Psychodynamische Beratung
 9783666401701, 9783525401705, 9783647401706

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Heike Schnoor (Hg.)

Psychodynamische Beratung

Mit zwei Abbildungen und einer Tabelle

Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40170-5 ISBN 978-3-647-40170-6 (E-Book) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Punkt für Punkt GmbH · Mediendesign, Düsseldorf Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Inhalt

Heike Schnoor Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Ausgewählte Grundlagen der psychodynamischen Beratung Heike Schnoor Psychodynamische Beratung: Ein Anwendungsgebiet der Psychoanalyse . . .

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Jürgen Körner Psychodynamische Beratung zwischen analytischer Psychotherapie und Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ingeborg Volger Psychodynamische Beratung: Einzel-, Paar- und Erziehungsberatung . . . . . .

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2 Praxisfelder der psychodynamischen Beratung Sabine Hufendiek Psychosoziale Beratung im Kontext pränataler Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . .

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Rose Ahlheim Psychoanalytische Elternberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Udo Rauchfleisch Psychodynamische Beratung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und ihren Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Meinolf Peters Psychodynamische Beratung Älterer – Auf der Suche nach Identität . . . . . . . 103 Thomas Giernalczyk und Carla Albrecht Psychodynamische Beratung in Lebenskrisen und bei akuter Suizidalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Udo Rauchfleisch Psychodynamische Beratung von dissozialen Klientinnen und Klienten . . . . 137 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Inhalt

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Marc Willmann »Helping the helpers not to harm«. Mental Health Consultation als Beitrag zu einer Theorie der psychodynamischen Praxisberatung und Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Beate West-Leuer Affekt-Coaching. Business-Coaching zur Verbesserung von Selbstmanagement und Selbststeuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Urte Finger-Trescher Beratungsqualität und Leitungsqualität in psychosozialen Beratungseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Rolf Haubl Latenzschutz und Veränderungswiderstand. Grundfragen psychodynamisch-systemischer Organisationsberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

3 Aspekte der Aus- und Weiterbildung im psychodynamischen Beratungsansatz Heike Schnoor Psychodynamische Kasuistik in universitären Lehrveranstaltungen. Hochschuldidaktische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Elisabeth Rohr Supervision mit Studierenden in universitären Seminaren. Eine besondere Form der Beratung und der Theorie-Praxis-Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Mario Muck Die Bedeutung der psychoanalytischen Theorie und Praxis für die Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Ingeborg Volger Ausbildung in psychodynamischer Beratung. Das Weiterbildungskonzept in Integrierter Familienorientierter Beratung® am Evangelischen Zentralinstitut in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Heike Schnoor

Einführung Weshalb Beratung? Beratung als psychosozialem Hilfeangebot kommt in unserer Zeit eine steigende Relevanz zu. Die Gründe für diesen Bedeutungszuwachs sind vielschichtig. Zumeist wird für diese Entwicklung der gesellschaftliche Wandel mit seinen chancenreichen, aber auch krisenhaften Modernisierungsentwicklungen verantwortlich gemacht: Das Leben in der Postmoderne ermöglicht zwar eine individuellere Lebensführung, aber es schafft auch neue Unsicherheiten, weil sich traditionelle Lebensformen auflösen. Auch die Folgen der Globalisierung erhöhen und beschleunigen Veränderungsprozesse, die auf die konkreten Lebensbedingungen jedes Einzelnen zurückwirken. Damit steigt das Risiko prekärer Lebenslagen, welche inzwischen auch Bevölkerungsschichten betreffen, die in früheren Zeiten kaum mit einer solchen Gefahr konfrontiert waren. Mit diesen hier nur stichwortartig angedeuteten Entwicklungen sind Chancen und Freiheiten verbundenen, aber sie sind ohne ein großes Maß äußerer und innerer Ressourcen nicht nutzbar. Zu den Ressourcen zählen nicht nur ein stabiler finanzieller Hintergrund, sondern beispielsweise auch ein guter Bildungsstand, soziale und kommunikative Kompetenzen, Flexibilität und das Aushalten von Ambiguitäten, wie zum Beispiel dem Wunsch nach Autonomie bei gleichzeitig bestehender Sehnsucht nach Geborgenheit. Fehlen diese Grundlagen, sind Personen mit der Unübersichtlichkeit sich rasch verändernder Lebensverhältnisse überfordert und benötigen psychosoziale Unterstützungsangebote für die Klärung ihrer individuellen Fragestellungen und die Lösung ihrer Problemlagen. Beratung kommt in diesem Zusammenhang eine wachsende Bedeutung zu. Sie profiliert und professionalisiert sich derzeit als soziale Hilfe- und Unterstützungsform und wird zu einer Dienstleistung, die von Menschen in unterschiedlichen Lebensabschnitten und wechselnden Fragestellungen mit zunehmender Selbstverständlichkeit immer wieder einmal in Anspruch genommen wird. Legt man das Fachverständnis der Deutschen Gesellschaft für Beratung zugrunde, dann befasst sich Beratung auf einer theoriegeleiteten Grundlage mit unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben und multifaktoriell bestimmten Problem- und Konfliktsituationen von Klienten. Beratung wird heute in vielen Arbeitsfeldern praktiziert: zum Beispiel im Bereich von Erziehung und Bildung, Sozialpädagogik und Gemein­ wesenarbeit, Wohnen und Freizeit, Arbeit und Beruf, Gesundheit, Pflege und ­Rehabilitation; wobei nicht nur einzelne Probanden beraten werden, sondern auch Paare, Familien, Gruppen, Teams oder Organisationen (vgl. das Beratungsverständnis der Deutschen Gesellschaft für Beratung). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Heike Schnoor · Einführung

In psychosozialen Beratungen stehen allgemeine Lebensprobleme und psychosoziale Konflikte im Mittelpunkt der Betrachtung. Der Berater versucht, Prozesse der Selbsterkenntnis und Selbsthilfe bei den Klienten anzustoßen, auf deren Grundlage sie fundierte Entscheidungen treffen und Wege zur Problembewältigung finden, die sie bewusst und eigenverantwortlich umsetzen können. Da Beratungen sich vom Umfang her auf wenige Gespräche beschränken, muss die Problemlösung innerhalb eines vergleichsweise kurzen Zeitraums angestrebt werden. Dies erfordert die Konzentration auf ein klar abgegrenztes Problemfeld und die Entwicklung einer spezifischen Behandlungsmethode. Historisch haben sich verschiedene Beratungsansätze entwickelt, die häufig an psychotherapeutische Schulen angelehnt erarbeitet wurden (z. B. Gestaltberatung oder klientenzentrierte Beratung), inzwischen aber auch sozialwissenschaftlichen Überlegungen entliehen sind (z. B. ressourcenorientierte Beratung, Peercounseling). Der in diesem Buch thematisierte Beratungsansatz gehört zu den »klassischen«. Er firmiert in der Literatur unter verschiedenen Begriffen: psychoanalytische Beratung, tiefenpsychologisch orientierte Beratung, psychodynamische oder psychodynamisch orientierte Beratung. Allen Begriffen gemeinsam ist die Beachtung der Wechselwirkung seelischer Kräfte aus bewussten und unbewussten Motiven, Phantasien, Bedeutungen, Wünschen, Ängsten, Wertvorstellungen. Immer stellt die Psychoanalyse das theoretische und behandlungstechnische Referenzsystem der Arbeit dar. Auch wenn in einer nur knapp bemessenen Zeit naturgemäß wenig Raum für psychoanalytisches Arbeiten im engeren Sinne bleibt, gibt es doch gute Argumente, das Instrumen­tarium der Psychoanalyse auch in diesem Setting zu nutzen. Damit verbunden ist jedoch die methodologische Herausforderung, Behandlungstechniken aus der klassischen Psychoanalyse und der tiefenpsychologischen Psychotherapie auf die spezifische Zielsetzung und das spezifische Setting von Beratungen zu übertragen. Auch wenn die Grenzen von der Beratung zur Kurzzeittherapie manchmal verschwimmen, handelt es sich bei Beratungen nicht um eine psychotherapeutische Krankenbehandlung. Rüger und Reimer halten eine Psychotherapie bei allgemeinen Lebensproblemen auch für kontraindiziert, weil sie dazu beitragen, »das Selbsthilfepotential des Klienten zu unterschätzen und die reifungsfördernden Anstöße, die von jeder Lebenskrise ausgehen, ungenutzt zu lassen« (Reimer u. Rüger, 2003, S. 19). Weil nicht jedes Lebensproblem Krankheitswert hat, stellen psychosoziale Beratungen ein ergänzendes Angebot neben der Psychotherapie dar. Für Klienten mit einer psychotherapeutisch behandlungsbedürftigen Erkrankung stellen niedrigschwellig arbeitende Beratungsstellen manchmal eine erste Anlaufstelle dar. Berater arbeiten vernetzt, kennen die Versorgungsangebote ihrer Region und vermitteln bei Bedarf an niedergelassene Psychotherapeuten weiter. Dies ist eine wichtige Funktion. Scharff schreibt dazu: »Aus meiner Sicht ist es nicht gleichgültig, wie seelische Krankheit im Vorfeld analytischer Praxen und an Orten, die längerfristige Therapie anbieten, behandelt wird. Die ersten Schritte, die jemand aus seinem Leid heraus in Richtung ärztlicher © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Heike Schnoor · Einführung

