängste haben. In sozialstruktureller und herrschaftssoziologischer Hinsicht relevant ist dieser Befund dann, wenn die Mobilisierung kosmopolitischen kulturellen Kapitals nur jenen möglich ist, die ohnehin schon mit ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital gut ausgestattet sind. (3) Kosmopolitisches kulturelles Kapital als Indikator der Klassenlage: Gerade wenn kosmopolitisches kulturelles Kapital als soziale Ressource sowie vor dem Hintergrund der Emergenz einer neuen legitimen Kultur an Bedeutung gewinnt, stellt sich die Frage, wie der Zugang zu diesem Kapital geregelt wird, oder in anderen Worten: wer überhaupt über kosmopolitisches kulturelles Kapital verfügen kann. Zahlreiche Befunde deuten darauf hin, dass kosmopolitische Offenheit sowie die Toleranz gegenüber „fremden Kulturen“ häufiger in bildungsnahen und ökonomisch privilegierten Milieus zu finden sind (Ollivier 2004; Igarashi und Saito 2014; Coulangeon 2017). Allerdings wissen wir nur sehr wenig über die intergenerationelle Weitergabe dieser Offenheit. Zwar sprechen eine Reihe von AutorInnen in diesem Zusammenhang durchaus von einer „kosmopolitischen Disposition“ (Kendall, Woodward und Skrbis 2008) bzw. von einem „kosmopolitischen Habitus“ (Coulangeon und Lemel 2007) – unklar ist allerdings, welche Rolle die Herkunftsfamilie in der Herausbildung und Entwicklung eines kosmopolitischen Lebensstils hat. Gerade vor dem Hintergrund zunehmender geographischer Mobilität sowie zunehmender Konfrontation mit dem „Fremden“ (vor der eigenen Haustüre, aber auch im Internet) stellt sich die Frage, welchen Stellenwert Erfahrungen jenseits der Herkunftsfamilie in Hinblick auf die Ausprägung von kosmopolitischer Offenheit und die Akkumulation von kosmopolitischem kulturellem Kapital haben.
7.
Conclusio
Am Beispiel des migrantischen Lebensmittelhandels in Wien wurde gezeigt, wie der Konsum „fremder Kultur“ bildungsprivilegierten Angehörigen der „Mehrheitsgesellschaft“ zur Demonstration von Toleranz und Aufgeschlossenheit dient. Vieles spricht dafür, dass diese Offenheit als kosmopolitisches kulturelles Kapital fungiert: als Ressource, zumal Offenheit die Akkumulation von ökonomischem und sozialem Kapital begünstigen kann; als Distinktionsmittel, zumal sich Abschottungstendenzen gegenüber jenen (aus bildungsbenachteiligten Milieus stammenden) sozialen Gruppen zeigen, denen Offenheit und Aufgeschlossenheit abgesprochen wird; als Indikator der sozialen Position, zumal
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Michael Parzer
kulturelle Offenheit und kosmopolitische Haltungen insbesondere in bildungsnahen Milieus zu finden sind. In theoretischer Hinsicht ist dieser Befund in zweierlei Hinsicht bedeutsam: (1) In Hinblick auf den Symbolic-Boundary-Approach (Lamont und Moln#r 2002) zeigt sich, wie wichtig es ist, den Fokus nicht lediglich auf eine Art von symbolischer Grenzziehung zu richten, sondern vielmehr die Überlappung, Überschneidung und Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Grenzziehungen zu berücksichtigen. Im Fall des Konsums „fremder Kultur“ werden zwar ethnische Grenzen überschritten (oder zumindest wird eine Grenzüberschreitung inszeniert), zugleich aber werden klassenspezifische Grenzen verfestigt. (2) Relevant sind die Ergebnisse auch für aktuelle Diskussionen der Bourdieu’schen Kapitalsortentheorie: Eine Reihe von AutorInnen (u. a. Bennett et al. 2009; Prieur und Savage 2013) bemühen sich um eine zeitgemäße Spezifizierung kulturellen Kapitals. Das hier vorgeschlagene Konzept des „kosmopolitischen kulturellen Kapitals“ versteht sich als ein Schritt in die Richtung einer Aktualisierung der Kapitalsortentheorie vor dem Hintergrund der Beobachtung, dass sich Wertigkeiten gerade im Feld der kulturellen Produktion maßgeblich verschoben haben.
Danksagung Dank gilt allen InterviewpartnerInnen für ihre Zeit und Bereitschaft zur Beteiligung an dieser Studie. Besonders bedanken möchte ich mich bei Eva Wimmer, Irene Rieder und Franz Astleithner für ihre Unterstützung in der empirischen Feldarbeit. Für die wertvollen Anregungen und Verbesserungsvorschläge danke ich Carina Altreiter, Barbara Parzer, Maria Pohn-Lauggas sowie dem/der anonymen GutachterIn dieses Beitrags.
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Ursula Reeger
ArbeitsmigrantInnen aus den ostmitteleuropäischen EU-Ländern in Wien und Linz: Zwischen Gleichstellung und Integrationsbedarf
1.
Einleitung
In den letzten drei Jahrzehnten hat sich die rechtspolitische Situation in Europa – und damit auch in und um Österreich – grundlegend verändert, insbesondere, was die Möglichkeiten, mobil zu sein bzw. zu migrieren betrifft. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem EU-Beitritt Österreichs im Jahr 1995 folgten die direkten Nachbarländer Ungarn, die Slowakei, Slowenien und die Tschechische Republik sowie Polen und die Baltischen Staaten im Jahr 2004 und letztlich Rumänien und Bulgarien im Jahr 2007. Österreich entschied sich für die Implementierung von Übergangsregelungen bezüglich des Zutritts zum Arbeitsmarkt, die für alle genannten Länder mittlerweile ausgelaufen sind. Heute können sich EU-BürgerInnen aus Ostmitteleuropa in Österreich und in jedem anderen EU-Land niederlassen, einer Arbeit nachgehen, eine Universität besuchen oder zur Schule gehen, ihre Pension genießen oder sonstwie „ihr Glück probieren“. Wie einige MigrationsforscherInnen betonen, stellt die sogenannte EU-Freizügigkeit einen Wendepunkt in der europäischen Geschichte dar, der seinesgleichen sucht. Allerdings brachte das Jahr 2016 klare Einbrüche in dieser Entwicklung: Der bevorstehende BREXIT – der Austritt Großbritanniens aus der EU – basiert nicht zuletzt auf Vorbehalten von großen Teilen der britischen Bevölkerung gegenüber ebenjener Personenfreizügigkeit. In der offiziellen Diktion der EU ist immer von „Mobilität“ die Rede, wenn es um Wanderungsbewegungen von Personen innerhalb der EU geht. Dies ist aus der Perspektive der Geographie nicht vollkommen korrekt: Ist diese Mobilität mit einem Wechsel des Lebensmittelpunktes und damit des Wohnsitzes verbunden, spricht man von Migration, die wiederum kurz- oder langfristig sein kann. Darüber hinaus sind die Grenzen zwischen Mobilität und Migration fließend, so kann beispielsweise ein/e SaisonarbeiterIn eine dauerhafte Arbeitsstelle finden und seinen/ihren Lebensmittelpunkt deshalb in ein anderes EU-Land verlegen. Oder aber eine Person ist sowohl im Herkunfts- als auch im Zielland verankert, auch dann finden wir fließende Übergänge vor. Im vorlie-
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genden Text ist von Mobilität die Rede, wenn kein Wohnsitzwechsel vollzogen wurde (PendlerInnen, GrenzgängerInnen), während die Gruppe der MigrantInnen diejenigen umfasst, die sich (für kürzer oder länger) in Wien oder Linz niederlassen. Sowohl Mobilität als auch Migration von EU-BürgerInnen ist nicht gleich verteilt, sondern es gibt derzeit eine dominante Richtung: von Ost nach West. Europäische Ost-West-Wanderung ist grundsätzlich nichts Neues, sie hat eine lange Geschichte und bringt – vor allem in Österreich – alte Migrationsmuster zurück (vgl. Fassmann, Kohlbacher and Reeger 2014), allerdings unter nunmehr vollkommen anderen legistischen Voraussetzungen. Der vorliegende Beitrag widmet sich den Auswirkungen der Zuwanderung von Arbeitskräften aus ostmitteleuropäischen EU-Staaten in zwei österreichischen Städten, nämlich Wien und Linz. Dabei werden die positiven und negativen Seiten beleuchtet, und zwar aus zwei Perspektiven: erstens für die MigrantInnen selbst und zweitens für ausgewählte Subsysteme der aufnehmenden Städte. Der Vielfalt der ostmitteleuropäischen Arbeitsmigration wird dabei insofern Rechnung getragen, als verschiedene Typen (in Hinblick auf Positionierung auf dem Arbeitsmarkt und Dauer des Aufenthalts) in die Analyse einbezogen werden. Bereiche, in denen Auswirkungen betrachtet werden, umfassen den Arbeitsmarkt, den Wohnungsmarkt, das Sozialsystem und den Spracherwerb. Die Frage lautet, ob der Zugang zu und die Positionierung in diesen Bereichen genauso einfach und scheinbar reibungslos abläuft wie die von der EU so heftig beworbene Personenfreizügigkeit.
2.
