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German Pages [338] Year 2013
Migrations- und Integrationsforschung Multidisziplinäre Perspektiven
Band 5
Herausgegeben von Heinz Fassmann, Richard Potz und Hildegard Weiss
Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed. Advisory Board: Christine Langenfeld (Göttingen), Andreas Pott (Osnabrück), Ludger Pries (Bochum)
Julia Dahlvik / Christoph Reinprecht / Wiebke Sievers (Hg.)
Migration und Integration – wissenschaftliche Perspektiven aus Österreich Jahrbuch 2/2013
Mit 18 Abbildungen
V& R unipress Vienna University Press
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0187-1 ISBN 978-3-8470-0187-4 (E-Book) Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Barbara Maly, Fotografin Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Diversität Steven Vertovec „Diversität“ und die gesellschaftliche Vorstellungswelt . . . . . . . . . . .
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Integration Patrick Sänger The Politeuma in the Hellenistic World (Third to First Century B.C.): A Form of Organisation to Integrate Minorities . . . . . . . . . . . . . .
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Katja Pessl und Lena Springer MigrantInnen aus China im Wiener Hochschul- und Gesundheitswesen: Dynamische Zwischenzonen und Einzelinitiativen . . . . . . . . . . . . .
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David Reichel und Alina Cibea Die Verwendung von Integrationsindikatoren zur Messung der Wirkung von Integrationspolitik in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dagmar Strohmeier, Marie-Therese Schultes und Vera Popper Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Österreich: Evaluation des Projekts „Connecting People“ der asylkoordination Österreich . . . . . . 105
Sprache Wilfried Datler, Regina Studener-Kuras und Valentina Bruns Das Vergnügen am Fremden und die Entwicklung von Kompetenzen im Bereich der Zweitsprache Deutsch. Aus dem Wiener Forschungsprojekt „Spracherwerb und lebensweltliche Mehrsprachigkeit im Kindergarten“ . 127
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Inhalt
Rudolf de Cillia und Niku Dorostkar Integration und/durch Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Sabine Gatt Sprachenpolitik politisch kommuniziert: Symbolische Instrumentalisierung zwischen Exklusion und Inklusion
. . . . . . . . . 163
Theologie Michael Nausner Imagining Participation from a Boundary Perspective. Postcolonial Theology as Migratory Theology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Regina Polak Perspektiven einer migrationssensiblen Theologie . . . . . . . . . . . . . 195
Nachbarschaft Josef Kohlbacher, Ursula Reeger und Philipp Schnell Nachbarschaftliche Einbettung und Kontakte zwischen BewohnerInnen mit und ohne Migrationshintergrund in drei Wiener Wohngebieten . . . 217 Shiang-Yi Li and Talja Blokland Chinatown’s Spatiality, Ethnic Community and Civic Engagement: Amsterdam and Berlin Compared . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
Irregularität Brigitte Kukovetz Der Wunsch zu bleiben: Kein Recht dazu – keine Alternative dazu. Ein Einblick in soziale Praktiken: Warum Abschiebungen doch nicht stattfinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Klaus Kapuy Die Anwendung der Logik des Sozialrechts auf irreguläre ArbeitsmigrantInnen – ein Schlüssel zur Lösung eines Dilemmas? . . . . 283
Asyl Julia Dahlvik Institutionelle Einsichten: Die Bedeutsamkeit von Schriftlichkeit und Dokumenten im Prozess der Bearbeitung von Asylanträgen . . . . . . . . 301
Inhalt
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Ariadna Ripoll Servent and Florian Trauner What Kind of Impact is Austria Exposed to? Analysing EU Asylum Law . 319 Verzeichnis der AutorInnen und HerausgeberInnen . . . . . . . . . . . . 335
Vorwort
Nur wenige Themen sind im aktuellen gesellschaftspolitischen Diskurs mit stärkerer Emotionalität behaftet als Migration und Integration. Im gesellschaftlichen Sprechen dominieren Naturmetaphern und Katastrophenszenarien: Wellen, Ströme, Schocks, Tragödien, Traumata. Die vorherrschende gesellschaftliche Stimmungslage ist jene einer generalisierten Verwundbarkeit. Folklorehaftes Halbwissen nährt die Vorstellung von Migration als Gefahr mit hohem, nur schwer kalkulierbarem Risiko. Nicht rationale, widerrufbare Argumente dominieren die Debatte, sondern ein Phantom. Wissenschaftliche Forschung tut sich in einem solchen Kontext schwer. Ihr kritischer, analytischer Impetus muss sich gegen mediale und tagespolitisch intendierte Inszenierung behaupten und steht zugleich in Konkurrenz zur florierenden Expertise, die trotz suggerierter Objektivität der politischen Logik des Regierens verhaftet ist und vorherrschende Ordnungsvorstellungen kaum reflektiert. Dass die wissenschaftliche Erforschung von Migration und Integration in den letzten Jahren auch in Österreich nicht nur an Zahl und thematischer Fülle hinzugewonnen hat, sondern sich zugleich in der Diskurslandschaft zunehmend differenziert und kritisch positioniert, kann auch als Ausdruck der Unzufriedenheit mit dieser Situation gedeutet werden. In der Migrations- und Integrationsforschung in- und außerhalb Österreichs kam es in der jüngeren Vergangenheit teilweise zu einer bemerkenswerten Akzentverschiebung von Forschungsinteressen sowie zu thematischen Neusetzungen. Zwei Entwicklungen seien besonders hervorgehoben. Zum einen lässt sich ein Bemühen erkennen, die theoretisch-konzeptionellen sowie methodologischen Grundlagen und Prinzipien der Migrations- und Integrationsforschung zu schärfen und weiter zu entwickeln. Dies manifestiert sich teilweise in einer wachsenden Grundlagenorientierung und Experimentierfreude wie auch im Anliegen, die eigenen Forschungen stärker in die internationale Literatur und Debatte einzubetten. Wie wichtig theoretische und methodologische Vertiefungen sind, zeigt sich beispielsweise in der Dekonstruktion und Rekonstruktion von stark normativ aufgeladenen Leitkonzepten wie Integration oder Di-
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Vorwort
versität, in Hinblick auf die oftmals unkritische Verwendung von homogenisierenden und Eindeutigkeit suggerierenden Kategorien („Migranten“, „Asylwerber“, „Migrationshintergrund“) oder im Zusammenhang mit der Notwendigkeit, den zahlreichen methodischen Problemen und Herausforderungen (Feldzugänglichkeit, Mehrsprachigkeit, Multilokalität der Lebenswelten, Verknüpfung von Mikro-, Meso- und Makroebene bzw. von Handlungs- und Strukturebene) mit neuen und komplexeren Forschungsstrategien zu begegnen. Beobachtbar sind zum anderen aber auch Perspektivenverschiebungen in inhaltlicher Hinsicht. Forschungen zu Migration und Integration waren lange Zeit (korrespondierend mit dem Gastarbeitermodell) durch eine ausgeprägte Problem- und Defizitorientierung charakterisiert. Im Fokus stand die Analyse von Desintegrationsprozessen und Konfliktkonstellationen, von individuellen Beschädigungen und Akkulturationsschwierigkeiten, denen auch im Generationenübergang – Stichworte sind Bildungsferne, Verhaltensauffälligkeit, innerfamiliäre Entfremdung, Mangel an Anpassungsbereitschaft – nachgespürt wurde. Während derart Migration und Integration vorwiegend als Problem und Ursache für soziale Spannungen verhandelt werden, rückt seit einigen Jahren die Analyse der migrationsbezogenen sozialstrukturellen und soziokulturellen Veränderungspotentiale verstärkt in den Mittelpunkt. Blieb der Mainstream der Forschung auf die destabilisierenden und konflikterzeugenden Folgen von Migration fokussiert, zu deren Bewältigung und Gestaltung sie mit ihrer Expertise beisteuern sollte, wächst die Aufmerksamkeit für die den Migrations- und Integrationsprozessen innewohnende Antriebskraft für gesellschaftliche und institutionelle Erneuerung, für Lernprozesse auf individueller wie kollektiver Ebene, für die kulturelle und demokratische Erneuerung der Gegenwart, für den Umgang mit Diversität und die Verwirklichung der Ansprüche auf soziale Gerechtigkeit. Diese Entwicklungen und Akzentverschiebungen werden auch in den Beiträgen, die in diesem Band versammelt sind, aufgegriffen und thematisch und disziplinär auf jeweils individuelle Weise reflektiert, unterschiedlich stark ausgeprägt, jedoch stets präsent. Die Erstfassungen der Beiträge entstanden ursprünglich für die zweite Jahrestagung der Migrations- und Integrationsforschung in Österreich, die im September 2012 in Wien stattfand und von der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit der Plattform für Migrationsund Integrationsforschung der Universität Wien organisiert wurde. Diese im zweijährigen Rhythmus stattfindende Tagung reagiert auf ein strukturelles Defizit: Im Unterschied zu zahlreichen anderen Ländern existiert in Österreich bis heute keine dauerhafte Einrichtung und institutionelle Absicherung der wissenschaftlichen und akademischen Migrations- und Integrationsforschung. Programmatisches Ziel der Jahrestagung ist es, einen Rahmen für strukturierten
Vorwort
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fachlichen Austausch und kollegiale Begegnung herzustellen, um gemeinsame theoretische und empirische Sichtweisen auf Migrations- und Integrationsprozesse zu entwickeln, die es erlauben, Forschung über traditionelle und disziplinäre Grenzen hinweg zu realisieren. Für die zweite Jahrestagung waren nach einem Call for Papers zur Einreichung sowohl von Einzelbeiträgen als auch von thematischen Panels, letztere mit international vergleichender Ausrichtung, von einem interdisziplinären Programmkomitee insgesamt 45 Papers sowie 9 Posterpräsentationen ausgewählt worden. Für die Veröffentlichung der Tagungsbeiträge wurde ein eigener Aufruf lanciert, die Annahme der eingereichten Beiträge erfolgte auf Grundlage eines internationalen peer-review-Verfahrens. Einen eigenständigen Beitrag außerhalb des Calls steuert Steven Vertovec bei, der im Rahmen der Jahrestagung eingeladen war, zur Bedeutung des Diversitätskonzepts den öffentlichen Einleitungsvortrag zu halten. Migration ist eine klassische Querschnittsmaterie, die in den unterschiedlichsten Disziplinen erforscht wird. Der interdisziplinäre Austausch wird dabei häufig vernachlässigt. Das Jahrbuch für Migrations- und Integrationsforschung bietet Gelegenheit, nicht nur aktuelle Forschungen aus verschiedenen Fachrichtungen, sondern auch konzeptuelle und methodologische Fragen, Probleme und Lösungsansätze, wie sie insbesondere für inter- bzw. transdisziplinär ausgerichtete Studien in diesem Forschungsfeld charakteristisch sind, kennenzulernen. Die Beiträge des Bandes umspannen ein weites Themenfeld. Sie befassen sich mit klassischen Themen wie Integration und Nachbarschaft ebenso wie mit aktuellen Aspekten von Asyl und Irregularität. Den Themenbereichen Sprache und Theologie sind weitere Aufsätze gewidmet. Die AutorInnen behandeln theoretische und methodologische Fragestellungen, aber auch die Beziehung von Theorie und Praxis. Die Beiträge vermitteln die Vielstimmigkeit und Lebendigkeit der Jahrestagung und der Forschungslandschaft in diesem Themenfeld insgesamt sowie ein wachsendes Selbstbewusstsein und einen steigenden Autonomieanspruch auch gegenüber einer von der Politik der Phantome und Gefühle durchdrungenen öffentlichen Debatte. In einem (tages)politisch so aufgeladenen Themenfeld erscheint es angeraten, zentrale Begriffe und Annahmen, die die Debatte strukturieren, systematisch und kritisch zu hinterfragen. Eines der Leitmotive der Gegenwart ist Diversität. Bedeutet dies, dass heutige Gesellschaften in höherem Maße durch Verschiedenheit charakterisiert sind als frühere? Vor welchem historischen Hintergrund und in welchen gesellschaftlichen Zusammenhängen werden Differenzkategorien thematisiert und bedeutsam? Mit diesen Fragen leitet Steven Vertovec seinen Eröffnungsbeitrag ,Diversität‘ und gesellschaftliche Vorstellungswelt ein. Ausgehend von einer historischen Beschreibung und Würdigung sozialer Bewegungen für die Durchsetzung des Diversitätskonzepts, insbesondere der US-
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Vorwort
amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, diskutiert der Autor die Frage, wie und warum Diversität in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung allgegenwärtig werden konnte. Der Text zeichnet die Transformation der gesellschaftlichen Vorstellungswelt nach bis hin zu einer nahezu vollständigen Banalisierung und Normalisierung von Diversität, der zugleich eine Gleichgültigkeit gegenüber Differenz innewohnt, die, zumindest potentiell, den Möglichkeitsraum für ein konfliktgeregeltes Neben- und Miteinander unterschiedlicher Merkmalsträger vergrößert. Wie erkenntnisbereichernd für das Verständnis von heutigen Migrationsund Integrationsprozessen auch sehr große historische Bezüge sein können, demonstriert Patrick Sänger, dessen Aufsatz The politeuma in the Hellenistic World (third to first century B.C.): A Form of Organisation to Integrate Minorities den vier Beiträge umfassenden Abschnitt zum Thema Integration einleitet. Sänger untersucht am Beispiel von politeuma die spezifische Funktionsweise einer Organisationsform, die in der hellenistischen Staatenwelt (konkret im ptolomäischen Königreich) effektiv zur Integration von ethnischen Minderheiten genutzt wurde. Auf der Grundlage umfassender kritischer Quellenanalysen argumentiert Sänger, dass es sich beim politeuma nicht nur um eine ethnisch definierte Körperschaft, sondern um ein wohldurchdachtes administratives Mittel handelte, eine, wenn auch auf bestimmte Bevölkerungsgruppen beschränkte, Integrationspolitik zu betreiben, die wesentlich auf der Anerkennung religiöser und rechtlicher Selbstbestimmung beruhte. In die Gegenwart der sozialwissenschaftlichen Debatte um das Integrationskonzept führen Katja Pessl und Lena Springer zurück, die in ihrem Aufsatz MigrantInnen aus China im Wiener Hochschul- und Gesundheitswesen: Dynamische Zwischenzonen und Einzelinitiativen gegen den Miserabilismus der vorherrschenden Integrationsforschung argumentieren. Am Beispiel von (hoch)qualifizierter Migration aus China und unter Rückbezug auf neuere theoretische Ansätze untersuchen die Autorinnen Integration nicht aus der Perspektive von Anpassung und Marginalisierung, sondern von Austausch- und Etablierungsprozessen, die sich in transnationalen Räumen primär entlang von fachlichen und weniger von ethnomigrantischen Grenzziehungen vollziehen und deren Dynamik die Einwanderungsgesellschaft langfristig verändert, etwa in der Art, wie studiert, geforscht oder Krankheit behandelt wird. Eine kritische Revision und Erweiterung des Integrationskonzeptes fordern auch David Reichel und Alina Cibea ein. In ihrem Beitrag Die Verwendung von Integrationsindikatoren zur Messung der Wirkung von Integrationspolitik in Europa unterziehen die AutorInnen den in den letzten Jahren verbreiteten Einsatz von Indikatoren zur Messung von Integration(serfolg) einer kritischen Prüfung, indem sie die Frage aufwerfen, ob diese Instrumente überhaupt dazu taugen, den Erfolg integrationspolitischer Maßnahmen zu messen, oder nicht vielmehr eine disziplinierende Funktion erfüllen. Konkret
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angesprochen werden bekannte Schwierigkeiten wie die Verfügbarkeit und Qualität empirischer Daten (einschließlich amtlicher Statistiken) oder die Problematik von Kausalitätsannahmen, wie sie Wirkungsanalysen zwar häufig zugrunde gelegt, methodisch jedoch nur in seltenen Ausnahmefällen eingelöst werden (etwa in Form von Längsschnitterhebungen, die der Prozesshaftigkeit von Migrations- und Integrationsprozessen angemessen sind). Ein Sechs-Länder-Vergleich macht unterschiedliche Motive, Einsatzfelder und Zielgruppen, jedoch auch eine Reihe von gemeinsamen Grundproblemen sichtbar, wie etwa unterkomplexe Integrationskonzepte oder Kategoriensysteme, die der Heterogenität von Migration nicht gerecht werden. Argumente für longitudinale Forschungsdesigns bringt auch der abschließende Beitrag dieses Abschnitts, Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Österreich: Evaluation des Projekts ,Connecting People‘ der asylkoordination Österreich. Ausgehend von der Evaluation eines konkreten Patenschaftsprogramms für minderjährige Flüchtlinge unterstreichen die Autorinnen Dagmar Strohmeier, Marie-Therese Schultes und Vera Popper zudem den Stellenwert der subjektiven Perspektive in der Evaluation bzw. Messung von Migrationserfolg unter Einbeziehung der Erfahrungen und Einschätzungen der unmittelbar betroffenen Akteure, in diesem Fall der unbegleiteten Minderjährigen und ihrer PatInnen. Die Beiträge der folgenden Abschnitte sind mit Sprache, Religion und Nachbarschaft um drei Spezialthemen von Integrationsprozessen gruppiert. Studien zur Bedeutung von Sprache(n) in Migrations- und Integrationszusammenhängen, insbesondere in Hinblick auf Sozialisation, Schulerfolg und Mobilitätschancen der Angehörigen der sogenannten zweiten Generation, widmen dem Thema Mehrsprachigkeit verstärkt Aufmerksamkeit. In ihrem Beitrag Das Vergnügen am Fremden und die Entwicklung von Kompetenzen im Bereich der Zweitsprache Deutsch. Aus dem Wiener Forschungsprojekt ,Spracherwerb und lebensweltliche Mehrsprachigkeit im Kindergarten‘ fokussieren Wilfried Datler, Regina Studener-Kuras und Valentina Bruns auf den Zusammenhang von Spracherwerb und Mehrsprachigkeit in einem speziellen pädagogischen Setting, dem Kindergarten. Als Kernbefund dieser Forschung lässt sich eine Schieflage diagnostizieren, und zwar zwischen dem offensichtlichen Vergnügen von Kindern im Vorschulalter, sich die deutsche Sprache anzueignen, und den Handlungsstrategien des Kindergartenpersonals, das auf die spielerischen, oftmals experimentellen Sprechhandlungen der Kinder zwar nicht negativ sanktionierend, aber auch nicht positiv fördernd oder im Sinne eines dialogischen Austausches reagiert. Der Aufsatz verweist dabei auf den komplexen Um- und Übersetzungsprozess von Fortbildungsmaßnahmen, an denen die PädagogInnen im Rahmen des Projekts teilgenommen und von denen sie ihrer subjektiven Einschätzung nach auch persönlich profitiert hatten. Die weiteren Artikel dieses Abschnitts thematisieren sprachpolitische Aspekte.
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Vorwort
Rudolf de Cilla und Niku Dorostkar gehen in ihrem Beitrag Integration und/ durch Sprache dem Widerspruch zwischen der Zentralität der Sprachenfrage im Integrationsdiskurs und dem offiziellen Selbstverständnis Österreichs als primär nicht Kultur-, sondern Konsensualnation nach. Die von den Autoren präsentierten Ergebnisse einer diskursanalytischen Untersuchung parteipolitischer Texte und Materialien deutet auf einen tief liegenden „kulturalistischen“ Wertekonsens, der weite Teile der politischen Landschaft umfasst und Sprache im Kontext der Migration als Voraussetzung für soziale und kulturelle Teilhabe, mithin zum „kulturellen Kristallisationspunkt schlechthin“ erklärt: Aus der Sicht der Autoren lässt sich der breite Konsens sprachpolitischer Maßnahmen auch aus diesem monolingualen Selbstverständnis erklären. Mit Bezug auf das Motto Sprachenpolitik als Integrationsmaßnahme entwickelt Sabine Gatt in ihrem Aufsatz Sprachenpolitik politisch kommuniziert: Symbolische Instrumentalisierung zwischen Exklusion und Inklusion eine Argumentationslinie, die darauf abzielt, Hauptformen politischer Kommunikation der Sprachenpolitik herauszuarbeiten, deren Funktion in der Stabilisierung der etablierten Machtund Ungleichheitsordnung besteht. Auf Basis einer Analyse der Presseaussendungen von Regierungsparteien identifiziert die Autorin drei sprachpolitische Narrative (Kultur-, Leistungs- und Emanzipationsnarrativ), die auf jeweils spezifische Art und Weise Anreizsysteme etablieren, jedoch gleichzeitig mit symbolischen Ein- und Ausschließungen operieren, die entlang zentraler Machtachsen angesiedelt sind (Nation/ Staat, Markt, Gender), sich überschneiden können und das Sichtbarmachen von sozialen Ungleichheiten erschweren. Im Zentrum des nachfolgenden Abschnitts stehen die Religionswissenschaften, in denen Migration und Integration neue Themen darstellen. Die drei vorliegenden Aufsätze zu diesem Themenbereich teilen das Argument, dass Migration als Grenzüberschreitung spezifische Erfahrungsräume öffnet, die eine Quelle nicht bloß von Differenzerfahrung, sondern auch von Lernprozessen sowie von auf Gegenseitigkeit beruhender Anerkennung bildet. Wie Michael Nausner in seinem Text Imagining Participation from a Boundary Perspective. Postcolonial Theology as Migratory Theology ausführt, sind die in Migrationsprozessen sich etablierenden Zwischenräume für das Aushandeln von auf gegenseitiger Wertschätzung und Respekt beruhenden Anerkennungsverhältnissen grundlegend. MigrantInnen werden als GrenzbewohnerInnen vorgestellt, die über eine genaue Kenntnis der Konstitution und Funktionsweise von Grenzen verfügen und auf diese Weise wesentlich dazu beitragen können, deren (oftmals zerstörerische) Dynamik zu verstehen und aufzubrechen. Aus postkolonialer Theorieperspektive skizziert Nausner Ansätze einer Theologie als Grenztheologie, welche die interkulturelle Situation als Gelegenheitsstruktur, wenn nicht gar als Bedingung für gleichberechtigte Interaktion und einen ge-
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nerellen Perspektivenwechsel benennt. Auch Regina Polak schreibt der Migrationserfahrung ein spirituelles und utopisches Potential zu. In ihrem Aufsatz Perspektiven einer migrationssensiblen Theologie entwickelt die Autorin auch auf Grundlage eigener empirischer Forschungen die These, dass durch Migration neue spirituelle Erfahrungen ermöglicht und darauf aufbauende Erkenntniszugewinne und Bildungsprozesse stimuliert werden (können). Dieses Potential identifiziert die Verfasserin nicht nur auf Seiten der MigrantInnen (die klassische Thematik wäre der Wandel der Religiosität im Migrations- und Integrationsprozess), sondern auch der eingesessenen Bevölkerung, sofern sich diese den migrationsbezogenen Erfahrungen und Biographien öffnet. Spirituelle Erfahrung bedarf, so Polak, der Bereitschaft (und Kunst) des Zuhörens. Diese kann für andere Lebensläufe und Situationen ebenso sensibilisieren wie für die Einsicht, dass sich auch die eigene Identität durch Überschreitungen tradierter Gewissheiten und Grenzziehungen erneuert, da ansonsten Erstarrung (Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus) droht. Ein klassisches Thema der Migrations- und Integrationsforschung steht im Mittelpunkt der beiden nachfolgenden Beiträge, die sich auf der Basis von empirischen Forschungsergebnissen mit ausgewählten Aspekten von Nachbarschaft und städtischem Sozialraum befassen. Im ersten Artikel Nachbarschaftliche Einbettung und Kontakte zwischen Bewohnern mit und ohne Migrationshintergrund in drei Wiener Wohngebieten untersuchen Josef Kohlbacher, Ursula Reeger und Philipp Schnell die Rolle interethnischer Kontakte und Netzwerke im Prozess der nachbarschaftlichen Einbettung. Dabei ergibt sich der interessante Befund, dass das Ausmaß der sozialräumlichen Einbettung zwar zwischen den drei ausgewählten Wohngebieten, nicht jedoch zwischen den zugewanderten und eingesessenen Bevölkerungsgruppen variiert. Für die soziale Einbettung erweist sich das Vorhandensein von lokal verankerten, starken Beziehungen als bedeutsam. Dies schließt zwar nicht notwendigerweise Interaktionen mit Angehörigen anderer Herkunftsgruppen mit ein; deren Vorhandensein wirkt sich jedoch potentiell positiv auf den Grad der Einbettung aus. Um die Beziehung zwischen sozialräumlicher Einbettung und gesellschaftlicher Teilhabe geht es im Text von Shiang-Yi Li und Talja Blokland. Chinatown’s Spatiality, Ethnic Community and Civic Engagement: Amsterdam and Berlin Compared diskutiert, in welcher Weise sozialräumliche Konfigurationen (Konzentration im Falle von Amsterdam, Dispersion im Falle von Berlin) die Herstellung interethnischer Beziehungen strukturieren. Ein für die Integrationsforschung interessantes Ergebnis, auf das die Autorinnen in ihrem Aufsatz hinweisen, besagt, dass sozialräumliche Konzentration für interethnische Kontakt- und Netzwerkbildung, auch in Hinblick auf ziviles Engagement, nicht nur nicht hemmend, sondern im Gegenteil durchaus förderlich sein kann.
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Der abschließende Abschnitt des Bandes versammelt Beiträge zum Thema Aufenthaltsrecht und Asyl. In ihrem Aufsatz Der Wunsch zu bleiben: Kein Recht dazu – keine Alternative dazu. Ein Einblick in soziale Praktiken: Warum Abschiebungen doch nicht stattfinden geht Brigitte Kukovetz der Frage nach, warum es in manchen Fällen dazu kommt, dass Abschiebungen, obwohl das aufenthaltsbeendende Verfahren abgeschlossen ist, nicht zustande kommen. Die Ausführungen verweisen auf ein Ineinandergreifen von institutionellen Faktoren und individuellen Handlungsstrategien und Ressourcen der Betroffenen, die sich infolge von Dokumentenlosigkeit mit zugespitzter Unsicherheit und Ungewissheit konfrontiert sehen. Ein bedeutsamer Aspekt dieser Erfahrung – Zugang zum sozialen Sicherungssystem und zur Gesundheitsversorgung – steht auch im Mittelpunkt des Aufsatzes von Klaus Kapuy Die Anwendung der Logik des Sozialrechts auf irreguläre ArbeitsmigrantInnen – ein Schlüssel zur Lösung eines Dilemmas? Der Autor diskutiert aus der Perspektive eines internationalen Rechtsvergleichs (Belgien, Niederlande, Kanada) die ungelöste Problematik der Inklusion ausländischer Arbeitskräfte, die über keinen regulären Aufenthaltstitel verfügen, in das System der sozialrechtlichen Leistungen, deren Inanspruchnahme üblicherweise auf Kriterien wie Staatsbürgerschaft, Wohnsitz oder Beschäftigung basiert. Formuliert wird der Vorschlag, die Sozialrechtsposition irregulärer ArbeitsmigrantInnen anhand der Logiken des jeweiligen nationalen Sozialrechts zu bestimmen. Auf diese Weise wird die Situation von irregulären ArbeitsmigrantInnen mit jener von einheimischen ArbeitnehmerInnen in irregulärer Beschäftigung (Schwarzarbeit) vergleichbar, und es können aus der sozialrechtlichen Logik Voraussetzungen abgeleitet werden, die den Zugang zu Sozialrechten und sozialpolitischen Schutzmechanismen begründen, wie beispielsweise Aufenthaltsdauer oder die Verbindung mit dem Land. Zwei Beiträge zur Asylthematik runden das Jahrbuch ab. In ihrem Artikel Institutionelle Einsichten: Die Bedeutsamkeit von Schriftlichkeit und Dokumenten im Prozess der Bearbeitung von Asylanträgen präsentiert Julia Dahlvik Ergebnisse einer Untersuchung zur Tätigkeit von ReferentInnen im Bundesasylamt. Auf der Basis einer Beschreibung der alltäglichen Prozesse und Interaktionen zwischen den diversen Akteuren, die in die Bearbeitung und Beurteilung von Asylanträgen involviert sind, rückt der Text den zentralen Stellenwert von Schriftlichkeit in den Mittelpunkt der Überlegungen. Wie die Verfasserin demonstriert, beanspruchen schriftliche Dokumente wie Protokolle, Gutachten und Aktennotizen im Laufe von Asylverfahren wachsende, ja dominierende Autorität. Da jeder Verfahrensschritt schriftlich dokumentiert werden muss, entsteht ein verselbständigtes, komplexes, verschriftetes Referenzsystem mit spezifischer Handlungsmacht. Schriftlichkeit suggeriert Objektivität, was für die Institution das Risiko ungesicherter Entscheidungen senkt, wenn auch um den Preis, individuelle Schicksale auf Akten zu reduzieren und insofern zu
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verdinglichen. Der abschließende Beitrag des Bandes öffnet die Diskussion nochmals für die europäische Perspektive. In ihrem Aufsatz What Kind of Impact is Austria Exposed to? Analysing EU Asylum Law gehen Ariadna Ripoll Servent und Florian Trauner den längerfristigen Entwicklungen im Bereich der EUAsylpolitik nach, die entgegen früheren Annahmen einer Stärkung liberaler Prinzipien durch eine zunehmend restriktive Ausrichtung (insbesondere unter sicherheitspolitischen Gesichtspunkten) gekennzeichnet sind. Auf der anderen Seite gibt der gleichzeitig eher flexible und zurückhaltende Charakter der EUBestimmungen nationalen Regierungen ausreichend Raum, die supranationalen Regelungen im Einklang mit den nationalen Präferenzen und Praktiken zu implementieren, wofür Österreich ein anschauliches Beispiel liefert. Die HerausgeberInnen sind zuversichtlich, dass auch das zweite Jahrbuch der österreichischen Migrations- und Integrationsforschung über einen inhaltlich ertragreichen Einblick in das breit aufgefächerte, aktuelle Forschungsgeschehen hinaus zahlreiche Anregungen liefert für die kritische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem gesellschaftlich so wichtigen Themenbereich. Ohne die engagierte Mitwirkung zahlreicher Personen hätte dieses Jahrbuch nicht verwirklicht werden können. Dank gilt in erster Linie den Autorinnen und Autoren für ihre für diesen Band verfassten Originalbeiträge sowie für ihre Bereitschaft, sich den kritischen Kommentaren der GutachterInnen zu stellen und mehrmalige Korrektur- und Änderungswünsche einzuarbeiten. Besonderer Dank gilt auch den anonymen GutachterInnen, die bereit waren, sich am aufwändigen Prozess der Qualitätssicherung zu beteiligen. Die HerausgeberInnen möchten an dieser Stelle aber auch all jenen KollegInnen danken, die durch ihre aktive Mitwirkung am Programmkomitee die wissenschaftliche Qualität der Jahrestagung sicherstellten: Ilker AtaÅ, Rainer Bauböck, Brigitta Busch, Josef Ehmer, Gerda Falkner, Alexia Fürnkranz-Prskawetz, Richard Gisser, Petra Herczeg, Karl Husa, Gerhard Muzak, Walter Pohl, Richard Potz, Sieglinde Rosenberger, Christiane Spiel, Jelena Tosˇic´, Peter Urbanitsch, Eva Vetter, Hilde Weiss, Waldemar Zacharasiewicz. Ruth Vachek und Peggy Birch verdanken wir ein ausgezeichnetes Lektorat der Beiträge. Dank gebührt außerdem der Vienna University Press für die Aufnahme der Publikation sowie der Akademie der Wissenschaften und der Universität Wien für die Bereitstellung entsprechender personeller und materieller Ressourcen. Und besonders zu Dank verpflichtet sind wir unserem Kollegen Heinz Fassmann, der zu den Initiatoren der Jahrestagung gehört und die zweite Jahrestagung mit uns gemeinsam organisiert und durchgeführt hat, sowie Eva Schörkhuber, die uns bei der Organisation unterstützt hat. Julia Dahlvik, Christoph Reinprecht, Wiebke Sievers
Diversität
Steven Vertovec
„Diversität“ und die gesellschaftliche Vorstellungswelt1 Übersetzung: Stephan Elkins
Wir leben im Zeitalter der Diversität. Das heißt nicht unbedingt, dass die Gegenwart durch ein höheres Maß an sozialen Unterschieden gekennzeichnet ist als frühere Zeiten, sondern dass Diskurse über Diversität in der heutigen Zeit allgegenwärtig sind. Sie sind in allen westlichen Ländern (und zunehmend auch in nicht-westlichen Ländern und Entwicklungsländern) zu beobachten, insbesondere in zahlreichen Maßnahmen, Programmen, Kampagnen und Strategien von staatlichen Einrichtungen, Universitäten, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen. Infolgedessen sprechen einige Beobachter bereits von einer „Diversitätswende“ in Politik und Wirtschaft und beschreiben den Begriff „Diversität“ trotz seiner vielfältigen Bedeutungen und Verwendungsweisen als Kern einer neuen „normativen Metaerzählung“ (Isar 2006) im gesellschaftlichen Selbstverständnis. Wie lässt sich diese Entwicklung erklären? Wie sind Diversitätsdiskurse entstanden und was beinhalten und bewirken sie – wenn sie denn etwas bewirken? Ein möglicher Ansatz zur Beantwortung dieser Fragen wäre, sich auf die Entstehung von sozialen Bewegungen zu konzentrieren, in denen sich Menschen organisieren, die sich aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit unterdrückt fühlen. Dieser Ansatz liegt zum Beispiel der folgenden Feststellung der UNESCO zugrunde: The emergence on the political stage of local communities, indigenous peoples, deprived or vulnerable groups and those excluded on grounds of ethnic origin, social affiliation, age or gender, has led to the discovery, within societies, of new forms of diversity. The political establishment has in this way found itself challenged (UNESCO 2009, 4).
Der genannte Bericht zeigt, dass die UNESCO selbst eine solche Einrichtung des politischen Establishments zu sein scheint, deren Umgang mit Differenz und 1 Dieser Text ist im Jahr 2012 in englischer Sprache im European Journal of Sociology, Jg. 53, Nr. 3, 287 – 312 erschienen.
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Steven Vertovec
Diversität sich infolge der wachsenden Bedeutung solcher Bewegungen grundlegend gewandelt hat (Vertovec 2011). Und es lässt sich insgesamt nicht leugnen, dass die Entwicklung des Diversitätsdiskurses stark durch den Kampf um Minderheitenrechte (Skrentny 2002) und das Aufkommen der sogenannten Identitätspolitik beeinflusst ist (Bernstein 2005). Ähnlich argumentiert Will Kymlicka (2007) in Bezug auf die Internationalisierung bzw. globale Verbreitung des Multikulturalismus, unter dem er politische Maßnahmen, Gesetze und Rechtsnormen im Kontext von Minderheitenrechten versteht. Auf der ganzen Welt ist die Entstehung politischer und rechtlicher Instrumente als Reaktion auf lokale soziale Bewegungen zu beobachten, die mit einer globalen Verbreitung von Sprachfiguren, Strategien und Aktivitäten einhergeht (della Porta/Kriesi/ Rucht 2009). Wenn ich von Diversitätsdiskurs spreche, habe ich jedoch nicht Identitätspolitik, Minderheitenrechte oder Multikulturalismus im Blick. Mir geht es vielmehr um die in der Öffentlichkeit und Privatwirtschaft verwendete Sprache sowie um Aktivitäten und institutionelle Strukturen, die sich ausdrücklich auf den Begriff der Diversität beziehen. In diesem Beitrag soll „Diversität“ ein breites Korpus von normativen Diskursen, institutionellen Strukturen, Maßnahmen und Praktiken bezeichnen, die sich ausdrücklich auf ein Konzept der Diversität berufen. Im Folgenden werde ich argumentieren, dass diese Diskurse, Maßnahmen und Praktiken (1) in ihrer Entstehung und Entwicklung von dem Zusammenwirken verschiedener Faktoren abhängen, (2) sich in ihren Definitionen auf unterschiedliche Gruppen beziehen, die nicht eindeutig beschrieben werden und sich ständig verändern, (3) auf unterschiedliche Facetten, Ziele und Orientierungen ausgerichtet sind, (4) inzwischen institutionell so fest verankert sind, dass sie als banal, berechenbar und klischeehaft gelten, (5) zwar mit Formen der sozialen Diversifikation in Zusammenhang stehen, diese aber nicht notwendigerweise ihre treibenden Kräfte sind und (6) dass sie trotz ihrer Unbestimmtheit kumulative soziale Wirkungen zeitigen, die sich in der Transformation gesellschaftlicher Vorstellungswelten niederschlagen.
1.
Die Entstehung von „Diversität“
Es gibt keine eindeutige, lineare Geschichte der Entstehung von Diskursen, Maßnahmen und Praktiken rund um das Thema Diversität. Das lässt sich vor allem damit erklären, dass die Entwicklung von „Diversität“ von mehreren Faktoren beeinflusst wurde, mit „Diversität“ unterschiedliche Ziele verfolgt wurden und im Zentrum von Diversität verschiedene Vorstellungen von sozialer Differenz standen. Dennoch kann man von einem Korpus der „Diversität“ sprechen, nicht nur weil die verschiedenen Erscheinungsformen der Thematik
„Diversität“ und die gesellschaftliche Vorstellungswelt
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sich gemeinhin auf etwas beziehen, das als „Diversität“ gilt, sondern auch, weil ihnen allen die Anerkennung sozialer Differenz ein gemeinsames Anliegen ist. Die Wurzeln der „Diversität“ finden sich in den Vereinigten Staaten. Über die Bürgerrechtsbewegung und -gesetzgebung der 1960er-Jahre fand die Idee von benachteiligten Minderheiten Eingang in den öffentlichen Diskurs und die Politik. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand dabei die schwarze US-Bevölkerung, der man gerechte Behandlung, gesetzlichen Schutz, Chancengleichheit und Wiedergutmachung für die jahrhundertelange rassistische Benachteiligung zukommen lassen wollte. Zentrales institutionelles Instrument dieses Versuchs, Chancengleichheit zu fördern, Diskriminierung zu bekämpfen und Minderheiten zu besserer Bildung und besseren Positionen in der Arbeitswelt zu verhelfen, wurde Affirmative Action (positive Diskriminierung). Diese setzte sich zunächst in politischen Institutionen durch, wurde aber im Laufe der Zeit auch von anderen öffentliche Einrichtungen und Firmen in der einen oder anderen Form übernommen. Neben der schwarzen Bevölkerung kamen auch andere Gruppen als Nutznießer von positiver Diskriminierung und den damit einhergehenden Antidiskriminierungsmaßnahmen in Betracht, sofern sie die Behörden davon überzeugen konnten, dass ihre Lage im Hinblick auf Unterdrückung und Opferstatus mit der Situation der Schwarzen vergleichbar war (Skrentny 2002). Dies wurde zunächst den Latinos, Indianern und Amerikanern asiatischer Herkunft offiziell zugesprochen. Verfechterinnen von Frauenrechten sahen sich dagegen schon vor eine schwierigere Aufgabe gestellt, aber bis 1968 gelang es auch ihnen, einen vergleichbaren Status für Frauen zu erlangen. Seit dem Jahr 1973 gilt außerdem die Lage von Menschen mit Behinderungen als vergleichbar mit der der schwarzen US-Bevölkerung, sodass auch diese Gruppe zur Antidiskriminierungsliste hinzugefügt wurde. Daneben versuchten auch andere selbst-organisierte Gruppen, darunter „weiße“ ethnische Minderheiten (Menschen aus Süd- und Osteuropa) und Homosexuelle, in dieser Zeit einen den Schwarzen analogen Status zuerkannt zu bekommen, scheiterten aber damals mit diesem Anliegen und konnten dementsprechend nicht den Schutz von Antidiskriminierungsmaßnahmen beanspruchen (Skrentny 2002). Auf diese Weise begann ein Diskurs mit entsprechenden Maßnahmen und institutionellen Praktiken sich auf eine breite Palette von Gruppen zu beziehen, deren Situation zwar mit der der rassistischen Diskriminierung vergleichbar sein musste, aber nicht notwendigerweise durch Rassismus gekennzeichnet war. Damit war eine Idee geboren, die man als Äquivalenz von Differenzen bezeichnen könnte – Schwarze sind vergleichbar mit Frauen sind vergleichbar mit Behinderten und so weiter – eine Idee, die sich in der Folge in unterschiedlichen Konzepten von „Diversität“ wiederfindet. Das Konzept der positiven Diskriminierung basierte zu einem großen Teil auf der Vorstellung „statistischer Proportionalität“ (Prewitt 2002). Diese geht davon
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aus, dass man Diskriminierung durch das Zählen der Mitglieder bestimmter Gruppen im Hinblick auf Arbeitsplätze, Einkommen, Universitäten, Verträge, politische Ämter, Wohnungen, Bildungsstand, Gesundheit etc. nachweisen kann: fällt die so ermittelte Zahl für eine der Gruppen niedriger aus als man es aufgrund ihres Anteils an der Gesamtbevölkerung erwarten könnte, wird diese diskriminiert. Diese Logik setzt sich in unterschiedlichen Weisen auch im Bereich der „Diversität“ fort. In den 1980er-Jahren beschnitt die Reagan-Regierung die Umsetzung der Antidiskriminierungsgesetzgebung in den Vereinigten Staaten. Faktisch bedeutete das das Ende der regierungsseitigen Bemühungen um positive Diskriminierung und der Förderung von Chancengleichheit. In Reaktion auf diese Entwicklung, so stellen Erin Kelly und Frank Dobbin (1998) fest, erfanden sich die bis dahin in den Personalabteilungen im Unternehmenssektor tätigen Experten für positive Diskriminierung unter dem Begriff des „Diversitätsmanagements“ neu. Dies sollte die Fortführung von Maßnahmen für Chancengleichheit und gegen die Diskriminierung einer Reihe unterschiedlicher Gruppen, vor allem Frauen und Schwarze, unter neuem Namen sicherstellen (durch Sicherstellung ihrer zahlenmäßig proportionalen Berücksichtigung bei Einstellungen und Beförderungen). Die scheinbar neuen Diversitätsmanager konzentrierten sich darauf, Diversität in Belegschaften zu schaffen, aufrechtzuerhalten und zu managen und die Einhaltung von Standards der positiven Diskriminierung zu gewährleisten. Einen neuen Blick auf „Diversität“ brachte der vom Arbeitsministerium der Reagan-Regierung 1987 in Auftrag gegebene Bericht Workforce 2000: Work and Workers for the Twenty-First Century (Johnston/Packer 1987), der grundlegende demographische Verschiebungen prognostizierte, nämlich dass es in naher Zukunft weniger Weiße und mehr ethnische Minderheiten in den USA geben würde. Dieser Bericht machte vielen Unternehmen bewusst, dass sie auf eine solche Zukunft nicht vorbereitet waren. In dieser Zukunft würden Minderheiten einen großen Teil des Arbeitsmarktes stellen (und sollten gemäß dem Prinzip der „statistischen Proportionalität“ innerhalb der Firmenbelegschaft entsprechend repräsentiert sein) und eine insgesamt größere Rolle in der Wirtschaft spielen, auch als Konsumenten; in dieser Zukunft könnten Beschäftigte, die Minderheiten angehören, den Unternehmen dabei helfen, die wachsende Gruppe dieser Konsumenten zu erreichen, und sie vor dem Hintergrund der zunehmenden Globalisierung der Märkte im Umgang mit ausländischen Geschäftspartnern unterstützen. Während positive Diskriminierung auf die Wiedergutmachung vergangenen Unrechts zielte, brachte ein neues Bewusstsein für demographische Verschiebungen eine Neuausrichtung des „Diversitätsmanagements“ auf die Zukunft. Kelly und Dobbin (1998) zeigen auf, dass die Unterschiede zwischen positiver
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Diskriminierung und „Diversität“ mit wirtschaftlichen Zielen zu erklären sind. Denn das Konzept Diversität verdankt seinen Aufstieg insbesondere dem Unternehmenssektor, in dem seit den 1990er-Jahren das Diversitätsmanagement enorm an Bedeutung gewann – ein Agglomerat von Aktivitäten, das von einem Beobachter als „Diversitätsmaschine“ bezeichnet wurde (Lynch 1997). Im Unternehmenssektor wurde Diversitätsmanagement alsbald obligatorisch. So fand es bis Anfang der 1990er-Jahre bereits in 70 Prozent der Fortune-500-Unternehmen Eingang in Ausbildungsprogramme, Bezeichnungen entsprechender Stabstellen und/oder Unternehmensleitbilder (Kelly/Dobbin 1998, 980). Grundlage dieser Umgestaltung von Unternehmen und Institutionen war jedoch nicht nur das beschriebene neue demographische Bewusstsein. Auch die Bekämpfung von Diskriminierung war weiterhin ein Anliegen. Dies wurde insbesondere durch die Auswirkungen der Rassendiskriminierungsklage gegen Texaco Inc. im Jahr 1996 wiederbelebt. Dem Unternehmen wurden Zahlungen von 176 Millionen US-Dollar auferlegt, davon 115 Millionen US-Dollar Schadensersatz an 1.400 schwarze Beschäftigte und 35 Millionen US-Dollar für die Entwicklung unternehmensweiter „Diversitätstrainingsprogramme“ und „Diversitätsleistungsziele“ innerhalb des Managements (Eichenwald 1996). Es war der größte Vergleich, der jemals auf diesem Gebiet zustande kam. Dieser Fall trug erheblich zur „Steigerung des Bewusstseins“ im US-amerikanischen Unternehmenssektor bei, so ein sarkastischer Kommentator (Wrench 2007, 18). Auch die Diversität im Unternehmenssektor blieb zunächst der Logik „statistischer Proportionalität“ verpflichtet und konzentrierte sich auf Zahlen, insbesondere auf die sichtbare Zahl der Schwarzen, Frauen und anderen Minderheiten in der Belegschaft. Da niedrige Zahlen als Anzeichen für Diskriminierung gelten konnten, bemühten sich die Unternehmen hauptsächlich um „Diversität“, um einen solchen Eindruck zu vermeiden. Im weiteren Verlauf erweiterte sich der Fokus der auf Diversität gerichteten Maßnahmen und Programme: Die Konzentration lag nicht mehr auf Fragen der Einstellungspraxis, sondern es wurde ein breiteres Spektrum von Minderheiten betreffenden Fragen berücksichtigt, wie zum Beispiel die Bedingungen ihres Arbeitsvertrages und dessen Kündigung, Beförderung und beruflicher Aufstieg, Konfliktschlichtung und andere Formen der Verantwortlichkeit – alles Aspekte, deren Hauptanliegen die Bekämpfung von Diskriminierung war. Anfang der 1990er-Jahre begannen dann Unternehmensberater zunehmend auf den „ökonomischen Nutzen von Diversität“ zu pochen. Damit galt Differenz nicht mehr als „Quelle eines Defizits“, sondern als Grundlage für „produktive Beziehungen“ (Blackmore 2006, 183). Der negative Ansatz zur Diversität, der allein darauf ausgerichtet war, die Verletzung von Antidiskriminierungsgesetzen zu vermeiden (Wrench 2007, 3), wandelte sich also in einen positiven Ansatz, der auf den ökonomischen Nutzen abstellt. Dieser beruht auf der Annahme, dass
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eine durch Diversität gekennzeichnete Belegschaft (wie unterschiedlich diese definiert wird, zeige ich später) mit einer erheblichen Steigerung der Kreativität, Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit einhergeht (Herring 2009). Die Diversität des Personals, so die Argumentation, wirke sich positiv auf die Innovationsfähigkeit aus, auf das Erkennen von Marktchancen, das Verstehen der Kundschaft und die Außenwahrnehmung des Unternehmens als fortschrittlich. Zumindest in größeren US-Unternehmen ist Diversitätsmanagement heute gang und gäbe (Wrench 2007, 22). Jenseits der Unternehmenswelt ist es auch in zentralen Institutionen, wie beispielsweise im Militär, im öffentlichen Dienst und an Universitäten, weit verbreitet (Waters/Vang 2007). Wrench (2007) zufolge überrascht es nicht, dass „Diversität“ in den USA ihren Ausgang nahm, denn in den USA machen ethnische Minderheiten einen beträchtlichen Anteil an der Gesamtbevölkerung aus, es gibt dort eine lange Geschichte der Bürgerrechte, eine ausgeprägte Antidiskriminierungsgesetzgebung, klare Richtlinien für die Einhaltung von Auflagen bei Verträgen mit öffentlichen Institutionen, positive Diskriminierung, eine größere Bereitschaft, Gerichte anzurufen, und höhere Bußgelder für Gesetzesverstöße. Seit diesen Anfängen in den USA verbreitet sich „Diversität“ heute weltweit. Natürlich gab es, wie bei Kymlicka (2007) beschrieben, eine ganze Reihe sowohl voneinander unabhängiger als auch miteinander verwobener Prozesse, die für die Internationalisierung von Minderheitenrechten und Minderheitenschutz verantwortlich sind. Seit Jahrzehnten gehören Prinzipien der Nichtdiskriminierung und des Minderheitenschutzes zu den Kernelementen zahlreicher internationaler Erklärungen und Vereinbarungen, von der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte über die Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt der UNESCO bis hin zu den verschiedenen Verträgen des Europarats und der Europäischen Kommission. Aller Erklärungen ungeachtet mangelte es der Antidiskriminierungsgesetzgebung in Europa bis zum Vertrag von Amsterdam aus dem Jahre 1997 an rechtlicher Schärfe. Erst dieser sah Regelungen zur Bekämpfung der unterschiedlichsten Arten von Diskriminierung vor, darunter Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung. In der Folgezeit wurde mit der EU-Richtlinie zur Rassengleichbehandlung aus dem Jahre 2000 Diskriminierung aufgrund von Rasse und ethnischer Herkunft in zentralen Bereichen wie Wohnen, Beschäftigung und Bildung verboten und im selben Jahr mit der EU-Richtlinie zur Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf jegliche Form der Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Die alten EU-15-Mitgliedsländer waren verpflichtet, diese Richtlinien bis 2003 umzusetzen, und die neuen EU-10-Mitgliedsländer bis 2004, wobei Vertragserfüllung in diesem Zusammenhang bedeutete, dass jedes Mitgliedsland
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unter Berücksichtigung der eigenen rechtlichen Rahmenbedingungen seinen eigenen Weg finden musste, um dieser Verpflichtung nachzukommen. Im Ergebnis gibt es in den einzelnen Mitgliedsländern eine „große Vielfalt von Mitteln und Rechten“ (Guiraudon 2009, 537) und „auf der EU-Ebene keine gemeinsame Festlegung konkreter Maßnahmen bzw. keine klaren Richtlinien hinsichtlich der Mittel und Ziele“ (Guiraudon 2009, 538). Die EU-Staaten haben eine Vielzahl von Regierungsbehörden, politischen Maßnahmen und Programmen mit dem Ziel der Bekämpfung von Diskriminierung ins Leben gerufen und – der EU selbst folgend – diese als Förderung von „Diversität“ verpackt (siehe beispielsweise die EU-Kampagne „Für Vielfalt. Gegen Diskriminierung“; Europäische Kommission ohne Jahr). In der gesamten EU beobachten wir den Aufstieg von „Diversitätspolitik“ auf allen Regierungs- und Verwaltungsebenen. Aussagen zur Sicherstellung und Förderung von „Diversität“ finden sich allenthalben in zentralen politischen Dokumenten zu Fragen des sozialen Zusammenhalts und der Integration von Immigranten (beispielsweise Home Office 2005, Europäische Kommission 2007, Bundesregierung 2007). Diese politischen Maßnahmen werden in den verschiedensten Bereichen der Kommunalverwaltungen umgesetzt, z. B. in der kommunalen Personalpolitik und der Ausbildung, im Bereich der kommunalen Dienstleistungen, der Öffentlichkeitsarbeit sowie der Außendarstellung (Bosswick/Heckmann/Lüken-Klaßen 2007). Im Rahmen der Initiative „Orte der Vielfalt“ unterstützen 159 deutsche Kommunen Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung und organisieren Aktivitäten zur Entwicklung von Toleranz. Darüber hinaus finden europaweit Prozesse der Vernetzung und Kommunikation zwischen den Städten statt, in denen es um „benchmarking“ und den Austausch von „best practices“ in öffentlicher Diversitätspolitik geht (z. B. CLIP 2008, Eurocities 2010). Der Unternehmenssektor spielte bei der Internationalisierung von „Diversität“ eine wichtige Rolle (Nishii/Özbilgin 2007). So wurde beispielsweise gezeigt, dass die wachsende Bedeutung von Diversitätsmanagement in Deutschland zum großen Teil auf Ableger US-amerikanischer Unternehmen zurückgeht, die hier das Tempo vorgeben (Süß/Kleiner 2007). John Wrench beschreibt diesen Prozess, der in den 1990er-Jahren begann, folgendermaßen: American-owned companies in the EU became exposed to diversity management ideas from the parent company, and some European managers and consultants came back from visits to America and Canada enthused with the new idea to spread the word back home. (Wrench 2007, 27)
Die Allgegenwart von „Diversität“ im europäischen Unternehmenssektor zeigt sich in den europäischen Chartas der Vielfalt (Secr¦tariat g¦n¦ral de la Charte de la diversit¦ 2013). Angelehnt an die französische Charta der Vielfalt von 2004
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handelt es sich hier um Erklärungen, welche die Unternehmen (und einige öffentliche Arbeitgeber) abgeben, um ihr Bemühen um die Förderung von „Diversität“ und die Bekämpfung von Diskriminierung kundzutun. Die Europäische Kommission, die sich für die Verknüpfung der nationalen Chartas der Vielfalt einsetzt, charakterisiert diese folgendermaßen: Diversity charters are among the latest in a series of voluntary diversity initiatives aimed at encouraging companies to implement and develop diversity policies. A diversity charter consists of a short document voluntarily signed by a company or a public institution. It outlines the measures it will undertake to promote diversity and equal opportunities in the workplace, regardless of race or ethnic origin, sexual orientation, gender, age, disability and religion. The diversity policies developed within companies adhering to a diversity charter recognise, understand and value people’s similarities and differences as representing huge potential sources of innovation, problem-solving, customer focus, etc. (Europäische Kommission 2013)
Die deutsche Charta der Vielfalt wurde von rund 1.250 Unternehmen unterzeichnet, die französische Charte de la diversit¦ dagegen von fast 3.000. Handbücher für Diversitätsmanagement haben in den letzten zwanzig Jahren weite Verbreitung gefunden. Das American Institute for Managing Diversity hat eine annotierte Bibliographie von mehr als 75 Büchern in englischer Sprache zum Thema Diversitätsmanagement vorgelegt, während die International Society for Diversity Management weitere 37 Bücher in deutscher Sprache gelistet hat. Neben diesen Handbüchern beschäftigt sich eine steigende Zahl von Titeln mit Diversität in Bildung und Unterricht (mit Titeln wie Cultural Diversity and Education (2005), Educating Teachers for Diversity (2003), Teaching for Diversity and Social Justice (2007), Diversity in Early Care and Education (2007) und Diversity Awareness for K-6 Teachers (2011)). Und auch andere Berufsgruppen haben sich seit den frühen 2000er-Jahren des Themas in Buchveröffentlichungen angenommen, was sich in folgenden Titeln spiegelt: Cultivating Diversity in Fundraising (2001), Intentional Diversity : Creating Cross-Cultural Relationships in Your Church (2002), Diversity in Counseling (2003), Cultural Diversity: A Primer for the Human Services (2006), Understanding the Psychology of Diversity (2007), Diversity, Oppression, Change: Culturally Grounded Social Work (2008), Diversity and the Recreation Profession (2008), Aging and Diversity (2008) und Cultural Diversity in Health and Illness (2008). Darüber hinaus arbeiten auch Bücher, die sich schwerpunktmäßig speziell mit Themen wie Geschlecht, Sexualität, ethnischer Herkunft oder Behinderung beschäftigen, zunehmend mit dem Begriff der Diversität. Es gibt also eine Reihe von Gründen für die Entstehung und Verbreitung des Diversitätsdiskurses. Hervorgegangen ist der Diskurs aus der positiven Dis-
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kriminierung, deren Ziel es war, historische Benachteiligungen und Strukturen der Diskriminierung zu korrigieren. Verbreitung fand er jedoch aus sehr unterschiedlichen Motiven, sei es zur Vermeidung von Diskriminierungsklagen, als Reaktion auf den demographischen Wandel oder als Strategie, die der Organisation Vorteile bringen sollte. Alle diese Ansätze betrachten „Diversität“ als Mittel zum Zweck: nämlich zur Steigerung des Organisationserfolgs (Lorbiecki/ Jack 2000) – oder zumindest zur Vermeidung von Konflikten, Klagen oder schlechter Presse. Auf jeden Fall hat „Diversität“ eine Vielzahl von Sphären durchdrungen. Vor der Jahrtausendwende äußerte sich Frederick Lynch (1997, 33) kritisch über diese Tatsache: „the diversity machine […] has spread from university curricula, to news and information services, jury selection, legislative redistricting, mortgage lending, and personnel policies in public and private sector employment“. Das Konzept hat eine größere Bedeutungsvielfalt gewonnen, ist auf ein breiteres Spektrum von Problemfeldern ausgerichtet und als Triebkraft des Wandels in Anschlag gebracht worden. Es ist auch – und oft auf Verwirrung stiftende Weise – auf einen größeren und breiteren Adressatenkreis angewendet worden.
2.
Worin besteht der Unterschied?
Im Bereich der Diversität zeichnet sich in jüngster Zeit ein Wandel von zugeschriebenen Gruppenmerkmalen zu selbst-zugeschriebenen individuellen Eigenschaften ab. In der Literatur zu Diversitätsmanagement (Lituin 1997, Lorbiecki/Jack 2000) und in den dort thematisierten Diskursen, Maßnahmen und Praktiken werden zwei Arten von Unterschieden ausgemacht: Diese sind entweder angeboren und damit unveränderlich (wie Alter, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Hautfarbe, physische Fähigkeiten, sexuelle Orientierung) oder veränderlich (wie Bildung, Religion, Arbeitserfahrung etc.). Einige Diversitätsprogramme konzentrieren sich in Anlehnung an ihre Ursprünge in der positiven Diskriminierung auf Hautfarbe und Geschlecht bzw. auf unveränderliche Merkmale, während andere Ansätze auf ein sehr viel breiteres Spektrum von möglichen Unterschieden sowohl unveränderlicher als auch veränderlicher Natur abzielen. Die Spannbreite der im Diversitätsdiskurs thematisierten Unterschiede wird sichtbar, wenn wir Leitbilddokumente, Maßnahmenkataloge und Ausbildungsmaterialien von Unternehmen, öffentlichen Einrichtungen (z. B. Dienste der Gesundheitsversorgung), staatlichen Behörden, Nicht-Regierungsorganisationen und Universitäten in den USA, Großbritannien und Deutschland untersuchen. Betrachtet man eine solche Auswahl an Quellen, die sich alle explizit auf Diversität berufen (beziehungsweise diese, wie sie selbst schreiben, zele-
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brieren, wertschätzen, fördern, anerkennen, verstehen, einbeziehen, nutzen, verhandeln oder respektieren), dann findet man die folgenden Kategorien von Differenz: Hautfarbe, Ethnie, Geschlecht, Kultur, Klasse, religiöse Überzeugung, sexuelle Orientierung, geistige Leistungsfähigkeit, physische Leistungsfähigkeit, psychische Leistungsfähigkeit, militärischer Rang oder Veteranenstatus, Familienstand, Wohnort, Nationalität, Kenntnisse, sozialer Hintergrund, Erfahrungen, Alter, Bildungsstand, kulturelle und individuelle Perspektiven, Standpunkte und Meinungen. Ein Beispiel für eine solche Breite bietet die Ford Motor Company : Diversity in the workplace includes all differences that define each of us as unique individuals. Differences such as culture, ethnicity, race, gender, nationality, age, religion, disability, sexual orientation, education, experiences, opinions and beliefs are just some of the distinctions we each bring to the workplace. By understanding, respecting and valuing these differences, we can capitalize on the benefits that diversity brings to the Company. (Zitiert nach Wrench 2007, 9)
In der Stadtplanung und den Materialien der Stadtwerbung drängt sich im Lichte der Bedeutungsvielfalt des Begriffs „Diversität“, die sich nicht nur auf die Eigenschaften von Menschen bezieht, sondern auch auf Architektur, Produkte, Lebensstile, Flächennutzung, Beschäftigungsmöglichkeiten, Versorgungsinfrastruktur, Dienstleistungen und Kunst, der Eindruck von „konzeptionellem Chaos“ (Lees 2003) auf. Dieser Breite ungeachtet ist Diversität in der Wahrnehmung der Menschen in den USA zuallererst mit Rasse verbunden (Bell/ Hartmann 2007). In Europa wird Diversität dagegen hauptsächlich mit kulturellen Unterschieden im Zuge von Migration verbunden (Lentin/Titley 2008). In beiden Kontexten ist der Begriff auch stark mit der Geschlechterthematik verknüpft. Trotzdem zeigt sich in verschiedenen Untersuchungen, dass vielen Menschen nicht klar ist, wer mit dem Begriff „Diversität“ gemeint ist (Ahmed 2007/2012). Ähnliche Unklarheit herrscht auch bezüglich des Zwecks von „Diversität“.
3.
Facetten von „Diversität“
Davina Cooper (2004, 5) schreibt, dass „Diversität“ einen „weiten diskursiven Raum“ umschließt; Thomas Faist (2009, 173) stellt fest, dass „Diversität als Konzept und als Katalog von – nicht notwendig kohärenten – Maßnahmen, Programmen und Routinen eine Vielzahl von Welten umfasst“; und Alana Lentin und Gavan Titley (2008, 14) beschreiben „Diversität“ als einen „mehrdeutigen transnationalen Bedeutungsträger“. Der Korpus der „Diversität“ scheint durch eine schwer fassbare Multivalenz (mit der er viele verschiedene Adressatenkreise
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auf unterschiedliche Art und Weise erreicht), wenn nicht gar durch völlige Unbestimmtheit charakterisiert zu sein. Dies hat seinen Grund nicht nur in der Unbestimmtheit des Gegenstands, sondern auch in der Unbestimmtheit des Zwecks. Welchem Zweck dient diese lose Sammlung von Diskursen, Maßnahmen, Programmen und Praktiken, die unter dem Namen „Diversität“ zusammengefasst werden? Diese Frage wird je nach Kontext unterschiedlich beantwortet. Die mannigfaltigen Zwecke unterschiedlicher Diversitätsinitiativen bewegen sich grob gesprochen zwischen den Polen Antidiskriminierung und positive Akzeptanz. Dabei dienen Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung hauptsächlich den „Diversen“ (also jenen, die gemäß Selbst- oder Fremdzuschreibung als Minderheiten gelten); Maßnahmen für positive Akzeptanz kommen dagegen meist den Organisationen zugute, in denen diese Menschen anzutreffen sind. Das zeigt ein genauerer Blick auf die zahlreichen Facetten von „Diversität“ zwischen den Polen Antidiskriminierung und positive Akzeptanz. Die Metapher der „Facette“ soll die Vorstellung eines gemeinsamen Gegenstandes erwecken, der, einem Juwel ähnlich, aus zahlreichen Aspekten oder Oberflächen besteht, die in geringfügig unterschiedliche Richtungen zeigen. Im Folgenden werde ich sechs Facetten skizzieren, die für die Diskurse, Maßnahmen, Programme und Praktiken auf dem Feld der „Diversität“ charakteristisch sind. Damit soll keineswegs der Eindruck erweckt werden, dass die Ziele einander ausschließen: In der Realität beziehen sich Programme, Leitbilder, Kampagnen und institutionelle Richtlinien zur Förderung von Diversität häufig auf mehr als eines dieser Ziele. Freilich trägt dieser Umstand zusätzlich zur Ambiguität und Multivalenz von „Diversität“ bei. Die ersten beiden Facetten stehen in Zusammenhang mit verschiedenen Positionen in der politischen Philosophie, wie sie insbesondere von Charles Taylor, Nancy Fraser, Iris Marion Young und Axel Honneth vertreten werden (beispielsweise Taylor 1992, Young 1997, Fraser/Honneth 2003). Die anderen vier beziehen sich auf praktische Maßnahmen im öffentlichen Dienst, in der Geschäftswelt und im Management.
