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German Pages [84] Year 2021
Benjamin Bulgay / Lena Suna Hirner
Migrantenfamilien Interkulturelle Beratung
Leben.Lieben.Arbeiten
SYSTEMISCH BERATEN Herausgegeben von Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe
Benjamin Bulgay/Lena Suna Hirner
Migrantenfamilien Interkulturelle Beratung
Mit einer Abbildung
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: travelview/stock.adobe.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2625-6088 ISBN 978-3-666-40782-6
Inhalt
Zu dieser Buchreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
I Der Kontext 1 Unsere eigene Migrationsgeschichte als Hintergrund dieses Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2 Einwanderung nach Deutschland: Geschichte und Statistiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3 Integration zwischen Inklusion und Assimilation: Begriffe und ihre Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 4 Migrantenfamilien aus dem Vorderen Orient: eigene Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 5 Der Lern-Planet: Eine Einrichtung von Migranten für Migranten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 II Die systemische Beratung 6 Methoden systemischer Beratung, die sich für Migrantenfamilien eignen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 7 Fall 1, Familie A – Eine Liebesheirat in Aserbaidschan (Beraterin: Lena Hirner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .49 8 Fall 2, Familie B – zwei Töchter zwischen deutscher, türkischer und Roma-Kultur (Beraterin: Lena Hirner) . . . . 57 9 Fall 3, Familie G/N/K – aus Nigeria, Eritrea und Kenia nach Wiesbaden (Berater: Benjamin Bulgay) . . . . . . . . . . . . 62 10 Interkulturelle Arbeit ambulant und stationär – was ist anders? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
III Am Ende 11 Ausblick/10 Gebote der interkulturellen Arbeit . . . . . . . . . . 76 12 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 13 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Zu dieser Buchreihe
Die Reihe »Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten« befasst sich mit Herausforderungen menschlicher Existenz und deren Bewälti gung. In ihr geht es um Themen, an denen Menschen wachsen oder zerbrechen, zueinanderfinden oder sich entzweien und bei denen Menschen sich gegenseitig unterstützen oder einander das Leben schwermachen können. Manche dieser Herausforderungen (Leben.) haben mit unserer biologischen Existenz, unserem gelebten Leben zu tun, mit Geburt und Tod, Krankheit und Gesundheit, Schicksal und Lebensführung. Andere (Lieben.) betreffen unsere intimen Beziehungen, deren Anfang und deren Ende, Liebe und Hass, Fürsorge und Vernachlässigung, Bindung und Freiheit. Wiederum andere Herausforderungen (Arbeiten.) behandeln planvolle Tätigkeiten, zumeist in Organisationen, wo es um Erwerbsarbeit und ehrenamtliche Arbeit geht, um Struktur und Chaos, um Aufstieg und Abstieg, um Freud und Leid menschlicher Zusammenarbeit in ihren vielen Facetten. Die Bände dieser Reihe beleuchten anschaulich und kompakt derartige ausgewählte Kontexte, in denen systemische Praxis hilfreich ist. Sie richten sich an Personen, die in ihrer Beratungstätigkeit mit jeweils spezifischen Herausforderungen konfrontiert sind, können aber auch für Betroffene hilfreich sein. Sie bieten Mittel zum Verständnis von Kontexten und geben Werkzeuge zu deren Bearbeitung an die Hand. Sie sind knapp, klar und gut verständlich geschrieben,
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allgemeine Überlegungen werden mit konkreten Fallbeispielen veranschaulicht und mögliche Wege »vom Problem zu Lösungen« werden skizziert. Auf unter 100 Buchseiten, mit etwas Glück an einem langen Abend oder einem kurzen Wochenende zu lesen, bieten sie zu dem jeweiligen lebensweltlichen Thema einen schnellen Überblick. Die Buchreihe schließt an unsere Lehrbücher der systemischen Therapie und Beratung an. Unsere Bücher zum systemischen Grundlagenwissen (1996/2012) und zum störungsspezifischen Wissen 8
(2006) fanden und finden weiterhin einen großen Leserkreis. Die aktuelle Reihe erkundet nun das kontextspezifische Wissen der systemischen Beratung. Es passt zu der unendlichen Vielfalt möglicher Kontexte, in denen sich »Leben. Lieben. Arbeiten« vollzieht, dass hier praxisbezogene kritische Analysen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen ebenso willkommen sind wie Anregungen für individuelle und für kollektive Lösungswege. Um klinisch relevante Störungen, um systemische Theoriekonzepte und um spezifische beraterische Techniken geht es in diesen Bänden (nur) insoweit, als sie zum Verständnis und zur Bearbeitung der jeweiligen Herausforderungen bedeutsam sind. Wir laden Sie als Leserin und Leser ein, uns bei diesen Exkursionen zu begleiten. Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe
Vorwort
»Deutschland ist kein Einwanderungsland« – diese Fantasie hat sich, aller Statistik zum Trotz beinahe sechzig Jahre nach dem zweiten Weltkrieg gehalten, bis die von der Bundesregierung eingerichtete »Süßmuth-Komission« im Jahr 2000 diese Fantasie in Rente schickte. Irgendwie lebt diese Fantasie aber immer noch fort, etwa in der Variante »Der Islam gehört nicht zu Deutschland«. Dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, dieser Satz war schon im deutschen Kaiserreich zwischen 1871 und 1918 falsch. Damals wurden viele Eisenbahnstrecken im Deutschen Reich von italienischen Wanderarbeitern gebaut, wurde viel Ruhrgebietskohle durch polnisch sprechende Bergleute aus Oberschlesien gefördert. Genauso interessant ist, wie der Osnabrücker Migrationsforscher Klaus Bade betont hat (1999), dass Deutschland in vielen Epochen zwischen dem 17. Und dem 19. Jahrhundert ein ausgeprägtes Auswanderungsland war, in einer Zeit, als hierzulande Hungersnöte und politische Repression viele Menschen ins osteuropäische und amerikanische Ausland trieben. Die Beratung von Einwanderer-Familien ist auch eine Herausforderung für die soziale Arbeit und das Gesundheitswesen in Deutschland. Bei frisch eingewanderten Familien sind die Sprachkenntnisse sowie die wechselseitige Unkenntnis der kulturellen Codes die große Herausforderung. Bei schon in einer früheren Generation eingewanderten »post-migrantischen« Familien verschiebt sich dieser Fokus
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zu der Frage, welcher Werte- und Traditionen-Mix in diesen Familien nun gelten soll und wie eine Identität aussieht, die die Traditionen des Herkunftslandes ebenso wie die Werte des neuen Heimatlandes miteinander verbinden kann. Diese Frage vermag oft heftige innerfamiliäre Generationenkonflikte auszulösen. In diesem Buch geht es ganz vorwiegend um die Beratung von relativ »frisch« eingewanderten Familien. In diesen Familien sorgen mangelnde Sprachkenntnisse für zahlreiche Orientierungs- und 10
Verständigungs-Erschwernisse, treffen entgegengesetzte kulturelle Codes noch in sehr »reiner« Form aufeinander. In diesem Beratungsfeld arbeiten die Autoren dieses Buches hauptsächlich. Sie sind Vater und Tochter. Der Vater (Benjamin Bulgay) kam als Kind nach Deutschland, die Tochter (Lena Suna Hirmer) ist mit türkischem Vater und deutscher Mutter »post-migrantisch« hier aufgewachsen, hat aber ebenso wie der Vater engen Kontakt in die türkischen Heimatsregion gehalten. Benjamin Bulgay und seine Frau Hirner haben seit den 199er Jahren in Wiesbaden mit dem Lernplanet« ein mittelgroßes Sozialunternehmen geschaffen, das anfangs sich ganz auf Sprachkurse konzentrierte und über die Jahre immer mehr interkulturelle sozialpädagogische Dienstleistungen aller Art in sein Programm aufgenommen hat. Dort »beraten Migranten Migranten«. Diese Berater mit eigenem Migrationshintergrund arbeiten auf Basis eines klaren und selbstbewussten Bekenntnis zu Deutschland als Einwanderungsland. Sie glauben an die Möglichkeit erfolgreichen Einlebens in einer zumindest multikulturellen Gesellschaft, und diese Überzeugung merkt man dem ganzen Buch an. Sie arbeiten mit einem klaren systemischen Konzept (das manchmal eher an die Kybernetik erster Ordnung als an die Kybernetik zweiter Ordnung erinnert), sie arbeiten meist aufsuchend, oft in Zwangskontexten, fast immer im Angesicht von sehr herausfordernden Konfliktlagen.
Die Leser*in dieses Buches wird mal mit Schmunzeln, mal mit Erstaunen, oft aber mit einem Blick auf das kulturübergreifend »allzu Menschliche« die Fallgeschichten lesen und wird sich ermutigt fühlen zu lesen, wie mit der Bulgay-Hirnerschen Mischung aus systemischer Fallkonzeption, interkultureller Kompetenz, Ausdauer und gesundem Menschenverstand knifflige zwischenmenschliche Dilemmata langsam aufgelöst und ertragbar werden können. Jochen Schweitzer
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Der Kontext
1 Unsere eigene Migrationsgeschichte als Hintergrund dieses Buches Benjamin Bulgay
Die Erlebnisse meiner Kindheit haben mich sehr geprägt und mein gesamtes Leben stark beeinflusst. Von der Geburt bis zum Alter von 10 Jahren war mein Lebensmittelpunkt die Türkei. Dann veränderte sich alles und plötzlich lebte ich in einer fremden Welt, in Deutsch-
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land. Meine Erfahrungen stehen vermutlich stellvertretend für eine ganze Generation von Gastarbeiter*innen und ihren Kindern. Gemeinsam mit meiner ältesten Tochter Lena, Studierende der Erziehungswissenschaft und in Deutschland geboren, werden wir mit diesem Erfahrungsbericht anhand von drei Beispielen zeigen, wie wichtig der systemische Ansatz auch bei der Arbeit mit Familien aus anderen Kulturen ist. Mein persönlicher Hintergrund ist ein starkes Motiv für mich gewesen, den Weg der sozialen Arbeit einzuschlagen. Ich möchte kurz ausführen, wie es dazu gekommen ist. Meine Eltern lebten bereits seit einigen Jahren in Deutschland und uns Kindern war damals nicht klar, warum sie weggegangen waren und ob wir sie jemals wiedersehen würden. Dann, Ende 1974, kurz vor Weihnachten wurde ich als 10-jähriger Junge gemeinsam mit meiner jüngeren Schwester zu ihnen gebracht. In Deutschland angekommen, freuten wir uns sehr, unsere Eltern und den drei Jahre älteren Bruder wiederzusehen. Meine Mutter war wieder schwanger, und so wohnten wir bald zu sechst in einer 1-Zimmer Wohnung im Herzen von Wiesbaden, mit einer Toilette im Treppenhaus und ohne Bad. Mehr konnten wir uns nicht leisten. Meine Mutter war 27 und bildhübsch als sie nach Deutschland kam, zunächst ohne meinen Vater. In der Türkei gab es zu der Zeit keine Arbeit, erklärte sie mir Jahre später. Sie bekam vom Arbeitsamt
eine Adresse in Bayern und musste sich innerhalb von drei Tagen entscheiden, ob sie nach Deutschland wolle oder nicht. Es war damals wie heute nicht einfach nach Deutschland zu kommen. Man musste gesund sein, durfte nicht älter als dreißig sein und nicht mehr als drei Kinder haben, außerdem war ein Grundschul abschluss notwendig. Meine Mutter erfüllte als eine gesunde 27-jährige Berufsschullehrerin mit drei Kindern alle Voraussetzungen. Damals waren weibliche Gastarbeiter*innen noch selten. bundesweit nach einer Arbeit in einer Großstadt und landete so schließlich in Wiesbaden. Wiesbaden war sehr teuer, sagte sie, und viele Deutsche wollten keine Gastarbeiter*innen als Mieter*innen. Unser damaliger Vermieter war ein Jude. Er sagte wohl zu meiner Mutter, er verstehe sie. Nach den Weihnachtsferien saß ich in der 4. Klasse einer Grundschule. Ich verstand weder die Sprache noch die Kultur und fühlte mich furchtbar, ich weinte sehr viel in dieser Zeit. Integrationskurse, noch dazu geförderte vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), gab es damals nicht. Auch Integrationsbemühungen gab es nicht. Wir waren Kinder von Gastarbeiter*innen – wie der Name schon sagt, wir waren nur Gäste. Das sahen nicht nur die Deutschen so, sondern wir auch. Auch meine Mutter wollte nur ein paar Jahre arbeiten und dann zurück in die Heimat gehen. Auch sie wartete, wie viele andere Gastarbeiter*innen, mit einem Koffer in der Hand auf den Bus, der sie in die Heimat fahren würde. Dieser Bus kam aber nie. Der Traum türkischer Gastarbeiter*innen war: Mit einem roten Mercedes, einem Symbol für Wohlstand, in die Türkei zurückzufahren, ein Haus zu bauen und glücklich zu leben. Das Haus sollte eine Gewerbefläche haben, falls aus den Kindern nichts würde, könnten sie beispielsweise einen Kiosk oder Obstladen betreiben. Im 1. OG wäre eine schöne Wohnung zum Leben. Die, die es wirklich geschafft
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Kontext
Da ihr Diplom in Deutschland nicht anerkannt war, suchte sie
hatten, bauten für die Kinder im 2. OG eine weitere Wohnung. Das waren die türkischen Träume. All die Träume und Hoffnungen, in der Heimat gebliebene Verwandte und Freund*innen wieder zu sehen, mit den Liebsten viel Zeit zu verbringen, vor allem die eigenen Eltern bald zu sehen, ist für viele Gastarbeiter*innen ein Traum geblieben. Ich, ein Gastarbeiter*innenkind, habe das hautnah mitbekommen. Ich wusste von dem 16
in Erfüllung gehen würden. Wie auch? Meine Mutter arbeitete zu der
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Traum meiner Eltern, ich ahnte damals auch, dass diese Träume nie Zeit für brutto 900,– Deutsche Mark und musste davon die Miete bezahlen und uns alle versorgen. Mein Vater durfte nichts dazuverdienen, so waren die Ausländer*innengesetze damals. Jetzt passte er auf uns Kinder auf, meine Mutter war die Versorgerin. Ein totaler Rollentausch, für beide nicht einfach zu verkraften. Diese Situation machte meinen Vater von Tag zu Tag kränker. Er verkaufte fast alles, was er in der Türkei besaß, um uns finanziell zu unterstützen. Die türkische Lira war damals nicht viel wert und wir wuchsen mitten in Europa in Armut auf. Noch nie waren wir so arm und unglücklich gewesen. Meine Eltern wussten, dass sie sich vom Sozialamt Hilfe holen konnten, waren jedoch zu stolz, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen. Mein Vater erkrankte immer weiter und musste letztendlich in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden. Als hätten wir nicht genug andere Sorgen, musste meine Mutter nun vier Kinder/Jugendliche und einen psychisch kranken Mann versorgen. Wir waren zwischenzeitlich umgezogen, in eine 2-Zimmer Dachgeschosswohnung mit Toilette, aber immer noch ohne Bad. Zu sechst in zwei Zimmern, kaum vorstellbar. Als ich 16 Jahre alt wurde, suchte ich mir ebenfalls einen Job und unsere finanzielle Situation verbesserte sich ein wenig. In dieser Zeit zogen wir endlich in eine 4-Zimmer Wohnung, in der wir blieben, bis ein Kind nach dem anderen auszog.