Datenbasis und Methodologie
Der vorliegende Beitrag basiert auf Ergebnissen des Projekts IMAGINATION – Urban Implications and Governance of CEE Migration, das im Rahmen der Joint Programming Initative „Urban Europe“ gefördert wurde und eine Laufzeit von drei Jahren hatte (Juni 2013 bis Mai 2016). Das Projekt wurde in jeweils zwei Stadtregionen in drei EU-Mitgliedstaaten – Schweden, den Niederlanden und Österreich – und in der Türkei als konstrastierendem Fall durchgeführt. Das Design beruhte auf drei Säulen, nämlich der Analyse (1) verschiedener Migrationstypen aus ostmitteleuropäischen EU-Staaten, (2) der Auswirkungen dieser unterschiedlichen Migrationstypen in den Stadtregionen und (3) der politischen Steuerung dieser Auswirkungen. Methodisch wurde, wie in allen empirischen Schritten innerhalb des Projekts, ein stakeholder-basierter Ansatz gewählt, der auf der Annahme beruht, dass ExpertInnen, die in diesem Feld arbeiten, ein breit gefächertes Wissen über die Situation von ostmitteleuropäischen EU-MigrantInnen in den Städten haben. Bezüglich der Analyse der Auswirkungen in den Stadtregionen wurden die Ex-
ArbeitsmigrantInnen aus den ostmitteleuropäischen EU-Ländern
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pertInnen in drei Schritten in die Forschung einbezogen. Der erste Schritt bestand aus einer Online-Befragung (März und April 2014), die zum Ziel hatte, eine möglichst breites Spektrum an Auswirkungen der Zuwanderung aus ostmitteleuropäischen Ländern zu sammeln (n = 46), gefolgt von Schritt 2, semistrukturierten ExpertInneninterviews (acht in Wien und sieben in Linz im September und Oktober 2014), und Schritt 3, einer Fokusgruppe (im Dezember 2014), in der die Ergebnisse aus den Schritten 1 und 2 mit acht TeilnehmerInnen aus Wien und Linz noch einmal diskutiert und reflektiert wurden. In allen Schritten folgten die Auswahl und die Anzahl der ExpertInnen speziellen Kriterien, die vor allem darauf abzielten, eine gleichmäßige Einbeziehung von TeilnehmerInnen aus der öffentlichen Verwaltung, dem halböffentlichen Bereich (z. B. Sozialpartner, Arbeitsmarktservice) sowie von NGOs zu gewährleisten.1 Obwohl das Forschungsdesign nicht nur auf Kernstädte, sondern auch auf das städtische Umland bezogen war, werden im Folgenden nur die Kernstädte Wien und Linz betrachtet. Dies stellt kein Problem dar, da die ExpertInnen diesbezüglich eine klare Unterscheidung in ihren Aussagen trafen und damit nur solche, die sich auf die Kernstädte bezogen, herausgefiltert werden können. Der stakeholder-basierte Ansatz hat sowohl Stärken als auch Schwächen: Zu den Stärken zählt sicher, dass detaillierte Informationen zur Forschungsfragestellung in einer zeit- und ressourcenschonenden Art und Weise gesammelt werden konnten. Die konkreten Angaben haben darüber hinaus die Qualität einer stärkeren Synthetisierung, was von Interviews mit MigrantInnen selbst nicht zu erwarten gewesen wäre. Aber die Schwächen sollen nicht verschwiegen werden, da sie für die Analyse und Interpretation der Daten von Bedeutung sind: Eine problemorientierte Verzerrung konnte nicht vermieden werden. Sie beruht auf der Tatsache, dass Stakeholder vor allem im Fall von Problemen und negativen Auswirkungen aktiv werden. Darüber hinaus sind ExpertInnen oftmals an die Politik der jeweiligen Organisation gebunden, was ihre Antworten möglicherweise beeinflusst hat.
3.
State of the Art: Europäische Ost-West-Wanderung
Die Forschung zur wieder aufkommenden europäischen Ost-West-Wanderung hat unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs begonnen. Seither hat sich ein breites Spektrum an wissenschaftlichen Analysen den „stocks and flows“, konkreten Migrationsmustern, Beträgen zur Theorie der Migration, der Arbeitsmigration und verschiedenen Facetten der Integration gewidmet. Aus 1 Im Anhang dieses Beitrags zeigt eine Liste die anonymisierten TeilnehmerInnen an den Interviews und der Fokusgruppe sowie die Kürzel, die im empirischen Teil verwendet werden.
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Ursula Reeger
geographischer Perspektive fokussieren diese Analysen entweder auf einzelne Sendeländer, wobei Polen hier wohl das meist untersuchte ist, oder auf einzelne Zielländer, -regionen oder -städte in Westeuropa (z. B. Großbritannien, Deutschland, Österreich). Mit dem bereits erwähnten rechtspolitischen Paradigmenwechsel und dem Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit hat sich das wissenschaftliche Interesse der sogenannten „post-accession migration“ und ihren Besonderheiten zugewendet (Black et al. 2010; Glorius et al. 2013), vor allem Fragen der Integration in den Zielgebieten, z. B. auf dem Arbeitsmarkt oder dem Wohnungsmarkt. MigrationsforscherInnen kommen dabei mehr und mehr zu dem Schluss, dass EUMigrantInnen – auch wenn sie auf dem Papier dieselben Rechte haben wie BürgerInnen des jeweiligen Landes – trotzdem „Integrationsbedürfnisse“ aufweisen und oftmals mit Barrieren konfrontiert sind (Collett 2013), die jenen von Drittstaatsangehörigen nicht unähnlich sind. Aus der Perspektive der Auswirkungen auf die Zielländer konnten Kahanec und Pytlikova (2016) nachweisen, dass die Zuwanderung aus den neuen Mitgliedstaaten positive Effekte auf die Wirtschaftskraft (gemessen am BIP) der EU15-Länder hat. Skupnik (2014) widmetete sich der Frage, ob diese „alten“ EULänder als Antwort auf die Beitritte von 2004 und 2007 ihre Sozialleistungen zurückschrauben, um für Zuwanderer aus den neuen Beitrittsstaaten weniger attraktiv zu sein. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Erweiterungen 2004 und 2007 eine europaweite Debatte über die Zukunft des Wohlfahrtsstaats ausgelöst haben, kommt der Autor zu dem Schluss, dass nichts dergleichen passiert ist: Große Reformen der wohlfahrtsstaatlichen Systeme wurden bislang nicht durchgeführt (Skupnik 2014:19). Der Zugang zum und die Situation von ostmitteleuropäischen EU-MigrantInnen auf dem Arbeitsmarkt nimmt in der aktuellen Forschung eine zentrale Rolle ein (z. B. Drinkwater et al. 2010; Ciupijus 2011). Dequalifikation ist dabei ein Schlüsselpunkt, der allerdings schon seit 1989 intensiv untersucht wird. Im Gegensatz zu anderen Einwanderergruppen, wie den sogenannten „Gastarbeitern“, die vor allen in den 1960ern und 1970ern in viele westeuropäische Länder gekommen sind, verfügen ostmitteleuropäische EU-MigrantInnen über ein überdurchschnittliches Bildungsniveau, das sie nur selten in eine adäquate Stellung auf dem aufnehmenden Arbeitsmarkt übersetzen können, zumindest am Beginn ihres Aufenthalts. Neben Studien zu den Faktoren, die Dequalifikation bedingen, konnte gezeigt werden, dass prekäre Arbeit und eine abwärts gerichtete berufliche Mobilität der Preis sind, den ostmitteleuropäische EUMigrantInnen gewillt sind zu bezahlen, um – trotz allem – höhere Löhne im Westen zu lukrieren. Vor allem Frauen laufen Gefahr, in unterqualifizierenden, schlecht bezahlten Jobs „festzusitzen“ und kaum Chancen zu haben, beruflich aufzusteigen. Favell (2008) betont daher die Gefahr, dass diese „ambitious ,New
ArbeitsmigrantInnen aus den ostmitteleuropäischen EU-Ländern
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Europeans‘ […] becoming a new Victorian servant class for a West European aristocracy of creative-class professionals and university educated working mums“. Das mag dramatisch klingen, aber Universitätsabsolventinnen, die in der Kinder- oder Altenbetreuung arbeiten, sind auch in Österreich keine Seltenheit. RumänInnen und BulgarInnen, die von manchen westlichen Arbeitsmärkten (z. B. in Österreich und Deutschland) länger ausgeschlossen waren als MigrantInnen aus den Beitrittsländern von 2004, haben oft den Weg der (Schein-)Selbständigkeit gewählt, um einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu erhalten. Diese Scheinselbständigkeit resultiert oft in noch prekäreren Arbeitsverhältnissen und einer ausgeprägten Konkurrenz auch innerhalb der verschiedenen Herkunftsländer (Ciupijus 2011:546). Ostmitteleuropäische MigrantInnen sind als „billige und willige“ Arbeitskräfte in westeuropäischen Ökonomien sehr willkommen. Dieser hohe Arbeitseinsatz hindert sie aber oft daran, gesellschaftlich zu partizipieren oder die neue Sprache zu erlernen, wie im britischen Kontext beschrieben wurde (MacKenzie und Forde 2009): „Certain workplaces, particularly those embodying classical features of secondary labour market jobs, do not facilitate overcoming social and cultural exclusion.“ Es steht zu befürchten, dass diese Exklusion an die Kinder „vererbt“ wird (Ciupijus 2011). Der Heterogenität der Arbeitsmigration aus Ostmitteleuropa wird in der Forschung zunehmend Rechnung getragen, auch wenn viele Studien immer noch die benachteiligenden Bedingungen ins Zentrum des Interesses stellen. Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Favell (2009), der sich dem hochqualifizierten Teil der EU-Mobilität gewidmet hat. Er nennt diese Elitewanderer „Eurostars“, die in „Eurocities“ migrieren, und hat sich im Wesentlichen auf EU-15MigrantInnen konzentriert, obwohl zunehmend auch OstmitteleuropäerInnen involviert sind: „An invisible migration of West Europeans has laid path now for young, talented and educated Poles, Hungarians, Romanians and others heading in the same direction“ (ebd. 178f.). Sein Vergleich der Situation in London, Amsterdam und Brüssel zeigt, dass auch ElitemigrantInnen zum Teil von Exklusion betroffen sind, die sich vor allem auf lange Sicht negativ auswirken kann und in soziale Isolation mündet. Gründe sieht der Autor in Sprachbarrieren und den „internal secrets of a national ,culture‘ reserved for native speakers“ (ebd. 180). Ein weiterer Foschungsstrang betrachtet bestimmte Bereiche der Integration von ostmitteleuropäischen EU-MigrantInnen. Bezüglich der Lage auf dem Wohnungsmarkt weist Ciupijus (2011:542) darauf hin, dass die grundsätzliche rechtliche Gleichstellung betreffend den Zugang zum sozialen Wohnbau nichts an der generellen Knappheit in diesem Segment des Wohnungsmarktes ändert und diese „left many mobile CEEs (most of them employed in poorly paid,
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Ursula Reeger
secondary labour market jobs) with the unattractive option of expensive private accommodation“. Sabater (2015) widmete sich in diesem Zusammenhang der Frage, ob diese Konzentration im privaten Mietwohnungssegment zu residenzieller Segregation führt. Für Großbritannien hat er gezeigt, dass EU-MigrantInnen aus Polen im Vergleich zu jenen aus Spanien, Italien und Portugal überdurchschnittlich oft in benachteiligten Stadtteilen leben.