3.1
Umverteilung
Diese Facette umfasst Maßnahmen und Programme, die historische Diskriminierung bestimmter Gruppen und die daraus folgenden wirtschaftlichen Nachteile korrigieren wollen. Dieser mit „Diversität“ verfolgte Zweck entspricht weitgehend dem von positiver Diskriminierung: Es geht darum, Minderheiten einen verbesserten Zugang zu knappen ökonomischen und gesellschaftlichen Gütern – insbesondere Arbeitsplätzen, gerechten Löhnen, Wohnungen und Bildung – zu verschaffen.
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Anerkennung
Bei Maßnahmen und Programmen für Diversität, die auf Anerkennung abheben, geht es zwar auch um die Wiedergutmachung historischen Unrechts, aber in diesem Fall mit Blick auf die kulturellen Nachteile. Maßnahmen dienen hier der Förderung der Würde und Achtung von Minderheiten, der Schaffung eines positiven Bildes und der Förderung einer umfassenderen Beteiligung an sozialer Interaktion und politischen Prozessen durch die Neuverhandlung der für die betreffenden Gruppen geltenden Bedingungen staatlicher Inklusion (Eisenberg/ Kymlicka 2011).
3.3
Repräsentation
Diese Facette von „Diversität“ kann als eine Politik der Anwesenheit gekennzeichnet werden. Hier ist das Ziel, Institutionen zu schaffen, die die Zusammensetzung der Bevölkerung, der sie dienen, widerspiegeln – das können Betriebsbelegschaften, Lehrkörper, Studierendenvertretungen, Gesundheitsversorgung, öffentlicher Dienst, Militär, Polizei oder Organe der politischen Repräsentation sein. Zu diesem Zweck werden oft Monitoringsysteme oder Quoten eingesetzt. Diese Facette folgt immer noch einer Logik der „statistischen Proportionalität“ (Prewitt 2002).
3.4
Versorgung
Diese Facette von „Diversität“ findet sich oft im öffentlichen Dienst. Ihr Ziel ist es, auf die spezifischen Anforderungen der Kunden je nach Gruppenzugehörigkeit oder auch nach individuellen Differenzen (die unterschiedlich definiert werden) einzugehen. Zu diesem Zweck gilt es, die spezifischen Anforderungen der Kundschaft zu erkennen, die entsprechenden Fähigkeiten zu entwickeln und unter den Angestellten ein Bewusstsein für diese Anforderungen zu schaffen. Damit soll ein Dienstleistungsangebot entwickelt werden, das den unterschiedlichen Bedürfnissen der verschiedenen Bürger in modernen Gesellschaften gerecht wird (NAO 2004). Diese Maßnahmen, Programme und Initiativen bezeichnen PraktikerInnen als „bedürfnisgeleitete Diversität“ (Johns 2004).
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3.5
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Wettbewerb
Diese Facette zielt auf den „ökonomischen Nutzen von Diversität“ ab und beinhaltet Strategien zur Verbesserung des Marketings eines Unternehmens und letztlich zur Steigerung seines Marktanteils (Herring 2009). Die Förderung von „Diversität“ und entsprechend von Vielfalt in der Belegschaft soll in diesem Fall dazu beitragen, genaueres Wissen über die Kunden zu erlangen und Marktchancen zu identifizieren, um auf diese Weise die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, die Qualität der Produkte zu verbessern, eine breitere Kundenbasis anzusprechen und die Verkaufszahlen zu erhöhen. In manchen Kontexten geht es dabei auch darum, das eigene Unternehmen zu globalisieren, indem die Sprachkompetenzen oder ethnischen Zugehörigkeiten der MitarbeiterInnen genutzt werden, um Aufträge zu akquirieren oder den Zugang zu Beschaffungsund Absatzmärkten in anderen Ländern zu erschließen. „Diversität“ wird zudem als Werbebotschaft in der Öffentlichkeitsarbeit eines Unternehmens eingesetzt, um das eigene Image aufzubessern und damit die Kundenwahrnehmung positiv zu beeinflussen (oder zumindest mögliche Imageschäden abzuwenden, die aus der Abwesenheit eines sichtbaren Engagements für Diversität resultieren könnten). Zugleich dienen all diese Maßnahmen der Vermeidung von Beschwerden und Diskriminierungsklagen.
3.6
Organisation
Managementstrategien, Trainingsprogramme, Strukturen und Stabsstellen zur Förderung von Diversität in Unternehmen oder anderen Einrichtungen dienen der Entwicklung und Umsetzung vieler der oben beschriebenen Facetten. Sie sollen zudem die Leistung des Personals maximieren. Zu diesem Zweck bedienen sie sich einer positiv aufgeladenen Rhetorik mit Begriffen wie: Talent freisetzen, Herausforderungen begegnen, das volle Potenzial ausschöpfen, Ziele erreichen, eine anregendere Arbeitsumgebung schaffen, Probleme lösen. Diese Begriffe werden dann oft mit Adjektiven wie „lohnend“, „erfolgreich“, „produktiv“, „innovativ“, „befähigend“, „kompetitiv“ und „flexibel“ verknüpft. All dem liegt die Prämisse zugrunde, dass Teams mit größerer Vielfalt solchen mit geringerer Vielfalt leistungsmäßig überlegen sind (z. B. Page 2007). Diversitätsmaßnahmen innerhalb einer einzelnen Organisation können diese Facetten kombinieren. So unterscheiden Kalev, Kelly und Dobbin (2006) drei Typen von Diversitätsinitiativen in Unternehmen: 1. Bemühungen, der Voreingenommenheit im Management durch Diversitätstraining entgegenzuwirken, unter anderem durch Sensibilisierung der
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Führungskräfte für ihre eigenen Stereotype und Vorurteile (was unter die Überschrift Anerkennung fällt); 2. Bemühungen, soziale Isolation (Organisation) zu bekämpfen und Aufstieg zu fördern (Umverteilung und Anerkennung) durch Mentoringprogramme und Netzwerkbildung u. a. im Zuge von regelmäßigen Treffen zum Mittagessen und sonstigen Zusammenkünften (Organisation) und 3. Bemühungen, die Förderung von Diversität durch die Aufstellung von Plänen zur positiven Diskriminierung (Umverteilung), die Schaffung von Stabsstellen für Diversität (Anerkennung und Repräsentation) und die Einrichtung von Ausschüssen zur Überwachung der Fortschritte (Versorgung) im Unternehmen fest zu verankern. Auf diese Weise scheinen die unterschiedlichen Facetten einander zu verstärken. Allerdings setzen nicht alle Unternehmen eine Kombination von Maßnahmen ein. Diese verschiedenen Facetten und ihre Kombinationen wurden durch Konzerne und ihre Tochterunternehmen, durch Berufsverbände und professionelle Netzwerke, Tagungen, Fachzeitschriften, Webseiten und andere Medien unterschiedlichster Art international verbreitet. Wie in jedem anderen Diffusionsprozess auch haben sie sich in einem jeweils durch lokale Bedeutungen geprägten Kolorit manifestiert. In den Augen mancher Praktiker, Arbeitnehmer oder auch der Öffentlichkeit scheinen die vielfältigen Zielstellungen von „Diversität“ jedoch nicht einem übergeordneten Zweck zu dienen. Das zeigt sich darin, dass sich viele Menschen nicht so ganz sicher sind, wofür und für wen das alles gut sein soll (Bell/Hartmann 2007). Wie bereits erwähnt stellt sich die Frage, ob „Diversität“ für die „Diversen“ (Minderheiten) gedacht ist, also zur Steigerung ihres sozialen und ökonomischen Status sowie ihres Wohlbefindens. Umverteilung, Anerkennung und Repräsentation scheinen in diese Richtung zu deuten. Oder sind die auf „Diversität“ gerichteten Maßnahmen für die „nicht-diverse“ Mehrheit gedacht, um deren gewohnten Wahrnehmungen zu verändern? Versorgung, Wettbewerb und Organisation scheinen eher auf diese Zielgruppe ausgerichtet zu sein. Oder geht es um beide Gruppen? Auch wenn die meisten Praktiker und Organisatoren auf dem Feld der „Diversität“ diese letzte Frage wahrscheinlich mit ja beantworten werden, richten sich die konkreten Programme üblicherweise entweder an die eine oder an die andere Zielgruppe. Natürlich gibt es auch Kritiker der „Diversität“. Von der Wissenschaft angefangen bis hin zu sozialen Bewegungen und lokalen Basisgruppen haben sich viele negativ über Diversitätsmaßnahmen und -programme geäußert. Unter den wichtigsten kritischen Aussagen zum Konzept der „Diversität“ zählen die folgenden zu den am weitesten verbreiteten bzw. schlagkräftigsten Argumenten.
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– Das Konzept der „Diversität“ ist instrumentalistisch, denn es geht davon aus, dass einige wenige, die als „divers“ gelten, von jemand anderem gemanagt werden müssen. – Es verstärkt Normativität, indem es von der weißen, männlichen, körperlich voll leistungsfähigen, heterosexuellen Person als Norm ausgeht, von der die anderen abweichen. – Es ist paternalistisch, denn es erhebt den Anspruch, zum Wohle einer mutmaßlich unterdrückten Gruppe zu wirken. – Es ist im Ergebnis gesellschaftliche Manipulation, denn es versucht (einer bestimmten normativen Vorstellung folgend), künstlich ein perfektes Team, ein perfektes Unternehmen oder eine perfekte Gesellschaft zu schaffen. – Es ebnet Unterschiede ein, indem es unterstellt, dass die Erfahrung der Diskriminierung aufgrund von ethnischer Herkunft, Geschlecht, Behinderung usw. ihrer Natur nach immer dieselbe ist (und, dieser Logik folgend, auch die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung dieselben sein müssen). – Es führt zu einer Fragmentierung von Politik (besonders in Bewegungen, die von Gruppen getragen werden), indem es die Logik des Teilens und Herrschens bis auf einzelne Individuen und ihre unzähligen Eigenschaften herunterbricht. – Es lenkt ab von sozialer Ungleichheit, indem es das Augenmerk auf Wertschätzung und Wohlbefinden statt auf die reale Verbesserung der strukturellen Bedingungen richtet. – Es ist nur eine Formalität bzw. eine Fassade, die Unternehmen oder anderen Institutionen den Eindruck zu erwecken erlaubt, dass sie etwas Positives für Minderheiten unternehmen. – Es lässt sich leicht von anderen Programmen innerhalb eines Unternehmens oder einer öffentlichen Einrichtung isolieren, weil es nur den Minderheiten und nicht allen dient. – Es beinhaltet nicht viel mehr als Menschen zu zählen, die „anders“ sind, was manche – insbesondere jene, die als „anders“ gelten – als verletzend empfinden könnten. Jeder dieser Kritikpunkte kann für sich genommen einen „wahren“ Kern beanspruchen – je nachdem, auf welche Facette von „Diversität“ er sich bezieht. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass viele Maßnahmen und Programme für Diversität eine Reihe von Facetten in sich vereinen, auf die nur einige der Kritikpunkte zutreffen. Denn diese beziehen sich auf verschiedenste Programme und Bedeutungen von „Diversität“. Deswegen ist es bisher keinem dieser Kritikansätze gelungen, der Verbreitung, Akzeptanz und Unterstützung von Diversität als Ganzer einen spürbaren Schlag zu versetzen.
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4.
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Ambiguität, Multivalenz, Banalität
Für „Diversität“ gibt es keine allgemeingültigen Definitionen, Zielstellungen oder Referenzgruppen. Das war jedoch für die Verbreitung des Begriffs nicht von Nachteil. Ganz im Gegenteil, gerade dieser Umstand trug vermutlich zu seiner Popularität und Bedeutung bei. Der Begriff scheint jedem etwas zu bieten. So schreibt Loretta Lees (2003, 622): „Like motherhood and apple pie, diversity is difficult to disagree with.“ Joyce Bell und Douglas Hartmann (2007) haben zahlreiche Interviews zu Fragen der Struktur und Funktion von „Diversität im Alltagsdiskurs“ im heutigen Amerika geführt. Sie stellten fest, dass viele Amerikaner Diversität für einen Euphemismus halten, bei dem es eigentlich um Rasse geht. Gleichzeitig erweckte jedoch die Mehrheit der Befragten den Eindruck, dass ihnen die genaue Bedeutung des Begriffs unklar ist. Dies zeigte sich an unscharfen Unterscheidungen, wenn vom Begriff „Diversität“ und seinen vielfältigen Bezügen auf individuelle Merkmale und Gruppengrenzen bzw. abstrakte Universalien und konkrete Maßnahmen die Rede war. Dessen ungeachtet akzeptiert ein großer Teil der Interviewten „Diversität“ – was man darunter auch immer verstehen mag – eher als „ein soziales Projekt oder eine soziale Initiative bzw. als einen moralischen Imperativ, der die Anerkennung und Akzeptanz von Unterschieden in der modernen Welt gebietet“ (Bell/Hartmann 2007, 899). Von ähnlichen Beobachtungen berichtet auch Gabriella Modan (2008), die die Verwendung des Begriffs in einem Viertel von Washington untersucht hat. Modan glaubt, dass der Begriff der Diversität eine semantische Weichspülung erfahren hat. Er wurde seines Inhaltes entleert: „In the bleaching of ,diversity‘ in local discourse, the word is used to promote some unspecified social good.“ (Modan 2008, 210) In ähnlicher Weise sprechen Lentin und Titley (2008, 22) von der Dehnbarkeit des Begriffs Diversität und von seiner abstrakten und idealistischen Qualität. Und auch Sara Ahmed (2007) beobachtet, wie PraktikerInnen im öffentlichen Sektor in Großbritannien (im konkreten Fall in Universitäten) Diversität in vielfältiger, widersprüchlicher und unbestimmter Weise definieren. Dessen ungeachtet ist der Begriff ihrer Meinung nach ansprechend, weil er eher Sicherheit als Bedrohung vermittelt (Ahmed 2007, 238). Durch seine Multivalenz und optimistische Orientierung ist der Begriff der „Diversität“ zu einem allgegenwärtigen Sinnbild für Offenheit und Gerechtigkeit geworden. Heute stellt „Diversität“ eine unabdingbare Komponente von Unternehmensverantwortung dar. Von Unternehmen wird im Allgemeinen erwartet, dass sie ihr Engagement für Diversität, einen entsprechenden Maßnahmenkatalog zur Förderung von Diversität und Belege für Vielfalt in der Zusammensetzung ihrer Belegschaft in ihren Jahresberichten, Materialien für Werbung und zur Personalrekrutierung sowie auf ihren Webseiten dokumen-
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tieren. Entsprechend haben auch Süß und Kleiner (2005, 10) festgestellt, dass „gesellschaftliche Erwartungen“ zu den Hauptgründen gehören, aus denen deutsche Firmen Programme für Diversitätsmanagement auflegen. Diese Erwartung reicht auch weit über die Geschäftswelt hinaus: Ein weites Spektrum von Organisationen – von kommunalen Behörden bis hin zu nationalen Regierungsbehörden, Universitäten, NGOs, Vereinen und Verbänden – sieht sich genötigt, diversitätskonformes Verhalten nachzuweisen. Gibt man bei Google Bilder „Diversität“ als Suchbefehl ein, findet man seitenweise farbenfrohe, optimistisch-beschwingte Bilder, die in Zusammenhang mit solchen Organisationen und öffentlichen Einrichtungen stehen. Tage der Vielfalt, Wochen der Vielfalt, Feste der Vielfalt werden organisiert und Kampagnen zur Förderung der Vielfalt durchgeführt. Botschaften der „Diversität“ finden sich überall: in Brettspielen, Zeichentrickfilmen, Werbeslogans, auf T-Shirts, Postern, Werbeplakaten an Verkehrsknotenpunkten und – am Flughafen von Barcelona gesehen – sogar auf einem Mülleimer mit integrierter Dosenpresse, der mit einem farbenfrohen Aufdruck (in drei Sprachen) die Vorzüge der Diversität mit den folgenden Worten preist: Diversity : a set of visible and non-visible differences, including such factors as sex, age, education, ethnicity, disability, personality, sexual orientation, style of work, and so on. Taking advantage of these differences creates a productive atmosphere where everybody feels valued, and where their talents are fully harnessed to meet the organization’s objectives.
„Diversität“ ist in der heutigen Zeit eine unverzichtbare Anforderung, ein Muss, eine conditio sine qua non für Institutionen aller Art. Aus diesen Gründen und aufgrund dieser Entwicklungen ist „Diversität“ zu einem allgegenwärtigen Phänomen geworden. Zugleich ist sie aber auch banal geworden: alltäglich, klischeebehaftet und vorhersehbar. Diese Entwicklungen gehen mit zunehmender sozialer Diversifikation einher. Was verbindet diese Entwicklungstrends?
5.
Diversifikation
Wir haben bereits oben gesehen, dass demographischer Wandel – wie in Workforce 2000 prognostiziert – einen Anreiz für Maßnahmen und Programme zur Förderung von Diversität darstellt. In vielen Bereichen stehen demographische Beweggründe nach wie vor im Vordergrund: Die Bevölkerung wird immer vielfältiger, und das politische Handeln muss sich dieser Tatsache stellen. So hat die britische Regierung ihr Engagement für die Förderung von Diversität im öffentlichen Sektor mit den folgenden Eckdaten zur Diversität in der briti-
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schen Bevölkerung (NAO 2004, 2) unterfüttert: Jeder fünfte Erwachsene und jedes zwanzigste Kind hat eine Behinderung; der Frauenanteil an der arbeitenden Bevölkerung ist zwischen 1984 und 2003 von 58 auf 70 Prozent gestiegen; jedes zwölfte Individuum gehört einer ethnischen Minderheit an, ein Anteil, der sich gerade in letzter Zeit aufgrund neuer Zuwanderungsbewegungen erhöht hat. Schätzungen gehen ferner davon aus, dass jede fünfzehnte Person homosexuell oder bisexuell ist, jede zwanzigste einer nicht-christlichen Religion angehört und ein Viertel der Bevölkerung im Jahre 2041 älter als 65 sein wird. Das Land wird auf diese Weise als von Vielfalt geprägt und immer vielfältiger werdend wahrgenommen. Daraus folgt, dass politische Maßnahmen für Diversität erforderlich sind. In den letzten 30 Jahren haben sich identitätsbasierte soziale Bewegungen und Auseinandersetzungen in vielen Ländern intensiviert und vervielfacht (Eisenberg/Kymlicka 2011, 1). Dabei wurden signifikante Prozesse politischen Wandels angestoßen. Gleichzeitig haben sich urbane Lebensstile merklich verbreitet (Zukin 1998) und soziale Milieus differenziert, was wiederum zu deutlich ausgeprägten Unterschieden in den Interessens-, Organisations-, Wohn-, Konsum- und Identifikationsstrukturen geführt hat. Zudem haben sich im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte auch neue Muster der Diversifikation im Zuge globaler Migration entwickelt, die Bedingungen einer „Superdiversität“ hervorgebracht haben (Vertovec 2007). Diese neue Konstellation, die sich in zahlreichen Gesellschaften weltweit findet, lässt sich nicht nur darauf zurückführen, dass mehr Menschen migrieren und diese eine größere Variationsbreite in Bezug auf ihren ethnischen, sprachlichen und religiösen Hintergrund aufweisen. Vielmehr ergibt sich Diversifikation auch aus der steigenden Zahl unterschiedlicher Migrationspfade, der Differenzierung der Rechtsstatus der Zugewanderten und den damit jeweils verbundenen Bedingungen, den unterschiedlichen Zusammensetzungen der Migrationsströme nach Geschlecht und Alter und aus Unterschieden in der Humankapitalausstattung der MigrantInnen (Bildung, berufliche Qualifikation und Berufserfahrung). Die verschiedenen Modi der Bevölkerungsdiversifizierung treiben den Diversitätsdiskurs zwar nicht an, aber Diversifikation und „Diversität“ sind verknüpft. Im Bewusstsein, dass es sich bei Diversifikation und dem Aufkommen von „Diversität“ um parallele Prozesse handelt, stellte der ehemalige Leiter des US Census Bureau, Kenneth Prewitt, einige Überlegungen zu den damit verbundenen Herausforderungen für die herkömmlichen Klassifikations- und Zählpraktiken sowie für die traditionelle Politik an (2002/2005). Prewitt (2002, 17) stellt fest, dass Klassifikation im Zuge von Diversifikation und der Entstehung von „Diversität“ zu einem beweglichen Ziel wird. Vor dem Hintergrund der Entstehung neuer Interessengruppen und Kategorien von sozialer Identität beobachtet er : „A classification rooted in diversity policy would be orders of
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magnitude more complex than the minority rights classification, with its attention to people of color, women, and the disabled“ (Prewitt 2002, 18). „Diversität“ hat einen Trend hin zum Ausdruck des eigenen Selbst in Gang gesetzt. Dieser drückt sich in vielen nationalen Volkszählungen darin aus, dass auf einzelne Fragen mehrere Antworten möglich sind bzw. eigene Kategorien zur Selbst-Identifikation hinzugefügt werden können. Prewitt (2002, 17) verweist darauf, dass es bei diesen Kategorien nicht um die Korrektur von Diskriminierung geht, sondern um die Sichtbarmachung sozialer Identität: „If this makes the classification less useful, or perhaps even useless, for race-sensitive policies, that is the price to pay for the right to be recognized for what one is.“ Die Problematik geht sogar noch darüber hinaus: „We might require a measurement system that reflects the dozens if not hundreds of different cultures, language groups, and nationalities represented in the fresh immigration stream“ (Prewitt 2002, 17). Mit Blick auf die letztgenannte Quelle von Diversifikation fügt Prewitt (2005, 13 – 14) hinzu: „new immigrants add a complexity and uncertainty to ethno-racial classification and to the policies that flow from it“. Gerade weil Diversifikation und die Erwartung, durch „Diversität“ neue Gruppen angemessen repräsentieren zu können, Ziele in Bewegung darstellen, sieht Prewitt zwei denkbare Folgen voraus: Entweder müssen Erfassungssysteme (wie Volkszählungen) mit immer feiner differenzierten Klassifikationen arbeiten oder das System kollabiert, womit die Messung von Differenz an ihr Ende kommt. Egal welches dieser beiden Szenarien Wirklichkeit wird, für Prewitt (2005, 14) steht fest: „it is increasingly doubtful that policies aimed at making America more inclusive will center, as they did in the 1970s, on numerical remedies using statistical disparities as evidence of discrimination“. Auch Peter Aspinall (2009/2012) widmet sich dem Thema, welche Änderungen an Fragen und Kategoriensystemen in Volkszählungen vorgenommen werden müssen, um zu einem angemesseneren Umgang mit den vielfältigen Formen von Diversifikation zu gelangen. Er beobachtet, dass das herkömmliche Bemühen um Gleichheit inzwischen mit neuen Kategorien von Diversität (darunter Hautfarbe, Ethnie, Religion, Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Gender und Behinderung) zusammenfließt: This has brought about a new set of demands on government to identify the different communities that comprise the population. How this will change the nature of ethnic/ racial classifications and their role in policy-making, both now and in the future, has not yet become clear but will likely comprise a new set of pressures. These may include demands for measures of multiple disadvantage („intersectionality“ across the six diversity dimensions). (Aspinall 2009, 1418)
Dies scheint die logische Konsequenz der Anerkennung unzähliger sozialer Unterschiede zu sein. Bereits in der Frühphase des Aufkommens von „Diversi-
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tät“ stellte Lynch (1997, 34) fest: „within the diversity machine, theoretical trends are clearly moving away from the simplistic race and gender focus toward more complex formulas“. Diese steigende Komplexität ergibt sich im Kontext des aufkommenden Diversitätsdiskurses nicht nur daraus, dass ein erweitertes Spektrum identitätsbasierter Gruppen und individueller Unterschiede anerkannt wird, sondern auch daraus, dass sich aus dieser Diversität neue Formen mehrfacher und intersektioneller Diskriminierung ergeben können. So betonen Jane Jacobs und Ruth Fincher (1998, 9), wie wichtig es ist, die schiere Vielfalt an Unterschieden, die in einer Person kumulieren können, anzuerkennen: „Social distinctions are constituted in specific contexts through multiple and interpenetrating axes of difference.“ Zusammenfassen lassen sich diese Beobachtungen im Begriff „Intersektionalität“, der bisher eher der feministischen Theorie vorbehalten war, inzwischen jedoch auch von mit Diversität befassten Entscheidungsträgern und in der entsprechenden Gesetzgebung aufgegriffen wird (Baer/Bittner/Göttsche 2010).
6.
Die Transformation der sozialen Vorstellungswelt
„Diversität“ ist in Öffentlichkeit und Politik allgegenwärtig. Diese Allgegenwart verweist auf einen grundlegenden Sensibilisierungsprozess, auf eine graduelle Transformation der sozialen Vorstellungswelt im Sinne von Charles Taylors (2007) „social imaginary“ als einem Ensemble von Annahmen, die Menschen ihrem kollektiven Zusammenleben zugrunde legen. Die soziale Vorstellungswelt umfasst nach Taylor (2007, 23) „the ways that people imagine their social existence, how they fit together with others, how things go on between them and their fellows, the expectations that are normally met, and the deeper normative notions and images that underlie these expectations“. Unter gewöhnlichen Menschen herrscht ein unausgesprochenes Einvernehmen, das die Grundlage für gemeinsame Praktiken und für eine gemeinsame Vorstellung von Legitimität bildet (Taylor 2007, 23). Die soziale Vorstellungswelt beinhaltet eine moralische Ordnung, einen Sinn für die gebotene Form des Zusammenlebens. In diesem Sinne unterstützt sie ein Repertoire von Praktiken. Taylor zeichnet die historische Entwicklung der modernen westlichen Vorstellungswelt nach, insbesondere Entstehung und Aufstieg der grundlegenden Vorstellungen von Gleichheit und vom Individuum. In der Entstehung und Verbreitung solcher Vorstellungen zeigt sich, dass das Neue von Zeit zu Zeit in die soziale Vorstellungswelt eindringt und die Menschen neuen Ideen und Praktiken aussetzt. Taylor untersucht, wie bestimmte Vorstellungen von Theorien oder Diskursen in Expertenkreisen zu einem integralen Bestandteil der kollektiven sozialen Vorstellungswelt werden. Eine neue Idee
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oder Perspektive, die in vielfältiger Weise – auch durch Geschichten und Bilder – getragen und reproduziert wird, verfestigt sich allmählich zu einem gemeinsamen Hintergrundkonsens, definiert „die Konturen der Welt“ eines gegebenen Volkes und gilt mit der Zeit als die als „selbstverständlich erachtete Gestalt der Dinge“ (Taylor 2007, 29). Meiner Meinung nach sollte man „Diversität“ zu den neuen Ideen und Praktiken zählen, die der sozialen Vorstellungswelt, der moralischen Ordnung hinzugefügt wurden. Zu Beginn war sie eine Vorstellung von Gesellschaft in den Köpfen von Fachleuten, die dann weiter ausgearbeitet, vorangetrieben und auf vielfältige Weise kodifiziert wurde bis zu dem Punkt, an dem sie heute zu einem festen Bestandteil unserer alltäglichen Vorstellungswelt geworden ist. Es mag sein, dass „Diversität“ nicht die Grundstrukturen der sozialen Vorstellungswelt insgesamt verändert. Doch möglicherweise verfeinert sie frühere Konzepte von Gerechtigkeit und vom Individuum, die auf der Annahme einer intrinsischen Homogenität von Subjekten basierten. Der Idee von „Diversität“ unterliegt die soziale und moralische Vorstellung, dass sich Differenz in jedem Individuum manifestiert und dass dieser Tatbestand ein integrales Element dessen sein sollte, wie Menschen ihren gesellschaftlichen Umgang miteinander gestalten. Die Ambiguität, Vielstimmigkeit und Banalität von „Diversität“ haben sich keineswegs als Hindernisse für die Transformation der sozialen Vorstellungswelt erwiesen; es ist vielmehr so, dass „Diversität“ die soziale Vorstellungswelt gerade wegen dieser Ambiguität, Vielstimmigkeit und Banalität transformieren konnte. Ambiguität fördert die Breite und Reichweite des Korpus von Diskursen und Maßnahmen. So argumentiert Lees (2003, 621) in ihrer Untersuchung, dass die „interpretative Dehnbarkeit“ des Begriffs einen Teil seiner Anziehungs- und Wirkungskraft ausmacht, durch die „Diversität“ schon fast „Kultstatus“ erreicht hat. Vielstimmigkeit gewährleistet, dass er von einer Vielzahl von unterschiedlichen Interessengruppen aufgegriffen wird: „Janus-like, it promises different things to different people“ (Lees 2003, 622). Banalität unterstreicht die unhinterfragte Selbstverständlichkeit des Begriffs, das zeigt Modan (2008, 216): „discourses of diversity have started to become naturalized and commonsensical“. Die inhärente moralische und ethische Dimension von „Diversität“ offenbart sich in den sozialen Erwartungen, die sich um den Begriff ranken: Organisationen müssen dokumentieren, dass sie sich für „Diversität“ engagieren, da das (heute) offensichtlich zum guten Ton gehört. Neben der Modifizierung der Bedeutungen und der moralischen Merkmale der sozialen Vorstellungswelt hat „Diversität“ möglicherweise auch zur Steigerung der Komplexität des Begriffsrahmens dieser Vorstellungswelt beigetragen. Durch die ständige Wiederholung der Botschaft, dass „Diversität“ eine breite Vielfalt unterschiedlicher Arten von individuellen Unterschieden umfasst, üben die mit Diversität verbundenen Kategorien allmählich einen Einfluss darauf aus,
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wie Menschen andere Menschen wahrnehmen. Man kann mit guten Gründen behaupten, dass es heute in der Wahrnehmung der Menschen ein größeres Bewusstsein für Kategorien wie Ethnizität, Geschlecht, Alter, Sexualität, Behinderung und für andere Dimensionen von Differenz gibt, die bis hin zu Anschauungen und Erfahrungen reichen. Dieser Trend ähnelt dem, was John Urry (2006, 11) eine „komplexe Gefühlsstruktur“ nennt, d. h. die Fähigkeit, in komplexeren Zusammenhängen zu denken: „Such an emergent structure of feeling involves a greater sense of contingent openness to people, corporations and societies“. Die Ausweitung und Reproduktion von Diversitätsdiskursen, -programmen und -maßnahmen könnte dazu führen, dass Menschen in zunehmendem Maße über die Fähigkeit verfügen, Gesellschaft anhand eines weiteren, wenn nicht gar eines komplexeren Spektrums von sozialen Kategorien zu denken. Eine solche Fähigkeit ist besonders zweckmäßig – und notwendig – in einer Zeit wachsender sozialer Diversifikation. Auf diese Weise fungiert „Diversität“ möglicherweise als Geburtshelferin eines Bewusstseins für soziale Komplexität. Diese Entwicklungen entsprechen dem, was Ulrich Beck (2006) als „Kosmopolitisierung“ bezeichnet. Mit diesem Begriff bezieht sich Beck auf Veränderungen, die sich aus einer Reihe von globalen Strömen und der Vernetzung von Menschen, Waren und Bildern ergeben. Beck (2006,10) zufolge zieht die Gegenwart des globalen Anderen mitten unter uns (wie virtuell auch immer) und der dadurch in Gang gesetzte Prozess der Anerkennung von Unterschieden eine stille Revolution des Alltagslebens in Richtung eines „banalen Kosmopolitismus“ nach sich. Mit Blick auf unsere Diskussion unmittelbar relevant ist der Vorschlag von Beck und Grande (2012), dass es sich bei Kosmopolitisierung um eine „Theorie der Diversität“ bzw. „um eine spezifische Form der Interpretation und des Umgangs mit Diversität“ handelt, in dem andere samt ihrer Unterschiede „internalisiert“ werden. Such an „,internalization’ of the other” can be the product of two entirely different processes. On the one hand, it can be the result of an active, deliberate and reflexive opening of individuals, groups and societies to other ideas, preferences, rules and cultural practices; on the other hand, however, it can also be the outcome of passive and unintended processes enforcing the internalization of otherness. (Beck/Grande 2012)
In diesem Sinne sollten Maßnahmen und Programme auf dem Feld der „Diversität“ als deliberative Praktiken verstanden werden, die Komplexitätssteigerung der Vorstellungswelt dagegen als passiver Prozess. Dass „Diversität“ nunmehr eine normative Anforderung, einen erwarteten Tatbestand und eine in Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen unverzichtbare Vorstellung darstellt, ist durchaus keine Kleinigkeit. Dieser Umstand ist nicht „einfach nur oberflächlich“, wie manche meinen, obwohl in manchen Kreisen die Verkündung von „Diversität“ tatsächlich wenig mehr als ein Lip-
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penbekenntnis sein mag. Selbst wenn sie ohne echte Überzeugung vorgetragen wird, hat die wiederholte Botschaft kumulative Wirkungen. Zweifellos gibt es eine verbreitete Unsicherheit hinsichtlich der Frage, was „Diversität“ genau meint. Trotzdem betrachten die meisten Menschen Diversität grundsätzlich als etwas Gutes. „Diversität“ erhöht das Bewusstsein der Menschen für individuelle Differenz und steigende gesellschaftliche Komplexität, ermöglicht ihnen das Begreifen dieser Phänomene, stellt ihnen ein moralisches Fundament dafür zur Verfügung und formt ihre diesbezüglichen Ansichten. „Diversität“ eröffnet mit seiner Ambivalenz und seinen flexiblen Interpretationsmöglichkeiten Spielräume für die Imagination anderer Möglichkeiten von Diversität (Lees 2003, 630). Auf diese Weise hilft uns Diversität zunehmend dabei, „uns eine Vorstellung von uns selbst zu machen“ (Lentin/Titley 2008, 20).
7.
Fazit: Wohin entwickelt sich Diversität?
Gegenwärtig finden zwei Transformationsprozesse zugleich statt: soziale Diversifikation und das Voranschreiten von „Diversität“. In zunehmendem Maße führen die vielfältigen Modi sozialer Differenzierung und Fragmentierung zur Restrukturierung der Gesellschaft. Diese Prozesse sind zugleich ökonomisch, sozial und kulturell. In der Folge nehmen die Menschen sowohl sich selbst als auch andere anhand einer Vielzahl von Kategorien wahr. Gleichzeitig steigt das öffentliche Bewusstsein für Differenz. Unterschiede werden sichtbarer, die Menschen betonen ihre Unterschiede und halten es für angemessen, die Unterschiede anderer anzuerkennen. Der Diversitätsdiskurs wird dabei nicht durch Diversifikation allein angetrieben, aber man kann vermuten, dass dieser Diskurs die möglichen Auswirkungen von Diversifikation abmildert bzw. abfedert. Wohin führen uns diese Trends? Es ist davon auszugehen, dass sich die Prozesse der Diversifikation fortsetzen werden – vielleicht sind sie sogar unausweichlich, wie Gerard Delanty (2006, 35) glaubt. Auch Delanty betrachtet Diversifikation als Stimulus für eine, wie er es nennt, kosmopolitische Vorstellung. Diese beinhaltet die Relativierung der eigenen Identität und die Herausbildung einer ethischen Verpflichtung gegenüber anderen. Mit Blick auf die Faktoren, die diese Vorstellung prägen, lenkt Delanty die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der „Artikulation von kommunikativen Modellen der Weltoffenheit, in denen gesellschaftliche Transformation stattfindet“ (Delanty 2006, 35), auf die Entstehung „diskursiver Räume der Weltoffenheit“ (Delanty 2006, 44) und auf „eine spezifische Art von Lernprozess, der sozialen Wandel ermöglicht“ (Delanty 2012, 352). Sich wandelnde Perspektiven und Diskurse ermöglichen „einen Wandel in der Selbstwahrnehmung von Individuen, Gruppen, Gesellschaften usw.“ und „fortschrittliche Formen des Lernens, durch die soziale
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Akteure die Probleme in der objektiv gegebenen gesellschaftlichen Ordnung zu lösen suchen“ (Delanty 2012, 349). Dies sind diskursive Phänomene, die dem Diversitätsdiskurs und seinen transformativen Wirkungen entsprechen. Man könnte das Bewusstsein für Diversität sogar als einen Bestandteil kosmopolitischer Vorstellung betrachten. Wie Beck (2006) selbst hervorhebt, führen Prozesse der „Kosmopolitisierung“ bzw. der Internalisierung des anderen nicht notwendigerweise zu Kosmopolitismus (der empathischen Öffnung gegenüber anderen). Zweifellos greift Antikosmopolitismus in seinen vielen Erscheinungsformen weiterhin um sich. Auf ähnliche Weise führen auch Diversitätsdiskurse nicht zwangsläufig zu einer größeren Sensibilisierung. Rassismus, Sexismus, Homophobie und Ähnliches mehr werden nicht so bald verschwinden. Der Diskurs kann durchaus auch eine Gegenbewegung provozieren. In konservativen Radiosendungen in den USA sind die Stimmen allgegenwärtig, die sich kritisch gegen die Vorstellung wenden, dass allen Menschen Anerkennung gewährt und eine Behandlung zuteilwerden soll, die ihren individuellen Besonderheiten und Identitäten gerecht wird. Dennoch können Diversitätsdiskurse im privatwirtschaftlichen und öffentlichen Sektor nicht einfach zurückgenommen werden (wie im Falle der positiven Diskriminierung in den USA oder des Multikulturalismus in Großbritannien und anderen Ländern). Dazu ist die Bedeutungsvielfalt von Diversität zu breit geworden und hat sich zu stark zu einem im gesellschaftlichen Mainstream verankerten, anerkannten und erwarteten Ansatz entwickelt. „Diversität“ ist institutionalisiert, internationalisiert und internalisiert worden – sie ist auf die eine oder andere Weise auf Dauer nicht mehr aus der Gesellschaft wegzudenken. Sie muss deswegen jedoch keineswegs weitreichende Auswirkungen haben. Die durch „Diversität“ bewirkte Transformation der sozialen Vorstellungswelt kann auch lediglich, wie es Zygmunt Baumann formuliert (2001, 144), „negative Anerkennung“ zur Folge haben: A ‘let it be’ stance: you have the right to be what you are and are under no obligation to be someone else […]. Negative recognition may well boil down to the tolerance of the otherness – a posture of indifference and detachment rather than the attitude of sympathetic benevolence or willingness to help: let them be, and bear the consequences of what they are.
In manchen Kontexten legen Menschen bereits eine Indifferenz gegenüber vielfältigen Unterschieden an den Tag. Superdiversität gilt in diesem Zusammenhang in zunehmendem Maße als völlig normal (Wessendorf 2011). Doch selbst wenn Diversität keine andere Folge hat als die soziale Vorstellungswelt um die prosaische Perspektive zu bereichern, dass „alle auf unterschiedliche Weise verschieden sind – und das so gut ist“, so ist dies doch eine bemerkenswerte Leistung des Zeitalters der Diversität.
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Integration
Patrick Sänger
The Politeuma in the Hellenistic World (Third to First Century B.C.): A Form of Organisation to Integrate Minorities1
1.
Introduction
The conquests of Alexander the Great in the thirties and twenties of the fourth century B.C. brought a massive expansion of Greek culture. It was no longer restricted to the Greek core regions but found its way into the Persian realm as well. After the death of Alexander in the year 323 B.C., the Near East and Egypt were ruled by Macedonian generals, who founded kingdoms characterised by centralised governments. In these newly constituted realms or empires, which were incorporated into the Roman Empire in the second and first century B.C., we are confronted with a mingling of Greek and west Asian civilisations that led to dynamic processes at many levels. Regarding social matters, there is intense interest in the question of how the Greek or Macedonian ruling minority established their government, interacted with the subject peoples and reacted to the requirements of the new era. One important question which confronted the regimes of the Hellenistic empires concerned the acknowledgment and integration of minority groups with a migrant background. In the case of Egypt, documentary papyri—source material particularly suitable for studies on social or economic history—provide us with clear evidence that after the conquest by Alexander the Great, immigration into the country previously ruled by the Pharaohs (and in the 27th and the last or 31st dynasty by the Persian kings) reached dimensions which had been previously unknown. Alongside the compatriots of the new masters, who belonged to the Greek ethnic group from the Greek homeland, Macedonian or Asia Minor (or alternatively from Greek towns in other regions) came, for instance, Thracians from the east of the Balkan Peninsula, as well as Jewish, Per1 This study was completed in the framework of the APART-fellowship that was kindly awarded to me by the Austrian Academy of Sciences for the writing of my habilitation treatise („Das politeuma: Ursprung, Funktion und Definition einer ptolemäischen Organisationsform zur Integration von Minderheiten“) on February 21, 2013. I would also like to thank Lisl Bailey, James M. S. Cowey, Elena Isayev, and Robert Kugler for their support and critical advice.
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sian, and Arabic immigrants. In Hellenistic or Ptolemaic Egypt—named after the dynasty founded by Ptolemy I Soter, who was a general of Alexander and took over the administration of Egypt after his death—we are therefore confronted with a multi-ethnic society which lends itself to observations about the interaction between the government and the various ethnic groups—be it immigrants or natives—and of course also the relationship between the various parts of the population. To give some figures, we can see from a recently published calculation that in the third century B.C. approximately 5 per cent of the around four million inhabitants of Egypt were Greek, and a little more than half of these migrants, i. e. 2.9 per cent of the total population, were members of Greek military families (Fischer-Bovet 2011). Given the favourable body of source material—the papyri—and the lively immigration into Hellenistic Egypt—the core area of the Ptolemaic Kingdom— it is no coincidence that we find in this place (as well as to a lesser extent in the temporary possessions of the Ptolemies outside of Egypt) a form of organisation which can be seen as a consequence of population movements in the Eastern Mediterranean area. We are dealing here with the politeuma. The word politeuma is frequently used in the Greek language, and has a wide spectrum of meanings. It can, for instance, refer to a ‘political act’ or appear as a term for ‘government’, ‘citizenry’ or ‘state’. As a technical term politeuma can, in the context of a Greek city-state or polis, also refer to the political leading class of citizens as a sovereign body with specific rights. Therefore, in an oligarchic constitution the word refers to a section of the citizenry ; in a democratic one to the entire citizenry. However, the word, as a technical term, is not just restricted to the political organisation of a classical Greek polis, but can also be applied to name a specific and organised group of persons within an urban area.2 In this context we are dealing, apart from one exception (namely a politeuma of soldiers in Alexandria; see below in section 3), with minorities whose ethnic designation is pointing to a migrant background. The members of such a politeuma were concentrated in a certain district of a town, which was initially foreign to them and where they lived as an ethnic community (on this definition Sänger [forthcoming]). To indicate which group of people is being referred to, the word politeuma (t¹ pok¸teula) is followed by an ethnic label in the genitive plural, e. g. t¹ pok¸teula t_m Jqgt_m: ‘the politeuma of the Cretans’. This paper intends to work out the characteristics of the last-mentioned category of politeumata. The questions addressed will be: in which sources and in which geographical regions do we find politeumata (section 2). Furthermore, 2 For the terminology, see the detailed study by Ruppel 1927, who collected all of the (at that time) known literary and documentary evidence; also Biscardi 1984, 1205 – 1215, Zuckerman 1985 – 1988, 174, and Lüderitz 1994, 183.
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it should be pointed out with which groups of persons the politeumata are to be linked and which administrative purposes this form of organisation fulfilled (section 3). Finally, there will be new thoughts with regard to the introduction and institutional evolution of the politeumata (section 4), and, in conclusion, to their political function (section 5). The argumentation brought forward will demonstrate why interpreting the politeumata as an instrument to integrate minority groups is justified. On the whole, the paper aims to point out that a micro-study of the politeumata provides an opportunity to investigate a form of organisation which can be seen as an outcome of migration processes in the Hellenistic period, as well as of related real political consequences. For this case strongly attests how the Ptolemaic government coped with the social challenges of its times and integrated groups of people into the administrative structure of the Ptolemaic Kingdom by means of semi-autonomous communities. As we will see, the beneficiaries of this measure can be traced back to one of the largest migrant groups, highly important for the regime: namely mercenaries (or their descendants) coming from the temporary outer possessions or the sphere of influence of the Ptolemies.
2.
The Sources for and the Location of the politeumata
So far, eight ethnic politeumata have been discovered from Hellenistic times. We find what is probably the oldest of them in the town of Sidon on the coast of present day Lebanon (Macridy 1904, 549 [stele A]; 551 [stele 2]; and 551 – 552 [stele 3]3). Here the immigrants from the towns of Kaunos (in Caria), Termessos Minor near Oinoanda, and Pinara (both in Lycia)—situated in the south of Asia Minor—appeared to each have a politeuma at their disposal at the end of the third century B.C., when Sidon was controlled by the Ptolemies (in section 4 we will return to this controversial case). Apart from the case in Sidon, this form of organisation in Hellenistic times is otherwise only documented in the core area of the Ptolemies. In Egypt, the members of a politeuma were also bound together by bearing the same ethnic label, which indicated that they belonged to a foreign (non-Egyptian) ethnic group. However, these labels were derived from a certain geographical region4—unlike the case of Sidon, where belonging to the cit3 A politeuma is also mentioned in stele 8 (pp. 553 – 554); the name of the city with which these citizens were connected is lost. 4 By far the largest part of the ethnic labels documented in the papyri from the Ptolemaic kingdom must be seen in the context of state categorisation. These ethnic labels can, but do not have to, point to a person’s actual origin. The same refers to ethnic designations, which are an expression of an individual’s self-definition and have an identity-establishing effect: such designations, too, may be based on actual origin or may have no real relationship with it; e. g.
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izenship of a certain polis was decisive. Accordingly, in Egypt are documented a politeuma of Cilicians (named after the region of Cilicia in the south of Asia Minor ; SB IV 7270 = SEG 8, 573 = Bernand 1975, no. 15 = id., 1992b, no. 22), one of Boeotians (named after the region of Boeotia in the east of central Greece; SEG 2, 871 = SB III 6664), one of Cretans (P.Tebt. I 32 = W.Chr. 448), one of Jews (P.Polit.Iud. 1 – 20), and one of Idumaeans (named after the region of Idumaea, south of Judea; OGIS 737 = Milne 1905, 18 – 19, no. 33027 = SB V 8929 = Bernand 1992a, no. 255). We come across all these politeumata in the second or first century B.C.6 As regards their localities we can only state that the Boeotian politeuma was based in the nome (regional) capital Xois, in the north of the Nile delta, the Idumaean one in the nome capital Memphis (south of the Nile delta), and the Jewish one in the nome capital Herakleopolis in Middle Egypt.7 The Cilician and the Cretan politeuma cannot be located exactly, but can at least be linked to the Fayum or the Arsinoite nome (also Middle Egypt). Politeumata also existed while Egypt was ruled by the Romans and after it Thompson 2001, and Legras 2004, 60. In the case of the politeumata, state categorisation might correspond to the members’ self-definition (and to a certain degree probably also to actual origin); Sänger (forthcoming). 5 For the identification of the Idumaean politeuma see Thompson Crawford 1984, and ead. 2012, 93 – 96. 6 The testimony for the Cilician politeuma mentioned above could also be dated to the third century B.C. Bernand 1992b, no. 22, p. 65 summarised the various dating proposals which reach from the third to the first century B.C. and favoured based on Mooren 1975, 173, no. 281 a dating to the first century B.C. 7 Contrary to the previous generally accepted interpretation of P.Polit.Iud. 1 – 20 Ritter (2011) rejected the existence of a Jewish politeuma in Herakleopolis, but his argumentation is not convincing. The starting point is a new interpretation of the phrase to?r %qwousi t¹ kf (5tor) toO 1m Jqajk´our pºkei pokite¼[la]tor t_m Youda¸ym (‘to the archons of the politeuma of the Jews in Herakleopolis, holding office in the 37th year’) documented in P.Polit.Iud. 8, lines 4 – 5 (Herakl., 133 B.C.). According to Ritter (op. cit., 10 – 17) t_m Youda¸ym should not be connected with pokite¼[la]tor but with to?r %qwousi t¹ kf (5tor). However, such a linguistic interpretation seems to be too contrived to appear plausible. Since Ritter sees no pointer to a Jewish politeuma in Herakleopolis, he deprives the related papyri of their general validity for the form of organisation under investigation. As a consequence Ritter (op. cit., 17 – 22) classified all the other known politeumata as private associations. Such an assessment prevailed immediately before the publication of P.Polit.Iud. as a result of an insufficient body of source material (below at note 8). Furthermore, based on the linguistic interpretation of P.Polit.Iud. 8, lines 4 – 5, explained previously, Ritter (op. cit., 23 – 33) considered that the word politeuma in the context of P.Polit.Iud. refers to the ‘citizen body’ of Herakleopolis, and that this nome (regional) capital should be understood as a polis with politai and a politarches as its highest official. On this point, it suffices to cite Ritter (op. cit., 27) himself, who against his own view stated correctly : “Admittedly, we have no other reference to the term politeuma in the sense of a city or civic body of a nome capital.” This discovery is not surprising, because (as remarked above) the word politeuma as a technical term—except for the specific, so-called form of organisation—is related to the (ruling) citizens of a polis and the nome capitals of Hellenistic or Ptolemaic Egypt neither possessed the legal status of a Greek city or polis, nor were they organised as such.
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became a Roman province in the year 30 B.C. At the end of the first century B.C. we come across a politeuma of Phrygians (named after the region of Phrygia in the west of central Asia Minor ; OGIS 658 = SB V 7875 = IGR I 458 = Kayser 1994, no. 74), whose location is unknown, and in the year 120 A.D. we encounter a politeuma of Lycians (named after the region of Lycia in the south of Asia Minor) which existed in Alexandria (SB III 6025 = V 8757 = IGR I 1078 = SEG 2, 848 = Bernand 1992a, no. 61 = Kayser 1994, no. 24). We also know about a further politeuma of Jews at the end of the first century B.C. or the beginning of the first century A.D. and, therefore, under Roman sovereignty (CIG III 5362 = SEG 16, 931 = Lüderitz 1983, no. 70 and CIG III 5361 = Lüderitz 1983, no. 71). This was located in the Greek town of Berenike, founded by Ptolemy III Euergetes I (246 – 221 B.C.) and situated on the coast of the western Kyrenaika (today the eastern part of Libya)—a region which until the beginning of the first century B.C. was under Ptolemaic control. It was probably not only in Herakleopolis and Berenike that the Jewish groups had a politeuma at their disposal. We know this because of an inscription which is probably dated to the first century A.D. and which comes from the surrounding area of Leontopolis in the Heliopolite nome situated in the south of the Nile Delta. In it a deceased Jew is non-specifically addressed in a grave epigram as ‘politarches in two locations’ (diss_m c²q te tºpym pokitaqw_m; SB I 5765 = C.Pap.Jud. III 1530 A = Bernand 1969, no. 16, line 7). We are acquainted with the term politarches from the context of the Jewish politeuma of Herakleopolis, where it identifies the highest official of the politeuma (P.Polit.Iud. 1, line 1; 2, line 1, and 17, line 5). Thus, the inscription appears to bear evidence of a person who, in the function of a politarches, was active in two Jewish politeumata. We do not, however, find out in which settlements these politeumata occurred. A plausible theory would be to link one of them with the military colony in Leontopolis, whose foundation was verifiably granted to the Jewish dignitary Onias at around 160 or 150 B.C. by Ptolemy VI Philometor and his sister and wife Cleopatra II. Onias himself can either be identified as Onias III, the last legitimate Zadokite high priest in Jerusalem, who was deposed in 175/4 B.C, or as his son, Onias IV (Kruse 2010, 94, id. 2008, 167, and Honigman 2003, 65 – 66). We must also mention the so-called letter of Aristeas, which was probably written towards the end of the second century B.C. in the environment of the Hellenised Jewry of Alexandria. This fictitious report, created as an epistolary novel, relates the circumstances of the translation of the Pentateuch into the Greek language. In the final passage, where the presentation of the bible translation, the Septuagint, to Ptolemaios II Philadelphos (285 – 246 B.C.) is described, among those who were responsible for the verification of the translation, ‘the elders from those of the politeuma’ are particularly notable (oR pqesb¼teqoi ja· t_m !p¹ toO pokite¼lator; § 310). The interpretation of the
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wording is disputed and it is therefore not clear whether ‘politeuma’ was used as a technical term and the letter of Aristeas can be regarded without a doubt as proof of a Jewish politeuma in Alexandria. However, its existence would not be unexpected (Honigman 2003, and Kasher 2008). This is so not only because of the background of the evidence from Berenike and Herakleopolis, but also in view of the verifiably strong Jewish community in Alexandria. There, according to the ancient author Strabo, writing in the early Augustan period (i. e., at the beginning of the Roman rule over Egypt) and cited by Falvius Josephus, Jews had their own residential district, which was administrated by an official called ethnarches, whereas Philo, writing in the late Augustan period, mentions the title genarches (Ios. ant. Iud.14, 117 [= Strab. FGrH 2, A 91, F 7] and 19, 283; Phil. Flacc. 74; also Honigman 2003, 69 – 91, and Ameling 2003, 91 – 93). What the nature of the politeuma was, and which political function was allocated to this form of organisation in Hellenistic times—a topic which will be discussed in the next section—have traditionally been controversial issues in research. The controversy was, above all, caused by the disparate state of records, leading to uncertainty as to whether a politeuma was a private association or a publicly recognized group which formed a semi-autonomous community within a settlement.8 The first theory has prevailed, particularly in more recent literature. This is because up to 2001, when the papyri which documented the politeuma of Jews in Herakleopolis were published and pointed towards the second theory, our information about the form of organisation in question was almost exclusively derived from isolated discoveries of inscriptions. These can indicate the places where we find a politeuma, which migrants came together in such a body and, in the best cases, bring individual dignitaries to our attention. Further details, however, concerning internal organisation, the mode of function and the range of tasks, are only provided in a satisfactory way by the newly found papyri. In spite of the new knowledge which these sources enable, and which will be explained later on, nobody has used the papyri as a starting point for a far8 For the interpretation of the politeumata as private associations Zuckerman 1985 – 1988, 177 – 178, 180 and 184, Lüderitz 1994, 202 – 204 as well as Goudriaan 2000, 50 – 52; also note 7 above and note 11 below. That the politeumata should be seen as semi-autonomous communities was the main thrust of Schubart 1910, 63 – 66; also Ruppel 1927, 305, 309, and 454, Thompson Crawford 1984, 1073 (thinking of a community comparable to a polis or city), Launey 1987, 1077 – 1081, as well as Kasher 1985 (summarising on pp. 356 – 357) with a focus on the Jewish population. The last author interpreted the politeuma as a means by which a community could separate itself from its social environment on a local level, and therefore (assuming that larger Jewish communities were normally organised as politeumata) argued for a Jewish separateness. The issue of segregation is doubtless overemphasised by Kasher and strongly relativised by Zuckerman 1985 – 1988. Zuckerman’s argumentation against a Jewish separateness is still valid, although a politeuma (against his own view) turned out to be more than just a private association.
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reaching and thorough historical evaluation of the topic ‘politeuma’. So far, scholars have mainly concentrated on examining their significance for Egyptian Jewry, paying special attention to the question of how Jews managed their communal life.9 The tackling of a systematic study of the phenomenon ‘politeuma’, with the Jewish politeuma in Herakleopolis as a starting point, is therefore long overdue. I will try to fulfil this desideratum in the near future (above note 1).
3.
Social Origin and Administrative Character of the politeuma
A thorough historical analysis of the form of organisation called by the name politeuma is attractive because the issues linked to it touch on the field of immigration and the integration of minorities. A first superficial evaluation of the situation confirms this fact. If we consolidate all the information available up to now about the individual politeumata, known to us before the publication of the Herakleopolite papyri, we can come to several conclusions. First, all the persons who came together in an ethnic politeuma can be connected with regions located in the temporary outer possessions of the Ptolemaic empire (Caria, Lycia, Cilicia, Judea, Idumaea) or at least in its sphere of influence (Boeotia, Crete, Phrygia). (For the controversial case of the Sidonian politeumata see below in section 4.) Second, we may also state that politeumata were established in Greek towns such as Berenike as well as in urban settlements of Egyptian or Phoenician origin. Therefore, the politeumata were flexible units which were not tied to a certain type of town. Third, in order to preserve the specific identity of the respective ethnic group, the members of the politeumata were permitted to exercise their own cult. This can be concluded from the circumstance that the Cilician, Boeotian, and Idumaean politeuma each had its own sanctuary or temple district, and that in the case of the Boeotian and Phrygian politeuma, a priest is documented who presided over the cult followed by each body. Fourth, we can also assume that all the recorded politeumata were related to the army. One reason for this is the historical fact that the Ptolemies, who were actively recruiting soldiers in their outer possessions (or sphere of influence), were highly dependent on mercenaries for the defence of their territory. These troops can be classified as one of the largest migrant groups of the Ptolemaic kingdom. They were settled in garrisons at various, strategically significant points (e. g. urban settlements) and could be divided into ethnic contingents (Griffith 1935, 9 P.Polit.Iud., pp. 3 – 32, Honigman 2002, Maresch/Cowey 2003, Honigman 2003, Kasher 2008, Kruse 2008 and 2010, as well as Thompson 2011, 109 – 113 who treated the politeuma of Jews in Herakleopolis as a case study for the situation of an ethnic minority in Ptolemaic Egypt.
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108 – 141, Van ’t Dack 1977, 91 – 92, and Thompson Crawford 1984, 1069). Another reason is that the testimonies themselves offer clear pointers to support the view presented here. Thus, on the tomb steles which provide the source for the Sidonian politeumata, soldiers bearing weapons are depicted. Furthermore, the texts illuminating the politeumata of Cilicians, Boeotians, Cretans, and Idumaeans indicate that these communities had close links with the military apparatus.10 As a further argument, one can point to an inscription which dates from the year 112/11 or 76/75 B.C. and documents a politeuma of soldiers of unspecified ethnicity stationed in Alexandria (SEG 20, 499). Because its members are not defined by their origins in a foreign geographical region, but by their profession, this politeuma, just like the Sidonian politeumata (whose members where defined by being citizens of a certain polis), has to be classed as an isolated case. Apart from this, it supports the theory that the origin of the communities named politeuma—also of those which continued to exist under Roman rule—might be found in mercenaries (and their civilian staff), who were, ordinarily, linked by a common ethnic background, settling at their place of deployment (Thompson 2011, 109 – 110 and 112 – 113). The evolution of such kinds of communities is perfectly described by Dorothy Thompson (2011, 112 – 113) who stated: “Local ethnic communities in the Ptolemaic period often derived in origin from military groups; in their developed form they were total communities, consisting of far more that just the military.” In the context of Ptolemaic Egypt, it is hardly to be doubted that this kind of internal composition can be assigned to most of the ethnic groups constituted as politeumata. At this point we can therefore already emphasise that a politeuma was not a facility for needy and poor refugees, but functioned as a form of organisation for (ethnic) groups, including persons who served the king. Therefore, these communities were of some importance for the kingdom and held an elevated status in its social framework. Apart from this initial evaluation, it has not been possible for a long time to answer the above-mentioned, decisive question for the constitutional categorisation of the politeumata. However, once the papyri from Herakleopolis had come to our attention we were able to consider the lengthy debate as to the character of the politeumata as concluded. For what the twenty papyri texts, 10 In the case of the Cilician politeuma, we encounter a high-ranking military officer acting as a benefactor of the community concerned. In the case of the Idumaean politeuma, a strategos (the highest nome official), who simultaneously held the position of a priest of machairophoroi (a troop of professional soldiers), was honoured by the Idumaeans. The Boeotian politeuma obviously consisted of a group of soldiers and a group of civilians (Zuckerman 1985 – 1988, 175, and Thompson 2011, 110). Regarding the Cretan politeuma, it is documented that the community elected two representatives who were involved in the administrative processing of the promotion of a soldier who was a member of the politeuma.
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dated between 144/3 and 133/2 B.C., clearly prove, is the fact that the Jewish community in question, with its politeuma, possessed a certain autonomous or self-governing character.11 We glean this fact from the sphere of authority of the archons (and the presiding politarches) who governed the Jewish politeuma. As regards the range of their activities, the documents only allow us insight into judicial matters. It is documented that the archons were approached by means of petitions in order to secure the demands of the petitioners, ordinarily in private legal disputes between Jews, but sometimes, as will be shown, also between Jews and non-Jews. The petitioners appear always to belong to the group of the Jews. For all intents and purposes, one can call this process a kind of special jurisdiction (P.Polit.Iud., pp. 11 – 13, Kruse 2008, 171 – 172, and id. 2010, 98). What the petitioners expected of the archons was not a judicial verdict or finding (rendered by a Greek court like the dikasterion or the court of the chrematistai) but an implementation of the legal claims they made by means of the authority that the archons possessed by virtue of their official function. Therefore, the procedure followed the same patterns as the justice of Ptolemaic officials (P.Polit.Iud., pp. 13 – 15, Kruse 2008, 170 – 171, and id. 2010, 98). This means that the archons of the Jewish politeuma seemed to act (at least in judicial matters) like state functionaries (Kruse 2010, 97). The authority of the archons does not seem to have been limited to just the members of the Jewish politeuma, who apparently called themselves politai (pok?tai), therefore ‘citizens’.12 This is at least indicated by three petitions directed against persons, who obviously did not belong to the group of the Jews, as these respondents were designated as ‘from those of the harbour’ (P.Polit.Iud. 1, 10, and 11). The harbour district, located on the Bahr Yusuf, the western branch of the Nile, was 1.5 to 2 km removed and probably administratively separate from the town of Herakleopolis. Given the petitions just mentioned, it is reasonable to conclude that the Jewish functionaries were present in the harbour district and, furthermore, were able and authorised to take action against the accused persons. Consequently, the archons of the Jewish politeuma seem to 11 Kruse 2008, 168 – 169 and id. 2010, 95 and 97. Ameling 2003, 86 – 100, hardly considering the case of the Jewish politeuma in Herakleopolis, furthermore adhered to the comparison with a common (cult) association. However, his statement that it is not impossible, “daß sich der Staat der jüdischen Beamten bediente und ihnen in einem bestimmten, wohl geographisch umgrenzten Gebiet Autorität verlieh” (op. cit., 97 – 98), could be understood as a paraphrase for a kind of ‘selbständige Rechtskörperschaft’, from which Ameling (op. cit., 94 – 95) also wanted to differentiate the form of organisation politeuma in Ptolemaic times. For the argumentation of Ritter, 2011, who also continued to interpret the politeumata as private associations, see note 7 above. 12 This can be inferred from P.Polit.Iud. 1, line 18 (135 B.C.), where a member of the Jewish politeuma distinguishes between politai, members of the politeuma, and allophyloi (!kkºvukoi), foreigners or non-members.
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have had a general peacekeeping power in the harbour district of Herakleopolis. This probably indicates that it was in this district that the Jews belonging to the politeuma were concentrated (P.Polit.Iud., p. 12, Kruse 2008, 172, and id. 2010, 99 – 100). A further argument for this localisation of the Jewish politeuma could be that, around the middle of the second century B.C., a fort was built in the harbour of Herakleopolis, as shown by several papyri (P.Polit.Iud., p. 12, and recently detailed by Kruse 2011). That would fit with the abovementioned theory that the origins of the politeumata lay in the settlement of mercenaries divided into ethnic contingents. Thus, a substantial part of the membership of the Jewish politeuma of Herakleopolis could have consisted of Jewish soldiers residing near their operational site. In addition, it has to be stated that the importance of the Jewish politeuma was seemingly not only restricted to Herakleopolis or its harbour district. For the papyri attest that Jews and Jewish communities outside of Herakleopolis also seem to have made contact with the archons, or seem to have had links to them—an unmistakable sign of the wide sphere of influence of the Jewish politeuma of Herakleopolis. There is no reason to attribute a singular character to the nature of a politeuma, as gleaned from the documents of the Jewish community in Herakleopolis, for in the administration of the Ptolemaic empire, Jews in general were among the Hellenes or Greeks who were granted a slight tax relief (Modrzejewski 1983, 265 – 266, Thompson 2001, 307 – 310, and Clarysse/Thompson 2006, 138 – 148). The term ‘Hellen’, was mostly intended to denote an ‘immigrant’ or a ‘foreign settler’ who was to be distinguished from someone assigned to the population category Aigyptos, ‘Egyptian’ (Bagnall 1997, 3). Thus, Boeotians, Cilicians, Cretans, Lycians, Phrygians or Idumaeans, were also classified as Hellenes. Therefore, viewed constitutionally and socio-politically, Jews did not form a separate class of population. When compared with the aforementioned ethnic groups, which also had a politeuma at their disposal, Jews in this context do not hold a special position. Consequently, the model of the Jewish politeuma in Herakleoplis might not be classified as an exceptional case. Rather, we can consider—as a working hypothesis—that all the politeumata listed above held the same rights or the same semi-autonomous position in the state structure. The assessment becomes even more persuasive in the context of the Ptolemaic Kingdom which was structured in a strongly hierarchical fashion as far as administration was concerned. The centralised construction of the state leaves hardly any doubt that the politeumata had to be approved by the government or the king respectively (Kruse 2008, 172, and id. 2010, 98).