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oder beraterischer Institutionen unternimmt, münden nur allzu oft entweder in die Sackgasse medikamentöser Betäubung, in gut gemeinte Ratschläge, ängstlicharrogante Beruhigung oder aggressive Gesundheitsforderung. Das in jedem see­ lischen Konflikt liegende Entwicklungspotential wird damit verspielt. Die wohl nirgendwo fehlende Hoffnung darauf, mit eigenen und fremden Problemen besser umgehen zu lernen, verschwindet nicht selten in einer ›Gesundheitsfürsorge‹,­ die gar nicht an der wirklichen Erkenntnis der je vorgetragenen Problematik in­ teressiert ist. Insofern erscheint es mir wünschenswert, wenn Ärzte, Psychologen oder anders Ausgebildete im Rahmen ihrer Erstkontakte und institutionell vor­ gege­benen Kurzzeitsettings über ein möglichst großes Ausmaß an psychoanalytisch orientierter Kompetenz im Umgang mit seelischer Erkrankung verfügen. Es sollte auch nicht übersehen werden, daß viele Beratungsinstitutionen ein wichtiges ­Zwischenfeld besetzen. Nicht jeder Patient, auch wenn es vielleicht angezeigt wäre, findet gleich den Weg in die psychoanalytische Praxis« (Scharff, 1994, S. 326). Die in diesem Buch vertretende Einschätzung der psychodynamischen Beratung wendet sich ausdrücklich gegen eine gewisse Abwertung, wie sie niederfrequenten psychoanalytischen Behandlungsmethoden in der Scientific Community gewöhnlich entgegenschlägt. Stattdessen sollte das Spezifische an diesem Behandlungsansatz mit den damit verbundenen Möglichkeiten, aber auch Grenzen klar herausgearbeitet werden. Nach der Erfahrung von Scharff können in einem solchen Setting durchaus »Prozesse von psychodynamischer Signifikanz« in Gang gesetzt werden (Scharff, 1994, S. 324), aber es dürfen auch keine unrealistischen Hoffnungen mit einem solchen Hilfeangebot verbunden werden. Anzustreben wäre, dass Berater ihre Tätigkeiten wertschätzen und zugleich ihre begrenzten Einflussmöglichkeiten akzeptieren lernen (Volger, 1998). So ermöglichen sie auch ihren Klienten, eine akzeptierende Haltung gegenüber dem Beratungsangebot einzunehmen.