4.
Ostmitteleuropäische EU-MigrantInnen in Wien und Linz: Eine diverse Gruppe
Auf die lange Geschichte der Zuwanderung aus Ostmitteleuropa nach Österreich kann hier nicht im Detail eingegangen werden. Im Folgenden wird die aktuelle Situation anhand einiger Eckdaten skizziert. Abbildung 1 zeigt den Wanderungssaldo mit den ostmitteleuropäischen Beitrittsländern 2004 (= EU-8: Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn, und die drei baltischen Staaten, die im Falle Österreichs quantitativ bedeutungslos sind) und 2007 (= EU-2: Rumänien und Bulgarien) in Wien und Linz. Um eine bessere Vergleichbarkeit zwischen den beiden Städten zu gewährleisten, wird der Wanderungssaldo als Anteil an der Bevölkerung dargestellt. Derart zeigen sich vor allem ab dem Jahr 2011 starke Ähnlichkeiten zwischen den beiden Städten, mit einem ausgeprägt positiven Wanderungssaldo, der seinen Höhepunkt im Jahr 2014 erreichte (in absoluten Zahlen: Wien +11.892, Linz: +1.174). Damit wird auch erkennbar, dass die Öffnung des Arbeitsmarktes für die Zuwanderung eine bedeutendere Rolle gespielt hat als der eigentliche EU-Beitritt der ostmitteleuropäischen Länder. Im Jahr 2014, als auch die gegenständlichen empirischen Erhebungen durchgeführt wurden, waren in Wien mehr als 130.000 BürgerInnen aus den EU-8+2 offiziell registriert. Das wichtigste Herkunftsland war Polen, gefolgt von Rumänien und Ungarn. 23 % der im Ausland Geborenen insgesamt stammten aus den zehn ostmitteleuropäischen Ländern, ihr Anteil an der Bevölkerung insgesamt betrug 7,5 %. Die Bevölkerungsstruktur ähnelt jener in Linz, wo auch rund ein Fünftel der im Ausland geborenen Bevölkerung aus den EU-8+2 stammt (20,6 %). Die wichtigsten Herkunftsländer im Falle von Linz umfassen Rumänien, die Tschechische Republik und Ungarn (vgl. Tabelle 1). In beiden Städten haben die ExpertInneninterviews und die Online-Befragung gezeigt, dass eine wachsende Differenzierung der Zuwanderungstypen zu beobachten ist. Ostmitteleuropäische EU-MigrantInnen sind eine sehr diverse Gruppe, vor allem was die Gründe für die Migration wie auch ihre Dauer anbelangt (vgl. Reeger und Enengel 2016). Ohne Zweifel ist eine Zuwanderung zum
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ArbeitsmigrantInnen aus den ostmitteleuropäischen EU-Ländern 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3 0,2 0,1 0 2002
2003
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2005
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Wien
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
Linz
Abbildung 1: Wanderungssaldo der Zuwanderung aus Ostmitteleuropa in % der Wohnbevölkerung in Wien und Linz, 2002–2015. Quelle: Statistik Austria, Bevölkerungsregister ; eigene Berechnungen.
Zweck der Arbeitsaufnahme in beiden Städten nach wie vor am wichtigsten, sei es als SaisonarbeiterIn, als GrenzgängerIn oder als WissensarbeiterIn in hohen Positionen. Frauen aus Ostmitteleuropa sind in privaten Haushalten stark nachgefragt, sowohl als Pflegekräfte als auch als Haushaltshilfen. Viele ostmitteleuropäische EU-MigrantInnen gehen einer selbst ständigen Tätigkeit nach, oft noch eine Folge der Übergangsregelungen bezüglich des Zugangs zum Arbeitsmarkt. Tabelle 1: Struktur der Bevölkerung in Wien und Linz nach dem Geburtsland, 2014. Wien
Anteil an im Ausland Geborenen
Linz
Bevölkerung insg. 1.766.746 193.814 Österreich 1.198.565 147.466 Ausland 568.181 46.348 Anteil im Ausland Geborener insg. 32.2 EU-8 95.944 16,9 5.559 Polen 43.569 1.183 Ungarn 18.492 1.233 Tschechische Republik 15.710 1.964 Slowakei 13.944 805 Slowenien 2.949 300 Baltische Staaten 1.280 74 EU-2 36.211 6,4 3.998 Rumänien 24.557 3.492 Bulgarien 11.654 506 EU-8 + EU-2 insgesamt 132.155 23,3 9.557 Quelle: Statistik Austria, Bevölkerungsregister ; eigene Berechnungen.
Anteil an im Ausland Geborenen
23.9 12,0
8,6 20,6
296
Ursula Reeger
Die hier präsentierten Zahlen spiegeln natürlich nur einen Teil der Realität der aktuellen Ost-West-Wanderung wieder. Viele individuelle Projekte weisen einen temporären Charakter auf und schlagen sich nicht in den offiziellen Zahlen nieder, da sich z. B. GrenzgängerInnen nicht in Österreich registrieren lassen. Wien und Linz liegen nahe der Grenze zu den ostmitteleuropäischen Nachbarn und so sind kurzfristigere Formen der Mobilität möglich.
5.
Zur Lage ostmitteleuropäischer EU-MigrantInnen in Wien und Linz
5.1.