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4.
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Considerations on the Introduction and the Institutional Evolution of the politeumata
It does, however, appear that the political instrument ‘politeuma’ was not applied in all Hellenistic states. Although this issue has not been explicitly addressed in research, it seems that the form of organisation politeuma was a creation of the Ptolemies and only employed in their empire. A thorough study of the Sidonian politeumata leads us to this conclusion. Contrary to the situation of the other politeumata known to us so far, which were certainly part of the Ptolemaic kingdom, it has not been certain until now whether this is also true for the Sidonian politeumata, for on the grounds of the uncertain dates of the inscriptions bearing witness to them, it was considered possible to attribute them to the Seleucids (Hellenistic dynasty ruling over the core area of the former Achaemenid Persian empire). However, this theory is unlikely. The argument lies partly in the fact that Sidon was of immense importance for the Ptolemies as it was their main power base in Phoenicia, withstood a siege by the Seleucids in the fourth Syrian war (219 – 217 B.C.) and passed into their possession during the fifth Syrian war (202 – 198 B.C.); more precisely in the spring/summer of 199 B.C. (Polyb. 5, 69 – 70, Honigmann 1923, 2224, as well as Hölbl 1994, 113 and 121). An even stronger argument provides the origin of the members of the Sidonian politeumata. The named towns Kaunos, Pinara, and Termessos Minor were all situated in territories which were under Ptolemaic control up to the fifth Syrian war, whereas this correlation would not occur in relation to the Seleucids. For Kaunos was definitely not lost to the Seleucids in the course of the conquest of the Ptolemaic possessions in Asia Minor by Antiochos III in the year 197 B.C. On the contrary, the Carian town (like other Carian towns) came under the control of Rhodos, for this insular state purchased Kaunos from the Ptolemies in order to protect it against Antiochos III (Wiemer 2002, 227 and 236 – 238). It is hardly conceivable that in spite of this political constellation, and even though there continued to exist no relations to the Seleucids, soldiers from Kaunos would have placed themselves in their service (or would have been given the chance to do so). From the facts just presented, we can gain more information than merely the well-proven theory that (corresponding to the scarcely explained assessment of Huß 2011, 288) the Sidonian politeumata can be linked to the Ptolemies, and the resulting statement that the form of organisation under examination appears to have existed only within the territory of the Ptolemaic empire. For in addition, we also receive a quite secure terminus ante quem for the introduction of the politeumata. Surprisingly, this not at all unimportant question still remains unanswered, and for the time being without concrete explanations. Sylvie
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Honigman (2003, 67) wrote on this topic in a relevant paper “that politeumata do not seem to have existed before Ptolemy VI Philometor’s reign (180 – 145 BCE). So far, there is no evidence for politeumata before this reign”. This statement needs reconsideration in light of the historical contextualisation of the Sidonian politeumata, for the facts indicate, contrary to Honigman, that we should already be looking for the creation of the politeumata not in the second, but in the third century B.C. A line of questioning which has also not been addressed so far and which should be followed would be whether communities which formed a politeuma had organised themselves in some form previously. Even if this idea is not certain, it should at least be considered given the fact that private associations, well known from the Ptolemaic kingdom (San Nicolý 1972, a/b) and termed koinon (joimºm; ‘having in common’) or synodos (s}modor; ‘assembly’), and politeumata—which have, as stated above, frequently been included amongst the private associations by researchers—share common features. Thus, Reqe?r or priests do not only appear in the context of politeumata, but rather also belonged to the most important institutions within the framework of associations. Furthermore, we find the offices of a pqost²tgr, a provost, and of a cqallate¼r, a scribe, which are documented in the case of the politeuma of soldiers stationed in Alexandria, amongst the terms known to us for functionaries of associations (on these San Nicolý 1972, b, 53 – 96). The council of archons, which presided over the Jewish politeumata, is also known to us from the private synagogue associations (Stökl Ben Ezra 2009, 291, and Hengel 1988, 446). Thus, it is feasible that the politeumata recorded might have evolved from private compatriot associations whose members lived in a specific part of a town (e. g. near a garrison). In order to emphasise the significance of the particular body of persons the communities were elevated to the status of a politeuma. The organisational structure was left unchanged. However, it was now awarded a public and institutional character which probably applied to the jurisdiction of the former associations as well (on the jurisdiction of associations San Nicolý 1927). The transformation from an association to a politeuma might even be proven practically in one case: in the eighties of the second century B.C. an inscription from Alexandria refers to a koinon of Lycians (joim¹m t_m Kuj¸ym; OGIS 99 = SB V 8274, line 4); roughly 250 years later—in Roman times—, we as has already been mentioned above, a politeuma of Lycians is attested in the same town.
5.
Conclusion: The Political Function of the politeumata
The preceding brief investigation of the sources for the Jewish politeuma of Herakleopolis, the general guidelines on the character of the form of organ-
The Politeuma in the Hellenistic World (Third to First Century B.C.)
63
isation which resulted from this evidence and the overlapping analysis of all further information available certainly does not answer all the questions related to the Ptolemaic politeumata. Nevertheless, it should have become clear that dealing with politeumata on the historical basis offered reveals the possibility of observing, with the help of this concrete example, how an antique state reacted to migration on an institutional and administrative level. The following and concluding considerations will reveal the political function of the politeumata by interpreting them as an integration measure, and try to understand the reasons the Ptolemies might have had for the introduction of this form of organisation. As we will see, the focus will be on political integration, because it is in this sphere that our sources provide the best insights. To what extent the politeumata produced integrative effects on a social level is more difficult to judge and needs further investigation. Nevertheless, regarding this, two aspects merit consideration. Locally, on the one hand, a politeuma certainly had an integrative effect on its members and on those who simply participated in the activities of the community or identified with its principles—probably predominantly people bearing the same ethnic label as that which specified the politeuma and its members. On the other hand, the privileged status of a politeuma could have promoted a delimitation of its members and participants from their immediate social surroundings, namely from those belonging to the majority (Egyptian) society. So, on a social level, we probably have to consider integrative and separating aspects of the form of organisation politeuma13. But let us now return to the question of the political function of the politeumata. To begin with, we may note that the Ptolemies, by elevating a minority group named after an ethnic label into a politeuma, officially recognised its religious and legal individuality. This involved sanctioning the authority and duties of the leading functionaries of the community. Unlike private associations, a community constituted as politeuma can be considered as an institutionalised part of the kingdom’s administrative structure which—similar to a polis—carried responsibility for itself. Because of this status, it was possibly much easier for the members to make (as a collective) direct contact with the government. On the other hand, the described process of political integration had implications for the district of the town in which the members of the politeuma were concentrated. For constituting a community as politeuma probably had the result that the settlement area, in which the members of the respective minority group probably formed the dominant section of the population, officially became ‘their’ district (a further decisive distinctive feature compared to private associations). In this district, the functionaries of the politeuma had a 13 The last mentioned aspect was undoubtedly overestimated by Kasher 1985; it was qualified and weakened by Zuckerman 1985 – 1988 (note 8).
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Patrick Sänger
general peacekeeping power and exercised their competences, and it was in this quarter of town that the members, in addition to their status as ‘migrants’ or Hellenes, could appear as native ‘citizens’. After revealing the profile of the political model politeuma, the benefit the government expected from this form of organisation becomes obvious. For the establishment of a politeuma probably represented an attempt on the part of the Ptolemies to strengthen the relationship of an ethnic group with its hometown, and ensure that the Ptolemaic kingdom remained an attractive country of residence. The intention of the Ptolemies was clearly to increase the certainty that they would be able to continue to rely on the services of the relevant group of people (or parts of it)— according to their origin probably mainly in a military context. Therefore, by means of the communities constituted as politeumata, the Ptolemies were setting a striking signal in their settlement policy. For the form of organisation politeuma appear to be a unique, well thought-out political tool to carry out, at a religious, legal, and administrative level, a systematic policy of system integration which—even though it was restricted to elevated parts of the population categorised as Hellenes—was still of benefit for both sides: to the government and to the minority14.
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Katja Pessl und Lena Springer
MigrantInnen aus China im Wiener Hochschul- und Gesundheitswesen: Dynamische Zwischenzonen und Einzelinitiativen
1.
Einführung
Seit den 1990er-Jahren sind MigrantInnen aus China verstärkt im Hochschulund Gesundheitswesen in Wien präsent. Diese zunehmende Präsenz vollzieht sich gegenwärtig nicht durch gezielte migrations-, bildungs- und gesundheitspolitische Maßnahmen. Einzelinitiativen prägen Gelegenheitsstrukturen, die berufliche und universitäre Austauschprozesse ermöglichen.1 Wie unsere Studie zeigt, sind es nicht bloß prekär positionierte MigrantInnen, die sich in österreichischen, transnationalen und lokalen Kontexten wandeln und etablieren, sondern hoch Qualifizierte und Personen mit viel Fachwissen aus China auf der einen Seite sowie hierorts Zuständige in Schlüsselpositionen in Weiterqualifikationsmechanismen und Berufsfeldern (Biffl 2000) auf der anderen Seite. Transnationale Räume (Pries 2008) konstituieren sich dabei entlang fachlicher statt entlang ethno-migrantischer Grenzziehungen („boundary work“, Samers 2011). Im Folgenden werfen wir einen Blick auf Migration und Integration aus einer ungewöhnlichen Perspektive. In Institutionen des Bildungs- und Gesundheitswesens sind MigrantInnen und Fachwissen aus China Teil einer Dynamik, die in interaktiven Austausch- und Etablierungsprozessen die Art und Weise verändert, wie hier studiert, geforscht und Krankheit oder Unwohlsein behandelt wird. Damit unterscheidet sich unser Blickwinkel vom nicht weniger wichtigen Interpretieren migrantischer Probleme und vom Betonen der Schwäche „zugereister“ Minderheiten unter der Last nationalstaatlicher Machtstrukturen (zum „Moralisieren“ der Andersartigkeit von Minderheiten: Gingrich 2001).
1 Dieser Artikel beruht auf Ergebnissen aus einem vom Jubiläumsfonds der Stadt Wien für die Akademie der Wissenschaften (ÖAW) geförderten Projekt zum Thema „Soziale Mobilität von Migranten aus China: Bildungskarrieren und informelle Beschäftigungsverhältnisse“ am Institut für Ostasienwissenschaften/Sinologie der Universität Wien.
70 1.1
Katja Pessl und Lena Springer
Perspektivenwechsel: Kulturwissenschaftlich-prozesssoziologischer Forschungsansatz
Mit Fragen der Weiterqualifikation von MigrantInnen (und Hindernissen dabei) haben sich in Österreich insbesondere Andreas Gebesmair (2008/2009), Barbara Stadler und Beatrix Wiedenhofer-Galik (2009, 2011) und August Gächter (2007) beschäftigt. Darunter verstehen wir die Strategien und Möglichkeiten, nach der Immigration in Österreich Anerkennung der Qualifikation zu erreichen und ergänzende oder neue hinzuzugewinnen. Es handelt sich hierbei sicherlich um eine zentrale Frage der sozialen Mobilität; dafür sind strukturelle Rahmenbedingungen ausschlaggebend sowie auch die informelle Rolle von Schlüsselpersonen, die Einzelinitiativen anstoßen können. China-ExpertInnen kommen dabei aktiv gestaltend ins Spiel (scale makers: Glick Schiller/Caglar 2009/2011); ob sie ethnisch-chinesische ExpertInnen sind, ist hingegen zweitrangig: umso mehr, je stärker sie etabliert sind (zur Begrenztheit ethnischer Politik im österreichischen Minderheitenrecht siehe Baumgartner/Perchinig 1995, Kraler 2011). Ungewöhnlich ist unser Beitrag als Sinologinnen zur Migrationsforschung insofern, als wir nicht rekonstruieren, wie sich „outcasts“ und Neuankömmlinge mit ihrer marginalisierten Stellung in der städtischen Gesellschaft arrangieren (hierzu eine klassische Studie: Suttles 1976). Wir schauen vielmehr darauf, wie Neuankömmlinge (und zunächst scheinbare Außenseiter) sich Schritt für Schritt in Wien etablieren: ein Prozess, der auch ihr persönliches sowie fachliches Umfeld einschließt. Die vorliegende Studie ist mit Ansätzen der Migrationsforschung verwandt, die an Forschungsansätze von Norbert Elias anknüpfen oder seine Theorie diskutieren (Burtscher 2009, Korte 1984, Novotny/Taschwer 1993, Waldhoff/Tan/Kürsat-Ahlers 1997, Wimmer 2003, Bauböck 1993, Treibel 1993). Sie unterscheidet sich jedoch von Studien über problematische Phänomene der „negativen Klassifikationen“ von z. B. türkischen Aufsteigern in Deutschland (Neckel/Sutterlüty 2005, Sutterlüty 2006). Simon Burtschers (2009/ 2011) Forschung in Vorarlberg mit dem von ihm im Deutschen geprägten Begriff der „Etablierungsprozesse“ ist für uns vorbildlich: Anders als die angewandte Forschung wie seine dokumentieren wir grundlegend, können aber keine Impulse zur Anwendung der Ergebnisse in der professionellen Beratung von dezidiert MigrantInnen geben. Bei den von uns sehr ähnlich wie von Burtscher beobachteten Etablierungsprozessen sind gerade das Loslösen von migrantischen Schienen und das Eintreten in transethnische und fachspezifische Interaktionsfelder ausschlaggebend. Unsere Studie war zunächst auf das Untersuchen der außergewöhnlichen Situation und komplexen Mehrfachidentitäten von chinesischen MigrantInnen ausgerichtet. Es zeigte sich jedoch, dass die scheinbaren Außenseiter erst in
MigrantInnen aus China im Wiener Hochschul- und Gesundheitswesen
71
ihrem dynamischen Wechselverhältnis mit Etablierten untersucht werden können und dass sie sich dadurch von tatsächlichen Außenseitern unterscheiden. Sie bilden einen dynamischen Zwischenbereich, von dem wichtige Einzelinitiativen und Gelegenheitsstrukturen für soziale Mobilität ausgehen. Um diese Einzelinitiativen und Etablierungsprozesse verstehen und benennen zu können, haben wir uns an Norbert Elias orientiert und dessen 3-Zonen-Modell der Dynamik („Figurationen“) unter Etablierten (Alteingesessenen) und Außenseitern (Zugezogenen) aufgegriffen. Anstatt Chinesen und Österreicher kategorisch voneinander zu trennen und als zwei einander gegenüberstehende Gruppen, als eine Insider-Outsider/Inklusions-Exklusions-Dichotomie zu betrachten, möchten wir den Elias’schen Zugang aufgreifen, um eine Zwischenzone sichtbar zu machen, in der Etablierungsprozesse anhand sozialer Praxis verlaufen und nicht im Sinne nationaler, ethnischer oder kultureller Kategorien.
1.2
Methodische Vorgehensweise: Ethnographische Daten und erstmals erhobenes Material zur Dokumentation von fachlichen (statt dezidiert migrantischen) Etablierungsprozessen
Was selbst eine noch so vollkommene Dokumentation sozio-ökonomischer Daten nicht erfassen könnte (Elias/Scotson 1965, 5 ff.), erschließt sich durch Feldforschung (translokale Berufswelten, Hannerz 2003, Strasser 2009) sowie Diskurs- und Textanalyse (Krzyz˙anowski/Wodak 2009). Was in der Methodologie narrativ-biographischer Interviews (Lucius-Hoene/Deppermann 2002, Rosenthal 2005) als zwei Seiten derselben Identifikations- und KlassifikationsMünze benannt wird (persönliche und soziale Identität, erhoben durch das dokumentierte Erzählen von Lebensgeschichten), dem ging Elias durch das Kombinieren dreier in der damaligen Forschungslandschaft getrennter Zugänge nach. Elias’ „configurational analysis“ umfasst die Analyse individueller Sprache, empirisch teilnehmende Beobachtung sowie die Einbeziehung des historischen Hintergrunds und des kulturellen Kontexts. Mit unserem kulturwissenschaftlichen Ansatz lässt sich Elias’ prozesssoziologischer Impuls aufnehmen und weiterdenken. Als Sinologinnen und Chinaanthropologinnen schließen wir wissenschaftliche Publikationen und Einblicke in kulturhistorische Entwicklungen an chinesischen Universitäten und der Forschungslandschaft ein (siehe auch Watson 1977). So wie Elias den welthistorischen Hintergrund der Industrialisierung und Migrationsbewegungen mitdachte und als Kontext der lokalen Erhebungen von 1959/60 identifizierte, haben wir uns mit Chinas Universitäten und der Geschichte des Gesundheitswesens vertraut gemacht, um vor Ort in Wien Verbindungen und Bezüge dazu zu interpretieren.
72
Katja Pessl und Lena Springer
Etablierungsprozesse und Einzelinitiativen wurden als Basis dieser Studie anhand von narrativen und dezidiert narrativ-biographischen Interviews rekonstruiert (Flick 2011, Rosenthal 2005). Statt einzelne Anekdoten oder Teilepisoden zu erheben, war es für das Nachvollziehen von Etablierungsprozessen notwendig, sie im Verlauf und über – häufig sogar in der Forschung unterstellte – ethnische Enklaven hinaus empirisch zu erfassen. Neben diesen Primärquellen wurden meist erstmals demographische Statistiken und Migrationsströme von Studierenden aus der Volksrepublik China an verschiedenen Universitäten erhoben. Diese Daten wurden eigens aus den an sich umfassenden Datensätzen über Personen in Österreich zusammengestellt. MigrantInnen wurden hierbei nicht a priori als sozial und nationspolitisch von einer Mehrheitsgesellschaft getrennt verstanden, sondern im Verhältnis zu und im Vergleich mit den in ihrem Umfeld arbeitenden KollegInnen und Privatpersonen sowie den sie verwaltenden und betreuenden Verantwortlichen beforscht.
2.
Dokumentation von interaktiven Etablierungsprozessen und Zwischenzonen
Im folgenden Abschnitt analysieren wir interaktive Etablierungsprozesse in den Bereichen Bildungs- und Gesundheitswesen und dokumentieren Dynamiken sozialer Mobilität, die von Einzelinitiativen geprägt sind. Chinesische MigrantInnen gehören zwar zum globalen Phänomen der AuslandschinesInnen und ihrer multilokalen Geschichte (Kuhn 2009). Europa unterscheidet sich jedoch von anderen Weltregionen (Benton/Pieke 1998, Weigelin-Schwiedrzik/Rottenberger-Kwok 2004). Historisch hat Wien keine Chinatowns oder postkolonialen Beziehungen zu China, vielmehr ähneln Migrationsströme eher dem Phänomenen der „neuen“ MigrantInnen aus China, die zumindest der Ideologie und mitunter auch ihrem Selbstverständnis nach einst mit höheren Qualifikationen nach China zurückkehren wollen (Kwok/Parzer 2008, Thunø 2007). Entsprechend hat die Anzahl der MigrantInnen aus China seit den 2000er-Jahren stark zugenommen, sodass sie unter den außereuropäischen MigrantInnen eine der größten Gruppen in Österreich bilden (Statistik Austria 2013).
MigrantInnen aus China im Wiener Hochschul- und Gesundheitswesen
73
Tab. 1: Bevölkerung mit Staatsangehörigkeit China in Österreich und Wien 2002 – 2012 (Quelle: Eigene Darstellung, Daten entnommen aus: Statistik Austria , Bevölkerung nach detaillierter Staatsangehörigkeit und Bundesland, 2002 – 2012. http://www.statistik.at/ web_de/statistiken/bevoelkerung/bevoelkerungsstruktur/bevoelkerung_nach_staats angehoerigkeit_geburtsland/index.html)
3.
Neue Bildungsmigration und transnationale Einzelinitiativen
Österreich verzeichnete ab Beginn der 2000er-Jahre eine starke Zunahme von Studierenden aus der Volksrepublik China. Seit etwa 2006 hat dieser Anstieg deutlich nachgelassen, und im Jahr 2010 waren insgesamt 1200 Studenten aus China in Österreich eingeschrieben, davon 71 Prozent (852 Studierende) an Wiener Hochschulen. Musische Fächer und Wirtschaftswissenschaften sind besonders gefragt. 377 Studierende sind für musische Fächer eingeschrieben (Vienna Conservatory, Prayner Konservatorium sowie Universität für Musik und darstellende Kunst), wirtschaftswissenschaftliche Fächer werden von 206 Studierenden belegt. Ganze 127 Studenten waren im Jahr 2010 für das Fach Sinologie eingeschrieben.
74
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Tab. 2: Studierende mit chinesischer Staatsangehörigkeit an Wiener Universitäten 1995 – 2010 (Quelle: Eigene Darstellung, Daten entnommen aus: Datenmeldungen der Universitäten auf Basis UniStEV zum jeweiligen Stichtag Datenprüfung und -aufbereitung: bm.wf, Abt. I/9)
Neben dem starkem Ausbau und der Internationalisierung des tertiären Bildungssektors in der Volksrepublik China seit Ende der 1990er-Jahre (Altbach 2009, Zha 2008, Brandengburg/Zhu 2007) sind es auch bildungspolitische Veränderungen im Nachbarland Deutschland sowie die Herausbildung transnational agierender Mittleragenturen und persönlicher Netzwerke, die zur wachsenden Zahl chinesischer StudentInnen in Wien beigetragen haben (zur Migration chinesischer StudentInnen nach Europa vgl. Shen 2008). Trotz des gezielten Ausbaus von Universitäten und der vermehrten Neugründung von privaten Einrichtungen reichten die Kapazitäten der chinesischen Universitäten nicht aus, um genügend Studienplätze anzubieten. Der Selektionsmechanismus der nationalen Aufnahmeprüfung führte zusätzlich dazu, dass viele Schulabsolventen nicht an den gewünschten Institutionen studieren konnten, kleineren Universitäten in der Provinz zugeteilt wurden, auf private Hochschulen ausweichen mussten oder ein Studium im Ausland in Betracht zogen, um ihren Hochschulabschluss zu erhalten (Geist/Deng 2007). Deutschland, wo Studierende aus China heute die größte Gruppe unter den internationalen Studierenden bilden, verzeichnete bereits seit Ende der 1990erJahre einen steten Zuwachs von chinesischen StudentInnen (DAAD 2012). 2001
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wurde aus diesem Grund in Peking eine kostenpflichtige Überprüfung von Bewerbungsunterlagen (APS – Akademische Prüfstelle) eingeführt. Dies bewog einen Teil der StudienwerberInnen aus China dazu, sich für die naheliegende Möglichkeit zu entscheiden, in Österreich zu studieren. Österreich hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine Überprüfung durch die APS eingeführt; dies geschah erst im Jahr 2005. Zur gleichen Zeit entstanden aufgrund des in China stark wachsenden Interesses und Markts für Studienmöglichkeiten im Ausland zahlreiche transnational agierende Agenturen und Netzwerke, die Visa und Studienplätze vermittelten. Solche Einzelinitiativen prägten nicht zuletzt auch die chinesischeösterreichische Bildungsmigration nach Wien. In jüngeren fachlichen Diskussionen über Migration aus China werden für diese Agenturen die Begriffe „middlemen“, „intermediaries“, und „brokers“ etwa im internationalen Bildungsmarkt verwendet; sie werden in ihrer Rolle als Dienstleistungsanbieter für die Abwicklung von Migration diskutiert (siehe etwa Lindquist/Xiang/Yeoh 2012). Um die spezifischen Prozesse der Zuwanderung von Bildungsmigranten aus China nach Wien und Gelegenheitsstrukturen vor Ort besser erfassen zu können, ist es sinnvoll, Österreich und Wien innerhalb der internationalen Bildungsmigration aus China zu verorten. Aus der Feldstudie ging hervor, dass Wien und Österreich für qualifizierte StudentInnen aus China nicht die erste Wahl sind.2 Der Bildungsstandort Wien wird nicht unbedingt direkt angesteuert, sondern bleibt als passables Ziel aus einer langen Liste übrig bzw. wird durch Mittelmänner (“intermediaries“) vermittelt. Insbesondere für die Studienplätze an den privaten Konservatorien (Prayner, Schubert, Vienna) waren es Schlüsselpersonen und ihre spezifischen Netzwerke, von denen die Initiative ausging.3 Einerseits gingen sie aktiv auf Bildungseinrichtungen (Prayner Konservatorium und Vienna Conservatory) zu, um Kooperationen in der Studienplatzvermittlung aufzubauen, andererseits (Universität Wien, Wirtschaftsuniversität Wien) stellten sie das notwendige organisatorische Know-how für das Studium im Ausland zur Verfügung. Sie prägten die chinesisch-österreichische Bildungsmigration zu Beginn der 2000er und auch das Bild der Wiener Einrichtungen in China durch ihre Veranstaltungen, Werbemaßnahmen und Informationsseiten. Darüber hinaus waren es diese inter2 Bevorzugtes Zielland chinesischer Studierender sind die USA (21,6 %), gefolgt von Japan (15,3 %) und Australien (11,3 %). In Europa ist das beliebteste Zielland Großbritannien (8,9 %) gefolgt von Deutschland, wo insgesamt 5 Prozent aller chinesischen Auslandsstudenten eingeschrieben sind. (OECD 2010, 378, 379) 3 Etwa 1000 StudentInnen sind zu Beginn der 2000er-Jahre auf diesem Weg nach Wien gekommen. (Die Angaben basieren auf einem Expertengespräch mit Herrn Chen Hangzhu, Bildungsattach¦ der Botschaft der Volksrepublik China in Wien vom 24. 05. 2012.)
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mediaries und broker, darunter kleinunternehmerische Agenturen und Einzelpersonen, die wesentliche Informationen über studien- und visarechtliche Bestimmungen in Österreich zusammentrugen, interpretierten und verfügbar machten.
3.1
Zwischenzonen: Etablierungsprozesse und tertiäre Bildung
Selbst wenn chinesische Studierende von vornherein nicht planen, langfristig in Österreich zu verweilen, ist ein fehlender oder nicht anerkannter Studienabschluss (die Diplome der privaten Konservatorien sind in China nicht anerkannt) ein großes Problem. Das Ziel der Bildungsmigration wird auch bezogen auf den chinesischen Arbeitsmarkt nicht erreicht. MüllstudentInnen („liuxue laji“, Zhou 2009) ist der Begriff, den in der chinesischen Debatte Studienabbrecher und Rückkehrer mit schlechten oder nicht anerkannten Abschlüssen geprägt haben. Doch nicht nur ein abgebrochenes oder nicht anerkanntes Studium kann sich nachteilig auf berufliche Etablierungsprozesse auswirken, auch Studienabschlüsse können erhebliche Behinderungen mit sich bringen. So zeigen Beispiele aus der Feldstudie, dass einfach weiterstudiert oder sogar darauf verzichtet wird, die Abschlussarbeit einzureichen, um die notwendige Zeit und die nötigen Ressourcen für aufenthaltsrechtliche und professionelle Etablierung zu gewinnen. Ein zweiter Bereich, in dem bereits erworbene Studienabschlüsse Hindernisse darstellen, nämlich für den Einstieg in Weiterqualifizierungsangebote, ist der Bereich der Anerkennung von in China erworbenen Abschlüssen. Insbesondere das Fehlen gezielter Maßnahmen und die mangelnde Transparenz in Anerkennungsfragen tragen dazu bei, dass sich Studienwerber nicht mehr für Universitäten in Österreich entscheiden, sondern dorthin gehen, wo ihre Abschlüsse anerkannt werden und sie ein weiterführendes Studium im postgradualen Bereich aufnehmen können. Von chinesischer Seite wird mittlerweile Studienwerbern ein Bachelor- oder Masterstudium in Österreich nicht mehr empfohlen4. So bleiben Etablierungsprozesse von jungen AkademikerInnen in Wien durch einen sehr unterschiedlichen legalen Status, Einzelinitiativen und die Anerkennung von einzelnen Bildungswegen geprägt. Weder gelingt es, eine Verankerung in der professionell geprägten Zone 1 (lt. Elias die Etablierten) zu erreichen noch gelingt es, die migrantisch dominierte Zone 3 zu verlassen, durch die das Auskommen in Wien unkompliziert gesichert werden kann. Absolven4 Expertengespräch mit Herrn Chen Hangzhu, Bildungsattach¦ der Botschaft der Volksrepublik China in Wien vom 24. 05. 2012.
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tInnen und StudentInnen sind zwar in allen drei Zonen präsent, z. B. als Organisatoren von Fachveranstaltungen, als Vermittler von studien- und aufenthaltsrechtlichen Informationen und als Hilfskräfte in der Gastronomie, können sich aber nur schwer in der professionell geprägten Zone 1 verankern. Zone 2 bleibt so zwar eine dynamische Zone, von der Anstöße und Initiativen ausgehen, die jedoch in ihrer Bedeutung nicht erkannt und gefördert werden. Alumni-Verbände z. B. haben in Österreich ebenso wenig eine Tradition wie die Zuteilung von Mentoren seitens der Industriellenvereinigung, die ein einzelner und noch wenig kraftvoller Schritt ist. Die Rot-Weiß-Rot-Karte gibt Anstöße in die richtige Richtung, bleibt aber bisher wegen der politisch gewollten Quoten noch am Muster der Steuerung von Schlüsselkräften hängen.
3.2
„Fäden“ der Bildungskooperation
Unter diesen Voraussetzungen hat sich ein zweites Muster der Bildungswege nach Österreich durchgesetzt. Ohne ein „Bündel“ nationaler Maßnahmen zum Anwerben und ohne die Beratung zur Wahl einer passenden Studienrichtung konnten wir feine „Fäden“ der Bildungskooperation mit China aufzeigen. Chinesische Studierende werden gezielt und selektiv in der Forschung beschäftigt oder für Lehrgänge z. B. an der FH Technikum Wien aktiv angezogen. Dies geschieht statt durch politische Anreize auf Initiative der WissenschaftlerInnen. Besonders dort, wo Forschung an bestimmten Instituten international in der scientific community renommiert und vernetzt ist, werden gezielt und selektiv chinesische Studierende in der Forschung beschäftigt oder für Lehrgänge eingeladen. Kleinunternehmerische Netzwerke und einzelne wissenschaftliche Institutionen bestimmen die Dynamik der chinesisch-österreichischen Bildungsmigration. Diese Eigendynamiken und Initiativen, die bereits von sowohl chinesischen als auch österreichischen Einzel- und Schlüsselpersonen ausgehen, bestimmen die Gelegenheitsstrukturen für soziale Mobilität und professionelle Etablierungsprozesse chinesischer MigrantInnen in Wien.
4.
Wiener Ärzte für chinesische Medizin: Überqualifikationen im sub-segmentierten Gesundheitswesen
Traditionelle chinesische Medizin (TCM) wird in Wien an einer Reihe privater Schulen und in fachlichen Fortbildungen unterrichtet: für ÄrztInnen sowie Apotheker, für nicht-zertifizierte Praktiker sowie Laien, für Berufsgruppen wie
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Pflegekräfte, Hebammen, Physiotherapeuten oder Kosmetiker. Sie wird in national sowie von der EU geförderten Projekten beforscht und in der ärztlichen sowie pflegerischen Behandlung angeboten und von Apotheken als Arzneimittel vermarktet. Um Orientierung zu erlangen, legten wir eine Perspektive an, die fachliche Austauschprozesse und informelle Beschäftigungsverhältnisse untersucht. Etablierte und marginalisierte oder de-professionalisierte Anbieter unterscheiden sich deutlich; sie bleiben aber – in direkten Arbeitsbeziehungen oder der bloßen Außenwahrnehmung – miteinander in Etablierungsprozessen verwoben. Im Gesundheitssystem wurde anhand der TCM-Szene in Wien erhoben, wie etablierte und marginalisierte ÄrztInnen koexistieren, die nur z. T. ethnisch Chinesen sind, sondern ihrer ethnischen Zugehörigkeit sowie ihrer Staatsbürgerschaft nach auch ÖsterreicherInnen (u. a. Nicht-ChinesInnen) sein können. Es zeigt sich das Bild einer Koexistenz von österreichisch oder chinesisch professionalisierten und transnational weiterqualifizierten ÄrztInnen für chinesische Medizin sowie entsprechend spezialisierten Pharmazeuten. Während die Segmentierung des Arbeitsmarkts sowie die Benachteiligung und Marginalisierung von MigrantInnen bereits recht gut beforscht und belegt sind, zeigt sich am Beispiel der chinesischen Medizin in Wien ein weiteres Phänomen. Der Arbeitsmarkt im Außenseiter-Bereich – abseits des Mainstreams des orthodoxen Arztberufs –, wo Segmentierung und die Präsenz von hierher verdrängten Immigranten zu erwarten wären, ist tatsächlich in Österreich und insbesondere in Wien auf außerordentliche Weise sub-segmentiert. Die Koexistenz von chinesisch und österreichisch professionalisierten ÄrztInnen zeigt, dass die Zuschreibung von „etabliert“ und „Außenseiter“ sich nicht als Dichotomie verstehen lässt, sondern in Anlehnung an Elias’ idealtypisch definierte Zone 2 differenziert werden muss. Für die chinesische Medizin in der dynamischen Zwischenzone ist der Unterschied zwischen Professionalisierung nach nationalstaatlichen österreichischen oder chinesischen Regelungen sowie in transnationalen fachlichen Netzwerken entscheidend. Vergleichend wurden darum die nach den Standards Chinas (Volksrepublik) professionalisierten ÄrztInnen für chinesische Medizin gemeinsam mit ihren ethnisch sowie von ihrem Professionalisierungshintergrund her österreichischen KollegInnen in derselben Stadt untersucht (Barnes 1998/2003, Mol 2002). Das Gesundheitssystem ist ein Beispiel dafür, dass der Arbeitsmarkt in Österreich deutlich segmentiert ist, wobei „Insider-Branchen“ von anderen insofern zu unterscheiden sind, als hier „die Weiterbeschäftigung für den Großteil der Beschäftigten kurz- und mittelfristig sichergestellt ist. In diesen Bereichen sind vor allem inländische Arbeitskräfte beschäftigt“ (Biffl 2000). Nostrifizierung von Fachabschlüssen ist selbst innerhalb Europas schwierig, besonders im deutsch-sprachigen Raum können BerufsärztInnen jedoch mobil
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sein und arbeiten im Lauf ihrer Karriere nicht selten in verschiedenen Nationalstaaten. Grundsätzlich gilt in der Migrationsforschung, dass der Zugang für Außenseiter, die als MigrantInnen ins Land kommen, deutlich erschwert ist und Jobfluktuation statt Qualifikation in einer Branche vorherrscht. Dennoch konnten wir beobachten, dass im Gesundheitswesen die chinesischen MigrantInnen lokal eng mit KollegInnen und ihrer Klientel verknüpft sind. Dies gilt nicht bloß für exotische Ethnomedizin – wo jedermann bis zur zahlungsfähigen hochrangigen Klientel in Wien ein kulturelles Erlebnis suchen kann und unserer Feldforschung nach auch findet. Zwischen solchen Anbietern und Abnehmern herrschen zunächst vormals wirtschaftliche Interaktionen, die informell bleiben. Zum Vergleich: Geschäftsbeziehungen bestehen in der italienischen Textilstadt Prato zwischen den vor Ort in der Branche einflussreichen Auslandschinesen und der Lokalbevölkerung (Pieke et al 2004, Johanson et al 2009). In Medienspektakel und diskriminierender Erzürnung über die zahlreichen immigrierten chinesischen Textilhersteller vor Ort war die von der Migrationsforscherin Antonella Ceccagno aufgezeigte und von ihr über Jahre beobachtete enge wirtschaftliche Interaktion unterschlagen worden. In Wien jedoch sind die gesundheitsspezifischen Interaktionen noch vielschichtiger und fachlich deutlich intensiver, indem die Akteure weit in Gesellschaftskreise und Fachdiskurse eingebunden sind, Studiengänge durchlaufen und fachspezifische Weiterqualifikationen erwerben oder verleihen. Insbesondere auf dem Wege des heutigen Stands der Forschung, Lehre und Praxis in der chinesischen Medizin und Heilkunde sind sich KollegInnen – fachlich – vertraut und stehen in engem Austausch. So sind sich KollegInnen untereinander näher, als es sie es als TCMAnbieter (Ethnopreneurs) gegenüber einem Kunden in dessen Kulturerlebnis sein können. Tatsächlich sind „chinesische Ärzte“ keinesfalls wirklich Außenseiter, sondern können sich auf ihre Anbindung an die modernere und etablierte Profession im Bereich TCM in der Volksrepublik China berufen sowie nicht zuletzt auf professionelle Einzelinitiativen von Etablierten in Österreich – und überdies auf fachliche sowie familiäre transnationale Netzwerke und lineages (Mei 2009) in den USA, Großbritannien oder dem deutschsprachgien Raum. Das strikte ius practicandi in Österreich macht Einzelinitiativen nötig und intensiviert Interaktionen von Etablierten und Einzelakteure der Zwischenzone. Auf Chinas bzw. Ostasiens medizinischem Modernisierungsweg ist Wien ein Nebenschauplatz, nicht mehr und nicht weniger (Springer 2006/2010). Im Unterschied zu sehr rasch ausgebildeten „Barfußärzten“ sind „traditionelle“ Mediziner in China auch BerufsärztInnen und schriftgelehrte AkademikerInnen (Springer 2006/ 2010). Erwartungen an Wien als einen kosmopolitischen Schauplatz der klassischen Moderne (Huyssen 2007a/2007b/2007c/2008) werden aus Sicht der Berufs-MigrantInnen sowie der Quereinsteiger in den Arzt-, Pharmazeuten- oder
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Pflegeberuf zunächst nicht erfüllt, solange ihre modernen Qualifikationen und ihr Potenzial für transnationale fachliche Austauschprozesse unerkannt bleiben. Zum Teil finden sie Wege, sich durch Unterstützung aus der Zwischenzone zu positionieren: mithilfe jener Kollegen oder Arbeitgeber, die im Kontext der lokalen professionellen Organisationstrukturen vernetzt ist, aber über die üblichen Regelungen hinaus informell neue fachliche Wege gehen können, um die Quereinstiege zu ermöglichen. Der Einfluss Chinas im Gesundheitswesen ist bei Weitem nicht auf die Immigration von in China nach chinesischen Standards ausgebildeten ÄrztInnen beschränkt. Im in Österreich stark durch Ärzte- und Apothekerkammer sowie Pflegeberufe strukturierten Gesundheitswesen hängt der Zugang zur Zwischenzone – bei aller fachlichen transnationalen Vernetzung – stark von beruflichen Interaktionen mit diesen Organisationsstrukturen sowie mit der häufig nicht-chinesischen Klientel ab. In den Kammern sind Gatekeeper selbst in der TCM-Szene nur zum Teil ethnisch chinesisch und agieren kraft ihrer offiziellen Funktion. Etablierungsmentoren sind vollständig professionalisierte ÄrztInnen und ApothekerInnen, die die Spezialisierung TCM in die Forschung trugen, seit den 1990er-Jahren Zusatzqualifikationen zu etablieren begannen und in Apotheken chinesische Arzneimittel gemäß den ärztlichen Rezeptzusammenstellungen anbieten. In der Ärztekammer ist z. B. der für chinesische Medizin, insbesondere Akupunktur zuständige Berufsarzt ein solcher Gatekeeper. Eine ethnisch österreichische Frau ist ebenso wie er an zentraler Stelle einflussreich. Ganz im Sinne des Elias’schen Modells definiert sich die Gruppe der chinesisch professionalisierten MigrantInnen, die chinesische Medizin betreiben, durch ihre Distanz zu den Skandalen, die tatsächliche oder potenzielle Kurpfuscher in ihren Reihen – jedoch tatsächlich in der wahren Außenseiterzone – auslösen mögen. Im Unterschied zu Etablierten und zur Zwischenzone sind aus der echten Außenseiterposition heraus das Nostrifizieren oder Initiativen für Aufwärtsmobilität kaum möglich. Die Grauzone ist im Gesundheitssystem von Etablierten getrennt und in sich fragmentiert. Sie wird von chinesisch-sprachigen Informationsflüssen dominiert, und Interaktionen bleiben auf den klassischen informellen Sektor des Kleinunternehmertums – durch Behandlungen und Handel meist im Privaten – beschränkt. Integration funktioniert stattdessen nicht in der informellen Wirtschaft, sondern durch Qualifikation. Zahlreiche Lehrgänge und private Schulen sowie Apotheken haben sich in Wien etabliert. Es zeigte sich deutlich, dass Chinas Rolle hier die lokal stark beschränkte Präsenz von ethnischen oder migrantischen Unternehmen (Hillmann 2011) weit überschreitet. Nicht einfach der „Boom“ und „Zulauf“ der Kundschaft am freien Markt oder in vage strukturierten Kontaktzonen (Farrer 2011, Holmes 2011, Yeoh/Willis 2005) haben diese Entwicklung ermöglicht; vielmehr wurde sie durch die spezifisch österreichische Situation der
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starken Ärzte- und Apothekerkammer geprägt, wo Berufsärzte und Berufsapotheker seit den 1990er-Jahren informelle Beschäftigungsstrukturen unter hoch Qualifizierten aufgebaut haben (Lindquist/Xiang/Yeoh 2012). In Österreich sind diese Berufszweige nun über nationale Standards hinaus insofern „über“-qualifiziert. Integration bedeutet in diesem Fall offensichtlich das Etablieren eines chinesischen Berufszweigs in verschiedenen Berufsfeldern, nicht bloß das Heimischwerden ethnisch chinesischer MigrantInnen. Solche Etablierungsprozesse haben bereits begonnen, und damit dringt die chinesische Medizin in geschützte Gewerbe und Forschung ein. Doch gerade die China-spezifischen Qualifikationen dieser Fachleute, die sie für Österreich und Wien zu sogenannten Schlüsselkräften machen würden, werden durch die gesetzlichen und gewerblichen Rahmenbedingungen nicht erfasst. So wie Bernard Wong (2005) es für chinesische Netzwerke unter High-Tech-ExpertInnen in Silicon Valley beschreibt, haben sich diese Menschen trotz der gewerblichen Hürden in Wien niedergelassen und ihr Leben längerfristig auf das Verbleiben und Sich-Einbringen in ihr berufliches Umfeld hier ausgerichtet. Zugleich nehmen sie an globalisierten fachlichen Entwicklungen teil, pflegen spezifische Rückbezüge zu China, bleiben aber mit ihren hohen Qualifikationen und ihrem z. T. professionellen Status auf ihre lokalen Netzwerke und Identitäten in Arbeit und Leben orientiert. Die Interaktionen mit Klientel und Kunden im Gesundheitswesen sind eng. Das gilt auch, wenn die ÄrztInnen, PharmazeutInnen, PflegerInnen oder Forschenden chinesische MigrantInnen sind. So interagieren chinesische und nicht-chinesische KollegInnen und AnbieterInnen in fachlichen und unternehmerischen Austauschprozessen intensiv. Der Fachbereich der chinesischen Medizin ist sub-segmentiert nach Ausbildungshintergrund. Dieser ermöglicht die Mobilität in die Zone der Etablierten hinein, und zwar entweder lokal in Österreich oder auf transnationalen Berufswegen durch die Positionierung gemäß offiziellen Regelungen andernorts, sei es in Institutionen in China oder im deutsch-sprachigen oder anglo-amerikanischen Raum (Bauböck 2012).
5.
„Fäden“ in fachlichen Austauschprozessen und transnationalen Berufsfeldern
Anhand von Einzelinitiativen im tertiären Bildungs- und Gesundheitswesen wird ein gesellschaftlicher Bereich („Zone“) sichtbar, der zwischen Etablierten und Außenseitern liegt: Mit den etablierten Personen und Karrierewegen stehen hier Aufsteiger aus China in Wechselbeziehung; und Querdenker, die täglich fachspezifisch mit Chinesischem arbeiten, grenzen sich vom „alteingesessenen“
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Typ des migrantischen chinesischen Außenseiters und dem Ethnogewerbe in Wien ab. Von hier geht die Dynamik aus, die den Wandel zur Eingliederung von Fachwissen vorwärtstreibt. Für die Migrationsforschung und insbesondere für Studien zu Greater China und AuslandschinesInnen ist vor allem eines festzuhalten: Die Rollen von Alteingesessenen und Neuankömmlingen als Etablierte und Außenseiter sind umgekehrt. Ein simpler Konflikt zwischen Wiener „Alteingesessenen“ und Neuankömmlingen besteht hier nicht. Unter den verschiedenen MigrantInnen aus China in Wien sind die einflussreichen ImmigrantInnen des „neuen“ Typs bereits stärker in Wien etabliert als die des „alten“. Vergleichend lässt sich feststellen, dass sowohl das Stadtbild als auch die Institutionen Wiens deutlich weniger von auslandschinesischer Kultur geprägt sind als es anderswo in postkolonialen Städten mit chinesischen Stadtteilen bzw. in ethnisch mit China identifizierten kleinunternehmerischen Berufen der Fall ist. Eine Gleichsetzung von Außenseitertum mit chinesischer Enklave ist offensichtlich nicht haltbar, sobald die dynamische Zwischenzone analytisch sichtbar gemacht wird. Nicht zuletzt beobachteten wir in diesem Bereich berufliche Anerkennung sowie Personen – wie z. B. auf China spezialisierte BerufsärztInnen oder ApothekerInnen, BeraterInnen von MigrantInnen in bestimmten Studiengängen und Berufsfeldern oder ForscherInnen –, die in einem Umfeld arbeiten, wo weniger die persönliche kulturelle Identität relevant ist als vielmehr die informellen beruflichen Strukturen. Durch unseren Zugang konnten wir zeigen, dass Gelegenheitsstrukturen in Wien nicht für alle Ankömmlinge aus China gleich gestaltet sind und dass Integrationsstrukturen nicht von österreichischer Seite zentral gefördert werden. Offizielle Stellen im Gesundheits- und Bildungswesen bleiben oft untätig und weiterführende Maßnahmen in der fachspezifischen Migrationspolitik stehen noch aus. Integrationsstrukturen liegen daher vielfach in der Hand von Schlüsselpersonen der Zwischenzone. Schlüsselpersonen, die Etablierungsprozesse aufbauen und überhaupt möglich machen, sind keine Außenseiter. Sie interagieren mit Etablierten in Insiderberufen und in exklusiven Kreisen/Netzwerken, haben Zugang zu etablierten Institutionen und ermöglichen den Zugang dazu. Darin unterscheiden sie sich klar von Außenseitern. Die Rückverbindung zum Entsendungsland China besteht spezifisch zu den weiterhin – auch für das Leben in Wien ausschlaggebenden – Herkunftsorten und -netzwerken. Das gilt nicht nur räumlich im engeren Sinn, sondern auch in translokalen Räumen wie den wissenschaftlichen Disziplinen und Forschungsaktivitäten an verschiedenen Institutionen Chinas. Professionelle Netzwerke in Berufen und Forschung sind besonders unter ExpertInnen und hoch Qualifizierten von zentraler Bedeutung, bleiben jedoch weitgehend informell. Diese
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beiden Seiten der Dynamik beschreiben wir mit dem Bild eines Bündels von Fäden, die durch Einzelinitiativen und fachliche Netzwerke von hoch Qualifizierten und Etablierungsmentoren gesponnen werden – anstelle eines von offiziellen Stellen ausgehenden Bündels österreichischer Migrationspolitik. Alteingesessene sind Außenseiter, Neuankömmlinge agieren sozial mobil zwischen Etablierten und der Zwischenzone. Dies stellt den üblichen tagespolitischen Diskurs über Migration und MigrantInnen auf den Kopf.
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David Reichel und Alina Cibea
Die Verwendung von Integrationsindikatoren zur Messung der Wirkung von Integrationspolitik in Europa
1.
Einleitung
Permanente Migrationsbewegungen nach Europa und innerhalb Europas sind seit vielen Jahrzehnten Realität. In vielen europäischen Ländern hat die notwendige politische Auseinandersetzung mit den Folgen von Migration jedoch erst im letzten Jahrzehnt in einer institutionalisierten Integrationspolitik ihren Niederschlag gefunden. Ebenso hat die Europäische Kommission ihre Bemühungen, die Integration von vor allem Nicht-EU-BürgerInnen voranzutreiben, verstärkt. Auf verschiedenen politischen Ebenen – lokaler, regionaler, nationaler sowie supranationaler – wurden Integrationsagenden und -konzepte entwickelt und unterschiedlichste Maßnahmen gesetzt, die die Integration von Eingewanderten und ihren Nachkommen fördern sollen. Als Folge dieser Bemühungen, die nicht selten umstritten sind, erhielt die Frage nach der Wirkung der gesetzten Maßnahmen bzw. der Gesamtwirkung von unterschiedlichen Integrationspolitiken besondere Aufmerksamkeit. Im Zusammenhang mit der Diskussion über die Wirkung von integrationspolitischen Maßnahmen wurden in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) sogenannte Integrationsindikatoren oder Integrationsmonitore entwickelt. Zumeist wurden solche Monitore zuerst auf lokaler Ebene erstellt. Seit dem Haager Programm 2005 wurde auf Ebene der EU die Wichtigkeit der Evaluation von Integrationspolitiken wiederholt hervorgehoben. Vor diesem Hintergrund wurden europaweite Integrationsindikatoren entwickelt, welche „zur Überwachung der Ergebnisse integrationspolitischer Maßnahmen […] die Vergleichbarkeit nationaler Erfahrungen verbesser[n] und de[n] Lernprozess in Europa [stärken sollen]“ (Europäischer Rat 2010).Dabei stellt sich jedoch die Frage, inwiefern die Verwendung solcher Indikatoren überhaupt zur Messung von Integration bzw. Wirkungen von integrationspolitischen Maßnahmen nützlich ist, da erstens die Vorstellungen davon, was Integration eigentlich ist, sehr unterschiedlich sind und sich bei der Wirkungsanalyse von integrationspolitischen Maßnahmen viele methodische Schwierigkeiten ergeben. Neben
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David Reichel und Alina Cibea
diesen Schwierigkeiten haben die EU-Mitgliedstaaten unterschiedlichste Migrationsgeschichten und operationalisieren Integrationsindikatoren auf verschiedene Weisen. Dieser Beitrag untersucht die Fragestellung, inwiefern die Verwendung von quantitativen Indikatoren für die Wirkungsmessung von Integrationspolitiken nützlich ist. Es soll die Frage beantwortet werden, ob die derzeitige Praxis der Implementierung von Integrationsmonitoren den gesteckten Zielen gerecht wird oder nicht. Dafür werden im kommenden Abschnitt grundsätzliche Bedingungen und methodische Anforderungen der politischen Evaluation am Beispiel der Migrations- und Integrationspolitik dargestellt. Im zweiten Teil wird die Praxis der Verwendung von Integrationsindikatoren in sechs ausgewählten europäischen Ländern in Hinblick auf Ziele, Zielgruppen und Bereiche der Indikatoren beschrieben. Untersucht wurden Österreich, Dänemark, Deutschland, Frankreich, die Niederlande sowie Schweden. Diese Länder wurden gewählt, weil sie unter den ersten europäischen Ländern sind, die Erfahrungen mit der Entwicklung von Integrationsindikatoren haben. Das abschließende Kapitel führt die methodologischen Überlegungen mit den existierenden Bemühungen zusammen, um die oben gestellte Frage zu beantworten. Der Beitrag verwendet keine Arbeitsdefinition von Integration, sondern untersucht jene Integrationsmonitore, die als solche bezeichnet werden.
2.
Die Messung der Wirkung von politischen (Integrations-) Maßnahmen – methodische Anforderungen
2.1
Zur Verwendung von Indikatoren und Monitoring
Die Verwendung von Indikatoren zur Entwicklung und Evaluation von politischen Maßnahmen ist keine neue Erfindung und seit Jahrzehnten in verschiedenen Politikbereichen – etwa im Bereich Arbeitsmarkt, Armut oder Stadtentwicklung – Praxis. Hierbei werden quantitative Indikatoren bestimmt, welche Entwicklungen in ausgewählten Bereichen über die Zeit verfolgen. Oftmals werden Richtwerte bestimmt, die für Erfolg und Misserfolg politischer Interventionen stehen. Um jedoch die Erfolge von politischen Interventionen mittels Indikatoren nachweisen zu können, müssen die Ziele von der Politik definiert werden, da sonst der Erfolg nicht gemessen werden kann und keine validen Indikatoren gefunden werden können (Khandker/Koolwal/Samad 2009, 8 – 13). Im Bereich der Politik- und Programmevaluation können typischerweise vier Arten von Indikatoren unterschieden werden: Policy- oder Inputindikatoren,
Die Verwendung von Integrationsindikatoren
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Output-, Outcome- und Impactindikatoren (vgl. Khandker/Koolwal/Samad 2009, 9, und speziell für Integrationspolitik Huddleston/Niessen 2009). Policyindikatoren sollen die normativen Prinzipien, die hinter politischen Maßnahmen stehen, messen. Inputindikatoren beziehen sich auf die Ressourcen, die zur Umsetzung von politischen Prinzipien zur Verfügung gestellt werden. Outputindikatoren sollen das Ergebnis des politischen Inputs darstellen, also die Umsetzung der Politik. Outcome- und Wirkungsindikatoren schließlich sollen die unmittelbaren und weiteren Folgen der Umsetzung der politischen Maßnahmen anzeigen. Die Unterscheidung der letztgenannten Indikatoren sei anhand des Beispiels der Einbürgerungspolitik dargestellt. Angenommen, das Ziel politischer Entscheidungsträger sei es, mehr Einbürgerungen zu erreichen. Demnach könnten Mittel zur Verfügung gestellt werden, die eine Überarbeitung des Einbürgerungsgesetzes nach sich ziehen (Input). Die tatsächliche Änderung des Gesetzes ist der Output bzw. die Maßnahme, die getätigt wird. Das Outcome bzw. die Folgen des Outputs (der Gesetzesänderungen) sind die darauf folgenden Entwicklungen der Einbürgerungszahlen. Impact- oder Wirkungsindikatoren sind dann schwieriger zu messen, könnten aber in diesem Zusammenhang als eine stärkere Arbeitsmarktintegration, Aufenthaltszufriedenheit oder politische Beteiligung der eingebürgerten Personen definiert werden. Dieses kurze Beispiel zeigt, dass es nicht einfach ist, die Wirkungen von politischen Maßnahmen durch Indikatoren zu messen. Die größte Schwierigkeit besteht darin, andere Faktoren, die die gewählten Indikatoren über die Zeit beeinflussen, zu identifizieren und gegebenenfalls zu kontrollieren.1 Werden Indikatoren nicht nur für eine politische oder geographische Einheit gemessen, dann können Unterschiede nicht nur über die Zeit, sondern auch räumlich vergleichend analysiert werden. Nichtdestotrotz bleiben die Herausforderungen bestehen und Unterschiede in den Indikatoren können meist nicht eindeutig politischen Maßnahmen zugeschrieben werden.
2.2
Kausale Wirkungsanalysen politischer Maßnahmen
Kaum ein methodisches Lehrbuch im Bereich quantitativer Methoden kommt um die schwierige Diskussion der Möglichkeiten zur Analyse von kausalen Zusammenhängen herum. Im Bereich der Wirkungsforschung von politischen Interventionen und Programmumsetzungen kann die Entwicklungsforschung auf eine längere Tradition zurückblicken (siehe etwa das methodische Hand1 Zur Messung des Zusammenhangs von Einbürgerungspolitik und Einbürgerungsraten im europäischen Vergleich siehe Reichel 2011/2012.
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David Reichel und Alina Cibea
buch zur Wirkungsanalyse von Maßnahmen der Weltbank; Khandker/Koolwal/ Samad 2009).2 Die Frage nach der Wirkung von bestimmten politischen Maßnahmen oder Programmen bedeutet, dass erhoben werden soll, was sich durch die Einführung eines bestimmten Stimulus geändert hat; beispielsweise der Effekt des Stimulus X (etwa die Einführung eines Sprachkurses für Eingewanderte) auf Y (etwa die Arbeitsmarktintegration von Eingewanderten). Es geht darum, einen Vorwärtsschluss zu ziehen, da die Wirkungen nur eines Stimulus erhoben werden sollen, und nicht wie im Rückwärtsschluss, alle Determinanten einer zu erklärenden Variable erforscht werden sollen (z. B. welche Faktoren die Arbeitsmarktintegration beeinflussen) (Gelman 2011). Letzteres ist wesentlich schwieriger. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Klärung, ob die Wirkungen von Maßnahmen in Hinblick auf ihre Absichten untersucht werden sollen oder nur allgemeine Auswirkungen von Maßnahmen ohne Rücksicht auf die Ziele einer Maßnahme. Werden die beabsichtigten Wirkungen analysiert, dann kann von der Effektivitätsmessung von Maßnahmen gesprochen werden. Wenn hingegen alle Folgen berücksichtigt werden, ohne Bedacht auf die Intentionen, dann nur von den Effekten (Czaika/deHaas 2011). Ferner muss bei der Evaluation von politischen Maßnahmen unterschieden werden, ob nur der operationale Aspekt der Durchführung einer Maßnahme untersucht wird (z. B.: Wie viele TeilnehmerInnen haben an einem Sprachkurs teilgenommen? Wie war die Qualität des Unterrichts?) oder ob weiterführende Folgen von bestimmten Maßnahmen evaluiert werden (Wirkungsanalysen). Wirkungsanalysen können ex ante (also vor der Einführung von Maßnahmen durchgeführt werden) sowie ex post (nachdem die Maßnahme implementiert wurde) durchgeführt werden (Khandker/Koolwal/Samad 2009, 7 – 21).3 Die grundsätzliche Frage bei ex post-Wirkungsanalysen ist: Was wäre passiert, wenn eine Maßnahme nicht implementiert worden wäre? Das bedeutet, dass der sogenannte counterfactual gesucht wird (Khandker/Koolwal/Samad 2009, 22 – 29). Der counterfactual (einfach übersetzt: der Vergleichstatbestand) ist jedoch nicht einfach zu beobachten, da die Maßnahme ja implementiert wurde. Eine Möglichkeit ist nun, die interessierte Gruppe vor und nach Einsetzung einer Maßnahmen zu beobachten. Dies ist jedoch nicht immer möglich (fehlende Daten) bzw. Änderungen können über die Zeit nicht einfach der Einsetzung der Maßnahme zugeschrieben werden. Eine weitere Möglichkeit ist, eine Vergleichsgruppe heranzuziehen. Dies ist jedoch ebenfalls nicht ohne Weiteres möglich, weil sich Gruppen, die einer Maßnahme unterzogen wurden, 2 Die folgende Diskussion bezieht sich nur auf quantitative Methoden zur Wirkungsanalyse. 3 Die Europäische Kommission muss beispielsweise ex ante-Evaluierungen für Programme mit einem bestimmten Finanzierungsaufwand durchführen (European Commission 2005).
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zumeist strukturell von potenziellen Vergleichsgruppen unterscheiden („Selektionseffekt“). Um diesen Selektionseffekt zu vermeiden, sollten im Idealfall Personen der Untersuchungs- und Vergleichsgruppe zufällig zugeordnet werden. Eine zufällige Zuordnung ist jedoch aus ethischen sowie realpolitischen Gründen kaum möglich. Somit muss auf sogenannte Quasiexperimente oder Beobachtungsstudien zurückgegriffen werden.4 Hierbei wird – zumeist auf Basis von Regressionsanalysen – versucht, den Selektionseffekt durch Kontrolle von strukturellen Eigenschaften der Vergleichsgruppen auszugleichen. Die verschiedenen Methoden haben unterschiedliche Anforderungen an die Datenverfügbarkeit und machen unterschiedliche Annahmen über den Selektionseffekt. Zu den üblichen Methoden gehören die Methode der doppelten Differenz, Matching-Verfahren, die Verwendung von Instrumentalvariablen oder Regressions-Diskontinuitäts-Analysen sowie die Anwendung von Strukturgleichungsmodellen (einführend hierzu Khandker/Koolwal/Samad 2009 sowie auf Deutsch Wolf/Best 2010). Trotz der (notwendigen) Anwendung von hoch entwickelten Verfahren können die kausalen Zusammenhänge nicht immer problemlos gedeutet werden. Kausale Zusammenhänge müssen stets theoretisch gut begründet werden, da die Daten hauptsächlich Korrelationen aufweisen können, sich jedoch selten klare kausale Wirkungen nachweisen lassen. Ohne gute theoretische Erklärung können kausale Zusammenhänge kaum bewiesen werden.5 Tiefer gehende Analysen sind jedoch oftmals nicht möglich, da die Daten in gewünschter Form nicht verfügbar sind. Obgleich die empirische Analyse der Wirkung von politischen Maßnahmen methodisch besonders anspruchsvoll ist, hat sie immer größere Bedeutung gewonnen. Dies liegt einerseits daran, dass EntscheidungsträgerInnen vermehrt die Verwendung von Steuermitteln rechtfertigen müssen und andererseits daran, dass empirische Forschung vermehrt zur Politikentwicklung herangezogen wird (auch bekannt unter der Phrase „evidence-based policy“). Grundsätzlich ist es ein Unterschied, ob nur bestimmte politische Maßnahmen evaluiert werden sollen (etwa die Wirkung der Einführung von verpflichtenden Sprachtests für Eingewanderte) oder die „gesamte Politik“ in einem bestimmten Bereich (etwa „die österreichische Integrationspolitik“). Obgleich Ersteres wesentlich einfacher durchzuführen ist, da die Maßnahmen eindeutig definiert und identifiziert werden können, kann die gesamte Politik eines Landes (oder einer
4 Es gibt in der Migrationsforschung einige Ausnahmen, wo experimentelle Zuordnungen gemacht werden, wie etwa bei lotterieartigen Vergaben von Aufenthaltstiteln (McKenzie/Yang 2010). 5 Für methodische und teilweise philosophische Diskussionen siehe beispielsweise Cox 1992, Gelman 2011.
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David Reichel und Alina Cibea
Stadt, Region) nur schwer gemessen werden, nicht zuletzt aufgrund der schwierigen Definition oder Abgrenzung von „Integrationspolitik“.6 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die einfache Verfolgung von Ergebnisindikatoren nicht den methodischen Ansprüchen genügt, die Auswirkungen von politischen Maßnahmen zu evaluieren. Auch wenn manche politische Auswirkungen unmittelbar in ausgewählten Indikatoren ersichtlich sein können, leidet die einfache Beobachtung von Indikatoren unter dem Problem der Selektivität. Veränderungen können nicht einfach auf politische Maßnahmen zurückgeführt werden, da allgemeine Indikatoren durch zu viele verschiedene Faktoren beeinflusst sind. Der folgende Abschnitt beschreibt Bemühungen zur Entwicklung von „Integrationsmonitoringsystemen“ in sechs europäischen Ländern sowie auf Ebene der Europäischen Union.
3.
Die Verwendung von Integrationsindikatoren in Europa
Dieser Abschnitt beschreibt, inwiefern die Verwendung von Indikatoren Eingang in die Integrationspolitik in sechs europäischen Ländern gefunden hat. Die Verwendung von Indikatoren bzw. die Implementierung von Integrationsmonitoringsystemen wird definiert als die Verwendung von umfangreichen, auf MigrantInnengruppen abzielende Indikatoren in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, welche regelmäßig von (oder unter Einbezug von) Behörden produziert werden. Wie die Zielgruppen definiert werden, ist unterschiedlich, weshalb die genaue Definition hier offen bleibt. Bevor die Umsetzung solcher Monitore dargestellt wird, soll der Prozess der Einsetzung von Integrationsindikatoren auf Ebene der EU beschrieben werden. Schon im Jahre 2004 wurde im Haager Programm die Wichtigkeit der Evaluation von integrationspolitischen Maßnahmen hervorgehoben und die Möglichkeit der Entwicklung von Integrationsindikatoren wurde wiederholt auf den MinisterInnenkonferenzen in Potsdam (2007) und Vichy (2008) vermerkt (Eurostat 2011, 9 – 10). Schließlich kam es im Stockholmer Programm 2010 zum direkten Aufruf zur Entwicklung von sogenannten „Kernindikatoren in einer begrenzten Anzahl an politischen Bereichen […] zur Überwachung der Ergebnisse von Integrationspolitiken, um die Vergleichbarkeit von nationalen Erfahrungen zu erhöhen und den europäischen Lernprozess voranzutreiben“ (European Union 2010, Section 6.1.5). 6 Gerade der Bereich Integration ist ein sehr breiter Bereich, der von unterschiedlichsten politischen Bereichen betroffen ist. Deshalb ist es geradezu unmöglich, zu definieren, welche Maßnahmen zur „Integrationspolitik“ gehören und welche nicht. Dies liegt auch daran, dass allgemein keine Einigkeit darüber besteht, was Integration an sich bedeutet.