Ich machte Abitur und studierte, zunächst Informatik, dann Sozialpädagogik und Diplompädagogik, bildete mich stetig weiter. Mein Wunsch war es, Menschen mit ähnlichen Schicksalen zu helfen. Schließlich gründete ich den Lern-Planet, (m)ein Institut für multilinguale Erziehungshilfe und Familientherapie. Anfangs unterrichteten, berieten und therapierten wir in sieben Sprachen, heute gibt es Berater*innen aus über 40 Kulturkreisen, die über 40 Sprainterkulturellen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachse-
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nen hat uns zu Expert*innen gemacht und motiviert, dieses Buch
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chen beherrschen. Diese langjährige Erfahrung in der systemisch
zu schreiben. Lena Suna Hirner
Wir wohnten in einer bunten Gegend in Wiesbaden, damals war ich noch Einzelkind. Genauso Deutsch wie meine Freunde und der Großteil der Nachbarn es waren, fühlte ich mich auch. Rückblickend lassen sich die Bewohner des Hauses als weitgehend interkulturell beschreiben, aber das war mir zu dem Zeitpunkt nicht bewusst, denn da wir alle in Deutschland lebten, waren für mich alle Menschen hier Deutsche. Im Hinterhaus wohnte eine türkische Familie, zu der wir guten Kontakt pflegten. Der jüngste Sohn war in meinem Alter und wir verbrachten viel Zeit miteinander. Außer den Personen aus der Firma und meiner Oma waren die Nachbarn aus dem Hinterhaus bis zu meinem Erwachsenenalter die einzigen türkischen Kontakte, die ich in Deutschland hatte. Als ich sieben Jahre alt war zogen wir um. Das Haus war schön, aber mir fehlten die Nachbarn und Freunde aus der alten Wohnung sehr. Zu der Zeit war ich in der ersten Klasse und wurde die ersten Male gefragt, woher ich denn kommen würde; die Frage verstand ich nicht wirklich. Meine Mutter ist Deutsche und mein Vater lebt, seit
er zehn Jahre alt ist, in Deutschland, wo soll ich also herkommen? Deutsch ist meine Muttersprache, abgesehen von den Urlauben in der Türkei wurde bei uns eigentlich ausschließlich Deutsch gesprochen, an fehlenden Deutschkenntnissen konnte es also kaum liegen. Meine südländischen Wurzeln sind mir anzusehen. Dies zu schreiben fällt mir ein bisschen schwer, da es eigentlich keine Rolle spielen sollte. Dass dies jedoch absolut erwähnenswert ist, wurde mir schon früh von verschiedenen Menschen gezeigt, meistens meinten
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diese es »gut«. Andeutungen und Fragen dieser Art nahmen mit zunehmendem Alter zu und ich wurde zunehmend in einen Identitätskonflikt getrieben. Türkisch war nicht meine Zweitsprache, sondern meine »Geheimsprache«, die ich wie eine »Superkraft« sah, als eine besondere Fähigkeit. Für mich stand die zweite Kultur nie in Konkurrenz zur deutschen. Mein auch »Türkisch-sein« war für mich etwas Zusätzliches, niemals hätte ich in Betracht gezogen dadurch weniger Deutsch zu sein als meine Freunde. Das von der Gesellschaft vermittelte Gefühl, sich einem Land zuordnen zu müssen, nahm mit dem Alter immer mehr zu. So wurde ich bald nicht nur regelmäßig auf meine Herkunft, sondern auch auf meine Religionszugehörigkeit angesprochen und aufgefordert, dass ich mich damit teils fremden Menschen gegenüber definiere. Es gibt nur wenig, was mir unangenehmer sein könnte. Ich verbrachte sehr viel Zeit mit meiner türkischen Oma und nutzte jede Gelegenheit in die Türkei zu fliegen. Ich genoss die türkische Lebensart und Kultur bei meiner Familie sehr. Ich fühle mich in der Türkei zuhause und sicher. Genauso zuhause und sicher habe ich mich gefühlt, als ich als Kind mit meinem deutschen Opa sonntags vor dem Gottesdienst die Kirche mit Blumen schmückte. Niemals wäre ich auf die Idee gekommen als »Halbtürkin« nicht in die kleine katholische Kirche in Süddeutschland rein zu gehören.
Ich begann mich immer intensiver mit verschiedenen Kulturen und auch Religionen auseinanderzusetzen, Bibel, Koran und Thora las ich, als ich zwischen dreizehn und fünfzehn Jahre alt war. Ich hatte das Gefühl, Menschen besser verstehen zu können, wenn ich verstand, woran sie glauben. Immerhin beeinflusst der Glaube auch heute noch viele Menschen, die ganze Welt richtet sich zumindest teilweise nach religiösen Werten. 19
einander. Die Auseinandersetzung mit den drei monotheistischen
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So wählte ich als Leistungskurs die Christliche Religion, mit dem Islam und dem Judentum setzte ich mich zeitgleich sehr intensiv ausReligionen gefiel mir, aber ich hatte das Gefühl, einen großen Teil der Weltbevölkerung auszublenden. Daraufhin wählte ich an der Uni als Nebenfach zur Erziehungswissenschaft vergleichende Religionswissenschaften mit dem Schwerpunkt Buddhismus und Hinduismus. Parallel zum Studium habe ich die Weiterbildung zur systemisch interkulturellen Beraterin absolviert und befinde mich aktuell in der Weiterbildung zur systemisch interkulturellen Therapeutin. Unsere Migrationsgeschichten und Erfahrungen haben uns soweit geprägt, dass wir die deutsche sowie die vorderasiatische Kultur als eigene begreifen und uns in beiden Kulturen zuhause fühlen. Der Wunsch, möglichst viele Menschen in ihrer Vielfalt zu verstehen, ist also bei meinem Vater und mir stark ausgeprägt und beflügelt uns in unserer interkulturellen Arbeit. Diese ist gerade in den letzten Jahren durch all die Migrationsbewegungen noch wichtiger geworden, Migrant*innen sind präsent in Medien und Gesellschaft. Das Interesse an unseren Kulturen und den Kulturen Anderer hat zu einer persönlichen Auseinandersetzung mit den Themen Integration sowie interkulturelle systemische Arbeit geführt. So sind wir als Lern-Planet sowohl Vorreiter als auch Expert*innen in der praktischen Arbeit und der Wissensvermittlung.
Dies hat uns bewegt, unser Wissen und unsere Erfahrungen in diesem Buch zu sammeln und zu teilen. Nach einer kurzen Einwanderungsgeschichte und einigen Begriffs erklärungen werden wir auf den Kontext des Problems bei der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Migrantenfamilien eingehen und diese anhand von Fallbeispielen exemplarisch darstellen.
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2 Einwanderung nach Deutschland: Geschichte und Statistiken In diesem Buch geht es schwerpunktmäßig um Kinder und Jugendliche und deren Eltern in Migrantenfamilien. Wer sind aber die Migrant*innen? Es gibt viele Wörter und Begriffe, die für Menschen mit Migrationshintergrund verwendet werden: Ausländer*innen sind natürliche Personen, die einem ausländischem Staat angehören und nicht die Staatsangehörigkeit ihres Aufenthaltsstaates besitzen. Im engeren Sinn bezeichnet der Begriff Personen, deren Hauptwohnsitz im Ausland liegt. Gastarbeiter*innen sind Personen, denen aufgrund von Anwerbeabkommen ein zeitlich befristeter Aufenthalt im Aufnahmeland, z. B. Deutschland, gewehrt wird bzw. wurde. Arbeitsmigrant*innen wurden in den 1950er und 1960er Jahren gezielt von Deutschland angeworben, um den Arbeitskräftemangel in der Nachkriegszeit auszugleichen. Die Familienzusammenführung, der Zuzug von Familienangehörigen zu Personen, die bereits im Aufnahmeland sind, endete am 31.12.1974. Wanderarbeiter*innen sind Personen, die in einem Staat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht haben, eine Tätigkeit gegen Entgelt ausüben werden, ausüben oder ausgeübt haben. Wanderarbeiter*innen haben eine befristete Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis.
Migrant*innen sind Menschen, die freiwillig aber meistens wegen Nahrungs- oder Wassermangel, inadäquater Unterkunft oder unsicherer Lebensbedingungen von einem Ort zum anderen Ort, Land oder Kontinent vorübergehend oder für immer wandern bzw. durchziehen. Aus Sicht ihres Herkunftslandes sind Migrant*innen Emigrant*innen, aus Sicht des Aufnahmelandes Immigrant*innen. Flüchtlinge sind Menschen, die ihre Heimat oder ihren vorherimeistens wegen Kriegen oder aus politischer Motivation. Im all-
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täglichen Sprachgebrauch wird neben dem Wort Flüchtlinge auch
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gen Wohnort unfreiwillig, vorübergehend oder dauerhaft verlassen,
das Wort Geflüchtete verwendet. Das Wort Flüchtling ist negativ geprägt und endet mit »-ling«. Damit hat es eine negative Konnotation, wie z. B. das Wort Fiesling. Auch ähnliche Wörter wie Liebling oder Schmetterling mögen sich vielleicht positiv anhören, haben jedoch verniedlichenden Charakter. Im Fachjargon wird der Begriff Geflüchtete verwendet. Ein weiterer Vorteil ist die Ableitung vom Partizip Perfekt, das ein potenzielles Ende der Flucht integriert. Außerdem ist das Gendern des Flüchtlings schwerer als das Gendern von Geflüchtete*r. Asylant*innen sind aus ihrem Herkunftsland geflüchtete oder vertriebene Menschen, die in einem anderen Staat Asyl ansuchten und beantragten. Dies Personen wurden in den 1990er Jahren als Asylanten bezeichnet. Dies war ein eindeutig abwertender Begriff und wird heute nicht mehr verwendet. Aussiedler*innen oder Spätaussiedler*innen sind keine Migrant*innen. Sie sind Deutsche, die im zweiten Weltkrieg ihre Heimat und ihr Eigentum verloren. Es sind, wie die Flüchtlinge heute, geflüchtete und vertriebene Deutsche aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße sowie Südosteuropa. Ihnen wird erlaubt, aus einem Staat Osteuropas in die Bundesrepublik Deutschland überzusiedeln. Spätaussiedler*innen sind also, ebenso wie Aussiedler*innen,
Deutsche aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und früheren Ostblockstaaten. Nach einem speziellen Aufnahmeverfahren erhalten sie die Anerkennung als Spätaussiedler*innen und damit automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit. Migrationshintergrund hat eine Person dann, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. Heutzutage wird eher der Begriff »Menschen mit Migrationshintergrund« verwendet. Migrationshintergrund fasst
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Migrant*innen und ihre Nachkommen zusammen, unabhängig von ihrer tatsächlichen Staatsbürgerschaft. Ganz egal, woher und aus welchem Anlass die Menschen in die Bundesrepublik einreisen und unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft, von Religionszugehörigkeit oder Bildung, bringen sie ihre eigene Kultur mit. Was ist aber die eigene Kultur? Was gehört alles dazu? Beginnend mit der Sprache und der Religion gehören auch Wirtschaftsleben und der Umgang mit der Natur genauso dazu wie Musik, Kunst oder Literatur. Vor allem die Traditionen und Bräuche sind Bestandteile der menschlichen Kultur und beschäftigen uns in der Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen am meisten. Schwerpunktmäßig beraten und therapieren wir im Wiesbadener Lernplanet Menschen aus Vorderasien und Nordafrika mit islamischer Religion. Diesen Schwerpunkt spiegeln auch die Migrationsbewegungen des letzten Jahrzehnts wider. Aber wir arbeiten auch mit Menschen anderer Religionszugehörigkeiten aus anderen Ländern und Kontinenten. Die Praxis unserer Arbeit werden wir in diesem Buch an drei Fallbeispielen genauer beleuchten. Statistiken zur Migration
Anfang 2020 lebten, laut bpb (Bundeszentrale für politische Bildung) und dem Statistischen Bundesamt (Mikrozensus – Bevölkerung mit
Migrationshintergrund) insgesamt 21,2 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Davon hatten 11,1 Millionen (52,4 %) die deutsche Staatsangehörigkeit, also z. B. oben erwähnte Spätausiedler*innen, wie Russlanddeutsche oder aber Kinder von Migrant*innen. Die anderen 10,1 (47,6 %) Millionen der 21,1 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland sind Ausländer*innen. Von diesen Ausländer*innen wiederum sind 19 Prozent wegen Weitere 15 Prozent der Zuwanderten waren Geflüchtete und 5 Prozent kamen zum Studieren bzw. wegen einer Aus- oder Weiterbildung nach Deutschland. Von den rund zehn Millionen Ausländer*innen hatten 4,3 Millionen (42,6 %) eine EU-Staatbürgerschaft. Am stärksten waren die Pol*innen mit 783 Tsd., gefolgt von Italiener*innen mit 611 Tsd. und Rumän*innen mit 534 Tsd. vertreten. Knapp drei Millionen waren sonstige Europäer*innen. Was zeigen uns die Statistiken?
Sie zeigen, dass die meisten Menschen mit Migrationshintergrund, die Jahr für Jahr nach Deutschland immigrieren, überwiegend Europäer*innen und nicht Menschen vorderasiatischer, afrikanischer oder asiatischer Herkunft sind. Wirklich Geflüchtete sind gerade mal 15 Prozent von insgesamt 2,8 Millionen Menschen. In absoluten Zahlen dargestellt sind es 420.000 geflüchtete Menschen, die sich im Jahr 2020 in Deutschland aufgehalten haben. Derzeit stammen die meisten Geflüchteten aus Syrien, gefolgt von Afghanistan und dem Irak. Die Statistiken machen auch sehr deutlich, dass nicht einmal die Hälfte der geflüchteten Menschen (43,1 %) dauerhaft hierbleiben dürfen. Die meisten (56,9 %) der gestellten
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der Aufnahme oder Suche nach einer Arbeit gekommen.
Asylanträge werden abgelehnt und die Geflüchteten in ihre Heimatländer abgeschoben. Das bedeutet in absoluten Zahlen, dass 43,1 Prozent von 420.000 = ca. 180.000 Menschen 2020 zunächst in Deutschland blieben, weil ihnen in irgendeiner Form der Asylantrag anerkannt wurde. 56,9 Prozent der gestellten Asylanträge, also etwa 240.000, wurden abgelehnt und die geflüchteten Menschen in ihre Herkunftsländer abgeschoben, obwohl ihr Leib und Leben sich in der Regel
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noch in großer Gefahr befand und in den meisten Fällen Krieg und Elend herrschten. Fazit
In Deutschland leben viel weniger klassische »Ausländer*innen« und noch weniger geflüchtete Menschen als in der Gesellschaft angenommen. Auch im europäischem Vergleich beherbergt Deutschland viel weniger Ausländer*innen (Anzahl der im Ausland geborenen Einwohner) als seine Nachbarländer wie die Schweiz mit fast 30 Prozent, Österreich 17,5 Prozent, die Beneluxländer oder Skandinavien (UNO, 2015).
3 Integration zwischen Inklusion und Assimilation: Begriffe und ihre Hintergründe Nun möchten wir noch einmal kurz auf einige Begriffe eingehen, die uns im Laufe dieses Buches aber auch in der praktischen Arbeit immer wieder begegnen. Kultur (Lateinisch: cultura, cultus – »Bearbeitung, Pflege, Bebauung des Ackers; geistige Erziehung des Menschen«) bezeichnet heute die Einzigartigkeit einer Gemeinschaft und die Differenz zwischen verschiedenen Gemeinschaften. Einfacher ausgedrückt ist Kultur
alles, was die Menschen mit ihren Händen, ihrer Intelligenz und ihrer Phantasie selbst gemacht haben. Migration (Lateinisch: migratio, »(Aus-)Wanderung, Umzug«). bezeichnet den Wanderungsprozess von Einzelnen, Gruppen, ganzer Völker oder Volksgruppen über Nationalgrenzen hinweg. Geschieht das innerhalb eines Landes bzw. einer festgelegten Region, so spricht man von Binnenmigration. 25
Den allgemeinen Einbezug von bisher aus gewissen sozialen Aspek-
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Integration (Lateinisch: integrare – »erneuern, ergänzen, geistig auffrischen«) kann man als »Wiederherstellung eines Ganzen« verstehen: ten ausgeschlossenen Menschen und Gruppen. Integration ist der Vorgang, durch den jemand bewusst durch bestimmte Maßnahmen dafür sorgt, dass er/sie ein Teil einer zuvor neuen Gruppe wird. Einfacher ausgedrückt ist Integration die Fähigkeit, mit den Spielregeln der aufnehmenden Gesellschaft professionell umzugehen, ohne zugleich die eigene aufzugeben. Assimilation (Lateinisch: assimilatio – »angleichen, anpassen« oder similis- »ähnlich«) meint die Anpassung bis hin zum Aufgehen in einer neuen Umgebung. Dies bedeutet, dass Gebräuche und Verhaltensweisen (auch politischer und kultureller Art) der Aufnahmegruppe abgeschaut und von ihr übernommen werden: »Tun, was die anderen tun und damit denselben Regeln folgen«. Mit anderen Worten ausgedrückt, verlangt die Assimilation von Menschen mit Migrationshintergrund die völlige Aufgabe der eigenen Kultur und die Annahme der Kultur der aufnehmenden Gesellschaft. Das heißt von den Individuen wird die Aufgabe der eigenen Identität und damit des eigenen »Ichs«, der eigenen Geschichte, des eigenen Selbstwerts verlangt. Beispielsweise wurde nach dem Mauerfall vor über dreißig Jahren alles was »Ost« war als schlecht begriffen und durch westliche Kultur und Wirtschaft ersetzt. Mit der Zeit hat die Politik verstanden, dass
nicht alles Andersartige schlecht ist. Man kann die Menschen nicht komplett verändern und ihnen ihre Identität wegnehmen, vor allem nicht mit einer aggressiven Assimilationspolitik. Wir hingegen streben eine Kommunikation auf Augenhöhe an, die einerseits alle individuellen Hintergründe, wie Herkunft, Religionszugehörigkeit, Familienumfeld und Sprache berücksichtigt, andererseits zu klären versucht, wie ein Erhalt der Identität im gesellschaftlichen Kontext funktionieren kann.