Psychoanalyse als theoretische Fundierung von Beratung Angesichts der geringen Präsenz der psychodynamischen Beratung im aktuellen Beratungsdiskurs muss die Frage gestellt werden, ob die Erkenntnisse der Psychoanalyse in Beratungsprozessen sinnvoll genutzt werden können. Diese Frage kann uneingeschränkt bejaht werden! Die Psychoanalyse – so die Kernthese dieses ­Buches – stellt mit ihren anthropologischen Grundlagen, ihrer Entwicklungspsychologie, ihrer Krankheitslehre und Persönlichkeitstheorie sowie ihrem behandlungstechnischen Repertoire eine breite und fundierte Grundlage auch für Beratungsprozesse dar. Nach dem Verständnis der Psychoanalyse sind nicht nur Krankheiten, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung und das Verhalten in Krisen und Stresssituationen abhängig von den dynamischen und z. T. unbewussten Trieb- und Abwehrfaktoren. Aktuelle Belastungen können eine bis dahin trag© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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fähige relative Lebensbalance überfordern, Krisen entstehen lassen und letztlich auch ein Krankheitsgeschehen begünstigen. Berater müssen berücksichtigen, dass Klienten in der Beratung einen problembelasteten und nur teilweise bewussten Teil ihrer Realität zum Thema machen. Das psychoanalytische Konfliktverständnis basiert auf der These, dass sich ­äußere, d. h. in der Umwelt verortete Belastungen mit inneren persönlichkeitsspezifischen Aspekten zu einer sich wechselhaft verstärkenden Konfliktdynamik verbinden können. Die innere Seite des Konfliktgeschehens beinhaltet ein Konglomerat aus Emotionen, Abwehrmechanismen und Objektbeziehungen der Klienten. Auch die individuelle Flexibilität und Fähigkeit zu einer realitätsgerechten Bewäl­ ti­gung schwieriger Lebenslagen werden als das Ergebnis einer vorangegangenen Lebensentwicklung angesehen. Für eine realitätsgerechte Problemlösung müssen die ­inneren Aspekte so viel Flexibilität erlauben, dass ihre Wahrnehmung nicht durch psychologische Barrieren wie Scham, Angst und deren Abwehrkorrelate – Gleichgültigkeit und Resignation – abgewehrt werden müssen (Junkers, 1978). Dieser Zusammenhang gilt sowohl für die Beratung von Individuen und Gruppen als auch von Institutionen und spielt nicht nur in psychologischen oder psycho­ sozialen Beratungen, sondern auch in Sachberatungen oder Aufklärungsge­ sprächen eine Rolle. Egal ob man es thematisiert oder nicht: Beratung ist niemals nur ein sachlich-fachlich-logischer Dialog oder Bildungsprozess, sondern berührt immer auch die abgewehrten inneren Aspekte der Problemlagen. Aus diesem Grund muss auch bei der Problemlösung eine Diskrepanz zwischen kognitiver ­Zustimmung und affektivem Widerstand gegen die Problemlösung regelhaft ­vorausgesetzt werden. Von daher wird in psychodynamisch orientierten Bera­ tungen dieses Spiel zwischen inneren und äußeren Problemaspekten berücksichtigt. Die beschriebene Dynamik wirkt in die Beziehung zwischen Klient und Berater hinein und wird noch verstärkt durch die besondere soziale Situation, die eine Beratung darstellt. Gröning schreibt dazu: »In der Beratungssituation begegnen sich zunächst einmal zwei oder mehrere fremde Menschen. Die normalen Alltagsroutinen sind außer Kraft gesetzt. Einstellungen, Meinungen, Verhaltensweisen werden hinterfragt, begutachtet und reflektiert. Die Situation ist unsicher« (Gröning, 2006, S. 75 f.). Diese Situation befördert Übertragungsprozesse. Die unbewusste Dimension der Problemlagen und die daraus resultierenden Besonderheiten im Kontakt zwischen Klient und Berater können eine Verstrickung des Beraters in die unbewusste Konfliktdynamik des Klienten begünstigen. Die psychoanalytische Interaktionsanalyse zum Verständnis der Dynamik der Berater-Klient-Beziehung ist dann nicht nur ein relevanter Diagnoseansatz, sondern wird darüber hinaus immer dann unentbehrlich, wenn Beratungen schwierig werden bzw. zu scheitern drohen. Für die Entschlüsselung dieses tieferen Konfliktverständnisses hat die Psychoanalyse einen erweiterten Ansatz zu bieten, den andere Beratungsmethoden nicht in dieser Weise berücksichtigen. Hier liegt ein genuin psychoanalytischer Beitrag zum Beratungsdiskurs. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Psychodynamische Beratung Zu Beginn der Entwicklung der Psychoanalyse sind die von Freud und seinen Schülern durchgeführten Behandlungen von kurzer Dauer gewesen. Mit zunehmender Erkenntnis der großen Bedeutung der Widerstände bekam das Durcharbeiten einen größeren Stellenwert und die Behandlungen verlängerten sich. Ab den 1950er Jahren entstand jedoch unter dem Druck sozialer Verhältnisse die Forderung, dass größeren Bevölkerungsgruppen (in den USA zum Beispiel die große Gruppe von traumatisierten Kriegsheimkehrern) ein Hilfsangebot gemacht werden sollte. Von daher wurde es notwendig, sich auch mit zeitlich begrenzten Interventionsmethoden zu befassen. Schlüsselfiguren der Entwicklung der Kurzzeittherapie waren Malan (1976), Sifneos (1979) und Davanloo (1980). In dieser Tradition wurden auch Ansätze zur psychodynamischen Beratung entwickelt. Obwohl unbestritten ist, dass dieser Beratungsansatz eines von vielen Anwendungsfeldern der Psychoanalyse ist (vgl. Dreyer u. Schmidt, 2008), hat er in den letzten dreißig Jahren nur noch wenig Beachtung in der Fachöffentlichkeit gefunden. Dies spiegelt sich sowohl in der Fachliteratur als auch in der Weiterbildungslandschaft. Selbst im aktuellen Diskurs der analytischen Fachgesellschaften ist das Thema vernachlässigt. Abgesehen von kürzeren Abhandlungen stammen die meisten Veröffentlichungen dazu aus den 1960er, 1970er und 1980er Jahren (Argelander, Junkers, Dietrich, Houben, Lüders). Man findet nur wenig neuere Literatur zu diesem Thema. Eine Ausnahme bildet eine Publikation zu den Besonderheiten der niederfrequenten psychoanalytischen Psychotherapie, in der sich auch wertvolle Hinweise für die psychodynamische Beratung finden lassen (Dreyer u. Schmidt, 2008). Gleichwohl muss festgestellt werden, dass Beratung als Anwendungsgebiet der Psychoanalyse theoretisch und behandlungstechnisch kaum auf dem aktuellen Stand der Theorieentwicklung der Psychoanalyse durchdrungen wurde; dies, obwohl die Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorie sie inzwischen wieder anschlussfähiger an sozialwissenschaftliche, pädagogische und beraterische Fachdiskurse macht. Trotz des gerade geschilderten Umstands wird psychodynamische Beratung praktiziert: zum Beispiel in Fach- und Fallberatungen, in der Supervision, in der Organisationsberatung, in der Lebens- und Erziehungsberatung, in der psychodynamisch orientierten Seelsorge, Rehabilitation und vielen psychosozialen Arbeitsfeldern. Von daher kann man bedauernd davon sprechen, dass der psychodynamischen Beratung in der Fachöffentlichkeit derzeit nicht die Aufmerksamkeit zukommt, die der Ansatz verdient. Diese Lücke soll durch dieses Buch geschlossen werden. Ziel wäre es, dem psychodynamischen Beratungsansatz wieder ein Stück Öffentlichkeit zu verschaffen. Von daher richtet sie sich nicht nur an Psychoanalytiker, sondern auch an Psychologen, Ärzte, Pädagogen, Sozialarbeiter, Theologen etc.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Zu diesem Buch In diesem Buch wird eine auf aktuellem Kenntnisstand beruhende Aufarbeitung dieses Themas erfolgen. Zudem soll die Vielfalt der Anwendungsfelder psychodynamischer Beratung, die sonst nur in weit verstreuten Publikationen aufzufinden sind, einer interessierten Öffentlichkeit vorgestellt werden. Indem Ähnlichkeiten in den Beratungen sichtbar werden, wird das aktuelle Profil dieser Beratungsrichtung anschaulich. Unterschiede im Vorgehen markieren Handlungsalternativen, aber auch die konzeptionelle Einstellung auf die konkrete Klientel. Das Buch ist in drei Abschnitte untergliedert: In dem ersten werden einige einleitende und übergreifende Aspekte psychodynamischer Beratung thematisiert. Im zweiten Abschnitt wird die psychodynamische Beratung in unterschiedlichen Praxisfeldern vorgestellt und z. T. auch mit Fallvignetten anschaulich gemacht. Der dritte Abschnitt wendet sich Fragen der Aus- und Fortbildung in psychodynamischer Beratung zu. Heike Schnoor bietet auf der Grundlage einer Literaturrecherche eine erste thematische Einführung in den psychodynamischen Beratungsansatz, um so das Thema des Buches zu entfalten. Es ist unbestritten, dass die theoretischen Grundlagen der Psychoanalyse einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Problemlagen von Menschen liefern. Dies ist in allen Anwendungen der Psychoanalyse nutzbar und gilt auch für Klienten der psychodynamischen Beratung. Gleichwohl unterscheiden sich die verschiedenen Verfahren der Psychoanalyse (analytische Psychotherapie, tiefenpsychologische Psychotherapie, Kurzzeittherapie, Beratung) hinsichtlich ihres Settings, des Zeitrahmens und der Ziele, die realistischerweise erreichbar sind. Daraus lassen sich nicht nur Kriterien für eine Indikationsstellung ableiten, sondern auch Besonderheiten in der Interaktion zwischen Berater und Klient erklären. Auch die Beratungstechnik nimmt viele Anleihen bei der Psychoanalyse, benötigt aber auch spezifische Anpassungen (in der Technik des Erstinterviews, der Fokusbildung, im Umgang mit den Grundregeln und der Wahl der Interventionstechniken), um einen produktiven Verlauf der Beratung möglich zu machen. Jürgen Körner verortet die psychodynamische Beratung zwischen analytischer Psychotherapie und Pädagogik, wobei er den Schwerpunkt seiner Argumentation auf die unterschiedliche Beziehungsgestaltung legt. Sie ist sowohl beim Pädagogen und Berater als auch beim Psychotherapeuten triangulär angelegt und auf ein gemeinsames Drittes hin ausgerichtet: eine zu bewältigende Entwicklungs- oder Lernaufgabe, ein zu lösender äußerer und zugleich innerer Konflikt oder eine lebensgeschichtlich früh verankerte seelische Erkrankung. In der Art der Bezugsnahme auf das Dritte unterscheiden sich der Pädagoge und der Psychotherapeut stark, während der psychodynamisch orientierte Berater eine Mittelposition einnimmt. Der Beitrag von Ingeborg Volger geht auf die Kernelemente psychodynamischer Beratung in der Einzel-, Paar- und Erziehungsberatung ein und verdeutlicht dies © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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an Beispielen. Dabei werden insbesondere das spezifische Konfliktverstehen, das Beziehungsverstehen und die jeweils sich daraus ergebende Beratungsmethodik dargestellt und in ihren Besonderheiten für die Einzel-, Paar- und Erziehungsberatung veranschaulicht. Der zweite Abschnitt dieses Buches verweist exemplarisch auf unterschiedliche Tätigkeitsfelder und Adressaten psychodynamischer Beratung. Sabine Hufendiek beschreibt psychosoziale Beratung im ­Kontext pränataler Diagnostik. Ärzte und Ärztinnen sind verpflichtet, werdende Eltern bei einem schwierigen Befund auf psychosoziale Beratungsangebote hinzuweisen. Die Bedeutung der Beratung in diesem Arbeitsfeld rückt damit stärker ins Bewusstsein der Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen. Frauen/Paare befinden sich – nach einem schwerwiegenden Befund beim erwarteten Kind – in einer Ausnahmesituation. Diese Krisensituation erfordert von den Beraterinnen Verständnis über die Dynamik innerpsychischer Konflikte und ein Beratungskonzept, um die Frauen/Paare im Prozess der Entscheidungsfindung kompetent zu begleiten. Das konkrete Vorgehen wird anhand von Fallvignetten verdeutlicht. Rose Ahlheim thematisiert die psychodynamische Elternberatung im Kontext einer kinderpsychoanalytischen Praxis. Im Fokus der Elternberatung steht die ­Eltern-Kind-Beziehung. Es werden die unbewussten Konflikte und Verwicklungen der Eltern mit ihren Kindern thematisiert, die ihre Beziehung zu den Kindern kontaminiert und in eine Sackgasse geführt haben; wobei Elternschaft als Entwicklungsprozess mit vielfältigen psychodynamischen Prozessen verstanden und anhand von Fallvignetten anschaulich vorgestellt wird. Udo Rauchfleisch beschreibt die psychodynamische Beratung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und ihren Angehörigen. Die Beratung fußt auf einer akzeptierenden Haltung gegenüber der sexuellen Orientierung der Klienten. Bei den Klienten handelt es sich sowohl um psychisch gesunde Personen, die sich etwa im Zusammenhang mit Coming-out-Prozessen von Fachleuten beraten und begleiten lassen möchten, als auch um Klienten, die psychische Störungen sekundärer Art aufweisen als Reaktion auf ihre schwierige Lebenssituation, in der sie von ihren Bezugspersonen Ablehnung wegen ihrer Homosexualität erfahren. Und schließlich gibt es Klienten mit primären psychischen Störungen, die nicht ursächlich mit ihrer Homosexualität