Die Verwendung von Integrationsindikatoren
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Im gleichen Jahr hat eine ExpertInnengruppe im Rahmen der schwedischen Ratspräsidentschaft 14 Kernindikatoren für die Bereiche Beschäftigung, Bildung, soziale Inklusion und aktive Bürgerschaft entwickelt. Die Indikatoren wurden bei der Ministerialkonferenz in Saragossa im April 2010 bestätigt, wobei gleichzeitig weitere Untersuchungen zur Durchführbarkeit und Qualität der Indikatoren vorgeschlagen wurden (European Ministerial Conference on Integration 2010). Die Indikatoren wurden in eine Pilotstudie für das Jahr 2009 von Eurostat veröffentlicht (Eurostat 2011). In weiterer Folge wurden diese Indikatoren in einem Projekt in Bezug auf die Qualität der Aussagekraft der Indikatoren evaluiert. Die Projektergebnisse wurden von der Europäischen Kommission im Sommer 2013 veröffentlicht. Der Bericht analysiert die Schwierigkeiten und Stärken der Verwendung von Indikatoren auf europäischer Ebene und schlägt verschiedene Möglichkeiten vor, wie mit den europäischen Indikatoren umgegangen werden kann. Neben neuen Erkenntnissen zur Politikentwicklung und -evaluation, verweist der Bericht auf die Bedeutung der Kontextabhängigkeit bei internationalen Analysen (Huddleston/Niessen/Tjaden 2013). Insgesamt bleibt es unklar, wie die Zukunft der Indikatoren aussieht. Während die europäischen Indikatoren zur Integration von MigrantInnen sich noch im Umsetzungsprozess befinden, hat die OECD einen Bericht mit eigenen teilweise sehr ähnlichen Indikatoren 2012 veröffentlicht (OECD 2012).7 Neben der EU und der OECD haben europäische Länder und Städte im letzten Jahrzehnt vermehrt Integrationsmonitore entwickelt und veröffentlicht. Die EU hat auf diese Entwicklung in dem Sinne Einfluss genommen, da die Monitore teilweise durch EU Gelder finanziert wurden.
3.1
Integrationsmonitoring in ausgewählten EU-Mitgliedstaaten
In allen untersuchten Ländern gibt oder gab es Integrationsmonitore, wenngleich in sehr unterschiedlichen Formaten. Ein eindeutiges Integrationsmonitoring, gemäß unserer Definition, gibt es in Österreich, Deutschland, Frankreich und Schweden. Die Niederlande beziehen Integrationsindikatoren in ein umfassenderes sozio-ökonomisches Monitoring der Gesamtbevölkerung ein und Dänemark hat ein spezielles Modell zum „Performance Management“ entwickelt. In Österreich werden seit 2010 offiziell Integrationsindikatoren veröffentlicht. Die Indikatoren werden im Auftrag des österreichischen Bundesministeriums für Inneres (BMI) von Statistik Austria und der ehemaligen Kommission für Migrations- und Integrationsforschung (KMI) erstellt (Statistik Austria/KMI 7 Der Europarat hatte schon vor einigen Jahren zum Thema gearbeitet, jedoch keine Indikatoren produziert (Council of Europe o. J.).
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2010). Die Indikatoren wurden im Rahmen des österreichischen Nationalen Aktionsplans für Integration von Heinz Fassmann (2010) entwickelt. Seitdem werden die Indikatoren sowie zusätzliche Analysen jährlich veröffentlicht. Die Umsetzung der Indikatoren wird als wichtige Basis für politische Entscheidungen sowie für Politikentwicklung angesehen. Der österreichische Staatssekretär für Integration verweist in diesem Zusammenhang auf die Wichtigkeit der Indikatoren zur Evaluation von integrationspolitischen Maßnahmen (Statistik Austria/KMI 2011). Nachdem Integrationsmonitore in einigen deutschen Städten eingeführt worden waren und ein Prozess zur Erstellung von Integrationsindikatoren auf Bundeslandebene begonnen hatte, wurden in Deutschland erstmals 2009 und 2011 zum zweiten Mal Integrationsindikatoren auf Bundesebene veröffentlicht. Die Indikatoren auf Bundesebene wurden in Zusammenarbeit verschiedener Ministerien entwickelt, danach durch Forschungseinrichtungen erstellt und gemeinsam mit multivariaten Zusatzanalysen publiziert (ISG/WZB 2009 und Engels et al. 2011). Geplant ist eine Veröffentlichung im Zweijahresrhythmus. Die Indikatoren dienen als Instrument zur Evidenz-basierten Politikentwicklung und sollen eine Langzeitperspektive auf Entwicklungen im Integrationsbereich bieten (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2007, Brandt/Finke 2012). 2006 kam es in Schweden zum ersten Versuch, einen Integrationsmonitor zu entwickeln (Budgetpropositionen 2006). Dieser erste Vorschlag wurde jedoch nicht umgesetzt, da dieser als zu umfassend angesehen wurde (Integrationsverket 2007, 26). Deshalb wurden in einem zweiten Versuch die Anzahl der Indikatoren reduziert. Im Auftrag des (ehemaligen) Ministeriums für Integration und Gendergleichheit entwickelte eine externe Firma erneut Indikatoren und veröffentlichte die Ergebnisse im gleichen Jahr (Budgetpropositionen 2010). Die Indikatoren werden regelmäßig auf der Website von Statistik Schweden publiziert. Derzeit ist der Minister für Integration im Arbeitsministerium beheimatet, jedoch führen auch andere Ministerien Monitore in ihren Zuständigkeitsbereichen durch (Envall 2012). Erklärtes Ziel der Produktion von Indikatoren ist es, die Effekte und Ergebnisse von integrationspolitischen Maßnahmen zu messen und somit zukünftige Maßnahmen zu verbessern. Besonders hervorgehoben wird die Bedeutung, die die Erkenntnis über Entwicklungen im Bereich der Integration über die Zeit hat (Budgetpropositionen 2010, 52). In Dänemark gibt es seit den späten 1990er-Jahren ein ergebnisorientiertes Performance Management-Modell für alle öffentlichen Einrichtungen, somit auch im Bereich Integration. Die Basis dieses Modells bildet die sogenannte „Theorie des Veränderung“ (Theory of Change). Dabei soll gemessen werden, inwiefern Aktivitäten der Behörden zur Zielerreichung beitragen (Ministry for Refugees, Immigration and Integration 2009, 34). 2009 hat das (ehemalige)
Die Verwendung von Integrationsindikatoren
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Ministerium für Flüchtlinge, Immigration und Integration Ziele der Integrationspolitik formuliert und gleichzeitig Indikatoren definiert, welche die Erreichung der Ziele kontinuierlich überwachen sollen (Hansen 2012). Das zuständige Ministerium wurde 2011 aufgelöst und die weitere Veröffentlichung der Indikatoren ist unklar, nicht zuletzt weil angenommen wird, dass es durch die neue Regierung zu Änderungen in der Integrationspolitik kommen wird (Hansen 2012). In Frankreich wurden im Jahr 2009 im Auftrag des Hohen Rates für Integration (Haut conseil a l’integration, HCI) eine Reihe von Integrationsindikatoren von der Statistikabteilung des Innenministeriums erstellt (D¦partement des Statistiques, des Êtudes et de la Documentation, DSED). Daraufhin wurde 2010 das erste „Indikatoren-Dashboard“ (Tableau de Bord) veröffentlicht. Im Gegensatz zu den Indikatoren in den bisher beschriebenen Ländern wird in der Veröffentlichung darauf hingewiesen, dass die Indikatoren weder den Stand der Integration von MigrantInnen darstellen noch die Erfolge von gesetzlichen Regelungen erfasst werden sollen, sondern dass die Situationen von ImmigrantInnen8 und ihren Nachkommen mit jenen von Personen ohne Migrationshintergrund im bestimmten Lebensbereichen verglichen werden sollen (DSED 2010). Die Indikatoren wurden unter der Verantwortung des Innenministeriums, speziell der Statistikabteilung des Direktorates für Aufnahme, Integration und Staatsbürgerschaft (Direction de l’Accueil, de l’Int¦gration et de la Citoyennet¦, DAIC) in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen veröffentlicht. Bislang kam es zu keiner weiteren Publikation der Indikatoren. In den Niederlanden wurde schon in den 1980er-Jahren ein erster Integrationsmonitorbericht veröffentlicht (Tweede Kamer der Staten-Generaal 1987, 6). Zwar wurden 1992 vom Innenministerium detaillierte Kernindikatoren für die Integrationspolitik definiert, diese wurden jedoch schrittweise verworfen. Diese Entwicklung spiegelt die generelle Entwicklung der niederländischen Integrationspolitik wider, welche nicht weiter verfolgt werden soll, da Integrationsziele nur durch allgemeine (also dezidiert nicht integrationspolitische) Maßnahmen erreicht werden sollen. Dafür sind die jeweiligen Ministerien in ihren Zuständigkeitsbereichen verantwortlich. Demgemäß wird in den Niederlanden auch nur ein allgemeines Monitorsystem in Bereichen wie Bildung und Arbeit durchgeführt, welches auch Integrationsbereiche abdeckt. Die Ziele des Monitors sind Evaluation und Entwicklung von politischen Maßnahmen. Das Niederländische Institut für Sozialforschung und Statistik Niederlande veröffentlichen jährlich Berichte (Verweij/Bijl 2012). 8 In Frankreich werden sich dort aufhaltende Personen, die im Ausland ohne französische Staatsbürgerschaft geboren werden, als ImmigrantInnen definiert (Eremenko/Thierry 2009, 11).
96 3.2
David Reichel und Alina Cibea
Bereiche und Zielgruppen
Die Anzahl der Integrationsindikatoren unterscheidet sich in den untersuchten Ländern geringfügig, mit Ausnahme von Deutschland, wo im letzten Integrationsindikatorenbericht 64 Indikatoren in elf Bereichen9 verwendet wurden (Brandt/Finke 2012). Frankreich produziert 36 Indikatoren in sieben Bereichen, Dänemark 31 Indikatoren in sechs Bereichen, Schweden 27 Indikatoren in acht Bereichen und Österreich hat 25 Indikatoren – darunter fünf Kernindikatoren10 – in sieben Bereichen definiert. In Österreich gibt es jedoch noch zusätzliche demographische Indikatoren und im jährlichen Bericht werden auch noch weitere Indikatoren und Daten veröffentlicht (Statistik Austria/KMI 2010, 2011, 2012). Alle Länder mit dezidierten Integrationsindikatoren verwenden einerseits demographische und sozio-ökonomische Daten (wie etwa die Arbeitslosenrate) sowie andererseits Indikatoren zur Messung von subjektiven Erfahrungen und Einstellungen (etwa die Wahrnehmung von Einstellungen gegenüber Zugewanderten). Die am häufigsten verwendeten Bereiche sind Beschäftigung und Bildung; sie werden in allen sechs Ländern mit Monitoren abgedeckt. Die Bereiche Wohnen und Sprache werden in jeweils fünf der sechs Länder einbezogen (Wohnen nicht in Schweden und Sprache nicht in den Niederlanden). Der Bereich Gesundheit ist Teil der Monitore in Österreich, Frankreich, Deutschland und den Niederlanden, und Staatsbürgerschaft wird dezidiert als eigener Bereich in Dänemark, Frankreich und Schweden genannt. Abbildung 1 stellt die Häufigkeit der Bereiche der Integrationsindikatoren graphisch dar. Die subjektiven Bereiche werden sehr unterschiedlich benannt, wie etwa „Integrationsklima“ oder „Identifikation in Österreich“, „gemeinsame Werte und Normen“ in Dänemark und Schweden, „Akzeptanz der Aufnahmegesellschaft“ in Frankreich, „interkulturelle Öffnung“ in Deutschland oder „Modernität der Einstellungen“ sowie „inter-ethnische Kontakte“ in den Niederlanden. Diese Unterschiede zeigen, wie schwer fassbar diese Bereiche sind. Die genauen Indikatoren unterscheiden sich relativ stark in den Ländern, wobei die Erwerbstätigenquote der am häufigsten verwendete Indikator ist. Die Zielgruppen und Kategorisierungen innerhalb der Zielgruppen sind zwar ähnlich, dennoch kommt es zu deutlichen Unterschieden aufgrund von natio9 1) Rechtsstatus, 2) Frühkindliche Bildung und Sprachförderung, 3) Bildung, 4) Ausbildung, 5) Arbeitsmarktintegration, 6) Soziale Integration und Einkommen, 7) Gesellschaftliche Integration und Beteiligung, 8) Wohnen, 9) Gesundheit, 10) Interkulturelle Öffnung der Verwaltung 11) Kriminalität, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit. Im ersten Bericht wurden 100 Indikatoren in 14 Bereichen produziert. 10 Die Kernindikatoren sind der höchste Bildungsabschluss, Erwerbstätigenrate, Arbeitslosenrate, Netto-Jahreseinkommen und Armutsgefährdung.
Die Verwendung von Integrationsindikatoren
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Abbildung 1: Graphische Darstellung der Bereiche von Integrationsindikatoren in sechs europäischen Ländern (AT, DK, DE, FR,NL, SE) (Quelle: Eigene Darstellung und Übersetzung. Die Größe der Schrift steht für die Häufigkeit der Bereiche in den sechs Ländern. Employment und Education wird in allen sechs Ländern genannt.)
nalen Eigenheiten in der Erhebung, Dokumentation und Verfügbarkeit von amtlichen Daten.11 Die Zielgruppe des österreichischen Nationalen Aktionsplans für Integration ist beispielsweise sehr weit gefasst (siehe BMI 2010, 7). Die Indikatoren vergleichen Gruppen nach Geburtsland und Staatsbürgerschaft sowie nach Möglichkeit auch nach Geburtsland der Eltern (Statistik Austria/ KMI 2010). Die Vergleiche werden zwischen den Hauptzuwanderungsgruppen und Personen ohne Migrationshintergrund/-erfahrung gemacht. Deutschland hingegen verwendet die Kategorie „Migrationshintergrund“ mit Subkategorien (etwa Personen mit Migrationserfahrung und ohne Migrationserfahrung), je11 Vgl. zum Thema unterschiedlicher Datensammlungspraxis Fassmann/Reeger/Sievers 2009.
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doch werden keine Herkunftsgruppen verglichen, um eine Ethnisierung der Debatte zu verhindern (ISG/WZB 2009, 23). In Dänemark werden MigrantInnen nach Herkunftsländern, Migrationshintergrund und den Kategorien „westlich“ und „nicht-westlich“ unterschieden; eine Unterscheidung, die jedoch nicht nur geographisch begründet werden kann, da beispielsweise auch Australien und Neuseeland zu westlichen Ländern zählen (Hansen 2012). Die Unterscheidung von westlichen und nicht-westlichen Herkunftsgruppen ist ebenso in den Niederlanden üblich, obgleich der Fokus aufgrund der Datenverfügbarkeit der Indikatoren zumeist auf Nationalität gerichtet war. In den letzten Jahren kam es vermehrt zu Datensammlungen nach Geburtsland und Geburtsland der Eltern sowie ethnischer Zugehörigkeit (Bijl/Verweij 2012). Die schwedischen Indikatoren unterscheiden nach Geburtsland und Geburtsland der Eltern in den Kategorien Schweden, nordische Länder/Skandinavien, EU-/EEA-Länder und restliche Welt (Envall 2012). Die Zielgruppen der französischen Indikatoren sind ausländische Staatsangehörige, eingebürgerte französische Staatsangehörige und Nachkommen von Eingewanderten im Vergleich mit französischen Staatsangehörigen mit Eltern, die in Frankreich geboren wurden (DSED 2010). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die prinzipielle Herangehensweise in den sechs Ländern nicht stark unterscheidet. Bis auf Frankreich sollen in allen Ländern die Daten auch zur Politikevaluation herangezogen werden. In den Niederlanden soll die allgemeine Politik integrationspolitische Ziele erreichen, weshalb „Integrationsindikatoren“ in ein gesamtgesellschaftliches Monitoring eingebettet ist. Die Bereiche und Zielgruppen der Indikatoren unterscheiden sich nur im Detail, und die Herangehensweise, unterschiedliche Herkunftsgruppen anhand von quantitativen Indikatoren besonders in den Bereichen Arbeitsmarkt und Bildung zu vergleichen, ist allen Ländern gemein.
4.
Zur Verwendung von Integrationsindikatoren – Nutzen und Gefahr
Alle sechs untersuchten Länder haben Anstrengungen unternommen, Integrationsindikatoren zu entwickeln, wobei, wie gesagt, mit der Ausnahme von Frankreich die Indikatoren zur Politikentwicklung verwendet werden und auch Auskunft darüber geben sollen, ob bestimmte integrationspolitische Maßnahmen wirken oder nicht. Während der Evaluationsnutzen von Indikatoren meist nur implizit erwähnt wird, sollen die Indikatoren auf europäischer Ebene eindeutig Auskunft über das Funktionieren von Integrationspolitiken geben. Ruft man sich die methodischen Überlegungen zur Wirkungsanalyse von (integrations-)politischen Maßnahmen in Erinnerung, dann sind diese Ambitionen der
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Integrationsmonitore zu hoch angesetzt. Wenn auch die Effekte von politischen Maßnahmen unter Umständen durch vorher bestimmte Indikatoren erkennbar sein können, so bleibt dies die Ausnahme. Allgemeine Indikatoren sind durch eine Reihe von externen Faktoren beeinflusst, die nicht der politischen Steuerung unterliegen, und der Selektionsbias bei Gruppenvergleichen ist nur schwierig zu kontrollieren. Nichtsdestotrotz liefern die Indikatoren neue empirische Grundlagen für die Politikentwicklung und -evaluation, welche umfassender analysiert werden können. Es bleibt aber von großer Bedeutung, dass die NutzerInnen derartiger Monitore (Politik, Forschung, PraktikerInnen, Medien etc.) sich der begrenzten Aussagekraft einer einfachen Auflistung von Indikatoren bewusst sind (Krämer/ Schmerbach 2011). Leider werden quantitative Indikatoren oftmals zu oberflächlich interpretiert und notwendige detailliertere Analysen bleiben aus. Ein positives Beispiel in diesem Zusammenhang liefert Deutschland. Der Integrationsindikatorenbericht enthält multivariate Zusatzanalysen für verschiedene Indikatoren, mit denen überprüft wird, ob Unterschiede der Zielgruppen nicht durch andere Faktoren, wie soziale Herkunft oder demographische Variablen, zu erklären sind. Bei der Verwendung von quantitativen Indikatoren müssen jedoch noch weitere Aspekte bedacht werden.12 Indikatoren sind reaktiv. Reaktivität von quantitativen Indikatoren meint die Wirkungen von Messungen auf die soziale Realität, die diese Messungen repräsentieren sollen. Deshalb können quantitative Maßzahlen zur Erschaffung und Reproduktion von sozialen Grenzziehungen beitragen (Espeland/Stevens 2009, 412 ff.). Durch die Erschaffung von quantitativen Indikatoren zur Integration von MigrantInnen wird eine Bedeutung von Integration sichtbar gemacht und (re-)produziert. Dieser Prozess hängt von der oftmals sehr weit gefassten Definition von Integration, aber auch von der Verfügbarkeit von Daten ab (vor allem bzgl. der Kategorisierungen von MigrantInnen). Ferner werden die Zielgruppen durch die Institutionalisierung und regelmäßige Produktion der Indikatoren wiederum als soziale Gruppen 12 Espeland/Stevens (2008) unterscheiden fünf Dimensionen, welche der Quantifizierung von sozialen Phänomenen implizit sind. Diese Dimensionen betreffen die Arbeit, die die Produktion von Daten und Statistiken voraussetzt, die Ästhetik der Präsentation von Daten, die Autorität von Quantifizierungen, ihre Reaktivität sowie die Tendenz, Verhalten zu disziplinieren. Die erste Dimension betrifft die oftmals nicht bedachte Arbeit und Ressourcen, welche – meist seitens der Behörden – benötigt werden, um Daten zu produzieren. Die Ästhetik verweist auf die Wirkungen, die die graphische Präsentation von Daten hat. Autorität bezieht sich darauf, inwiefern die Veröffentlichung von Statistiken und Zahlen als vertrauenswürdiger Weg, Wissen zu kommunizieren, verstanden wird. Dabei ist es besonders wichtig zu beachten, wer Statistiken kommuniziert. Die letzten beiden Dimensionen, Reaktivität und Disziplinierung, erachten wir als besonders wichtig für die Diskussion von Integrationsindikatoren.
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manifestiert. Die Unterschiede zwischen den Zielgruppen der Indikatoren und der Gesamtbevölkerung müssen jedoch nicht darin begründet sein, dass die Personen der Zielgruppe angehören. Ein Kernproblem der in europäischen Ländern verwendeten Integrationsindikatoren ist der simple, theoretisch nicht näher begründete Vergleich von Personengruppen anhand ihrer geographischen oder politischen Herkunft (vgl. hierzu auch Perchinig/Troger 2011). Außerdem sind quantitative Indikatoren disziplinierend. Die disziplinierende Macht quantitativer Maßzahlen zeigt sich etwa in der Erstellung von Rankings (Sauder/Espeland 2009; Espeland/Stevens 2009, 416). Diese Rankings werden schnell internalisiert, in der Folge fokussieren Institutionen darauf, das eigene Ranking zu verbessern. Das kann dazu führen, dass Regierungen verführt werden, ihre Politiken nur darauf auszurichten, die Indikatoren zu verbessern, wobei vergessen wird, dass Indikatoren nur (gute oder schlechte) Operationalisierungen sozialer Realität sind.13 Dieses Charakteristikum wird besonders bei internationalen Vergleichen bedeutsam, wo fast ausschließlich mit Rankings gearbeitet wird, weshalb quantitative Indikatoren und Indizes als Instrument internationaler Governance angesehen werden (Davis/Kingsbury/Merry 2012). Die Verwendung von Integrationsindikatoren trägt zur Konstruktion dessen bei, was unter Integration von MigrantInnen verstanden wird. So gesehen definieren die hier beschriebenen Integrationsmonitore Integration implizit als das Abschneiden von MigrantInnen am Arbeitsmarkt und als Bildungserfolge im Vergleich mit der Gesamtgesellschaft, was der Definition von Assimilation (im Sinne einer Angleichung in der Verteilung von Merkmalen) näher kommt als jener von Integration. Generell werden sehr selten Indikatoren verwendet, die Prozesse darstellen (z. B. berufliche Mobilität), obgleich Integration keinen Zustand, sondern einen Vorgang darstellt. Ferner bleibt die subjektive Ebene in Indikatorensystemen meist unterbelichtet. So etwa wird die Einschätzung, ob der Migrations- oder Integrationsprozess von den betroffenen Personen retrospektiv als Erfolg angesehen wird, kaum in den Indikatorensystemen erfasst, obwohl sich diese Herangehensweise in der wissenschaftlichen Forschung bewährt hat (Latcheva/Herzog-Punzenberger 2011, Reichel 2010, Reinprecht 2010, 47). Die Dimension der subjektiven Evaluation ist auch Teil der Empfehlung zur Messung von „Well-being“ als Indikator zum Wohlstand einer Bevölkerung (OECD 2013). Zum Abschluss möchten wir wieder zur Ausgangsfragestellung zurückkommen. Die einfache Gegenüberstellung von bestimmten Indikatoren nach un13 Indikatoren werden oftmals auch falsch verwendet. Beispielsweise wird das Bruttoinlandsprodukt (BIP) oftmals als Indikator für Lebensqualität verwendet, obgleich dieser Indikator lediglich die Produktion eines Landes angibt und die Messung von Lebensqualität anderer Indikatoren bedarf (Stiglitz/Sen/Fitoussi 2009).
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terschiedlichen Definitionen von Migrationshintergrund kann ohne Kontrolle anderer Einflussfaktoren den Erfolg von politischen Maßnahmen nicht verlässlich darstellen. Als Kernprobleme erweisen sich die sehr allgemeine Definition von Integration sowie die oftmals unklaren Ziele der existierenden Integrationspolitiken. Für die Weiterentwicklung bestehender Indikatorensysteme bedarf es sowohl einer Präzisierung des Integrationskonzepts als auch einer Feindifferenzierung der Zielbevölkerung (vgl. hierzu auch Filsinger 2008). Die bestehenden Indikatoren können zwar auf Problembereiche hinweisen, ersetzen jedoch keinesfalls die genaue wissenschaftliche Erforschung ausgewählter Fragestellungen. Wichtig ist auch, dass NutzerInnen von Indikatoren einen verantwortlichen Umgang mit den Daten pflegen, kritisch in Hinblick auf die verwendeten Indikatoren sowie auf angestellte Gruppenvergleiche und zurückhaltend in Bezug auf ihre Interpretation sind. Die Informationen, die Integrationsindikatoren zur Verfügung stellen, sollten somit weder über- noch unterschätzt werden. Potenziell können sie jedoch zu einer stärker auf Daten basierten öffentlichen Diskussion beitragen. Eine solche Diskussion war im Migrationsbereich in den vergangenen Jahren nicht immer gegeben. In den meisten der in diesem Artikel untersuchten Länder sind die Integrationsindikatoren jüngeren Datums und wurden relativ rasch entwickelt. Die weitere Produktion und Veröffentlichung von Indikatoren sollte mit einer permanenten Evaluation und theoretischen und methodischen Weiterentwicklung einhergehen. Dieser Beitrag soll einen Anstoß in diese Richtung geben.
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Dagmar Strohmeier, Marie-Therese Schultes und Vera Popper
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Österreich: Evaluation des Projekts „Connecting People“ der asylkoordination Österreich
Das Projekt „Connecting People“ der asylkoordination Österreich vermittelt Patenschaften an unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Österreich. Ziel des Projekts ist es, dass erwachsene Personen eine längerfristige Beziehung zu einem jugendlichen Flüchtling eingehen und diesen hinsichtlich seiner sozio-ökonomischen Integration unterstützen. Obwohl die asylkoordination Österreich schon seit dem Jahr 2001 Patenschaften vermittelt, war es aufgrund fehlender Ressourcen bislang nicht möglich, die Zielerreichung dieses Projekts mithilfe einer empirischen Studie zu überprüfen. Im Rahmen einer Lehrveranstaltung an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien1 wurde erstmals eine Evaluation dieses Projekts durchgeführt (Strohmeier 2010). Evaluationsstudien im Bereich sozialer Projekte und Initiativen werden aufgrund knapper oder fehlender Budgets nur sehr selten durchgeführt, was insbesondere für die Weiterfinanzierung, aber auch für die Weiterentwicklung dieser Projekte von Nachteil sein kann. In Abschnitt 1 werden einige Herausforderungen skizziert, die sich für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge während ihrer Flucht quer durch Europa sowie im Ziel- oder Transitland Österreich ergeben. In Abschnitt 2 wird das Projekt „Connecting People“ der asylkoordination Österreich vorgestellt. In Abschnitt 3 wird die Vorgehensweise bei der Evaluation des Projekts „Connecting People“ in vier Schritten dargestellt und in Abschnitt 4 werden die Ergebnisse der Evaluationsstudie zusammengefasst. Abgeschlossen wird der Beitrag mit einer Diskussion und Konklusion. 1 Diese Studie wurde im Rahmen der Lehrveranstaltung „Projektmanagement“ an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien im Studienjahr 2009/10 durchgeführt. Die Autorinnen bedanken sich bei Roman Feucht, Georg Hafner, Nina Hesse, Gülcan Keklik, Johanna Lanka, Sonja Rohwer und Sophie-Theres Schmid, die als Studierende an der vorliegenden Evaluationsstudie mitgearbeitet haben. Weiters bedanken wir uns bei Klaus Hofstätter und Herbert Langthaler von der asylkoordination Österreich für das entgegengebrachte Vertrauen und die sehr gute Zusammenarbeit. Weitere Informationen zu Connecting People finden sich unter http://connectingpeople.at
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1.
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Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – „children on the move“
Die Anzahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die in Österreich Asyl beantragt haben, ist in den letzten Jahren – ähnlich wie in anderen europäischen Ländern – stark gestiegen. Waren es 2006 noch 414 Kinder und Jugendliche, die in Österreich um Asyl ansuchten, stieg diese Zahl im Jahr 2011 auf 1.342 Personen (Fronek 2010, 32; Fronek 2011, 34). Im Jahr 2008 suchten insgesamt 10.720 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Europa um Asyl an: 4.300 davon in Großbritannien, 1.500 in Schweden, 1.400 in Norwegen und 770 in Österreich (UNHCR 2009). Ähnlich wie auch in anderen europäischen Ländern stellen männliche Jugendliche aus Afghanistan die größte Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge in Österreich dar (UNHCR 2012). Die Zielländer der Jugendlichen sind meist Großbritannien, Schweden und Norwegen (UNHCR 2012). Österreich ist somit kein Ziel- sondern häufig ein Transitland für die Jugendlichen. Für die Flucht quer durch Europa bis ins gewünschte Zielland benötigen die Jugendlichen oft viele Jahre (Oppedal/Idsoe 2012), während derer sie vielfältigen Gefahren ausgesetzt sind (UNHCR 2012). In der EU angekommen, verlaufen die Fluchtrouten der Jugendlichen meist über Griechenland, Italien und Frankreich (UNHCR 2012). Das heißt, dass die Jugendlichen bis zum Erreichen des gewünschten Ziellandes ständig unterwegs sind und ihren Aufenthaltsort wechseln, um zu vermeiden, dass sie von der Polizei aufgegriffen und ihnen die Fingerabdrücke abgenommen werden (UNHCR 2012, 45). Diese Erfahrungen während der Flucht stellen gemeinsam mit den Kriegserfahrungen, die sie häufig im Heimatland gemacht haben, große psychische Herausforderungen für die Jugendlichen dar (Oppedal/Idsoe 2012). Auch wenn die Jugendlichen bereits im Zielland angekommen sind, stehen sie vor einer Reihe von Herausforderungen. Sourander (1998) untersuchte 46 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Finnland (die meisten stammten aus Somalia) und stellte fest, dass neben massiven traumatischen Erlebnissen im Heimatland und während der Flucht auch die lange Wartezeit im Flüchtlingscamp und die damit verbundene Unsicherheit eine große psychische Belastung für die Jugendlichen darstellt. Lange Wartezeiten, während derer die Jugendlichen in nicht altersgemäßen Betreuungseinrichtungen warten, stellen auch in Österreich einen Missstand dar (Fronek 2011). Die psychischen Belastungen der Jugendlichen verschwinden nicht von selbst, wenn ihr Asylantrag positiv entschieden wird und sie schon einige Zeit im Zielland leben. Oppedal und Idsoe (2012) führten im Zielland Norwegen eine Studie durch; zur Teilnahme wurden alle unbegleiteten minderjährigen
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Österreich
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Flüchtlinge eingeladen, deren Asylantrag in den Jahren 2000 bis 2009 positiv entschieden wurde. Insgesamt 68 Prozent dieser Jugendlichen (N=566) nahmen an der Studie teil. Sie stammten aus 34 Ländern, 213 kamen aus Afghanistan, 92 aus Somalia, 52 aus dem Irak und 44 aus Sri Lanka. 80 Prozent der Jugendlichen waren Jungen. Die Jugendlichen waren im Mittel 19 Jahre alt und lebten seit etwa vier Jahren in Norwegen. Die Hälfte der Jugendlichen gab an, dass ihre Flucht quer durch Europa bis Norwegen ein Jahr gedauert hätte, während 12 Prozent der Jugendlichen berichteten, fünf Jahre oder länger unterwegs gewesen zu sein. Drei Viertel der Jugendlichen haben Kriegserfahrungen gemacht und etwa die Hälfte dieser Gruppe gab an, aufgrund dieser Erlebnisse noch immer an Albträumen und anderen psychischen Problemen zu leiden. Seglem, Oppedal und Raeder (2011), die depressive Symptome in einer Teilstichprobe dieser Jugendlichen (N=414) untersuchten, kamen zu dem Schluss, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge auch noch Jahre, nachdem der Asylantrag positiv entschieden wurde und sie ein neues Leben im Zielland Norwegen begonnen hatten, an erhöhter Depressionsneigung leiden.
2.
Patenschaften für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
Die Ausführungen des ersten Abschnitts machen deutlich, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge hinsichtlich ihrer psychischen Gesundheit eine besonders vulnerable Gruppe darstellen. Aber auch was alltagspraktische Angelegenheiten betrifft, haben diese Jugendlichen eine Reihe von Herausforderungen zu bewältigen, wenn sie in Österreich angekommen sind und einen Asylantrag gestellt haben. Anders als Jugendliche, die mit ihren Eltern nach Österreich geflüchtet sind, fehlt diesen Jugendlichen eine enge Beziehung zu einer erwachsenen Betreuungsperson. Hauptanliegen des Projekts „Connecting People“ ist es, diesen Mangel zu beheben, indem erwachsene Personen eine Patenschaft für einen Jugendlichen übernehmen (siehe auch: http://connec tingpeople.at). Angestrebt wird, dass im Rahmen dieser ehrenamtlichen Patenschaft Erwachsene eine längerfristige und stabile Beziehung zu dem Jugendlichen aufbauen und ihm oder ihr bei der Bewältigung von alltagspraktischen Herausforderungen helfen sowie eine emotionale Unterstützung bieten. Auf diese Aufgabe werden die PatInnen im Rahmen des Projekts folgenderweise vorbereitet: Zu Beginn jeder Patenschaft stehen ausführliche Informations- und Bewerbungsgespräche mit dem Ziel, die Motivation und Erwartungen der PatInnen abzuklären. Nach einer positiven Entscheidung über die Aufnahme ins Projekt durch die Projektleitung absolvieren die PatInnen eine zweimonatige Schulung in Kleingruppen. Im Rahmen von acht Themenabenden werden für die Patenschaft relevante Themen besprochen, wie zum Beispiel Grundlagen des
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Asyl- und Fremdenrechts, allgemeine Fakten zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, Flucht und Trauma, asyl- und fremdenrechtliche Vertretung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, Bildungssituation und Arbeitsmarktzugang sowie Unterbringungseinrichtungen. Nach Absolvierung dieser Schulung werden die Patenschaften vermittelt, das heißt die PatInnen lernen „ihre“ Jugendlichen kennen. Danach begleitet das Projekt „Connecting People“ die Patenschaften, solange der Wunsch danach besteht, indem Themenabende oder gemeinsame Aktivitäten organisiert werden.
3.
Evaluation des Projekts „Connecting People“
Das Projekt „Connecting People“ wird seit 2001 in der beschriebenen Weise von der asylkoordination Österreich umgesetzt, der Erfolg des Projekts wurde jedoch aufgrund knapper finanzieller Ressourcen bislang nicht mithilfe einer empirischen Studie überprüft. Durch die Zusammenarbeit mit der Universität Wien im Rahmen einer zweisemestrigen Lehrveranstaltung an der Fakultät für Psychologie war es möglich, erstmals eine Evaluationsstudie für dieses Projekt zu realisieren. Es ist sehr häufig der Fall, dass Maßnahmen oder Projekte in der Praxis bereits laufen, bevor die Projektverantwortlichen ihre Evaluationsanliegen an WissenschafterInnen herantragen. Diese aus der Praxisperspektive völlig legitime Vorgehensweise stellt die WissenschafterInnen vor einige Herausforderungen, die nachfolgend beschrieben und in Form konkreter Arbeitsschritte auf das Praxisprojekt „Connecting People“ umgelegt werden. Bei einer Evaluation ist in einem ersten Schritt erforderlich, die Evaluationsanliegen der Projektverantwortlichen genau zu verstehen und zu konkretisieren, weil es im Rahmen von Evaluationsforschung darum geht, die formulierten Evaluationsziele der Projektverantwortlichen mithilfe systematischer Datensammlung zu untersuchen. So verstanden ist Evaluation immer wissenschaftsgestützt und datenbasiert (Patton 1997) und impliziert die Verwendung empirischer Forschungsmethoden (Spiel/Strohmeier 2006). Die Zielexplikation nimmt bei Evaluationsprojekten einen sehr wichtigen Stellenwert ein und unterscheidet sich von Zielsetzungen bei grundlagenorientierter wissenschaftlicher Forschung, weil die Evaluationsziele in der Regel nicht aus dem bisherigen Stand der Forschung, sondern aus den Maßnahmenzielen abgeleitet werden, die von den Projektverantwortlichen festgelegt wurden (Spiel/Lüftenegger/Gradinger/Reimann 2010, 254). In einem zweiten Schritt werden gemeinsam mit den Projektverantwortlichen aus der Praxis die Zielgruppen der Maßnahme eingegrenzt, was zur Festlegung der Evaluationsstichprobe führt. Durch diese enge Zusammenarbeit mit den Projektverantwortlichen aus der Praxis ist es meist einfach, TeilnehmerInnen für
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die Studie zu rekrutieren, weil diese in der Regel aufgrund der Beteiligung an der Maßnahme bereits mit dem Projekt verbunden sind. In einem dritten Schritt werden messbare Indikatoren für die formulierten Evaluationsziele festgelegt. Auch hier bestimmen die Evaluationsanliegen der Projektverantwortlichen die Wahl der Indikatoren, weil es in einem Evaluationsprojekt darum geht, für das Projekt nützliche Informationen zu generieren (Nützlichkeitsstandard). Eine enge Zusammenarbeit mit den Projektverantwortlichen ist aber auch notwendig, damit die Evaluationsstudie in der Praxis wie geplant durchführbar ist (Durchführbarkeitsstandard). Durch die Anwendung sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden soll sichergestellt werden, dass die Evaluationsstudie zuverlässige und gültige Informationen generiert (Genauigkeitsstandard), um empirisch nachvollziehbare Schlussfolgerungen zu ermöglichen. Um die Qualität der praktischen Durchführung von Evaluationsvorhaben zu sichern, hat die Gesellschaft für Evaluation (DeGEval) 25 Standards publiziert, die in die vier Gruppen Nützlichkeit, Durchführbarkeit, Fairness und Genauigkeit eingeteilt sind (Spiel/Lüftenegger/Gradinger/Reimann 2010, 257; www.degeval.de). In einem vierten Schritt wird schließlich das Evaluationsdesign unter Berücksichtigung der Evaluationsziele sowie der Evaluationsstandards (v. a. Durchführbarkeit) festgelegt. Je nachdem, welches Untersuchungsdesign gewählt wird, können mit Evaluationsstudien unterschiedlich starke Aussagen in Bezug auf das Projekt oder die Maßnahme getroffen werden.
Schritt 1: Festlegung der Evaluationsziele In Kooperation mit der asylkoordination Österreich wurden im Rahmen der Zielexplikation vier Evaluationsziele erarbeitet, die im Rahmen der Evaluationsstudie geklärt werden sollten: Evaluationsziel 1: Ist-Stand-Erhebung aller Patenschaften Es sollte geklärt werden, wie viele Patenschaften zum Erhebungszeitraum existierten, um eine Aktualisierung der vorhandenen Datenbank aller PatInnen und den jeweils vermittelten Jugendlichen zu ermöglichen. Evaluationsziel 2: Ist-Stand-Erhebung der sozio-ökonomischen Integration der Jugendlichen Unter Berücksichtigung der rechtlichen Rahmenbedingungen sollte die Evaluationsstudie über die sozio-ökonomische Integration der Jugendlichen Auskunft geben und es sollte geklärt werden, ob die Patenschaften dazu beitragen.
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Evaluationsziel 3: Bewertung des Projekts „Connecting People“ Die Bewertung des Angebots von „Connecting People“ sollte erhoben werden. Hierzu zählen beispielsweise gemeinsame Freizeitaktivitäten und die Betreuung (Einschulung, Problembewältigung etc.) während und vor einer Patenschaft. Evaluationsziel 4: Bewertung der Patenschaft Es sollte erhoben werden, wie die PatInnen und die Jugendlichen ihre Patenschaft beurteilen. Die Zielexplikation mit der asylkoordination Österreich ergab, dass die vier formulierten Evaluationsziele eng mit den Maßnahmenzielen verbunden sind. Das Projekt „Connecting People“ vermittelt Patenschaften mit der Zielsetzung, dass diese für mindestens zwei Jahre bestehen (vgl. Evaluationsziel 1), erhofft sich eine gute sozio-ökonomische Integration der Jugendlichen während der Patenschaft (vgl. Evaluationsziel 2) und wünscht sich eine positive Bewertung der Projektstruktur von „Connecting People“ durch die PatInnen (vgl. Evaluationsziel 3) sowie eine positive Bewertung der Patenschaft durch die PatInnen und die Jugendlichen (vgl. Evaluationsziel 4). Bei sozialen Projekten oder Initiativen ist es häufig der Fall, dass (mehr oder weniger konkrete) Erfolgskriterien im Rahmen der Zielexplikation gemeinsam mit den Projektverantwortlichen festgelegt werden, um die zu untersuchende Maßnahme mithilfe der gewonnenen Daten anhand dieser Kriterien bewerten zu können (Spiel/Lüftenegger/Gradinger/Reimann 2010, 256).
Schritt 2: Festlegung der Evaluationsstichprobe Abgeleitet aus den Evaluationszielen und unter Berücksichtigung der Durchführbarkeit der Evaluationsstudie wurden in Zusammenarbeit mit der asylkoordination Österreich zwei Evaluationsstichproben festgesetzt. Evaluationsstichprobe 1 (PatInnen) Um eine möglichst große Anzahl von Patenschaften in der Evaluationsstudie abbilden zu können, wurde entschieden allen PatInnen einen Fragebogen per EMail zuzuschicken. Diese Entscheidung wurde deshalb getroffen, weil die asylkoordination Österreich seit Projektbeginn im Jahr 2001 über eine Datenbank mit den Namen, E-Mail-Adressen und Telefonnummern der PatInnen verfügte, die vorhandenen Kontaktdaten der Jugendlichen aber weniger zuverlässig waren. Zusätzlich wurden jene PatInnen angerufen, die den Fragebogen nicht bis zur Deadline zurückgeschickt hatten. Nur jene PatInnen, von denen weder aktuelle E-Mail-Adressen noch aktuelle Telefonnummern vorlagen, konnten nicht kontaktiert werden. Im Rahmen der Evaluationsstudie konnte so mit 137 Pa-
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tInnen Kontakt aufgenommen werden. Nur 33 Personen konnten aufgrund fehlender aktueller Kontaktdaten nicht erreicht werden. Von den 137 kontaktierten Personen füllten 101 Personen den Fragebogen aus. Die Rücklaufquote aller kontaktierten PatInnen war mit 74 Prozent sehr hoch, was eine sehr hohe Aussagekraft der gewonnenen Daten verspricht. Evaluationsstichprobe 2 (Dyaden bzw. Triaden) Die zweite Evaluationsstichprobe bestand aus PatInnen, die sich im per E-Mail verschickten Fragebogen bereit erklärten, für ein Interview gemeinsam mit ihren Jugendlichen an die Universität Wien zu kommen. Es wurden teilstrukturierte Leitfadeninterviews mit Dyaden (PatIn und Jugendliche) bzw. Triaden (Pateneltern und Jugendliche) durchgeführt. Die Auswahl der Dyaden (bzw. Triaden) für das Interview erfolgte nach dem Kriterium der Freiwilligkeit (diese Angaben wurden im Fragebogen erhoben). Nach dem Zufallsprinzip wurden jene PatInnen, die sich bereit erklärt hatten, gemeinsam mit „ihrem“ Jugendlichen am Interview teilzunehmen, telefonisch kontaktiert. Es wurde so lange telefoniert, bis 16 Interviewtermine fixiert waren, von denen 12 tatsächlich stattfanden. Diese Interviews wurden zur Unterstützung der Datenauswertung mit Aufnahmegeräten aufgezeichnet, sofern das Einverständnis dazu vorlag. Die Interviews dauerten zwischen 20 und 60 Minuten und wurden in Räumen der Universität Wien getrennt voneinander durchgeführt.
Schritt 3: Festlegung messbarer Indikatoren Die Indikatoren wurden gemeinsam mit der asylkoordination Österreich für die vier formulierten Evaluationsziele festgesetzt und im Rahmen der Fragebogenstudie und der teilstrukturierten Interviews erhoben (siehe Tabelle 1). Um den Erfolg einer Maßnahme abschätzen zu können, wird in der Evaluationsforschung zwischen vier Ebenen unterschieden (siehe auch Spiel/Gradinger/ Lüftenegger 2010, 229), die eng mit den Zielsetzungen der Maßnahmen verbunden sind. Die Zufriedenheit der TeilnehmerInnen mit der zu untersuchenden Maßnahme ist meist eines der vordergründigsten Ziele, das von Projektverantwortlichen angestrebt wird. Dieses Ziel betrifft die Ebene der Reaktionen im Modell von Kirckpatrick (1998) und stellt unzweifelhaft einen wichtigen Faktor für die Akzeptanz von Maßnahmen dar. Allerdings sagt diese Ebene nichts darüber aus, ob die TeilnehmerInnen durch das Programm ihre Einstellungen verändern, ihr Wissen erweitern oder ihre Fähigkeiten steigern. Diese Aspekte betreffen die Ebene des Lernens und stellen häufig ebenfalls wichtige Ziele von Maßnahmen dar. Geht es in einem Programm um eine nachhaltige
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Tabelle 1: Indikatoren und operationalisierte Items getrennt nach Evaluationszielen Indikatoren Operationalisierte Items Ziel 1: Ist-Stand-Erhebung aller Patenschaften Haben Sie aktuell eine Patenschaft? Wenn ja, seit wann besteht die Patenschaft? Wenn nein: Von wann bis wann hat die Patenschaft bestanden? Haben Sie noch Kontakt mit ihrem Jugendlichen? Ziel 2: Ist-Stand-Erhebung der sozio-ökonomischen Integration der Jugendlichen Rechtlicher Status Aktueller Aufenthaltsstatus (Aus-)Bildung, Sprache Beschäftigung
Bildungsweg in Österreich Derzeitige Berufstätigkeit in Österreich? Wenn ja, welche?
Wohnen
Derzeitige Wohnsituation in Österreich? Geht der von Ihnen betreute Jugendliche einer Freizeitbeschäftigung nach, die von einem Verein organisiert wird? Wenn ja, welcher?
Freizeit
Ziel 3: Bewertung des Projekts „Connecting People“ Wie bewerten Sie das Projekt „Connecting People“ insGlobale Bewertung gesamt? Wie bewerten Sie das Angebot von „Connecting People“? (siehe Abb. 1) PatInnen: Wie haben Sie von „Connecting People“ erfahren und weshalb haben Sie sich entschieden eine Patenschaft zu Motive für die Patenschaft übernehmen? Was war für Sie der Hauptgrund? aus Sicht der PatInnen und Jugendliche: des Jugendlichen Wie haben Sie von „Connecting People“ erfahren und weshalb haben Sie sich entschieden sich für eine Patenschaft zu melden? Was war für Sie der Hauptgrund? Bewertung des Angebots
Ziel 4: Bewertung der Patenschaft Wenn Sie an das letzte halbe Jahr denken, wie häufig Kontakthäufigkeit hatten Sie durchschnittlich Kontakt (persönlich oder telefonisch) mit Ihrem Jugendlichen? Gemeinsame Aktivitäten Zufriedenheit
Wie haben Sie die Zeit mit Ihrem Jugendlichen verbracht? (siehe Abb. 2) Wenn Sie kurz über die positiven und negativen Erfahrungen in Ihrer Patenschaft nachdenken, wie zufrieden sind Sie mit Ihrer Patenschaft?
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Österreich
(Fortsetzung) Indikatoren
Wichtige Aspekte für die Jugendlichen
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Operationalisierte Items PatInnen: Wie wichtig sind die folgenden Aspekte in Ihrer Patenschaft für Ihren Jugendlichen? (siehe Abb. 3) Jugendliche: Gab es eine Situation, in der die Patenschaft für Sie besonders wichtig war? Gab es eine Situation, in der die Patenschaft besonders schwierig war?
Auswirkungen der PatenWas hat sich in Ihrem Leben durch die Patenschaft verschaft auf das Leben der ändert? PatInnen und Jugendlichen
Verhaltensänderung, d. h. um einen Transfer des im Programm gelernten Wissens auf Alltagssituationen, ist die Maßnahme auf der Ebene des Verhaltens angesiedelt. Veränderungen, die auf gesellschaftlicher Ebene oder der Ebene der Organisation angestrebt werden, bilden die Ebene der Resultate. Die Erfassung dieser Zielsetzung stellt die größte Herausforderung im Rahmen von Evaluationen dar, weil Veränderungen auf dieser Ebene meist nur mittel- oder langfristig zu beobachten sind. Kirckpatrick (1998) geht in seinem Modell davon aus, dass diese vier Ebenen aufeinander aufbauen, dass also Veränderungen auf der höchsten Ebene (der Ebene der Resultate) nur dann möglich sind, wenn auch die Ziele der untergeordneten drei Ebenen erreicht werden. Hinsichtlich der vier Ebenen von Kirckpatrick (1998) ist die vorliegende Evaluationsstudie schwerpunktmäßig auf der Ebene der Reaktionen (Zufriedenheit) und der Ebene des Lernens (Veränderung von Einstellungen, Wissen, Fähigkeiten) angesiedelt (siehe auch Tabelle 1).
Schritt 4: Festlegung des Untersuchungsdesigns Evidenzbasierung im Rahmen von Evaluationsforschung umfasst (1) die wissenschaftliche Begleitung der Implementierung einer Maßnahme, (2) die differenzierte Prüfung ihrer Wirksamkeit gemäß der gesetzten Ziele und (3) die Prüfung des Wirkmodells (Patry/Perrez 2000, 28). Während es bei der Untersuchung der Wirksamkeit (bzw. Effektivität) einer Maßnahme darum geht, herauszufinden, ob ein Programm die gesetzten Programmziele erreicht hat, steht bei der Untersuchung des Wirkmodells die Frage im Vordergrund, warum die Programmziele erreicht wurden. Effektivitätsprüfungen von Maßnahmen sind demnach bei klaren Zielsetzungen immer möglich, die Untersuchung des Wirkmodells jedoch setzt eine klare theoretische Fundierung des Programms
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Dagmar Strohmeier et al.
voraus. Bei Wirksamkeitsprüfungen wird das Programm als ein Paket behandelt, das nicht aufgeschnürt wird. Bei der Untersuchung des Wirkmodells dagegen geht es um eine „Aufschnürung“ des Programms, um die einzelnen Wirkkomponenten zu analysieren. Dazu werden die Anwendungen variiert, indem Elemente hinzugefügt oder weggelassen werden. Ziel ist es, durch eine systematische Variation von Programmteilen die Auswirkungen derselben festzustellen. Evaluationsanliegen des vorliegenden Projekts war die empirische Untersuchung von vier Evaluationsanliegen (siehe Tabelle 1), weshalb als Untersuchungsdesign eine einmalige Untersuchung der PatInnen sowie der Dyaden bzw. Triaden gewählt wurde. Die vorliegende Evaluationsstudie kann somit einschätzen, ob die formulierten Zielsetzungen erreicht wurden. Die Evaluationsstudie gibt jedoch keine Auskunft über das Wirkmodell, das heißt darüber, warum die Ziele erreicht bzw. nicht erreicht wurden, da hierfür ein längsschnittexperimentelles oder quasi-experimentelles Versuchsgruppen-Kontrollgruppen-Untersuchungsdesign erforderlich gewesen wäre (Spiel/Strohmeier 2006).
4.
Ergebnisse der Evaluationsstudie
Insgesamt beantworteten 74 Patinnen und 27 Paten den per E-Mail verschickten Fragebogen. Das durchschnittliche Alter der PatInnen lag zum Zeitpunkt der Befragung bei 47 Jahren (die Altersspanne bewegte sich zwischen 26 und 76 Jahren bei einer Streuung von 10,32 Jahren). 74 Prozent der PatInnen lebten zum Zeitpunkt der Untersuchung in einer Partnerschaft, 61 Prozent hatten zwischen ein und vier Kindern, 39 Prozent hatten keine Kinder. Hinsichtlich des Bildungsstatus lagen die PatInnen deutlich über dem österreichischen Durchschnitt, 65 Prozent verfügten zum Zeitpunkt der Befragung über ein abgeschlossenes Studium, 21 Prozent hatten eine Matura. Die PatInnen wurden im Fragebogen gebeten, Angaben zu „ihrem“/“ihrer“ Jugendlichen hinsichtlich Alter, Geschlecht und Herkunftsland zu machen. Im Mittel waren die Jugendlichen nach den Angaben der PatInnen 19,6 Jahre alt (die Altersspanne bewegte sich zwischen 14 und 33 Jahren, mit einer Streuung von 3,34 Jahren). 81 Prozent der Jugendlichen in Patenschaften waren männlich. Etwa 54 Prozent der Jugendlichen kamen aus Afghanistan. Aus afrikanischen Ländern kamen etwa ein Viertel der Jugendlichen, der Rest kam aus dem asiatischen Raum. Jeweils ein bzw. zwei Jugendliche kamen aus folgenden Ländern: Gambia, Armenien, Kosovo, Usbekistan, Guinea, Ghana und Ukraine.
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Evaluationsziel 1: Ist-Stand-Erhebung aller Patenschaften Von 101 Patenschaften waren zur Zeit der Befragung 85 Patenschaften aktiv. Im Mittel bestanden die Patenschaften seit 3,15 Jahren (mit einer Streuung von 2,43 Jahren und einer Spanne von 0,25 bis 9,17 Jahren). Sechzehn Patenschaften waren zur Zeit der Befragung bereits beendet2. Diese beendeten Patenschaften hatten zwischen einem halben und 6 1/2 Jahren gedauert (durchschnittlich dauerten die bereits beendeten Patenschaften 2,62 Jahre bei einer Streuung von 1,59 Jahren). Lediglich drei PatInnen gaben an, derzeit keinen Kontakt mit ihrem/r Jugendlichen zu haben.
Evaluationsziel 2: Ist-Stand-Erhebung der sozio-ökonomischen Integration der Jugendlichen Als Indikatoren der sozio-ökonomischen Integration wurden der Aufenthaltsstatus, der Bildungsweg in Österreich, die derzeitige Berufstätigkeit und Wohnsituation sowie eine von Vereinen organisierte Freizeitbeschäftigung der Jugendlichen aus der Sicht der PatInnen erhoben (siehe Tabelle 1). Die Auswertung des Aufenthaltsstatus brachte folgende Ergebnisse: Zum Zeitpunkt der Befragung waren 33 Prozent der Jugendlichen Asylwerber, 30 Prozent subsidiär schutzberechtigt und 22 Prozent anerkannte Flüchtlinge. Drei Jugendliche waren österreichische Staatsbürger, eine Person hatte keine Aufenthaltsgenehmigung, über zwei Jugendliche konnten die PatInnen keine Auskunft geben und acht Jugendliche fielen in die Kategorie „sonstiges“. Hinsichtlich des Bildungsweges der Jugendlichen in Österreich machten die PatInnen folgende Angaben: 81 Prozent der Jugendlichen hatten einen Deutschkurs in Österreich abgeschlossen bzw. besuchten diesen zur Zeit der Befragung. 79 Prozent der Jugendlichen hatten einen Hauptschulabschluss oder bereiteten sich auf diesen vor. Insgesamt 19 Prozent der Jugendlichen befanden sich in einer betrieblichen oder in einer über den Arbeitsmarktservice Österreich (AMS) geförderten Lehre oder hatten eine Lehre abgeschlossen. 27 Prozent der Jugendlichen besuchten eine mittlere oder höhere Schule oder hatten diese abgeschlossen. 4 Prozent der Jugendlichen studierten an einer Universität bzw. FH. 36 Prozent der Jugendlichen waren zum Zeitpunkt der Befragung berufstätig, während 60 Prozent keiner Berufstätigkeit nachgingen. Über die verblei2 Die Gründe für die Beendigung der Patenschaften waren vielfältig. Einige Jugendliche hatten Familien gegründet und benötigten die Unterstützung ihrer PatInnen nicht mehr, andere Jugendliche waren aus Österreich weggezogen. Manche Patenschaften wurden auch beendet, weil die PatInnen das Gefühl hatten, die Jugendlichen benötigen keine Unterstützung mehr.
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Dagmar Strohmeier et al.
benden 4 Prozent konnten die PatInnen keine Angaben machen. Die berufstätigen Jugendlichen arbeiteten besonders häufig in Lehrberufen, wobei vor allem handwerkliche Berufe wie Installateur, Berufe in der Wohnraumgestaltung und KFZ-TechnikerIn genannt wurden. Außerdem wurden Tätigkeiten in der Gastronomie- und Tourismusbranche wie z. B. KellnerIn angegeben. Weiters waren die Jugendlichen in der Nahrungsmittelerzeugung und als Hilfskräfte, Reinigungskräfte sowie als Aushilfen tätig. Hinsichtlich der Wohnsituation zeigte sich folgendes Bild: Je 37 Prozent der Jugendlichen wohnten in einer Privatwohnung oder in einer betreuten Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. 13 Prozent wohnten in einer Flüchtlingsunterkunft, 2 Prozent der Jugendlichen hatten keine fixe Bleibe. Von 4 Prozent der Jugendlichen war die Wohnsituation nicht bekannt. Über Freizeitbeschäftigungen machten die PatInnen folgende Angaben: 33 Prozent der Jugendlichen gingen einer von einem Verein organisierten Freizeitbeschäftigung nach. 56 Prozent gingen keiner solchen Freizeitbeschäftigung nach, bei 11 Prozent der Jugendlichen wussten die PatInnen nicht Bescheid. Die qualitative Auswertung der Freizeitbeschäftigung in Vereinen nach Angaben der Jugendlichen ergab eine starke Favorisierung von Fußballvereinen, die mehr als die Hälfte der Nennungen ausmachten. Außerdem wurden Pfadfindergruppen, Shaolin Kung Fu-Tempel und Fitnessstudios genannt.
Evaluationsziel 3: Bewertung des Projekts „Connecting People“ Es wurde erhoben, wie das Projekt „Connecting People“ durch die PatInnen bewertet wird. In den qualitativen Interviews wurden spezifische Informationen über das Projekt eingeholt und auch die Jugendlichen hatten die Möglichkeit, ihre Meinung einzubringen (siehe Tabelle 1). Global bewerteten die befragten PatInnen das Projekt „Connecting People“ ausschließlich als „sehr gut“ (82 %) oder „gut“ (18 %). Das Angebot von „Connecting People“ wurde differenzierter wahrgenommen. Wie aus Abbildung 1 ersichtlich ist, wurden „Erreichbarkeit“, „Betreuung während der Patenschaft“ und „Schulung vor der Patenschaft“ von den PatInnen mit sehr gut bzw. gut bewertet. Bei den Punkten „Gemeinsame soziale Aktivitäten“ und „Vernetzung mit anderen PatInnen“ überwog eine positive Bewertung, es wurden aber auch mittelmäßige und schlechte Beurteilungen abgegeben. In den Interviews wurden die PatInnen und die Jugendlichen gefragt, wie sie von ”Connecting People” (CP) erfahren hatten und weshalb sie sich für eine Patenschaft entschieden hatten. Außerdem wurden die PatInnen und die Jugendlichen nach dem Hauptgrund für das Eingehen einer Patenschaft gefragt. Die PatInnen sind über verschiedene Wege zu CP gekommen. Meist spielte
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Abb. 1: Bewertung des Angebots von „Connecting People“
der Zufall mit. CP wurde in Zeitungsartikeln und im Rahmen einer Radiosendung erwähnt. Weitere Gründe waren die aktive Recherche im Internet, Erzählungen von Freunden und eine Dokumentation über unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Kino. Die Mehrheit der PatInnen gab als Hauptgrund politische Motive bzw. die innenpolitische Diskussion um das Fremdenrecht an. Als weiteres Motiv nannten die PatInnen, eigene positive Erfahrungen weitergeben zu wollen. Außerdem wurden folgende Motive genannt: Kontakt zu Jugendlichen mit einer anderen Kultur, Neues lernen und Spaß haben durch die Patenschaft, neue Erfahrungen machen, emotionale Betroffenheit aufgrund des persönlichen Schicksals des Jugendlichen und der Wunsch, etwas an die Menschheit zurückzugeben. Die Jugendlichen gaben an, über drei verschiedene Wege von CP erfahren zu haben. Am häufigsten gaben die Jugendlichen an, über ihre BetreuerInnen in den Wohnheimen von CP erfahren zu haben, wobei die Jugendlichen teilweise gar nicht wussten, worum es sich bei einer Patenschaft genau handelte. Einige Male entwickelte sich die Patenschaft aus einem bereits bestehenden Kontakt zwischen den Jugendlichen und der PatInnen. Außerdem wurden Informationen durch andere Jugendliche bzw. Mitbewohner der Wohngemeinschaft gegeben. Als Hauptgrund für das Eingehen der Patenschaft gaben die Jugendlichen das Erlernen der deutschen Sprache an. Als weiteren Grund nannten einige Jugendlichen das Lernen im Allgemeinen, Familienersatz und das Kennenlernen der österreichischen Kultur. Außerdem wurden folgende Motive genannt: finanzielle und psychische Unterstützung, Hilfe bei der Jobsuche und: „Ich habe nichts zu verlieren.“
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Dagmar Strohmeier et al.
Evaluationsziel 4: Bewertung der Patenschaft Es wurden fünf Indikatoren (Kontakthäufigkeit, Aktivitäten, Zufriedenheit, Aspekte und Auswirkungen) für die Bewertung der Patenschaft durch die PatInnen und Jugendlichen erhoben (vgl. Tabelle 1). Hinsichtlich der Kontakthäufigkeit im letzen halben Jahr ergaben die Auswertungen der Angaben der PatInnen, dass 26 Prozent öfter als ein Mal pro Woche, 24 Prozent ein Mal pro Woche, 26 Prozent zwei bis drei Mal pro Monat, 8 Prozent ein Mal pro Monat und 14 Prozent weniger als ein Mal pro Monat Kontakt mit der/dem Jugendlichen hatten. Nur 1 Prozent der PatInnen gab an, im letzten Jahr keinen Kontakt mit der/dem Jugendlichen gehabt zu haben. Die Angaben hinsichtlich gemeinsamer Aktivitäten sind Abbildung 2 zu entnehmen. 67 Prozent der befragten PatInnen gaben an, die meiste Zeit mit ihrem Jugendlichen zu verbringen, indem sie ihnen beratend zur Seite stehen. 45 Prozent der befragten PatInnen gaben an, oft im Kontakt mit Behörden und Ämtern zu unterstützen. Weiters wurden auch Freizeitbeschäftigungen wie z. B. Sport, Kochen, etc. und gemeinsames Lernen genannt.