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Inklusion (Lateinisch: includere- »Einschluss, Einschließung«) bedeutet den Einschluss oder die Einbeziehung von Menschen in die Gesellschaft. Das Konzept der Inklusion beschreibt eine Gesellschaft, in der jeder Mensch akzeptiert wird, gleichberechtigt ist und selbstbestimmt an dieser teilhaben kann. »Während die Integration davon ausgeht, dass eine Gesellschaft aus einer relativ homogenen Mehrheitsgruppe und einer kleineren Außengruppe besteht, die in das bestehende System integriert werden muss, stellt die Inklusion eine Abkehr von dieser Zwei-GruppenTheorie dar und betrachtet alle Menschen als gleichberechtigte Individuen und Teil des Ganzen« (Schöb, 2013). Inklusion betrachtet die Vielfalt und Heterogenität der Gesellschaft als grundlegend und selbstverständlich. Wir sehen die Menschen in der systemischen Arbeit, wie in der Definition von Inklusion oben beschrieben, als gleichberechtigten Teil des Ganzen, aber mit eigenen interkulturellen Feinheiten. Die Begriffe Integration und Assimilation sollten unserer Meinung nach zukünftig durch den Begriff der Inklusion abgelöst werden. Dies geschieht auch praktisch in unserer Arbeit mit Klient*innen, gibt uns aber hauptsächlich einen begrifflichen Rahmen für Weiterbildungen, Zielsetzungen unserer professionellen Arbeit und für die Supervision unserer Berater*innen. In der Arbeit mit Klient*innen kann auch dieser Unterschied
zwischen Inklusion, Integration und Assimilation bei ausreichender Kommunikationsmöglichkeit thematisiert werden. Vornehmlich wird versucht einen Zugang für die Familien zu legen, sich als Teil der sie umgebenden gesellschaftlichen Strukturen zu sehen. Einen Perspektivwechsel und die Absicht der Inklusionsarbeit versuchen wir in unserer beraterischen Praxis durch systemische Maßnahmen der Interessensbekundung und Wertschätzung zu aktivieren. Inklusion lässt sich als Wertschätzung unserer Unterschiede bei gleichzeitigem InteAssimilation ist eine Form der Akkulturation und ein Prozess des Kulturwandels. Interaktion (Lateinisch: inter –»zwischen« und actio – »Tätigkeit, Handlung«) bezeichnet das über Kommunikation wechselseitig aufeinander bezogene Handeln (oder Beeinflussen) von Akteuren (oder Gruppen). Also das Geschehen zwischen Personen, die aufeinander reagieren, miteinander umgehen, einander beeinflussen und steuern. Interaktion kann deswegen nur als Verhalten definiert werden, das im Rahmen von situativen Handlungskonzepten beschrieben wird. Kommunikation (Lateinisch: communicatio– »Mitteilung« oder »Unterredung«) hat über hundert Definitionen. Grundsätzlich bezeichnet sie den Austausch von Informationen zwischen zwei oder mehreren Personen. Gemeint ist die Verständigung untereinander, mithilfe von Sprache, Zeichen, Mimik oder Gestik und ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Ein Zeichen kann, je nach Kontext, anders gedeutet oder verstanden werden. Damit Integration funktionieren kann, müssen Menschen vorher in Interaktion gehen und kommunizieren. Kommunikation ist die wichtigste, aber auch die schwierigste Form der sozialen Interaktion. Friedemann Schulz von Thun oder Paul Watzlawick machen dies in ihren Kommunikationstheorien deutlich.
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resse an unserer gemeinsamen aktuellen Gesellschaft umschreiben.
Auf die Definition von Kultur möchten wir an dieser Stelle nicht genauer eingehen. »Wie viele der Begriffe, mit denen wir umgehen, so ist auch der Kulturbegriff nur so lange scheinbar ›klar‹, wie man nicht gezwungen ist, ihn zu definieren.« Heimansberg (2000) zählt über 50 Kulturbegriffe, (…)« (vgl. Schlippe, El Hachimi u. Jürgens, 2013, S. 28). Ohne Interaktion kann es keine Integration geben. Integration 28
rant*innen zu 50 Prozent aus Sprache und zu 50 Prozent aus dem
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besteht nach unserer Erfahrung aus der praktischen Arbeit mit MigWissen um kulturelle Werte. Damit meinen wir die, von den Migrant*innen mitgebrachten, eigenen kulturellen Werte sowie die kulturellen Werte der aufnehmenden Gesellschaft. Dazu ein paar Zahlen.
4 Migrantenfamilien aus dem Vorderen Orient: eigene Besonderheiten Vorderer Orient, Nahost, mittlerer Osten. Sind das ähnliche oder gleiche Begriffe? Orient ist eine ungenaue Bezeichnung für die Länder östlich von Rom. Weil im Osten die Sonne aufgeht, wurde dieses Gebiet von den Römer als »Morgenland« bezeichnet. Alles was im Westen der Stadt Rom lag, wurde als Okzident, »Abendland«, bezeichnet, was so viel bedeutet wie »untergehende Sonne«. Der Nahe Osten, auch oft Orient genannt, ist eine geographische Bezeichnung, die heute in der Regel für arabische Staaten Vorderasiens und Israel benutzt wird und umfasst die subtropischen Trockenräume Nordafrikas und Südwestasiens. Der Vordere und Mittlere Orient ist ein nicht genau definiertes Gebiet in Vorderasien und umfasst die Arabische Halbinsel sowie die sich nördlich an diese anschließenden Gebiete des fruchtbaren Halbmondes. Zu den Kern-
ländern des Nahen Ostens gehören Irak, Syrien, Jordanien, Libanon, Israel, Palästina, Saudi-Arabien, Kuwait, Katar, Bahrain, Vereinigte Arabische Emirate (VAE), Oman und Jemen. Häufig werden außerdem Zypern, die Türkei, Ägypten und der Iran dazugezählt. Des Weiteren werden mit dem Nahem Osten auch häufig der eurasische Staat Türkei mit seinem vorderasiatischen Hauptgebiet, der afrikanische Staat Ägypten sowie der Iran ist mit dem Nahen Osten assoziiert.
Ein charakteristisches Merkmal neben der orientalischen Gewürzwelt, Nomadismus, hoch entwickeltem Städtewesen und Bewässerungswirtschaft ist in dieser Region (außer in Israel) der Islam. Während die meisten arabischen Staaten der sunnitischen Glaubensrichtung angehören (ca. 90 %), gehören einige andere, z. B. der Iran, dem schiitischen und andere wiederum der alevitischen Glaubensrichtung an. Die Mitglieder der kleinen ethnischen Minderheit der Jesiden gelten als Ungläubige. Sunniten: »Sunnit« ist vom arabischen Wort »Sunna« abgeleitet, bedeutet »Brauch, überlieferte Norm« und beschreibt die Handlungsweisen des Propheten Mohammed. Sunniten bezeichnen sich als »Ahl as-sunna wa -I- gama a«, was sowas wie »Die Leute der Sunna und der Gemeinschaft« bedeutet. Sie sehen sich als die Anhänger des Propheten Mohammed, sind der Meinung, dass dieser keinen Nachfolger benannt hat und agieren nicht sektiererisch und spaltend. Sie verstehen sich als »die gerettete Sekte« und als Mitte der Gruppe der Muslime. Schiiten: Das Wort »Schia« stammt aus dem Arabischen und bedeutet »Anhängerschaft, Gruppe, Partei«. In Deutschland als »Schiitentum« bezeichnet sind sie Anhänger von Schia, dem Schwiegersohn und Cousin des Propheten Mohammed. Schiiten fordern,
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Religionen im Vorderen Orient
der neue Kalif »Stellvertretung/Nachfolger« oder Imam »Gelehrte des Islams« müsse ein Nachkomme Mohammeds sein. Ali war nach dem Tod von Mohammed der vierte Kalif. Die Söhne und Enkel Alis sollten die Nachfolge antreten, wurden jedoch von den Sunniten nicht anerkannt. Alawiten: Das Wort Alawit kommt aus dem Arabischen, in der Türkei »Arap Alevileri« (die arabischen Aleviten) genannt. Das Alawitentum ist arabischen Ursprungs, eine religiöse Sondergemein-
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schaft in Vorderasien, im 9. Jahrhundert im Irak entstanden und in Syrien und der Türkei verbreitet. Gehört zum schiitischen Spek trum des Islam und ist auch als »Nusairier/Nusairis« bekannt. Nach Ibn Nusair wurden die Glaubensinhalte erweitert und es entstand eine neue Theologie, in deren Zentrum die Göttlichkeit Alis steht. Nach Verfolgung und Ermordung durch Sunniten im osmanischen Reich zogen sich die Nusairier in die Berge im Westen Syriens hinter Latakia zurück und leben bis heute in dieser Region und in der Südtürkei. Aleviten: Diese sind genauso wie die Alawiten im Gefolge von Ali, dem Vetter und Schwiegersohn des Propheten Mohammads. Das Alevitentum ist eine im 13./14. Jahrhundert in Anatolien entstandene Religionsgemeinschaft und hat schiitische Wurzeln. Die alevitische Religion enthält vorislamische schamanistische Elemente sowie Traditionen aus dem Christentum. Es ist eine offene Gemeinschaft, in der Frauen und Männer gleichwertig sind. Jesiden: »Yezidi« kommt aus dem Kurdischen und bedeutet »der, der mich erschaffen hat«. Sie sehen sich selbst als Angehörige der ältesten Religion der Welt. Sie glauben an einen Gott, – damit ist das Jesidentum eine monotheistische Religion – haben kein Glaubensbuch wie eine Bibel oder einen Koran und der Glaube wird mündlich überliefert. Jesiden glauben an Seelenwanderung, d. h. an ein Leben nach dem Tod, aber nicht an eine Hölle oder einen Teufel. Sie
werden als Ungläubige verfolgt, da die Jesiden als Mörder des Sohns und Nachfolger des heiligen Ali betrachtet werden. Arabisch ist die universelle Sprache, wird in den meisten Ländern gesprochen und ist auch die Amtssprache. Natürlich haben viele Länder auch noch eine eigene Sprache wie z. B. Persisch, Dari oder Paschtu. Ethnien des Nahen Ostens sind Araber*innen, Türk*innen, Iraner*innen, Israel*innen und Kurd*innen. über 80 Millionen Einwohner*innen sind die bevölkerungsreichsten Länder. Verglichen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), nimmt Saudi-Arabien mit knapp 800 Milliarden Platz eins ein, gefolgt von der Türkei mit über 750 Milliarden. Platz drei geht mit ca. 450 Milliarden an den Iran und Platz vier mit über 400 Milliarden an die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Betrachtet man die nach Deutschland geflüchteten Menschen z. B. aus den Jahren 2016/2017, so stammen die meisten Asylbewerber*innen aus Syrien, Albanien, Kosovo, Afghanistan oder dem Irak. Sie gehören weder zu den bevölkerungsreichsten noch wirtschaftlich starken Ländern. Ihre Sprachen sind unterschiedlich, ihre Religionszugehörigkeit jedoch ähnlich. Die meisten der geflüchteten Menschen gehören dem islamischen Glauben an. Diese und andere Menschen mit Migrationshintergrund sind unsere Kund*innen und Klient*innen in der systemisch interkulturellen Arbeit.
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Ägypten mit ca. 100 Millionen, Iran und die Türkei mit jeweils
Die Bedeutung von Religion, Sprache und regionaler Herkunft in unserer Arbeit
Die Besonderheit in der systemisch interkulturellen Arbeit ist, trotz so vieler Ähnlichkeiten, die feinen Unterschiede zu sehen, und diese in die Arbeit einfließen lassen zu können. Wir lassen z. B. in der Arbeit mit einer alevitischen Familie, soweit möglich, nicht eine sunnitische Kolleg*in beraten, weil die alevitische Familie in der Regel eine sunnitische Kolleg*in nicht akzeptiert.
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Ferner gibt es feine kulturelle Unterschiede sowie Sprachbarrieren, da die alevitischen Familien meistens der kurdischen Minderheit angehören und die Muttersprachen Kurmaci oder Zaza sind und seltener Türkisch. Schauen wir uns das Beispiel einer alevitischen Familie und einer sie beratenden sunnitischen Kollegin einmal genauer an. Beide stammen gegebenenfalls aus dem gleichen Herkunftsland (Türkei). Auch wenn die Muttersprache eine andere ist, so ist die Landessprache gleich, das Hauptproblem liegt meistens weniger an der Möglichkeit der Kommunikation. Auch die Lebenswirklichkeit dieser Menschen muss sich nicht unbedingt stark voneinander unterscheiden. Es gibt in der Regel zwischen den beiden Herkunftsfamilien mehr Gemeinsamkeiten. So scheint hier die Religionszugehörigkeit als größter Risikofaktor, dabei sind Sunniten und Aleviten gleichermaßen Angehörige der islamischen Religion. Um dies zu verstehen, muss man einen Blick in die Geschichte werfen. Sunniten und Aleviten hatten in der Vergangenheit einige Vertrauensbrüche, so wurden Aleviten in der Türkei (und auch in anderen Ländern) immer wieder verfolgt. Dieses Misstrauen gegenüber der sunnitischen Glaubensgruppe sitzt noch immer tief.
So spielt die Religionszugehörigkeit der Menschen eine große Rolle, diese hat jedoch teilweise nicht so viel mit der Religion an sich, sondern oft weit mehr mit der Geschichte der Glaubensgemeinschaft zu tun. An dieser Stelle möchten wir auch noch einmal an die eigene Migrationsgeschichte erinnern. Einleitend haben wir beschrieben, dass unsere Mutter bzw. Großmutter große Schwierigkeiten hatte, eine größte religiöse Spannung zwischen dem Islam und dem Judentum,
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trotzdem war es seinerzeit der jüdische Vermieter, der Verständ-
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Wohnung in Wiesbaden zu finden. Seit langem herrscht die weltweit
nis für die Wohnungsnot unserer Familie aufbringen konnte. Die Geschichte der jüdischen Verfolgung ist sehr lang, die Diaspora (Zerstreuung) begann während der ersten babylonischen Eroberung von Juda (587 v. Chr.). Auf die letzte große Judenverfolgung, vor allem in Deutschland und Europa zwischen 1933 bis 1945, m öchten wir hier nicht nochmal eingehen, diese sollte allen Leser*innen noch sehr präsent sein. Persönlich gemachte Erfahrungen oder Erfahrungen in der Geschichte des Volkes oder in der Religionsgemeinschaft Erlebtes, spielen oft eine entscheidende Rolle, Ängste und Vorurteile können sehr tief sitzen. Dies sind nur einige Beispiele dafür, was alles eine Rolle spielen könnte. Neben dem Herkunftsland sind auch Unterschiede von Wohnort, Stadt oder Land, welche Regionszugehörigkeit relevant. So versuchen wir bei der Wahl der passenden Kolleg*innen stets so zu wählen, dass all diese Aspekte einfließen. Das eigene Wissen und die gemachten Erfahrungen bergen trotz aufklärerischer Wirkung in der interkulturellen Arbeit auch die Gefahr voreingenommen zu sein, weil jeder Mensch und jede Familie trotz vieler Gemeinsamkeiten unterschiedlich ist. Aus diesem Grunde ist es wichtig bei jedem Einzelfall, mit dem wir arbeiten,
neu entscheiden zu können. Wir arbeiten mit Menschen, die nicht nur eine ganz eigene Herkunftsfamilienprägung haben, sondern als Menschen alle Individuen sind.