zusammenhängen, aber das Coming-out und die Bewältigung des täglichen Lebens schwierig machen. Zudem stellt der Autor die wichtigsten spezifischen Beratungsanliegen der Angehörigen dieser Klientel dar. Meinolf Peters erörtert die psychodynamische Beratung älterer Personen. Das Alter konfrontiert Menschen mit vielfältigen Herausforderungen, Zumutungen, aber auch mit neuen Lebenschancen. Zwar erhalten ältere Menschen vielfach manifeste Hilfen und Unterstützung, insbesondere wenn es um Fragen der Pflege und um Demenzerkrankungen geht, ein verstehender Zugang und eine tiefenpsychologisch, konfliktorientierte Beratung findet jedoch selten statt. Die wachsende Identitätsproblematik Älterer erfordert aber eine solche Erweiterung der Beratungsangebote. Am Beispiel der Lebensberatung wird mit Hilfe von Fallvignetten die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Komplexität der Beratungsanliegen bei Älteren deutlich gemacht, die sich nicht nur auf manifeste Hilfen beschränken kann, sondern auch die tiefenpsychologische Durchdringung der vor- und unbewussten Dimensionen erfordert. Thomas Giernalczyk und Carla Albrecht befassen sich mit der psychodynamischen Beratung in Lebenskrisen und bei akuter Suizidalität. Nach einer Einführung in den Krisenbegriff und seine psychodynamische Implikationen werden Handlungsmodelle der Krisenberatung vorgestellt. Wobei die Autoren speziell auf die Krisenberatung als Container-Contained-Prozess und auf negative Gegenübertragungen, projektive Identifikationen, Affektregulationen und auf Mentalisierungsfähigkeiten der Klienten eingehen. Zudem wird ein psychodynamisches Verständnis der Beratung im Kontext von Entwicklungskrisen, suizidalen Krisen, narzisstischen suizidalen Krisen und appellativer Suizidalität dargestellt. Es folgt ein Beitrag von Udo Rauchfleisch über die psychodynamische Bera­tung von Straffälligen. Diese Klientel wird meist von ihren Anwälten in die Beratung geschickt oder sie nehmen im Rahmen einer vom Gericht angeordneten ­Behandlungsauflage Kontakt zu Professionellen auf. Eine psychodynamische Beratung weist demgemäß von Anfang an eine spezielle Struktur und Dynamik auf: Strukturell besteht eine stärker ausgeprägte Asymmetrie in der Beziehung zwischen ­Patienten und Therapeuten, wobei die Letzteren oft als »verlängerter Arm des Gesetzes« empfunden werden. Vor diesem Hintergrund entwickeln sich spezifische Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamiken: Die Professionellen werden vom Patienten entweder in Form einer idealisierenden Übertragung als »Retter in der Not« betrachtet oder sie werden als die Verfolgenden erlebt, gegen die sich dann im Sinne einer negativen Übertragung Hass und Ablehnung richten können. Besonderheiten im Beratungsfokus ergeben sich aus der Vielzahl sozialer Probleme dieser Klienten und ihrer zumeist nur geringen Introspektionsfähigkeit. Aus diesen Gründen wird der Fokus meist nicht auf das Verhalten der Ratsuchenden gelegt, sondern auf soziale Probleme und das Verhalten ­anderer. Marc Willmann stellt das von Gerald Caplan (1917–2008) entwickelte psychodynamische Konsultationsmodell der Mental Health Consultation (MHC) vor. Bei dieser Art der reflexiven Fallberatung zwischen Professionellen sprechen zwei Spezialisten über die Probleme in der Fallarbeit mit einem Klienten (Konsultationstriade). Die Reflexion der fallimmanenten Beziehungsdynamiken ermöglicht eine Bewusstmachung der unbewussten emotionalen Verstrickung des professionellen Helfers in der Beziehung zum Klienten. Psychodynamische Konsultation ermöglicht somit die (Wieder-)Einnahme einer professionellen Haltung, die den Helfer wie den Klienten gleichermaßen schützt und zur Optimierung der professionellen Unterstützungsleistung beiträgt. Beate West-Leuer beschreibt Coaching aus einer neurobiologisch-bindungs­ orientierten Position und arbeitet interaktionell-psychoanalytische Interventionen zur Förderung sozialer Kompetenzen heraus. Der Umgang mit Gefühlen wie Angst, Wut oder Freude beeinflusst ganz wesentlich die sozialen Kompetenzen im © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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privaten wie beruflichen Bereich. Die Herausbildung dieser Affektsysteme erfolgt im Säuglingsalter durch den spiegelnden Austausch mit dem Gesicht der Mutter und den dort ablesbaren Gefühlsreaktionen. Ohne ausreichende emotionale Verbundenheit in dieser Entwicklungsphase entstehen Probleme in der Affektsteuerung und -regulierung. Beate West-Leuer beschreibt anhand von Vignetten, wie mit Hilfe interaktionell-psychoanalytischer Methoden die Affektsysteme von Klienten im Coaching stabilisiert und reguliert werden können. Urte Finger-Trescher diskutiert den Zusammenhang von Beratungs- und Leitungsqualität am Beispiel der Erziehungsberatungsstelle. Dabei wird auch der Frage nachgegangen, inwieweit unter den gegebenen gesetzlichen Bestimmungen und Aufträgen Beratungsprozesse in Erziehungsberatungsstellen realisierbar sind und welche Strukturen und Bedingungen Leitung in diesen Einrichtungen bereitstellen muss, um konstruktive psychosoziale Beratungsprozesse zu ermöglichen. Dabei liegt der Fokus auf dem Containment, das sowohl in den einzelnen Beratungs- als auch in den Steuerungsprozessen zwischen Leitung und Team oder einzelnem Mitarbeiter eine entscheidende Rolle spielt. Anhand von Fallbeispielen werden diese Prozesse veranschaulicht. In kritischer Auseinandersetzung mit der Organisationsberatung stellt Rolf Haubl das Konzept des Latenzschutzes vor und illustriert es an Beispielen. Organisationen schützen ihre Strukturen dadurch, dass sie alle Erfahrungen, die zu einem unkontrollierten Veränderungsprozess führen könnten, latent zu halten versuchen. Zu diesem Zweck institutionalisieren sie mehr oder weniger gut rationalisierte Widerstände gegen die Thematisierung bestimmter Latenzen. Zu den wirksamsten Mechanismen des Latenzschutzes gehört die institutionelle Regulierung der Emotionen der Organisationsmitglieder, weshalb diese Regulierung dann auch ein vorrangiger Angriffspunkt für eine psychodynamisch-systemische Beratung darstellt. Im dritten Teil dieses Buches wird die psychodynamische Beratung in der Aus-, Fort- und Weiterbildung vorgestellt. Beratungen sind als Interventionsansatz bis heute sozialpolitisch freigegeben, d. h. nicht hinsichtlich formaler Ausbildungsstandards, Richtlinien etc. standar­ disiert. Auch wenn es Initiativen gibt, dies auch für den Beratungsbereich nachzuholen (vgl. Deutsche Gesellschaft für Beratung, 2003), sind die Qualität und der Umfang der Aus- und Weiterbildungen von Beratern und Beraterinnen ausgesprochen heterogen. Junkers schrieb schon 1978: »Dem relativ bescheidenen Anspruch und der desolaten Ausbildungssituation steht eine in ihrer ideellen Ausprägung und ihrem Differenzierungsgrad beachtliche beraterische Realität gegenüber« (Junkers, 1978, S. 76 f.). Auch heute arbeiten sowohl Laien als auch ausgebildete Psychoanalytiker in institutionellen Beratungskontexten. Daneben finden sich tiefenpsychologisch weitergebildete Berater mit den unterschiedlichsten Grundausbildungen (Ärzte, Psychologen, Theologen, Pädagogen, Sozialpädagogen u. a.), die psychodynamische Beratungen im Rahmen ihrer Tätigkeit anbieten. Im Unterschied zu klientenzentrierten oder systemischen Weiterbildungen gibt es in der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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BRD nur wenige spezielle Ausbildungsstätten für psychodynamische Beratung. So kommt es, dass Berater in ihrem Problemverständnis zunächst auf die Erklärungsansätze ihrer primären Ausbildungsdisziplinen zurückgreifen. Im besten Fall sind sie schon im Rahmen ihres Studiums mit diesem Ansatz vertraut gemacht worden und verfügen über eine psychoanalytische oder eine tiefenpsychotherapeutische Weiterbildung oder haben einschlägige Fortbildungen besucht. Einer qualitativ hochwertigen Schulung in der psychodynamischen Beratung kommt für die Verbreitung dieses Ansatzes eine zentrale Bedeutung zu. Der dritte Teil des Buches widmet sich diesem Thema. Obwohl Psychoanalytiker wie zum Beispiel Argelander, Vogt und Wellendorf in den 1970er Jahren an den Universitäten Frankfurt, Hannover und Bremen entsprechende Lehrangebote erfolgreich angeboten haben, wird psychodynamische Beratung heute nur noch selten an der Universität vermittelt. Das Interesse Studierender an der Psychoanalyse ist nach wie vor groß, aber die Lehre vom Unbewussten kann nicht allein auf kognitiver Ebene angeeignet werden: Ohne klinischen Bezug gibt es keinen Bezugsrahmen für die Bedeutung psychoanalytischer Begriffe und Konzepte und sie bleiben für Studierende diffus und bedeutungsleer. In diesem Buch werden zunächst anhand von zwei Beiträgen didaktische Überlegungen und Erfahrungen zur Vermittlung psychodynamischer Beratung im Rahmen von Lehrveranstaltungen am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Marburg vorgestellt. Zunächst stellt Heike Schnoor psychodynamische Fallseminare im Kontext eines universitären Studienschwerpunkts vor. Ziel ist es, den Studierenden erste Erfahrungen mit diesem Ansatz zu vermitteln und ihr Interesse an einer postgradualen, tiefenpsychologisch orientierten Weiterbildung zu wecken. In den Seminaren werden die notwendigen theoretischen und begrifflichen Grundlagen prinzipiell immer durch Fallvignetten veranschaulicht. Dafür eigenen sich auch medial veröffentlichte Expertenberatungen. Beispielhaft wird die Analyse eines Beratungsgesprächs unter dem Gesichtspunkt des psychoanalytischen Fallverstehens dargestellt. Elisabeth Rohr beschreibt gruppenanalytische Supervisionen mit Studierenden im Kontext universitärer Seminare als eine besondere Form der Theorie-PraxisVermittlung. Es geht im Kern darum zu zeigen, wie wichtig und sinnvoll eine supervisorische Begleitung von Praktika im Rahmen des universitären erziehungswissenschaftlichen Studiums ist. Dazu werden am Anfang nochmals Überlegungen und Kontroversen rekapituliert, die vor Jahren die Einführung von Selbsterfahrungsseminaren an der Universität begleitet haben, und es wird deutlich gemacht, was dabei von Nutzen und was eher riskant war. Anhand eines Fallbeispiels wird demonstriert, was bei der herkömmlichen und nur auf der manifesten Berichts­ ebene angesiedelten Auswertung von Praktikaerfahrungen auf der Strecke bleibt. Sodann werden anhand von zwei Beispielen postgraduale Weiterbildungen in psychodynamischer Beratung vorgestellt. Mario Muck beschreibt zunächst die Sinnhaftigkeit der psychoanalytischen Theorie und Technik für Beratungspro© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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zesse. Versteht man Beratung nicht als simples Ratgeben, sondern als einen Kommunikationsprozess, in dem gemeinsam Ursprung und Zusammenhang bestehender Probleme und lebbare Lösungsmöglichkeiten für Konflikte gefunden werden sollen, dann erhebt sich die Frage, über welche Wissensvoraussetzungen und ­Haltungen ein Berater verfügen müsste. Psychische Probleme, Partnerkonflikte, Sexualstörungen usw. sind im allgemeinen Bestandteil von gestörten Erlebens-, Verhaltens- und Kommunikationsformen im Zusammenhang jeweils spezifischer gesellschaftlicher Kontexte. Notwendiges Wissen zentriert sich daher um die Frage, wie Erleben und Verhalten entsteht, wodurch es aufrechterhalten bleibt und wie es entwickelt oder verändert werden könnte. Zudem wird das bereits 1973 erarbeitete Curriculum für eine katholische Familienberatungsstelle vorgestellt. Anschließend stellt Ingeborg Volger die aktuelle Weiterbildung in psycho­ dynamischer Beratung nach dem Konzept des Evangelischen Zentralinstituts in Berlin vor. Die hier gewählte Konzeption und Didaktik der Weiterbildung in Integrierter Familienorientierter Beratung (IFB) wird seit 2005 angeboten und umfasst tiefenpsychologische Entwicklungskonzepte und Persönlichkeitsmodelle. Diese theoretische Grundorientierung stellt das zentrale Gerüst zum konzeptuellen Verständnis von Beziehungsprozessen und Möglichkeiten der Konfliktlösung in der Einzel-, Paar-, Erziehungs- und Schwangerschaftskonfliktberatung bereit. Psychodynamische Beratung wird dabei verstanden als eigenständiges Verfahren, das der Bearbeitung und Bewältigung umgrenzter Problemsituationen in den genannten Beratungsfeldern dient und sich dazu einer je spezifischen Beratungsmethodik ­bedient. Zum Abschluss möchte ich es nicht versäumen meinen Dank auszudrücken gegenüber allen hier vertretenen Autoren, die mit ihren Beiträgen diese Publikation möglich gemacht haben. Zudem möchte ich mich bei Uta-Kristina Meyer, Stefan Wissmach, Lena Becker und Steffen Hamborg für die Unterstützung bei der redaktionellen Bearbeitung der Manuskripte bedanken.