Abb. 2: Gemeinsame Aktivitäten
Hinsichtlich der Zufriedenheit mit der Patenschaft gaben 88 Prozent der befragten PatInnen an, sehr zufrieden oder zufrieden zu sein. Wie in Abbildung 3 ersichtlich ist, schätzten die PatInnen 1) Unterstützung in herausfordernden Situationen (79 %), 2) eine Vertrauensperson haben (76 %) und 3) sich austauschen (60 %) als die wichtigsten drei Aspekte in einer Patenschaft für die Jugendlichen ein. Während der Interviews wurden auch die Jugendlichen nach ihrer Sichtweise gefragt, ob es eine Situation gab, in der die Patenschaft für sie besonders wichtig gewesen ist. Hier kann allgemein gesagt werden, dass den Jugendlichen die
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Abb. 3: Wichtige Aspekte der Patenschaft aus Sicht der PatInnen
erhaltene Hilfestellung und Unterstützung im Schulwesen, beim Erlernen der deutschen Sprache und bei Behördenangelegenheiten sehr wichtig war. So sagten fast alle Jugendlichen, dass sie sich in schwierigen Situationen, bei Entscheidungsfindung und Sorgen immer an ihre PatInnen wenden würden, sich mit ihnen austauschen und um Rat fragen könnten. Auch wurde die Patenschaft als Ersatzfamilie angesehen, wobei Einzelne davon erzählten, dass diese Sicht leider nur einseitig sei und dies bei ihnen ein „Gefühl von Verwirrtheit und Schmerz“ auslöse. Weiters wurden die gemeinsamen Aktivitäten als besonders wichtig gesehen. In den Interviews wurden die PatInnen und die Jugendlichen gefragt, was sich in ihrem Leben durch die Patenschaft verändert hat. Auf die PatInnen wirkte sich die Patenschaft unterschiedlich aus. Die am häufigsten genannte Auswirkung war, dass der persönliche Horizont erweitert wurde und sich ihre Weltanschauung verändert hätte. Die PatInnen gaben unter anderem an, dass sie aufgrund der Patenschaft mehr Wissen über ein fremdes Land und mehr Ruhe im Leben hätten. Auch würden die eigenen Probleme relativiert. Einige PatInnen sagten außerdem, dass sie durch die Patenschaft ein großes Verantwortungsgefühl entwickelt hätten. Die Jugendlichen berichteten, genauso wie die PatInnen, von unterschiedlichen Auswirkungen auf ihr Leben. Die einen seien „froh durch die Patenschaft die Sprache nun besser lernen zu können“, die anderen hätten „jetzt einen Plan“ und würden in Bezug auf den Bildungsweg unterstützt. Es wurde auch berichtet, jetzt „einen Sinn im Leben zu haben“. Außerdem sei es „leichter mit Patenschaft“, „so ist’s besser“. Die neue „Familie“ durch die Patenschaft wurde von den Jugendlichen als positive Unterstützung wahrgenommen. Ein Jugendlicher
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Dagmar Strohmeier et al.
gab auch an, durch die Patenschaft einen „positiveren Eindruck von Österreich“ zu haben.
5.
Diskussion
In diesem Abschnitt wird die vorgestellte Evaluationsstudie zuerst methodenkritisch beleuchtet, danach wird ihr wissenschaftlicher Beitrag gewürdigt. Aufgrund der überaus hohen Rücklaufquote (74 %) der per E-Mail verschickten Fragebögen sind die im Rahmen der vorliegenden Studie gesammelten Informationen für die seit dem Jahr 2001 gestifteten Patenschaften sehr aussagekräftig. Die Wahl des Evaluationsdesigns im vorliegenden Projekt weist jedoch auch einige Nachteile auf. Eine methodische Schwäche ist beispielsweise die Datenerhebung zu einem einzigen Zeitpunkt. Ein längsschnittliches Untersuchungsdesign, z. B. vor dem Kennenlernen und nach dem Eingehen der Patenschaft in jährlichem Abstand, könnte interessante Hinweise hinsichtlich der Entwicklung der Patenschaften über die Zeit geben. Die einmalige Datenerhebung wurde aufgrund pragmatischer Überlegungen gewählt: Die meisten Patenschaften bestehen schon seit vielen Jahren und es wurde seit Projektgründung im Jahr 2001 noch keine empirische Studie durchgeführt. Eine weitere methodische Schwäche ist der Verzicht auf die Untersuchung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ohne Patenschaft, was die kausale Aussagekraft der vorliegenden Studie aufgrund des Mangels einer Kontrollgruppe einschränkt. Es ist nicht möglich, aus den Daten zu schließen, dass die Patenschaften ursächlich mit den berichteten Befunden in Beziehung stehen. Die gewonnenen Daten stammen sowohl von den PatInnen (N=101) als auch von den Jugendlichen (N=12). Die PatInnen wurden aufgrund der vorhandenen E-Mail-Adressen und Telefonnummern ausgewählt – ihnen wurde ein Fragebogen per E-Mail zugeschickt –, während die Jugendlichen gemeinsam mit ihren PatInnen für ein teilstrukturiertes Interview an die Universität Wien eingeladen wurden. Die Entscheidung, diese zwei Evaluationsstichproben zu untersuchen, wurde ebenfalls aufgrund pragmatischer Überlegungen gefällt, um durch die Befragung der PatInnen zu einer höheren Stichprobengröße zu gelangen. Dass diese Überlegung durchaus berechtigt war, zeigt der berichtete Befund, dass von 16 fixierten Interviewterminen mit den Jugendlichen letztlich nur 12 zustande kamen. Unser Ziel war es, durch die Kombination von quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden ein umfassendes Bild der Patenschaften zu erhalten. Darüber hinaus wäre es interessant, in zukünftigen Studien eine größere Stichprobe von Jugendlichen zu untersuchen. Allerdings sind für eine solche Studie hohe Zeitressourcen erforderlich, da die Jugendlichen mithilfe eines
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teilstrukturierten Interviews und nicht mithilfe eines quantitativen Fragebogens untersucht werden sollten, was naturgemäß mehr Zeit erfordert. Trotz dieser methodenkritischen Überlegungen leistet der vorliegende Beitrag zwei wichtige Beiträge. Erstens zeigt er eine mögliche Vorgehensweise für die Durchführung von Evaluationsstudien von sozialen Projekten und Initiativen auf. Unter Berücksichtigung des konkreten Anwendungsfalls werden vier allgemeingültige Schritte in der Evaluationsforschung illustriert. Egal welche Maßnahme oder soziale Initiative evaluiert wird, in der Evaluationsforschung müssen immer (1) Evaluationsziele, (2) messbare Indikatoren und Erfolgskriterien, (3) Evaluationsstichproben sowie (4) das Evaluationsdesign idealerweise gemeinsam mit den Projektverantwortlichen festgelegt werden. So kann sichergestellt werden, dass die empirische Studie nützliche und genaue Informationen über den zu bewertenden Gegenstand liefert. Zweitens liefert die vorliegende Studie erstmals systematisch Daten von 101 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die in Österreich leben und einen Paten bzw. eine Patin gefunden haben. Wie aus der Literaturübersicht deutlich wurde, gibt es auch im internationalen Vergleich sehr wenige Studien über unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Die im Rahmen der Evaluationsstudie gewonnenen Daten können somit auch als Ist-Stand-Erhebung der sozialen und ökonomischen Situation dieser Jugendlichen interpretiert werden. Unseres Wissens gibt es derzeit keine vergleichbare Studie in Österreich.
6.
Konklusion
Auch unter Berücksichtigung der methodenkritischen Anmerkungen sprechen die Ergebnisse der Evaluationsstudie insgesamt dafür, dass die von „Connecting People“ vermittelten Patenschaften aus der Sicht der PatInnen und der Jugendlichen gewinnbringend sind und einen wichtigen Beitrag zur sozio-ökonomischen Integration der Jugendlichen leisten. 1. Die von „Connecting People“ vermittelten Patenschaften bestehen im Mittel 2 12 Jahre, sehr häufig bestehen sie länger. Sowohl die hohe Anzahl der Patenschaften, die länger als drei Jahre andauern, als auch die Tatsache, dass in fast allen Fällen die Kontakte trotz Beendigung der Patenschaften aufrechterhalten werden, deutet auf die hohe Beständigkeit der durch „Connecting People“ initiierten Patenschaften hin. Gleichzeitig wurden in den letzten zwei Jahren viele neue Patenschaften begonnen. Dies deutet auf eine gute Annahme des Projekts hin. 2. Trotz der schwierigen rechtlichen Situation (nur 21 Prozent waren anerkannte Flüchtlinge) ist die sozio-ökonomische Integration der Jugendlichen sehr hoch. Die große Mehrheit der Jugendlichen hat einen Deutschkurs und die
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Dagmar Strohmeier et al.
Hauptschule abgeschlossen. Ein Fünftel der Jugendlichen befand sich in einer betrieblichen oder in einer über den AMS geförderten Lehre bzw. hat eine Lehre abgeschlossen, etwa ein Drittel der Jugendlichen besuchte eine mittlere oder höhere Schule bzw. hat diese abgeschlossen. Ein Drittel der Jugendlichen wohnte in einer Privatwohnung, knapp die Hälfte in Flüchtlingsunterkünften oder in einer betreuten Einrichtung für jugendliche Flüchtlinge. 3. Insgesamt sind die PatInnen sehr zufrieden mit dem Projekt „Connecting People“. Die durchgehend positiven Bewertungen von Connecting People durch die PatInnen zeugen von einer hohen Verbundenheit mit dem Projekt. Bei Problemen fühlen sich die PatInnen gut unterstützt, dies deutet darauf hin, dass die Betreuung in Notsituationen funktioniert. 4. Auch die Jugendlichen sehen das Projekt „Connecting People“ und ihre Patenschaften als sehr positiv. Die befragten Jugendlichen profitieren besonders von der Unterstützung im alltäglichen Leben in Österreich, die sie durch die PatInnen erhalten, zum Beispiel schulische Förderung, Begleitung bei Behördengängen und Unterstützung bei verschiedensten Problemen. Sowohl Jugendliche als auch PatInnen berichten häufig von einer familienähnlichen Beziehung zueinander. Hinsichtlich des Vorantreibens der Evidenzbasierung sozialer Projekte und Initiativen leistet die vorliegende Studie einen wertvollen Beitrag, da aufgrund mangelnder Ressourcen viele vergleichbare Projekte nicht evaluiert werden. Eine systematische, wissenschaftsgestützte Informationssammlung ist jedoch sowohl für die Bewertung als auch für die Weiterentwicklung von sozialen Projekten und Initiativen zentral. Insofern bleibt zu wünschen, dass auch andere NGOs Kooperationen mit Universitäten oder Fachhochschulen nutzen, um ihre wertvolle Arbeit, die zu einem Großteil ehrenamtlich geleistet wird, sichtbar zu machen und aus den gewonnenen Daten zu lernen.
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Kirkpatrick, Donald L. 1998: Evaluating Training Programs: The Four Levels, San Francisco (2nd ed.). Oppedal, Brit/Idsoe, Thormod 2012: ,Conduct problems and depression among unaccompanied refugees: The association with pre-migration trauma and acculturation‘, anales de psychologica, Vol. 28, Nr. 3, 683 – 694. Patry, Jean-Luc/Perrez, Meinrad 2000: ,Theorie-Praxis-Probleme und die Evaluation von Interventionsprogrammen‘, in Willi Hager/Jean-Luc Patry/Hermann Brezing (Hg.), Evaluation psychologischer Interventionsmaßnahmen. Standards und Kriterien, Bern, 19 – 40. Patton, Michael Quinn 1997: Utilization-Focused Evaluation: The New Century Text, Thousand Oaks, CA (3rd ed.). Seglem, Karolin B./Oppedal, Brit/Raeder, Sabine 2011: ,Predictors of depressive symptoms among resettled unaccompanied refugee minors‘, Scandinavian Journal of Psychology, Nr. 52, 457 – 464. Sourander, Andre 1998: ,Behavior problems and traumatic events of unaccompanied refugee minors‘, Child Abuse & Neglect, Vol. 22, Nr. 7, 719 – 727. Spiel, Christiane/Gradinger, Petra/Lüftenegger, Marko 2010: ,Grundlagen der Evaluationsforschung‘, in Heinz Holling/Bernhard Schmitz (Hg.), Handbuch Statistik, Methoden und Evaluation, Göttingen, 223 – 232. Spiel, Christiane/Lüftenegger, Marko/Gradinger, Petra/Reimann, Ralph 2010: ,Zielexplikation und Standards in der Evaluationsforschung‘, in Heinz Holling/Bernhard Schmitz (Hg.), Handbuch Statistik, Methoden und Evaluation, Göttingen, 252 – 260. Spiel, Christiane/Strohmeier, Dagmar 2006: ,Evaluation und Forschungsmethoden‘, in Ursula Kastner-Koller/Pia Deimann (Hg.), Psychologie als Wissenschaft, Wien, 217 – 237. Strohmeier, Dagmar 2010: ,Evaluation des Projekts „Connecting People“. Eine Lehrveranstaltung der anderen Art‘, asyl aktuell. Zeitschrift der asylkoordination österreich, Nr. 3, 22 – 25. UNHCR (2009). UNHCR Statistical Yearbook 2008, abgerufen am 13. 01. 2013 unter http:// www.unhcr.org/. UNHCR (2012). Protecting children on the move. Addressing protection needs through reception, counseling and referral, and enhancing cooperation in Greece, Italy and France. Project report: UNHCR.
Sprache
Wilfried Datler, Regina Studener-Kuras und Valentina Bruns
Das Vergnügen am Fremden und die Entwicklung von Kompetenzen im Bereich der Zweitsprache Deutsch. Aus dem Wiener Forschungsprojekt „Spracherwerb und lebensweltliche Mehrsprachigkeit im Kindergarten“
1.
Eine Szene aus einem Kindergarten
Zwei Mädchen, Betül und Dilek, befinden sich in einem Gruppenraum ihres Kindergartens und beschließen, eine Dose, in der sich Apfelchips befinden, von einem Regal zu holen, um einige dieser Chips zu naschen. Während die beiden genüsslich essen, gesellt sich ein etwas jüngeres Mädchen namens Sarah zu ihnen. Allem Anschein nach möchte auch sie einige Chips haben, doch wird ihr dies zunächst nicht leicht gemacht. Im Protokoll eines Studenten der Bildungswissenschaft, der die Mädchen im Zuge des Besuchs eines Forschungsseminars beobachtet hat, wird der Fortgang der Szene folgendermaßen geschildert: Betül und Dilek schauen zu Sarah und sagen zu ihr, dass sie zuerst Ingrid, die Kindergartenpädagogin, fragen müsse. Sarah bewegt sich aber nicht und schaut einfach auf die Chips. Betül wiederholt ihre Äußerung: „Du musst zuerst Ingrid fragen!“ Das Mädchen steht aber einfach nur da, sagt gar nichts und schaut Betül an. (S¸entepe 2011, 16/4)1
Das Mädchen, das wir Betül nennen2, ist fünf Jahre alt und die Tochter eines türkischen Elternpaares, das vor etwa vier Jahren nach Österreich kam. Da in Wien seit 2010 der zumindest halbtägige Besuch eines Kindergartens für alle Kinder im letzten Jahr vor dem Schuleintritt gesetzlich vorgeschrieben ist3, besucht auch Betül seit sechs Monaten jeden Vormittag den Kindergarten. Mit ihrem Eintritt in den Kindergarten sah sich Betül mit einer Vielzahl von Aspekten konfrontiert, die für das kleine Mädchen bis dahin fremd gewesen waren: Dass ihr zugemutet wurde, an fünf Tagen in der Woche mehrere Stunden 1 Zur Zitierung: Die erste Zahl nach der Jahreszahl 2011 gibt die Nummer des Beobachtungsprotokolls, die zweite die Seitenzahl des Protokolls wieder, auf der die zitierte Textpassage zu finden ist. 2 Alle in diesem Text vorkommenden Namen sind anonymisiert. 3 Vgl. insbesondere § 1, Wiener Frühförderungsgesetz, Landesgesetzblatt 2010/21.
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Wilfried Datler et al.
mit Kindern und Erwachsenen zu verbringen, die sie erst kennenlernen musste, zählte ebenso dazu wie die Erfahrung, dass Betül die meiste Zeit im Kindergarten ohne ihre Eltern verbringen musste, dass ihr die Personen zunächst unvertraut waren, die für sie in dieser Zeit Sorge trugen, und dass das interaktive Zusammenspiel im Kindergarten anderen Regeln folgte, als Betül es von zu Hause gewohnt war. Für Betül, die bislang primär mit Türkisch als Erstsprache vertraut war, klangen die vielen Sprachen, die von den anderen Kindern und Erwachsenen im Kindergarten gesprochen wurden, überdies fremd. Neu war für sie auch die Erwartung, sie möge doch bis zu ihrem Schuleintritt jene Deutschkenntnisse erwerben, die sie im darauffolgenden Herbst benötigen würde, wenn ihr Schulbesuch von Beginn an erfolgreich verlaufen sollte.
2.
Das Projekt „Spracherwerb und lebensweltliche Mehrsprachigkeit im Kindergarten“
Die Frage, wie Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund beim Erwerb der Zweitsprache Deutsch im Kontext ihres Kindergartenbesuchs gezielt unterstützt werden können, beschäftigt seit einiger Zeit mehrere Forschergruppen.4 Sie stellte auch eine der zentralen Fragestellungen dar, denen das Projekt „Spracherwerb und lebensweltliche Mehrsprachigkeit im Kindergarten“ gewidmet war, das zwischen 2010 und 2012 in Wien durchgeführt wurde.
2.1
Projektfinanzierung und Projektkooperationen
Im Jahr 2009 beauftragte die Stadt Wien den Verein „Zeit!Raum – Verein für soziokulturelle Arbeit“, Fragen zum frühkindlichen Spracherwerb zu untersuchen. Dabei galt es die sprachliche Situation von Kindern in Wiener Kindergärten sowie Möglichkeiten der Steigerung der professionellen Kompetenzen von KindergartenpädagogInnen auf dem Gebiet der Sprachförderung ins Zentrum der Studie zu rücken. In weiterer Folge wurde eine Kooperation mit dem Arbeitsbereich Psychoanalytische Pädagogik des Instituts für Bildungswissenschaft und dem Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien eingegangen und ein Projektleitungsteam gebildet, das sich aus Vertretern der Fachdisziplinen Bildungswissenschaft, Sprachwissenschaft und Psychologie zusammensetzte. Das Projekts wurde in enger Anbindung an bildungswissen4 Siehe dazu etwa die Publikationen von Albers (2009), Hormann/Koch (2011) sowie die Übersichtsarbeit von Pfeiffer/Scherzer (2012).
Das Vergnügen am Fremden
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schaftliche Forschungsseminare umgesetzt und bezog viele Studierende ein. Ein knappes Drittel der Studierenden hatte Türkisch als Erstsprache.5 Das Projekt fand überdies in Zusammenarbeit mit drei Kindergärten der Stadt Wien statt. Dies machte es möglich, dass insgesamt 48 Angehörige des Kindergartenpersonals (Leiterinnen, Kindergartenpädagoginnen und Assistentinnen) im Projekt mitwirkten und 297 Kindergartenkinder in die Untersuchung einbezogen wurden. 88,19 Prozent der Kinder verfügten über eine andere Erstsprachen als Deutsch. Die Erstsprache der Kindergartenpädagoginnen war durchwegs Deutsch, während 42,9 Prozent der Assistentinnen über eine andere Erstsprache als Deutsch verfügten (Datler et al. 2014).
2.2
Die Frage nach der Bedeutung von Emotionen und Beziehungserfahrungen
Die interdisziplinäre Zusammensetzung der Forschergruppe erlaubte die Entwicklung eines Projektdesigns, mit dem es möglich war, einzelnen Fragestellungen disziplinspezifisch nachzugehen und zugleich gemeinsam übergeordnete Forschungsinteressen zu verfolgen. Zu diesen übergeordneten Forschungsinteressen zählte insbesondere die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Zusammenspiel von Emotionen, Spracherwerb und Beziehungserfahrungen. Für die fokussierte Befassung mit dieser Thematik sprach erstens der Umstand, dass in einschlägigen Publikationen zwar immer wieder auf die Bedeutung von Emotionen für den Erwerb sprachlicher Kompetenzen verwiesen wird, während es an der eingehenden Untersuchung dieses Zusammenhangs mangelt. Zweitens ging das Forscherteam davon aus, dass die Sprache Deutsch als wesentliches Merkmal der – zunächst fremden – Kultur erlebt wird, mit der sich Familien mit Migrationshintergrund in Österreich konfrontiert finden, und dass das Ansinnen, Kinder dieser Familien mögen Deutsch lernen, unterschiedliche Emotionen bewusster und unbewusster Natur aktiviert, die mit den Migrationserfahrungen der einzelnen Familien eng verbunden sind und den Prozess der Aneignung von Deutsch erheblich beeinflussen (Brizic 2007, Winter-Heider 2009, Stieber/Peric 2011). Drittens ging das Projektteam vor dem Hintergrund psychoanalytischer Objektbeziehungstheorien davon aus, dass die Emotionen, die in Lernprozessen zum Tragen kommen, wesentlich von den Beziehungserfahrungen beeinflusst werden, die in der Lernsituation selbst ge5 In diesem Zusammenhang ist insbesondere Muhammed Onur S¸entepe zu danken, der im Rahmen der Erstellung der Einzelfallstudie „Betül“ als Beobachter fungierte, sowie Frau Esra S¸ims¸ek, die das Korrekturlesen der türkischsprachigen Passagen des vorliegenden Artikels übernahm.
130
Wilfried Datler et al.
macht werden (Salzberger-Wittenberg/Henry-Williams/Osborn 1997; Datler/ Bamberger/Studener 2000).
2.3
Die vier Teilprojekte
Das Projekt war in vier Teilprojekte gegliedert, die auch als Projektsäulen bezeichnet wurden und miteinander verschränkt waren. Im Zentrum der ersten Säule stand die Erhebung eines Sprachenprofils auf der Basis von Daten, die in den Kindergärten erhoben wurden. In diesem Zusammenhang wurde eine „linguistic landscape“ ausgearbeitet (Cenoz/Gorter 2008; Gorter/Marten/Mensel 2012), der Sprachstand der Kinder erfasst (Reich/ Roth 2004) und eruiert, welche Einstellungen die Eltern der erfassten Kinder sowie die Angehörigen des Kindergartenpersonals dem Phänomen der Mehrsprachigkeit gegenüber zum Ausdruck brachten. Die zweite Säule war dem Thema der Elternbegleitung im Kontext von Mehrsprachigkeit gewidmet. Überlegungen zur Zusammenarbeit mit den Familien der Kinder in Hinblick auf die Einleitung, Intensivierung und Gestaltung von Maßnahmen zur Sprachförderung standen hier im Fokus der Arbeit. Im Zentrum der dritten Säule lag die Weiterbildung des Personals der Kindergärten, mit denen kooperiert wurde. Die Ausarbeitung von vier Einzelfallstudien bildete die vierte Projektsäule, auf die wir im Folgenden näher eingehen werden.
3.
Die Einzelfallstudien
Die Einzelfallstudien eröffneten dem Projektteam die Möglichkeit, am Beispiel von vier Kindern differenzierter, als dies in quantitativ angelegten Studien im Regelfall möglich ist, zu untersuchen, wie Kinder während eines Kindergartenjahres die Begegnung mit der Zweitsprache Deutsch erleben. In diesem Zusammenhang sollte überdies untersucht werden, in welcher Weise die Entwicklung der sprachlichen Kompetenzen dieser Kinder im Bereich der Zweitsprache Deutsch mit Emotionen sowie mit den Beziehungserfahrungen zusammenhängt, die Kinder innerhalb dieses Jahres im Kindergarten machen. In das Zentrum der Untersuchung wurden zwei Mädchen und zwei Buben gerückt, deren Erstsprache Türkisch war. Alle vier Kinder, die im Projekt „Fokuskinder“ genannt wurden, verfügten über lediglich geringe Deutschkenntnisse und waren zu Projektbeginn neu in den Kindergarten eingetreten. Zwischen September 2009 und Juni 2010 wurden verschiedene Alltagsituationen erfasst, in die diese vier Fokuskinder eingebunden waren, und in ersten
Das Vergnügen am Fremden
131
Ansätzen analysiert. Dazu zählten Situationen, die speziell zur Förderung sprachlicher Kompetenzen von Kindern arrangiert wurden und in den Kindergärten zumeist als „Sprachfördereinheiten“ bezeichnet werden. Solche Situationen wurden vom Projektteam – etwas unscharf – als „didaktisch strukturierte Situationen der Sprachförderung“ bezeichnet. Darüber hinaus wurden aber auch andere Situationen dokumentiert, die sich im Alltagsgeschehen der Kindergärten ereigneten. All dies erfolgte durch den Einsatz von Videographie und Young Child Observation.
3.1
Der Einsatz von Videographie
Ähnlich wie in anderen Studien, in denen Interaktionen in Kindergärten untersucht wurden (König 2009, Hormann/Koch 2011, Ricart Brede 2011), kam es auch im Projekt „Spracherwerb und lebensweltliche Mehrsprachigkeit im Kindergarten“ zum Einsatz von Videographie. Im Abstand von zwei bis drei Wochen wurden von Studierenden der Bildungswissenschaft in den Kindergärten, mit denen kooperiert wurde, Videoaufnahmen gemacht. Diese Videoaufnahmen wurden unter Zuhilfenahme des EXMARaLDA Partitur-Editors6 nach der HIAT-Konvention7 transkribiert (Rehbein et al. 2004), wobei die türkisch gesprochenen Passagen sowohl im türkischen Wortlaut als auch in deutscher Übersetzung in den Transkripten festgehalten wurden. Die sprachlichen Äußerungen der Fokuskinder wurden ebenso wie die sprachlichen Äußerungen jener Personen, die mit diesen Kindern in sprachliche Interaktion getreten waren, unter Zuhilfenahme eines Kategoriensystems kodiert, das in Auseinandersetzung mit bereits vorliegenden Untersuchungen entwickelt wurde (Pfeiffer/Scherzer 2012). Dies sollte dem Projektteam in einer ersten Auswertungsphase die Möglichkeit eröffnen, die sprachlichen Äußerungen der Fokuskinder sowie die sprachlichen Interaktionen zwischen den Fokuskindern und ihren Betreuerinnen und Peers nach Gesichtspunkten der empirisch6 EXMARaLDA steht für ein System zur „computergestützte[n] Transkription und Annotation gesprochener Sprache“, das auch zur Auswertung der Inhalte solcher Transkriptionen herangezogen werden kann. Der EXMARaLDA Partitur-Editor stellt ein Werkzeug zum Eingeben und Editieren von EXMARaLDA-Transkriptionen dar, das verwendet wird, wenn das Transkribierte in eine Partitur-ähnliche Form gebracht werden soll (Hedeland/Schmidt/Wörner 2013). 7 HIAT bezeichnet ein Regelsystem zur Erstellung von „halbinterpretativen Arbeitstranskriptionen“, das in den 1970er-Jahren von Konrad Ehlich (Ludwig-Maximilians-Universität München) und Jochen Rehbein (Universität Hamburg) entwickelt wurde (Rehbein et al. 2004). Oft wird in linguistischen Forschungsprojekten nach HIAT transkribiert, wenn die Verschriftlichung von gesprochener Sprache beispielsweise diskursanalytisch untersucht werden soll.
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Wilfried Datler et al.
quantitativen Forschung näher zu untersuchen. Es ist geplant, die Inhalte der Videoaufnahmen unter Zuhilfenahme der erstellten Transkripte in späteren Arbeitsphasen aber auch nach Gesichtspunkten der qualitativen Forschung zu analysieren. Dabei wird eine Verschränkung mit den Ergebnissen der Analyse jener Primärdaten angestrebt, die durch den Einsatz von Young Child Observation gewonnen wurden.
3.2
Young Child Observation
Da im Projekt der Bedeutung von Emotionen großes Interesse entgegengebracht wurde, kam auch die Methode der „Young Child Observation“ zum Einsatz, mit der bereits in vorausgegangenen Wiener Projekten erfolgreich gearbeitet wurde (Datler/Datler/Funder 2010, Datler et al. 2012). Diese ethnographische Forschungsmethode stellt eine Variation der Methode der „Infant Observation“ dar, die an der Tavistock Clinic in London entwickelt wurde (Datler 2009), und wird – ebenso wie andere Beobachtungsmethoden, die dem Tavistock-Konzept folgen – in zunehmendem Ausmaß auch international in Forschungsprojekten angewendet (Trunkenpolz et al. 2009, Elfer 2011, Urwin/Sternberg 2012). Im Sinne dieses Konzepts gingen zwei Beobachter und zwei Beobachterinnen einmal in der Woche in einen jener Kindergärten, mit denen kooperiert wurde, um eines der Fokuskinder eine Stunde lang zu beobachten. Während der Beobachtungen hatten die BeobachterInnen, die allesamt des Deutschen und des Türkischen mächtig waren, die Aufgabe, aus einer zurückhaltenden Position heraus konzentriert wahrzunehmen, wie sich das jeweils beobachtete Kind verhielt und in welche Interaktionen es eingebunden war. Anschließend wurde über das Beobachtete ein möglichst deskriptiv gehaltener Bericht verfasst. Die so entstandenen Berichte, die „Beobachtungsprotokolle“ genannt werden, wurden in einem wöchentlich stattfindenden Kleingruppenseminar vorgestellt, das von Regina Studener-Kuras in Zusammenarbeit mit Wilfried Datler geleitet wurde und an dem – neben weiteren Mitgliedern des Projektleitungsteams – alle vier Beobachter teilnahmen. Nachdem ein Protokoll vorgelesen worden war, ging das Seminarteam den vorgestellten Text Zeile für Zeile und Absatz für Absatz durch, um jeweils zu fragen, wie das Fokuskind in dem beschriebenen Moment sich und andere erlebt haben mag, wie vor diesem Hintergrund das Verhalten des Kindes verstanden werden kann, welche (Beziehungs-)Erfahrungen das Kind dabei machte und welchen Einfluss diese Erfahrungen auf das Erleben des Kindes gehabt haben dürfte. Nachdem in dieser Weise von September 2010 bis Juni 2011 gearbeitet worden war, wurden die Protokolle nach einer vorgegebenen Abfolge von Arbeitsphasen
Das Vergnügen am Fremden
133
und Arbeitsschritten nochmals bearbeitet. Dabei wurde auf die Forschungsfragen des Projekts in weit stärkerem Ausmaß explizit Bezug genommen, um so eine geeignete Ausgangsbasis für die Abfassung der Einzelfallstudien zu schaffen (Datler et al. 2013).
3.3
Der Umfang der Primärdaten
Während des Projekts wurden insgesamt 104 Young-Child-Observation-Protokolle verfasst und 42 Videoaufnahmen gemacht. Insgesamt kam es dadurch zur Dokumentation von 150 Stunden Kindergartenalltag. Abbildung 1 ist zu entnehmen, dass zu jedem Kind ähnlich viele Protokolle und Videoaufnahmen existieren: Zu jedem Fokuskind wurden zwischen 9 und 12 Videoaufnahmen unterschiedlicher Länge gemacht sowie zwischen 23 und 29 Beobachtungsprotokolle geschrieben (Abb. 1).
Abb. 1: Anzahl der Videoaufnahmen und Beobachtungen der Fokuskinder (FK 1 – 4)
4.
Zurück zu Betül: Vergnügen an der Aneignung der zunächst fremden Sprache Deutsch
Die Darstellung der Szene, mit der wir diesen Beitrag begonnen haben, entstammt einem Beobachtungsprotokoll, das in Hinblick auf die Ausarbeitung einer Einzelfallstudie verfasst wurde. Das Mädchen Betül, von dem erzählt wird, ist eines der vier Fokuskinder des Projekts. Dem eingangs zitierten Protokollausschnitt konnte freilich nicht entnommen werden, dass die Mädchen in der geschilderten Szene türkisch miteinander sprachen, denn die Wiedergabe des kursiv gedruckten Satzes ,Du musst zuerst Ingrid fragen!‘ ist bereits das Ergebnis einer Übersetzung. In der Szene, die eingangs beschrieben wurde, beginnen sich die Mädchen allerdings bereits mit der Frage zu beschäftigen, wie sie sich in der Situation, die sich ergeben hat, der deutschen Sprache korrekt bedienen können.
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Wilfried Datler et al.
Zur Erinnerung: Als Sarah den beiden älteren Mädchen zu verstehen gibt, dass sie ebenfalls Apfelchips aus der Dose essen möchte, wird ihr von den beiden älteren Mädchen Betül und Dilek mitgeteilt, dass Sarah zuerst Ingrid, die Kindergartenpädagogin, um Erlaubnis fragen müsse. Dem Protokoll, in dem die türkisch gesprochenen Passagen im Original samt Übersetzung wiedergegeben sind, ist zu entnehmen, dass sich Dilek in weiterer Folge mit einem Sportgerät zu beschäftigen beginnt, während Betüls Aufmerksamkeit weiterhin Sarah gilt: Betül sagt: „Gel, Dilek gidelim ve nasıl sorman gerektig˘ini ög˘renelim!“ [„Komm, gehen wir zu Dilek und fragen wir sie, wie du es sagen musst!“] Betül nimmt Sarah an der Hand und sie gehen Hand in Hand zu Dilek. Dilek trainiert gerade auf einem Sportgerät. Betül stellt sich vor Dilek, greift das Sportgerät mit beiden Händen und sagt zu Dilek: „Dilek, bu elma yemek istiyor ama Ingrid’e nasıl söylemesi gerektig˘ini bilmiyor. Bi gelsene!“ [„Dilek, sie möchte Äpfel essen, weiß aber nicht, wie sie das sagen soll, kannst du mal kommen!“] Betül läuft zurück zum Regal, wo sich die Dose befindet. Dilek und Sarah laufen hinterher. Sie stehen nun neben der Dose. Cidem, ein anderes Mädchen, das schon neben der Dose stand, sagt: „Nasıl söylemen lazım biliyormusun?“ [„Weißt du, wie du es sagen musst?“] Betül antwortet: „Ich will Apfel essen.“ Dilek wackelt mit ihrem Kopf und bringt damit zum Ausdruck, dass das falsch ist. Betül fragt: „Nasıl söylemesi lazım?“ [„Wie muss sie es sagen?“] Dilek sagt: „Darf ich bitte ein Apfel nehmen?“ (S¸entepe 2011, 16/4)
Es wäre lohnenswert, diesen Protokollausschnitt unter mehreren Gesichtspunkten zu analysieren. Im Kontext dieses Beitrags möchten wir die Aufmerksamkeit allerdings primär auf die Intensität und Beharrlichkeit lenken, mit der Betül herauszufinden versucht, in welcher Weise die Kindergartenpädagogin in korrektem Deutsch gefragt werden muss, ob Apfelchips aus der Dose genommen und gegessen werden dürfen. Es ist nämlich Betül, die von Beginn an auf die Klärung dieser Frage drängt, und es ist Betül, die Dilek in die Gruppe zurückholt, um von deren fortgeschrittenen Deutschkenntnissen zu profitieren. Allem Anschein nach, so ist dem nachfolgenden Protokollausschnitt zu entnehmen, ist es Betüls Absicht, die Kindergartenpädagogin selbst in korrektem Deutsch anzusprechen. Um dafür ausreichend gut gerüstet zu sein, begibt sich Betül in die Rolle der älteren, fürsorglichen Freundin. Dies erlaubt es ihr, jene Informationen vordergründig für Sarah einzuholen, die Betül letztlich für sich selbst benötigt. Als sie über diese Informationen verfügt, bietet sie sich an, stellvertretend für Sarah zu sprechen: Betül sagt zu Sarah, die gerne Apfelchips essen will: „Gel, gidelim ben senin iÅin söylerim!“ [„Komm, gehen wir, ich kann es für dich sagen!“]
Betül hält wieder die Hand des Mädchens und zerrt sie bis zu Frau L. Diese steht inzwischen vor der Tür und spricht mit jemandem. Betül stellt sich vor sie hin,
Das Vergnügen am Fremden
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klopft mit der Hand auf ihren Bauch und sagt zwei Mal: „Frau L.8, Frau L.!“ Frau L. ist aber beschäftigt und antwortet ihr nicht. Inzwischen ist das andere Mädchen schon weg und Betül hört auf, nach Frau L. zu rufen, und schaut nach dem Mädchen, das vorhin noch da war. Betül geht wieder zurück zum Regal, wo sich die Dose befindet und die Freundinnen sich mit den Apfelchips vergnügen. Betül isst mit ihnen weiter. Sarah steht mittlerweile auch wieder dort. Betül sagt: „Bitane al birs¸ey olmaz!“ [„Nimm ein Stück, es passiert eh nichts!“] und hält ihr die Dose hin. Das Kind greift hinein und nimmt sich einen Apfelchip heraus. Plötzlich geht aber Frau L. vorbei. Sarah sagt ganz schnell zu ihr : „Haben Afls.“ und zeigt mit der Hand auf die Dose. Frau L. hat verstanden, was Sarah sagen wollte, sagt: „Ja.“ und entfernt sich von den Mädchen. (S¸entepe 2011, 16/5)
Aus der Sicht der Pädagogin müssen die Kinder also gar nicht erst um Erlaubnis fragen, ehe sie von den Apfelchips essen dürfen. Dies stützt abermals die Annahme, dass Betül die kleine Sarah zusehends benutzt, um sich selbst in korrektem Deutsch an die Pädagogin Ingrid, die im Protokoll auch Frau L. genannt wird, wenden zu können. Denn allem Anschein nach bereitet Betül die Vorstellung, Ingrid in korrektem Deutsch anzusprechen, durchaus Vergnügen und motiviert sie auch dazu, sich aus eigenem Antrieb um die Aneignung der entsprechenden Formulierungen zu bemühen. Auch manch andere Protokollausschnitte deuten darauf hin, dass Betül – ähnlich wie ihre Türkisch sprechenden Freundinnen – immer wieder Vergnügen daran findet, mit der Zweitsprache Deutsch vertraut zu werden und sie zu nutzen. Dies ist der Beschreibung von verschiedenen Szenen zu entnehmen, in denen die Kinder singen, tanzen oder mit Fingerspielen beschäftigt sind.
5.
Ein Perspektivenwechsel
Protokollausschnitte wie die eben zitierten könnten die Vermutung nahelegen, dass dieses Vergnügen an der Aneignung und am Gebrauch der Zweitsprache Deutsch seine Entsprechung in der Art und Weise findet, in der die Kindergartenpädagoginnen die zunächst fremde Sprache Deutsch den Kindern nahebringen. Bemerkenswerterweise finden sich dafür aber kaum Belege. Stattdessen ist zweierlei festzuhalten: (a) In den Sprachfördereinheiten, in denen den Kindern gezielt die Zweitsprache Deutsch nahegebracht werden soll, nehmen die Sprachförderassistentinnen kaum darauf Bezug, was die Kinder emotional bewegt, um ihnen auf diese Weise die Möglichkeit zu eröffnen, die Entwicklung sprachlicher Kompetenzen 8 Betül spricht Frau L. mit vollem Namen an. Aus Gründen der Anonymisierung wird dieser hier zu „Frau L.“ verkürzt.
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im Bereich der Zweitsprache Deutsch als etwas emotional Bedeutsames oder gar Lustvolles zu erleben. Charakteristisch für die Gestaltung von „didaktisch strukturierten Sprachfördersituationen“ ist vielmehr die Situation, die im folgenden Protokollausschnitt wiedergegeben wird und die sich dadurch auszeichnet, dass Betül gleichsam abgeprüft wird, ob sie bereits Farben in deutscher Sprache benennen kann: Als Betül mit dem Malen beginnt, setzt sich Frau L. auf ihre linke Seite und macht sich einige Notizen. Dann fragt sie Betül zu ihrer Zeichnung, die sie eben gemalt hat: „Was ist das?“ Betül antwortet: „Blume.“ Frau L. fragt weiter : „Welche Farbe ist das?“ Betül: „Rot.“ Frau L.: „Und das?“ Betül: „Rosa.“ Frau L. zeigt auf den Kugelschreiber, den sie in der Hand hat, und fragt noch einmal: „Und welche Farbe ist das?“ Betül: „Blau.“ Frau L.: „Und das?“ Betül: „Weiß.“
Dann zeigt Betül mit der linken Hand auf das T-Shirt von Frau L. und sagt: „Grün!“ Frau L. korrigiert: „Gelbgrün.“ (S¸entepe 2011, 7/3) Den Kommentaren des Beobachters zufolge antwortet Betül lustlos, was Frau L. allerdings nicht dazu veranlasst, ein anderes, Betül bewegendes Thema in das Zentrum der Sprachförderbemühungen zu rücken. Da wird Betül aktiv und holt sich einen Buntstift in genau der Farbe, von der eben die Rede war. Sie beginnt zu zeichnen und wendet sich dabei der Pädagogin zu, als wollte sie nun in einen lebendigeren Kontakt mit ihr kommen: Plötzlich steht Betül auf und geht zum Bastelregal, holt sich aus dem Becher einen grünen Buntstift, kommt wieder zurück, setzt sich auf ihren Platz und beginnt sofort mit der grünen Farbe weiterzumalen. Diesmal sitzt Betül aber etwas anders als zuvor, und zwar so, dass sich das linke Sesselbein zwischen ihren beiden Füßen befindet. Sie ist also mit dem Körper etwas nach links zu Frau L. gedreht und sitzt genau auf dem linken Sesselbein.“ (S¸entepe 2011, 7/3)
Frau L. greift dieses Signal aber keineswegs auf und zeigt keine Bemühungen, sich beispielsweise in deutscher Sprache darüber zu erkundigen, was Betül zu zeichnen beginnt. Im Protokoll ist vielmehr zu lesen: „Plötzlich steht Frau L. auf und geht weg.“ (S¸entepe 2011, 7/3)
(b) Dem vorliegenden Material zufolge werden die Pädagoginnen auch außerhalb solcher Sprachfördereinheiten kaum initiativ, um den Kindern die Erfahrung zu vermitteln, dass es befriedigend sein kann, sich in der Zweitsprache über emotional Bedeutsames mit den Pädagoginnen oder mit anderen Kindern auszutauschen. Dies dürfte dazu beitragen, dass fünf bis sechs türkisch sprechende Mädchen, zu denen auch Betül, Dilek und Sarah zählen, ein intensives Gefühl von Zusammengehörigkeit entwickeln, im Kindergarten viel Zeit miteinander verbringen und dabei (naheliegenderweise) primär Türkisch sprechen, als würden sie das Erleben und Teilen von Vertrautem dann doch der intensiveren Kon-
Das Vergnügen am Fremden
137
frontation mit dem Neuen vorziehen. Dabei können die Mädchen zwar die Erfahrung machen, dass die Verwendung ihrer Erstsprache im Kindergarten nicht negativ sanktioniert wird, zugleich wird aber vonseiten der Pädagoginnen das aufkeimende Interesse an der Aneignung der Zweitsprache Deutsch in wesentlichen Punkten nicht gefördert und genutzt – und vielleicht auch gar nicht recht wahrgenommen. Das aufkeimende und von Vergnügen begleitete Interesse der Kinder, Kompetenzen im Bereich der Zweitsprache Deutsch zu entwickeln, bleibt in dieser Hinsicht über weite Strecken brachliegen. Abbildung 2 zeigt, dass dem entsprechend der prozentuale Anteil der Sprechakte Betüls, die in ihrer Zweitsprache getätigt werden, in „didaktisch strukturierten Sprachfördersituationen“ immerhin bei 30 Prozent, in „didaktisch unstrukturierten Alltagssituationen“ hingegen nur bei 4 Prozent liegt (vgl. Abb. 2).
Abb. 2: Prozentualer Anteil von Betüls Sprechakten in ihrer Erst- und Zweitsprache in „didaktisch strukturierten“ und „didaktisch unstrukturierten“ Situationen.a)a)Dass keine der Säulen die 100-Prozent-Marke erreicht, hängt damit zusammen, dass manche sprachlichen Äußerungen, die videographisch erfasst wurden, nicht klar zu verstehen waren, etwa weil Betül zu leise sprach oder Hintergrundgeräusche zu laut waren.
Dies korrespondiert mit der Art der Sprechakte, mit denen die Pädagoginnen und Assistentinnen – dem Datenmaterial zufolge – mit den Kindern in Interaktion treten: So finden sich im Datenmaterial der Einzelfallstudien kaum Passagen, in denen Gespräche im Sinne eines dialogischen Austausches zwischen Erwachsenen und Kindern geführt werden, die auf bestimmte Interessen des Kindes gerichtet sind und über einen längeren Zeitraum hinweg andauern. Dagegen findet sich in den Materialien eine Vielzahl von Aufforderungen, die an Kinder gerichtet werden (wie beispielsweise die Aufforderung, die Hände zu waschen, Schuhe anzuziehen etc.), sowie Ermahnungen und Zurechtweisungen. Erklärungen, welche Bastelaktivitäten betreffen, sowie Anleitungen zu Brettspielen stellen weitere Sprechhandlungen dar, welche für das interaktive Geschehen zwischen Pädagoginnen und Kindern charakteristisch sind. In all
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diesen Situationen finden sich kaum Sequenzen, in denen die Kinder verbal antworten. Folgt man in diesem Zusammenhang – etwa mit Albers (2009), Koch/ Jüttner (2010) oder Hormann/Koch (2011) – der Annahme, dass es der Aneignung von Kompetenzen im Bereich der Zweitsprache dienlich ist, wenn Kinder in dynamische Gespräche in der Zweitsprache verwickelt werden, und hält man sich vor Augen, dass es diesen Studien zufolge weniger hilfreich ist, wenn primär Aufforderungen, Ermahnungen oder Erinnerungen an einzuhaltende Regeln an Kinder gerichtet werden, so deutet dies auf einige Ressourcen hin, die es auf dem Gebiet der Sprachförderung im Kontext Kindergarten noch zu erschließen gilt. Auf solche Ressourcen verweisen auch die Arbeiten von Jeuk (2003) oder Lengyel (2009), denen zufolge an Kinder komplex gehaltene Sprechakthandlungen gerichtet werden sollten, um ihnen auf diese Weise komplexe sprachliche Strukturen nahezubringen. Vor diesem Hintergrund sind auch die Ergebnisse der Auswertung der Videodaten von Interesse, die in Abbildung 3 dargestellt sind. Demnach vernimmt ein Kind wie Betül primär Hauptsätze ohne Nebensätze oder Einwortäußerungen, wenn es von Pädagoginnen oder Assistentinnen angesprochen wird, gefolgt von nicht-satzwertigen Mehrwortäußerungen. Satzgefüge mit Haupt- und Nebensätzen (und somit auch mit Konjunktionen wie weil, da, nachdem, bevor, obwohl etc.) bekommt es hingegen kaum zu hören.
Abb. 3: Komplexität der Sprechakthandlungen der Pädagoginnen
Darüber hinaus gibt Abbildung 3 zu erkennen, dass sich während des Projektjahres der Komplexitätsgrad der Äußerungen, welche die Pädagoginnen und Assistentinnen an Betül richteten, kaum veränderte. Dieser Befund ist angesichts der Tatsache von Interesse, dass die dritte Projektsäule der Weiterqualifizierung des Kindergartenpersonals diente: Die Pädagoginnen des Kindergartens, der von Betül besucht wurde, befanden sich während des Arbeitsjahres, in dem das Projekt lief, in einer Form von Weiterbildung, in deren Zentrum Sprachförderung stand.
Das Vergnügen am Fremden
6.
139
Eine abschließende Bemerkung zum Thema der Weiterbildung von Pädagoginnen
In den Projektmaterialien finden sich deutliche Hinweise darauf, dass die Pädagoginnen den Eindruck hatten, von der Weiterbildung viel profitiert zu haben. Entsprechende Veränderungen im Bereich der tagtäglichen Praxis können in den Projektmaterialien allerdings kaum ausgemacht werden. Freilich wurde Vergleichbares bereits in anderen Studien gefunden (Miltner 2002) und überrascht nicht besonders, wenn man bedenkt, dass die Zeit, in der das Projektdesign ausgearbeitet wurde, knapp bemessen war. Die Weiterbildung der Pädagoginnen war zwar überdurchschnittlich umfangreich, doch konnte kein Konzept realisiert werden, in dem ausreichend kontinuierlich und engmaschig an der Frage gearbeitet wurde, wie die Inhalte der Weiterbildung in die Alltagsarbeit der Kindergärten einfließen können und welche Hindernisse bearbeitet werden müssen, damit die Qualität der Alltagsarbeit im Kontext von Mehrsprachigkeit und Sprachförderung sichtbar wächst. In Folgeprojekten ist daher besonders stark darauf zu achten, dass sich Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung von Pädagoginnen auch auf dem Gebiet der Sprachförderung durch die Vermittlung und Erarbeitung von Wissensinhalten sowie in Verschränkung damit auch durch eine kontinuierliche Thematisierung und Bearbeitung von Alltagspraxis auszuzeichnen haben, wenn Aus- und Weiterbildung zu einer Verbesserung der Alltagsarbeit führen soll. Entsprechende Erfahrungen konnten in anderen Projekten bereits gesammelt werden (Fürstaller/Funder/Datler 2012).
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140
Wilfried Datler et al.
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Rudolf de Cillia und Niku Dorostkar
Integration und/durch Sprache
1.
Vorbemerkung
Sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch im offiziellen Politikerdiskurs wird Österreich als „Staatsnation“ oder als „Willens- und Konsensualnation“ konzipiert, für deren Selbstverständnis die gemeinsame Staatssprache nicht relevant ist: Die Experten sagen, wir Österreicher sind eine „Willensnation“. Das heißt, dass nicht eine gemeinsame Sprache, Kultur, Abstammung unser Österreichsein bestimmt, sondern allein der Wille zu dieser Gemeinsamkeit. Und ich finde das ein großartiges Fundament, denn es grenzt sich […] von niemandem ab, und es grenzt niemanden aus (Thomas Klestil in einer Rede aus Anlass des „Österreich-Festes“ in Neuhofen an der Ybbs, am 19. 05. 1996, zitiert nach Wodak et al. 1998, 177).
Ähnliche Befunde ergeben sozialwissenschaftliche Umfragen unter ÖsterreicherInnen (Fessel-Gfk 2004; Bruckmüller 1994), die mehrheitlich der Meinung sind, dass nicht die gemeinsame Volks-, Kultur- und Sprachzugehörigkeit, sondern vielmehr der österreichische Pass das Österreichersein ausmacht. Allerdings legen empirische Diskursanalysen nach dem diskurshistorischen Ansatz den Schluss nahe, dass es sich bei diesem idealtypischen Verständnis von Österreich als „Staatsnation“ im Gegensatz zur „Kulturnation“ um eine „politisch korrekte Wunschvorstellung“ handelt (Reisigl 2011, 469). Denn nicht nur im öffentlichen Diskurs (Gedenkreden, politische Werbung, Printmedien), sondern vor allem auch im halb-privaten Diskurs (Gruppendiskussionen, Einzelinterviews) findet sich neben der staatsnationalen auch die kulturnationale Konzeption von Österreich wieder, deren Grundlage das Österreichische im Unterschied zum Bundesdeutschen ist (Wodak et al. 1998; Wodak et al. 2009). Die deutsche Sprache spielt damit sowohl in historischer als auch in diskursiver Hinsicht eine ambivalente Rolle im österreichischen Nationalbewusstsein.1 1 So wurde die deutsche Sprache bereits in der Verfassung der Ersten Republik als Staatssprache
144
Rudolf de Cillia und Niku Dorostkar
Im Kontext der Integration von Zuwanderern wird die deutsche Sprache dagegen zusehends als der kulturelle Kristallisationspunkt schlechthin verstanden. Einen Wendepunkt in dieser Hinsicht stellt die Entwicklung seit den 1990er-Jahren dar, seit denen Drittstaatsangehörigen im politischen Diskurs, vor allem in Wahlkämpfen, vermehrt Deutschkenntnisse als Integrationsvoraussetzung abverlangt werden. Diese zunehmende Verknüpfung von Sprache und Integration im migrationspolitischen Diskurs spiegelt sich mittlerweile auch in entsprechenden Gesetzen wie dem Staatsbürgerschaftsgesetz und der „Integrationsvereinbarung“ wider. Mit dem diskurshistorischen Ansatz der kritischen Diskursanalyse wird im Folgenden die wachsende Bedeutung der deutschen Sprache im österreichischen Diskurs über Integration unter Anwendung interdisziplinärer Methoden nachgezeichnet, wobei wir Widersprüche, Unstimmigkeiten und gesellschaftliche Schieflagen rund um das Diskursthema aufdecken und analysieren möchten.
2.
Der diskurshistorische Ansatz der Wiener Kritischen Diskursanalyse
Was Theorie und Methode betrifft, orientieren wir uns im Folgenden am diskurshistorischen Ansatz (DHA), der während mehrerer Studien am Wiener Institut für Sprachwissenschaft entstand und weiterentwickelt wurde (u. a. Wodak et al. 1998; Wodak et al. 2009). In theoretischer Hinsicht bezeichnet „Diskurs“ aus Sicht des DHA ein kontextabhängiges Bündel semiotischer (vor allem sprachlicher) Praktiken, das auf ein Makrothema bezogen und diachronem Wandel unterworfen ist (Reisigl/Wodak 2009, 89; Reisigl 2011, 479 – 481). Neben der Themenbezogenheit ist auch der Handlungs- und Praxisbezug von Diskursen hervorzuheben, „Diskurs“ wird also als eine Form sozialer Praxis begriffen, die sich in unterschiedlichsten Arten von Texten und semiotischen Dokumenten, schriftlichen oder mündlichen, visuellen oder akustischen, öffentlichen oder privaten etc. äußert. Charakteristisch sind außerdem die Problem- und Geltungsbezogenheit und damit der Gebrauch von Argumenten im Diskurs. Zu den Geltungsansprüchen, die in Diskursen argumentativ ausgehandelt werden, zählt vor allem die Berufung auf Wahrheit und normative Richtigkeit. Ein Diskurs manifestiert sich also in Texten zu einem gemeinsamen, übergeordneten Thema (einem Makrothema mit mehreren Subthemen), kann aber auch eine Verbindung mit einem Diskurs über ein anderes Makrothema verankert, um – so der Motivenbericht – „unsere Eigenschaft als deutscher Nationalstaat“ zum Ausdruck zu bringen (Stourzh 1990, 31 – 32).
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eingehen, wie das etwa beim Diskurs über Sprache und Migration bzw. Integration der Fall ist. In methodischer Hinsicht legt der diskurshistorische Ansatz Wert darauf, Diskurse in ihrem historischen bzw. sozio-politischen Kontext zu untersuchen, was sich zumeist in einer interdisziplinären Vorgangsweise niederschlägt. Für die konkrete Textanalyse sieht der DHA mehrere Schritte vor: Neben der Untersuchung der (Sub-)Themen eines Diskurses sowie der sprachlichen Mittel und Realisierungsformen geht es hierbei vor allem um die Analyse von diskursiven Strategien (insbesondere von Nominations-, Prädikations- und Argumentationsstrategien). Am Beispiel des sprachenpolitischen Diskurses können wir mithilfe des DHA also der Frage nachgehen, wie in Österreich Personen(gruppen) und Objekte in Bezug auf das Thema „Sprache und Integration“ bezeichnet bzw. benannt werden, wie sie charakterisiert werden (durch Zuweisung eher positiver oder negativer Eigenschaften) und welche Topoi in den Argumentationen der DiskursteilnehmerInnen zu diesem Thema vorherrschen. Zu diesem Zweck werden wir mehrere Diskursausschnitte präsentieren, die aus vorangegangen Studien nach dem DHA stammen (u. a. de Cillia/Wodak 2006/2009; Dorostkar 2014; Wodak et al. 1998/2009). Sie wurden ausgewählt, um sie im vorliegenden Beitrag in Hinblick auf das Thema „Sprache und Integration“ zu analysieren. Das auf diese Weise entstandene Korpus umfasst neben der eingangs zitierten Rede Wahlkampfmaterialien (Plakate, Inserate, Flyer) mehrerer österreichischer Parlamentsparteien, ein Positionspapier der SPÖ Wien sowie Gesetzestexte und Online- bzw. Printmedienartikel. Das Korpus erhebt allerdings nicht den Anspruch auf Repräsentativität im quantitativ-statistischen Sinn, da wir nicht korpuslinguistisch, sondern qualitativ-diskursanalytisch arbeiten. Das Datenmaterial verwenden wir im Folgenden dazu, die Argumentationslinien im Diskurs über Sprache und Integration nachzuzeichnen und kritisch zu beleuchten.
3.
Sprache – Nation – Integration
Das Verhältnis zwischen spezifischen diskursiven Handlungen und den Situationen, Institutionen und sozialen Strukturen, die diese sprachlichen Handlungen rahmen, wird in der kritischen Diskursanalyse als dialektisches angesehen. Einerseits formt und prägt der situationale, institutionelle und soziale Kontext den Diskurs, andererseits wirkt der Diskurs auf die soziale und gesellschaftliche Wirklichkeit formend zurück, z. B. auf die Gesetzgebung, wo dann Gesetze wie die Integrationsvereinbarung die Folge diskursiver Auseinandersetzungen über die Rolle der Staatssprache für die nationale Identität sind. Das heißt, der Diskurs ist sowohl sozial konstitutiv als auch sozial bestimmt.
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Wir gehen weiters davon aus, dass Nationen mentale Konstrukte, „vorgestellte Gemeinschaften“ sind, wie es Benedict Anderson (1988) nennt, die in den Köpfen der politischen Subjekte als souveräne und begrenzte politische Einheiten repräsentiert sind. Dabei verstehen wir unter „nationaler Identität“ einen im Zuge der „nationalen“ (schulischen, politischen, medialen, sportlichen, alltagspraktischen) Sozialisation verinnerlichten Komplex von gemeinsamen und ähnlichen Vorstellungen, von gemeinsamen und ähnlichen emotionalen Einstellungen und Haltungen und von gemeinsamen und ähnlichen Verhaltensdispositionen. Wir nehmen weiters an, dass es die eine nationale Identität nicht gibt, sondern dass je nach Individuum, je nach Öffentlichkeit und je nach Kontext unterschiedliche Identitäten konstruiert werden. Schließlich gehen wir davon aus, dass in den sprachlichen Konstrukten von nationalen Identitäten vor allem die nationale Einzigartigkeit und innernationale Gleichheit betont werden, und dass sich Mitglieder einer Nation über die Betonung der Differenz von Angehörigen anderer Nationen abgrenzen. Eine der inhaltlichen Dimensionen von vielen, die nationale Identität ausmachen, ist die Vorstellung, dass eine gemeinsame Sprache für nationale Identität eine wichtige Rolle spielt. Daher grenzt man sich von „Anderssprachigen“ ab bzw. verlangt von Zuwanderern, dass sie die Mehrheitssprache erlernen – als Voraussetzung für Integration und insbesondere für den Eintritt in die eigene Gruppe, sprich die Zuerkennung der Staatsbürgerschaft. Der Begriff der Integration hat sich in den vergangenen Jahren von einem soziologischen Konzept zu einem politischen Schlagwort im Diskurs über Migration entwickelt. Er nimmt hier den Stellenwert eines Hochwertworts ein, dessen Gebrauch unabhängig von der jeweiligen politischen oder ideologischen Sprecherposition mit einer positiven Konnotation einhergeht.2 Charakteristisch für den Begriff ist der hohe Grad an Ambiguität: Ausgehend und wegführend von der ursprünglichen Bedeutung „(ein Ganzes) wiederherstellen“ oder „Teile zu einer Einheit zusammenführen“ werden mit „Integration“ so unterschiedliche und widersprüchliche Konzepte wie „Inklusion“, „Assimilation“ oder „Pluralität“ assoziiert. Insbesondere die reflexive Form des Verbs („sich integrieren“) weist eine gewisse Synonymität zum Ausdruck „sich anpassen“ auf und wird auf argumentativer Ebene zumeist mit dem Bringschuldtopos verknüpft: Weil MigrantInnen sich selbst für die Zuwanderung entschieden haben, sind sie es der Mehrheitsgesellschaft demnach schuldig, bestimmte Pflichten („Integrationsleistungen“) im Zielland zu erfüllen, wenn sie in diesem Rechte in Anspruch nehmen wollen. Zu den Pflichten, die in diesem Zusammenhang in 2 Abseits dieser Verwendung im politischen Diskurs wird der Begriff „Integration“ aber im metadiskursiven (z. B. akademischen) Diskurs in letzter Zeit mannigfach kritisiert und infolgedessen zusehends auch mit negativen Konnotationen versehen.
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letzter Zeit immer häufiger genannt werden, zählt die Verpflichtung, in Österreich oder sogar schon vor der Zuwanderung Deutsch („die Sprache“) zu lernen. Einerseits wird „die Sprache“ in dieser Hinsicht als „Schlüssel zur Integration“ verstanden (Plutzar 2010), also als Werkzeug, mit dem man sich integrieren oder integriert werden kann – also den Soll-Zustand erreichen kann. Andererseits werden Deutschkenntnisse als objektiv messbares Kriterium des bestehenden Integrationsgrades – also als Instrument zur Beurteilung des Ist-Zustandes – konstruiert und herangezogen. Nicht zuletzt fungiert der verpflichtende Nachweis von Deutschkenntnissen aber vor allem als Mittel der Zuwanderungskontrolle, als Barriere und Selektionskriterium im Fremdenrecht für Drittstaatsangehörige, deren Zuwanderung (und damit auch deren Integration) erschwert oder verunmöglicht werden soll. Das Konzept der Integration mag damit zwar in sich widersprüchlich erscheinen, ermöglicht dem Staat aber dennoch (oder gerade deshalb), eine rechtlich und institutionell verankerte Diskriminierung bestimmter Personengruppen aufgrund des Merkmals „Sprache“ vorzunehmen und gleichzeitig legitim erscheinen zu lassen – und darüber hinaus politisch gewinnbringend zu instrumentalisieren.
4.
Sprachenrecht und Sprachensituation in Österreich
Um die Diskurse über Sprache/n und Integration nachvollziehen zu können, seien zunächst ein paar Bemerkungen zu den sprachenpolitischen Rahmenbedingungen in Österreich vorausgeschickt: Die deutsche Sprache ist in Österreich in der Verfassung als „Staatssprache der Republik“ verankert. Der Artikel 8 der Bundesverfassung lautet: (1) Die deutsche Sprache ist, unbeschadet der den sprachlichen Minderheiten bundesgesetzlich eingeräumten Rechte, die Staatssprache der Republik. (2) Die Republik (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich zu ihrer gewachsenen sprachlichen und kulturellen Vielfalt, die in den autochthonen Volksgruppen zum Ausdruck kommt. Sprache und Kultur, Bestand und Erhaltung dieser Volksgruppen sind zu achten, zu sichern und zu fördern. (3) Die Österreichische Gebärdensprache ist als eigenständige Sprache anerkannt. Das Nähere bestimmen die Gesetze.3
Eine Reihe weiterer gesetzlicher Bestimmungen unterstreichen die zentrale Bedeutung der Staatssprache Deutsch in Österreich: In den Schulen ist Deutsch 3 Artikel (Art) 8, Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), Bundesgesetzblatt (BGBl) 1930/1, zuletzt geändert durch BGBl 2005/81. In der Folge zitiert als BV-G.
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die vom Gesetz festgelegte Unterrichtssprache.4 Seit 2007 sind die Erziehungsberechtigten sogar verpflichtet, „dafür Sorge zu tragen, dass ihre Kinder zum Zeitpunkt der Schülereinschreibung die Unterrichtssprache im Sinne des Abs. 1 lit. B so weit beherrschen, dass sie dem Unterricht zu folgen vermögen“.5 Neben der Staatssprache Deutsch gibt es in Österreich sechs autochthone Minderheitensprachen (im Artikel 8 (2) BV-G „Volksgruppen“ genannt), die durch die oben zitierte Verfassungsbestimmung, durch den österreichischen Staatsvertrag von 1955 und das Volksgruppengesetz von 1976 offiziell anerkannt und geschützt sind: Slowenisch, Burgenlandkroatisch, Ungarisch, Tschechisch, Slowakisch und Romani oder Romanes, wie es in Österreich genannt wird. Und auch die österreichische Gebärdensprache ÖGS ist als Minderheitensprache durch die Verfassung anerkannt. Schließlich leben in Österreich offiziell nicht anerkannte, in den letzten Jahrzehnten zugewanderte sprachliche Minderheiten, für die es keine gesetzlichen Bestimmungen gibt, die ihnen sprachliche Rechte in der jeweiligen Erstsprache garantieren würden. Diese Gruppen sind zahlenmäßig zum Teil wesentlich größer als die anerkannten Minderheiten: Bei der letzten Volkszählung aus dem Jahr 2001 (Statistik Austria 2002, siehe auch de Cillia/Wodak 2006) gaben ca. 88,6 Prozent der Wohnbevölkerung an, ausschließlich Deutsch als Umgangssprache zu sprechen, 8,6 Prozent gaben Deutsch und eine andere Sprache als Umgangssprache an, 2,8 Prozent ausschließlich eine andere Sprache. Alle autochthonen Minderheitensprachen zusammengenommen machten ungefähr 1,5 Prozent aus, ca. 4,3 Prozent der Wohnbevölkerung nannten Sprachen des ehemaligen Jugoslawien (Bosnisch, Kroatisch, Mazedonisch, Serbisch), ca. 2,3 Prozent Türkisch und Kurdisch. Insgesamt wurden über 60 unterschiedliche Sprachen genannt. Wesentlich „deutschsprachiger“ fällt das Bild aus, wenn man nur die österreichischen StaatsbürgerInnen betrachtet: Von dieser Gruppe machen die Deutschsprachigen 95,5 Prozent aus. Alle anderen Sprachen liegen unterhalb der Ein-Prozent-Marke, alle autochthonen Minderheitensprachen zusammen bei 1,1 Prozent. Aktuellere Zahlen gibt es nicht, da die Volkszählung 2011 keine Sprachen erhoben hat.