5 Der Lern-Planet: Eine Einrichtung von Migranten für Migranten
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Der Lern-Planet entstand aus dem Institut für multilinguale Erziehungshilfe und Familientherapie. Der Lern-Planet wurde 1994 in Wiesbaden gegründet und war die erste Nachhilfeschule der Landeshauptstadt Wiesbaden mit Lehrkräften, die die besonderen Bedarfe von Familien mit Migrationshintergrund erkannt und Kinder sowohl auf Deutsch als auch in ihrer Muttersprache beim Lernen gefördert haben. Eine Zusammenarbeit mit den örtlichen Jugendämtern hat ab 1995 zur Übernahme erster Einzelfallhilfen geführt, zunächst mit heilpädagogischen Intensivförderungen. In den folgenden Jahren kamen sozialpädagogische Familienhilfen und -therapien dazu, die vor allem für Familien ohne ausreichende Deutschkenntnisse installiert wurden. Die pädagogische und therapeutische Arbeit mit unterschiedlichen Herkunftskulturen konnte im Laufe der Zeit auf Menschen aus über 100 Nationen ausgeweitet werden. Dem wachsenden Interesse unserer Gesellschaft an interkulturellen Themen ist der Lern-Planet 2015 mit der Gründung des Weiterbildungsinstituts SIK (Systemisch-Interkulturelles Kompetenzcentrum) begegnet. Neben Seminaren und Fachvorträgen werden berufsbegleitende Weiterbildungen zum/zur systemisch-interkulturellen Berater*in, Therapeut*in und Supervisor*in angeboten. Das SIK ist von der DGSF (Deutsche Gesellschaft für Systemische The-
rapie, Beratung und Familientherapie) akkreditiert und der Lern-
Planet als systemisch arbeitende Einrichtung empfohlen. Als Anbieter von Integrationskursen nach den Richtlinien des BAMF tritt der Lern-Planet zudem bereits seit vielen Jahren in Wiesbaden als Bildungsträger in Erscheinung. Das Institut Lern-Planet hat sich im Laufe seines Bestehens schwerpunktmäßig der Arbeit mit Menschen mit Migrationshintergrund gewidmet. Diese Ausrichtung knüpft an den immer noch rung zu geben, die stark in ihrer jeweiligen Herkunftskultur verwur-
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zelt sind und denen es schwerfällt, sich im Erziehungsprozess in den
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wachsenden Bedarf unserer Gesellschaft an, Familien eine Orientie-
hiesigen Strukturen zurecht zu finden. Schwerpunkt der systemisch-therapeutischen Arbeit
Bei Menschen mit Erfahrungen aus der eigenen Erziehung im Herkunftsland oder einer Kindheit in Deutschland, geprägt von den traditionellen Erziehungsmodellen aus der elterlichen Herkunftskultur, stoßen hier gültige Erziehungsstandards mitunter auf Unverständnis. Kinder und Jugendliche geraten nicht selten zwischen Elternhaus und Institutionen, vor allem der Schule, in einen Zwiespalt, müssen eventuell bei Gesprächen als Übersetzer für ihre Eltern agieren, die dennoch die an sie gerichteten Anliegen oft nicht nachvollziehen können. Genau hier setzt die interkulturelle Kompetenz des Lern-Planeten an. Familien, Jugendliche und Kinder erfahren durch die kompetente Hilfe unserer pädagogischen Fachkräfte, die in der Regel selbst einen Migrationshintergrund haben, eine Wertschätzung und Anerkennung ihrer Lebenswirklichkeit, die eine vertrauensvolle und stabile Arbeitsbeziehung möglich machen. In einem solchen Rahmen können Meinungen offen ausgesprochen, Haltungen relativiert und Veränderungsprozesse in Gang gesetzt werden. Das Arbeiten in der Muttersprache der Klient*innen ist dabei essentiell. Es schafft Vertrauen und beugt Missverständnissen vor.
Unsere Arbeit stellt den Menschen in den Mittelpunkt, dessen Individualität und Persönlichkeit wir achten. Uns leitet die Überzeugung, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner sozialen und kulturellen Herkunft, seines Geschlechts, seines Alters und seiner Religion, wertvoll und somit wertzuschätzen ist. Mit Offenheit und ohne Vorbehalte begegnen wir Familien und jungen Menschen auf Augenhöhe, um eine gegenseitige Vertrauensbasis zu schaffen, die Grundlage eines jeden Hilfsprozesses ist. Wir
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richten unsere Arbeit an den Bedürfnissen der Menschen aus, berücksichtigen ihre Werte und Wünsche und nehmen ihre Ressourcen und Stärken in den Blick. Die Selbsthilfekräfte unserer Klient*innen zu aktivieren, bzw. zu stärken (Resilienz), ist maßgeblich für unsere Arbeit. Die Grundhaltung unserer Fachkräfte
Die Mitarbeiter*innen des Lern-Planeten nehmen in ihrer Arbeit eine systemische Haltung ein. Die (Klienten-)Familie wird als eine Einheit betrachtet, jedes einzelne Familienmitglied hat eine bestimmte Funktion im System Familie. Das problematische Verhalten eines einzelnen Familienmitglieds, bzw. einzelner Familienmitglieder, wird im Zusammenhang des Systems gesehen, d. h. vor dem Hintergrund der gesamten Familie und nicht isoliert davon. Die Qualität der Arbeit und deren Nachhaltigkeit wird kontinuierlich überprüft und sichergestellt. Die Mitarbeiter*innen sind in pädagogischen Teams von sechs bis acht Kolleg*innen organisiert, die regelmäßig zur kollegialen Beratung und zur Fallbesprechung zusammenkommen. Neben regelmäßiger Supervision hat jede/r Mitarbeiter*in bei Bedarf die Möglichkeit, kurzfristig eine Fallsuper vision anzufordern. Fortbildungsveranstaltungen für alle pädagogischen Mitarbeiter*innen werden nach Möglichkeit als In-House-Veranstaltungen angeboten. Zudem steht es den einzelnen Mitarbeiter*innen frei, im
Rahmen der Arbeitszeit externe Fortbildungen nach Absprache zu besuchen, bzw. Onlineangebote zu nutzen. Allen Mitarbeiter*innen stehen die Weiterbildungen zum/r systemischen Berater*in und Therapeut*in am DGSF zertifizierten Institut SIK (Weiterbildungsinstitut Wiesbaden) zu vergünstigten Konditionen offen. Methode: fragen und verstehen
wird sie halbjährlich evaluiert. Dabei kommt die Methode der Befra-
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gung der Klient*innen zum Einsatz. Die dazu festgelegten Fragestel-
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Um die Fachlichkeit und Wirksamkeit der Arbeit zu überprüfen,
lungen werden in Absprache mit den pädagogischen Teams im jährlich stattfindenden pädagogischen Fachtag überarbeitet. Wir wollen nicht nur die Menschen verstehen, mit denen wir arbeiten, sondern wir wollen vor allem auch, dass diese uns richtig verstehen. Nicht nur was wir sagen, sondern viel mehr, was das von uns Gesagte bedeutet. Beide Seiten sollen die Chance haben so zu sprechen, dass beide am Ende etwas sehr Ähnliches verstanden haben. Es verunsichert Menschen, wenn sie die Erfahrung machen, trotz gelernter Sprache das Gefühl zu haben: »Ich verstehe nicht …«. Es ist ein tief in uns Menschen verankerter Wunsch, von unserem Umfeld verstanden zu werden. Man denke nur an den Satz, den jeder aus gerade engen Beziehungen kennt: »Du verstehst mich nicht«, oder noch deutlicher »Wir können reden solange wir wollen, du wirst mich trotzdem nicht verstehen können«. Dieses Gefühl, nicht verstanden zu werden, hat jeder von uns schon erlebt, es ist tief verletzend und man fühlt sich machtlos. Man bedenke, dass die meisten Menschen dieses Gefühl schon hatten, während sie in sozialer Interaktion mit Menschen aus demselben Kulturkreis und mit derselben Muttersprache leben. So scheint es doch auf der Hand zu liegen, dass wir bei der Arbeit mit Menschen aus anderen Ländern, die anders sozialisiert wurden,
besonders sensibel sein müssen und besonders gut zuhören müssen, damit man sich gegenseitig versteht. Hierzu gehört mehr als das Sprachverständnis, viel mehr braucht man Wissen, um die Kultur und Lebenswirklichkeit dieser Menschen verstehen zu können. Die Integrationskurse und interkulturelles Kompetenztraining
Im Jahr 2005 trat das erste Zuwanderungs- und Integrationsgesetz in
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Kraft. Das war auch die Geburtsstunde der Integrationskurse. Wenn man bedenkt, dass die Anwerbung der Gastarbeiter 1955 begann, die Integrationskurse 2005, also 50 Jahre zu spät, müssen wir an die Worte vom renommierten Migrationsforscher Klaus J. Bade denken: »Bei uns kommt alles in Sachen Migrations- und Integrationspolitik 25 Jahre zu spät« (2017). Als positiv denkende Menschen sagen wir: »Was lange braucht wird gut« und stellen an dieser Stelle die seit ca. 15 Jahren bestehende und vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geförderten Integrationskurse kurz vor1. Jeder Integrationskurs besteht aus einem Sprachkurs und einem Orientierungskurs. Der allgemeine Integrationskurs dauert 700 Unterrichtstunden (UE), je nach Ausrichtung des Kurses (…) kann die Gesamtdauer auch bis zu 1000 UE betragen. Der Sprachkurs ist Teil des Integrationskurses und dauert im allgemeinen Integrations kurs insgesamt 600 UE, in den speziellen Kursen bis zu 900 UE. Im Anschluss an den Sprachkurs folgt der sogenannte Orientierungskurs. Er umfasst 100 UE und beinhaltet unter anderem: Ȥ die deutsche Rechtsordnung, Geschichte und Kultur Ȥ Rechte und Pflichten in Deutschland 1 Alle Informationen sind online zu finden unter: https://www.bamf.de/DE/Themen/Integration/ZugewanderteTeilnehmende/Integrationskurse/InhaltAblauf/ inhaltablauf-node.html. (Zugriff am 13.08.2021).
Ȥ Formen des Zusammenlebens in der Gesellschaft Ȥ Werte, die hier wichtig sind, wie zum Beispiel Religionsfreiheit, Toleranz und Gleichberechtigung von Frauen und Männern Der Orientierungskurs schließt mit dem Abschlusstest ›Leben in Deutschland‹ ab. Wie erfolgreich und wirksam sind diese Integrationskurse oder ähnliche Angebote, z. B.: Ȥ Beratungsangebote für Erwachsene und junge Menschen? Mit Sicherheit sind solche Angebote besser als keine Angebote. Diese sollten aus unserer Sicht in die Sprachkurse integriert und nicht separat und nach den Sprachkursen erfolgen. In der Regel sind die Teilnehmer*innen nach 600 bzw. 900 UE müde und lustlos. Außerdem werden, vor allem in den Orientierungskursen, sehr wichtige Themen trocken und zu schnell behandelt. Der aus 100 UE bestehende Orientierungskurs ist mindestens so wichtig wie der Sprachkurs und sollte ebenfalls aus 600 UE bestehen. Aus unserer Sicht sollte Integration sich aus 50 % Sprache und 50 % Kulturvermittlung zusammensetzen sowie von beiden Seiten gewollt sein. Interaktion sollte die Priorität noch vor Integration innehaben. Sind Menschen nicht ausreichend integriert, und an dieser Stelle meinen wir eben integriert und nicht assimiliert, so sind sie immer wieder Konflikten ausgesetzt. »Aus Angst vor Ablehnung oder Beschämung vermeiden sie den Kontakt mit Deutschen, wo immer es geht« (Bulgay u. Reimann-Höhn 2011b, S. 17). Das erschwert nicht nur deren Leben, sondern auch die Arbeit vieler Expert*innen, wie Berater*innen oder Therapeut*innen. Interkulturelles Kompetenztraining sollte nicht nur Expert*innen vorbehalten sein, sondern auch deren Klientel zur Verfügung stehen. Koch (2017) beschreibt
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Ȥ Angebote für Spätaussiedler*innen oder
ein Beispiel sinnvoller Integrationsarbeit im ländlichen Umfeld als »Kompetenztraining für die Bewohner des Dorfes, das die Befürchtungen der Nachbarschaft aufgriff und großen Anklang fand« (S. 76). Am Beispiel der Jugendarbeit erläutert er weiter: »Nicht nur die Jugendlichen, sondern auch ihr neues Umfeld muss sich öffnen und das jeweils andere System kennen- und verstehen lernen« (S. 78). Wenn man sich die Entwicklung der Sprachkurse und Integra40
lich, was für eine positive Veränderung bereits stattgefunden hat. Wie
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tionsangebote über die letzten Jahre anschaut, so erkennt man deutwäre das Leben des kleinen Jungen, der in der Einleitung erwähnt wird, verlaufen, wenn er gefördert worden wäre? Immerhin wird der sprachliche Teil der Integrationsarbeit inzwischen sehr ernst genommen und ein großes Potenzial schlummert in Förderungen auf kultureller und rechtlicher Ebene. Man muss schließlich lernen, was die »Norm« ist, um sich in einer neuen Gesellschaft regelkonform verhalten zu können. Und gleichzeitig gilt für uns: Wir müssen lernen, welche »Normen« in den Familiensystemen gelten, die zu uns in Therapie kommen, um eine effektive systemisch-interkulturelle Arbeit leisten zu können.