Arbeitsmarkt: Dreh- und Angelpunkt eines erfolgreichen Migrationsprojekts
In der Diskussion rund um die Arbeitsmarktsituation von ostmitteleuropäischen EU-MigrantInnen haben die ExpertInnen in beiden Städten besonders auf das Problem der Dequalifikation hingewiesen, wobei das diesbezügliche Problembewusstsein in Wien stärker ausgeprägt war als in Linz. Im Vergleich zu anderen Zuwanderergruppen, aber auch zu Nicht-MigrantInnen, weisen ostmitteleuropäische EU-MigrantInnen ein überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau auf, das sie – vor allem am Beginn ihres Aufenthalts – nicht immer in adäquate Positionen auf dem österreichischen Arbeitsmarkt „übersetzen“ können. Sie sind aber bereit, dequalifizierende Arbeiten anzunehmen, solange sie damit höhere Löhne lukrieren als in ihrem Herkunftsland. Das ist sozusagen der Preis, den sie für den Eintritt in den Arbeitsmarkt bezahlen. Die Gründe für Dequalifikation sind vielfältig: Mangelnde Sprachkenntnisse auf der einen Seite (WI_3), aber auch die Diskrepanz zwischen den individuellen Qualifikationen und der konkreten Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt wurden von den ExpertInnen ins Treffen geführt (WI_1; WI_5). Am ausschlaggebendsten sind aber Probleme bei der Anerkennung im Ausland erworbener Qualifikationen, die in Österreich immer noch nicht hinreichend gelöst sind (Fokusgruppe). Ostmitteleuropäische EU-MigrantInnen bräuchten hier klare und transparente Informationen und sind mit dem administrativen Aufwand oft überfordert. Die Übersetzung von Diplomen und Zeugnissen ist teuer und zeitaufwendig und führt oft nicht zum gewünschten Erfolg. Manche verfügen aber auch über zu wenig offizielle Nachweise über ihre Berufsausbildung (LI_7). Auf einer allgemeineren Ebene gingen die Meinungen der befragten ExpertInnen bezüglich des Zugangs zu Informationen zum Arbeitsmarkt weit auseinander. Während manche der Ansicht waren, dass ostmitteleuropäische EUMigrantInnen unter einem gravierenden Informationsmangel leiden, sahen
ArbeitsmigrantInnen aus den ostmitteleuropäischen EU-Ländern
297
andere vor allem das Internet und MigrantInnennetzwerke als wichtige und ausreichende Quellen. Die Perspektive der Institutionen (AMS) und der öffentlichen Verwaltung in den Städten sollte nicht außer Acht gelassen werden: Ostmitteleuropäische EU-MigrantInnen stellen hier eine Herausforderung dar, da sie eben oft nicht über einen hinreichenden Wissenstand verfügen und kein oder nur wenig Deutsch sprechen, was zu einem gesteigerten Aufwand in der Administration führt (Fokusgruppe). Für Wien wurde ein gewisses Ausmaß an Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt konstatiert. Geringqualifizierte ostmitteleuropäische EU-MigrantInnen und solche ohne formale Qualifikationen konkurrieren mit Einheimischen im Niedriglohnbereich (Fokusgruppe). In Linz treten verstärkt Leiharbeitsfirmen aus Ostmitteleuropa auf, vor allem im Baubereich und im Transportwesen (LI_7). Sie bieten z. B. Facharbeiter zu geringeren Lohnkosten an, was einheimische Unternehmen unter Druck setzt. Obwohl ausländischen LeiharbeiterInnen laut Anti-Lohndumping-Gesetz derselbe Mindestlohn zusteht, erhalten sie eben oft nicht mehr als den Mindestlohn. Es gibt aber auch eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Herkunftsländern: Rumänische Pflegekräfte bieten ihre Dienste zum Teil deutlich billiger an als solche aus Ungarn und der Tschechischen Republik (LI_13). Bezüglich der Entlohnung wurde insgesamt eine Diskriminierung von ostmitteleuropäischen EU-MigrantInnen festgestellt, sowohl in formellen als auch in informellen Arbeitsverhältnissen. Sie verdienen weniger als Einheimische in ähnlichen Positionen (Fokusgruppe). Die Grenzen zwischen formellen und informellen Arbeitsverhältnissen verschwimmen dabei oft, so z. B. in der Gastronomie, wo Personen für ein geringes Ausmaß an Stunden angemeldet werden und in Wirklichkeit viel länger arbeiten, was sich auch negativ auf ihre Beiträge und damit ihre Leistungen aus der Sozialversicherung auswirkt. Es wurden aber auch positive Aspekte der EU-internen Migration nach Wien und Linz ins Treffen geführt. Die oft hohen Qualifikationen stimulieren den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft, Selbständige schaffen neue Arbeitsplätze (WI_1) und erschließen neue Märkte in Ostmitteleuropa. OstmitteleuropäerInnen sind linguistische und kulturelle Brückenbauer im zentraleuropäischen Raum (Online-Befragung) und füllen Lücken auf dem Arbeitsmarkt, z. B. im Pflegebereich, aber auch in der Landwirtschaft, in der Bauwirtschaft und als Hochqualifizierte im IT-Bereich. Im Bereich der Selbständigkeit gibt es zwar positive Beispiele gelungener Unternehmensgründungen, die Mehrzahl sind aber Ein-Personen-Unternehmen, die vor allem in der Phase der Zugangsbeschränkungen zum Arbeitsmarkt gegründet wurden (Fokusgruppe). Diese Scheinselbständigen schaffen auch nach dem Ende der Zugangsbeschränkungen den Übergang in unselbständige Beschäftigungsverhältnisse meistens nicht, sind dann weiterhin einer harten
298
Ursula Reeger
Konkurrenz ausgesetzt und befinden sich in prekären Verhältnissen, z. B. in der Bauwirtschaft, die durch eine große Unsicherheit gekennzeichnet sind. Viele werden regelrecht in die Selbständigkeit gedrängt (WI_3), z. B. im Pflegebereich oder im Taxigewerbe, da die Unternehmer Abgaben sparen wollen. Viele Frauen aus Ostmitteleuropa finden eine Beschäftigung in privaten Haushalten. Hier gilt es, zwischen zwei Gruppen zu unterscheiden: (1) Pflegekräfte aus den unmittelbaren Nachbarländern sowie aus Polen und Rumänien pendeln nach Wien und Linz, meistens alle zwei Wochen oder jeden Monat. Sie sind meistens selbständig und wohnen direkt im Haushalt der pflegebedürftigen Person. Die ExpertInnen waren sich darüber einig, dass der Pflegebereich ohne diese Frauen de facto zusammenbrechen würde. Sie werden von ausländischen Agenturen an inländische Agenturen vermittelt, die dann den Kontakt zu den Haushalten herstellen. Hierfür sind Gebühren zu entrichten, die unterschiedlich hoch sein können und das Einkommen der Pflegekräfte zum Teil massiv beschneiden (LI_13). (2) Reinigungskräfte, Kindermädchen und GärtnerInnen werden ebenfalls sehr stark nachgefragt. Sie finden sich oft in einer schwachen Position, da sie informell beschäftigt werden und damit weder unfall-, krankenoder pensionsversichert sind. Im Gegensatz zu den Pflegekräften sind viele von ihnen in Wien bzw. Linz ansässig.
5.2
Wohnen und das Zusammenleben auf der lokalen Ebene
Bezüglich der Wohnsituation unterscheiden sich ostmitteleuropäische EU-MigrantInnen kaum von anderen MigrantInnen oder anderen Stadtbewohnern generell dahingehend, dass sie in beiden Städten auf einen angespannten Wohnungsmarkt treffen, auf dem eine große Nachfrage und ein Mangel an leistbarem Wohnraum herrscht. MigrantInnen sind aber deutlich öfter von Diskriminierung und Exklusion auf dem Wohnungsmarkt betroffen, ihre Wahlmöglichkeiten sind entweder aufgrund ihrer finanziellen Situation oder aufgrund von Zugangsbeschränkungen zu einzelnen Segmenten des Wohnungsmarkts eingeschränkt (WI_3). Dies führt dazu, dass sie im Durchschnitt häufiger in benachteiligten Stadtteilen und im schlechter ausgestatteten alten (gründerzeitlichen) Baubestand leben. Ein bereits 2007 durchgeführter Vergleich der Wohnsituation verschiedener MigrantInnengruppen in den fünf größten österreichischen Städten – darunter auch in Wien und Linz –, der auf den Ergebnissen der Volkszählung 2001 basierte, zeigt allerdings, dass ostmitteleuropäische MigrantInnen schon vor dem Beginn der EU-Freizügigkeit auf dem Wohnungsmarkt besser gestellt waren als MigrantInnen aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei. Im Vergleich zu westeuropäischen EU-15-MigrantInnen war ihre Situation allerdings schlechter
ArbeitsmigrantInnen aus den ostmitteleuropäischen EU-Ländern
299
(vgl. Kohlbacher und Reeger 2007). Man kann davon ausgehen, dass sich daran nicht viel geändert hat, da sich Wohnungsmarktstrukturen nicht rasch wandeln. Im Wesentlichen hängt die Wohnsituation nunmehr also von den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln ab. WissensarbeiterInnen in hochqualifizierten und damit gut bezahlten Positionen können sich laut den Aussagen von einigen ExpertInnen auf dem Wohnungsmarkt frei bewegen, ihre Wahlmöglichkeiten sind mehr oder weniger genauso groß wie jene von Nicht-MigrantInnen. Viele ostmitteleuropäische EU-BürgerInnen sind allerdings im Niedriglohnsektor tätig und manche arbeiten informell, was direkte Auswirkungen auf ihre Wohnsituation hat (WI_14). Die Wahlmöglichkeiten dieser Gruppe sind eingeschränkt und sie sind auf den privaten Mietwohnungsmarkt angewiesen, wo teilweise überhöhte Mieten in überfüllten Gemeinschaftsquartieren verlangt werden (Fokusgruppe), vor allem dann, wenn sie sich nur kurzfristig in Wien oder Linz aufhalten. Oftmals gibt es keine offiziellen Mietverträge, was ihre Situation zusätzlich schwächt. In der Fokusgruppe wurde ferner diskutiert, dass sich die hohen Ausgaben für das Wohnen negativ auf andere Bereiche auswirken können: Teure Deutschkurse sind dann beispielsweise nicht mehr leistbar (WI_3). Wien und Linz weisen hinsichtlich der Wohnsituation von ostmitteleuropäischen EU-Bürgerinnen viele Gemeinsamkeiten auf. Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings im Zugang zum sozialen Wohnbau: Diese leistbare Variante ist in Wien prinzipiell nur nach einem ununterbrochenen Aufenthalt von zwei Jahren zugänglich (Hauptwohnsitzmeldung ohne Zweitmeldung, dies gilt auch für alle „Mitziehenden“), wobei das Einkommen eine Höchstgrenze nicht überschreiten darf. Die Wartezeiten nach einer erfolgreichen Vormerkung sind allerdings lang, vor allem wenn spezifische Wünsche (z. B. bezüglich Ausstattung oder Lage der Wohnung) geäußert werden. Darüber hinaus ist diese Wohnform keine Option für temporäre EU-MigrantInnen, die rasch und kurzfristig Wohnraum benötigen würden. Die Stadt Linz hat im Gegensatz zu Wien beim Zugang zum sozialen Wohnbau offiziell keine Restriktionen bezüglich der Aufenthaltsdauer implementiert, es scheint aber, dass die Kriterien der Zuweisung von Gemeindewohnungen nicht hinreichend transparent sind (LI_12). Wie in vielen anderen Bereichen würden ostmitteleuropäische EU-BürgerInnen in beiden Städten bessere Informationen über den Wohnungsmarkt und die diesbezüglichen Vorschriften und Regelungen (Antragstellungen, vertragliche Besonderheiten) benötigen (LI_12). Wieder spielt die sprachliche Kompetenz als Schnittstelle eine wichtige Rolle. Auswirkungen auf der lokalen Ebene, also im öffentlichen Raum und der Nachbarschaft, wurden von den ExpertInnen kontrovers diskutiert. Positive Auswirkungen (kulturelle Bereicherung, kulturelle Diversität als Gewinn im alltäglichen städtischen Leben; WI_10) wurden dabei ebenso ins Treffen geführt
300
Ursula Reeger
wie neutrale Positionen (Zuwanderung aus Ostmitteleuropa als Teil der österreichischen Normalität mit einer langen Geschichte) und negative Entwicklungen, vor allem in Bezug auf marginalisierte Gruppen wie Bettler und Wohnungslose, die durch ihre Sichtbarkeit generalisierte negative Einstellungen gegenüber EU-BürgerInnen aus Ostmitteleuropa befördern würden (OnlineBefragung).