4 § 16, Schulunterrichtsgesetz (SCHUG), BGBl 1986/472, zuletzt geändert durch BGBl 1996/767. In der Folge zitiert als SCHUG. 5 § 3 Abs 3, SCHUG, zuletzt geändert durch BGBl I 2008/27.
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5.
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Offizielles Nationsverständnis in Österreich und Befunde aus der Sozialwissenschaft
Das Nationsverständnis österreichischer PolitikerInnen ist bei offiziellen Anlässen, z. B. in politischen Gedenkreden zu Jubiläen wie 1995 oder 2005, vorwiegend staatsnational ausgerichtet. In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die eingangs zitierte Rede von Thomas Klestil verwiesen. Das gilt sowohl für Bundespräsidenten als auch für Bundeskanzler und andere Politiker der Republik. Wenn die Nation in den Mund genommen wird, ist eher die Rede von „Wirtschaftsnation“, „Industrienation“ oder „Kulturnation“ im Sinne von „Nation mit besonders wertvollen kulturellen Leistungen“ (Wodak et al. 1998/ 2009; de Cillia/Reisigl/Wodak 1999; de Cillia/Wodak 2006/2009). Eine Ablehnung sprachnationaler Konzepte zeigen auch sozialwissenschaftliche Umfragen. Diese ergeben in der Regel sehr hohe Zustimmungsraten zu einem Nationskonzept, das auf der Zustimmung zu einem gemeinsamen Staat, unabhängig von der/den Sprache/n, beruht. So ergibt eine Erhebung von 1993 nur 28 Prozent Zustimmung zu einer Sprachnation, aber 68 Prozent zum Konzept einer Staatsnation (Bruckmüller 1994, 17) und bei einer Befragung aus dem Jahr 2004 stimmten 83 Prozent folgender Behauptung zu: „Eine Nation beruht auf Zustimmung der Menschen zu dem Staat, in dem sie leben; auch wenn diese Menschen verschiedene Sprachen sprechen wie z. B. in der Schweiz“, aber nur 15 Prozent der Behauptung „Eine Nation beruht auf der gemeinsamen Sprache, egal, ob die Menschen, die diese Sprache sprechen, in einem oder in mehreren Staaten leben“ (Fessel-Gfk 2004, 13). Zu bedenken ist hier allerdings: Das Bekenntnis zur gemeinsamen deutschen Sprache bei Umfragen würde im konkreten Fall Österreichs vermutlich für die meisten ein Bekenntnis zu einer gemeinsamen großdeutschen Sprachnation bedeuten. Und das ist eine im offiziellen Selbstverständnis der Zweiten Republik absolut unerwünschte Einstellung.6 Nach 1945 war Österreich in seinem Selbstbild als erstem Opfer des Nationalsozialismus ja vor allem auf Abgrenzung von Deutschland bedacht. Trotzdem finden sich im halböffentlichen Bereich bei PolitikerInneninterviews auch andere Vorstellungen (Dorostkar 2014). Ein interessanter Beleg zum Nationsverständnis österreichischer PolitikerInnen findet sich in einer Diplomarbeit von Markus Linke (2002). Er führte mit 15 österreichischen PolitikerInnen Interviews zum „Zusammenhang von Sprache und nationaler Identität in Österreich“ durch.Zehn der fünfzehn von ihm interviewten PolitikerInnen waren der Meinung, Österreich und Deutschland seien eine Kulturnation (Linke 6 Seltene Fällen von Anspielungen auf eine großdeutsche Kultur- und Sprachnation finden sich bei Reden auf dem Ulrichsberg (de Cillia 2000).
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2002, 78), und gleichzeitig waren zwölf von fünfzehn Befragten der Meinung, zwischen Sprache und nationaler Identität bestehe ein starker (neun Befragte) bis sehr starker Zusammenhang (drei Befragte) (Linke 2002, 85). Im Folgenden sollen nun Beispiele aus unterschiedlichen Diskursbereichen hinsichtlich des Zusammenhangs von Sprache/n und vor allem deutscher Sprache und Integration in Österreich analysiert werden.
6.
Politikerdiskurs7
Ähnlich wie die sprachenpolitische Gesetzeslage hat auch die sprachbezogene politische Werbung in Österreich eine Vorgeschichte, wenngleich eine kürzere, die sich zumindest bis in die 1990er-Jahre zurückverfolgen lässt. Ein Wahlkampftext zum Thema „Migration und Sprache“ aus dieser Zeit stammt aus einer Postwurfsendung der FPÖ im Jahr 1999 (de Cillia 2001, 4): „Wußten Sie, daß …in den Deutsch-Lesebüchern unseren Wiener Kindern bereits seitenweise türkische und serbokroatische Texte aufgezwungen werden?“ Abgesehen davon, dass der präsupponierte Inhalt dieses Fragesatzes jeder faktischen Grundlage entbehrt, findet sich darin eine diskursive Strategie wieder, die vor allem auf einer kulturalistisch-moralistischen Argumentation beruht (Kulturtopos). Erkennbar ist dies insbesondere am Gestus der Empörung, der den gesamten Text durchzieht (dieser enthält mehrere Fragesätze, die jeweils mit „Wußten Sie, daß …“ beginnen). Die Empörung entzündet sich an der Wahrnehmung, dass gesellschaftliche Werte, Normen und Sitten verletzt würden, die als selbstverständlich empfunden werden und unhinterfragbar erscheinen. Der moralische Verstoß betrifft eine sprachideologisch begründete Norm (,Wiener Kinder haben in der Schule keine Texte auf Türkisch oder Serbokroatisch zu lesen‘), sodass man von einem lingualistischen Moralismus sprechen könnte (Dorostkar 2012). Der moralisierende Empörungseffekt des Fragesatzes tritt nur bei negativ repräsentierten und abgewerteten Migrantensprachen wie Türkisch und Serbokroatisch ein, nicht jedoch z. B. bei Prestigesprachen wie Englisch oder Französisch (de Cillia 2001, 4). Zudem wird über die Konstruktion einer Wir-Gruppe („unseren Wiener Kindern“) suggeriert, dass Kinder mit türkischer oder serbokroatischer Muttersprache nicht zu den Wiener Kindern zählen, und dass die genannten Migrantensprachen für Letztere eine Zumutung oder sogar schädlich sein könnten (de Cillia 2001, 4). Die Behauptung, dass die fremdsprachigen Texte aufgezwungen wären, kann wiederum als eine argumentative Umkehrungsstrategie (trajectio in alium) interpretiert 7 Beim vorliegenden Abschnitt handelt es sich um eine gekürzte und überarbeitete Version des Kapitels „Politische Werbung zum Thema ,Sprachigkeit‘“ in Dorostkar (2014).
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werden, da hier auf die deutschsprachige Mehrheit der sprachliche Anpassungsund Assimilierungsdruck projiziert wird, mit dem Kinder und MigrantInnen mit anderer Erstsprache als Deutsch in Österreich konfrontiert sind. Auch unter der neuen FPÖ-Führung von Heinz-Christian Strache wurden die bewährten diskursiven Strategien für die politische Werbung aufgegriffen und ausgebaut, Letzteres gerade auch in Hinblick auf das Thema Sprachigkeit (Dorostkar 2014). Eine hervorstechende Rolle nahm dabei, nicht zuletzt aufgrund seiner mehrmaligen großflächigen Affichierung in unterschiedlichsten Kontexten, der Slogan „Deutsch statt ,Nix versteh’n‘“ ein (siehe Abb. 1). Die FPÖ setzte den Slogan im Wien-Wahlkampf 2005 sowie im Nationalratswahlkampf 2006 und 2008 ein. Die zentrale diskursive Strategie, die in diesem Slogan zum Tragen kommt, besteht in der Konstruktion einer positiv besetzten, vorbildhaften ,Wir‘-Gruppe („Deutsch“), der eine negativ repräsentierte, normverletzende Gruppe der ,Anderen‘ („Nix versteh’n“) entgegengestellt wird.
Abb. 1: FPÖ-Wahlwerbung in Wien-Wahlkampf 2005 (Quelle: http://www.fpoe.at)
Interessant ist nun der Punkt, an dem die sprachbezogenen Wahlkampfmaterialien nicht mehr auf die FPÖ allein beschränkt bleiben, sondern auch von den anderen Parteien in deren politischer Werbung aufgegriffen werden. Intertextuelle Verbindungen zwischen den sprachbezogenen Wahlplakaten der österreichischen Parlamentsparteien waren vor allem im Nationalratswahlkampf 2008 festzustellen, als die ÖVP Plakate und Inserate mit einem Text
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veröffentlichte, der sich offenbar am bisherigen FPÖ-Duktus orientierte: „Es reicht! Wer bei uns lebt, muss unsere Sprache lernen. Ohne Deutschkurs keine Zuwanderung. Keine Rechte ohne Pflichten“ (siehe Abb. 2).
Abb. 2: ÖVP-Wahlwerbung im Nationalratswahlkampf 2008 (Quelle: http://www.oevp.at)
Die Wahlwerbungstexte der FPÖ und der ÖVP ähneln einander sowohl auf der Ebene der diskursiv-sprachlichen Mittel und Realisierungsformen als auch auf inhaltlicher Ebene, sodass durchaus von einer weitgehenden Übernahme bzw. Imitation der FPÖ-Wahlkampfstrategie durch die ÖVP ausgegangen werden kann. Die intertextuellen Verknüpfungen in der politischen Werbung zum Thema „Sprachigkeit“ manifestierten sich in Österreich aber nicht nur auf indirekte und implizite Weise, sondern kamen auch explizit zum Vorschein, als die FPÖ in einem Inserat auf ein SPÖ-Wahlplakat in türkischer Sprache Bezug nahm und dieses dort sogar kleinformatig abbildete (de Cillia 2012, 205; Dorostkar 2014). Das jüngste Beispiel für sprachbezogene politische Werbung stammt aus der integrationspolitischen Kampagne „Zusammenleben“ der Wiener SPÖ, in der das folgende zentrale Statement auf Plakaten beworben wurde: „Die gemeinsame Sprache in Wien ist Deutsch. Wer hier leben will, muss Deutsch können“ (siehe Abb. 3, Punkt 2). Die Kampagne wurde außerhalb von Wahlkämpfen Anfang 2012 gestartet und beruhte auf dem SPÖ-Papier „Wiener Positionen zum Zusammenleben“, das wiederum auf Basis einer Befragung unter SPÖ-Mitgliedern erstellt wurde (SPÖ Wien 2012). In diesem Fall steht nicht Österreich, sondern Wien im Fokus der „vorgestellten Gemeinschaft“: Zweck des Positionspapiers ist, „Grundsätze“ und „elementare Spielregeln des Zusammenlebens“ in Wien und „des Zusammenhalts in unserer Gesellschaft“ festzuhalten, so der Einleitungstext. Der erste Grundsatz lautet: „Wer in Wien leben will, soll sich auch zu Wien und zu einem Zusammenleben in Respekt und Rücksichtnahme bekennen.“ Im Text darunter heißt es: „In Wien darf es keine Ausgrenzung von Menschen geben. Wien bemüht sich um ein Miteinander auf allen gesellschaftlichen Ebenen und in allen Stadtteilen. Basis dafür sind gemeinsame Regeln und die gemeinsame Sprache.“ Bereits in diesem ersten Grundsatz wird also
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gefordert, dass gemeinsame Regeln eingehalten werden und „die gemeinsame Sprache“ verwendet wird, um Ausgrenzung zu verhindern und ein Miteinander zu ermöglichen. Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass die Verwendung verschiedener Sprachen zu Ausgrenzung (trajectio in alium) und Durcheinander führt bzw. eine Gefahr für die gesellschaftliche Kohärenz darstellt. Einmal mehr wird damit nicht nur von einsprachigen, sondern auch von monokulturellen Idealvorstellungen ausgegangen, was auch in der strategischen Verwendung von Singularformen und Definitartikeln Ausdruck findet („die gemeinsame Sprache“, „die Wiener Lebensart“). Bereits im zweiten Satz der Überschrift und des Absatzes darunter wird deutlich, dass es neuerlich darum geht, den obligatorischen Charakter von Deutschkenntnissen und Deutschlernen hervorzuheben. Dabei fällt neben der inhaltlichen auch die syntaktische Ähnlichkeit zur Wahlwerbung der Wiener ÖVP auf: „Wer hier leben will, muss Deutsch können. […] Es besteht die Verpflichtung, Deutsch zu lernen.“ In einer kulturalistisch-moralistischen Argumentation wird „die gemeinsame Sprache“ als einziger Weg zum Verständnis „der Wiener Lebensart“ schlechthin konstruiert, aber auch – wie bei ÖVP und FPÖ – als „Voraussetzung für Integration und […] Zusammenleben“ propagiert. Letzteres lässt sich als Nutzentopos der Variante pro bono omnium (zum Nutzen aller) interpretieren, während das Versprechen von persönlichen und beruflichen Aufstiegschancen als pro bono eorum-Argument (zum Nutzen der anderen) einzustufen wäre. Interessant ist, wie in diesem Kontext das Schlagwort „Mehrsprachigkeit“ Verwendung findet: Während Deutschkenntnisse als Verpflichtung und unabdingbare Voraussetzung, als einzige Möglichkeit zu sprachlicher Verständigung und kulturellem Verständnis für das Leben in Wien erklärt werden, kommt Mehrsprachigkeit nur der Stellenwert eines unterstützenden Hilfsmittels für die berufliche und persönliche Weiterentwicklung zu. Für grundlegende Entwicklungsprozesse spielt Mehrsprachigkeit diesem Verständnis zufolge offenbar keine zentrale Rolle, sondern kann lediglich einen zusätzlichen Nutzen bringen. Berücksichtigt man den Ko- und Kontext dieses Abschnitts im SPÖ-Positionspapier, so scheint das Fahnenwort „Mehrsprachigkeit“ an dieser Stelle die Funktion zu haben, positive Assoziationen hervorzurufen und damit die negativen Seiten des Pflicht- und Zwangscharakters rund um Deutschlernen und Deutschkenntnisse abzuschwächen oder zu verschleiern. Dies trifft auch auf die bildungsbezogenen Fahnen- und Hochwertwörter zu, die im letzten Satz in konzentrierter Form Anwendung finden (etwa „Integration“, „Entwicklung“, „gebildet“ und „aufgeschlossen“).
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Abb. 3: Plakat der SPÖ Wien in der Kampagne „Zusammenleben“ 2012 (Quelle: http:// www.wien.spoe.at)
7.
Medialer Diskurs
Nach diesen ausführlichen Beispielen aus dem Politikerdiskurs sei noch ein Beispiel aus dem medialen Diskurs angebracht (de Cillia 2012). Die Forderung nach Deutscherwerb vor Zuzug wird in einem Kommentar im Standard vom Jänner 2010 wie folgt begründet: Sprache ist zumutbar Es geht darum, den Willen zu zeigen, zu kommunizieren und an der Gesellschaft teilzuhaben Die Sprache ist das wichtigste Instrument, um Integration überhaupt möglich zu machen. Ohne Sprachkenntnisse gibt es für Zuwanderer keinen Zugang zur Gesellschaft, in der sie nun leben, keinen Zugang zur Bildung, keinen Zugang zum Arbeitsmarkt. Ohne Sprache bleibt man ausgeschlossen, das kann kein Zustand sein, den man leichtfertig akzeptiert. Sprachkenntnisse sollten eine Selbstverständlichkeit sein, man kann und soll sie bei Migranten auch einfordern. Das ist eine Art Bürgerpflicht, zum Wohle des Betroffenen, zum Wohle der Gesellschaft. Wenn jemand nach Österreich zuwandern will, kann man die Bereitschaft zum Spracherwerb voraussetzen. Demjenigen, der den unglaublichen Aufwand auf sich nimmt, seinen Lebensmittelpunkt von einem Land in ein anderes zu verlagern, kann
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man auch zumuten, sich den Aufwand des Spracherwerbs anzutun – noch vor der Einreise. Es geht ja nicht darum, die Sprache fließend von Beginn an zu beherrschen. Es geht darum, sich wenigstens ansatzweise verständlich machen zu können. Es geht auch darum, den Willen zu zeigen, in dem Land leben zu wollen, zu kommunizieren und an der Gesellschaft teilzuhaben. Eine Prüfung über einfachste Sprachkenntnisse ist zumutbar. So viel Entgegenkommen kann die neue Heimat erwarten, das schuldet sie auch ihren Bürgern, den alten und den neuen. (Völker 2010)
Der Autor setzt Sprache durchgängig unausgesprochen mit Deutsch gleich – ein in diesem Diskurs sehr häufiges Verfahren: Wenn er schreibt: „Sprache ist zumutbar“, unterstellt er letztlich, die Nicht-Deutschsprachigen hätten keine Sprache. Wenn er schreibt: „Sprachkenntnisse sollten eine Selbstverständlichkeit sein, man kann und soll sie bei Migranten auch einfordern“, unterstellt er, Migranten seien „sprachlos“ oder Türkisch, Kurdisch, Serbisch, Kroatisch etc. seien keine Sprachen. Auch wenn er „Bereitschaft zum Spracherwerb“ verlangt, könnte man meinen, die MigrantInnen hätten bisher keine Sprache erworben, ja sich dagegen gesträubt.8 Auch hinter diesem Text verbirgt sich eine Vorstellung vom Menschen und Staat als einsprachig, monolingual, in diesem Fall von Österreich als deutschsprachigem Land, und wird in paternalistischer Form mit zweierlei Formen des Nutzentopos (pro bono omnium – zum Nutzen aller, und pro bono eorum – zum Nutzen der anderen) argumentiert.
8.
Diskurs und institutionelle Praxis
Wie eingangs ausgeführt, stehen institutionelle und materielle gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Praxen in einer dialektischen Wechselwirkung zur diskursiven Praxis: Mit zunehmender Thematisierung der Sprachenfrage wurden institutionelle Maßnahmen gesetzt und werden in Institutionen Sprachregelungen gesetzt: – Seit 1998 verlangt das österreichische Staatsbürgerschaftsgesetz den Nachweis von Deutschkenntnissen für StaatsbürgerschaftswerberInnen (seit 1. Juli 2011 Kenntnisse auf dem Niveau B1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GERS)); – seit 2003 müssen Zuwanderer aus Drittstaaten eine sogenannte „Integrationsvereinbarung“ unterzeichnen, die von ihnen den Nachweis von 8 Und wenn er „Bürgerpflicht“ einfordert, dann vergisst er, dass die MigrantInnen, die zumeist im Fokus der Debatte stehen, Drittstaatsangehörige sind und eben gerade keine staatsbürgerlichen Rechte haben.
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Deutschkenntnissen für einen dauerhaften Aufenthalt in Österreich verlangt (seit dem 1. Juli 2011 Kenntnisse auf dem Niveau B1); – vor der Einreise nach Österreich müssen Zuwandernde aus Drittstaaten seit Juli 2011 Deutschkenntnisse auf dem Niveau A1 des GERS nachweisen; – 2007 wurde das Schulunterrichtsgesetz (SCHUG) novelliert, um Eltern von Kindern mit anderen Erstsprachen als Deutsch dazu zu verpflichten, ihre Kinder in den Kindergarten zu schicken; – im September 2012 forderte der Staatssekretär für Integration eine Gesetzesänderung, durch die die Schulreife an ausreichende Deutschkenntnisse gebunden ist (Wiener Zeitung 18. 09. 2012)9, und die Präsidentin des Stadtschulrats für Wien kündigte an, ab der Schuleinschreibung für das Schuljahr 2013/14 SchülerInnen mit nicht ausreichenden Deutschkenntnissen als VorschülerInnen, d. h. als nicht schulreif, einzustufen (Vorschule bei Sprachproblemen kommt, wien.orf.at 07. 01. 2013).10 Wie man sieht, betreffen praktisch alle diese Maßnahmen ausschließlich sogenannte „Drittstaatsangehörige“. Welche konkreten Auswirkungen die genannten Regelungen für diese Personengruppe haben, soll folgendes Fallbeispiel veranschaulichen: Frau F. ist mit einem australischen Staatsbürger verheiratet, und die Familie hat ein ca. zweijähriges Kind. Da sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt an der Universität Wien ist, ist der Lebensmittelpunkt der Familie in Österreich. Ihr Ehemann muss, um mit seiner Frau und seinem Kind zusammenleben zu können, die Deutsch-Prüfung A1 vor der Beantragung des Aufenthaltstitels ablegen. Er darf sich mit einem Touristenvisum sechs Monate in Österreich aufhalten. Schafft er die Deutsch-Prüfung nicht, muss er sechs Monate warten, bis er wieder nach Österreich einreisen darf. Schafft er die Prüfung noch in Österreich, muss er trotzdem für bis zu sechs Monaten die EU und das Schengen-Gebiet verlassen, da die Beantragung bzw. Bewilligung des Aufenthaltstitels bis zu sechs Monaten dauert und er für diesem Zeitraum kein Visum bekommen kann, da sich Australier nur sechs Monate pro Jahr als Touristen in Österreich aufhalten dürfen. 9 „Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz lässt sich von ablehnenden Kommentaren zu seiner jüngsten Forderung nach Vorschulklassen für Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse nicht beirren. Vor dem Ministerrat am Dienstag bekräftigte er seinen Vorstoß und verlangte nach einer entsprechenden Gesetzesänderung. Konkret will er, dass die Beherrschung der deutschen Sprache ein Kriterium bei der Ermittlung der Schulreife wird.“ (Kurz will Gesetzesänderung bei Sprachförderung, Wiener Zeitung 18. 09. 2012) 10 Das widerspricht u. E. sowohl der Anfang 2013 gültigen Gesetzeslage, nach der Schulreife auf Grundlage der kognitiven, motorischen und sozialen Entwicklung, nicht jedoch anhand der Deutschkenntnisse festzustellen ist (de Cillia 2012, 195), als auch dem Diskriminierungsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art 14), die in Österreich seit 1964 im Verfassungsrang steht.
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Die diskursive Fokussierung auf die Sprachigkeit (Dorostkar 2014) von Drittstaatsangehörigen hat aber nicht nur Konsequenzen auf das Fremdenrecht, sondern etwa auch auf pädagogische Kontexte. So wird die Verwendung von anderen Sprachen als Deutsch im Unterricht, aber manchmal auch in den Pausen und auf dem gesamten Schulgelände verboten und ein Deutschgebot erlassen. Dazu ein Beispiel: Im Elisabethinum in St. Johann in Salzburg, einer Schule von 400 SchülerInnen, die 15 SchülerInnen mit einer anderen Erstsprache als Deutsch besuchen, wird Letzteren vorgeschrieben, auch im privaten Bereich die deutsche Sprache zu verwenden. Schulstreit um Zwang zu privatem Deutsch Geteilte Reaktionen löst eine Maßnahme an der katholischen Privatschule Elisabethinum in St. Johann (Pongau) aus. Die Direktorin fordert, Schülerinnen dürften nur noch in deutscher Sprache miteinander reden. Kleine Minderheit: 15 von 400 Schülerinnen. Vorschrift betrifft Privatgespräche Dass die Unterrichtssprache Deutsch ist, das ist allen Beteiligten vollkommen klar und wird von niemandem in Frage gestellt. Die Debatte betrifft ausschließlich private Gespräche zwischen Schülerinnen. Migrantenkinder müssen demnach in dieser Schule künftig darauf verzichten, sich in Türkisch oder Serbokroatisch zu unterhalten. Dieser Schritt fördere die Integration der Schülerinnen, heißt es aus der Schulleitung des Elisabethinums. […] Einheimische Schülerinnen hätten sich ausgeschlossen gefühlt, sogar ausgelacht, wenn Kolleginnen in ihrer Muttersprache miteinander reden – so lautet die Argumentation. Das habe zu erheblichen Spannungen geführt, so Direktorin Röck. Deshalb habe sie angeordnet, dass auf dem Schulgelände nur noch Deutsch gesprochen werden dürfe. Freilich gebe es Ausnahmen, etwa, wenn sich eine fremdsprachige Schülerin sehr freue, ärgere oder weine. „Zeichen der Höflichkeit“ Sobald der Gefühlsausbruch beendet ist, werden die Schülerinnen jedoch daran erinnert, dass wieder Deutsch zu sprechen sei. Direktorin Röck ist überzeugt, dass die einheitliche Sprache im Schulgelände die Gemeinschaft und die Integration fördere. Niemand solle sich ausgeschlossen fühlen. Deutsch könnten alle, Serbokroatisch oder Türkisch jedoch nicht. Außerdem sei die einheitliche Sprache ein Zeichen der Höflichkeit (Schuldebatte: Zwang zu privatem Deutsch?, salzburg.orf.at 14. 06.2010; Hervorhebungen der Autoren)
Deutschgebrauch und Verleugnung der Familiensprache finden sich hier als zentrale Forderung für Integration. Im Übrigen handelt es sich um eine Vorschrift, die unter linguistischen Gesichtspunkten völlig unrealistisch ist: Spontaner Sprachgebrauch kann nicht so kontrolliert werden, wie sich das SchuldirektorInnen wünschen.11 Der Gebrauch der Erstsprache in pädagogischen 11 Derartige Maßnahmen der sprachlichen Assimilation und Unterdrückung kennt die Soziolinguistik allerdings aus der Geschichte der europäischen Nationalstaaten, vor allem aus
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Kontexten wird z. B. in Einrichtungen der Nachmittagsbetreuung mit mehrheitlich zweisprachigen BetreuerInnen untersagt. Eine Studie von Vera Ahamer zum Laiendolmetschen von Kindern/Jugendlichen zeigt, dass diese zwar häufig in der Sprechstunde zum Dolmetschen herangezogen werden – wenn sie aber in der Stunde Türkisch reden, müssen sie „Strof schriba“ (Strafen schreiben) (Ahamer 2011, 288). Gebote, Deutsch zu sprechen, finden sich auch in Betrieben (z. B. Caf¦ im Krankenhaus zum Göttlichen Heiland, wo Namen in die Mehrheitssprache übersetzt, also germanisiert werden (Monokultur. Nur Deutsch im Spital, profil 06. 09. 1999), in Geschäften (z. B. Bäckereien) (Gepp 2011) oder etwa auch bei einem Fußballverein, wie die Zeitschrift biber im Mai 2012 berichtet: Danach wird beim Wiener Amateurverein FC Royal Persia für jedes Wort, das nicht auf Deutsch gesprochen wird, „ein Stück vom Lohn“ abgezwackt (Aljovic´/Ducˇic´/ Neuhold 2012, 22).
9.
Resümee
Die Analyse der Rolle der deutschen Sprache für Integration in Österreich zeigt, dass die Sprache im Kontext der Migration von Zuwanderern als kultureller Kristallisationspunkt schlechthin verstanden wird. Die in den letzten zwei Jahrzehnten eingeführten gesetzlichen Maßnahmen illustrieren dies ganz klar : Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die Novellierungen des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1998, 2005 und 2011 sowie die zunehmende Verschärfung der Integrationsvereinbarung 2003 (A1), 2006 (A2) und 2011 (B1). Ebenso finden sich Diskursfragmente, die die deutsche Sprache als zentrales Identitätsmoment betonen, mittlerweile nicht mehr nur im rechten politischen Spektrum („Deutsch statt ,Nix versteh’n‘“ ), sondern auch bei den Parteien der sogenannten politischen Mitte („Ohne Deutschkurs keine Zuwanderung“; „Die gemeinsame Sprache in Wien ist Deutsch. Wer hier leben will, muss Deutsch können“) und im halböffentlichen Diskurs (Dorostkar 2014). Die deutsche Sprache spielt also – trotz des offiziösen Selbstverständnisses als Konsensualnation – letztlich eine zentrale Rolle für das Selbstverständnis der ÖsterreicherInnen. Sie wurde und wird für Identitätspolitik instrumentalisiert, für die Konstruktion von Gemeinsamkeit und Einzigartigkeit sowie für die dem 19. Jahrhundert. Um eine einheitliche Nationalsprache durchzusetzen, wurde Kindern verboten, in der Schule ihre Erstsprache zu sprechen, z. B. in der Bretagne. Wer dabei erwischt wurde, musste Eselsohren aufsetzen und nachsitzen. Die Verachtung für andere Sprachen drückte sich z. B. in folgenden öffentlichen Aufschriften aus: „D¦fense de cracher par terre et de parler breton.“ (Calvet 1974, Bott-Bodenhausen 1996, Busch 1996, de Cillia 2011)
Integration und/durch Sprache
159
Abgrenzung und institutionelle Diskriminierung von nicht-deutschsprachigen Zuwanderern („Deutsch statt ,Nix versteh’n‘“) und auch von deren in Österreich geborenen Kindern (Schulreife nur bei ausreichenden Deutschkenntnissen), und ist daher die zentrale Forderung für die Integration, ja sogar für die Einreise nach Österreich als Nichttourist. Das gilt allerdings alles nur für Angehörige von Drittstaaten – dann aber auch, wenn sie mit ÖsterreicherInnen verheiratet sind und Kinder mit österreichischer Staatsbürgerschaft haben. Dass eine hohe Qualifikation und Deutschkenntnisse allerdings keine Garantie für Integration sind, zeigen u. a. die zahllosen Befunde zur Dequalifizierung von MigrantInnen, z. B. im OECD-Bericht „The Labour Market Integration of Immigrants and their Children in Austria“ (Krause/Liebig 2011) oder im Bericht der Arbeiterkammer „Beschäftigungssituation von Personen mit Migrationshintergrund in Wien“ (Riesenfelder/Schelepa/Wetzel 2011). Darin wird belegt, dass der Großteil der befragten österreichischen MigrantInnen laut Selbsteinschätzung „über recht gute Deutschkenntnisse“ (60 % fließend in Wort und Schrift) verfügt, während gleichzeitig ein Drittel der MigrantInnen unter ihrem Ausbildungsniveau arbeitet (Riesenfelder/Schelepa/Wetzel 2011, 193; 344). Selbst hoch qualifizierte MigrantInnen, die einen Job finden, arbeiten im Vergleich zu ebenso hoch qualifizierten ÖsterreicherInnen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit in einem Beruf, der unterhalb ihrer Qualifikation liegt: „While 70 % of the highlyeducated native-born are employed in highly-skilled jobs, this only holds for 55 % of the foreign-born“ (Krause/Liebig 2011, 49).
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Integration und/durch Sprache
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Sabine Gatt
Sprachenpolitik politisch kommuniziert: Symbolische Instrumentalisierung zwischen Exklusion und Inklusion
1.
Einleitung
„Sprache ist der Schlüssel zur Integration.“ Dieser Satz dominiert die öffentliche Vermittlung der Sprachenpolitik im Bereich Migration von Drittstaatsangehörigen seitens der österreichischen Regierung(en). Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass über die Gleichsetzung von „Sprache“ und „Integration“ im Diskurs der Regierung(en) Machtverhältnisse verschleiert und (re-)produziert werden. Auf diese Weise bringt das Sprechen über den „Schlüssel zur Integration“ symbolische Exklusionen und Inklusionen hervor, die entlang von Nationalismen, Geschlechterverhältnissen und Neoliberalismen verlaufen. Im Folgenden zeige ich exemplarisch drei Narrative auf, die in der politischen Kommunikation der Regierungsparteien zu erkennen sind. Dabei lege ich den Fokus auf deren Interaktion und untersuche, welche symbolischen Inklusionen und Exklusionen damit einhergehen. Bislang wurde in der Forschung vor allem das Kultur- und das Leistungsnarrativ betont, völlig neu ist die Bearbeitung des Emanzipationsnarrativs und somit eine verstärkte Fokussierung auf die Kategorie „Geschlecht“.1 Methodologisch gehe ich konstruktivistisch-interpretativ vor. In diesem Sinne zielt die Analyse nicht auf generalisierbare Aussagen, sondern auf kontextspezifische Interpretationen. Mein Fokus auf politische Kommunikation wiederum beschränkt die Analyse auf die symbolische Dimension der Sprachenpolitik, was zu der Frage führt, wie die gesetzlichen Maßnahmen an die Öffentlichkeit kommuniziert werden. Deswegen kann z. B. die Frage nach dem quantitativen Exklusionspotenzial nicht beantwortet werden. Um die Deutungsund Definitionsprozesse in den Dokumenten zu analysieren, arbeite ich mit der 1 Dieser Aufsatz ist im Rahmen meines Dissertationsprojekts „Symbolic Politics Matter“ entstanden. Die diachrone Feinanalyse, die über die drei vorgestellten Narrative hinausgeht, sowie die vertiefte Arbeit an der Theorie zur symbolischen Politik in Migrationsgesellschaften ist der Dissertation vorbehalten.
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Sabine Gatt
diskursanalytischen Methode der Critical Policy Frame Analysis. Mit Verloo (2005, 18 ff.) verstehe ich unter „Frame“ ein Interpretationsschema, das Bedeutung von Wirklichkeit strukturiert, und unter „Policy Frame“ ein organisierendes Prinzip, das fragmentierte oder beiläufige Information in ein strukturiertes und bedeutungsvolles Policy Problem transformiert, in welchem eine Lösung implizit oder explizit enthalten ist. „Framing“ wiederum ist in diesem Sinne der Prozess des Konstruierens, Anpassens und Verhandelns von Frames. Die übergeordneten Muster im Framing fasse ich als Narrative auf. Als Grundlage für die folgende Analyse dient ein Untersuchungskorpus, das ca. 350 thematisch relevante Presseaussendungen der Regierungsparteien sowie die veröffentlichten Dokumente rund um den Nationalen Aktionsplan für Integration in einem Untersuchungszeitraum von 1998 bis 2013 umfasst. Der Untersuchungszeitraum beginnt mit dem erstmaligen Einsetzen von Sprachenpolitik im Bereich Migration von Drittstaatsangehörigen in Österreich und endet 2013 mit der Veröffentlichung des Dokuments „Willkommen in Österreich“. Zu erwähnen ist weiters, dass die Presseaussendungen im Untersuchungszeitraum vorwiegend durch die Österreichische Volkspartei (ÖVP) veröffentlicht wurden, dass also auch der Begriff „Regierungsparteien“ somit als kontextualisiert betrachtet werden muss.
2.
Sprachenpolitik als Migrationspolitik in Österreich
Ich habe ein etymologisch geprägtes, breites Verständnis von Migrationspolitik und verstehe darunter Politiken, die auf die Regulierung von Wanderungsbewegungen zielen. Migrationspolitiken können somit sowohl auf innerstaatliche Wanderungsbewegungen, auf Migrationen innerhalb der EU als auch – wie im vorliegenden Fall – auf die Migration von Drittstaatsangehörigen zielen. Sprachenpolitik wiederum bezeichnet „[…] politische Phänomene in Bezug auf den Status und die gesellschaftliche Funktion von Sprachen“ (de Cillia/Wodak 2006, 15). Im Bereich Migration zielen sprachenpolitische Maßnahmen in Österreich auf den verpflichtenden Erwerb der Landessprache Deutsch. Seit 1998 ist die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft2 an den Nachweis von Deutschkenntnissen gebunden. 2003 wurde in Österreich die sogenannte Integrationsvereinbarung (IV)3 eingeführt, die die Verfestigung des Aufenthaltstitels an einen Sprachnachweis bindet. Die IV wurde 2005 und 2011 novelliert, das 2 Vgl. insbesondere § 10a Absatz (Abs) 1 – 4 Staatsbürgerschaftsgesetz, Bundesgesetzblatt (BGBl) I 1985/31 in der Fassung von BGBl I 2011/38. 3 Vgl. insbesondere § 14a und 14b Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz, BGBl I 2005/100 in der Fassung von BGBl I 2011/38. In der Folge im Text zitiert als NAG.
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Sprachniveau schrittweise angehoben und die Erfüllungsdauer verkürzt. Gegenwärtig verpflichtet die erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels Drittstaatsangehörige zu einem Deutschkurs, der binnen zwei Jahren mit einen Test auf dem Sprachniveau A24 abgeschlossen sein muss. Für die Zuweisung eines Daueraufenthaltstitels müssen Drittstaatsangehörige Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1 nachweisen. Seit 2011 wurde zudem „Deutsch vor Zuzug“5 eingeführt. Diese Maßnahme verpflichtet Drittstaatsangehörige zum Nachweis von Deutschkenntnissen auf dem Sprachniveau A1 vor der Einreise. Sprachenpolitik wird in Österreich somit seit 1998 als „Integrationsmaßnahme“ eingesetzt. Die erste öffentliche Kampagne, die sich dem Thema „Integration“ widmete, folgte jedoch erst 2007 mit der „Integrationsplattform“ des Bundesministeriums für Inneres (BMI). Ziel der „Integrationsplattform“ war es, basierend auf der – zumindest symbolischen – Einbindung von Ländern, Gemeinden, ExpertInnen und Zivilgesellschaft Maßnahmen zu erarbeiten, die im Nationalen Aktionsplan für Integration mündeten (Perchinig 2010, 112). Seither nahm die Bedeutung des Themas „Integration“ und besonders die Fokussierung auf Sprache in der Öffentlichkeitsarbeit der Regierung(en) stetig zu. Als eine Maßnahme des Nationalen Aktionsplans für Integration ist das Dokument „Willkommen in Österreich“ zu betrachten, das fortan die „Integration von Anfang an“ begleiten soll. Es ist als Dokument konzipiert, das die „Werte und Gepflogenheiten Österreichs“ (Österreichischer Integrationsfonds o. J.b) vermitteln soll.
3.
Sprachenpolitik als symbolische Politik
Wie Murray Edelman (2005) bereits 1964 in der Erstauflage seines Werkes „The Symbolic Uses of Politics“ darstellte, ist die politische Realität durch eine Doppelung gekennzeichnet, die aus der instrumentellen (Dimension der Herstellung, tatsächliche Effekte politischer Handlungen) und der expressiven Dimension (Dimension der Darstellung, dramaturgischer Symbolwert) besteht. Dvora Yanow (2000) verweist darauf, dass das Ziel politischen Handelns oft nicht in der wirklichen Implementierung eines Gesetzes liegt, wie es einem instrumentell-rationalen Ansatz entsprechen würde, sondern in der Botschaft, die ausgesendet wird, um ein bestimmtes Narrativ zu (re-) produzieren. Genau solch eine symbolische Funktion hat nach Meinung von Julia Mour¼o Permoser (2010, 201) die IV: sie dient weder der quantitativen Reduktion der betroffenen 4 Diese Niveaus entsprechen dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GERS). 5 Vgl. NAG § 21a.
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Zugezogenen noch deren kultureller Assimilation durch Integrationskurse, sondern allein ihrer symbolischen Exklusion. Mit der Fremdenrechtsnovelle 2011 und der Einführung von „Deutsch vor Zuzug“ stellen sich allerdings neue Fragen an das quantitative Exklusionspotenzial der Sprachenpolitik – dies müsste erneut untersucht werden. Trotzdem bleibt die symbolische Kraft der Botschaft in ihrer Stärke wirksam. Mour¼o Permoser (2012, 182) nennt zwei Bedingungen symbolisch exkludierender Integrationspolitiken: (a) if they are part of a narrative that constructs the immigrant or immigration as a problem and sees the causes of this problem as lying exclusively with the migrant, where the solution is to become tougher and more restrictive, or (b) if they are discursively constructed to send an exclusionary message, for example that migrants are not welcome and that migration and/or cultural diversity are detrimental to society.
Die Autorin verdeutlicht, dass diese Art der symbolischen Politik Xenophobie schürt und diskriminierende Einstellungen in der Aufnahmegesellschaft legitimiert (Mour¼o Permoser 2012, 198). Wie Andreas Dörner (1995) betont, dient symbolische Politik dazu, Mitgliedern einer politischen Gemeinschaft ein Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln. Robert Miles (1999, 101) beschreibt den Prozess der Gruppenkonstruktion in seiner Theoretisierung von Rassismus. Er spricht von einem „dialektischen Prozess“, in dem Bedeutungen konstruiert werden. Wenn einer „anderen“ Gruppe eine Eigenschaft zugeschrieben wird, wird gleichzeitig dasselbe Kriterium zur Definition des Selbst, der „eigenen“ (Gruppen-)Identität, herangezogen. Für das Sprechen über „die Anderen“ bedeutet dies nun grundsätzlich, dass auch Aussagen über die als „eigen“ konstruierte Gruppe getroffen werden. Die Norm, an der gemessen wird, muss nicht explizit ausgesprochen werden, um wirksam zu sein. Es kann somit festgehalten werden, dass immer, wenn eine Gruppe exkludiert wird, gleichzeitig eine Gruppe inkludiert wird. Exklusionen und Inklusionen verlaufen synchron. Auf diese Weise ist das Sprechen über „die Anderen“ auch hinsichtlich einer identitätspolitischen Konstruktion des „Wir“ zu beleuchten. Der symbolische Ausschluss muss somit auch bezüglich des ihm eingeschriebenen symbolischen Einschlusses untersucht werden.
4.
Narrative im Namen der Sprache
4.1
Das Kulturnarrativ
In einer Presseaussendung (PA) bezüglich der Einführung von „Deutsch vor Zuzug“ heißt es vonseiten des Bundesministeriums für Inneres:
Sprachenpolitik politisch kommuniziert
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Die Sprache des Landes, in dem man leben will [sic] zu können, ist als Schlüssel zu erfolgreicher Integration unumstritten. „Mit der heute beschlossenen Maßnahme verhindern wir mögliche Integrationsprobleme von morgen“, ist die Ministerin überzeugt. (BMI 2011)
Zugehörigkeit wird im sprachenpolitischen Diskurs über Sprache konstruiert. Diese Sprache ist nicht irgendeine Sprache – sie ist Deutsch. Die Inklusion wird somit grundlegend über die Sprachgemeinschaft hergestellt. Rudolf de Cillia und Ruth Wodak (2006, 83 f.) führen zur österreichischen Sprachenpolitik aus: All dies signalisiert […], dass die deutsche Sprache […] eine besonders wichtige Rolle für das nationale Selbstverständnis der Österreicher und Österreicherinnen spielt. Je länger die Zweite Republik dauerte, desto stärker wurde dem auch gesetzlich Rechnung getragen: zuletzt durch das neue Staatsbürgerschaftsgesetz und die „Integrationsvereinbarung“.
Durch das Sprechen über Sprache wird Österreich als „Kulturnation“ (de Cillia/ Wodak 2006) angerufen. Die Sprache der Nation wird zu deren (kulturellem) Symbol. Tatsächlich ist Österreich jedoch eine Migrationsgesellschaft. Der häufig bediente Begriff der Aufnahmegesellschaft ist somit nicht zu verwechseln mit einer homogenisierten Vorstellung von Gesellschaft als „Gesellschaft einer Mehrheit“ (Mecheril 2004, 8) oder Kultur als homogene Vorstellung einer Kulturnation. Migrationsgesellschaften sind nicht nationalkulturell, sondern transkulturell. Das nationalkulturelle Verständnis, welches im 18. Jhd. entstand und aus dem eine homogene und ethnisch definierte Vorstellung von Nationalkultur entsprang, ist auf Migrationsgesellschaften nicht übertragbar. Transkulturelle Gesellschaften kennzeichnen sich durch innere Differenzierung und Komplexität, externe Vernetzung und Hybridisierung (Welsch 1997, 71). Diese verlaufen jenseits homogenisierter Konzeptionen von Ethnizität bzw. Nationalkultur. Diese gesellschaftlichen Veränderungen werden jedoch in einer symbolischen Sprachenpolitik, die durch ein nationalkulturelles Verständnis geprägt ist, zu einer Bedrohung und die deutsche Sprache wird zum Schlüssel, um die „Integrationsprobleme von morgen“ abzuwehren. Dabei gilt Monolingualität als Norm, wie sich auch in einer Aussendung des Integrationssprechers der ÖVP zum Einsatz von DolmetscherInnen im Gesundheitssystem zeigt: „Die mangelnde Bereitschaft mancher Migrantinnen und Migranten, die deutsche Sprache zu erlernen, sollte nicht auch noch durch Maßnahmen wie Dolmetscher verstärkt werden […]. Es ist als nicht zielführend anzusehen, mit dem Einsetzen von Dolmetschern in der Integration einen Riesenschritt zurück zu machen“, betont der ÖVP-Integrationssprecher. Es müsse daher klar sein, „dass es neben den vielen Rechten für Zuwanderer auch zentrale Pflichten gibt. Von Menschen, die in unserem
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Kulturkreis leben und von dessen Errungenschaften profitieren wollen, muss man auch verlangen können, dass sie dessen Grundwerte anerkennen. Nur so kann es ein positives Miteinander geben“, schließt Rädler. (ÖVP 2009)
Auf Mehrsprachigkeit zu reagieren, wird als negativ für den dargestellten Integrationsprozess gerahmt. Das Erlernen des Deutschen wird als Pflicht und Grundwert des „Kulturkreises“ präsentiert. Auf diese Weise wird über Samuel Huntingtons Konstruktion von Kulturkreisen (Huntington 1993) der Kreis der symbolisch Zugehörigen erweitert und die Argumentation mit der Kampfrhetorik eines „Clash of Civilizations“ verbunden. Huntington spricht von einem „Kampf der Kulturen“, die er nicht als Nationalkulturen konzipiert, sondern als religiös definierte Kulturkreise. „Unser Kulturkreis“ bezieht sich somit auf den „westlichen (christlichen) Kulturkreis“, dessen Dominanz Huntington durch den „islamischen Kulturkreis“ bedroht sieht. Über das Betonen der deutschen Sprache wird die Konstruktion des „Kulturkreises“ jedoch national begrenzt und Huntingtons konstruiertes und religiös definiertes Bedrohungsszenario mittels einer nationalistischen Schablone auf eine Bedrohung der Kulturnation übertragen, deren Symbol die deutsche Sprache darstellt. Dies dient der Legitimation eines monolingualen Habitus (Gogolin 2001), der die Argumentation grundlegend strukturiert. Migrationsgesellschaften sind jedoch nicht monolingual, sondern multilingual. Dies gilt auch für die österreichische Gesellschaft. Der monolinguale Habitus verschleiert die multilinguale Wirklichkeit und bringt gleichzeitig eine Defizitorientierung hervor. Wer des Deutschen nicht mächtig ist, scheint nicht sprechen zu können bzw. nicht dazu bereit zu sein, den monolingualen „Grundwert“ anzuerkennen. Dies setzt eine monolingual definierte Sprachkompetenz mit einer nationalkulturell konstruierten (christlichen) Wertegemeinschaft gleich. Diese Wertegemeinschaft wiederum wird von einer als „islamisch“ konstruierten Gemeinschaft als „bedroht“ gerahmt. Sprache wird im Diskurs zum Synonym für Integration. Sprachlernprozesse werden als Bringschuld der Zuziehenden gerahmt. Aus Perspektive der linguistischen Forschung wird Sprachlernen jedoch als soziale Praxis begriffen, in der sich gesellschaftliche Machtverhältnisse widerspiegeln, die Einfluss auf den Spracherwerb nehmen (Norton 2000). Die Linguistin Verena Plutzar (2010) dreht die Perspektive auf den „unumstrittenen Schlüssel zur Integration“ um und sieht den Erwerb der Landessprache nicht als eine Voraussetzung, sondern als ein Ergebnis erfolgreicher Inklusion von MigrantInnen im Bildungsbereich und am Arbeitsmarkt. Diese erfolgreiche Inklusion setzt jedoch eine wertschätzende Haltung zu Mehrsprachigkeit voraus. Der monolinguale Habitus (re-)produziert über die als monolingual bestimmte Kulturnation Nationalismen und Ethnozentrismen und über das Anrufen von Kulturkreisen kulturell orientierte Rassismen. Diese bestimmen die symbolische Inklusion und Ex-
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klusion grundlegend. All jene, die nicht mit der deutschen Sprache aufgewachsen sind, werden aus dem Kreis der Zugehörigen externalisiert und scheinen die Kultur zu bedrohen. Die Nationalismen, Ethnozentrismen und Rassismen bringen eine defizitorientierte Hierarchisierung hervor, die sich negativ auf Sprachlernprozesse auswirkt. Wenn von „Aufnahmegesellschaft“ gesprochen wird, so muss jedoch auch diese als in sich heterogen betrachtet werden. Symbolische Sprachenpolitik, die exkludierende Botschaften transportiert, schürt somit nicht nur Ressentiments in der Aufnahmegesellschaft, sie diskriminiert auch Angehörige genau dieser Aufnahmegesellschaft, macht deren kulturelles Kapital (Bourdieu 1983) – wie Mehrsprachigkeit – unsichtbar, schließt sie aus der symbolischen Gemeinschaft aus – desintegriert sie – und zerstört ihr symbolisches Kapital (Bourdieu 1983).6
4.2
Vom Kultur- zum Leistungsnarrativ
Das Leistungsnarrativ entwickelte sich aus dem Kulturnarrativ und löste sich immer weiter von diesem ab, ohne es jedoch zu ersetzen. Gegenwärtig werden beide Narrative in der Vermittlung sprachenpolitischer Maßnahmen verwendet. Das Leistungsnarrativ und das Kulturnarrativ sind von Beginn an miteinander verwoben und verstärken einander. Im Kulturnarrativ hieß es 2008: „Wer in Österreich leben will, muss unsere Sprache beherrschen. Wir können Integration nicht immer nur fördern, wir müssen sie auch einfordern. Denn neben den vielen Rechten, die Zuwanderer in Österreich bekommen, müssen sie auch Pflichten erfüllen. Eine dieser Pflichten ist es, unsere deutsche Sprache zu können. Wer nicht deutsch [sic] kann, dem müssen wir sagen: Alles Gute, aber nicht bei uns“, […]. (ÖVP 2008)
Das Erlernen der deutschen Sprache wird im Kulturnarrativ als „Pflicht“ bezeichnet und ist verknüpft mit der Androhung des Ausschlusses. Die Juristin Magdalena Pöschl (2003, 36 f.) betont die „negative Signalwirkung“ der Integrationsvereinbarung. Diese symbolisiert einerseits, dass die zuziehende Person nicht erwünscht ist, und sie vermittelt der Aufnahmegesellschaft, dass zuziehende Personen ohne Zwang nicht bereit seien, die deutsche Sprache zu lernen. 6 Pierre Bourdieu (1983) unterscheidet zwischen kulturellem, ökonomischem, sozialem und symbolischem Kapital. Das kulturelle Kapital differenziert er in inkorporiertes Kulturkapital (z. B. Bildung), objektiviertes Kulturkapital (z. B. Bücher) und institutionalisiertes Kulturkapital (z. B. akademische Titel). Symbolisches Kapital wiederum steht für gesellschaftliche Anerkennung bzw. Prestige. In seiner Konzeption gehen sowohl kulturelles als auch ökonomisches und soziales Kapital mit symbolischem Kapital einher. Gleichzeitig führt bereits vorhandenes symbolisches Kapital zur Akkumulation kulturellen, ökonomischen und sozialen Kapitals.
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Auch die Linguistin Verena Plutzar (2010, 124) betont den Zwangscharakter und verweist auf dessen symbolische Botschaft. Sie stellt die Funktion des Testens als Symbol der Leistung und des Erfolgs dar. Tests werden als Sicherung von Qualität betrachtet. Sie verweist auf Foucault und betont, dass Prüfungen als „mächtige Kontrollinstrumente“ eingesetzt werden, die „[…] Einheitlichkeit und Konformität in Bezug auf Werte und Normen sicherstellen“ (Plutzar 2010, 127 f.). Der Politologe Kien Nghi Ha (2009, 137 ff.) spricht in Bezug auf die Sprachenpolitik in Deutschland, die der österreichischen ähnlich ist, von einem Integrationsimperativ. Er sagt, Integration tritt in einer imperativen Form auf, wird in der politischen Diskussion vorwiegend als Assimilation verstanden und ist direkt mit der nationalen „Leitkultur“ verbunden. Sie wird zum Mittel der Nationalisierung und kulturellen Homogenisierung. Die Integrationsmaschinerie verstärkt die Hierarchisierung innerhalb der (eingewanderten) Bevölkerung und legitimiert sich anhand stigmatisierender Fremdzuschreibungen. Diese Gesetze sollen die „guten“, d. h. die gehorsamen und lernwilligen von den „schlechten“, d. h. den vermeintlich „integrationsunwilligen“ bzw. „integrations-unfähigen“ Migrantinnen und Migranten trennen. (Ha 2009, 141)
Die Trennung zwischen den „guten“ und „schlechten“ MigrantInnen wird in Österreich besonders anhand der schrittweisen Etablierung des Leistungsnarrativs sichtbar. Das Kulturnarrativ bringt nach Mour¼o Permoser und Kien Nghi Ha die Botschaft der kulturellen Assimilation hervor. Davon setzt sich das Leistungsnarrativ nur durch eine Fokusverschiebung ab. Das Leistungsnarrativ ist direkt mit dem Kulturnarrativ verbunden, wird jedoch in keiner imperativen Form erzählt, spricht also nicht von „Pflichten“ und Assimilation, sondern betont Leistung und Eigenverantwortung der Zuziehenden: „Aus diesem Grund wählen wir bei der Integration einen völlig neuen Zugang, nämlich Integration durch Leistung“, sagte Kurz. Dabei seien nicht die Herkunft oder die Religionszugehörigkeit wichtig, sondern der Charakter und die Bereitschaft, sich im Berufs- und Gesellschaftsleben anzustrengen und dadurch Anerkennung zu erlangen. (Integrationsstaatssekretariat 2011)
Dem Leistungsnarrativ liegt die Differenzlinie „qualifiziert – unqualifiziert“ zugrunde. Mit der Anrufung eines „homo oeconomicus“ geht eine Fokusverschiebung von Kultur zu (Volks-)Wirtschaft einher. Gleichzeitig verliert die Rhetorik ihren imperativen – paternalistischen – Ton. Nun steht Eigenverantwortung im Vordergrund. Im Leistungsnarrativ werden die der Sprachenpolitik eingeschriebenen Kapitalverhältnisse deutlich. Das Subjekt im Neoliberalismus generiert Erfolg und Anerkennung rein aus eigener Motivation.
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Damit weist das Integrationskonzept einen ideologischen Impetus auf und steht in Diskrepanz zu gesellschaftlichen Orientierungsmustern wie etwa Solidarität, Gerechtigkeit oder Gleichbehandlung/Anti-Diskriminierung. (Rosenberger/Gruber/Peintinger 2012, 6 f.)
Die neoliberale Matrix wird dazu benutzt, Machtverhältnisse wie Nationalismen, Ethnozentrismen, Rassismen, Religiösizismen und Geschlechterverhältnisse zu verschleiern, die in der Gesellschaft wirken und auch seitens der politischen Kommunikation der Sprachenpolitik (re-)produziert werden. Menschen, die in Zukunft nach Österreich zuwandern wollen, müssen Grundkenntnisse der deutschen Sprache auf dem international gültigen A1-Niveau vorweisen können. Dies muss in Zukunft bei Antragsstellung im Ausland nachgewiesen werden. Davon ausgenommen sind qualifizierte Zuwanderer nach dem 3-Säulen-Modell der Rot-Weiß-Rot Karte. Durch die Neuregelung muss auch in kürzeren Abständen besser Deutsch im Inland erlernt werden. Als Anreiz erhalten Zuwanderer längere Aufenthaltsmöglichkeiten. Bereits nach zwei, statt wie bisher nach fünf Jahren, muss der Nachweis profunder Basiskenntnisse (Niveau A2) erbracht werden. Mit einer neuen Stufe in der Integrationsvereinbarung sind nach spätestens fünf Jahren sprachliche Fähigkeiten nachzuweisen, die eine selbstständige Kommunikation im Alltag sicherstellen (Niveau B1) und auch den Daueraufenthalt ermöglichen. (BMI 2011)
Im Leistungsnarrativ wird Sprachenpolitik als Anreizsystem für das neoliberale Subjekt gerahmt. Der Sanktionsmechanismus, der Sprache und rechtlichen Status verwebt, bleibt jedoch trotz veränderter Rahmung bestehen. Die Sprachniveaustufen A1, A2 und B1 verweisen auf den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GERS). Massimiliano Spotti (2011) verdeutlicht, dass die sechs Sprachniveaus des GERS entwickelt wurden, um gemeinsame europäische Standards für Sprachkurs-AnbieterInnen zu etablieren und Kursbücher, den Unterricht und die Bewertung zu vereinheitlichen. Sie wurden somit nicht speziell für die politische Regulierung der Migration von Drittstaatsangehörigen entwickelt. Ihre Zielgruppe sind (europäische) Lernende mit einem hohen Bildungsniveau. Bezogen auf die Spezifika von Migrationspolitik müssten die Sprachniveaustufen z. B. auch Alphabetisierung berücksichtigen (Spotti 2011, 42 f.). Den GERS im Rahmen der Sprachenpolitik einzusetzen, diskriminiert Personen mit geringerem Bildungsniveau bzw. Personen, die sich vor dem Erlernen des Deutschen alphabetisieren müssen. Somit (re-)produziert der Referenzrahmen an sich bereits die Dichotomie „qualifiziert – unqualifiziert“. Die Funktion des Testens stellt mit Verena Plutzar ein Symbol der Leistung und des Erfolgs dar. Im Kulturnarrativ gilt das „mächtige Kontrollinstrument“ der symbolischen Gemeinschaft einer Kulturnation, im Leistungsnarrativ das der symbolischen Wirtschaftsgemeinschaft. Über das Heranziehen der Sprachniveaustufen des GERS werden die beiden Narrative leitmotivisch miteinander
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verwoben. Dies verstärkt wiederum die wechselseitige Kontrastierung. Das Messinstrument ist mit Massimiliano Spotti als Symbol zur Kompetenzsteigerung im Rahmen einer (europäischen) Leistungsgesellschaft zu betrachten. Sprache wird in diesem Kontext zum käuflichen Gut. Die „guten“ Zuziehenden verfügen über die notwendige Kaufkraft. Integrationsfähigkeit wird auf diese Weise mit der Akkumulation von Sprachzertifikaten gleichgesetzt (Spotti 2011, 50 f.). Mit Bourdieu (1983) setzt die „Integrationsfähigkeit“ somit sowohl ökonomisches als auch kulturelles Kapital bereits voraus. Die „Integrationsfähigkeit“ wiederum wird im Leistungsnarrativ symbolisch aufgewertet; sie wird zur Eintrittskarte in die symbolische Gemeinschaft. Den als „qualifiziert“ Konstruierten wird symbolisches Kapital bereits vorab zugesprochen, was zudem über die wertschätzende Rhetorik verstärkt wird. Sie gelten als „gut“ bzw. „erwünscht“ für die symbolische Gemeinschaft und werden symbolisch inkludiert. Gleichzeitig wird die Leistung all jener, die das vorausgesetzte ökonomische und kulturelle Kapital des Leistungsnarrativs erst erarbeiten müssen, über das Einsetzen des GERS unsichtbar. Indem jene, die über dieses Kapital noch nicht verfügen, vom Kulturnarrativ gerahmt werden, wird ihre Leistung doppelt unsichtbar gemacht. Mit der Fokusverschiebung im Leistungsnarrativ geht eine neu etablierte Kompetenzorientierung einher. Diese steht der Defizitorientierung des Kulturnarrativs gegenüber. Migrierende Menschen gelten nun als Ressource und dienen der Propagierung von Mobilität und Mehrsprachigkeit. Sie werden zu „Role Models“ eines globalisierten Arbeitsmarktes. Auf Initiative des Wirtschaftsministeriums wurden im Rahmen der Rot-Weiß-RotKarte auch beim wichtigen Prinzip „Deutsch vor Zuzug“ Erleichterungen festgelegt, um stark nachgefragte Fachkräfte leichter für den Standort Österreich gewinnen zu können: Diese können anfangs auch ohne Deutschkenntnisse ihre Arbeit aufnehmen und die Sprache dann hier in Österreich lernen. (BMWFJ 2011)
„Deutsch vor Zuzug“ ist hier nicht mehr der „Schlüssel zur Integration“, sondern ein Prinzip neben anderen. Auch die Unumstrittenheit dieses Schlüssels wird widerlegt. Für „stark nachgefragte Fachkräfte“ ist Deutsch vor Zuzug eine Hürde, die es abzubauen gilt. Das heißt, wenn über das Leistungsnarrativ Kapitalverhältnisse in den Vordergrund treten, gelten andere Regeln für Integration. Für die Aufnahme der Arbeit sind keine Deutschkenntnisse nötig und – ganz nach Verena Plutzar – wird der Erwerb der Landessprache nicht als Voraussetzung, sondern als Ergebnis erfolgreicher Partizipation dargestellt. Es gibt keine Bringschuld, sondern eine soziale Praxis des Spracherwerbs. Es stehen Kompetenzen, keine Defizite und Bedrohungen im Vordergrund. Der Zuzug ist erwünscht. In der Entwicklung des Leistungsnarrativs und dessen Loslösung vom Kulturnarrativ wird auch der monolinguale Habitus der Sprachenpolitik brüchig:
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Mehrsprachig erfolgreiche Menschen, die neben Deutsch weitere Sprachen sprechen, sind ein Gewinn für Österreich. Wer mehrere Sprachen spricht, kann davon auch beruflich profitieren. In vielen Berufen sind zusätzliche Sprachkenntnisse ein Vorteil, etwa wenn Unternehmen fremdsprachige Kundschaft bedienen oder im Ausland aktiv sind. (Österreichischer Integrationsfonds o. J.b, 9)
Mehrsprachigkeit führt hier zu (volks-)wirtschaftlicher Gewinnsteigerung. Sie wird auf diese Weise zum Symbol einer global orientierten Leistungsgesellschaft, die nationale Grenzen überschreitet und verflüssigt. Das erfolgreiche – kompetente – neoliberale Subjekt ist mehrsprachig und mobil. „Erfolgreich“ inkludiert jedoch auch das Deutsche. So wie der „unumstrittene Schlüssel zur Integration“ im Leistungsnarrativ zu einem Prinzip neben anderen geworden ist, so ist auch das Deutsche eine Sprache neben anderen geworden. Die Brüchigkeit des monolingualen Habitus zeigt sich darin, dass Mehrsprachigkeit sichtbar und aufgewertet wird. Trotzdem bleibt das Deutsche im Blick. Es gilt jedoch nicht mehr als Voraussetzung für die Inklusion in die symbolische Gemeinschaft, die wirtschaftlich definiert ist. Mehrsprachigkeit gilt als Kompetenz und als Symbol einer global orientierten Wirtschaftsgemeinschaft. Das Deutsche wird als gleichwertig neben anderen Sprachen gerahmt und übt nicht die Dominanz der monolingualen Defizitorientierung des Kulturnarrativs aus. Das Deutsche nicht zu beherrschen, stellt keine Hürde dar und ist nicht die Voraussetzung zur symbolischen Inklusion. Im Kontext der Leistungsgesellschaft werden keine Nationalismen, Ethnozentrismen oder kulturell orientierte Rassismen (re-)produziert. Sie werden unsichtbar gemacht. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass „der Schlüssel zur Integration“ nicht die deutsche Sprache, sondern ökonomisches, kulturelles und damit verbundenes symbolisches Kapital ist. Während das Leistungsnarrativ „qualifizierten“ Zuzug mit symbolischem Kapital ausstattet, bringt das Kulturnarrativ – besonders in Kontrast zum Leistungsnarrativ – symbolische Exklusionen und somit symbolische Gewaltverhältnisse hervor, die sich mehrdimensional verstärken.