Die systemische Beratung
6 Methoden systemischer Beratung, die sich für Migrantenfamilien eignen 6.1 Herausforderungen in der professionellen systemischen Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen
Für das professionelle Handeln im interkulturellen Kontext gibt es einige Punkte, die besonders viel Unsicherheit auf beiden Seiten her44
mit anderen Fachkräften teilen. Im Idealfall hat man als professio-
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vorrufen. An dieser Stelle möchten wir gerne unsere Erfahrungen nelle Fachkraft eine Art Grundwissen von der Kultur der Menschen, mit denen man arbeitet. Hierzu zählen beispielsweise die Kenntnisse über die allgemeinen Höflichkeitsformen der Kultur. Dieses sollten sich die professionellen Fachkräfte zumindest rudimentär aneignen. Interesse am Menschen zeigen
Über die eigenen Unsicherheiten sollte unbedingt offen gesprochen werden. So zeigt die Fachkraft erst einmal nur Interesse an der anderen Kultur und an den Menschen als Individuen. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, sagt man. Das Interesse ihrerseits zeigt Wohlwollen, dieses bekommt man in den meisten Fällen auch zurück. Hier ist besonders für eine Person aus einem anderen Kulturkreis und ohne professionelle Weiterbildung im interkulturellen Kontext wichtig, immer wieder zu erklären, wieso man sich so verhält, wie man es gerade tut. Ganz besonders, wenn man bereits eine Hypothese hat, wieso sich das Gegenüber entsprechend verhält. Beispiel: Termine vereinbaren
In manchen Kulturen haben Termine, Verabredungen, zeitliche Dimensionen einen anderen Stellenwert als in Deutschland. Hierbei kommt es wieder zu Konflikten. Wir empfehlen, das Thema sensibel und wertschätzend anzugehen. Bei diesem Beispiel hat die Fachkraft
bereits die Hypothese, dass die Schwierigkeit verbindliche Termine zu finden, in der Termin-finde-Kultur des Herkunftslandes liegen könnte. Dies ist in vielen Fällen tatsächlich so, trotzdem gib es unterschiedliche Möglichkeiten, das Thema anzusprechen und eine Lösung zu finden. Lösungsorientiert
»Lassen Sie uns gleich hier einen nächsten Termin vereinbaren. Ich weiß, bei Ihnen macht man das nicht, aber wir sind hier in Deutschland, gewöhnen Sie sich daran. Wenn Sie den Termin nicht einhalten, kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen.«
»Ich verstehe, dass Sie lieber spontan Termine machen möchten, aber in Deutschland ist das sehr unüblich. Ich muss leider die Termine einplanen, da mein Arbeitgeber und die anderen Familien dies erwarten. Auch ist es für mich einfacher, wenn ich weiß, wann wir uns das nächste Mal sehen, so kann ich unseren Termin gut vorbereiten. Ich hoffe, das ist für Sie in Ordnung. Wie ist das denn in Ihrem Herkunftsland? Wie verabredet man sich bei Ihnen?«
Es ist sicher nachvollziehbar, dass mit der lösungsorientierten Möglichkeit eine produktive, weitere Zusammenarbeit eher gelingt. Interkulturell ausgebildete Fachkräfte wissen, dass ihre Vorstellung bestimmter kultureller Gepflogenheiten relativ ist und nicht auf jedes Familiensystem anwendbar. Sie dürfen ihren Klient*innen keinesfalls das Gefühl vermitteln, sich in der Kultur der Familie besser auszukennen als die Personen selbst. Dies ist kein Wettbewerb mit der Familie; sie werden als kultursensible Person in diesem Bereich immer Laie bleiben. In der Familie systemisch arbeitende Helfer*innen müssen der Familie die Rolle der Kulturexpert*innen ihrer Herkunftskultur zugestehen. Beispielsweise lässt sich manchmal nur schwer erkennen, wer tatsächlich Ansprechpartner*in ist. Diese sind oft ganz andere, als man dies aus deutscher Perspektive vermuten würde. Arbeitet man mit einer Familie, in der man die verschiedenen Zuständigkeiten nur schwer erkennen kann, lohnt es sich hier nochmal genauer hinzuschauen.
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Beratung
Konfliktorientiert
6.2 Das Bulgaysche Kreisdiagramm
Anders als bei unseren klassischen deutschen Familien mit informationell teiloffenen oder offenen Systemen, haben wir es im vorderasiatischen Raum meistens mit informationell stark geschlossenen Systemen zu tun. Diese Systeme und Strukturen sind im vorderasiatischen Raum sehr oft zu finden, aber auch in vielen anderen Volksgruppen anzutreffen. Die informationelle Öffnung oder Abschließung verläuft entlang verschiedener äußerer und innerer Kreise, die
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im Folgenden mit dem Bulgaysche Kreisdiagramm kurz beschrieben werden. Im ersten Kreis (innerster Kreis) wird die Kernfamilie verortet, welche beispielsweise aus Mutter, Vater und drei Kindern besteht. Im zweiten (mittleren) Kreis wird die Herkunftsfamilie beschrieben, zu der unter anderem die Großeltern, Tanten und Onkel bzw. Cousinen und Cousins zählen.
Abb. 1: Bulgaysches Kreisdiagramm (Bulgay, 2017)
Der dritte und äußerste Kreis beinhaltet Bekannte, Freunde, Nachbarn oder Autoritätspersonen, wie zum Beispiel: Ärzte, Lehrer oder Hodschas (Vorbeter in Moscheen, vergleichbar mit Pfarrern in Kirchen). Mit anderen Worten: Vertrauenspersonen mit denen man freiwillig oder unfreiwillig im regelmäßigen Kontakt steht. Diese in sich geschichteten Kreise sind umgeben von weiteren Systemen, wie zum Beispiel Jugendamt, Schule oder Kliniken. Innerhalb der drei Kreise findet ständig Interaktion statt. Gleichexternen Systemen oder Subsystemen ständige Interaktion statt. Es wird vor allem in patriarchalischen Familiensystemen weniger zwischen der Kernfamilie und der Außenwelt unterschieden, eher zwischen verschiedenen Kreisen, die verschiedene Rechte und Pflichten der einzelnen zum System Gehörenden beschreiben. Diese werden durch das Bulgaysche Kreisdiagramm (Abb. 1; Bulgay, 2017a, S. 91) sehr deutlich. Eine Person aus dem System kann im Austausch mit allen möglichen Menschen und Institutionen stehen, ohne die eigene Position im System zu verlassen. So wird eine Person aus dem äußeren Kreis keine (ehrliche) Auskunft über Personen oder Geschehnisse im inneren Kreis geben können. In diesen überwiegend geschlossenen Systemen lässt sich nur selten auf den ersten Blick erkennen, wer die tatsächlich relevante Ansprechperson ist. Diese sind oft andere, als man dies aus deutscher Perspektive vermuten würde. Wenn die Eltern eines Kindes beispielsweise in die Schule eingeladen werden, um etwas Wichtiges zu entscheiden und zu unterschreiben (Schulwechsel oder Versetzung), so gehen wir mit unserem westlichen Verständnis von Familie davon aus, dass diese Eltern diese Entscheidung auch treffen können. Dies muss nicht immer so sein, es könnte auch sein, dass die Entscheidung viel früher innerhalb
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Beratung
zeitig findet auch zwischen den Kreisen im Kreisdiagramm und den
der Großfamilie (zweiter Kreis) gefällt wurde. Entscheidungsgewalt haben meistens die Großeltern väterlicherseits bzw. mütterlicherseits. In religiös patriarchalischen Familiensystemen liegt der Fokus weniger auf der Individualisierung des Einzelnen. Es wird weniger in »Ich-Form«, sondern mehr in »Wir-Form« gedacht und gehandelt. Beispiele aus der Praxis
Einleitend zu den Fällen möchten wir noch ein paar Worte über
Beratung
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unseren allgemeinen Umgang mit Fallbeispielen in diesem Buch verlieren. Wir haben immer wieder auf kurze Ausschnitte unserer Arbeitspraxis zurückgegriffen, um Erklärtes besser zu veranschau lichen. Diese Fälle aus der Praxis sind Extrembeispiele, die wir bewusst gewählt haben, um einige Verhaltensmuster und Herangehensweisen deutlich darzustellen. Die Palette von Verhaltensmustern und Denkstrukturen ist in etwa so bunt wie Menschen es auch sind. Wir arbeiten gerne mit Beispielen, denn auch wenn sich jeder Mensch anders verhält, sind immer wieder Parallelen zu erkennen. Das Wissen um diese erleichtert die Arbeit ungemein. Wir distanzieren uns aber davon, verallgemeinernd über Menschen aus bestimmten Kulturen oder anderen soziokulturellen Hintergründen zu sprechen. Dies stünde im direkten Widerspruch zu unserer Arbeitshaltung. So können sich Menschen im Extremfall wie in den Praxisbeispielen verhalten, müssen dies aber nicht, und in der Regel machen sie das auch nicht. Nichtsdestotrotz arbeiten wir in einem Bereich, in dem wir oft mit »genau diesen« Menschen zu tun haben. Es ist nicht zu leugnen, dass die gut integrierten Familien weniger ins Auge – und die Extremfälle daher oft schwerer ins Gewicht fallen. So möchten wir dazu beitragen, die Kultursensibilität zu fördern und gleichzeitig darum bitten, diese vorgestellten Fälle nur als Fallbeispiele und nicht als generelle Definition von Menschen
aus anderen Kulturen zu sehen. Dies würde uns Menschen, die wir alle unterschiedlich leben und handeln, nicht gerecht werden.
7 Fall 1, Familie A – Eine Liebesheirat in Aserbaidschan (Beraterin: Lena Hirner)
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Mühe der Familie zu vermitteln, welche Ziele das Jugendamt ver-
Beratung
In diesem Beispiel zeigt sich schnell, dass unterschiedliche Beteiligte verschiedene Aufträge an mich hatten und haben. Ich gab mir große folgt, damit es von der Familie nicht als Bedrohung empfunden wird. Die Familie Familie A. ist kurz nach der Hochzeit aus ihrem Heimatland Aserbaidschan nach Deutschland geflüchtet. In Deutschland angekommen lebte das Paar in einer Gemeinschaftsunterkunft einer größeren Stadt in Hessen. Zu dem Zeitpunkt war Frau A. bereits schwanger. Ihr erster Sohn kam in der Gemeinschaftsunterkunft zur Welt. Infolgedessen zog die junge Familie in eine kleinere Stadt, in eine eigene Wohnung. Knapp ein Jahr nach dem ersten Kind folgte ein zweites, auch ein Junge. Das dritte Kind kam drei Jahre später zur Welt, ein Mädchen. Das Paar hatte aus Liebe geheiratet, soweit das in den dörflichen Strukturen in Aserbaidschan möglich ist. Das bedeutet, dass Herr A. um die Hand von Frau A. nach einem kurzen Kennenlernen auf einer Hochzeit eines Verwandten angehalten hatte. Nach dem kurzen Blickkontakt auf der Hochzeit erkundigten sich beide über den jeweils anderen im Dorf und verliebten sich schließlich ineinander. Kurz nach der Hochzeit musste das junge Paar aus Aserbaidschan flüchten. Frau A. war durch die Schwangerschaft, die Geburten und das Leben mit Kleinkindern seit ihrer Ankunft in Deutschland sehr
ans Haus gebunden. Auch einen Sprachkurs konnte sie wegen der Kinder lange nicht besuchen. So spricht sie heute kaum Deutsch, obwohl die Familie inzwischen seit sieben Jahren in Deutschland lebt. Herr A. hat im Gegensatz zu seiner Frau die Schule im Herkunftsland nicht besucht. Das führte dazu, dass er immer sehr große Schwierigkeiten in den Deutschkursen hatte. Selbst in seiner Muttersprache fällt ihm das Schreiben schwer, er schafft es kaum, dem Arbeit in einem türkischen Imbiss. Da die Familie bei der Flucht für
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Unterricht zu folgen. Über die Jahre hinweg hatte er immer wieder 50
zwei Jahre in der Türkei gewohnt hat, und die aserbaidschanische Sprache dem Alttürkischen sehr ähnlich ist, kann er sich auf Türkisch verständigen. So konnte der Vater einige Sprachkompetenzen entwickeln. Zudem versteht er die deutsche Sprache ganz gut, sprechen kann er sie allerdings kaum. Von der Kernfamilie abgesehen ist noch der Bruder von Frau A. in Deutschland. Dieser wohnt sehr weit weg, sodass der persönliche Kontakt nur selten möglich ist. Allgemeine Problematik Die ersten Kontakte zum Jugendamt hatte die junge Familie kurz nach der Geburt des ersten Kindes. Fehlendes Verständnis und die Sprachbarriere führten zu ständigen Missverständnissen. So zeigte die Familie kaum Bereitschaft ihre gesunden Kinder zum Arzt zu bringen. Die Vorsorge-Untersuchungen wurden selten wahrgenommen, aber auch nicht abgesagt. Obwohl es kostenintensive Dolmetscher gab, um die Sprachbarriere zu überwinden, kam eine konstruktive Zusammenarbeit nicht zustande. Was hilft ein Dolmetscher, wenn die Familie den Sinn hinter dem Gesagten nicht nachvollziehen kann? Ein Dolmetscher sollte »mehr als eine Telefonleitung« sein (El Hachimi u. Jürgens, 2013, S. 80). Als dann die Nachbarn wiederholt das Jugendamt oder die Polizei informierten und erzählten, dass die Familie sehr laut wäre und die
Kinder vernachlässigen würde, wurde die Behörde erstmals wirklich aktiv. Es wurde bei Familie A. eine Familienhilfe installiert. Diese wurde frühzeitig beendet, da die Zusammenarbeit zwischen Klienten und Helferin nicht funktioniert hatte. In diesem Zusammenhang wurde unser Träger Lern-Planet nach einer muttersprachlichen Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH) angefragt.
Um das leibliche Wohl der Kinder zu gewährleisten, sollten sich die Eltern der Zusammenarbeit mit dem Jugendamt öffnen. Außerdem zeigte sich im Laufe der Maßnahme, dass die Spielsucht des Vaters für die finanzielle Situation der Familie eine Bedrohung darstellte. Vorgehensweise Zu Beginn der Arbeit ging es darum, Vertrauen aufzubauen, um dann Schritt für Schritt die Probleme angehen zu können. Die Eltern hatten einen Großteil ihres Lebens in einem Dorf in Aserbaidschan verbracht, einem sehr traditionellen Land. Die Familie hatte sich in Deutschland bisher kaum integriert, war weitgehend isoliert. Das war in der Arbeit entscheidend. Kulturelle Unterschiede mussten aufgedeckt und immer wieder erklärt werden. – Wie lebt man in Deutschland? – Was ist normal? – Was wird von Familien erwartet? – Wie geht man mit Behörden um? – Wie ist der Kontakt zur Außenwelt geregelt? – Was ist mit der medizinischen Vorsorge und Versorgung? – Wann darf Hilfe angefordert werden? – Welche Hilfen gibt es?
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Beratung
Zielsetzung
Die deutsche Lebenswirklichkeit ist anders, Werte und Normen sind andere. Und so konzentrierte ich mich stark auf die Lebenswirklichkeit der Eltern und versuchte möglichst viel interkulturelle Erklärungsund Übersetzungsarbeit zu leisten. Das gelang von Termin zu Termin besser, indem ich die kulturellen Regeln des Herkunftslandes aufdeckte, ansprach und respektierte. Da der Altersunterschied zwischen mir und der Familie gerade mal fünf Jahre betrug, konnte ich eine hilfreiche Nähe schnell herstellen.
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Ich achtete allerdings sehr darauf, von der Familie nicht vereinnahmt und als Freundin betrachtet zu werden, sondern wahrte die professionelle Distanz. So konnte ich ein Vertrauensverhältnis herstellen und den Blick der Eltern langsam öffnen. Ich merkte schnell, dass in der Paarbeziehung nicht alles in Ordnung war, versuchte mich aber erst einmal zurückzuhalten und mich nicht in intime Themen einzumischen. Meine Vorsicht zahlte sich bald aus, als ich erfuhr, woran die erste SPFH gescheitert war. Die Helferin, die auch die Sprache der Familie sprach, wurde von der Kindsmutter als Bedrohung wahrgenommen. So entwickelte sich seitens der jungen Mutter eine große Eifersucht, die eine Arbeit auf Vertrauensbasis unmöglich machte. Das hatte kulturelle Gründe. In diesem Fall, und ganz besonders mit dem geringen Altersunterschied zwischen mir und der Familie, gab es einiges zu beachten. So habe ich meine Kleidung teilweise der Familie angepasst. Ein offener Ausschnitt wurde vermieden und gegebenenfalls durch ein Tuch um den Hals verdeckt. Auch wenn die Mutter sich täglich geschminkt hat, habe ich zumindest auf roten Lippenstift verzichtet. Auf die Frage hin, ob der Ring an meiner Hand ein Verlobungsring sei und ich »noch nicht« verheiratet wäre, antwortete ich mit ja, ich sei »noch nicht« verheiratet. Dies entsprach nur teilweise der Wahrheit da ich zu dem Zeitpunkt weder verheiratet noch verlobt war. Glücklicherweise trage ich meistens denselben Ring, dieser wurde
so schnell zum »Verlobungsring«. Mir war durch die vorsichtige Art der Familie und das nicht unübersehbare Misstrauen der Mutter klar, dass es hier nur eine richtige Antwort gab, die die Arbeit in dieser Familie überhaupt möglich machte. Wenn der Ring fehlte, wurde ich darauf angesprochen. Mein Beziehungsstatus gab der Mutter Sicherheit, so konnte sie sich auf die Hilfe gut einlassen. Der Nutzen der therapeutischen Interventionsspielräume überwiegt hier einen Anspruch auf absolute Transparenz. In diesem Sinne handelt es sich munikationsmöglichkeit. Der Kontakt zum anderen Geschlecht im Herkunftsland der Familie ist nicht ganz einfach. Abgesehen von der eigenen Familie leben beide Geschlechter weitgehend voneinander getrennt. Das Konzept, dass sich jemand Fremdes ins Haus der Familie setzt, ständig vorbeikommt und über alles reden will, ist für die Menschen mehr als grenzüberschreitend. Die Bereitschaft, sich trotzdem auf so eine Hilfe einzulassen, ist ein großes Wagnis und mutig. So berichtet Frau A. zum Beispiel, dass es ihr im Heimatland nicht einmal möglich war, Freundinnen zu besuchen. Die einzige Ausnahme stellte die direkte Nachbarin dar, aber auch hier war nur ein Besuch in einem der beiden Haushalte möglich. Die Gefahr, sie könnte sonst einem Mann begegnen, wäre einfach zu groß gewesen. Solche Erzählungen passten nicht zu dem Erscheinungsbild von Frau A., sie war nicht verhüllt und wirkte auf den ersten Blick nicht besonders traditionell, ganz im Gegenteil. Und trotzdem war sie nach so vielen Jahren Deutschland noch nie allein Bus gefahren, ihre Reichweite waren zu Fuß 200 Meter zum Kindergarten oder 300 Meter zum Supermarkt. Weiter kam Frau A. die ganzen Jahre allein nicht. Ein großes Problem war, dass die Erkenntnis ihres Bewegungsradius selbst noch nicht hilft. Immerhin hat sie ihr ganzes Leben ein solches Verhalten als normal empfunden.