5.3
Anmeldung, Anmeldebescheinigung und der Zugang zu Sozialleistungen
In Österreich besteht grundsätzlich Meldepflicht: Wer eine Unterkunft bezieht, ist verpflichtet, sich bei der zuständigen Meldebehörde registrieren zu lassen. Darüber hinaus sind alle EU-BürgerInnen und deren Angehörige verpflichtet, eine Anmeldebescheinigung zu beantragen, falls sie sich länger als drei Monate in Österreich aufhalten und niederlassen wollen. Diese Bescheinigung können sie nur erhalten, wenn sie (1) einer Beschäftigung nachgehen (unselbständig oder selbständig), oder (2) über ausreichende Existenzmittel für sich und ihre Familie verfügen und krankenversichert sind, oder (3) einer Ausbildung nachgehen, über ausreichende Existenzmittel verfügen und krankenversichert sind (vgl. www.help.gv.at). Falls EU-BürgerInnen es verabsäumen, fristgerecht eine Anmeldebescheinigung zu beantragen, können Verwaltungsstrafen verhängt werden. Der Handlungsspielraum der Städte ist in diesem Bereich limitiert, er liegt hauptsächlich in der konkreten Implementierung der nationalen Regelungen. Die ExpertInneninterviews zeigen, dass sich EU-BürgerInnen allgemein und darunter eben auch solche aus Ostmitteleuropa oft nicht darüber im Klaren sind, dass sie eine Anmeldebescheinigung benötigen. Manche scheuen außerdem davor zurück, eine Anmeldebescheinigung zu beantragen, weil sie befürchten, die Voraussetzungen – vor allem in Bezug auf den Nachweis der Existenzmittel – nicht zu erfüllen (WI_5). Auf der nationalen Ebene wird argumentiert, dass die Regelungen rund um die Anmeldebescheinigung klar darauf abzielen, einen Missbrauch des Sozialsystems zu verhindern (AT_11). Die räumliche Nähe zwischen den beiden Städten und den ostmitteleuropäischen Nachbarländern bedingt eine Vielfalt an Migrationsprojekten, darunter auch kurzfristige, für die keine Anmeldung in Österreich notwendig ist. Viele EU-BürgerInnen wohnen in ihren Herkunftsländern und arbeiten in Österreich, sie begründen also keinen neuen Hauptwohnsitz. Andere bleiben für wenige Wochen in Wien oder Linz und kehren dann wieder (auf unbestimmte Zeit) in ihre Herkunftsländer zurück, sie melden sich nicht an, ebenso wenig wie diejenigen, die einer informellen Arbeit nachgehen. Die Übergänge zwischen
ArbeitsmigrantInnen aus den ostmitteleuropäischen EU-Ländern
301
offizieller Meldung auf der einen Seite und formeller/informeller Arbeit auf der anderen Seite sind fließend (Online-Befragung, Fokusgruppe). Die administrative Abwicklung von Anmeldung und Anmeldebescheinigung stellt nicht nur für die MigrantInnen, sondern auch für die städtischen Verwaltungen eine Herausforderung dar. Wie auch in anderen Bereichen fehlt es auf der individuellen Seite oft an ausreichenden Informationen zu den notwendigen Schritten und Abläufen. Die Verwaltung – auf der anderen Seite – sieht sich mit einer Vielzahl an Anträgen konfrontiert, deren Bearbeitung oft auch aufgrund der Sprachbarriere einen enorm hohen Aufwand erfordert (Fokusgruppe). Nur als Beispiel: Allein in Wien melden sich pro Jahr durchschnittlich 65.000 Personen aus dem Ausland an. Der Zugang zu Sozialleistungen ist strikt an eine Beschäftigung in Österreich und die derart geleisteten Beiträge gekoppelt. Somit stellt er für offiziell beschäftigte ostmitteleuropäische EU-BürgerInnen grundsätzlich kein Problem dar, allerdings gibt es noch Ungereimtheiten und Handlungsbedarf bezüglich des Transfers von Sozialleistungen (Arbeitslosengeld, Familienbeihilfe) ins Ausland. Anders verhält es sich bei jenen, die einer informellen Beschäftigung nachgehen. Sie sind von diesem System ausgeschlossen, nicht versichert und dadurch stark benachteiligt. Im Falle von Arbeitslosigkeit und Krankheit erhalten sie keine Leistungen, ebenso sammeln sie kein Anrecht auf Pensionszahlungen (Fokusgruppe).
5.4.
Die Rolle von Sprachkenntnissen und der Zugang zu Sprachkursen
Sprachkenntnisse sind eine bedeutende Schnittstelle für einen gelungenen Zugang in die bisher behandelten Bereiche, z. B. zur Vermeidung von Dequalifikation oder ganz konkret beim Besichtigen einer Wohnung. Die ExpertInnen waren sich darüber einig, dass der Deutscherwerb vor allem für jene ostmitteleuropäischen EU-MigrantInnen wichtig ist, die einen längerfristigen Aufenthalt in Österreich planen, während er für SaisonarbeiterInnen in der Landwirtschaft, um ein konträres Beispiel zu nennen, einen zu großen Aufwand darstellen würde. Aufgrund der historischen Verbindungen zwischen Österreich und einigen der Herkunftsländer wurde allerdings darauf hingewiesen, dass viele ostmitteleuropäischen EU-MigrantInnen bereits über Deutschkenntnisse verfügen oder aufgrund ihres hohen Bildungsniveaus dazu in der Lage sind, die Sprache relativ rasch zu lernen (Fokusgruppe). Kritisiert wurde der schwierige Zugang zu Deutschkursen, da für EU-MigrantInnen hier kaum Mittel zur Verfügung gestellt werden. Diese Kurse sind darüber hinaus teuer und werden oft zu Zeiten abgehalten, zu denen Berufstätige nicht teilnehmen können. Es gibt also einen deutlichen Bedarf an kostengüns-
302
Ursula Reeger
tigen Kursen, vor allem aber auch an berufsspezifischen Spezialkursen. Im Falle einer Arbeitslosigkeit haben aber auch EU-MigrantInnen einen Zugang zu Deutschkursen (WI_1). In Wien erhalten EU-MigrantInnen im Rahmen des Start-Coaching Sprachgutscheine im Wert von 150 Euro (Fokusgruppe), in Linz sind derartige Maßnahmen von Seiten der Stadt nicht vorhanden.
6.
Zusammenfassung
Migration im Rahmen der Personenfreizügigkeit hat sich zu einem wichtigen Teil der Zuwanderung nach Österreich entwickelt. Während der Zuzug von sogenannten Drittstaatsangehörigen strengen Zugangsbestimmungen unterliegt, können sich EU-BürgerInnen in jedem anderen Mitgliedsland niederlassen, arbeiten, studieren oder sonst einer Tätigkeit nachgehen. Manche entscheiden sich für Österreich, vor allem BürgerInnen aus den ostmitteleuropäischen Beitrittsländern von 2004 und 2007, was die Bedeutung der räumlichen Nähe unter Beweis stellt. Ein Blick auf die Zahlen des Jahres 2014 zeigt, dass im Rahmen aller Zuzüge ostmitteleuropäische EU-MigrantInnen quantitativ bedeutender sind als solche aus den EU-15 und auch als Drittstaatsangehörige insgesamt. Städte sind immer noch die bevorzugten Ziele von MigrantInnen, sie bieten im Vergleich zu ländlichen Regionen vielfältigere Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt, wobei migrantische Netzwerke in der Perpetuierung von Zuwanderung eine gewisse Rolle spielen. Österreich bildet hier keine Ausnahme: Die Stadt Wien – als einzige echte Metropole in Österreich – beheimatet fast die Hälfte aller ostmitteleuropäischen EU-MigrantInnen. Aber auch andere Städte, wie das Fallbeispiel Linz zeigt, sind für die ZuwanderInnen aus Ostmitteleuropa attraktiv. In ihrer Rolle als „Zuwanderungsmagneten“, die sie schon längere Zeit einnehmen, sind sie besser auf die Ankunft neuer MigrantInnen vorbereitet und verfügen über spezifische Expertisen und Routinen. Ihr Handlungsspielraum beschränkt sich aber auf die Bereiche Wohnen, gesellschaftlicher Zusammenhalt oder das Schulwesen. Zuwanderung an sich können sie nicht beeinflussen, ebenso wenig wie Angelegenheiten des Arbeitsmarktes oder des Sozialsystems, die zumeist auf der nationalen Ebene geregelt werden. Der Vergleich der empirischen Ergebnisse für Wien und Linz zeigt, dass in den Einschätzungen der ExpertInnen, die an der Online-Befragung, den Interviews und der Fokusgruppe teilgenommen haben, mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede bestehen. Die Auswirkungen für die MigrantInnen sowie für die beiden Städte sind so vielfältig wie die EU-interne Zuwanderung aus Ostmitteleuropa selbst. Der Zugang zu Informationen und individuelle Sprachkenntnisse – zwei in Zusammenhang stehende Schnittstellen – bestimmen den Erfolg oder Miss-
ArbeitsmigrantInnen aus den ostmitteleuropäischen EU-Ländern
303
erfolg auf dem Arbeitsmarkt, dem Wohnungsmarkt oder beim Zugang zu Sozialleistungen. Insgesamt nehmen die ExpertInnen die Zuwanderung aus dem östlichen Teil der EU als etwas Positives wahr, sowohl für die MigrantInnen selbst als auch für die aufnehmenden Städte. Diese Zuwanderung ist weder besonders überraschend noch neu, sondern hat eine lange Tradition. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es bestimmte Gruppen gibt, denen eine vermehrte Aufmerksamkeit gelten sollte, vor allem denjenigen, die sich in marginalisierten Positionen auf dem Arbeitsmarkt befinden und von Dequalifikation, Diskriminierung und Prekarisierung betroffen sind, was oft eine negative Kettenreaktion in den Bereichen Wohnen und soziale Sicherheit mit sich bringt. Trotz der weitgehenden Gleichstellung von EU-BürgerInnen zeigt sich in diesen Bereichen sowie im Spracherwerb ein Integrationsbedarf, der an den von Drittstaatsangehörigen erinnert.