4.3
Das Emanzipationsnarrativ
Mit dem Kulturnarrativ und dem Leistungsnarrativ ist das Emanzipationsnarrativ verwoben. Geschlechterverhältnisse werden sowohl über Nationalismen und Ethnozentrismen als auch über Kapitalverhältnisse im Diskurs (re-)produziert. „Wer nach Österreich kommen will, speziell im Rahmen des Familiennachzugs, muss über Grundkenntnisse unserer Sprache verfügen. Wer bei uns leben will, muss auch
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bereit sein [sic] sich darauf so vorzubereiten, dass das tägliche Leben bewältigbar ist“, betont Platter. Wer dagegen sei, dass jemand sich mit unserer Sprache auseinandersetzen muss [sic] bevor er nach Österreich komme, dem könne Integrationspolitik kein ernsthaftes Anliegen sein. (BMI 2008)
Als besondere Zielgruppe der Maßnahme „Deutsch vor Zuzug“ wird der Familiennachzug benannt. Der Fokus liegt auf dem Privaten – der Dimension der Reproduktion. Die Familie wird als Problembereich benannt und Geschlechterverhältnisse werden sichtbar. Im Sinne des Kulturnarrativs wird eine Integrationsleistung vorab gefordert. Sprachkompetenz wird als Voraussetzung für den Integrationsprozess gesetzt und nicht als soziale Praxis betrachtet. Gleichzeitig dominiert der monolinguale Habitus. Mit dem Nationalen Aktionsplan für Integration rückte die Dimension der Reproduktion in den Vordergrund der sprachenpolitischen Debatte. Und über das Leistungsnarrativ gilt es diese im Namen des Arbeitsmarktes – der Produktion – zu regulieren: Für Frauen mit Migrationshintergrund soll es spezielle Sprachkurse geben, um ihre – vergleichsweise schlechten – Bildungschancen zu erhöhen. (BMI 2009a, 7)
Die sprachenpolitischen Maßnahmen werden in diesem Kontext in erster Linie als Bildungsmaßnahmen gerahmt. Anhand der Differenzlinie Geschlecht wird die Dimension der Reproduktion feminisiert und Sprachkompetenz in einen kausalen Zusammenhang mit Bildungspartizipation gestellt. Sowohl das Kulturnarrativ als auch das Leistungsnarrativ wird zur Legitimation des Emanzipationsnarrativs herangezogen: Die Teilnahme an Sprachkursen ist im Hinblick auf die Förderung von Zielgruppen, insbesondere von Frauen, bedeutsam, da der Spracherwerb auf freiwilliger Basis aufgrund traditionsbedingter Einstellungen erschwert werden könnte. (BMI 2009b, 12)
Weibliche Zuziehende bzw. Zugezogene werden unter den Generalverdacht gestellt, nicht an Sprachkursen teilnehmen zu dürfen. Über „traditionsbedingte Einstellungen“ wird über das Kulturnarrativ das Patriarchat angesprochen. Hier wird Kultur jedoch als fremde Kultur entworfen. Frauen werden über Geschlechterverhältnisse heteronormativ als abhängig von ihren Männern gerahmt und als Opfer ohne jegliche Handlungsmacht repräsentiert. Sie werden in einem Gewaltverhältnis positioniert, das sie ihren Männern unterwirft. Auf diese Weise werden Geschlechterverhältnisse in der Vermittlung der Sprachenpolitik instrumentalisiert und zur symbolischen Homogenisierung und Hierarchisierung der als fremd positionierten Frauen missbraucht. Im Schatten dieser Konstruktion wird zeitgleich ein Bild von als fremd positionierten Männern entworfen, die als Patriarchen erscheinen und ihren Frauen den Zugang zum Spracherwerb und somit zur Bildung und zum Arbeitsmarkt kollektiv zu verbieten scheinen.
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Hier wird das Zusammenspiel des Kultur- und Leistungsnarrativs erneut deutlich. Die symbolisch Exkludierten werden homogenisiert und über das Kulturnarrativ essentialisiert. Mehrsprachigkeit ist unsichtbar und symbolisches Kapital wird über die Rhetorik zerstört. Der Erwerb der Landessprache gilt als Voraussetzung und nicht als Ergebnis erfolgreicher Inklusion. Im Namen des Leistungsnarrativs gilt es, die Zielgruppe zu „fördern“. Das diagnostizierte Defizit an Eigenverantwortung, welches das Leistungsnarrativ hervorbringt, wird über das Kulturnarrativ erklärt. Eigenverantwortung erscheint als Mangel einer als „fremd“ gesetzten Kultur. Auf diese Weise entsteht der konstruierte Widerspruch zwischen einer als monolithisch dargestellten homogenisierten Kulturvorstellung auf der einen und einer symbolischen Wirtschaftgemeinschaft auf der anderen Seite. Über das Emanzipationsnarrativ werden das Kultur- und das Leistungsnarrativ miteinander verknüpft und die Kontrastierung intensiviert. Es gilt nun, aus den „Unerwünschten“ „Erwünschte“ zu machen. Hierfür werden neben Geschlechterverhältnissen über das Kulturnarrativ Ethnozentrismen und kulturelle Rassismen und über das Leistungsnarrativ Neoliberalismen (re-)produziert. In einer paternalistischen Tonalität tritt infolge das Bundesministerium für Inneres handlungsmächtig als Retterin – der als Opfer Stigmatisierten – auf: Zudem eröffnet diese Maßnahme vielen Frauen, die aus patriarchalischen und sehr traditionellen Strukturen kommen, erstmals einen Bildungszugang [sic] den sie sonst nicht hätten [sic] und ermöglichen [sic] ihnen damit eine aktive Teilhabe an der Gesellschaft. (BMI 2011)
„Deutsch vor Zuzug“ wird im Emanzipationsnarrativ als ermächtigende Strategie gerahmt, die zu mehr Partizipation – und somit Leistung – führen soll. Die Eigenverantwortung, von der das Leistungsnarrativ erzählt, wird den Frauen mittels des Kulturnarrativs abgesprochen. Doch was passiert hier aus Sicht der Geschlechterforschung? Wie eingangs erwähnt, spricht Robert Miles (1999) vom dialektischen Prozess der Konstruktion von Bedeutung. Es sind die anderen, die fremden Frauen, die vom Patriarchat betroffen sind. Hier wird aus einer paternalistischen Haltung heraus gesprochen. Die Aussendung bringt eine Hierarchisierung hervor, in der die „Eigenen“ als fortschrittlich und helfend höher gestellt und die „Anderen“ als Opfer, die es zu befreien gilt, dargestellt werden. Birgit Rommelspacher (2007) spricht in diesem Zusammenhang auch von der „ethnischen Hierarchie zwischen Frauen“. Gabriele Dietze (2009, 34 ff.) sieht eine „asymmetrische Kompromissbildung“, die sich im „okzidentalistischen Geschlechterpakt“ zeigt, der die „okzidentale Frau“ der „Orientalin“ gegenübergestellt. Dieser bringt performativ die „Orientalin“ als unemanzipiert und die „okzidentale Frau“ als emanzipiert hervor. Die Werte- bzw. Leitkulturdebatte imaginiert auf diese Weise eine scheinbar bereits erfüllte Geschlechterdemo-
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kratie. Die Presseaussendung verschleiert somit Geschlechterverhältnisse in der als „eigen“ definierten Gruppe. Wir – die fortschrittliche Gemeinschaft – haben patriarchale Strukturen überwunden. Dies führt zu einer doppelten Stabilisierung des Geschlechterverhältnisses entlang der Differenzlinie „Herkunft“. Über das Leistungsnarrativ wird das Emanzipationsnarrativ noch weiter ausdifferenziert. So heißt es über die InhaberInnen der Rot-Weiß-Rot-Karte: Ihre Angehörigen dürfen ohne Wartezeit sofort nach Österreich mitkommen, müssen aber zuvor Basis-Deutschkenntnisse erwerben. Die Familienangehörigen von besonders Hochqualifizierten sind auch davon ausgenommen. (BMWFJ 2011)
Anhand des Leistungsnarrativs wird Familienmigration in „erwünscht“ und „unerwünscht“ differenziert und somit hierarchisiert. Hohe Qualifikation bringt auch Eigenverantwortung für und in der Familie mit sich. Für Familienmigration von „Hochqualifizierten“ werden – ganz im Sinne des Leistungsnarrativs – jegliche Machtverhältnisse ausgeblendet. Und mit steigender Qualifikation scheinen patriarchale Strukturen abzunehmen. Nun ist der „unumstrittene Schlüssel zur Integration“ in die Kulturnation nicht nötig. All dies verdeutlicht die Instrumentalisierung des Kultur- und Leistungsnarrativs. Wird das Emanzipationsnarrativ mit dem Kulturnarrativ verbunden, steht eine Defizitorientierung im Vordergrund. Es werden jene konstruierten Gruppen präsentiert, die als „unerwünscht“ gelten bzw. nur unter bestimmten Bedingungen geduldet werden. „Wir“ ist dann eine Kulturnation, die frei von Geschlechterverhältnissen imaginiert wird. Wird das Emanzipationsnarrativ mit dem Leistungsnarrativ verknüpft, treten Kompetenzen in den Fokus und es werden jene Gruppen adressiert, die als „erwünscht“ bzw. nachgefragt präsentiert werden. „Wir“ ist dann eine globalisierte Wirtschaftsgemeinschaft und der monolinguale Habitus wird brüchig. Dabei wird die konkrete Feminisierung nur dann sichtbar, wenn die Rahmung mit dem Kulturnarrativ verwoben wird. Über die (Re-)Produktion von Geschlechterverhältnissen mithilfe des Emanzipationsnarrativs werden jene Frauen, die über das Kulturnarrativ imaginiert werden, auf der symbolischen Matrix am weitesten herabgesetzt und somit aus der symbolischen Gemeinschaft mehrfach exkludiert. Indem das Emanzipationsnarrativ einerseits mithilfe des Kulturnarrativs und andererseits mithilfe des Leistungsnarrativs kontextualisiert wird, werden die symbolischen Gewaltverhältnisse, die auf die konstruierte Gruppe einwirken, verstärkt. Über die stigmatisierende Darstellung des Emanzipationsnarrativs werden die adressierten Frauen sowohl aus der als „eigen“ gesetzten Kulturnation – bzw. dem Kulturkreis – als auch aus der symbolischen Leistungsgesellschaft externalisiert. Über Geschlechterverhältnisse werden im Diskurs nicht nur Essenzialisierungen hervorgebracht und Geschlechterverhältnisse in der „Aufnahmegesellschaft“ verschleiert, es werden
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zeitgleich Nationalismen, Ethnozentrismen, kulturelle Rassismen sowie Neoliberalismen (re-)produziert. Die Zerstörung symbolischen Kapitals wird mehrdimensional legitimiert und über die symbolischen Exklusionen Spracherwerb mehrfach erschwert.
5.
Resümee
Die politische Kommunikation der Sprachenpolitik ist grundlegend durch drei Narrative strukturiert: das Kulturnarrativ, das Leistungsnarrativ und das Emanzipationsnarrativ. Das Kulturnarrativ bringt über das Konstrukt der Kulturnation symbolische Inklusionen und Exklusionen hervor. Diese Kulturnation wird über Sprache mittels eines monolingualen Habitus definiert und mit einer homogenisierten Vorstellung einer Wertegemeinschaft verbunden. Dabei wird Sprachkompetenz mit „Integration“ gleichgesetzt und Sprachlernen als Bringschuld der Zuziehenden gerahmt. Im Kulturnarrativ ist eine Defizitorientierung zu erkennen. Das Leistungsnarrativ ist durch eine Fokusverschiebung gekennzeichnet. Hier wird die Kulturnation ausgeblendet und symbolische Inklusionen und Exklusionen werden über die – als globalisiert gerahmte – Wirtschaftsgemeinschaft hergestellt. Der monolinguale Habitus wird brüchig und die zu erfüllenden Auflagen bezüglich der Landessprache Deutsch werden als Hindernis betrachtet. Im Leistungsnarrativ dominiert eine Kompetenzorientierung. Die Synchronität des Kultur- und Leistungsnarrativs bringt die Differenzierung in „unerwünschten“ und „erwünschten“ bzw. symbolisch exkludierten und symbolisch inkludierten Zuzug hervor. Gleichzeitig wird über die Verwobenheit der Narrative die Leistung jener, die als „unerwünscht“ gerahmt werden, unsichtbar gemacht. Im Emanzipationsnarrativ wird Familienmigration adressiert. Über das Emanzipationsnarrativ werden sowohl das Kultur- als auch das Leistungsnarrativ (re-)produziert. Die stigmatisierende Darstellung von Frauen, die anhand der Schablone weder der Kulturnation noch der symbolischen Wirtschaftsgemeinschaft entsprechen, dient der mehrfachen symbolischen Exklusion. Auf diese Weise werden „Frauen aus patriarchalen Strukturen“ als Problemgruppe schlechthin konstruiert. Gleichzeitig sind unterschiedliche symbolische Inklusionen sichtbar, die häufig nicht den Gruppen gelten, die als Zielgruppen der Maßnahmen adressiert werden. Die politische Kommunikation der Sprachenpolitik wird identitätspolitisch genutzt. Besonders deutlich ist dies im Kulturnarrativ. Die nationalistische Identitätspolitik (re-)produziert das Konstrukt der national begrenzten Kulturnation, die teilweise als Kulturkreis im Sinne Huntingtons erweitert wird. Auf diese Weise wird die empirisch gegebene Migrationsgesellschaft Österreich geleugnet und ein homogenes Kulturverständnis propagiert. In dieser Rahmung
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wird das Deutsche zum kulturellen Symbol der Kulturnation und die Multilingualität Österreichs unsichtbar. Die symbolische Inklusion gilt hier jenen Personen, die sich der Kulturnation angehörig fühlen. Im Namen der Kulturnation gilt es, „Bedrohungen“ abzuwehren. Im Leistungsnarrativ tritt die Volkswirtschaft in den Vordergrund. Hier ist die symbolische Inklusion nicht nationalkulturell begrenzt. Wer Gewinnmaximierung und volkswirtschaftlichen Nutzen verspricht, gilt als „Diversitätsressource“ und wird auch symbolisch inkludiert. Nun wird Zuzug in „gut“ und „schlecht“ differenziert und die Leistungsgesellschaft – die symbolische Wirtschaftsgemeinschaft – adressiert. „Der Schlüssel zur Integration“ ist nun nicht die deutsche Sprache, sondern bereits vorhandenes ökonomisches und kulturelles Kapital. Im Leistungsnarrativ dominiert eine neoliberale Identitätspolitik, die Eigenverantwortung und Gewinnmaximierung propagiert und Machtverhältnisse verschleiert, gleichzeitig jedoch (re-)produziert. Im Emanzipationsnarrativ werden Geschlechterverhältnisse adressiert. Die Kulturnation sowie die symbolische Wirtschaftsgemeinschaft werden als frei von patriarchalen Verhältnissen imaginiert. Auf diese Weise werden patriarchale Verhältnisse vor Ort verschleiert. Das Sichtbarmachen von Ungleichheiten in Österreich wird erschwert und dem Abbau von Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts wird entgegengesteuert.
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Theologie
Michael Nausner
Imagining Participation from a Boundary Perspective. Postcolonial Theology as Migratory Theology
Imagination and Participation are two concepts which have different meanings in political and theological discourse. From a theological perspective, I think it is important to recognise these differences on the one hand, but it is equally important to analyse the ways in which these differences can enrich each other mutually. In this article I want to recognise the importance of the political use of the terms for a constructive future of our multicultural societies. At the same time I want to argue that there can be a fruitful overlap in the political and theological understandings of the terms. There is something to be gained for the common good if political scientists, cultural critics and theologians listen to each other in their attempts to argue for a constructive use of the terms imagination and participation for general societal wellbeing. My argument is influenced by postcolonial theology, which has an open ear to contemporary cultural critics, especially the migrants among them. It holds true, not only for theology, that the migratory perspective is often an integral aspect of a critical approach to cultural developments.
The Need for In-Between Spaces of Negotiation I want to begin by presenting such a migratory perspective; one that has special significance in a city like Vienna, with its history of troublesome relations with Jews and Turks. The person I am thinking of is both Turkish and Jewish: Seyla Benhabib is Jewish and was born in Istanbul. Currently professor of political science at Yale University, she received the Leopold Lucas Prize from the Evangelical-Lutheran faculty at Tübingen University on May 8, 2012; a prize honouring outstanding scholars for their contribution to reconciliation between peoples and the promotion of tolerance (von Platen 2012). In her remarkable speech, she highlighted the limitations of democracy in terms of providing equal rights for all. There exists an irresolvable tension between national democracies protected by national borders and universal human rights. Benhabib pointed out
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that it is an idealistic logic to think that all people within the limits of a national democracy are equal participants. The situation of equal participation and equal rights for all does not exist. This lack of equality, of course, has significant consequences for immigrants who do not have national citizenship and who therefore have no right to contribute to the political process. Benhabib argues for a continuous negotiation within democracies (“democratic iterations”) in order for them to become and remain compatible with cosmopolitan rights. One of the highlights of her speech was her passionate call to expand our imagination as to which identities can be allowed to participate fully in a community. And she referenced Moritz Goldstein’s radical argument for German-Jewish hybridity. He reflected such hybridity in his “Deutsch-jüdischer Parnass” (1912) when he wrote: “The pure race Germans may resist it as much as they want, … (but) they will not be able to get rid of the fact that German culture is, in part, Jewish culture.” (Goldstein 1978, 211). I look back with some melancholy at such visionary words in what was a period of a growing anti-Semitism, due in part to the increasing migration of Jews from Eastern Europe to the metropolitan areas of western Europe. But migration necessarily leads to a mixture of cultures and to hybrid identities, and societies need to learn over and over again to relate to newly emerging hybrid identities. This is why we need, as Benhabib emphasised at the end of her speech, the creation of in-between spaces of negotiation.1
Productive Boundaries Since I am no political scientist or philosopher, I cannot engage in the details of Benhabib’s political argument. But I hear her challenge as a theologian and understand her as a prophetic voice, pointing out the urgent signs of the time which must be taken into account by any culturally sensitive theology. In times of the global marginalisation of migrants, she calls our attention to the rights of others, which is an emphasis that needs to be highlighted not only politically, but theologically as well. The categories of ‘others’ and ‘otherness’ are constructed, defined and produced by concrete and abstract boundaries. The theologically significant challenge I hear from Benhabib is, therefore, not simply to accept boundaries between self and other, insider and outsider, citizen and migrant – or even between Christian and Muslim – as normative. In spite of increasing economic globalisation during recent decades, and the free flow of capital, national borders remain a major obstacle for the mobility of people (Anderson/ Shrama/Wright 2009, 5). They remain symbols of our way of categorising people in the western world, and they more or less silently claim normative significance 1 Cf. personal notes from Seyla Benhabib’s speech in Tübingen on May 8, 2012.
Imagining Participation from a Boundary Perspective
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for such categorisations. That this binary categorisation into citizens with rights and non-citizens without or with lesser rights is problematic, and that it is in tension with universal human rights should be of concern not only for political scientists and migration researchers of different kinds (Anderson/Shrama/ Wright 2009, 7), but also for theologians. Concrete and abstract boundaries between people and communities are an adequate starting point for theological inquiry inasmuch as these constructions of inter-human difference also mirror our imagination of the human-divine boundary. The relatedness of our imaginations of the human and the divine other and the boundaries between them has been teased out, perhaps most poignantly, in the work of the Jewish philosopher Emanuel L¦vinas, for whom the otherness of his fellow human beings signifies a mysterious alterity in a similarly absolute sense as the otherness of the divine (Hand 1992, 166 – 189). Without migrants as boundary dwellers, there is no way to understand the complex dynamics of boundaries in general, and cultural boundaries in particular. Theology needs their boundary perspective to avoid being trapped in provincial understandings of communal life. And I would add that in this article I am not so much interested in the migration of the privileged, but rather in people for whom migration has, for one reason or another, developed into a traumatic experience. Answering Jäggle’s question as to how migration can be understood as an epistemological space for theology2, I would say : the migratory perspective is a necessary corrective for a theology which on the one hand reflects on Christianity’s cultural situatedness, and on the other hand does not want to give up on the universality of the Christian faith. I suggest a “preferential option with the migrant” as an epistemological tool for situating a culturally relevant theology. The choice of the preposition ‘with’ in this formulation is deliberate, to preclude the objectifying tendencies so common in the talk about migrants and what can be done ‘for’ them. The assumption in this article is that the migratory perspective, per definition, is a boundary perspective in as much as it is a prime example of the impossibility of cultural purity. The location of the migrant is just the sort of inbetween space of negotiation that Benhabib envisaged at the end of her speech in May 2012. I therefore suggest that the migratory perspective gives theology the unique possibility to take the cultural boundary as a starting point for insight, i. e. as the epistemological space for theological knowledge. I glean two terms from Benhabib’s political approach, which I want to charge theologically, so to speak. A certain brand of public theology has convinced me 2 This question was posed in the call for papers for the panel organised by Martin Jäggle at the Second Conference for Migration and Integration Research in Austria, where this paper was presented.
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of the fruitfulness of using secular terms for theological reflections (Tracy 1981). The analogical overlap of meaning of these terms can facilitate the conversation with people beyond the realm of the Christian faith. The two terms from Benhabib’s speech are: imagination and participation. They are simultaneously key terms in the discourse on migration and terms to which I also attach significant theological value.
Postcolonial Theology as Boundary Theology But before I get to these terms, I want to refer to a rather new brand of theology which can be said to cultivate the boundary perspective I have just highlighted, and which also poses a constructive cultural challenge to traditional systematic theology. In the last two decades or so, postcolonial theory has been applied to theological discourse, starting with Biblical scholars in the 1990s and slowly making its way into other theological disciplines at the beginning of this century. As a consequence, a theological sub-discipline called postcolonial theology has emerged within the last decade (Keller et al 2004; Kwok 2005; Joh 2006; Rieger 2007; Rivera 2007). Starting in English speaking academia, it has slowly made its way into central European academia as well (Nausner 2012a/2012b/2013; Nehring/Tielesch 2013). The renaming of “Zeitschrift für Mission” into “Interkulturelle Theologie” in 2008 is one visible sign of this process of rethinking. The first article in this issue is an example of a theologically constructive attempt to use postcolonial theory (Jahnel 2008). A striking feature of this theology is that it is predominantly produced by migrants, or more precisely, it is written by scholars who are reflecting on the (often personally felt) migratory effects of a colonial heritage which is far from dead. By this means they indeed keep alive “the memory of an ambiguous and ambivalent reality of life that genuinely belongs to the Christian faith”, as Martin Jäggle writes in the call for papers for this panel. Many migratory movements in contemporary Europe can be said to have their root causes in colonial enterprises whose ambivalent effects can still be vividly felt. Maybe the most obvious symbols for such ongoing reverberations of our colonial past are the border regions between Europe and Africa and between the USA and Mexico. The suffering of people along these borders seems to me to be a painful symbol of the fact that historical colonialism has given way to new and equally oppressive forms of contemporary neo-colonialism. To talk about post colonialism is therefore not to talk about a period after colonialism, but rather to analyse and qualify the ways in which a colonial mindset still engenders flawed perceptions of cultural encounter and the heart-wrenching reality of forced migration. Austria, I believe, is very much a part of such a colonial, or better yet, neo-colonial dynamic, even if it does not figure among the
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major colonial powers in history. For example, the large group of Bosnian migrants in Austria are not, to my mind, merely a product of the Bosnian war in the 1990s; their presence cannot be understood in isolation from the last colonial enterprise of the Habsburg Empire after the 1870s, so vividly described in Ivo Andricˇ’s novel The Bridge over the Drina (Andricˇ 1959). The grand old man of postcolonial theory is the late Edward W. Said, a Palestinian scholar born in East Jerusalem, who spent four decades of his life as professor of literature at Columbia University ; so his is the perspective of a Palestinian migrant to the USA. His book Orientalism, first published in 1978, can be said to be the starting point for the development of postcolonial theory. In it he reveals how, during the heyday of British colonialism, English language literature constructed the image of ‘the Orient’ – even invented it. It is a product of Western consciousness rather than of real encounters. This invention of ‘the Orient’ entails an almost ontological superiority of occidental civilisation over Asian backwardness (Said 1978, 1 – 3). Looking around western European societies today, it is not hard to see that such sentiments are still alive and well at the beginning of the 21st century. An imaginary boundary between East and West is constructed that needs to be kept strong. The city of Vienna is perhaps one of the most powerful symbols of such sentiments (cf. “Wien darf nicht Istanbul werden/Vienna May Not Become Istanbul!” – People’s Freedom Party campaign in Vienna 2005). Transnational migration is certainly one of the clearest signs of the impossibility of upholding such imaginary boundaries between cultures and nations. The most influential scholar for my own work on boundaries is Homi K. Bhabha, an Indian migrant to the USA. Bhabha is one of the key figures in postcolonial theory, and as a colonial subject from India, has in a complex way analysed cultural boundary dynamics. His analysis seems to me to be of great help in understanding the complex identity negotiations going on in the cultural encounter with migrants, and above all it pays keen attention to the power dynamics involved. Reminiscent of what Benhabib called the in-between spaces of negotiation, Bhabha points out that experiences of ‘nationness’ have nothing natural about them, but are continuously negotiated in the interstices. Due to the fact of the mere presence of migrants, any pretension to national purity should be abandoned as fiction. From their minority perspective, migrants cannot but seek to authorise their own hybrid identities. (Bhabha 1994, 2) The challenge for the sedentary majority population is not to devalue the perspective of such hybrid identities. After all, as Bhabha points out with reference to Salman Rushdie, “the truest eye may now belong to the migrant’s double vision” (Bhabha 1994, 5). In other words, the boundary perspective of the migrant is not a matter of choice if we are to understand our contemporary cultural situation; it is of the essence if we are to understand ourselves.
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When Bhabha emphasises that the “western metropole must confront its postcolonial history, told by its influx of post-war migrants and refugees, as an indigenous or native narrative internal to its national identity”, (Bhabha 1994, 6), this rings true for the situation in the city of Vienna as well as for the situation at the European borders. According to the analysis of postcolonial theory, the fate of marginalised migrants is not imposed upon us from the outside, but is a part of the internal identity of European nations and Europe as a whole due to colonial and neo-colonial interrelations. So what happens at the European boundaries reveals a core element of European identity. What Bernhard Waldenfels has so succinctly described on a phenomenological level applies to the contemporary cultural atmosphere in Europe: “The treatment of borders reveals the spirit of the current era” (Waldenfels 2006, 16). And the spirit in Europe in terms of its treatment of migrants is in many ways a problematic and exclusionary one.
The Preferential Option With The Migrant If postcolonial theory can, with some justification, be called a theory emerging from the cultural boundary, postcolonial theology, as I understand it, is following this lead. And this means that it is a theology that pays attention to the boundary in a quite different way from certain orthodox theological approaches. While any Christian orthodoxy has a keen interest in the boundary as well, it imagines the boundary as a division, for example, between right and wrong doctrine. This at least is the impression that arises for spectators of theological activity : the theologians are the ones who define what is ‘in’ and what is ‘out’; they suggest the adequate boundary for Christian teaching and living. Postcolonial theology differs in that it is interested in the dynamics at the boundaries themselves. The leading question is not where the boundaries are but how they are constituted. The treatment and production of the boundaries is of interest, and not so much the areas included or excluded by them. And of course: in contrast to many orthodox approaches to theology the cultural boundary is understood as key ;3 the cultural boundary as privileged zone of identity formation. This leads me to a very brief mapping of my understanding of postcolonial theology in the history of theology at the end of the last century. Postcolonial theory can be said to be an odd blend of Marxist and post 3 Astoundingly, the treatment of cultural boundaries was missing at the annual meeting of Wissenschaftliche Gesellschaft für Theologie on the topic “Communication on Boundaries” (Kommunikation über Grenzen) in Vienna 2008 (Schweitzer 2009).
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structural discourses (Castro Varela/Dhawan 2005, 8).4 This means that a material historical discourse is confronted with the ambivalent world of textual play. While Marxist thinking is key for many postcolonial thinkers in their desire to liberate the academic discourse from a colonial mindset, it is clear that, for them, it needs to be supplemented with cultural theory to dismantle the colonial discourse. In a similar way, postcolonial theology can be said to be indebted to the liberationist paradigm of theology with its Marxist underpinnings. The analysis of power relations is important, the question of who is doing the thinking is emphasised and close attention is paid to the context of theological production. Consequently, it has an open ear for the many varieties of liberation discourse which followed the battle cry of the preferential option for the poor in the 1960s. These discourses include feminist theology in its many versions. They include Black theology, Womanist theology, Latina/o theology, Minjung theology, Gay theology, and any number of liberationist theologies emerging out of the context of specific situations of oppression. While there can be said to be a basic loyalty to the liberationist paradigm on the part of postcolonial theology, it wants to recognise the many complexities of intercultural co-existence where the layers of oppression are many. Therefore it does not share the oppositional analysis in many liberation models and finds inspiration in the ability of post structural thinkers to analyse ambiguities, but also in their ability to deconstruct western hegemony and Eurocentrism (Keller/Nausner/Rivera, 5 – 10). Inspired by such thinkers as Michel Foucault, but even more by Jacques Derrida, who was a Jewish-Algerian migrant to France, postcolonial theology takes its starting point from the in-between spaces of cultural coexistence. It is an intercultural theology in the truest sense of the word. This means it understands theology in and of itself as an intercultural activity all the way down. The intercultural challenge is something that affects theology before it is exported to other continents. It is part and parcel of systematic theology from the very beginning. This is why I am pleased to see that the intercultural perspective is no longer limited to the field of mission theology, but that institutes are starting to emerge in German-speaking Europe that understand systematic theology as an intercultural affair.5 In order to be true to the claim that postcolonial theology is a brand of intercultural theology – perhaps the preferential option for the poor – a by now fifty year old slogan of liberation theology should, in our migratory situation in 4 Ina Kerner is rightly pointing out that, for a number of postcolonial writers, psychoanalytical theory as a key inspiration needs to be added to the disciplinary influences on postcolonial theory. (Kerner 2012, 34). 5 Examples of such institutes are the centres for intercultural theology of the Catholic faculties at the universities of Frankfurt and Salzburg, and the newly founded seminary “Fachhochschule für Interkulturelle Theologie” in Hermannsburg.
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Europe, change into the preferential option with the migrant. This would on the one hand be in tune with the fact that, according to the earliest witnesses of the Christian faith, Christian existence is a migratory existence. But above all, this slogan brings home a twofold message: first, migrants do have a unique perspective on the intercultural nature of the Christian faith not available to a homogeneous, sedentary community ; second, by changing the ‘for’ to a ‘with’, the necessary mutuality in an intercultural theological endeavour is highlighted. There is a mutual need: the majority group needs the perspective of the migratory minority as much as vice versa. This also prevents a Christian community from falling prey to what Jacques Derrida has called “hostipitality” (Derrida 2000), which is a mix of the words hostility and hospitality. Behind this game of words I see the continuing risk in many discourses on migration, namely to stabilise a power imbalance behind the faÅade of hospitality toward the migrant. Hospitality becomes a potentially hostile affair once it stabilizes the roles of “lord of the house” and “guest” (Derrida 2000, 4), because then the guest can only ever exist thanks to the grace of the superior lord. Such a relation is, if not hostile, at the very least an antagonistic affair. It is just such antagonistic attitudes, common to many colonial, racist, and nationalistic discourses, that postcolonial theology wants to deconstruct. And this is in tune with the vision of one of the great prophets of postcolonial theory, the Martinican psychoanalyst and participant in the Algerian revolution, Frantz Fanon. He sees in the desire of the migrant a decisive seed for equal participation and recognition. Such desire is for him a sign and a precondition “for the creation of a human world – that is, a world of reciprocal recognitions” (Bhabha 1994, 8). I want to conclude this article with some reflections on where and how the journey toward such a ‘world of reciprocal recognitions’ might start. A world of reciprocal recognition is, for me, an eschatological trope. It is a utopia with transformative potential.
Imagining New Forms of Participation I understand a utopia as being much more than the dream of a better future. Instead I interpret utopia as the transformative imagination of another time and space. The emphasis is on transformative and on space. In other words, the best kinds of theological utopia do not defer transformation to another time and space, but work by giving a new quality of hope to current spatiotemporal conditions. Benhabib almost sounded theological when, in a debate on feminism and postmodernism, she talked about the “longing for the wholly other” as a necessary ingredient of utopian thinking. In opposition to the postmodern critics of utopias as otherworldly (Benhabib 1995, 29), I agree with Benhabib that utopian thinking is “a practical moral imperative” and that its “ethical impulse”
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needs to be taken seriously (Benhabib 1995, 30). I therefore understand utopia as a decisive precondition for social transformation. To my mind, Christian faith can be understood as such a transformative utopia, effecting a change of reality by changing the imagination of human beings. Finally, I return to the two terms Benhabib used in her speech last May in order to sketch a Christian utopia that takes seriously the necessary contribution of migratory voices. The two terms are participation and imagination. Benhabib used these terms in her speech on politics and human rights. I understand them as key terms for theological work as well. They could be used to frame my understanding of what theology in general is all about: it is an exercise in imagining our participation in God’s new creation. To put it briefly, and in the spirit of the Reformed theologian Jürgen Moltmann: it is an exercise in hope (Moltmann 2005). If people lose their imagination of a different time and space, the risk is great that a destructive status quo will be perpetuated. In a book on theology and trauma, Serene Jones, another Reformed theologian, has described her entire theological project as a matter of imagination. Inasmuch as a renewal of imagination is essential for traumatised human beings to survive, this applies to people with the experience of forced migration which in one way or another is traumatising. Jones describes Christian faith as providing a healing manner of imagining and of ordering imagination in analogy with the Biblical stories. She emphasises that these are stories about people who are agents in their own lives, with God-given grace to act, which is especially important in relation to migrants who are often depicted to the public as merely victims. The task of a migratory theology then would be to take the agency and the utopian potency of migrants seriously and with their help “to renarrate to us what we have yet to imagine” (Jones 2009, 21). From the boundary perspective of the migrants, the entire Biblical narrative could come to new life and develop a transformative potential for greater inclusion and participation in faith communities, as well as the political community at large. For this to happen, of course, a continuous analysis of structural obstacles to migrants’ agency needs to take place. I read the key message in much of the Biblical tradition as a call to imagine new forms of participation and of reciprocal recognitions la Fanon. The story of the Jewish people starts with Abraham, the paradigmatic migrant, who leaves his home to find new forms of participation he can barely imagine. The Jewish people are bound by Scripture to let the stranger participate in their resources. The stranger, after all, reminds them of their own life as migrants and indented labourers in Egypt. And in the New Testament, Jesus time and again and flouts societal conventions and makes a point of recognising foreigners as equal partners in conversation. All this is to say that the Biblical heritage recognises migration as a basic condition of human co-existence and not a problem which
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needs to be solved quickly. It is rather exactly the condition of migration, the presence of the stranger – this intercultural situation – that triggers a new imagination of participation. This is a utopia, yes, but it has transformative potential. Utopia imagines equal participation across difference here and now. Such imagination cannot be developed by the sedentary majority alone; it needs the boundary perspective of the migrant to accomplish a world of reciprocal recognitions.6 A church that wants to remain true to its calling to be ‘catholic’ cannot remain monocultural, and therefore it cannot afford to ignore migratory voices in its imagining of the realisation of God’s new creation on earth. Maybe the many new immigrant churches7 represent the places where the tension between local church membership and participation in God’s new creation is played out in a way similar to the secular tension between national democratic rights and universal human rights. Theologically, there is no doubt that local church membership is part and parcel of the participation in God’s new creation, which transcends any ethnic or national boundary. But in practice churches often seem to mirror the societal tension between national and universal human rights. One of the reasons for this tension is the reluctance to listen to migrants as agents of communal change. Time and again I think that to overcome this tension we need a ”preferential option with the migrant”, by which I mean, a continuous joint imagination of what equal participation in God’s new creation might entail (Nausner 2010).
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6 Mara do Mar Castro Varela has convincingly elaborated a secular, political version of the power of the utopian imagination of migrants partly based on postcolonial theory. (Castro Varela 2007) 7 My own denominational background is United Methodist, and, like many other denominations, the number of migrant churches has increased steadily throughout the last decades. This poses a challenge to our denominational imagination of what participation in church and society may entail. For a list of current international United Methodist congregations in Germany see: http://www.atlas.emk.de/umc-international-churches.html. For a reflection on what the new intercultural situation may entail for the future of the Church, including the United Methodist Church, see my article on cultural boundary experience and the church. (Nausner 2010)
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Hinführung Wenn jemand die Erdkugel vom Mond aus ansähe, und wenn er dies zur Zeit der jüngeren Steinzeit täte, dann erblickte er zwei und nur zwei Menschenwerke: nämlich den römischen Limes und die Chinesische Mauer. Das sind Einrichtungen zum Schutz der Sesshaften gegen die Nomaden. […] Europa ist zum Zentrum der Welt geworden, weil die Chinesische Mauer besser gebaut war als der Limes: Der Westen wurde vom nomadischen logos spermatikos besser befruchtet als der Osten. Die dritte der drei Zivilisationen, Indien, hatte zu ihrem Leidwesen keine Mauer nötig: Sie hatte den Himalaya. (Flusser 2000b, 63)
Der Kommunikations- und Wissenschaftsphilosoph Vil¦m Flusser reflektiert in seiner Textsammlung „Von der Freiheit des Migranten“ (Flusser 2000a)1 das gesellschafts- und politikkritische und darin befreiende Humanisierungspotential von Migration. Eine solche ressourcenorientierte Wahrnehmung ist im zeitgenössischen Migrationsdiskurs in Europa eher die Ausnahme als die Regel und steht erst in jüngerer Zeit im Fokus der Migrationswissenschaften.2 Zumeist dominiert ein problemorientierter Diskurs. Die Sicht Flussers ist umso bemerkenswerter, als er – ein tschechischer Jude – selbst Migrant ist: Er flüchtete 1939 aus der damaligen Tschechoslowakei vor den Nationalsozialisten. Im eingangs angeführten Zitat beschreibt Flusser eine Erkenntnis, die ein historischer Blick auf Migration bestätigt: Migration ist ein Dynamisierungsfaktor für die wirtschaftliche, politische, soziale, kulturelle und auch religiöse 1 Flusser reflektiert darin Begriffe wie Heimat und Heimatlosigkeit, Sesshaftigkeit und „Gastarbeiter“, spezifiziert sein Verständnis von Freiheit als bewusstes „Flechten von Bindungen in Zusammenarbeit mit anderen“ (Flusser 2000c, 20), entwickelt Bausteine von Philosophien der Emigration und des Exils, erschließt deren anthropologische Grundlagen und kreatives Potenzial und kritisiert den Nationalismus ebenso wie bestimmte Formen des Wohn- und Raumverständnisses. 2 So der Soziologe Christoph Reinprecht in seiner Eröffnungsansprache der „2. Jahrestagung Migrations- und Integrationsforschung in Österreich“, 18.–19. September 2012, an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
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Entwicklung von Gesellschaften (Bade 2007; Pohl 2013; Baumann 2009).3 Zugleich stellen sich Fragen, die über den historischen und sozialwissenschaftlichen Diskurs hinausreichen und Philosophie wie auch Theologie betreffen. Zwei davon möchte ich in meinem Beitrag aus praktisch-theologischer Sicht näher ausleuchten: – Welche Bedeutung haben verschiedene „Andere“ füreinander? Zugespitzt auf das Verhältnis zwischen Sesshaften und Nomaden, aktuell zwischen Einheimischen und MigrantInnen4 : Welche Bedeutung haben Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte füreinander? – Welche Bedeutung hat das Phänomen Migration in der Geschichte der Menschheit? Die Antworten auf diese Fragen stellen maßgebliche Weichen für die interdisziplinäre Migrationsforschung, insbesondere für den Umgang mit empirischen Daten. Flussers Beobachtung legt nahe, was auch die Gewaltgeschichte im Kontext von Migration bestätigt: Nomaden, Migranten, Flüchtlinge5 werden von jeher als dermaßen massive Bedrohung für die Einheimischen wahrgenommen, dass die Mauern zu ihrer Abwehr sogar kosmisch sichtbar sind. Das Aufeinandertreffen mit „den Anderen“, gar „den Fremden“ scheint das zentrale Problem der Menschheit zu sein. Demgegenüber ist für Flusser (2000c, 30) gerade das „Anders-Sein“ des Migranten die zentrale Chance für die Selbsterkenntnis des Sesshaften: Er ist „das Fenster, durch welches hindurch die Zurückgebliebenen die Welt erschauen“ und „der Spiegel, in dem sie sich, wenn auch verzerrt, selbst sehen können“. So ist Migration beispielsweise nicht, wie vielfach im öffentlichen und politischen Diskurs nahegelegt, die Ursache für die Schwierigkeiten im Bildungssystem, sondern macht diese in zugespitzter Weise deutlich sichtbar. Aus inklusionstheoretischer Perspektive wird an der Benachteiligung migrantischer Kinder und Jugendlicher der Mangel an Bildungsgerechtigkeit ebenso erkennbar wie der selektive Charakter eines Bildungssystems, der junge Menschen aus sozial schwächeren Milieus – mit und ohne Migrationshintergrund – prinzipiell benachteiligt (Jäggle/Krobath 2010, 52 f.)6. In den Bildungsproble3 Z.B. waren die aus dem katholischen Frankreich des 17. Jahrhunderts vertriebenen protestantischen Hugenotten Uhrmacher, Bauern, Tabakerzeuger oder Bäcker. Länder, die diese Flüchtlinge aufnahmen, erfuhren durch sie einen enormen ökonomischen Modernisierungsschub (Baumann 2009, 339). 4 Auf die Problematik dieses Begriffes habe ich andernorts verwiesen (Polak 2012). Ich gehe hier auch nicht auf die sozialwissenschaftliche und politische Bedeutungsvielfalt ein. 5 Flusser unterscheidet – wie die Migrationsforschung – in seinen Überlegungen sehr differenziert zwischen den verschiedenen Formen von Migration. 6 Das in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankerte Recht auf Bildung ist z. B.
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men von migrantischen Kindern kann eine Gesellschaft die Schwächen ihres Bildungssystems erkennen, die alle betreffen. Flussers These lässt sich an vielen weiteren sozialwissenschaftlichen Befunden belegen (z. B. Castles/Miller 20097; Castro Varela 20078). Gerade weil Verschiedene aufeinandertreffen, kann Migration die Möglichkeit für Entwicklung Aller eröffnen, insbesondere der „Bodenständigen“. Obwohl schmerzhaft, ist Migration ein kreativer Prozess, der neue Freiheit und Erkenntnismöglichkeiten erschließt – wenn sich eine Gesellschaft darauf einlässt, sich in der Begegnung mit MigrantInnen selbstkritisch wahrzunehmen. Ausgehend von Flusser zeige ich aus einer praktisch-theologischen Perspektive, dass das Phänomen Migration spirituelle Erfahrungen ermöglichen kann, und damit unverzichtbare Grundlagen für eine migrationssensible Theologie. Ich konzentriere mich dabei auf die Einheimischen: Welche spirituellen Erfahrungen werden möglich, wenn einheimische Menschen, jenen, die kommen, zuhören? Darin besteht auch ein spezifischer Beitrag der Praktischen Theologie: die Stimmen jener Menschen, die gesellschaftlich von Diskriminierung und Exklusion bedroht sind, zur Sprache zu bringen und für die Theologie und die anderen Wissenschaften erkenntnisrelevant werden zu lassen. Ich nähere mich meiner Frage in vier Schritten: – Migration als „Zeichen der Zeit“ und locus theologicus: Zunächst begründe ich, warum und inwiefern Migration und die „Stimmen der MigrantInnen“ spirituelle Erfahrung eröffnen können und theologiegenerativ sind. – „Spirituelle Erfahrung“: Anschließend erläutere ich den Begriff „spiritueller Erfahrung“. – „Zuhören“: Menschen mit Migrationsgeschichte kommen selbst zu Wort. Ich versuche exemplarisch, Momente des spirituellen Erkenntnisgewinns herauszuarbeiten. – Abschließend entwickle ich Perspektiven einer migrationssensiblen Theologie, sie sich mir in Interviews9 mit Menschen mit Migrationsgeschichte erschlossen haben.
in Österreich für Kinder mit Migrationshintergrund nicht angemessen zugänglich, vgl. zuletzt die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) o. J. 7 Migration lässt erkennbar werden, wie eine Gesellschaft mit Pluralität und Diversität, mit Minderheiten und Macht umgeht, welche Werte sie vertritt, was sie unter Gerechtigkeit versteht u.v.m. 8 Migration entschleiert die „mythische Norm“ einer Gesellschaft, also z. B. welches normative Bild sie vom Menschen hat, welche Utopien und Visionen sie (nicht) hat. 9 Diese Interviews wurden im Rahmen eines Forschungsprojektes (Polak/Schachinger 2013) geführt.
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Migration als „Zeichen der Zeit“ und locus theologicus10
2.1
Migration: „Zeichen der Zeit“
Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat sich die Katholische Kirche verpflichtet, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“ (GS 4). Der Begriff „Zeichen der Zeit“ ist eine genuin theologische Kategorie. Zumeist definieren die Sozialwissenschaften die „Zeichen der Zeit“ und die Theologie bewertet sie, indem sie fragt, was sie zu deren besserem Verständnis beitragen kann, aber auch, wo sie kritischen Einspruch erheben muss. Im Horizont biblischen und konziliaren Verständnisses dieser Kategorie beschreiben die „Zeichen der Zeit“ aber vor aller wissenschaftlichen Hermeneutik zunächst eine Glaubenserfahrung. „Zeichen der Zeit“ sind konkrete geschichtliche Phänomene, die von Gläubigen als Anwesenheits-, Wirkungs- und Handlungsraum Gottes erfahren werden und daher eine Quelle theologischer Erkenntnis sind. Sie ermöglichen spirituelle Erfahrung, die einer wissenschaftlichen Reflexion bedarf. Sozialwissenschaftlich erschlossene Phänomene eröffnen dem Glauben neue Einsichten und im Weiteren theologische Erkenntnis. Dieses Verständnis verdankt sich zum einen der Interpretation der Reich Gottes-Botschaft des Jesus von Nazareth als einer geschichtlichen Kategorie: Das Reich Gottes ist eine gegenwärtige Wirklichkeit, die allen Menschen Heil und Gerechtigkeit noch vor dem Tod zusagt und daher auch in der Zeit wahrnehmbar ist (Lohfink 2010; Eigenmann 1998).11 Zum anderen schließt es an die Interpretation der „Zeichen der Zeit“ dreier Theologen an. Marie-Dominique Chenu (1965, 32) arbeitet heraus, dass nicht die bare Faktizität des Ereignisses das ausschlaggebende Moment [nämlich der theologischen Bedeutung der „Zeichen der Zeit“, Anm. der Autorin] ist, sondern die Bewusstseinsbildung, die es bewirkt, die Bündelung von Energien und Hoffnungen eines ganzen Kollektivs von Menschen.
Von „Zeichen der Zeit“ kann man demnach erst sprechen, wenn Menschen sich bewusst werden, dass einem geschichtlichen Phänomen das Potenzial innewohnt, in ihm Gottes Präsenz wahrzunehmen. Der Begriff beschreibt die Wirklichkeit, insofern diese in einem bestimmten geschichtlichen Kontext Menschen bewusst ist und aus der Perspektive des Glaubens wahrgenommen wird. Der Theologie kommt dabei die Aufgabe der wissenschaftlichen Reflexion zu, sie kann aber den Glaubensvollzug nicht ersetzen. Erst eine gläubige 10 Polak/Jäggle 2012, 558 – 567. 11 Auf die Frage nach den konkreten Formen kann ich hier nicht eingehen, ausführlich dazu z. B. Eigenmann 1998.
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Wahrnehmung geschichtlicher Phänomene lässt diese als „Zeichen der Zeit“ erkennbar werden. Migration ist deshalb nicht per se ein „Zeichen der Zeit“. Nur indem sie mit den Sinnen und dem Verstand des Glaubens erfahren wird, kann sie das Bewusstsein der Menschen verwandeln und Gottes Präsenz auf neue Weise erschließen. Erst dann lässt sich nach Bedeutung – nach Sinn und Relevanz – von Migration in der Geschichte fragen. Hans-Joachim Sander (Sander 2012; Sander 2010) erarbeitet im Anschluss an das Konzil drei Kriterien, die ein Phänomen als „Zeichen der Zeit“ erkennen lassen: a) „Zeichen der Zeit“ sind (historische) Wirklichkeiten, in denen Menschen um ihre und die Würde und Anerkennung der Anderen kämpfen, gleich ob ungläubig oder gläubig (GS 1 – 4); b) „Zeichen der Zeit“ sind Orte (loci), an denen Menschen nach der Anwesenheit Gottes suchen bzw. diese finden können, basierend auf Solidarität der Gläubigen mit allen Menschen (GS 11); c) „Zeichen der Zeit“ bedürfen zu ihrer Erkenntnis konstitutiv der Wahrheit der „Anderen“ (UR 4). Das Erkennen der „Zeichen der Zeit“ setzt deshalb die Sensibilität für jene Orte und Situationen voraus, an bzw. in denen die Würde und Anerkennung von Menschen bedroht sind. Ebenso bedarf sie als Voraussetzung des gemeinsamen Einsatzes für Schutz und Anerkennung der Menschenwürde. Um „Zeichen der Zeit“ zu erkennen, ist ein Bewusstsein der globalen Verbundenheit aller Menschen untereinander nötig, da dieses die universale Solidarität überhaupt erst ermöglicht. Erst auf der Basis dieses Bewusstseins und einer Praxis politischer Anwaltschaft für Menschen wird eine gemeinsame Suche nach und die Erkenntnis von Gott möglich. Schließlich ist die Erkenntnis der „Zeichen der Zeit“ eine Frage der Relationalität: Die theologische Bedeutung von Migration erschließt sich nur in Beziehung mit den Migrationserfahrenen, ob gläubig oder nicht. Diese Beziehung wird unabdingbar für vertiefte Gotteserkenntnis. Wie kann es zu einem solchen Bewusstsein und einer solchen Praxis kommen? Migration birgt enormes Lern12-Potenzial, da sie allen Kriterien Sanders entspricht. Giuseppe Ruggieri schließlich betont (2006, 61 – 70), dass die Erkenntnis der „Zeichen der Zeit“ gläubiger Gemeinden bedarf. Er bindet das Erkennen Gottes in geschichtlichen Phänomenen an die konkrete Praxis in Gemeinschaft. Drei Merkmale charakterisieren die „Zeichen der Zeit“: a) Die Interpretation der „Zeichen der Zeit“ soll gemeinschaftlich und b) im Lichte des Evangeliums geschehen und c) zur Praxis vordringen.13 „Zeichen der Zeit“ werden demnach nicht in wissenschaftlichen Instituten ge- oder erfunden, sondern werden zuallererst von gläubigen Menschen im gemeinsamen Handeln erkannt. Dies er12 Lernen wird hier verstanden als Veränderung von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen durch Erfahrung, wobei das generierte Wissen dem jeweils besseren Leben aller dient. 13 Ruggieri betont dabei die Bedeutung der Liturgie, auf die ich hier aber nicht eingehen kann.
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mächtigt nicht nur, sondern nimmt alle Gläubigen in die Pflicht, sich mit Migration auseinanderzusetzen. Zugleich wird der Migrations-Expertokratie ein kritisches Korrektiv eröffnet. Sie ist verpflichtet, auf die Stimmen aller, die von Migration betroffen sind, zu hören, insbesondere auf die Erfahrungen der MigrantInnen. Die Katholische Kirche hat begonnen, die eminent theologische Bedeutung von Migration zu erkennen. Das kirchliche Lehramt schreibt in der Instruktion Erga migrantes caritas Christi (EM) wegweisend: Wir können also das gegenwärtige Migrationsphänomen als ein sehr bedeutsames „Zeichen der Zeit“ betrachten, als eine Herausforderung, die es beim Aufbau einer erneuerten Menschheit und in der Verkündigung des Evangeliums des Friedens zu entdecken und zu schätzen gilt. (EM 14)
Deutlich werden Gabe und Aufgabe von Migration benannt: Der Übergang von monokulturellen zu multikulturellen Gesellschaften kann sich so als Zeichen der lebendigen Gegenwart Gottes in der Geschichte und in der Gemeinschaft der Menschen erweisen, da er eine günstige Gelegenheit bietet, den Plan Gottes einer universalen Gemeinschaft zu verwirklichen. […] Wir sind deshalb alle zur Kultur der Solidarität aufgerufen, […] um gemeinsam zu einer wahren Gemeinschaft der Menschen zu gelangen. (EM 9)
Freilich: Ein lehramtliches Schreiben sichert keinesfalls schon eine Migrationssensibilität der Gläubigen und der Theologie. Migrationsamnesie ist im deutschsprachigen Raum noch weit verbreitet.14
2.2
Migration: locus theologicus
„Zeichen der Zeit“ lassen sich als theologiegenerative Orte verstehen: Die Tradition nennt solche Orte loci theologici.15 Das sind Orte, an denen sich theologische Erkenntnis bilden kann. Seit Melchior Cano (1509 – 1560) gilt für die Theologie die Geschichte als erkenntnisgenerativer locus theologicus alienus – 14 Es gibt Anzeichen, dass Migration als theologierelevant wiederentdeckt wird, auf diese kann ich hier aber nicht eingehen. Mit diesem Themenkomplex beschäftigt sich z. B. das von mir initiierte Forschungsnetzwerk „Religion im Kontext von Migration“ (Forschungsnetzwerk Religion im Kontext von Migration o. J.); die Arbeit und Forschung des Studien- und Bildungszentrums der Scalabrinianer (Studien- und Bildungszentrum für Migrationsfragen o. J.) oder das Forschungsprojekt des Pastoralsoziologischen Instituts in St. Gallen (Schweizerisches Pastoralsoziologisches Institut St. Gallen o. J.). Auch die Österreichische Pastoraltagung 2013 hatte das Thema „Migration und Integration: Pastorale Herausforderungen und Chancen“ (Österreichische Pastoraltagung o. J.). 15 Der Bibelexeget Kuno Füssel und der Fundamentaltheologe Hans-Joachim Sander und kommen zu ebendiesem Schluss (Füssel 1983; Sander 2010).
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damit auch die Gegenwart und ihre zeittypischen Phänomene. Ein locus theologicus ist für Kirche und Theologie eine legitimierte Instanz, eine verbindliche „Autorität“ für Gotteserkenntnis. Loci theologici sind „Wohnstätten“ theologischer Argumente und ermöglichen vernünftige Glaubenseinsichten. Migration eröffnet demnach neue und eigenständige Erkenntnisquellen, die alle Gläubigen und mit ihnen die Theologie wahr- und ernst zu nehmen haben.16 Die Gegenwart – und mit ihr Migration und deren sozialwissenschaftliche Erforschung – kann als formale Autorität mit Geltungsanspruch anerkannt werden. Inhaltlich ist dies freilich nur dann der Fall, wenn die Erkenntnisse zugleich in der biblischen Offenbarung gründen. Lange Zeit diente die Locus-Lehre vor allem der apologetischen Begründung des kirchlichen Autoritätsanspruches. Das kommunikationstheoretisch-partizipatorische Offenbarungsmodell des Zweiten Vatikanums ermöglicht heute ein erweitertes Verständnis der loci theologici: Wie Englert betont (Englert 2012, 95), „gilt als locus in der Theologie heute (…)[…] vor allem das, was theologische Aussagen generiert. Im Zentrum des Interesses steht […] die Frage nach den Entdeckungszusammenhängen („loci“) theologischer Erkenntnis“. Offenbarung kann sich an vielen verschiedenen Orten und auch außerhalb der Kirche ereignen. Damit kann Migration als „Zeichen der Zeit“ ein locus theologicus sein. Gerade „weil man die Zeichen der Zeit nicht als facta bruta nehmen darf, sondern ihre weiterführende Bedeutung, d. h. Gottes Denken und Planen für den Menschen vermitteln soll“, bergen sie, wie Füssel (1983, 262) meint, das kritischweiterführende Potenzial, durch gläubige und theologische Würdigung die Wirklichkeit zu verwandeln. Die Identifikation der „Zeichen der Zeit“ mit loci theologici lässt sich auch schöpfungs- und inkarnationstheologisch begründen: Die Wahrheit der Offenbarung Gottes ist in diese Welt qua Schöpfung eingegangen und findet sich in ihr inkarniert vor. Insofern ist sie keine abstrakte Denk-Größe. Sie ist gebunden an konkrete Zeit, Kultur, Orte und damit auch an die Gegenwart. Dann müssen die „Zeichen der Zeit“ als theologische Wirklichkeit zugleich loci theologici sein, Orte, an denen Theologie entsteht und (neu) gelernt wird. Die „Zeichen der Zeit“ – geschaffene und inkarnierte Wirklichkeit Gottes – sind solche Orte. Migration 16 Ohne hier ausführlich darauf eingehen zu können, möchte ich kurz auf Folgendes hinweisen: Migration ist sowohl ein locus theologicus proprius als auch ein locus theologicus alienus: Insofern der jüdische und der christliche Offenbarungsglaube und seine grundlegenden biblische Texte im Kontext von Migration entstehen, gehört Migrationserfahrung konstitutiv zur Glaubenserfahrung. Auch die Christentumsgeschichte ist ohne Migration nicht angemessen zu verstehen. Christliche MigrantInnen sind Teil der Kirche und müssen nicht erst aufgenommen werden, sie haben fundamentaltheologische und ekklesiologische Bedeutung für die Kirche. Insofern ist Migration ein locus theologicus proprius. Migration als Phänomen außerhalb der Kirche(n) wiederum stellt die Frage nach der Bedeutung „der Anderen der Kirche“ für den Glauben und die Kirche, insofern ist sie auch ein locus theologicus alienus.
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ist ein Lernort des Glaubens: Sie ermöglicht den Gläubigen, im Horizont der Gegenwart die geoffenbarte Glaubenswahrheit tiefer zu erfassen, besser zu verstehen und angemessener zu verkünden und zu leben. Sie verändert den Glauben und im weiteren die Theologie.
2.3
Migration: Biblisch
Neu ist dieser Zugang in der Sache nicht. Wie Dehn und Hock (Dehn/Hock 2005, 11 ff.) zeigen, sind viele der Glaubenserfahrungen der Heiligen Schrift dem locus theologicus Migration zu verdanken. Die Mehrheit der Texte entsteht in einem Kontext von Exil, Flucht, Vertreibung, Wanderschaft und Diaspora. Migration wird bereits im Alten Testament als „Lernerfahrung und Erfahrungsschatz genutzt und bearbeitet“ und lässt eine „Theologie der Migration“ (Dehn/Hock 2005, 11 ff.) entstehen. Migration erschließt spezifische Möglichkeiten der Gotteserfahrung.17 Migration wird als Fluch wie auch als Segen wahrgenommen. Sie entwurzelt Menschen, macht sie verwundbar und führt Unrecht, Ungerechtigkeit, Gewalt, kurz: die Sünde der Menschen vor Augen (vgl. Vertreibung aus dem Paradies; Exodus und Exil Israels etc.). Zugleich erschließt sie sich als Weg der Gnade Gottes, die dessen Treue ebenso erfahren lässt wie sie Ressourcen der Liebe und Solidarität freisetzen kann (siehe Abraham, Moses). Eine Gesetzgebung, die den Fremden in Israel besonderen Schutz gewährt, ist eine Frucht dieser Erfahrungen ebenso wie die beständige Erinnerung, dass im Fremden Gott selbst begegnen kann. Dabei hat laut Hock (Dehn/Hock 2005, 12) Migration weder einen religiösen Eigenwert noch wird sie theologisch hypostasiert. Im Zentrum stehen vielmehr „Wohl und Würde“ der MigrantInnen sowie ihr Recht auf einen „Zielort, eine Bestimmung, die nicht sein ,Heimatland‘ sein muss, die ihn aber zu sich kommen lässt“. Migration ist im Alten Testament eng mit der Frage nach Recht und Gerechtigkeit verbunden sowie mit der schöpfungstheologischen Erkenntnis, dass jeder Mensch, unabhängig von Ethnie, Farbe, Geschlecht, Religion das Abbild Gottes ist und daher alle Menschen von gleicher Würde sind. Auch das Neue Testament ist von Migrationserfahrungen geprägt. Jesus ist als Wanderprediger in Galiläa unterwegs, sein Leben beginnt mit der Flucht nach Ägypten und ist von Heimatlosigkeit geprägt. Diese Heimatlosigkeit wird auch für seine Jünger zur Verpflichtung, um das Reich Gottes verkünden zu können. „Fremde“ und „Gäste“ auf Erden und „Menschen unterwegs“ zu sein (Hebr 11,13; 1 Petr 2,11) gehört zum Selbstverständnis der ersten Christen. Die Ver17 z. B. Bergant 2003: Sie arbeitet am Beispiel des Buches Ruth die besondere Verletzlichkeit von MigrantInnen als heilsrelevant heraus.
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antwortung für den Fremden bleibt ethisches Gebot und wird darin zum spirituellen Begegnungsort mit Christus selbst (Mt 25). Das missionarische Selbstverständnis des Christentums hängt ebenso wie seine Verbreitung untrennbar mit Migrationserfahrungen zusammen. Diese werden im Sinne der Verwirklichung des universalen Sendungsauftrages der Kirche gedeutet. Im Zuge der Sesshaftwerdung und Machtakkumulation des Christentums ist dieses Erbe freilich in Vergessenheit geraten. Das Christentum hat seine Erfahrungen als Verfolgerin bisweilen sogar verraten, wovon der christliche Antijudaismus über Jahrhunderte bedrückend Zeugnis gibt.
2.4
Migration: Die erkenntnisrelevante Bedeutung der Anderen
Vergessen, überhört und übersehen wird in der Geschichte von Kirche und Theologie zu oft und mit Gewaltfolgen die erkenntnisrelevante Bedeutung jener Menschen, die (vermeintlich oder tatsächlich) „anders“ sind oder nicht zur Kirche gehören. Bis heute werden die „Anderen“ der Kirche primär als Objekte, bestenfalls Subjekte der Bekehrung und Fürsorge wahrgenommen. Demgegenüber betont die Kirche (GS 44) deren theologische Bedeutung und erkennt an, dass sie des Austausches mit der Welt und deren Hilfe bedarf, „damit die geoffenbarte Wahrheit immer tiefer erfasst, besser verstanden und passender verkündet werden kann“. Kirche und Theologie sind demnach angewiesen auf die Stimme aller von Migration Betroffenen, auf deren Erfahrungen und Erkenntnisse. In besonderer Weise bedarf sie der Menschen mit Migrationsgeschichte. Vorsicht ist allerdings in der Terminologie angebracht: Denn MigrantInnen sind entgegen dem öffentlichen Diskurs18 nicht die paradigmatisch „Anderen“. Sie eröffnen allerdings die Möglichkeit, neu zu lernen, dass es gnoseologisch unverzichtbar ist, auf die Stimme aller Menschen zu hören, insbesondere auf die jener, die aufgrund von „Andersheit“19 unsichtbar, stigmatisiert, diskriminiert und exkludiert sind. 18 Der religiös Andere, der ethnisch-kulturell Andere, der sozio-ökonomisch Arme: im Begriff des Migranten verdichtet sich alles, was in einer Gesellschaft als „anders“ definiert wird. Durch dieses „Othering“ – das Erklären von Menschen aufgrund von Differenz zu „Anderen“ – spaltet eine Gesellschaft alles ab, was sie ablehnt, und entlastet sich. Viele MigrantInnen möchten weder gern als solche oder als „anders“ bezeichnet werden, da in einer Gesellschaft, die dem Mythos der Homogenität anhängt, „anders“ und „MigrantIn sein“ Stigmata sind (Polak/Schachinger 2013). 19 Auf den erkenntnistheoretischen Diskurs rund um Andersheit und Fremdheit kann ich hier nur verweisen. Ich stütze mich maßgeblich auf die Überlegungen des Fundamentaltheologen Franz Gmainer-Pranzl (2012, 53 – 75). Der Andere ist dabei immer „einer von zweien“ (alter) und durch ein Drittes mit diesem verbunden, in meinem Verständnis das gemeinsame
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3.
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Begriffsklärung: Was ist spirituelle Erfahrung?