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hier gewissermaßen um ein Werkzeug zur Herstellung einer Kom-
Auch hatte sie keine Kontakte nach außen, die sie auf die Idee bringen konnten, zumindest ansatzweise ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Das andere Problem war, dass die Hilfe nur mit der Unterstützung des Ehemannes funktionieren würde. Dieser musste nun langsam und vorsichtig auf eine zunehmende Selbstständigkeit seiner Frau vorbereitet werden. Herrn A. versuchte ich daher aufzuzeigen, wie anstrengend es für ihn sein müsse, für 54
Leben in Deutschland ganz anders sei. Und gleichzeitig arbeitete ich
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alles allein verantwortlich zu sein. Immer mit dem Hinweis, dass das sehr viel mit Frau A. an ihrem Selbstbild und Selbstvertrauen; und so wurde der Wunsch nach Freiheit in ihr immer größer. Klärung der Rollen und Aufträge Auftragsklärung ist in der interkulturellen Arbeit unglaublich wichtig. Daher führten wir regelmäßig Gespräche, in denen die Sorgen und Ängste der Familie thematisiert und Schritt für Schritt ausgeräumt werden konnten. Vielen Menschen mit Migrationshintergrund ist nicht klar, welche Funktion ein Jugendamt hat und was sie davon erwarten können. Welchen Auftrag der oder die Helfer/in hat und welche Rolle sie im System Familie einnehmen kann. So war es nicht Aufgabe der Familienhelferin, der Mutter im Haushalt zu helfen, auch wenn diese sich das wünschte. Auch für Herrn A. war es schwer nachzuvollziehen, dass es Ziele geben könnte, die nicht er festgelegt hat. Ich sei als Familienhelferin doch da, um der Familie zu helfen. Also müsste die Familie auch entscheiden können, welche Hilfe sie brauche. An dieser Stelle musste ich wiederholt die Rolle der Familienhelferin klären. Besonders Herr A. bemühte sich immer wieder, die Hilfe für seine Wünsche zu instrumentalisieren. Dies wäre zum Beispiel ein gemeinsamer Besuch beim TÜV, also Themen, die keinen Platz in der Familienhilfe haben.
Herausforderungen und Erfolge Ein großes Problem in der interkulturellen Arbeit ist immer wieder die Diagnostik der Kinder. In diesem Fall sprachen sie sehr schlecht Deutsch, was erst einmal wenig verwunderlich schien. Hier wurde davon ausgegangen, dass die Kinder nur Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hätten. Die Herkunftssprache hingegen würden sie sicherlich gut sprechen. Es stellte sich aber schnell heraus, dass auch hier große Defizite bestanden. über die Sprachentwicklung. Auch dieser schien sehr überrascht, als ich versicherte, dass die Kinder die Muttersprache nicht besser sprachen als die deutsche Sprache. So bekamen wir bald eine Überweisung für die Frühförderung. Die Eltern weigerten sich zu Beginn noch, jemand fremden in die Wohnung zu lassen, zumal die Frühförderung zu einer Zeit gewesen wäre, zu der der Vater arbeitete. Ich wurde von ihm beauftragt, zu den Förderzeiten bei der Familie zu sein, dies war natürlich nicht möglich. So suchte ich nach Lösungen und wir konnten die Frühförderung in den Räumen des Kinder gartens stattfinden lassen. Ein weiteres Problem: Die Zähne der Kinder waren in wirklich schlechtem Zustand und mussten saniert werden. Interessant war, dass auch Frau A. noch nie bei einem Zahnarzt war. Die Angst war sehr groß, sodass wir zwar einen Kontrolltermin für die Mutter vereinbaren konnten, den sie wahrnahm, doch zu einer Behandlung kam es nie. Wir haben es hier mit einer sehr liebevollen Familie zu tun, die eigentlich alles für ihre Kinder machen möchte. So erklärte mir der Vater, dass Zähneputzen im Kindesalter nicht nötig wäre, da die Zähne ja sowieso ausfallen, sobald die Kinder in die Schule kommen. So würden das alle im Herkunftsland handhaben.
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Nun besuchten wir den Kinderarzt mit der Bitte um ein Gespräch
Methoden In der Arbeit mit Familie A. nutzte ich gerne Methoden, die einen Bezug zum kulturellen Hintergrund hatten. Eine Methode war die Wunderfrage, so zauberte ich die Spielsucht von Herrn A. einfach weg. Die Wunderfrage ist eine wunderbare Methode, die sich für Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus verschiedenen Kulturen gut eignet. Besonders Kulturen, in denen an Zauberei geglaubt wird, In orientalischen Kulturen wie im Fall von Familie A. kann man oft
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wird diese Methode gut angenommen. 56
an die Religiosität anknüpfen. So ist Gott bzw. Allah allmächtig und kann Wunder bewirken. Einleitende Worte wie »Stellen sie sich vor, sie wachen morgens auf und es ist ein göttliches Wunder geschehen …« funktionieren in diesen Kulturen oft sehr gut. Methode: Die Wunderfrage Bei dieser Methode wird die Frage gestellt, was wäre, wenn ein Wunder geschähe und das größte Problem plötzlich verschwunden wäre. Die Klient*innen offenbaren mit der Antwort zunächst einmal ihr größtes Problem. Dieses kann dann, aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, in kleine, lösbare Mini-Probleme filetiert werden und letztlich auch weggezaubert werden. Es wird ein Bezug zum Alltag hergestellt, sodass man Verhaltensweisen, die durch die Wunderfrage entdeckt wurden, direkt anpassen kann. Herr A. formulierte die Spielsucht als sein größtes Problem. Ich fragte ihn, wer es überhaupt bemerken würde, wenn die Spielsucht verschwunden wäre, wie es ihm damit gehen würde, und was sich an der Gesamtsituation ändern würde. Herr A. war anfangs skeptisch, konnte sich aber dann gut darauf einlassen. Wir arbeiteten also daran, die Spielsucht wegzuzaubern. Dies war eine der wenigen Sitzungen, die ich allein mit dem Mann
im Haushalt der Familie abgehalten habe. Dies war auch nur möglich, da ich die Sitzung vorab mit der Ehefrau geplant hatte und dies der ausdrückliche Wunsch von Frau A. war, an dem Thema Spielsucht mit ihrem Mann zu arbeiten. Herr A. sagte deutlich, dass seine Frau und seine Kinder die einzigen wären, die eine Veränderung feststellen würden. Auch erklärte er mir gegenüber, dass er sofort ein besserer Vater werden würde, wenn dieses Wunder geschehe. Damit konnte ich arbeiten. nach Hause zu bringen, war bereits tief in ihm verankert und die Arbeit schien Früchte zu tragen. So konnten wir gemeinsam überlegen, was ein guter Vater, der er ja sowieso schon war, noch machen könne, um für seine Familie da zu sein. Schritt für Schritt ließ sich der Vater auf Veränderungen ein und versuchte, immer seltener seiner Spielsucht nachzugeben. Die positive Verstärkung, die er von seiner Familie und von mir erhielt, führte letztlich dazu, dass ihm das immer besser gelang.
8 Fall 2, Familie B – zwei Töchter zwischen deutscher, türkischer und Roma-Kultur (Beraterin: Lena Hirner) Die Familie Im Haushalt von Familie B. leben Herr und Frau B. mit drei Kindern (13 m., 17 w., 25 w.). Herr B. arbeitet auf 450 € Basis in einer Möbelfirma, Frau B. sorgt sich um den Haushalt. Die Eltern sind verheiratet. Während Herr B. in Deutschland geboren ist, kam seine Frau mit etwa 20 Jahren nach Deutschland. Sie spricht kaum Deutsch. Die Familie des Vaters ist schon seit einigen Generationen in Deutschland und gehört einer in der Gegend bekannten RomaGroßfamilie an.
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Das Verständnis, dass mehr zum Vatersein gehört als das Essen
Die 25-jährige Tochter, das älteste Kind der Familie, hat vor zwei Jahren geheiratet. Nachdem diese ein halbes Jahr mit ihrem Mann in der Türkei gelebt hat, ist sie jetzt wieder zurück in Deutschland und lebt im Haushalt der Familie. Längerfristig möchte sie in einer eigenen Wohnung mit ihrem Mann leben. Dieser ist zurzeit in der Türkei auf Bewährung, nachdem er elf Jahre im türkischen Gefängnis war. Sie möchte ihn schnellstmöglich nach Deutschland holen. Er soll erst einmal in den Haushalt der Familie einziehen. Abgesehen
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von der jüngeren Tochter halten alle Familienmitglieder dies für eine sinnvolle Lösung. Allgemeine Problematik Die 17-jährige Tochter verließ das Haus kaum noch. Sie hatte zu dem Zeitpunkt die Schule seit etwa einem Jahr nicht mehr besucht. In der Familie kam es in der Vergangenheit zu gewalttätigen Eskalationen, die teilweise von der Polizei beendet wurden. Angefangen haben die Unruhen, als sie scheinbar ein Verhältnis mit dem Verlobten der älteren Schwester hatte. Die damals 14-Jährige war mit der Situation überfordert. Der Verlobte der Schwester war doppelt so alt wie die Jugendliche. Knapp zwei Jahre sprachen die Schwestern nicht miteinander, die ältere Schwester wollte die Beziehung zu ihrer Schwester abbrechen. So wurde die jüngere Schwester zum Sündenbock der Familie, sie durfte das Haus nicht verlassen, ihr Handy wurde ihr abgenommen, und jeder Kontakt zur Außenwelt wurde abgebrochen. Sie durfte nicht einmal mehr zur Schule gehen und verließ das eigene Zimmer nur im größten Notfall. Zielsetzung Folgende Ziele wurden gesetzt: Das Beenden gewalttätiger Auseinandersetzungen, die Klärung der familiären Situation, die Re-Inte
gration der jüngsten Tochter in die Familie, die Wiederaufnahme des Schulbesuchs und der Schulabschluss. Zudem sollte eine Öffnung der Jugendlichen nach außen ermöglicht werden. Systemisch-beraterische Vorgehensweise In diesem System lässt sich die 17-Jährige als Symptomträgerin lokalisieren. Es galt herauszufinden, welche Probleme die Familie hatte und diese langsam zu lösen. botene Termine immer wieder nicht wahr. Wir befinden uns in einem äußerst geschlossenen System, in dem niemand die Wohnung betreten darf ohne Erlaubnis der Ältesten. So galt es erst einmal, Ängste abzubauen und das Vertrauen zu stärken. Ich lernte verschiedene Onkel kennen und signalisierte, dass ich keine Bedrohung darstellte. Da die Tochter das Haus nicht verlassen durfte, war es anfangs sinnlos, dies einzufordern. So versuchte ich zunächst mit ihr im elterlichen Haushalt zu arbeiten, hier fühlte sie sich sicher. Nach kurzer Zeit war das Vertrauen so groß, dass sie mit mir gemeinsam die Wohnung verlassen durfte. Ich gab dem Vater stets die Sicherheit, seine Tochter zu beschützen. So gewann ich sein Vertrauen. Dies signalisierte ich mit Kleinigkeiten, so ließ ich sie nie vor der Tür stehen, sondern begleitete sie stets noch bis ins Haus. Diese Kleinigkeiten, die erst einmal überflüssig klingen, sind notwendig, um überhaupt mit der Arbeit beginnen zu können. Überblick systemisch-beraterische Vorgehensweise – Schritt 1: Besuche und Gespräche innerhalb des Lebensumfelds der Familie, also in der Wohnung – Schritt 2: Aufdeckung der kulturellen Gepflogenheiten des Heimatlandes und Vermittlung der deutschen Kultur
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Anfangs weigerte sich die Familie mitzuarbeiten und nahm ange-
– Schritt 3: Vertrauensarbeit; kurzes, gemeinsames Verlassen der Wohnung mit der Tochter. Immer nach Absprache und mit einer Sicherheitsgarantie – Schritt 4: Einzelgespräche mit allen Familienmitgliedern (auch Großfamilie); Aufdeckung möglicher weiterer Probleme – Schritt 5: Gespräche über mögliche Lösungswege; Anwendung der Klötzchen- oder Skulpturen-Methode; Einzel- und Gruppensettings
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– Schritt 6: Gemeinsames Setzen von Mini-Zielen und Überprüfung derselben – Schritt 7: Anerkennung der erreichten Ziele; gemeinsam neue Mini-Ziele setzen Mit der Zeit wurde Vertrauen aufgebaut und auch die Großfamilie gestattete die Arbeit. Diese hat einen großen Einfluss, der sich im Hintergrund abspielt und nicht sichtbar wird. Es wurde von Mal zu Mal besser, sodass die Familie nach etwa zwei Monaten die vereinbarten Termine zuverlässig wahrnahm. Im späteren Verlauf konnte sogar der Kindsvater über seine Schwierigkeiten sprechen, zumindest wenn der Rest der Familie nicht zuhörte. Die Arbeit mit der Familie erstreckte sich über zwei Jahre. Methodenwahl Die Klötzchen-Methode wurde zweimal angewendet. Das erste Mal zu Beginn der Maßnahme. Hier spiegelte diese Methode die sehr schwierige Situation, in der sich die einzelnen Familienmitglieder zueinander befanden. Die Schwestern stellten die jeweils andere Schwester mit umgekippten, sehr weit entfernten Klötzen dar. Herr und Frau B. stellten die jüngere Tochter mit deutlich wahrnehmbarem, aber weniger impulsivem Abstand zum Rest der Familie dar.
Beim zweiten Mal, gegen Ende der Maßnahme, zeigte sich ein ganz anderes Bild. Noch immer wurde die jüngere Tochter etwas distanziert zu den anderen Familienmitgliedern dargestellt, doch dies ist kein Vergleich zum Bild der letzten Klötzchen-Aufstellung. Alle sind sich nähergekommen, die Gräben haben sich deutlich verringert. Die einzelnen Klötzchen sind bei der zweiten Aufstellung näher zueinander gestellt und viel sensibler zueinander dargestellt. Die einzelnen Familienmitglieder sind nicht mehr so extrem, z. B. umge-
Klötzchen-Methode Die gesamte Familie erhält eine Kiste mit Bauklötzchen, die alle gleich aussehen. Es gibt weder farbliche Unterschiede noch Unterschiede in der Größe oder in der Form. Mit den Klötzchen soll nun die gesamte Familie und deren Lebenssituation aufgebaut werden. Dabei gibt es sehr viele Möglichkeiten. Zum einen werden die einzelnen Personen der Familie mit den Klötzchen positioniert, zum anderen können auch Mauern oder Kreise damit gezogen werden. Die Methode ist eine sehr einfache sprachfreie Visualisierungsmöglichkeit, bei der die Familie sich entweder gemeinsam oder jeder einzeln positioniert. Im Anschluss daran kann jeder erzählen, warum er eine Position gewählt hat und wie es ihm damit geht. Als Gesprächsanlass gibt es hier zahlreiche Möglichkeiten. Welche Methode in welcher Kultur anwendbar ist, lässt sich nicht pauschal beantworten. Einerseits ist die Gruppenarbeit mit Klötzchen in Systemen, in denen der Vater eine sehr dominante Rolle hat, vorsichtig anzugehen. Die Gefahr, dass gerade die Kinder bei der Methode aus Angst unehrlich sind, ist groß. Auch könnte der Vater sich angegriffen fühlen und das könnte im Zweifelsfall sehr schädlich für die Familie sein.