Literatur Argelander, H. (1970). Das Erstinterview in der Psychotherapie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Argelander, H. (1980). Die Struktur der »Beratung unter Supervision«. Psyche – Z. Psychoanal., 34, 54–77. Davanloo, H. (1980). Short-Term Dynamic Psychotherapy. NY: J. Aronson. Deutsche Gesellschaft für Beratung (DGfB) (2003). Beratungsverständnis. Köln. Dreyer, K.-A., Schmidt, M. G. (2008). Zur Entwicklung der Technik in der niederfrequenten psychoanalytischen Psychotherapie. In K.-A. Dreyer, M. G. Schmidt, M. G. (Hrsg.), Niederfrequente psychoanalytische Psychotherapie. Theorie, Technik, Therapie (S. 17–53). Stuttgart: Klett-Cotta. Gröning, K. (2006). Pädagogische Beratung. Konzepte und Positionen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Houben, A. (1984). Klinisch-psychologische Beratung. München u. Basel: Ernst Reinhardt. Junkers, H. (1978). Das Beratungsgespräch. Zur Theorie und Praxis kritischer sozialarbeit. München: Kösel Verlag. Lüders, W. (1974). Psychotherapeutische Beratung. Göttingen: Verlag für Med. Psychologie. Malan, H. D. (1976). The Frontier of Brief Psychotherapy. An Example of the Convergence of Research and Clinical Practice. New York. Reimer, C., Rüger, U. (2003). Psychodynamische Psychotherapien (2. Aufl.). Berlin, Heidelberg: Springer Verlag. Scharff, J. M. (1994). Pragmatismus oder Methodik? Psychoanalytisch orientierte 10-StundenBeratung im Spiegel der Supervision. Psyche – Z. Psychoanal., 48 (4), 324–360. Sifneos, P.E (1979). Short-Term Dynamic Psychotherapy. Evaluation and Technique. New York. Volger, I. (1998). Tiefenpsycholgisch orientierte Beratung. Kleine Texte aus dem ev. Zentralinstitut für Familienberatung Nr. 32.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