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305
ArbeitsmigrantInnen aus den ostmitteleuropäischen EU-Ländern
Anhang TeilnehmerInnen bei den ExpertInneninterviews und der Fokusgruppe Code
Institution
ExpertInnen- Fokusinterview gruppe X
WI_1
Arbeitsmarktservice Wien
WI_2 j Fokusgr. WI_3
Tageszentrum „Zweite Gruft“, Caritas Wien
X
Helping Hands, Wien
X
LI_4 WI_5 j Fokusgr.
Sprachinstitut Una, Linz waff (Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfonds), Wien
X X
WI_6 LI_7
Stadtschulrat Wien Arbeitsmarktservice Oberöstereich
X X
LI_8 WI_9 j Fokusgr.
WIFI Oberösterreich Sozial- und Rückkehrberatung, Caritas Wien, ExpertIn 1
X X
WI_9
X
WI_10
Sozial- und Rückkehrberatung, Caritas Wien, ExpertIn 2 Wohnpartner Wien
AT_11 LI_12
BMEIA Integrationbüro, Traun, ExpertIn 1
X X
LI_12 LI_12
Integrationbüro, Traun, ExpertIn 2 Integrationbüro, Traun, ExpertIn 3
X X
LI_13 j Fokusgr. WI_14
Wirtschaftskammer Oberösterreich
X
SOPHIE – BildungsRaum für Prostituierte, Volkshilfe Wien
X
X
X
X
X
X
Fokusgruppe Wirtschaftskammer Österreich Fokusgruppe Österreichischer Integrationsfonds
X X
Fokusgruppe Beratungszentrum für Migranten und Migrantinnen Wien, Wien Fokusgruppe MA17 – Integration und Diversität, Wien
X X
Arno Pilgram / Christina Schwarzl
Kriminalstatistiken als Erzählung über soziale Teilhabe von MigrantInnen
1.
Einleitung
Die Kriminalberichterstattung liegt weitgehend in den Händen von Massenmedien, die speziell auf spektakuläre Einzelfälle fokussieren. Über den Einzelfall hinausgehend unterfüttert das Innen- und Justizressort mit den periodischen Sicherheitsberichten die öffentliche und politische Diskussion. Dabei geht es nicht nur, aber jedenfalls regelmäßig um „Ausländerkriminalität“ und im Zusammenhang damit um die (Mit-)Verantwortung von Migrations- und Integrationspolitik für diese Entwicklungen, um den Umgang mit „Integrationsproblemen“, „Kulturkonflikten“ und die „Grenzen der Toleranz“ gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen. In diesem Rahmen werden Kriminalstatistiken üblicherweise als Indikatoren sozialer Desintegration und Unsicherheit gelesen. Tatsächlich erzählen sie mehr über gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen, als im Allgemeinen von ihnen erwartet wird. So informieren Kriminalstatistiken über negative Enttäuschungen in sozialen Interaktionen, aber auch über positive Erwartungen an die Institutionen Polizei und Justiz und den Zugang zu ihnen. Sie geben Hinweise auf prekäre Formen der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, aber auch auf Integration bzw. auf Durchsetzungs- und Emanzipationspotenziale von BürgerInnen. In der Zusammenschau zeigen die Statistiken von Polizei und Justiz einen Prozess der Verhandlung über Anzeigen, über die unterschiedliche Interpretation von Fehlverhalten und über die adäquate gesellschaftliche Reaktion auf Normverletzungen bei verschiedenen Gruppen. Für diesen Beitrag wird eine am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie durchgeführte Studie für die MA17 der Stadt Wien herangezogen. Dabei wird besonders auf die rückblickende Erfassung der wichtigsten Entwicklungen seit dem Jahr 2001 im Raum Wien Bezug genommen, die sich in der Statistik der amtlich erfassten Kriminalität widerspiegelt. Vorerst ist es jedoch entscheidend, sich zu vergewissern, worüber diese „Kriminalstatistik“ berichtet.
308
2.
Arno Pilgram / Christina Schwarzl
Kriminalstatistik, sozialwissenschaftlich gelesen1
Gemeinhin wird Kriminalstatistik als Messung von Kriminalität verstanden, welche sie zwar um das ungewisse Dunkelfeld verkleinert, aber doch etwa maßstabgetreu abbildet – sowohl hinsichtlich der Straftaten wie der TäterInnengruppen. Die so verstandenen Maßzahlen der Statistik werden als Indikatoren für Ordnungsschwächen und besondere Gefährdungen der Ordnung gewertet. Im Zeitverlauf stellen sie quasi eine moralische „Fieberkurve“ der Gesellschaft dar. Dabei macht man sich jedoch zu wenig klar, was in Kriminalstatistiken tatsächlich eingeht und wer sie womit genau speist. Die allererste, zeitnächste institutionalisierte Zählung und Vermessung von Kriminalität erfolgt durch die Polizei, welche überwiegend reaktiv Kriminalanzeigen aus der Gesellschaft aufnimmt und diese statistisch dokumentiert, daneben allerdings auch, wenngleich seltener, Anzeigen aus eigener Initiative proaktiv produziert und registriert (beispielsweise im Bereich der Suchtmitteldelikte). Gezählt werden also im Wesentlichen von den Sicherheitsbehörden entgegengenommene und anerkannte Beschwerden unterschiedlicher Provenienz über Normverletzungen diverser Art. Die erste der Kriminalstatistiken ist demnach eine Anzeigenstatistik, die auf Handlungen (Erfahrungen, Urteilen, Interpretations- und Kommunikationsakten) von subjektiv Geschädigten oder Zeugen einer Viktimisierung beruht, also auf dem Handeln anderer Personen als des bzw. der jeweils Beschuldigten. Dieses Handeln sollte bei der Verwendung von Statistiken über Kriminalität nicht vergessen werden. Kriminalitätsanzeigen sind nämlich höchst voraussetzungsreich und ihre Wahrscheinlichkeit ist abhängig von Beziehungsverhältnissen zwischen Konfliktparteien und von deren Beziehung zu Polizei und Justiz.2 Die Kriminalstatistik weist also auf etwas anderes als „Kriminalität“ an sich hin (verstanden als die Summe aller begangenen Straftaten). Sie verweist auf Vorkommnisse, welche als Kriminalität angezeigt werden, sowie auf Personen – sofern diese bekannt sind –, denen diese Vorkommnisse zum Vorwurf gemacht werden. Die Qualität der angezeigten Vorkommnisse kann dabei von kleinen Ärgernissen bis hin zu Lebenskatastrophen reichen.3 1 Dieser Abschnitt bezieht sich auf Pilgram 2016. In diesem Beitrag werden die Leitsätze breiter ausgeführt. 2 Die Kriminalsoziologie durch eine Soziologie des Anzeigeverhaltens zu ergänzen ist das Ziel eines Bandes von Hanak und Pilgram (2004), in dem verschiedene Schlaglichter auf das Phänomen Strafanzeige geworfen werden. 3 Dass die Anzeige und Kriminalisierung von Beeinträchtigungen, welcher Art und Intensität auch immer, stets nur eine von mehreren Optionen und eine solche mit Vor- und Nachteilen darstellt, zeigt eine mittlerweile klassische große empirische Studie von Hanak, Stehr und Steinert (1989).