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worfen, dargestellt.
Andererseits ist dies eine Methode, die auch bei Migrant*innen gut anzuwenden ist, weil sie ohne viele Worte auskommt und eine Familiensituation visualisiert. Doch sollte die Methode in patriarchalischen Systemen angewendet werden, wenn das Vertrauen vorhanden ist und man einschätzen kann, wie sich die Familienmitglieder verhalten. Hier spielt das Wissen um das System der Familie und deren Kultur eine große Rolle bei der Einschätzung.
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Ergebnis Die Familie wurde in den zwei Jahren so gestärkt, dass die jüngere Tochter den Hauptschulabschluss nachgeholt hat und sich sogar in einem Fitnessstudio anmelden durfte. Sie ist wieder ein vollwertiges Mitglied der Familie. In diesen zwei Jahren konnte Herr B. seine alten Werte überdenken und zum Wohle seiner Frau und Kinder Zugeständnisse machen. Dies ist ein Beispiel für eine Familie, die aufgrund der familiären Strukturen, wie es in Roma-Familien oft üblich ist, so stark in der eigenen Großfamilienstruktur gefangen ist, dass eine Arbeit fast unmöglich ist oder zu sein scheint. Solche Familien schaffen es, wie in diesem Beispiel, sich oft über Generationen hinweg gegenüber Helfersystemen abzugrenzen und es scheint unmöglich in diese Familiensysteme eingelassen zu werden. Dies funktioniert nur mit sehr viel Feingefühl und vor allem dem Wissen um die Lebenswirklichkeit dieser Familien.
9 Fall 3, Familie G/N/K – aus Nigeria, Eritrea und Kenia nach Wiesbaden (Berater: Benjamin Bulgay) Die Familie Herr N. aus Nigeria lebt mit seiner Tochter Abiola aus der Beziehung mit Frau G. aus Eritrea, sowie seinen zwei weiteren Töchtern aus der
Ehe mit seiner jetzigen Lebensgefährtin Frau K. aus Kenia, gemeinsam in einer Wohnung. Die Familie ist also allgemein afrikanischer Abstammung, aber aus sehr unterschiedlichen Ländern Afrikas. Allgemeine Problematik Dem Vater wurde massive Gewaltausübung gegenüber seiner Tochter Abiola aus erster Ehe vorgeworfen, die er jedoch abstritt. Laut dem er das alleinige Sorgerecht eingefordert hatte mit dem Zusatz,
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dass seine Tochter zukünftig seinen Namen tragen solle. Frau G., die
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Aussage von Herrn N. seien diese Behauptungen entstanden nach-
unter psychischen Erkrankungen leide, habe die Tochter zu ihren Gunsten manipulieren wollen, da diese Angst hatte, sie zu verlieren. Infolgedessen kam es zur Eskalation der Gesamtsituation. Abiola berichtete über die körperlichen Angriffe und die strenge Erziehung des Kindesvaters in der Schule. Auch in dem Zweitgespräch mit dem Jugendamt beschrieb Abiola die körperlichen Angriffe detailliert und fügte hinzu, dass sie kaum die Möglichkeit habe, soziale Kontakte zu pflegen. Zielsetzung Die Ziele dieser Hilfsmaßnahme waren die Klärung der Gewaltvorwürfe, die Verbesserung der Lebenssituation der Tochter und die Stärkung der Erziehungskompetenzen des Vaters. Beginn der systemischen Beratung und Therapie Anfang April begann die Therapie in der Familie. Nach einer langen Joining Phase mit der gesamten Familie fanden zunächst Einzelgespräche mit dem Kindesvater statt. Ich klärte den Kindesvater als erstes über die Rolle des Jugendamtes auf, um ihm deutlich zu machen, in welcher Situation er sich befand. In vielen Ländern gibt es kein Jugendamt. Daher empfiehlt es sich fast immer, diese Zeit zu
investieren, um die Familien zunächst über das Jugendamt, deren Vorgehensweise und Aufgaben aufzuklären. Trotz seiner Schichtarbeit wirkte Herr N. sehr zuverlässig an der Maßnahme mit. Ich benötigte die ersten Treffen, um eine Vertrauensbasis zu schaffen, mit der ich erfolgreich weiterarbeiten konnte. Primär lag der Schwerpunkt auf der Sensibilisierung des Vaters, die Bedürfnisse der Tochter zu erkennen und auf sie eingehen zu können. Er sollte lernen, die deutsche Erziehung mit den eigenen Wurzeln
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zu verknüpfen, sodass eine für alle Beteiligten passende Integration erfolgen konnte. In den einzelnen Sitzungen wurde die Überforderung des Kindes vaters deutlich. Es zeigte sich, dass die Gespräche ihn sehr mitnahmen. Er war bemüht und wurde durch seine Frau stark unterstützt, sei es bei der Erziehung, Organisation des Alltags oder bei bürokratischen Handlungen. In der Paarsitzung wirkte das Ehepaar sehr liebevoll miteinander, doch die Anspannung aufgrund der Situation war spürbar. Herr N. ließ zu der Zeit ausschließlich Kontakt zu mir und keiner anderen Person zu. Für ihn war ich der einzige, der ihn verstehe und helfen könne. Magische Systeme verstehen In afrikanischen oder orientalischen Kulturen gehört es zum Alltag der Familien, sogenannte Hodschas oder Wunderheiler bei Problemen um Hilfe zu bitten. Nur wenn diese Unterstützung scheitert, werden andere Hilfssysteme überhaupt erst in Anspruch genommen. Aus dieser kulturellen Sichtweise heraus lässt sich erklären, wie wichtig einzelne Personen in der therapeutischen Arbeit sein können. Sie werden mit besonderen Fähigkeiten in Verbindung gebracht und haben alleine aus diesem Grund schon einen großen Einfluss.
Dies mag für unser westliches Verständnis unseriös klingen, stellte für Herrn N. jedoch eine Realität dar. So bekam meine Person eine Rolle, die mein für ihn doch ungewöhnliches Mitwirken in der Familie erklärbar machte. Mit dieser Rolle war ich in einem Dilemma. Einerseits ermöglichte mir diese Rolle die Arbeit in dem System, andererseits war die Gefahr groß, dass Herr N. mich vollständig vereinnahmte. In dieser Phase nahm ich eine Kollegin als Co-Therapeutin mit hinzu, um Frau K. zu unterstützen, aber auch um einen gesunFür die künftige Zusammenarbeit, die viel Vor- und Nachbereitung in Anspruch genommen hatte, war es wichtig den Vater so zu unterstützen, dass er keine voreiligen eigensinnigen Handlungen vollzieht. Des Weiteren lag der Fokus auf der Vater-Tochter-Beziehung. Seine Ängste sollten durch die therapeutische Maßnahme dahingehend gelenkt werden, dass er seine Gefühle und auch die seiner Tochter besser wahrnehmen und auf diese eingehen könne. Bei unseren regelmäßigen Treffen versuchte ich das Vertrauen des Vaters nach und nach zu gewinnen. Dabei wunderte ich mich stets, dass mir keine Getränke angeboten wurden. In meiner eigenen türkischen Kultur ist es selbstverständlich, dass den gern gesehenen Gästen ein Mokka angeboten wird. Bei Herrn N. gab es dieses Angebot nicht. Lediglich eine Flasche mit Mineralwasser und einem Glas stand auf dem Tisch. Ich ging davon aus, dass ich abwarten müsse, bis mir davon etwas angeboten würde. Für mich war es unhöflich, mich selbst zu bedienen. Wie es sich zeigte, lag ich damit aber falsch. Nach etwa eineinhalb Jahren, gegen Ende der Maßnahme, bedankte sich Herr N. bei mir für die Unterstützung, fügte aber kleinlaut hinzu, dass er etwas enttäuscht sei von mir. Ich war erstaunt und fragte ihn, warum er von mir enttäuscht sei, was ich falsch gemacht habe? Darauf antwortete er: »In jeder Sitzung, wenn sie zu mir kamen, war Wasser auf dem Tisch. Ich habe extra für sie Mineral-
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den Abstand zu Herrn N. zu wahren.
wasser gekauft, obwohl wir nur Leitungswasser trinken. Sie haben erst bei der vierten Sitzung ein Glas Wasser getrunken«. Damit versuchte er mir zu sagen, dass er enttäuscht war, weil ich so lange gebraucht hatte, ihm zu vertrauen. Ein Vertrauensbeweis meinerseits wäre es gewesen, wenn ich das Wasser, das er extra für mich gekauft und hingestellt hatte, viel früher getrunken hätte. Ich war wirklich erstaunt und wunderte mich, dass ich die Situation so falsch eingeschätzt hatte. Wie selbstverständlich war ich davon
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ausgegangen, dass die kulturellen Gepflogenheiten unserer Länder gleich wären. Möglicherweise wäre die Therapie schneller und besser vorangegangen, wenn ich diese Frage zu Beginn geklärt hätte. Ich entschuldigte mich also bei ihm und erklärte: »In meiner Kultur ist es so, dass Gäste, die das Vertrauen des Gastgebers gewonnen haben, nicht nur ein Glas Wasser, sondern auch eine Tasse Mokka bekommen«. Ich fügte hinzu, dass es ein türkisches Sprichwort gibt, dass besagt: »Eine Tasse Mokka hat 40 Jahre Erinnerung.« Mokka ist ein wertvolleres und kostbareres Getränk (…) und wird daher nur besonders lieben oder wichtigen Gästen angeboten (Bulgay u. ReimannHöhn 2011b, S. 62). Damit hatten wir Klarheit geschaffen und das Problem beseitigt. Wir lachten und verabschiedeten uns.
10 Interkulturelle Arbeit ambulant und stationär – was ist anders? 10.1 Ambulante interkulturelle Arbeit
Bei der ambulanten Hilfe betreten wir, unabhängig davon, ob sich diese Menschen in unserem Kulturkreis befinden oder nicht, ein Familiensystem, das in jedem Fall anders ist als unser eigenes. Dies
liegt schon allein daran, dass jede Familie andere Strukturen, andere Werte und Normen, kurz – eine andere Familienkultur pflegt. So sind wir als in das System Eintretende immer erst einmal die Fremden. Wie fremd uns die Kultur der Familie ist, in der wir uns bewegen, zeigt sich oft erst mit der Zeit. Denn hierzu zählen sehr viele familieninterne Normen, die mit der Herkunftskultur erst einmal überhaupt nichts zu tun haben. 67
aus einem anderen. Das ist auch ein Problem, wenn man sich mit
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Es kann durchaus passieren, dass eine Familie aus demselben Kulturkreis wie die Fachkraft auf diese viel fremder wirkt als eine dem Thema Kultur beschäftigt. So wird vieles, womit man sich selbst nicht identifizieren kann, einer anderen Kulturzugehörigkeit zugeschrieben, obwohl diese nicht unbedingt ursächlich dafür sein muss. Die stationäre Hilfe verlangt an sich schon ein sehr hohes Maß an Sensibilität und Offenheit für die Lebenswirklichkeit anderer Menschen. Wenn dann noch fehlende Sicherheit mit dem Umgang der Kultur der Menschen dazu kommt, wird das Thema deutlich komplexer und die Gefahr, dass es zu Missverständnissen kommt, erhöht sich drastisch. Professionelle Fachkräfte unterliegen daher einer ständigen SelbstPrüfung und sollten ihre Hypothesen noch deutlicher hinterfragen, wenn sie sich im interkulturellen Rahmen bewegen. Im ambulanten Bereich bemühen sich die Fachkräfte, in den dritten Kreis des Bulgayischen Kreisdiagrammes aufgenommen zu werden, um von dort aus mit den Familien auf einer vertrauensvollen Basis und auf Augenhöhe arbeiten zu können. Die Relevanz des gleichen Kulturkreises
Eine Fachkraft aus demselben Kulturkreis muss sich vor allem vor einer Vereinnahmung durch die Klient*innen schützen. Gerade bei der Arbeit mit Familien, die viele Freund*innen und Verwandte
zurücklassen mussten, ist der Wunsch nach einem Familienersatz oft groß. So besteht die Gefahr, dass die Fachkraft eine familienähnliche Funktion übertragen bekommt. Dies widerspricht der professionellen Rolle und daher muss die eigene Rolle in dem System regelmäßig hinterfragt und geprüft werden. Sowohl Fachkräfte aus derselben als auch aus einer anderen Kultur als die Kultur des Systems, beschäftigt das Thema Nähe und 68
anderen Kulturkreis als die Menschen stammen, denen sie in ihrer
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Distanz. Fachkräfte ohne interkulturelle Ausbildung, die aus einem Arbeit begegnen, können schnell Fehler machen. Es gibt wenige Verhaltensweisen, die für die Arbeit schädlicher sein könnten als dem Gegenüber distanzlos oder grenzüberschreitend vorzukommen. Ein kurzes, eingeschobenes Beispiel (Beraterin: Lena Hirner) soll aufzeigen, wie schnell so ein für die Familie empfundenes Fehlverhalten passieren kann, durch das sowohl die Familie als auch die Fachkraft verunsichert werden. Ich betreute Familie X aus Marokko schon länger, das Verhältnis war sehr gut. Ich begleitete die Mutter mit ihren drei Kindern in einen Tierpark. Das jüngste Kind saß auf dem Arm der Mutter, das zweitjüngste Kind konnte bei der Tierfütterung nichts sehen, da die Mauer zu hoch war. Das Kind versuchte mehrfach hochzuspringen. Die Mutter schaute hilflos auf ihr Kind, hatte aber bereits das andere Kind auf dem Arm. Also fragte ich den 3-jährigen Sohn, ob ich ihn hochheben solle, damit er was sehen könne. Dieser freute sich und die Mutter wirkte damit absolut einverstanden. Sie war sehr offen und hatte wenig Berührungsängste. Nach der Tierfütterung sagte die Mutter zu ihrem Sohn, jetzt müsse er Frau Hirner aber auch heiraten. Sie habe ihn ja auf den Arm genommen, dabei lächelte sie. Der Sohn fing an zu weinen,
die Mutter tröstete ihn nicht, sondern sagte, es sei okay, aber normalerweise dürfe er natürlich nicht auf den Arm von irgendwelchen Frauen. Ich war sehr erstaunt und fragte sogleich nach, ob ich den Sohn nicht hätte hochheben dürfen. Die Mutter relativierte und entgegnete, dass das nur Spaß war. Ich sei ja fast täglich in der Familie und würde eine Sonderposition genießen.
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von angemessener Nähe und angemessener Distanz. Sowohl zu nah
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Nähe und Distanz
Verschiedene Kulturen haben ein unterschiedliches Verständnis als auch zu weit weg ist in der sozialen Arbeit sehr gefährlich. Im interkulturellen Kontext erhält dieses aber noch einmal eine andere Bedeutung. Das Nähe-Distanz Verhältnis ist schließlich sehr stark kulturabhängig. So ist es unbedingt zu empfehlen, sich im Vorfeld über die Kultur, mit der man arbeitet, zu informieren. Dies hilft dabei, ein erstes Gefühl für die zu betreuende Familie zu entwickeln. Nähe-Distanz lässt sich natürlich nicht nur als starres Gebilde verstehen, hier wird sich das Verhältnis während der Arbeit immer wieder verändern. Auch darf man nicht verallgemeinern, so hat jeder Mensch unabhängig von seiner Kultur ein eigenes Empfinden für eine angebrachte Nähe und Distanz. Fachkräfte aus demselben Kulturkreis wie die Menschen mit denen gearbeitet wird, sind hierbei auf eine ganz andere Art gefährdet. Selten passieren Situationen wie bei dem Beispiel oben mit Frau X, in der die Fachkraft das Nähe-Distanz Bedürfnis der Familie falsch einschätzt. Hier wäre das spezielle Wissen um die Kultur der Betreuten wichtig. Abgrenzung
Allerdings wird eine Fachkraft aus der gleichen Kultur wie die der Klient*innen auch schnell zu einem Teil des Systems und bekommt
plötzlich Rechte, die eigentlich nur Familienangehörigen oder sehr guten Freund*innen der Familie zugesprochen werden. Dies passiert meistens schleichend und steht im Widerspruch zur eigenen Rolle als professionelle Fachkraft. Da die Fachkraft jedoch aus demselben Kulturkreis kommt und das Verhalten der Familie meistens zumindest teilweise aus ihrer eigenen Herkunftsfamilie kennt, ist die Gefahr, dass dies dem/der Pädagog*in oder Therapeut*in erst einmal überhaupt nicht auffällt, sehr groß.