1 Ausgewählte Grundlagen der psychodynamischen Beratung

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Heike Schnoor

Psychodynamische Beratung: Ein Anwendungsgebiet der Psychoanalyse

Die Psychoanalyse hat in den über einhundert Jahren ihres Bestehens einen großen Anwendungsbereich erschlossen. Allein im klinischen Bereich zählen neben der Psychoanalyse auch die tiefenpsychologische Psychotherapie, die Kurz- und Fokaltherapie sowie psychodynamische Beratungsansätze dazu. Im Unterschied zur Psychoanalyse und zur tiefenpsychologischen Psychotherapie ist die psychodynamische Beratung in den letzten dreißig Jahren jedoch ein wenig beachtetes Anwendungsgebiet der Psychoanalyse geblieben. Dies ist umso bedauerlicher, als Beratung sich als Hilfeansatz zunehmend professionalisiert und methodisch ausdifferenziert hat. Beratungen haben sich als Basisversorgung der Bevölkerung in psychosozialen Problemlagen weitgehend etabliert. Dieser Beitrag gibt eine zusammenfassende Darstellung des psychodynamischen Beratungsansatzes und will so den Diskurs darüber wieder einleiten.

Psychodynamische Psychotherapie – psychodynamische Beratung: Abgrenzungsversuche Allen Anwendungen der Psychoanalyse gemeinsam ist ihr Bezug auf die theoretischen Grundannahmen der Psychoanalyse wie der Existenz des Unbewussten, der Lehre von den Abwehrprozessen, den unbewussten Einflüssen auf zwischenmenschliche Interaktionen (z. B. durch Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse) sowie die vielschichtigen Erkenntnisse der Neurosen- und Entwicklungstheorie. Auf dieser gemeinsamen Grundlage basieren alle psychodynamischen Anwendungen. Der Unterschied zwischen den Anwendungen ist vorhanden und doch im Detail schwer greifbar. Hilfreich ist ein von Dreyer und Schmidt (2008) benutztes Bild, ­wonach die Technik und Methode psychoanalytischen Arbeitens durch mehr oder minder weit entfernte Punkte auf einem Kontinuum dargestellt werden kann. In diesem Sinne bildet die klassische Psychoanalyse das eine Ende und die psychodynamisch orientierte Beratung das andere Ende eines Kontinuums. Erst weiter voneinander entfernte Punkte sind als klar getrennt wahrnehmbar (Dreyer u. Schmidt, 2008). Eine Psychoanalyse ist in ihrem Setting, ihren Zielen und ihrem methodischen Vorgehen leicht von einer psychodynamischen Beratung abgrenzbar. Die Unterscheidung einer Kurzzeittherapie und einer Beratung fällt dagegen schwerer, weil beide Verfahren sich in einem fließenden Übergangsbereich überschneiden können. Entsprechend wird die Frage, ob es sich bei einer psychodynamisch orientierten Bera© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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tung nur um eine akzidentell von der Kurzzeittherapie unterschiedene Methode handelt oder ob sie ein spezifisches Ziel mit spezifischen Mitteln anstrebt, in der Literatur zumeist im ersten Sinne beantwortet (Junkers, 1978; Leuzinger-Bohleber, 1985). Gleichwohl können zwischen der psychodynamischen Kurzzeittherapie und Beratung auch Unterschiede herausgearbeitet werden: Im Unterschied zur Psychotherapie handelt es sich bei einer Beratung um einen kürzeren Prozess mit ge­ ringerer Intensität. Kognitive und rationale Faktoren erhalten ein größeres Gewicht und das Ziel der Behandlung ist mehr auf Stützung als auf Durcharbeitung angelegt (Houben, 1984). Eine zeitlich begrenzte Beratung lässt mithin nur eine eingeschränkte Zielsetzung zu. Soweit Beratungen nicht im Kontext kranken­ kassenfinanzierter Behandlungen angesiedelt sind, wird der Ratsuchende nicht als ein krankes Individuum, sondern als eine Person angesehen, die Unterstützung bei der Bewältigung einer konkreten Problemlage bedarf. Im Gegensatz zur ­ana­lytischen Therapie, die das Ziel hat, eine Umstrukturierung der Persönlichkeit zu erreichen, verfolgt eine Beratung das Ziel, vorhandene Kräfte der­ Klienten zu ­mobilisieren, um Hindernisse bei der Problemlösung aus dem Weg zu räumen (Houben, 1984; Volger, 1998). Entsprechend zielt Beratung nicht auf ­­Heilung, ­sondern auf Problemlösung. Vor allem schwierige Entscheidungs­ prozesse, Anpassungsstörungen und aktuelle Krisen sind Indikationsbereiche für Beratung. Die Praxis psychodynamischer Beratung verweist auf ein sehr heterogenes ­Anwendungsgebiet. Dieses Verfahren findet in unterschiedlichsten Praxisfeldern Anwendung, unterscheidet sich aber gleichwohl hinsichtlich der Länge der Beratungsprozesse, der Belastungsstärke der Klientel, der Beratungsthemen und des institutionellen Kontextes, in den Beratung eingebettet ist. Die gerade beschriebene Heterogenität betrifft auch die Anwender der psychodynamischen Beratung: Arbeiten Psychoanalytiker beratend, dann benutzen sie ihre psychoanalytischen Kenntnisse und methodischen Fähigkeiten für ihre Beratertätigkeit. »So gesehen, wären sie Psychotherapeuten in einem speziellen Anwendungsbereich, nämlich dem der Beratung« (Reimer u. Rüger, 2003, S. 20). Da es jedoch zum jetzigen Zeitpunkt noch keine definierten Ausbildungsstandards für Berater gibt, sind innerhalb der Gruppe psychodynamisch orientierter Berater und Beraterinnen in der Praxis große Unterschiede feststellbar. Dies gilt auch hinsichtlich ihrer psychoanalytischen Kompetenzen (Wißmach, 2008).