Kriminalstatistiken als Erzählung über soziale Teilhabe von MigrantInnen
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Wenn die polizeiliche Kriminalstatistik richtigerweise auch als Statistik des Anzeigeverhaltens gelesen wird, bringt sie zweierlei und Gegensätzliches zum Ausdruck. Zum einen ist es die Erwartungsenttäuschung über einen Bruch strafrechtlicher Normen durch andere Gesellschaftsmitglieder, sei es in direkter Konfrontation oder durch anonym bleibende „unbekannte TäterInnen“. Zum anderen äußert sich in Anzeigen die Erwartung an ein funktionierendes System zur Durchsetzung von Recht und zur Wiedereinsetzung der Verletzten in ihr Recht. Das Positive an der Anzeige durch Geschädigte ist das darin ausgedrückte Anzeichen für „Vertrauen in die Rechtsordnung“ und in die Institutionen zu ihrer Wahrung, für gemeinsame normative Wertvorstellungen, Rechtsauffassungen und Vertrautheit mit den Einrichtungen von Polizei und Justiz. Hierin liegt die Doppeldeutigkeit von Kriminalanzeigen. Es wäre demnach falsch, in Kriminalanzeigen ausschließlich Indizien für soziale Ordnungsstörung, für Desintegration, Anomie und dgl. zu erkennen oder umgekehrt in der ausbleibenden Befassung von Polizei und Justiz mit sozialen Konflikten und Normbrüchen den sicheren Beleg für geordnete Verhältnisse, sozialen Zusammenhalt oder auch für die gelungene Integration von MigrantInnen zu sehen. Ausbleibende oder rückläufige Strafanzeigen müssen auch kritisch betrachtet werden, als potenzielles Zeichen für geschlossene Subkulturen und für eine soziale Selbstregulation, die Ungleichheitsverhältnisse zwischen Geschlechtern, Generationen oder nach anderen Statusmerkmalen perpetuiert. Kriminalanzeigen an die Polizei durch Geschädigte oder andere stehen am Beginn eines Verhandlungsprozesses über Notwendigkeit und Angemessenheit von staatlicher Verfolgung, Untersuchung, gerichtlicher Urteilsfindung, Reaktion und Sanktion. Immerhin bedarf es der polizeilichen Annahme der Anzeige und Zustimmung zu einem Handlungsbedarf, dass Vorkommnisse strafrechtlich weiterverfolgt, der Staatsanwaltschaft mitgeteilt und in der Kriminalstatistik erfasst werden. Das Rechtssystem sieht jedoch auch noch gerichtliche Verdachtsprüfungsverfahren vor, in denen kontroverse Sichtweisen ihren Platz bekommen müssen. Dass sich im Verlauf der Verfahren Bewertungen von Vorfällen und Involvierten nicht nur ändern können, sondern dies in einer Vielzahl der Fälle auch tatsächlich tun, zeigt die Gegenüberstellung von „Kriminalstatistiken“, die von Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten geführt werden. Gerichtliche Kriminalurteile sind deutlich rarer als polizeiliche Tatverdachtsund TäterInnenfeststellungen und wiederum nur ein Teil der Kriminalurteile zieht auch formelle Sanktionen nach sich. Die Polizeistatistiken sind somit für höhere Zahlenwerte bekannt als die Gerichts- oder Vollzugsstatistiken. Diese Tatsache veranlasst regelmäßig zum Streit, welche Statistik denn der „Kriminalitätswirklichkeit“ näher komme, etwa die Anzeigenstatistik vor dem Filter des Rechts oder die Verurteilungsstatistik nach dem Gütesiegel staatsanwaltschaft-
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licher und richterlicher Prüfung. Tatsächlich ist keine der Statistiken „richtiger“ als die andere. Vielmehr zeigt ihr Vergleich einen sozialen Prozess der Kriminalisierung, der nicht reibungslos verläuft, in welchem vielfach Möglichkeiten des Rückzugs und der Zurückweisung von Anzeigen bestehen.4 Kriminalanzeigen zu tätigen und aufzunehmen, ist mit relativ geringen Kosten verbunden, vollendete formelle Strafverfahren, Urteile und Sanktionen hingegen für alle Seiten kostspielig und knapp, weshalb mit ihnen selektiv umgegangen werden muss und wird. Das ist grundsätzlich kein struktureller Mangel, sondern ein sinnvolles und rechtlich gedecktes Prinzip des Rechtssystems, solange diesem selektiven Vorgehen nicht etwa ein sachlich ungerechtfertigter sozialer Bias zum Vorwurf gemacht werden kann. Auch „Ausländerkriminalität“ erschließt sich erst durch die Synthese aus den verschiedenen Kriminal- und Rechtspflegestatistiken. Anzeigen gegen ausländische StaatsbürgerInnen werden wie alle anderen auch justiziell überprüft, man muss aber davon ausgehen, dass dabei über den Einzelfall hinaus immer auch generelle kriminal- und sicherheitspolitische Kalküle entscheidungsrelevant werden. Wie die Polizei schon gegenüber AnzeigeerstatterInnen, so hat die Justiz gegenüber der Polizei ein steuerndes, bestätigendes wie korrigierendes Potenzial in Bezug auf Kriminalisierungsstrategien, auf wahrgenommene „Über-“ oder „Unterkriminalisierung“. Die unabdingbare Gegenüberstellung von polizeilichen und gerichtlichen Statistiken, die Betrachtung von Einstellungsraten, Verurteilungsraten, Strafvollziehungsraten und ähnlicher Relationen führt nicht zur „wirklichen Ausländerkriminalität“, sie liefert jedoch Hinweise auf Affirmation oder Korrekturen von Kriminalisierungsprozessen. Sie zeigt damit auf, wie reibungslos oder konfliktreich die Kriminalisierung von AusländerInnen an sich im Vergleich zu anderen Gruppen vonstattengeht. Die Kriminalstatistik zeigt des Weiteren bestimmte Aspekte der Teilnahme von Menschen am sozialen Leben. Wie der kriminalstatistisch erfasste Personenkreis jedoch insgesamt am sozialen Leben Anteil hat bzw. „integriert“ ist, welche Relevanz dabei missliebigen und inkriminierten Formen der Partizipation zukommt, bleibt weitgehend im Dunkeln. Die Beschäftigung mit Kriminalstatistiken geschieht gezwungenermaßen unter weitgehender Abstraktion von sozialen Kontexten für die erfassten Vorkommnisse. Bei der Mehrheit der Tatverdächtigen, jenen mit österreichischer Nationalität, beschränken sich demographische Daten ganz auf Geschlecht und Alter der Tatverdächtigen und der Opfer, teilweise ergänzt um die TäterInnen-Opfer-Beziehung. Weitere Sozialdaten stehen nicht zur Verfügung. 4 Den Nutzen der Gegenüberstellung und des Vergleichs von Statistiken von Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichten und Strafvollzug für die Rekonstruktion von Kriminalisierungsprozessen demonstrieren u. a. Cremer-Schäfer 1988 sowie Fuchs, Hofinger und Pilgram 2016.
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Bei der Teilhabe von Frauen und Männern, Älteren und Jüngeren am gesellschaftlichen Leben gibt es bekanntermaßen Unterschiede, die auf aktiv begangene wie passiv erfahrene Delikte bei diesen Gruppen ein unterschiedliches Licht werfen. Der Anteil der Geschlechter und Altersgruppen differiert bei österreichischen und anderen Staatsangehörigen. Unter Reisenden wie MigrantInnen sind in der Regel überdurchschnittlich viele jüngere Männer anzutreffen, die sich als solche in einer spezifischen gesellschaftlichen Situation befinden, in welcher die Ausübung von Straftaten eine größere Rolle spielt. So ist es nicht zuletzt erforderlich, die Kriminalität von Personen aus dem Ausland stärker als eine von Männern jugendlichen Alters zu erkennen und allfällige Vergleiche nur mit der jeweils entsprechenden österreichischen Population anzustellen. Kriminalstatistiken werden üblicherweise als Indikatoren sozialer Desintegration und Unsicherheit gelesen. Und sie werden üblicherweise mit Sorge vorgelesen von jenen, die Sicherheit und Kriminalprävention auf ihre Fahnen geschrieben haben. Kriminalitätshistoriker z. B. sehen das gelassener. Für sie gehört Kriminalität so banal zum Alltag wie Geburten und Todesfälle (Weisser 1979). Tatsächlich wird – in soziologischer Betrachtung – gesellschaftlicher Zusammenhalt durch Kriminalität und die Auseinandersetzung darüber so sehr gestützt wie bedroht (vgl. schon Durkheim 1895/1961). Und tatsächlich erfolgt selbst der Bruch von strafrechtlichen Normen gewöhnlich auf eine Art und Weise, die ihrerseits gültigen sozialen Werten angepasst ist (vgl. Matza und Sykes 1961). So empfiehlt es sich, Kriminalstatistiken nicht a priori moralisch aufgeregt und besorgt zu lesen, sondern zunächst einfach daraufhin, was sie über gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen in einer Stadt erzählen, nicht zuletzt über Migration. Und das ist mehr, als im Allgemeinen von diesen Statistiken erwartet wird.
3.
Wien wächst durch Zuwanderung und wird diverser.
Seit 2001, dem Ausgangsjahr der statistischen Beobachtungen für diesen Bericht, stieg die Zahl der einer Straftat verdächtigten und von der Polizei der Staatsanwaltschaft angezeigten Personen von 51.532 auf 77.737 Personen, das ist ein Anstieg um 51 %. Diese Zunahme beschränkt sich fast zur Gänze auf Personen mit fremder Staatsangehörigkeit, während die Zahl der tatverdächtigen ÖsterreicherInnen weitgehend konstant bleibt. Der Zuwachs ist besonders stark bei verschiedenen Gruppen von EU-BürgerInnen sowie Angehörigen von Drittstaaten jenseits der traditionellen „Gastarbeits-Herkunftsländer“.5 5 Die Kategorie „Gastarbeits-Herkunftsländer“ umfasst die Länder Albanien, Bosnien-Herze-
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Darin spiegelt sich das zuletzt sehr dynamische Stadtwachstum, welches einzig und allein auf Zuwanderung und eine solche aus neuen europäischen und aus außereuropäischen Staaten basiert. Die Wachstumskurven der angezeigten StraftäterInnen unterschiedlicher Nationalitätengruppen entsprechen bei mittelfristiger Betrachtung (trotz zeitweiliger Schwankungen) in hohem Maße den Bevölkerungskurven (siehe Grafik 1). Bevölkerungsentwicklung, Strafanzeigen und Straftatverdächtige nach Nationalität, 2001–2015, indexiert 250%
248%
230% 210%
Anzeigen
190%
189%
170%
Tatverdächtige Österreich Tatverdächtige Ausland
150%
Bevölkerung Österreich
130% 110%
109% 102%
Bevölkerung Ausland
90%
2015
2014
2013
2012
2011
2010
2009
2008
2007
2006
2005
2004
2002
2003
50%
2001
70%
Grafik 1: Bevölkerungsentwicklung, Strafanzeigen und Straftatverdächtige nach Nationalität, indexiert. 2001–2015. Wien.