Bedingung der Möglichkeit, Migration als „Zeichen der Zeit“ und locus theologicus zu erkennen, ist eine spezifische Weise der Wahrnehmung der Wirklichkeit und eine entsprechende Praxis. Ich nenne dies „spirituelle Erfahrung“.20 Spiritualität ist zunächst eine anthropologische Fähigkeit und daher keinesfalls zwingend an Religion gebunden. Die Spiritualitätsforscher David Hay und Rebecca Nye (Hay/Nye 2006) sprechen so z. B. von spiritual awareness. Dies ist eine hochgradig individuelle Grundbegabung, die Menschen nach der Qualität, dem Sinn und den Geheimnissen in der Tiefe menschlichen Lebens fragen lässt. Drei Dimensionen „erhöhter Aufmerksamkeit“ sind für diese spirituelle Achtsamkeit bzw. Bewusstheit charakteristisch: eine Empfindsamkeit für bestimmte Bewusstseins-Zustände (awareness sensing), ein Gespür für das Geheimnisvolle (mystery sensing) sowie ein Gefühl für Wertvolles (value sensing). Zentral für Spiritualität in diesem Sinn ist das Bewusstsein, als Subjekt in Beziehung zur ganzen Welt zu stehen („relational consciousness“). Im weitesten Sinn bezeichnet Spiritualität eine Lebensform, in der der jeweilige Lebensweg erfahrungsbezogen, d. h. bewusst und reflektiert in einen größeren, transzendenten Deutungshorizont gestellt und integriert wird. Wie Karl Baier (2006, 13) formuliert: „Zum Mensch-Sein gehört die Tiefendimension einer heilvollen, identitätsstiftenden Bezogenheit auf eine letzte Wirklichkeit.“ Spiritualität ist für ihn die „Erfahrung, Entwicklung und Gestaltung dieser Beziehung im Leben von Einzelnen und Gemeinschaften“. Diese letzte Wirklichkeit kann eine religiöse sein wie „Gott“, kann aber auch ein säkularer Wert wie Humanität sein. Entscheidend sind bestimmte Formen ganzheitlicher Wahrnehmung, der persönlich-authentische Bezug auf einen „Sinn“ des Ganzen sowie dessen praktischer Ausdruck in Alltag und Gesellschaft. Spirituelle Erfahrung beschreibt demnach Wahrnehmungen und Erlebnisse von Einzelnen
Mensch-Sein vor Gott bzw. die Geltung der Menschenrechte für ausnahmslos alle Menschen. In diesem Sinn sind alle Menschen füreinander anders. Den Begriff „Fremde“ vermeide ich für MigrantInnen, da er im gesellschaftlichen Verwendungszusammenhang Nicht-Zugehörigkeit signalisiert und auch als Selbstbezeichnung abgelehnt wird. „Das Fremde“, das ich mit Gmainer-Pranzl als bleibend entzogene und nicht in totale Verstehbarkeit des Anderen auflösbare Wirklichkeit verstehe, bleibt dabei eine herausfordernde Wirklichkeit, die alle Menschen zur Antwort aufruft. Es spielt in spiritueller Hinsicht eine zentrale Rolle, weil sich darin Transzendenz – Gott – erschließen kann. 20 Theologisch könnte man auch von Glaube sprechen, der ohne spirituelle Erfahrung und entsprechende Lebensweise gar nicht so benannt werden kann, aber alltagssprachlich zumeist mit der Zustimmung oder Ablehnung von kognitiven Meinungen oder Weltanschauungen identifiziert wird. Zudem sind Glaube und spirituelle Erfahrung auch nicht zwangsläufig ident: Zum Glauben wird eine spirituelle Erfahrung erst durch eine bewusste Entscheidung für eine bestimmte Deutung.
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und Gemeinschaften, die im Horizont einer Wirklichkeitsdeutung mit SinnAnspruch durch Theorie und Praxis interpretiert werden. Christliche Spiritualität vollzieht sich im Horizont der Tradition des Glaubens, d. h. Wahrnehmung und Deutung von Wirklichkeit sowie Praxis erfolgen innerhalb einer Beziehung zu Gott, wie er sich in den Schriften des Alten und Neuen Testaments Einzelnen und seinem Volk, Juden und Christen, zu erkennen gegeben hat. Die Kirche hat diese Erfahrungen tradiert und theologisch reflektiert weiterentwickelt – freilich nicht immer geglückt. Christliche Spiritualität ist gleichsam spiritual awareness, die sich auf tradierte religiöse Schriften und Traditionen bezieht. Christliche Theologie ist die wissenschaftliche Reflexion dieser Erfahrungen. Migration eröffnet spirituelle Erfahrung – das kann demnach bedeuten: – die awareness für das Geheimnis und die Würde fördern, die jeder Mensch in seiner Einzigartigkeit mit sich bringt, und sich der Verbundenheit mit anderen Menschen gewahr werden; – die jeweils eigenen Wert- und Sinnvorstellungen bewusst und kritisch wahrnehmen lernen, verändern, umgestalten; dies kann intensive Gefühle auslösen und andere, neue Sinnhorizonte und Wirklichkeitsdeutungen erschließen bzw. die eigenen weiten und vertiefen; – neue Lebensweisen lernen, die z. B. das Verhalten gegenüber zugezogenen Nachbarn verändern, politisches Engagement für mehr Rechte von Zuwanderern nach sich ziehen oder zum Risiko ermutigen, neue Formen des Zusammenlebens zwischen Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte zu erproben. Theologisch formuliert kann Migration z. B. – den Glauben – als Beziehung zu Gott und den Mitmenschen – verändern: die Bibel wird im Horizont von Migration anders interpretiert und neu entdeckt; christliche Identität wird als migrantische wiederentdeckt; die Einheit der Menschen in ihrer Vielfalt wird erfahrbar, ebenso das Aufeinander-Verwiesen-Sein von Menschen; – den Glauben – als christliche Lebenspraxis – verändern: Migration sensibilisiert für die zeitgeschichtlich konkrete Bedeutung von großen theologischen Worten wie Nächstenliebe, Solidarität, Sorge um Gerechtigkeit. Gesellschaft, Kultur, Politik, Recht, Wirtschaft, Religion und Kirche werden aus der Perspektive der Menschen mit Migrationsgeschichte wahrgenommen; die dabei entdeckten Inhumanitäten motivieren zum gesellschaftspolitischen Engagement. – als Raum der Anwesenheit, Wirkung und des Ereignisses Gottes wahrgenommen werden: Neue Dimensionen Gottes werden erschlossen oder alte neu verstanden. Der Migrant bzw. die Migrantin wird zur Epiphanie Gottes, d. h. in den Fremdheits- und Befremdungserfahrungen, die sich ihm/ihr oder
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zwischen ihm und den Einheimischen eröffnen, kann aus der Sicht des Glaubens ein Verweis auf Gottes Wirklichkeit erkannt werden.21 Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Erfahrung von Differenz zu. Soziale, kulturelle, religiöse Differenz ermöglicht nicht nur Beziehung, sondern auch Denken und Erfahrung. Ist spirituelle Erfahrung ohne das Wahrnehmen und Bedenken von Differenz überhaupt möglich? Erst die Begegnung – vielleicht sogar Konfrontation – mit dem Anderssein des anderen und dem Fremden, das sich darin zeigen kann, ermöglicht jene Grenzüberschreitung, in der das je Eigene fragwürdig und Neues wahrnehmbar wird. Wäre Differenzerfahrung dann nicht auch die Voraussetzung dafür, dass sich Transzendenz – Gott – zeigen kann? Migration wäre so ein paradigmatischer Ort spiritueller Erfahrung. Dies setzt freilich eine Gesellschaft, eine Kirche und eine Theologie voraus, in der Differenz nicht als Störung, sondern als ausgezeichnete spirituelle Lernmöglichkeit verstanden wird.22 Die Fiktion von Homogenität müsste dafür aufgegeben werden.
4.
Zuhören
Im Folgenden verdeutliche ich meine Überlegungen anhand von Textpassagen aus 24 Leitfadeninterviews, die ich im Rahmen eines Forschungsprojektes (Polak/Schachinger 2013) zum Wandel der Religiosität von Menschen mit Migrationsgeschichte geführt habe. GesprächspartnerInnen waren katholische KroatInnen, protestantische Deutsche, orthodoxe SerbInnen und muslimische TürkInnen, die seit mehr als fünf Jahren in Österreich leben. Deren Erfahrungen werfen ein kritisches Licht auf die österreichische Wirklichkeit. Sie zeigen, wie Zuwanderer in Österreich mitunter wahrgenommen werden, demaskieren den Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit Differenz und führen einen eklatanten Werte-Mangel der Einheimischen vor Augen. Sie erzählen über die schwer irritierte Beziehung zwischen Einheimischen und Zuwanderern. Eine 8-jährige Kroatin kommt im August 1972 mit ihrer Mutter und den drei Geschwistern in Wien am Südbahnhof an. Der Vater ist seit zwei Jahren in Wien als Bauarbeiter beschäftigt. 21 Selbstverständlich nicht „automatisch“: Entscheidend ist, ob Menschen das Fremde, das sich zeigt, aus Glaubensperspektive interpretieren und ob dies praktische Folgen hat, wie z. B. den Einsatz für ein besseres Leben der MigrantInnen oder das selbstkritische Reflektieren von als „normal“ geltenden Werten oder Weltanschauungen. 22 Diese Überlegungen verdanke ich dem Religionspädagogen und Theologen Martin Jäggle.
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Da war die erste Erfahrung, wie die Leute auf uns zugegangen sind – also gar nicht zugegangen, sondern diese alten Frauen haben gemurmelt, und wir haben aus den Gesten gemerkt, es war keine Begrüßung. Das erste Wort, das wir verstanden haben, war Zigeuner. (Ik6)
Könnte die Abwesenheit Gottes, die sich in dieser Situation zeigt, nicht ex negativo zum spirituellen Impuls werden, nämlich indem sie die Erinnerung an fundamentale Glaubenserfahrungen weckt? Sind Scham und Schmerz, die einen beim Zuhören erfassen können, nicht mögliche Quellen spiritueller Erfahrung? ChristInnen könnten sich an das biblische Gebot der Gastfreundschaft erinnern. Demnach gilt der Gast als heilig und bedarf besonderen Schutzes. Das Alte Testament kennt eine Gesetzgebung, in der die sogenannten „Fremden“ von Anfang an selbstverständliche Rechte auf Teilhabe an der Gesellschaft und sogar am religiösen Kult des Volkes Israel hatten.23 Unerträgliche Lebenssituationen können zu Zeit-Räumen der besonderen Erfahrung der Gnade Gottes werden: Ein Kroate kommt mit 12 Jahren auf Familienbesuch nach Wien und kann erst als Erwachsener wieder zurückkehren. Denn während seines Wien-Besuches bricht der Krieg in Jugoslawien aus. Für die Familie beginnt eine katastrophale Zeit: Mein Vater hat irgendwelchen dubiosen Leuten Geld bezahlt, damit sie ihm eine Arbeit verschaffen. […] Am Ende hatten wir zu Hause gerade noch etwas zu essen, das Geld war futsch und der Vater hatte auch keine Arbeit. Nicht, dass wir ein wunderschönes Haus gegen eine 20 m2-Wohnung eintauschen mussten – das war auch sehr schwierig […] dass man die Eltern oft sehr verzweifelt gesehen hat, den Vater weinen gesehen hat. Die Welt ist zerrüttet. Aber da ist auch dann wirklich der Glaube, eigentlich die Hoffnung, die einem der Glaube gibt, sehr hilfreich. […] bevor man verzweifelt, bevor man wirklich apathisch wird, sagt man: o.k., ich habe die Hoffnung, ich tausche alle diese Fragen gegen meine Hoffnung auf eine bessere Zeit. (Ik5)
Welche spirituelle Erfahrung erschließt diese Erzählung für Einheimische? Welche Fragen, welche Gefühle lässt sie entstehen? Welche Sehnsüchte, welche Zweifel weckt sie? Was lässt sich dabei lernen? Solche Erfahrungen stellen Selbstverständlichkeiten der sogenannten „normalen“ Gesellschaft infrage und decken deren Unmenschlichkeiten auf. Gerade dadurch ermöglichen sie spirituelle Erfahrung. Denn sie irritieren und verändern die Wahrnehmung. Migration kann dann zum Impuls werden, die Praxis zu verändern. Insbesondere Erfahrungen von Diskriminierung, Unrecht und Ungerechtigkeit fordern dazu auf: Als die Fachinspektorin für Religion zu mir in den Unterricht gekommen ist, hat sie mich nachher gelobt, wie gut mein Deutsch ist. Kein Wort zu meinem Unterricht. Wie 23 Z.B. Ex 20,8 – 10 (3. Gebot); Dtn 5,14 – 15; Dtn 14,11 – 20; Dtn 14,22; Dtn 16, 11.14.
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lange muss ich eigentlich hier leben, um nicht mehr als Migrantin wahrgenommen zu werden? (Ik2),
erzählt eine Religionslehrerin aus Kroatien, seit 20 Jahren in Wien. Während ihres Studiums hat sie im Gastgewerbe gearbeitet und beschreibt die Reaktion ihrer österreichischen Kollegen: Also die Leute, wo sie gehört haben, dass ich eine Ausbildung mache, sind sie auf mich losgegangen: „Ja, warum machst du Ausbildung, du bist Ausländer, du musst hier arbeiten“, also putzen. (Ik2) Eine andere bosnische Lehrerin, 1992 als Kind während des Krieges nach Wien geflohen, berichtet: Ich habe mich mit einem Manuskript bei einem Wettbewerb für Autoren mit Migrationshintergrund beworben. Dann wurde ich zu einem Gespräch eingeladen. Auf der Tür des Büros hing ein Plakat […] das Bild mit einem Hakenkreuz, einem Mülleimer und einem Mann – das Zeichen gegen Rassismus. Aber das war es nicht. Statt dem Hakenkreuz war es das ganz normale Kreuz. Ich habe die Botschaft erhalten, wir brauchen keinen Gott, keine Religion. Und das hat mich ins Herz getroffen. Tatsächlich persönlich habe ich mich angegriffen gefühlt. Und dann habe ich […] mein Manuskript aus diesem Wettbewerb zurückgezogen. Ich habe nicht gesagt, warum und wieso, weil ich gesehen habe, in dieser Ausschreibung geht es nicht um Migrantinnen oder Gedichte, sondern es geht um Menschen, die das, was sie glauben, bestätigt haben wollen. (Ik6)
Schließlich lassen einige Erzählungen Erfahrungen aufleuchten, die für Sesshafte neue Sichtweisen auf Gott ermöglichen können: Ein serbisch-orthodoxer Priester erzählt, wie er die Migrationserfahrung seiner Gläubigen in seinen Predigten aufgreift. Er beobachtet, dass viele Gastarbeiter der ersten Generation keine klaren Entscheidungen für eine Existenz in der neuen Heimat treffen. Sie leben oft jahrzehntelang zerrissen zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland. In Österreich wird gearbeitet und Geld verdient, aber das Herz ist in Serbien. Nach der Pensionierung sind sie mit dem Schock eines ungelebten Lebens, entfremdeten Kindern konfrontiert und damit, sich in beiden Ländern nicht zugehörig zu fühlen: Die schwierigste Frage beim Jüngsten Gericht wird sein: „Wer bist du?“ Wir werden sagen: „Dieses und jenes.“ Und dann sagt Gott: „Nein, das war ein anderer. Das warst nicht du. Das war […] nicht dein Leben.“ Und da versuche ich ihnen nahezubringen, dass es wirklich sehr wichtig ist, das volle Leben zu leben, da wo man lebt. Überall ist Gottes Land. (Eo1)
Ein muslimischer Türke, Bauunternehmer in Wien, begründet die Fähigkeit gläubiger Menschen, in einer neuen Heimat gut anzukommen, folgendermaßen: Ein gläubiger Mensch müsste sich eigentlich leichter tun beim Ankommen, weil er nämlich die Menschen lieben soll, weil er in der Liebe Gott nahe ist. Grundstein von
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unserem Leben, als ein Muslim: Wir sind jeder ein Teil Gottes. Jeder : Chinesen, Inder, Amerikaner, Österreicher, Deutsche. Und wenn ich daran glaube, sollte ich das Ankommen nicht ein bisschen leichter sehen? Oder? (Im1)
Abschließend die Erfahrung der kroatischen Deutschlehrerin. Ich bin durch die Migration zu einem besseren Menschen geworden, zu einem vielfältigeren. Ich habe in Österreich andere Kulturen […] kennengelernt. Da macht man immer ein neues Fenster auf, […], und dann lerne ich etwas. Ich glaube, die Migration war eine Bereicherung für mich, so tragisch es war, die Umstände und alles. […] Ich bin sehr froh, dass ich den Glauben nicht verloren habe, muss ich ehrlich sagen. Das passiert ja oft: Man ist sich unsicher, es ist alles neu, anderes Land, neue Sprache, neue Einstellungen, neue Einsichten, das ist wunderbar, aber … das, was mich am Leben hält von Tag zu Tag, mir die Kraft gibt, von vorne zu beginnen, ist eigentlich Gott. (Ik6)
Die hier zitierten MigrantInnen ermöglichen Sesshaften Differenzerfahrungen: Diese sind schmerzhaft, weil ihre Erzählungen enthüllen, wie es um die spiritual awareness, um sogenannte österreichische Werte und den praxisrelevanten Charakter von (gläubigen) Wirklichkeitsdeutungen bestellt ist. Sie stellen die Lebensweise von Sesshaften bloß und zeigen eine bedrohliche Gottferne. Sie decken die gestörten Beziehungen zwischen Menschen auf. Sie zeigen, wie Menschen angesichts von Leid ihre Gottesbeziehung vertiefen können. Wer dem Schmerz dieser Erfahrung nicht ausweicht, dem können sich neue spirituelle Erfahrungen eröffnen. Wesentliche Bedingung dafür ist das Zuhören. Dann lässt sich mit den MigrantInnen gemeinsam das Glauben neu entdecken und lernen.
5.
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Menschen mit Migrationsgeschichte erinnern mit ihren Erzählungen eine allzu sesshaft gewordene Theologie an ihr ureigenstes Selbstverständnis: wissenschaftliche Reflexion eines Migrations-Glaubens zu sein: eines Glaubens, der immer wieder aufbricht, unterwegs ist und vielleicht sogar schmerzhaft aus fragwürdigen Schein-Sicherheiten vertrieben wird. Die Gespräche mit den MigrantInnen haben mir nicht nur gezeigt, wie viele Glaubenserfahrungen rund um Migration die deutschsprachige Theologie vergessen hat. Ich habe auch festgestellt, wie gering die Relevanz von Migrationstheologie ist, sowohl bei den Einheimischen als auch bei den befragten MigrantInnen. Glaube ist für alle primär Hoffnung, Trost und Schutz. Das Potenzial eines Glaubens, für den Migration theologiegenerativ ist, steht auch MigrantInnen nicht zur Verfügung. Nur sehr selten haben meine InterviewpartnerInnen ihre spirituellen Erfahrungen im Horizont biblischer Migrationstheologie gedeutet, die theologische Würde ihrer Migrationserfahrung benannt, geschweige denn Migration als
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Potenzial und sich selbst als spirituelle „LehrerInnen“ für Einheimische verstanden. Woran kann dies liegen? Spiegelt sich darin ein gewisses Versagen der Pastoral nicht ebenso wider wie die „Vorgaben“ und Zuschreibungen der Aufnahmegesellschaft? Diese Beobachtungen rufen nach einer migrationssensiblen Theologie. Eine migrationssensible Theologie fragt: Welches tiefere Verständnis des Glaubens eröffnen Menschen, die migriert sind? Theologie darf damit rechnen, dass ihr Gott in diesen Menschen unerkannt begegnet. Sie sind mit ihren Lebenserfahrungen jene ExpertInnen, die das Zweite Vatikanum als notwendige HelferInnen erkennt. Theologie ist auf spirituelle Erfahrung im Kontext von Migration verwiesen, da sie sonst steril und abstrakt wird. Wie und wo kann Theologie lernen, sich solchen spirituellen Erfahrungen auszusetzen? Ich schließe mit konkreten Perspektiven für die Theologie, die sich mir in den Interviews erschlossen haben. Spirituelle Erfahrung im Kontext von Migration kann für Unrecht und Ungerechtigkeit sensibilisieren. Migration eröffnet der Theologie so die Möglichkeit, innerkirchliche und gesellschaftliche Exklusionsmechanismen aufzudecken und fördert so ein erfahrungsnahes, zeitgerechtes Verständnis von Gerechtigkeit. Die sozialen Probleme der Zuwanderer betreffen ja auch Einheimische: Armut, Bildungsferne, Mangel an Partizipation und vieles mehr. In der christlichen Sozialethik, ob katholisch oder evangelisch (z. B. Becka/Rethmann 2010; Dallmann 2002), ist Migration längst Thema. Allerdings wäre hier das Prinzip der Für-Sorge (Pro-Existenz) um die Dimension des Zusammenlebens (Convivenz) zu erweitern. Nur auf dem Boden eines kooperativen MiteinanderLebens auf Augenhöhe können Menschen mit Migrationsgeschichte ihren spezifischen Beitrag zum gemeinsamen Einsatz für eine gerechte Gesellschaft einbringen. Spirituelle Erfahrung kann Theologie an ihre eigene migrantische Identität erinnern: Muss nicht auch sie immer wieder aufbrechen und alteingesessene, erstarrte Traditionen verlassen? Migration kann der Theologie so z. B. helfen, Heimatideologien aller Art zu entlarven. Heimat ist in biblischer Tradition eine Beziehungs-Kategorie: Die wesentliche Heimat des Menschen ist bei Gott. Heimat in ihrem geographischen, aber auch kulturellen Sinn wird deshalb doch sehr stark relativiert. Migration irritiert eine Theologie, in der Glaube und Kirche sich einseitig und dominant als „Heimat“ präsentieren. Sie erinnert daran, dass Aufbruch und Unterwegs-Sein, Anders- und Fremd-Sein unverzichtbare Dimensionen christlicher Spiritualität sind. Ist eine solche Spiritualität nicht zugleich ein Gegengift gegen alle nationalistischen, rassistischen und fremdenfeindlichen sowie totalitären Ideologien? Spirituelle Erfahrung im Kontext von Migration kann die Sehnsucht nach den biblischen Verheißungen wecken. Migration erinnert die Theologie z. B. an die
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biblischen Verheißungen von der Völkerwallfahrt zum Berg Zion (Jes 2,3; Jes 25,6; Mi 4,1 – 2), bei der am Ende aller Tage die Völker und Nationen der Welt Jahwe (Gott, dem Herrn) die Ehre erweisen werden, ohne ihre Identität aufgeben zu müssen. Migration erinnert an die Vision der Völkerkirche im Epheserbrief, in der die trennende Feindschaft zwischen Juden und Heiden durch Christus beseitigt ist und die Heiden „nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes sind“ (Eph 2,11 – 22). Migration weckt das Bewusstsein für die Einheit der Völker und die Einheit der Menschheit. Was trägt die Theologie im Kontext von Migration bei zur Erinnerung und Realisierung dieser Verheißung? Spirituelle Erfahrung im Kontext von Migration kann für die Fülle der Vielfalt der Schöpfung achtsam werden lassen. Migration ruft Pluralität als Gottesgabe in Erinnerung. Die Bibel bekennt sich von Anfang an zur Pluralität: zu Pfingsten, dem Geburtstag der Kirche, sprechen nicht alle Völker dieselbe Sprache, sondern sie verstehen einander in der Vielfalt ihrer Sprachen (Apg 2). Differenz kann als (ein) Ermöglichungsgrund von Einheit erkannt werden. In den Unterschieden und vor allem wegen der Unterschiede können Menschen eins sein. Wie wird christliche Theologie dieser Erfahrung in einer Migrationsgesellschaft gerecht? Migration erinnert an das Geheimnis des Menschen. Meine InterviewpartnerInnen haben mich gelehrt, dass man einen Menschen erst zu verstehen beginnt, wenn er einem seine Geschichte erzählt. Zuschreibungen wie „MigrantIn“ verweisen niemals auf das Geheimnis eines Menschen. Nicht ohne Grund distanzierten sich alle meine Gesprächspartner von einem Selbstverständnis als „MigrantIn“: „Ich verstehe mich nicht als Migrantin. Das tun die anderen. Migrantin sein heißt, ein Problem sein.“ (Io1) Wie kann man theologisch verantwortet über und vor allem mit diesen Menschen sprechen? Angesichts der hier beschriebenen Erfahrungen kann die Beziehung zu Menschen mit Migrationsgeschichte zum Ereignis und Ort werden, in dem sich das geheimnisvolle Antlitz Gottes zeigt. Die Differenzerfahrungen, die dabei erlebt und erlitten werden, verweisen auf den anderen, den fremden Gott. Migration ermöglicht Differenzerfahrung. Eine solche spirituelle Erfahrung kann alles verändern.
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Regina Polak
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Nachbarschaft
Josef Kohlbacher, Ursula Reeger und Philipp Schnell
Nachbarschaftliche Einbettung und Kontakte zwischen BewohnerInnen mit und ohne Migrationshintergrund in drei Wiener Wohngebieten
1.
Einleitung
Es sind in erster Linie die urbanen Agglomerationen, welche die internationale Zuwanderung in Europa aufnehmen. Damit werden Städte auch zu jenen sozialräumlichen Kontexten, in denen sich Kontakte zwischen zugewanderten und eingesessenen Städtern vor allem vollziehen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts repräsentieren wachsende Diversität einerseits und persistente soziale und räumliche Ungleichgewichte andererseits die wichtigsten Herausforderungen für die soziale Kohäsion und das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund auf der gesamtstädtischen Ebene und der des Stadtviertels. Auf der kleinräumigeren Ebene sind es die städtischen Nachbarschaften, wo einander Stadtbewohner unterschiedlichster Herkunft begegnen und in denen im Alltag engere oder distanziertere Sozialkontakte stattfinden. Empirische Studien haben nachgewiesen, dass die nachbarschaftliche Einbettung in soziodemographisch und lebensstilmäßig homogeneren Wohngebieten ausgeprägter ist als in wenig homogenen und dass steigende Diversität im lokalen Kontext solidaritätsmindernd wirkt und das Zusammenleben negativ beeinflussen kann. Die herkunfts- und lebensstilmäßige Diversität der Bevölkerung hat auch in Wien in den vergangenen Dekaden deutlich zugenommen, denn die österreichische Bundeshauptstadt ist als Folge von Arbeitsmigration und des Falls des Eisernen Vorhanges zu einer wichtigen Destination von ImmigrantInnen aus dem Balkan sowie aus Ostmittel- und Osteuropa geworden. Österreichs EUBeitritt und die zunehmende Asylmigration haben das Ihrige zu einer weiteren Internationalisierung der Wiener Bevölkerung beigetragen. Im Jahresdurchschnitt 2011 lag laut Statistik Austria der Anteil der Wiener mit Migrationshintergrund1 bereits bei 38,8 Prozent. 1 Als Personen mit Migrationshintergrund werden gemäß der Definition von Statistik Austria „Menschen bezeichnet, deren beide Elternteile im Ausland geboren wurden. Diese Gruppe
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Josef Kohlbacher et al.
Unser Beitrag basiert auf den Daten einer eigenen Erhebung in Wien, die im 7. Rahmenprogramm der EU finanziert worden ist. Um zu untersuchen, wie stark zugewanderte und eingesessene WienerInnen in den lokalen Kontext eingebettet sind und wie diese Einbettung mit den sozialen Beziehungen zwischen diesen beiden Gruppen zusammenhängt, haben wir drei Untersuchungsgebiete ausgewählt, die sich nach Wohnattraktivität, Bebauungstypen, der soziökonomischen Struktur und den Anteilen der Bevölkerung mit Migrationshintergrund unterscheiden. Es handelt sich dabei ausdrücklich nicht um „Problemviertel“, die im Zentrum medialer und politischer Aufmerksamkeit stehen, sondern um ganz typische Wiener Nachbarschaften. Basierend auf reichhaltigen empirischen Ergebnissen standen die Wechselwirkungen zwischen den sozialen Kontakten auf der lokalen Ebene und den Ausprägungen der Einbettung in die urbane Nachbarschaft im Fokus unserer Analysen. Dabei wollten wir die folgenden Forschungsfragen beantworten: Welchen Einfluss haben Sozialkontakte im nachbarschaftlichen Umfeld auf den Grad der lokalen Einbettung und welche Unterschiede lassen sich zwischen unseren drei Untersuchungsgebieten nachweisen? Wie steht es um den Grad der lokalen Einbettung bei Personen mit Migrationsgeschichte im Vergleich mit jenen ohne Migrationshintergrund? Inwieweit bestehen Bezüge zwischen der Verbundenheit mit dem Wohnumfeld als Raum und den sozialen Bindungen zu den dort lebenden Menschen?
2.
Theoretische Reflexionen
Der State of the Art der Analysen zur lokalen Einbettung ist durch eine erhebliche definitorische und terminologische Uneinheitlichkeit geprägt, die sich bereits in den 1970er-Jahren zeigte und sich bis in die Gegenwart nicht aufgelöst hat. Bis heute existiert keine einheitliche Definition des Begriffs der „embeddedness“. Ursprünglich wurde der Terminus in seiner räumlichen Bezogenheit vom Wirtschaftsgeographen Polanyi geprägt und sodann 1985 von Granovetter in die Sozialwissenschaften eingeführt. „The possibility of non-local embeddedness […] has been mentioned in passing only by a couple of researchers“ (Oinas 1997, 27). Es sind Begriffe in Gebrauch, die sich sowohl auf den sozialen als auch auf den räumlichen Aspekt der lokalen Einbettung beziehen bzw. das eine mehr, das andere weniger stark gewichten. Im Rahmen der Untersuchung lässt sich in weiterer Folge in Migrantinnen und Migranten der ersten Generation (Personen, die selbst im Ausland geboren wurden) und in Zuwanderer der zweiten Generation (Kinder von zugewanderten Personen, die aber selbst im Inland zur Welt gekommen sind) untergliedern“ (Statistik Austria 2012).
Nachbarschaftliche Einbettung
219
lokal bezogener sozialer Gemeinschaften wurde primär der soziale Aspekt der Einbindung in die Nachbarschaft hervorgehoben und auch als „community attachment“ bezeichnet (vgl. die Studie von Kasarda/Janowitz 1974 sowie Goudy 1982, Cross 2003, Theodori 2004 u. a.). Dieses Konzept fokussiert auf interpersonelle Beziehungen und vernachlässigt dabei den räumlich-lokalen Aspekt der Einbettung. Mit Fokussierung auf eben diesen räumlichen Aspekt haben sich unterschiedliche Konzeptionen mit der Thematik der Einbettung auseinandergesetzt. Mittels der Begriffe der „place identity“ (Lalli 1992) sowie des „place attachment“ (Smaldone 2006) wurde der räumlichen Komponente angemessene Bedeutung im Rahmen der Formation von lokal bezogenen Gefühlskonstellationen zuerkannt, die auch als „neighbourhood attachment“ bezeichnet wurden. Der Ausdruck „sense of place“ (Hay 1998) wurde in einer ganz analogen Bedeutung gebraucht. Die lokale Verbundenheit, das „place attachment“, fördert auch die lokal bezogenen individuellen Identitätsbildungs- und Identifikationsprozesse (Twigger-Ross/Uzzell 1996). Diese Art von räumlicher Bindung stellt auch einen Teilaspekt der Verbundenheit mit der Nachbarschaft dar und hat Konsequenzen für das lokal bezogene Interaktionsverhalten (Vorkinn/Riese 2001). Während also Bolan (1997), Oh (2004) und Greif (2009) „neighbourhood attachment“ untersuchten, widmeten sich Parkes, Kearns und Atkinson (2002) dem Aspekt der „neighbourhood (dis)satisfaction“, wobei dieser Begriff den Aspekt der Einbettung inkludiert. Die Studie von Guest et al. (2006) fokussierte auf „neighbouring ties“, während Hipp/Perrin (2009) „neighbourhood ties“ analysierten. Beide Termini rekurrieren auf ein ähnliches Konzept. In einer früheren Studie (2006) hatten die Autoren die „neighbourhood and community cohesion“ untersucht. Diese bezog sich auf soziale Kohäsion und kombinierte den sozialen und den räumlichen Aspekt (ähnlich wie die „neighbourhood ties“). In unserer Analyse der Einbettung gehen wir davon aus, dass einseitige Perspektiven (d. h. Perspektiven mit ausschließlich räumlichem bzw. nur sozialem Bezug) bezüglich der unterschiedlichen Formen lokaler Einbettung analytisch wenig aufschlussreich sind. Es ist auch zu betonen, dass die meisten Studien Einschätzungen von RespondentInnen bezüglich der von ihnen angenommenen Einbettung anderer Bewohner in den betreffenden räumlichen Einheiten erfragen. Diese Einschätzungen implizieren einen Informationsstand, der eigentlich kaum vorausgesetzt werden kann (Hipp/Perrin 2006). Was dem State of the Art der Analysen über die Einbettung in die urbane Nachbarschaft nach wie vor fehlt, ist die auf das Individuum bezogene Perspektive der Verbundenheit mit dem räumlichen Kontext, die aber Einstellungen und Verhalten gleichermaßen berücksichtigt. Die Existenz vielfältiger Verbindungen zwischen
220
Josef Kohlbacher et al.
sozialen und baulichen Strukturen wurde vielfach empirisch bewiesen und soll hier – schon aus Platzgründen – nicht weiter dokumentiert werden. Unser Konzept von Einbettung in das Wohnumfeld geht über die reine lokalräumliche Bindung hinaus, steht aber in einem Zusammenhang damit. Die Facetten der Einbettung in unserem Konzept basieren auf bereits vorhandenen Definitionen von Altman/Low 1992 und Guest/Lee 1983 sowie empirischen Studien (Bolan 1997; Woldoff 2002; Schnell/Kohlbacher/Reeger 2012), welche zwischen affektiven und interaktionsbezogenen Bindungen im lokalen Kontext unterscheiden. Erstere umfassen Emotionen des Individuums im Zusammenhang mit dem Wohnumfeld, der Verhaltensaspekt wird in Form sozialer Interaktionen inkludiert.
3.
Determinanten der lokalen Einbettung
Die Einbettung des Individuums in den lokalen Kontext entwickelt sich auf der Grundlage von sozialen Interaktionen mit anderen. Dabei sind formale und informelle Aspekte sozialer Beziehungen zu berücksichtigen (Wilson 2000). Sozialbeziehungen sind eine wichtige Ressource für das Individuum und ein Bindemittel für die soziale Kohäsion der urbanen Gesellschaft. Lose Beziehungen in der Nachbarschaft bilden die einzige Verbindung zwischen Individuen, die einander nicht gut kennen (Granovetter 1973) und sie sind imstande, soziale Kohäsion zu fördern. Auf der Grundlage der Studie von Kasarda/Janowitz (1974) konnte der positive Effekt von nachbarschaftlichen Kontakten für Großbritannien von Sampson (1991) und für die USA von Lee/Campbell/Miller (1991) nachgewiesen werden. Forrest/Kearns (2001) bestätigten eine enge Beziehung zwischen sozialer Kohäsion und sozialem Kapital und des Weiteren, dass sich Personen mit einer größeren Zahl von sozialen Bindungen lokal auch stärker eingebettet fühlen. Dies verstärkt sich bei Vorhandensein enger Sozialbeziehungen in der Nachbarschaft. Hipp/Perrin (2006, 2009) analysierten die Relevanz starker Bindungen, deren positive Auswirkungen auf die Verbundenheit mit dem Wohngebiet und die lokale Kohäsion. Aus den Resultaten folgt, dass die lokale Einbettung umso stärker ist, je mehr starke soziale Bindungen in der Nachbarschaft existieren. Es spielt auch eine Rolle, zu welchen Personen Bindungen bestehen und wie sie mit dem Wohnviertel als räumlicher Einheit verbunden sind (Hipp/Perrin 2006). Daher ist auf die interethnische Komponente der Sozialbeziehungen zu achten. Bereits Allport (1954) ging in seiner Kontakthypothese davon aus, dass mit der steigenden Zahl von Kontakten mit „anderen“ die Toleranz und soziale Solidarität zunehmen.
Nachbarschaftliche Einbettung
221
Dazu wurden auch individuelle Faktoren als Determinanten der lokalen Einbindung identifiziert. Hier ist zunächst die Variable Alter zu nennen, wobei ältere Menschen lokal stärker eingebettet sind. Dies hängt mit ihrer längeren Wohndauer, dem größeren Freizeitbudget und ihrer geringeren Mobilität zusammen (Völker/Flap/Lindenberg 2007). Die Wohndauer spielt prinzipiell eine wichtige Rolle, vor allem wenn es um enge Bindungen geht (Lee/Campbell 1999). Langzeitbewohner eines Viertels nutzen dessen soziale Ressourcen in der Regel weit effizienter (Fried 2000, Logan/Molotch 1987, Taylor 1996). Goudy (1982) wies nach, dass die Wohndauer, das Alter und lokale soziale Bindungen die wichtigsten Elemente eines systemischen Modells der Einbettung bilden. Damit zusammenhängend hat Smaldone (2006) den Zeitfaktor und Erfahrungen mit lokalem Bezug als Determinanten der Mensch-Wohnumfeld-Beziehung ausgemacht. Auch der Berufsstatus ist relevant. Nichtberufstätige unterhalten stärker lokal konzentrierte Beziehungsgeflechte (Blasius/Friedrichs/Klöckner 2008). Das Bildungsniveau hat sich als einer der wichtigsten Faktoren herauskristallisiert (Dekker 2007; Dekker/Bolt 2005; Fischer 1982; Woolever 1992). Mit höherem Bildungsniveau weitet sich das soziale Netzwerk aus. Obwohl Bildung daher einen Negativeffekt auf lokale Bindungen haben kann, können auch positive Einstellungen mit lokalem Bezug gefördert werden (Woolever 1992). Der ethnische Faktor ist ebenfalls relevant. Vor allem US-Studien arbeiteten höhere lokale Zufriedenheitswerte bei ImmigrantInnen heraus (Lee/Campbell 1999; Lee/Campbell/Miller 1991), allerdings wurde auch das Gegenteil gezeigt (Greif 2009). In Europa haben etwa Dekker/Bolt (2005) für Zuwanderer in den Niederlanden eine stärkere Einbettung nachgewiesen. Die Stärke des Zusammenhangs hängt von der Zusammensetzung der lokalen Bevölkerung ab. Nicht selten artikulieren Angehörige von Minderheiten auch eine geringere Zufriedenheit mit ihrem Umfeld (Fried 2000). Lokale Nachbarschaften mit einem aktiven institutionellen Fokus (wie etwa einer Kirche) vermögen die lokale Einbettung besonders stark positiv zu beeinflussen (Abrahamson 1996).
4.
Die drei Wiener Untersuchungsgebiete
Das Verteilungsmuster der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Wien ist abhängig von der Struktur des Wohnungsmarktes und den je nach Lage deutlich unterschiedlichen Mieten. Obwohl Segregations- und hausweise Konzentrationsmuster, die auch nach Herkunftsgruppen stark variieren, nachweisbar sind, kann von einer „Ghettoisierung“ nicht die Rede sein (Kohlbacher/Reeger 2008). Diese Tatsache unterscheidet Wien von zahlreichen anderen europäischen Metropolen. Die Bevölkerung ist im gesamten Stadtraum mehr oder weniger
222
Josef Kohlbacher et al.
durchmischt, setzt sich aber naturgemäß in den Arbeiterbezirken anders zusammen als in den Cottagevierteln. Wir haben in unserer Analyse drei typische, sich allerdings deutlich voneinander unterscheidende Wiener Wohnviertel ausgewählt. Diese sollten eine innere Homogenität aufweisen, dazu eine klare Struktur und keine großen, nicht für Wohnzwecke genutzten Flächen. Die Untersuchungsgebiete spiegeln zwei Segmente des Wiener Wohnungsmarktes wider : den gründerzeitlichen privaten Mietwohnungsbestand (in der Josefstadt in seiner gehobenen Qualität, in Ottakring eher in der Substandardvariante) sowie den Gemeindewohnungssektor, der gegenwärtig 30 Prozent des Gesamtwohnungsstocks umfasst. Damit ist die Stadt Wien der größte Hauseigentümer Europas. Des Weiteren bestehen deutliche Unterschiede hinsichtlich der Parameter der Wohnumfeldqualität, wie der Ausstattung mit Grünflächen, der Verfügbarkeit guter Schulen und außerschulischer Kinderbetreuungseinrichtungen sowie der Geschäftsinfrastruktur. Daraus resultiert eine stark divergierende Attraktivität der Untersuchungsgebiete, die ihrerseits den Zuzug unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen bedingt. Wer es sich leisten kann, wohnt naturgemäß lieber im achten als im zwölften Wiener Gemeindebezirk, „soziale Brennpunkte“ existieren in Wien allerdings nicht. Die Auswahl der Erhebungsgebiete erfolgte in Orientierung an einem differenzierten Kriterienkatalog auf Basis eines sozialstatistischen Variablenrasters, den das Forschungsteam im Projekt GEITONIES2 festgelegt hatte und der eine Vergleichbarkeit der Untersuchungsgebiete in den sechs Vergleichsstädten gewährleistete. Hinsichtlich der Verkehrsanbindung bestehen nur geringe Unterschiede: Alle drei Gebiete liegen an der U-Bahn-Linie 6 und sind somit mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar. Basierend auf soziodemographischen und sozioökonomischen Daten wurden folgende Gebiete ausgewählt:
4.1
Untersuchungsgebiet 1: „Laudongasse“
Dieses umfasst einen Großteil des gleichnamigen Zählbezirks. Es handelt sich um ein innenstadtnahes Mittelschichtwohngebiet in der Josefstadt, dem achten Wiener Gemeindebezirk, mit einem hohen Anteil erwerbstätiger Bewohner und einer unterdurchschnittlichen Arbeitslosenquote. Seit den 1990er-Jahren hat der gutbürgerliche Gründerzeitwohnungsbestand einen wesentlichen Attraktivitätsgewinn verbucht und nach Jahren deutlicher Überalterung sind jüngere und besser situierte Haushalte zugezogen. Die „Laudongasse“ ist auch hinsichtlich der baulichen Struktur (Kohlbacher/Reeger/Schnell 2010) ein – wie man in Wien zu sagen pflegt – „besseres“ Wohngebiet. Aufgrund der hohen Wohnqualität 2 Details zum Projekt GEITONIES folgen in Kapitel 5.
Nachbarschaftliche Einbettung
223
besitzt das Gebiet nach wie vor eine große Anziehungskraft und es ist für gebildete Mittelschichtangehörige chic geworden, im früher doch recht konservativen Achten zu wohnen. Gemäß Registerdaten 2010 wurden 29 Prozent der Wohnbevölkerung im Ausland geboren, der Anteil ausländischer Staatsangehöriger lag bei rund 21 Prozent. Sozioökonomisch avancierte Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien konstituieren die größte Herkunftsgruppe, gefolgt von Personen aus Westeuropa und einem Gemisch anderer Nationalitäten. MigrantInnen aus der Türkei sind aufgrund der hohen Mieten nur schwach vertreten. 31 Prozent der Wohnbevölkerung weisen einen Migrationshintergrund auf. Das Gebiet liegt innerhalb des Gürtels, jener stark befahrenen Durchzugsstraße, die die Innenbezirke von den Arbeiterbezirken trennt.
4.2
Untersuchungsgebiet 2: „Am Schöpfwerk“
Das zweite Untersuchungsgebiet liegt im traditionellen Wiener Arbeiterbezirk Meidling (12. Gemeindebezirk) und wird vom zwischen 1976 und 1980 errichteten Gemeindewohnungsbestand dominiert. Mehr als 93 Prozent aller Bewohner dieses Gebiets sind Gemeindebaumieter.3 „Am Schöpfwerk“ ist ein Unterschichtwohngebiet mit einer Präsenz von mehr als 22 Prozent Hilfs- und angelernten Arbeitern. Dieser Anteil liegt um mehr als 7 Prozent über dem Wiener Durchschnitt. Der Anteil der Wohnbevölkerung mit Migrationshintergrund lag 2010 bei über 36 Prozent, dominiert von Personen aus Ex-Jugoslawien. MigrantInnen aus der Türkei sind hier mit 17,4 Prozent stark vertreten, gefolgt von Personen aus EU-15-Staaten sowie aus Polen. Das „Schöpfwerk“ ist kein attraktiver Wohnstandort und hat schon seit Beginn seines Bestehens mit gravierenden Imageproblemen zu kämpfen. Diese resultieren aus der Akkumulation sozialer Problemlagen wie Arbeitslosigkeit und Jugendkleinkriminalität, nicht verschwiegen werden soll aber, dass durch gezielte Sozialarbeit, die aktive Pfarre sowie zahlreiche lokale Vereine und Initiativen (eigene Zeitung) der sozialen Marginalisierung in einem gewissen Ausmaß entgegengearbeitet wird. Grün- und Freiflächen sind durchaus reichlich vorhanden, entsprechen jedoch nicht optimal den Bedürfnissen der Nutzer. Das „Schöpfwerk“ ist zwar kein urbanes „Problemviertel“, aber statusmäßig klar unter der Laudongasse angesiedelt und hat mit Imageproblemen zu kämpfen. Viele wohnen hier nicht freiwillig, sondern weil sie auf bezahlbaren Wohnraum angewiesen sind.
3 Der Wiener Durchschnitt liegt bei 28,4 Prozent.
224 4.3
Josef Kohlbacher et al.
Untersuchungsgebiet 3: „Ludo-Hartmann-Platz“
Es handelt sich dabei um ein Arbeiterwohngebiet im 16. Wiener Gemeindebezirk Ottakring, dominiert vom Gründerzeitbaubestand des späten 19. Jahrhunderts, Grün- und Freiflächen sind rar, eine Parkanlage mit Kinderspielplatz ist aber vorhanden. Es dominieren zwar kleine Läden, ganz in der Nähe liegt aber das bekannte Shoppingcenter „Lugner City“. Gemäß Volkszählung 2001 war der Arbeiteranteil hier zweimal höher als im Wiener Durchschnitt und die Arbeitslosenquote war mit 17,2 Prozent ebenfalls signifikant höher. 2010 wiesen 63 Prozent der hier ansässigen Bevölkerung einen Migrationshintergrund auf, also fast doppelt so viele wie im Wiener Durchschnitt. Senioren- und Studentenhaushalte bilden das Gros der Bewohner ohne Migrationshintergrund. Der Anteil der ex-jugoslawischen Bevölkerungsgruppe ist hier sogar viermal höher als im Wiener Durchschnitt. Die zweitgrößte und einkommensschwache Migrantengruppe ist jene aus der Türkei. MigrantInnen aus EU-15-Staaten sind hier unterrepräsentiert. Tabelle 1 beinhaltet eine Gegenüberstellung wichtiger Merkmale der drei Erhebungsareale: Tab. 1: Strukturelle Basismerkmale der Untersuchungsgebiete (Quellen: Volkszählung 2001, Bevölkerungsregister 2010) Laudongasse Zahl der Wohnungen (2001) Bauperiode Rechtsform der Wohnungsnutzung Gesamtbevölkerung (2010) Anteil Bev. mit Migrationshintergrund (2010) Sozioökonomischer Status der Wohnbevölkerung
Am Schöpfwerk 2.500 1980er-Jahre
2.400 überwiegend Gründerzeit meist private Mietwohnungen 3.930 31 %
Gemeindewohnungen 6.619 36 %
Ludo-HartmannPlatz 2.100 überwiegend Gründerzeit meist private Mietwohnungen 3.922 63 %
mittel bis hoch
niedrig
niedrig
Nachbarschaftliche Einbettung
5.
Datenbasis und Sampling
5.1
Die Wiener GEITONIES-Studie
225
Die Datenbasis stellt eine einmalige Quelle zu wohnumfeldbezogenen Einstellungen dar und wurde im Rahmen des FP7-Projektes Generating Interethnic Tolerance and Neighbourhood Integration in European Urban Spaces (GEITONIES)4 2010 erhoben. Es handelt sich um eine repräsentative Stichprobe (Random-Sampling) der Wohnbevölkerung im Alter ab 25 Jahren. In den Untersuchungsgebieten wurden jeweils 200 Personen (je zur Hälfte mit und ohne Migrationshintergrund) befragt, in summa pro Stadt also 600 Personen. Der Survey umfasst Items zu Vertrauen und Identität auf der lokalen Ebene, zu Zugehörigkeitssentiments sowie ein breites Spektrum an Fragen zur Qualität und konkreten Umständen des Zusammenlebens im Wohngebiet. Zudem wurden Informationen über Sozialkontakte in und außerhalb des Wohnumfelds erhoben. Aufschlussreich ist der Datenpool des Weiteren hinsichtlich der sozialen Kontakte von Personen mit und ohne Migrationshintergrund (siehe Kohlbacher/Reeger/Schnell 2012 für weitere Informationen zum Datensatz).
5.2
Dimensionen der lokalen Einbettung in das Wohngebiet
Unsere abhängige Schlüsselvariable konstituiert sich aus mehreren Indikatoren, die in Summe die Einbettung des Individuums in sein Wohnumfeld messen. Die hier verwendeten Variablen spiegeln die inhaltlichen Hauptdimensionen von nachbarschaftlicher Einbettung aus der internationalen Forschung wider (vgl. Abschnitt 2). Die dazu verwendeten GEITONIES-Survey-Items sind Likertskaliert mit Antwortkategorien von „lehne stark ab“ bis „stimme stark zu“ (wobei manche der Variablen rekodiert wurden, um die inhaltlichen Aussagen stets von Ablehnung hin zu Zustimmung verlaufen zu lassen). Alle Indizes haben eine Skalenkonsistenz von >0,7 pro Gruppe und Nachbarschaft (Cronbach’s Alpha) – Die erste Dimension, lokale Verbundenheit, ist durch einen Index repräsentiert, welcher Einstellungen gegenüber dem Wohngebiet als solchem zusammenfasst: „Ich fühle mich diesem Wohngebiet verbunden“, „Ich würde gerne von hier wegziehen“ und „Mein Wohngebiet ist mir wichtig“. 4 Das GEITONIES-Projekt (griechisch für „Nachbarschaft”) war Teil des 7. EU-Rahmenprogramms. Im Fokus stand eine Erhebung in 18 Wohngebieten in sechs europäischen Städten: Bilbao, Lissabon, Rotterdam, Thessaloniki, Warschau und Wien (Kohlbacher/Reeger/Schnell 2012 und Schnell/Kohlbacher/Reeger 2012).
226
Josef Kohlbacher et al.
– Die zweite inhaltliche Dimension reflektiert Wahrnehmungen bezüglich der Sicherheit im Wohnumfeld: „Die Menschen in meinem Wohngebiet vermitteln mir das Gefühl von Sicherheit“, „Die Menschen in meinem Wohngebiet kommen nicht sehr gut miteinander aus“, „Ich fühle mich verunsichert durch das Verhalten von Menschen im Wohngebiet“ und „Die Menschen in meinem Wohngebiet gehen mir auf die Nerven“. – Zur Messung der nachbarschaftsbezogenen Identität wurden zwei Fragen herangezogen: „Wie stark fühlen Sie sich dieser Nachbarschaft zugehörig?“ und „Ich bin stolz auf mein Wohngebiet“. – Des Weiteren wurde die Kenntnis über das Bekanntsein mit im Untersuchungsgebiet wohnhaften Menschen in einem Index zusammengefasst: „Falls ich wegzöge, würde ich die hier wohnenden Menschen vermissen“, „Ich habe eigentlich kaum eine Ahnung, wer die Leute hier sind“ und „Die Menschen in diesem Gebiet kennen einander kaum“. – Abschließend wurde als wichtiger Aspekt der lokalen Einbettung das Vertrauen in die lokale Bevölkerung herangezogen. Dazu wurde eine Variable aus dem Datensatz verwendet, welche beschreibt, ob die Leute im Wohnumfeld als hilfsbereit einzuschätzen seien.
5.3
Soziale Interaktionen zwischen BewohnerInnen mit und ohne Migrationshintergrund
Das Set an unabhängigen Variablen berücksichtigt zwei Beziehungstypen inund außerhalb der Untersuchungsgebiete: Zunächst fokussieren wir auf starke Beziehungen und das engste soziale Netzwerk. Über diese engsten Kontaktpersonen wurden relevante Daten wie Wohnort und ethnischer Hintergrund erhoben. – Die erste unabhängige Variable ist der „Anteil der wichtigsten Kontakte im Netzwerk engster Sozialbeziehungen, die innerhalb des betreffenden Erhebungsgebietes leben“. Diese kontinuierliche Variable bewegt sich in einem Wertebereich von 0 bis 100 Prozent, wobei ein höherer Wert einen höheren Anteil enger aktueller sozialer KontaktpartnerInnen innerhalb des Wohngebiets anzeigt. – Zweitens wurde jene Komponente der sozialen Beziehungen abgebildet, die sich auf Kontakte mit Personen beziehen, die einer anderen als der eigenen Herkunftsgruppe angehören. Die Dummy-Variable „hat enge Beziehungen zu Menschen anderer Herkunftsgruppen im Wohngebiet“ (1 = ja, 0 = nein) beschreibt, ob mindestens eine Person im engsten Freundeskreis einer anderen als der eigenen Herkunftsgruppe angehört und zum Erhebungszeitpunkt im selben Gebiet wohnhaft war.
Nachbarschaftliche Einbettung
227
– Enge Beziehungen werden bei Individuen häufiger sein, die generell mehr Kontaktpartner anderer Herkunft in ihrem sozialen Netzwerk aufweisen. Um diese Art der Verzerrung zu reduzieren, wurde die Dummy-Variable „hat enge Beziehungen zu Personen mit/ohne Migrationshintergrund (allgemein?)“ (1 = ja, 0 = nein) in die Analyse aufgenommen. – „Small Talks mit Personen anderer Herkunft“ während der vergangenen drei Monate innerhalb des Wohngebiets wurden ebenfalls berücksichtigt. Diese Variable bildet eher lose Sozialbeziehungen in drei Ausprägungen ab: 0 = keine Small Talks; 1 = Small Talk nur mit Angehörigen der eigenen Herkunftsgruppe; 2 = Small Talk (auch) mit Angehörigen anderer Herkunftsgruppen.
5.4
Individuelle Kontrollvariablen
Zusätzlich zu den Informationen über die Sozialkontakte wurden Migrationshintergrund, Bildungsniveau, Erwerbstätigkeit, Alter, Geschlecht, Vorhandensein von Kindern und Wohndauer im Erhebungsgebiet als individuelle Kontrollvariablen in die Analyse aufgenommen: – Im GEITONIES-Survey wurde der Migrationshintergrund auf Basis des Geburtsorts der Eltern klassifiziert (zumindest ein Elternteil im Ausland geboren): 1 = mit Migrationshintergrund, 0 = ohne Migrationshintergrund. – Der sozioökonomische Status wurde anhand des höchsten erreichten Bildungsniveaus gemessen: niedrig = Sekundarausbildung oder weniger, höher = Sekundarausbildung und postsekundäre bzw. tertiäre Ausbildung. Als Dummy-Variable im Zusammenhang mit der sozioökonomischen Position diente die Angabe „erwerbstätig“ (1) versus „nicht erwerbstätig“ (0). – Die Wohndauer im Viertel wurde in drei Ausprägungen erhoben: Zuzug vor ein bis fünf Jahren, vor sechs bis zehn Jahren und vor mehr als zehn Jahren (inkl. von Geburt an). – Drei Kontrollvariablen bezogen sich auf demographische Aspekte: ob Kinder im Haushalt vorhanden sind (1 = ja, 0 = nein), das Alter in Jahren und das Geschlecht. Tabelle 2 zeigt die Auswertungen für die verwendeten Variablen nach Untersuchungsgebieten und -gruppen. Folgende grundlegende Trends sind festzustellen: Betrachtet man die Dimensionen der nachbarschaftlichen Einbettung, treten kaum signifikante Unterschiede zwischen den Erhebungsgebieten auf. Bezogen auf die einzelnen Untersuchungsgebiete weisen Bewohner mit Migrationshintergrund im Gebiet „Laudongasse“ höhere Werte von Sicherheitsgefühl, Zugehörigkeit und lokaler Verbundenheit auf als Personen ohne Migrations-
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Josef Kohlbacher et al.
biographie. Die Personen mit Migrationshintergrund haben also einen positiveren Blick auf ihr Wohnumfeld als die Befragten ohne Migrationshintergrund. Signifikante Gruppenunterschiede treten in den beiden anderen Erhebungsgebieten kaum auf. Auch sind beide Gruppen ungefähr gleichermaßen in lokale soziale Netzwerke eingebettet. Ungefähr ein Fünftel der Angehörigen des individuellen sozialen Netzwerkes lebt im selben Wohngebiet wie die RespondentInnen. Dieses Resultat weist nach Migrationshintergrund und Wohngebieten nur geringe Variationen auf und dokumentiert, dass die Mehrheit der wichtigsten sozialen BezugspartnerInnen außerhalb des unmittelbaren Wohnumfelds lebt. Unterschiede zwischen BewohnerInnen mit und ohne Migrationshintergrund erweisen sich bei Betrachtung der Zusammensetzung der engsten KontaktpartnerInnen, die im Erhebungsgebiet leben, als signifikant. Bei Personen mit Migrationshintergrund ist es signifikant wahrscheinlicher, keine Beziehungen zu Angehörigen der eigenen Herkunftsgruppe im Wohngebiet zu haben, als bei solchen ohne „migration background“. Diese Wahrscheinlichkeit ist besonders hoch bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund im am schwächsten nach Herkunftsgruppen segregierten Gebiet „Laudongasse“. Die Resultate zu Small Talks mit nicht der eigenen Herkunftsgruppe angehörenden Personen während der vergangenen drei Monate, die als Indikator loser Sozialbeziehungen gesehen werden können, weisen in dieselbe Richtung. Man kann also sagen, dass Personen mit einem Migrationshintergrund zahlreichere lose Beziehungen zu Angehörigen anderer Herkunftsgruppen aufweisen als Personen ohne Migrationshintergrund.
6.
Empirisches Vorgehen
Im weiteren Verlauf dieses Beitrags sind wir zunächst deskriptiv daran interessiert, wie sich aus den fünf inhaltlichen Grunddimensionen (Vertrauen, Sicherheit, Bekanntheit, lokale Verbundenheit und Identifikation) Typen der nachbarschaftlichen Einbettung konstituieren. Die erste Stufe bildet deshalb eine latente Klassenanalyse (LCA, „mixture modelling“ nach Muth¦n 2001), um die unterschiedlichen Typen der nachbarschaftlichen Einbettung in den drei Wohngebieten als abhängige Variable zu identifizieren. In einem zweiten Schritt beschreiben wir den Grad der lokalen Einbettung im Vergleich zwischen BewohnerInnen mit und ohne Migrationshintergrund, bevor wir schließlich in multivariaten Analysen auf die Verbindungen eingehen, die in den beiden Gruppen von Befragten in den jeweiligen Wohngebieten zwischen dem Grad der lokalen Einbettung und den sozialen Beziehungen mit Personen gleicher bzw. anderer Herkunft festzustellen sind.
229
Nachbarschaftliche Einbettung
Tab. 2: Deskriptive Verteilungen für die drei Untersuchungsgebiete nach Migrationshintergrund (Quelle: GEITONIES Survey Wien 2010) Laudongasse
Am Schöpfwerk
Alter Frauen
52,6 53,0
46,9 53,0
55,2 55,0
44,6 55,0
43,8 59,0
40,7 46,0
Kinder vorhanden
43,0
57,0
84,0
87,0
41,0
57,0
erwerbstätig Bildungsniveau Pflichtschule höh. Sekundar. tertiäre Ausb. Wohndauer/Zuzug (vor) 1 – 5 Jahre(n) (vor) 6 – 10 Jahren vor mehr als 10 Jahren
56,1
50,5
33,3
48,9
52,0
52,0
b, c c
8,1 32,3 59,6
1,0 44,0 55,0
17,0 69,0 14,0
22,0 47,0 31,0
4,0 51,0 45,0
25,3 40,4 34,3
b, c
11,0 17,0
34,0 17,0
8,0 14,0
30,0 32,0
24,0 18,0
39,0 28,0
b,
72,0
49,0
78,0
38,0
58,0
33,0
c
18,7
19,2
25,2
27,5
20,1
24,1
10,2
49,0
10,6
22,7
13,3
34,7
b
23,5
94,0
19,3
44,3
21,4
69,4
b
11,1 28,3
7,2 3,1
9,1 31,3
9,0 2,0
9,8 14,1
10,6 4,3
60,6
89,7
59,6
89,0
76,1
85,1
100
100
100
100
100
100
Ludo-HartmannPlatz Einheim. Zuwand. Einheim. Zuwand. Einheim. Zuwand. Sicherheit 1,7 1,9 2,9 2,5 2,6 2,6 Bekanntheit 3,2 3,3 3,5 3,3 3,9 3,5 räuml. Verbundenh. 1,6 1,9 2,7 2,6 2,6 2,8 Identität 2,1 2,3 3,3 3,1 3,2 3,0 Vertrauen 3,5 3,5 3,2 3,2 3,3 3,2
% d. Kontakte im Wohnumfeld hat Kontakte zu Pers. and. Herkunft im Wohnumfeld hat Pers. and. Herkunft im engsten soz. Netzwerk bestimmte Kontakte (Small Talks) mit Pers. and. Herkunft im Wohnumfeld keine nur selbe Herkunft (auch) and. Herkunft N
c
Anm.: a = Unterschiede zwischen BewohnerInnen mit und ohne Migrationshintergrund innerhalb des Untersuchungsgebiets signifikant (p < 0.05); b = Unterschiede zwischen den Untersuchungsgebieten sind für Personen mit Migrationshintergrund signifikant (p < 0.05); c = Unterschiede zwischen den Erhebungsgebieten sind für BewohnerInnen ohne Migrationshintergrund signifikant (p < 0.05).
230 6.1
Josef Kohlbacher et al.
Klassifikation der lokalen Einbettung
Mittels LCA eruieren wir Typen der lokalen Einbettung: Diese Methode testet die Beziehungsstrukturen zwischen Variablen, um ein latentes, multidimensionales Konstrukt zu erstellen, und lässt zu, eine Typologie der lokalen Einbettung zu identifizieren sowie die diesbezüglichen Muster zu interpretieren. Unsere Analyse ergab ein auf drei Klassen basierendes Modell.5 Tabelle 3 zeigt die relative Größe der latenten Klassen mit den geschätzten Wahrscheinlichkeiten, bezogen auf die fünf zugrundeliegenden Dimensionen. Die größte Klasse (1) umfasst 41,5 Prozent des Samples und weist die höchsten Wahrscheinlichkeiten in allen fünf Subdimensionen der lokalen Einbettung auf. Die Wahrscheinlichkeit des Gefühls der lokalen Bindung beträgt 99 Prozent; hohe Werte zeigen sich auch bezüglich Sicherheit, Identität und Vertrauen. Obwohl die Wahrscheinlichkeit, die anderen Menschen im Wohngebiet zu kennen, nur halb so hoch ist wie die anderen Indikatoren, ist diese Wahrscheinlichkeit mit 43 Prozent die höchste innerhalb der 3 latenten Klassen. Die kleinste unserer latenten Klassen umfasst nur 24,3 Prozent des Samples mit niedrigen Werten bezüglich der Bekanntheit mit Menschen im Wohngebiet, lokaler Bindung und Identifikation mit dem Wohnviertel (jeweils 5 Prozent oder weniger). Tab. 3: Geschätzte Größe der latenten Klassen und der Bedingungswahrscheinlichkeiten der lokalen Einbettung – Modell mit drei latenten Klassen (Quelle: Projekt GEITONIES Wien 2010)
Relative Größe (%)
1 41,5
Latente Klasse 2 34,2
3 24,3
Sicherheit Bekanntheit lokale Verbundenheit Identifikation Vertrauen
0,91 0,43 0,99 0,93 0,89
0,70 0,11 0,59 0,34 0,89
0,23 0,03 0,05 0,01 0,53
In dieser Kategorie vertraut rund die Hälfte der Befragten den Menschen im Wohnviertel und 23 Prozent fühlen sich hier sicher. Die latente Klasse 2 umfasst 34,2 Prozent des Samples und positioniert sich zwischen den vorhergehenden beiden Klassen. Die Befragten sind durch hohe Werte bezüglich des Vertrauens und der Sicherheit charakterisiert (Wahrscheinlichkeiten von 0,89 und 0,70) sowie durchschnittliche Werte für lokale Verbundenheit und Identifikation. Die Wahr5 Informationen zum Messmodell: Df = 13; L2 = 15.1952; BIC = 3230.4694; D-Index = 0.03; p 6 years) ns ns über 10 Jahre ns ns Anteil der wichtigsten Sozialkontakte ns innerhalb des Wohngebiets -0,40 nur Small Talks mit Landsleuten ns ns Small Talks (auch) mit Pers. and. ns Herkunft 1,07 *** (0,38) interethnische enge Beziehungen im ns ns Wohngebiet hat enge Sozialbeziehungen mit Pers. ns ns and. Herkunft (Pseudo)R2 N
stark vs. schwach eingebettet b s.e. ns
*** (0,39) -2,38 *** (0,38) 0,45 ** (0,18) ns ** (0,32) ns ns ns ** (0,29) ns ns ns *** (0,15) 0,38 ** (0,15) ns
0,26 552
0,98 ** (0,48) ns ns 0,33 392
Anm.: Signifikanzniveau: ns = nicht signifikant, ** p