Problemlösung im Spannungsfeld widerstrebender Kräfte: Manifeste und latente Ziele psychodynamischer Beratung Weil die eigene Realität zum Thema gemacht wird, ist psychodynamische Beratung notwendigerweise selbstreflexiv (Gröning, 2006). Sie sollte einen Raum eröffnen, um aus dem Alltagsbewusstsein herauszutreten und sich jenseits von festgefügten Vorurteilen und Einschätzungen den eigenen konfliktreichen Themen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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zuzuwenden. Da psychodynamische Beratung vor allem bei aktuellen Problemlagen, schwierigen Entscheidungsprozessen, Anpassungsstörungen und akuten Krisen zum Einsatz kommt, ist das psychoanalytische Verständnis von Problemen, Konflikten und Krisen eine Grundlage der Arbeit. In der Psychoanalyse wird zwischen der faktischen, äußeren Realität (z. B. die durch Arbeitsplatz, Wohnsituation etc. geprägte Lebenslage) und der dynamisch wirksamen inneren Realität (die Wahrnehmung der Realität und die Einstellungen dazu) unterschieden. Entstanden ist die innere Realität eines Menschen durch frühe Interaktionserfahrungen. Sie schlagen sich in Form von Selbst- und Objektimagines nieder und prägen nicht nur die Wahrnehmung der eigenen Person, sondern auch die anderer Menschen. Da jeder Mensch sein soziales Umfeld nach dem Muster seiner inneren Selbst- und Objektimagines gestaltet, kann dies im ungünstigen Fall dazu führen, dass negative Selbst- und Objektbilder unbewusst eine Tendenz begünstigen, immer wieder belastende soziale Konstellationen einzugehen. Auf diese Weise trägt der Klient unbewusst zur Entstehung von Problemlagen bei. Die Psychoanalyse geht davon aus, dass die äußere und die innere Seite der Realität eng miteinander verwoben sind und sich gegenseitig verstärken. Es entsteht dann ein vielschichtiges Realitätsverständnis, in dem zwischen einem Innen, in das introjizierte Außen-Elemente aufgenommen wurden (das Außen im Innen), und einem Außen, in dem sich nach außen projizierte Innen-Elemente wiederfinden (Innen im Außen), unterschieden wird (Schmidt, 2008). Auch wenn der äußeren Realität in der psychodynamischen Beratung eine wesentlich größere Bedeutung zukommt als in der analytischen Psychotherapie, so bleibt die daneben und dahinter liegende innere Seite der Realität immer der Bezugspunkt der Beratung. In psychodynamischen Beratungen wird diese Verwobenheit von äußeren und inneren Aspekten besprochen, weil durch sie die Entstehung, aber auch die Bewältigung von Krisen und Konflikten entscheidend beeinflusst wird. Diese psychodynamische Perspektive trifft auch auf den Umgang mit den in der Beratung fokussierten Ressourcen zu. Auch wenn die Bedeutung objektiver sozialer Ressourcen nicht unterschätzt werden darf, gehen Personen doch unterschiedlich kompetent und erfolgreich mit ihnen um. Jeder Mensch besitzt ein ­spezifisches Profil von mehr oder minder ausgeprägten Anpassungs- und Veränderungskompetenzen gegenüber vorgegebenen Umweltbedingungen. Abwehrprozesse, wie Vermeidung oder Realitätsverleugnung, können beispielsweise die Problemlösefähigkeiten eines Menschen erheblich einschränken. Ein chronisches Vermeidungsverhalten wird dann dazu führen, dass notwendige Entscheidungen hinausgezögert, berufliche Kompetenzen nicht erworben oder finanzielle Verpflichtungen nicht eingelöst werden. Auf diese Weise sind Klienten an der Entstehung von sozialen Problemkonstellationen aktiv beteiligt. Man kann also davon sprechen, dass innere Ressourcen (z. B. Ichstärke, realitätsgerechte Wahrnehmung, Ambigutätstoleranz) nicht nur der Prävention von Problemlagen dienen, sondern auch die Voraussetzung dafür darstellen, dass äußere Ressourcen effektiv genutzt werden können. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Dieses Problemverständnis hat Auswirkungen auf das Ziel der psychodynamischen Beratung: Es gilt, die äußere Realität als Ort beraterischer Reflexions- und Interventionsmöglichkeiten zu nutzen, aber die innere Seite des Problems mitzubearbeiten, um neue Chancen der Problembewältigung zu eröffnen. Vogt unterscheidet aus diesem Grund zwei Ebenen des Beratungsziels: »Neben dem dynamischen, von der unbewußten Bedeutung des Beratungsthemas abgeleiteten Beratungsziel gibt es auch ein manifestes Beratungsziel, das vom manifesten Beratungsthema aus bestimmt wird. Die Formulierung auf dem manifesten Bedeutungsniveau ist der Ausgangspunkt des Beratungsdialogs, die Formulierung auf dem unbewußten Bedeutungsniveau eher die Richtschnur der Beratungstechnik im Verständnis des Beraters. Das dynamische Beratungsziel ist also Leitlinie der Beratungstechnik und gleichzeitig das prognostische Kriterium, anhand dessen die Möglichkeit und der Erfolg einer Beratung bestimmt wird« (Vogt, 1980, S. 28). Dem Ratsuchenden sollte der eigene Beitrag an der Entstehung der Problem­ lagen bewusst werden. Dies gilt insbesondere für die Wahrnehmung des Wiederholungszwangs, den Gröning (2006) zu einem zentralen Ziel der Beratung erklärt. Aber auch die sich in Widerstreit befindlichen Bedürfnisse, Antriebe und Wünsche eines Menschen und deren Vermeidung bzw. kompromisshafte Realisierung sind Teil der Problemgenese und sollten deshalb in einer psychodynamischen Beratung angesprochen werden (Volger, 1998). Erst die Erkenntnis eigener Beteiligung macht den Klienten die eigenen Handlungs- und Entscheidungsalternativen bewusst. Nach Vogt besteht das Ziel einer Beratung darin, »die unbewusste Behinderung einer eigenständigen und konstruktiven, das Beratungsthema betreffenden Entscheidung zu reduzieren oder aufzuheben« (Vogt, 1980, S. 28). Die für die Psychoanalyse zentrale Unterscheidung zwischen der manifesten und der latenten Ebene gilt auch für die gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen, in denen Beratung eingebettet ist. Schon Junkers (1978) wies darauf hin, dass sich Beratungen in einem gesellschaftlich bereitgestellten Rahmen vollziehen, der sie überindividuell erlaubt oder verbietet, ermöglicht oder verhindert. Institutionelle Rahmenbedingungen prägen die beraterische Arbeit sowohl auf einer manifesten Ebene (z. B. Beratungsziele, zeitliche und personelle Ressourcen, räumliche Bedingungen) als auch auf einer latenten Ebene. Am Beispiel der sanktionsbewährten Beratung (z. B. im Kontext der Kindeswohlgefährdung nach SGB VIII oder der Eingliederung in Arbeit nach SGB II) kann dies dargestellt werden: Beratung findet hier in einem administrativen und verwaltungsrechtlichen Kontext statt, in dem in Freiheitsrechte des Klienten eingegriffen wird. In einem solchen Kontext sind Interessenkonflikte zwischen dem Klienten und dem Berater angelegt und können den Beratungsprozess korrumpieren. Junkers schreibt dazu: »In den sozialen Diensten sind, diesen mehr oder weniger bewusst, psychologische Widersprüche internalisiert, die ihre Effizienz verringern oder aufheben. Man kann einen Täter nicht gleichzeitig bestrafen und resozialisieren, ihn gleichzeitig als krank und kriminell bezeichnen, einem Kranken die Verantwortung für das Bedingungsgefüge seiner Krankheit absprechen und ihn © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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gleichzeitig auffordern, alles zu tun, was die Wiederherstellung seiner Gesundheit fördert« (Junkers, 1978, S. 7). Diese Widersprüche leiten sich aus diskrepanten Werthaltungen und Interessengegensätzen der Institutionen ab und schlagen bis auf die konkrete Beratungsarbeit durch (Junkers, 1978). Ein psychodynamischer Beratungsansatz sollte deshalb eine stringente Institutionsanalyse einschließen und die administrativen und institutionellen Einflüsse auf die Arbeit der Berater und auf den Berater-Klienten-Kontakt mitreflektieren.