Am ehesten übertrifft der Zuwachs der angezeigten Personen das nur noch schwache Wachstum dieser Bevölkerungsgruppe bei den „alten“ Zugewanderten, bei StaatsbürgerInnen aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens und der Türkei. Die Kriminalstatistik erzählt insofern auf ihre Art von der spezifischen Bevölkerungsdynamik in Wien und davon, dass von Zuwanderung nicht nur Wirtschaft, Infrastruktur und Sozialsysteme, sondern in erwartbarem Umfang auch Sicherheitsapparat und Justiz tangiert werden.
gowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Türkei. Andere Kategorien sind: „Österreich“; „EU 15“ (Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Portugal, Schweden, Spanien); „EU 16–28“ (Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern, Kroatien); „Sonstige“ (alle anderen Länder).
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4.
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Der „Sicherheit“ ist die Zuwanderung nicht erkennbar abträglich.
Bemerkenswerterweise ist die Zahl der bekannt gewordenen Straftaten in Wien seit 2003 um fast ein Viertel (24 %), von 257.019 auf 195.098, zurückgegangen. Die Zahl der registrierten Straftaten bleibt also deutlich hinter der dynamischen Bevölkerungsentwicklung zurück. So herausfordernd die Expansion der Stadt, das Anwachsen der Population aus dem Ausland von 16 auf 27 % im Beobachtungszeitraum und die zunehmende Diversität der Zuwanderung objektiv und für viele auch subjektiv sein mögen, für einen Sicherheitsalarm gibt die Polizeiliche Kriminalstatistik keinen Anlass. Im Gegenteil: Mehr ermittelte TäterInnen bei weniger Taten verweisen auf eine höhere „Aufklärungsrate“ bei Straftaten. So hat sich die Anzahl der polizeilich ermittelten tatverdächtigen Personen seit 2001 um die Hälfte (+ 48 %) vermehrt – vier- bis fünfmal stärker als die Zahl der bekannten Straftaten. In Anbetracht der rückläufigen Zahl bekannter Straftaten kann aus dem steilen Anstieg der ermittelten Tatverdächtigen nicht auf eine entsprechend verschlechterte Sicherheitslage geschlossen werden. Man könnte sich im Gegenteil sogar über höheren „Aufklärungserfolg“ freuen, über mehr namhaft gemachte TäterInnen in Relation zu den angezeigten Fällen – dies allerdings nur unter der Annahme, die Kriterien für „Aufklärung“ (d. h. für „hinreichend begründeten Tatverdacht“) blieben unverändert.
5.
AusländerInnen sind unter Straftatverdächtigen stark überrepräsentiert. Von der Anziehungskraft von Städten für Mobilität und Migration.
Dass das Wachstum der (AusländerInnen-)Wohnbevölkerung und der Tatverdächtigen ausländischer Nationalität in der letzten Zeit exakt parallel verlaufen, ändert nichts an der Tatsache, dass der Anteil von AusländerInnen an den Tatverdächtigen stark überproportional ist. 2015 sind 49 % der Tatverdächtigen und 27 % der Wohnbevölkerung in Wien nicht österreichische StaatsbürgerInnen (siehe Grafik 2). Im Jahr 2001 betrugen diese Werte noch 16 und 30 %. Üblicherweise wird dies als Beleg für Migration als Sicherheitsrisiko und AusländerInnenpopulationen als Risikogruppen gesehen. Diese im Verhältnis zur Wohnbevölkerung bestehende Überrepräsentation von AusländerInnen unter angezeigten StraftäterInnen ist jedoch Produkt dreier Umstände, die – was die Größenordnung ihrer Wirkung betrifft – in dieser Reihenfolge zu nennen sind:
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50%
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Anteil ausländischer Staatsangehöriger an Tatverdächtigen und Wohnbevölkerung
49%
45% 40% 35% 30%
34%
Tatverdächtigte Tatverd. Aus Wohnbev. Bevölkerung
27%
25% 20%
9%
10% 5% 0%
3% 2% gesamt Ausland
17%
15%
14%
15%
11% 8%
12% 9%
7%
4%
EU15
EU16-28
Türkei/ Balkan
Sonstige
Grafik 2: Anteil ausländischer Staatsangehöriger an Tatverdächtigen und Wohnbevölkerung, 2015. Wien.
– Ein sehr großer Teil – 46 % im Jahr 2015 – von Anzeigen gegen Personen fremder Nationalität richtet sich gegen ausländische Staatsangehörige, die in Hinblick auf ihren rechtlichen Aufenthaltsstatus nicht der Wiener Wohnbevölkerung angehören. – Unter der ständigen wie passageren AusländerInnenbevölkerung in der Stadt befinden sich im Vergleich zur österreichischen Bevölkerung mehr Männer in durchschnittlich jüngerem Alter. – Unter den ausländischen Tatverdächtigen finden sich mehr Individuen, die mehrfach auffällig und nicht nur einmal im Jahr angezeigt werden, als unter ÖsterreicherInnen. Die Vollständigkeit der Kriminalstatistik einerseits und die Unvollständigkeit der Bevölkerungsstatistik andererseits sowie Mehrfachzählungen in der Kriminalstatistik bei AusländerInnen ergeben einen statistischen Artefakt zu Ungunsten fremder Staatsangehöriger. Die Kriminalstatistik erzählt also auch von einer Stadt, die größer ist, als es die Bevölkerungsstatistik erkennen lässt, in der es eine schwer abschätzbare fluide Population gibt, zu der neben PendlerInnen aus dem Umland und den Bundesländern viele internationale Reisende gehören, die von Wien angezogen werden. Die Kriminalstatistik macht am Beispiel Straftaten die häufig prekäre und problematische Beteiligung von Gruppen am gesellschaftlichen Leben der
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Stadt sichtbar, über deren sonstigen Aufenthalt und Beitrag man wenig weiß. Die Kriminalstatistik erzählt ferner davon, dass sich öffentliches Leben mit jenen verändert, die daran teilhaben, und von ihren Beteiligungschancen, vor allem mit der Alterung oder Verjüngung der Gesellschaft.
6.
Korrigiert und an vergleichbaren Geschlechts- und Altersgruppen gemessen, liegt die „Kriminalitätsbelastung“ von AusländerInnen nahe jener von ÖsterreicherInnen. Die Abweichungen beschränken sich auf spezifische Gruppen und Phänomene.
Die verbleibende Differenz zwischen den weißen (Bevölkerungsanteil) und grauen Säulen (Anteil Tatverdächtiger aus der Wohnbevölkerung) in Grafik 2 verschwindet zum Teil völlig, wenn man berücksichtigt, dass die Population der ÖsterreicherInnen und der verschiedenen Nationalitätengruppen unterschiedlich zusammengesetzt sind. Unter den AusländerInnen finden sich mehr Männer jüngeren Alters, aber auch mehr Personen in benachteiligter materieller Lage. Beim Vergleich innerhalb homogener Geschlechts- und Altersgruppen relativiert sich die Höherbelastung der AusländerInnen nochmals. In den großen Gruppen der 18- bis < 25-Jährigen und der 25- bis < 40-Jährigen verschwinden die Belastungsunterschiede zwischen In- und AusländerInnen fast völlig, zeigen sich bei den meisten Nationalitätengruppen, insbesondere bei den EU-BürgerInnen beider Gruppen niedrigere, aber auch bei Personen aus den „Balkanstaaten“/der Türkei nur um etwa 10 % höhere Belastungswerte und aus „sonstigen Drittstaaten“ (zumindest bei den 25- bis < 40-Jährigen) sogar niedrigere Belastungswerte als bei ÖsterreicherInnen (siehe Grafik 3). Die Mehrbelastung der AusländerInnenpopulation beruht also vor allem auf einer noch deutlicheren Unauffälligkeit der Alten (> 40-Jährigen) mit österreichischer Staatsbürgerschaft sowie auf der höheren Auffälligkeit von AusländerInnen der beiden jüngsten Altersgruppen. Hier stechen bei weiblichen Unmündigen Mädchen aus Staaten Ex-Jugoslawiens, bei männlichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen solche aus „sonstigen Drittstaaten“ hervor, deren Kriminalitätsbelastung die dreifache von altersgleichen Österreichern, aber auch von Jugendlichen mit „Gastarbeiter“-Staatsbürgerschaft ist. Die Polizeiliche Kriminalitätsstatistik erzählt insofern davon, dass es in Wien – wie überall – Bevölkerungsgruppen gibt, deren Risiko, mit strafrechtlichen Normen in Konflikt zu kommen und angezeigt zu werden, höher ist als bei anderen Gruppen. Dies sind männliche, jüngere und – wie man aus anderen Quellen weiß – minderprivilegierte Gruppen. Diese Minderprivilegierung ent-
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Tatverdächtige (aus Wohnbev.)/100.000 der Wohnbevölkerung nach Alter und Nationalität (=BKBZ) 20.000 18.000 Österreich
16.000
EU15
14.000
EU16-28
12.000
Türkei/ BalkanSonstige
10.000
Sonstige
8.000 6.000 4.000 2.000 0