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So ist es absolut empfehlenswert auch eine Fachkraft aus demselben Kulturkreis wie die der Herkunftsfamilie regelmäßig durch gezielte interkulturelle Supervision zu stärken und einen Blick auf die besonderen Aspekte bei dieser Art der Zusammenarbeit zu werfen. 10.2 Stationäre interkulturelle Arbeit
Das Konzept der stationären Hilfe ist ein ganz anderes als das der ambulanten Hilfe. So beschäftigte sich das vorherige Kapitel unter anderem damit, dass es eine große Gefahr ist, in der ambulanten Hilfe als Familienersatz missverstanden zu werden. Die ambulante Hilfe will nur in absoluten Ausnahmefällen ersetzend arbeiten. Anders ist es bei der stationären Hilfe. Hier geht es explizit darum, ein neues, zusätzliches, ergänzendes und in vielen Fällen ersetzendes Beziehungs-System für die betreuten Personen aufzubauen. In der stationären Hilfe werden die Berater*innen und Betreuer*innen von den Kindern und Jugendlichen in den zweiten Kreis des Bulgayischen Kreisdiagramms eingeordnet. Das wiederum fordert von den Fachkräften eine hochprofessionelle Arbeit, weil auf Nähe und Distanz stark geachtet werden muss. »Insbesondere mit unbegleiteten Minderjährigen Asylbewerber (inne)n« (Bulgay, In M. Borcsa & C. Nikendei (Hrsg.), 2017, S. 184) Dabei gibt es Unterschiede zwischen Kindern und Jugendlichen, die beispielsweise ihre Eltern im selben Land haben und im Ideal-
fall auch noch Kontakt zu diesen pflegen, und andererseits Kindern und Jugendlichen aus einem Kinder- und Jugendheim, die ohne ihre Familie nach Deutschland geflüchtet und nun in einem hiesigen Kinder- und Jugendheim untergebracht sind. Bei diesen gibt es teilweise eine Familie oder einzelne Familienmitglieder, doch diese leben sehr entfernt, in anderen Regionen Deutschlands, im Herkunftsland oder in einem anderen Zuzugsland. 71
neue Familie dieser Kinder und Jugendlichen. Das wäre ein Trug-
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Im ersten Augenblick scheint es so, als seien die pädagogischen Mitarbeiter*innen in einem solchen stationären Kontext selbst die schluss, den egal ob jene tot oder lebendig sind, die Rolle der Herkunftsfamilie wollen und können wir nicht einnehmen. Gleichzeitig sollen und müssen wir hier ersetzend arbeiten, da es in Deutschland für die Betreuten kein aktuell verfügbares Familiensystem gibt, in dem sich das Kind beziehungsweise der/die Jugendliche entwickeln kann. Die Fachkräfte sollen als familienähnliches System agieren, können die Eltern nicht ersetzen, sollen aber deren Aufgaben übernehmen und dem Kind oder Jugendlichen ein familienähnliches System sein. Dies ist ein Konflikt, in dem sich die Betreuer*innen befinden. Sich verstanden fühlen
Hier wird offensichtlich, wie wichtig es ist, dass die Kinder und Jugendlichen sich verstanden fühlen. Dieses Gefühl kann eine Person aus demselben Kulturkreis oft einfacher vermitteln. Insbesondere, wenn das Kind oder die/der Jugendliche erst seit kurzem in Deutschland ist und im Zweifelsfall die deutsche Sprache noch nicht gut beherrscht. So arbeiten wir in der stationären Hilfe in der Muttersprache, gerade bei tiefergehenden Gesprächen und Therapien, z. B. Traumatherapie, ist dies absolut zielführend. Das Bedürfnis der Kinder und Jugendlichen, jemandem vertrauen zu können, steht im Vordergrund.
Sie brauchen Menschen, denen sie auch in ihrem System Glauben schenken. Aus geschlossenen Systemen kommend suchen diese Kinder und Jugendlichen zuerst genau solche. Schließlich war das einst die Definition für Familie in ihrem Herkunftsland. Kommt eine Fachkraft aus demselben Kulturkreis und erkennt diesen Wunsch, so besteht die Gefahr, dass ein ähnliches System suggeriert wird. Ein solches geschlossenes System kann im Kontext des Aufnahmelandes Deutschland aber nicht funktionieren.
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Demnach braucht es viel Fingerspitzengefühl und die Fachkräfte müssen ständig über die Möglichkeit verfügen, ihre Arbeit zu reflektieren. Fallsupervision im Expertenteam, Einzelsupervision, Supervision in multikulturellen Teams oder kollegiale Beratung stellen Möglichkeiten für diese Reflexionsarbeit dar. Da man bei dieser Art der Hilfe immer zum Innen gehört, bedarf es viel Selfcare, um die Grenzen zwischen Berufsleben und privatem Leben einhalten zu können. So müssen die Fachkräfte eng begleitet werden, um in ihrer eigenen Rolle bleiben zu können und nicht in die Versuchung zu geraten, die Rolle der Schwester, des Onkels oder eines anderen Vertrauten anzunehmen. Trotz dieser Gefahr, die bei der Arbeit mit Fachkräften derselben Kultur besonders groß ist, sind genau diese Fachkräfte eine sehr große Ressource für die stationäre Arbeit.
Am Ende
11 Ausblick/10 Gebote der interkulturellen Arbeit Einleitend sprachen wir davon, dass therapeutische Arbeit in der Muttersprache besonders sinnvoll ist. Aber was ist die Muttersprache? Wir verstehen unter der Muttersprache die Sprache, in der sich unser/e Klient*in am sichersten fühlt. Wir versuchen in der Sprache zu beraten oder zu therapieren, in der unser Klientel träumt und Gedichte schreibt. Bei Kindern und Jugendlichen verwenden wir die
Ende
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von uns so bezeichnete »Mixsprache«. Das ist eine Mischung aus der deutschen Sprache und der Muttersprache ihrer Eltern. 1. Gebot: Beherrsche die Sprache, in der sich der/die Klient*in am sichersten fühlt.
Wir haben auch erwähnt, dass Sprache allein nicht reicht, um interkulturell arbeiten zu können. Sicherlich wird eine Person, die die Sprache als Zweitsprache erworben hat und aus einem anderen Kulturkreis als dem der Klient*innen stammt, auch effektiv arbeiten können, doch fehlt dieser Person das Wissen um die Kultur und Lebenswirklichkeit der betreuten Familie. Im ersten Augenblick scheint es, als sei die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen am sinnvollsten mit Menschen aus derselben Herkunftskultur. Wie wir erläutert haben, kann das auch ein Trugschluss sein, weil muttersprachliche und aus derselben Kultur stammende Kolleg*innen von den Familien vereinnahmt werden können. 2. Gebot: Informiere dich über die Kultur deines Klienten.
Eine Fachkraft ist, auch wenn die kulturelle Nähe zu dem/der Klient*in eine Ressource ist, nicht auf diese Nähe zu reduzieren. Hilfreich ist immer, wenn man im Team Kolleg*innen aus verschiedenen Ländern hat, die sich gegenseitig ergänzen können, die die eigene Arbeit reflektieren. Bei der Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen
ist es wichtig, ein Gefühl für die Arbeit mit diesen Menschen zu entwickeln. Damit meinen wir die interkulturellen Kompetenzen, vor allem Empathie, Handlungs- und Kommunikationskompetenz. Wertschätzende Neutralität und interkulturelle Sensibilität ist ebenso wichtig. 3. Gebot: Eigne dir interkulturelle Kompetenzen an.
Unserer Meinung nach sollte das Thema »Interkulturelle Arbeit« Fachliteratur halten, da die interkulturelle Arbeit inzwischen die
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Arbeitswirklichkeit aller Fachkräfte sozialer Berufsgruppen gewor-
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noch weiter Einzug in die Universitäten, Dachverbände sowie in die
den ist. Würden wir bei der Definition von »Mensch mit Migrationshintergrund« nicht die Eltern, sondern die Großeltern nehmen und sagen: »Mindestens ein Großelternteil ist nicht hier geboren«, so hätten ca. 50 Prozent aller Kinder in der Grundschule einen Migrationshintergrund und über 50 Prozent aller Kinder, die aktuell hier in Deutschland geboren werden. Einen eigenen Migrationshintergrund zu haben oder dieselbe Herkunft wie die Menschen, mit denen man arbeitet, erleichtert der Fachkraft einige Dinge. Hierzu zählt beispielsweise Verhalten nachvollziehen zu können, oder zumindest erklären zu können, welches in anderen Kulturkreisen auf wenig Verständnis stoßen würde. Auch wird schneller eine gemeinsame Sprache gefunden, in der sich beide Seiten gut verständigen können. Damit meinen wir vor allem Dialekte. 4. Gebot: Auch wenn du muttersprachlich arbeitest und aus dem gleichen Kulturkreis stammst, so achte auf die Dialekte und regionalen Unterschiede.
Dennoch reicht ein kultureller Hintergrund alleine nicht aus, um wirklich gute interkulturelle Arbeit leisten zu können. Dies wäre sehr kurzfristig gedacht und ähnlich wie die These »Eine Kindergärtnerin
braucht keine Ausbildung, wenn diese selbst Kinder hat«. Persön liche Erfahrung kann hilfreich sein, jedoch keinesfalls eine Ausbildung ersetzen. Ähnlich verhält es sich auch in vielen anderen Bereichen, die wir vielleicht als Gesellschaft gerade erst soweit entdeckt haben, dass wir ihnen heute Bedeutung einräumen. Aktuell steht das Gendern in Deutschland hoch im Kurs, wäre dies in früheren Generationen nicht auch wünschenswert gewesen? Eine Gesellschaft ist stets in Entwicklung, und jede Gesellschaft bewegt
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sich in unterschiedliche Richtungen und unterschiedlich schnell. In manchen Kulturen wird das Geschlecht direkt anhand der Sprache (z. B. im Arabischen) zugeordnet, eine genderneutrale Darstellung ist dadurch kaum möglich. Wie kann Diversität hier seinen Platz finden? 5. Gebot: Achte auf das Geschlecht des Klienten.
Wie schnell versuchen wir jemanden zu einem Thema, mit dem sich die Person noch nie auseinandergesetzt hat, zu belehren, weil es uns persönlich ein großes Anliegen ist? Das Näherbringen unserer Lebensweise und Werte, die neben dem Spracherwerb Grundvoraussetzung für eine gelungene Integration ist, sollte diesem voraus gehen. So positiv wie die Entwicklung der Integrationskurse vom BAMF ist, sind wir zuversichtlich, dass auch die bereits angesprochenen Elemente langsam Einzug in die Integrationspolitik halten. Auch wird man sich in einer so sehr auf Unterschiede fixierten Gesellschaft, in der man womöglich nicht integriert ist und das Gefühl hat anders zu sein, freuen, Expert*innen zu finden, die dieses anders sein teilen. Oder zumindest sehen und anerkennen, wie schwierig der Spagat zwischen den Kulturen sein kann, wobei es sich hier um ein kulturübergreifendes Gefühl handelt. Wir Menschen sind individuell und damit einmalig. Vor allem, wenn wir anders sind als die Menschen um uns, so macht uns das »einmalig anders.«
6. Gebot: Nicht nur du, sondern auch dein/deine Klient*in ist anders einmalig.
Gleichzeitig sind wir Menschen auf eine viel größere Art und Weise ziemlich gleich. Wir haben alle dieselben Grundbedürfnisse. Wir haben alle Wünsche, Erwartungen und Schwierigkeiten, weil dies zum Menschsein dazugehört. Wenn eine alte afrikanische Frau auf einem Bild traurig aussieht, wissen wir, dass diese alte Frau trauGanz egal, woher dieses Kind stammt. Wie unwichtig ist es an dieser
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Stelle, ob dieses Kind einen sogenannten Migrationshintergrund hat
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rig ist. Wir sehen auf Bildern auch, ob ein Kind lächelt oder nicht.
oder nicht. Mit diesem Wissen gehen wir in die tägliche Arbeit und versuchen, dieses Gefühl weiter zu geben. 7. Gebot: Du und dein/deine Klient*in haben mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede.
Wir sind zuversichtlich, dass dieses Thema auch in der Gesellschaft immer mehr an Bedeutung gewinnt. Zu Beginn des Buches sprachen wir davon, dass Integration von beiden Seiten gewollt sein muss. Neben fehlendem Interesse ist beidseitige Unsicherheit und Angst unserer Erfahrung nach die größte Hürde Menschen zu integrieren und Teil unserer Gesellschaft werden zu lassen. So sollte stets vor Augen geführt werden, dass wir nicht mit dem Kopftuch, der Hautfarbe, dem Akzent, der sexuellen Orientierung oder Ähnlichem sprechen, sondern stets mit dem Menschen dahinter in Interaktion stehen. Es wäre wünschenswert, die eigene Unsicherheit, die zwangsweise im Umgang mit anderen Individuen immer wieder aufkommen kann, mit der Frage zu beantworten, was man sich selbst wünschen würde. Oft hilft eine einfache, neugierige Frage, um eine Situation zu klären.
8. Gebot: Habe keine Angs vor Fremde, sei offen gegenüber deinen Klienten.
Ein Rat: Wenn Sie trotz vieler Kompetenzen nicht weiterkommen, so seien Sie Sie selbst, nehmen Sie die systemische Haltung ein, gehen Sie auf Augenhöhe, manchmal auch etwas darunter. Akzeptieren Sie ihre/n Klient *in als Kulturexpert*in und klären Sie die Situation mit der Person direkt, unabhängig davon, welche Herkunftskultur dieser Mensch hat.
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9. Gebot: Sei neugierig und Du selbst.
Wenn auch all das nicht helfen sollte, so ziehen Sie eine Kultur expertin oder einen Kulturexperten hinzu. 10. Gebot: Hol dir Hilfe und Supervision.
Zum Schluss: Wie wir bereits öfters erwähnt haben, ist es in der Therapie und Beratung sehr wichtig, Kenntnisse über die Herkunft, Sprache und der Religion des Klienten zu haben. Das untenstehende, lustige, jedoch ernst gemeinte Beispiel soll es abschließend verdeutlichen. Yeziden dürfen z. B. keinen Kopfsalat essen, weil ein yezidischer Heiliger auf einem Salatfeld ermordet wurde und sein Blut auf die Salatköpfe tropfte. Also: Augen, Ohren und Herzen auf bei interkultureller Beratung und Therapie!
12 Literatur
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Benjamin Bulgay, Diplom Pädagoge, geboren
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1964 in Adana (Türkei) ist Alawit, systemisch-
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13 Die Autoren
interkultureller Berater und (Lehr-)Therapeut, Supervisor und Hypnotherapeut. Der Buchautor und Sprecher der Fachgruppe »Interkulturell systemische Therapie und Beratung« der DGSF. Der Gründer und Leiter von Lern-Planet, dem Institut für multilinguale Erziehungshilfe und Familientherapie, lebt seit 1974 in Wiesbaden. Lena Suna Hirner, Erziehungswissenschaftlerin und Buchautorin, geboren 1996 in Wiesbaden, ist systemisch-interkulturelle Beraterin am LernPlanet.