Welches Behandlungsangebot für wen: Diagnostik und Indikationsstellung in der psychodynamischen Beratung Schon in der Anfangsphase der psychodynamischen Beratung werden die entscheidenden Weichenstellungen für den Beratungsprozess vorgenommen: der Aufbau eines Arbeitsbündnisses, Diagnostik und Indikationsstellung, die Herausarbeitung des Behandlungsfokus sowie die Aushandlung des Behandlungsvertrags stehen in dieser Phase im Mittelpunkt der Arbeit. Im folgenden Abschnitt möchte ich auf die in der Literatur zur psychodynamischen Beratung veröffentlichten Vorschläge zur Diagnostik und zu den Kriterien für eine Indikationsstellung eingehen. Unbestritten ist, dass zu Beginn einer psychodynamischen Beratung eine sorgfältige Anamnese und Exploration erfolgen muss, bei der der Berater nicht nur das manifeste Beratungsanliegen, sondern auch die zentrale innere Konfliktdynamik des Klienten mit der korrespondierenden Abwehr- und Bewältigungsstruktur ­erfassen sollte. Vogt (1980) konkretisiert die diagnostischen Fragestellungen einer psychodynamischen Beratung folgendermaßen: (1) Welche unbewusste Bedeutung hat das manifeste Beratungsziel des Klienten? (2) Welcher Aspekt dieser unbewussten Bedeutung wirkt sich lähmend auf die Entscheidungs- und Problemlösefähigkeit des Klienten aus und muss deshalb in der Beratung bearbeitet werden? Mit Hilfe der Technik des psychoanalytischen Erstinterviews (Argelander, 1970) arbeitet man sich, ausgehend vom manifesten Beratungsthema, zu der unbewussten Bedeutung des Beratungsanliegens vor (Vogt, 1980). Houben (1984) schlägt dazu folgende Vorgehensweise vor (Houben, 1984): 1. Freie Problemschilderung: Zunächst hat der Klient die Möglichkeit, sein Beratungsanliegen zu schildern. Entsprechend der Methode des psychoanalytischen Erstinterviews wird ihm die Initiative und Führung im Gespräch überlassen. Der Berater hört interessiert und mitfühlend zu und fragt allenfalls vorsichtig nach, um keine langen Gesprächspausen entstehen zu lassen. Dadurch wird das Erstinterview von der spezifischen Persönlichkeit des Klienten gestaltet. Der Berater verfolgt das Gespräch mit der Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, registriert eigene Gegenübertragungsgefühle und nutzt diese zum tieferen Verständnis des Klienten. Dazu oszilliert er in seiner Aufmerksamkeit zwischen einer probeweisen Identifikation mit dem Klienten und dem Einnehmen einer Position außerhalb der Beziehung, aus der heraus er die sich entfal© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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tende Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung beobachten kann. Die so gewonnenen Erkenntnisse kann er in eine Probedeutung einfließen lassen und die Reaktion des Klienten auf die Deutung als Indiz dafür werten, ob sie zutrifft oder nicht (Daser, 2000). Wenn die angesprochenen Themen beim Klienten peinliche, ärgerliche oder ängstigende Aspekte berühren, muss sich der Berater vergegenwärtigen, dass eine Beratung für den Klienten ein narzisstisches Sicherheitsrisiko darstellt. Um sein inneres Gleichgewicht zu wahren, wird der Klient diese Themen nur in dosierter, gerade noch erträglicher Form preisgegeben können. Dem muss der Berater durch Feinfühligkeit, Anerkennung des Klienten und taktvolle Neutralität Rechnung tragen (Gröning, 2006). Die Widerstände des Ratsuchenden können unterschiedliche Formen annehmen: zum Beispiel Zensierungen in der Erzählung, Wünsche nach Gesprächsabbruch, emotionslose, banale oder sinnentleerte Erzählweisen. Der Berater hat deshalb die Aufgabe, nicht nur zu hören, was der Klient sagt, sondern auch zu erfassen, wo Lücken in der Erzählung sind, was der Ratsuchende vergisst oder nur nebenbei berichtet. Der Sprachstil, die Sprechweise, der Ton (z. B. vorwurfsvoll oder mitleidig) der Erzählung enthalten weitere wichtige ­Informationen. 2. Biographische Anamnese: Hier versucht der Berater die Problemlage des Klienten und deren Auswirkungen in ihrer subjektiven Bedeutung zu erfassen. Dabei werden die Alltagstheorien der Klienten aufgegriffen und – vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Theoriebildung – in einen Sinn gebenden Zusammenhang gestellt. Bei dieser Arbeit werden nicht nur die Selbstsicht und das Reflexionsniveau des Klienten sichtbar, sondern auch seine Fähigkeit, vom psychoanalytischen Verstehensansatz zu profitieren. Dem biographischen Material kommt in der psychodynamischen Beratung eine zentrale Rolle zu, aber es wird in der Beratung keine große biographische Anamnese durchgeführt. Es werden selektiv nur die Daten erhoben, die für den Klienten in einem assoziativen Zusammenhang mit dem aktuellen Problem stehen. 3. Schlüsselwort-Technik: Eine Besonderheit der von Houben (1984) vorgeschlagenen Vorgehensweise ist seine Schlüsselwort-Technik. Hier werden kurze Sätze und Schlüsselworte zum Verständnis der Problematik vom Berater aufgegriffen und im Gespräch mit dem Klienten wieder ins Spiel gebracht. Houben beschreibt den Vorgang folgendermaßen: »Der Berater versucht, derartige Schlüsselworte so lange als möglich ins Gespräch zu werfen, um dadurch neue Assoziationen anzuregen. Dies führt zu einer Lenkung der Einfälle auf einen bestimmten Themenkreis und häufig zugleich zu ihrer konflikt-dynamischen Aufladung« (Houben, 1984, S. 174). 4. Zum Abschluss werden noch offene Fakten, die für die Indikation der Beratung wichtig sind, gezielt abgefragt. Am Ende des Erstinterviews sollte der Berater die äußere und innere Ebene der Problemlage erfasst haben. Mit Hilfe von Probedeutungen versucht der Berater das Beratungsthema einzugrenzen und diesen Fokus zur Richtschnur für die Bera© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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tung werden zu lassen. Vogt nennt einige inhaltliche Kriterien für das Ziel der Beratung, wenn er schreibt: »Das dynamische Beratungsziel ist so zu definieren, daß es auf der Ebene der Selbstverwirklichung des Ratsuchenden, der ›Progression‹ im Sinne von Lüders (1974) liegt; in einer dem Erleben des Ratsuchenden relativ nahen Dimension formulierbar ist; solche unbewußten Behinderungsaspekte betrifft, die eine zureichende dynamische Wertigkeit haben, um bei ihrer Auflösung die Entscheidungsfähigkeit des Ratsuchenden wieder herzustellen; in 10 Sitzungen erreichbar zu sein verspricht« (Vogt, 1980, S. 28). Zudem ist es unabdingbar, die Erwartungen der Klienten an die Beratung abzuklären und auf ein realistisches Maß zu bringen, um nicht am Ende Enttäuschungs- und Entwertungsreaktionen auszulösen. Bei einer Indikation zur psychodynamischen Behandlung müssen das An­liegen, die Motivation, die Ressourcen und das Ziel eines Klienten in einem stimmigen Verhältnis zum Behandlungsangebot stehen. Von daher stellt sich in jedem Einzelfall die Frage, ob eine Beratung oder eine Psychotherapie die geeignete Behandlungsform darstellt. Da Beratung als dialogischer Prozess zwischen Bera­ter und Klienten verstanden wird, muss ein gemeinsames Problemverständnis ­herausgearbeitet werden. Das bedeutet, dass die Indikation zu einer psycho­dynamischen Beratung zunächst mit dem Klienten gemeinsam erarbeitet werden muss. In der Literatur finden sich einige Hinweise zu den Kriterien für die Indikation zu einer psychodynamischen Beratung, die im Folgenden dargestellt werden: Beratungen gelten grundsätzlich dann als erfolgversprechend, wenn die Anliegen der Klienten weniger gravierend, thematisch eng umschrieben und aktuell sind, d. h. auf keine chronische Entwicklung schließen lassen. Vogt (1980) hat darüber hinaus fünf Kriterien für die Aufnahme einer psychoanalytischen Beratung genannt, die die Indikation noch weiter konkretisieren: 1. die unbewusste Bedeutung der aktuell schwierigen Lebenssituation; 2. ihre thematische Abgrenzbarkeit im Beratungsdialog, auch in einem ansonsten komplexen Beschwerdebild (manifeste Bedeutungsebene); 3. eine aktuelle Handlungsalternative, die mit Hilfe der Beratung potentiell realisierbar ist; 4. die szenische Reproduktion in der Beratungsbeziehung und 5. die Ableitung eines von ihrer unbewussten Bedeutung ausgehenden Beratungsziels. Bezogen auf den Belastungsdruck der Klienten empfiehlt Houben (1984) eine psychodynamische Beratung, wenn es Anzeichen für eine Beruhigung infantiler Konflikte gibt, wenn eine seit kurzem auftretende Krise ohne neurotische Regression stattgefunden hat oder das Beratungsanliegen aus aktuell unbefriedigenden zwischenmenschlichen Beziehungen besteht. Auch die Bewältigung normaler Entwicklungskrisen und eine gewisse Flexibilität in der Anpassung an veränderte ­Lebensumstände sind Indizien für eine ausreichende Stabilität von Klienten und begründen eine Indikation zu einer Beratung (Houben, 1984). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Darüber hinaus sollte untersucht werden, ob der Ratsuchende über einen ausgeprägten Veränderungswunsch und über realisierbare Handlungsalternativen verfügt (Houben, 1984). Trimborn (2008) weist darauf hin, dass die angestrebte progressive Bewegung für Klienten mit Frühstörungsanteilen schwierig ist, weil diese in Krisen Zuflucht zu regressiven Konfliktlösungen nehmen und nachhaltig an ­ihnen festhalten. Houben (1984) rät deshalb, vor Beginn der Beratung diagnostisch zu prüfen, ob der Klient eigenen Ohnmachtsgefühlen nachgibt und passiv-gelähmt auf Herausforderungen reagiert oder ob er offensiv und konstruktiv nach Wegen sucht, mit Schwierigkeiten fertig zu werden (Houben, 1984). Eine offensive und konstruktive Bewältigungsform kommt dem beraterischen Vorgehen entgegen. Andere psychoanalytische Indikationskriterien wie die Fähigkeit zu einem Arbeitsbündnis und zur therapeutischen Ichspaltung, die Ichstärke und vorbewusste Repräsentanz des Konflikts gehen in die Indikationskriterien für eine psychoanalytische Beratung ebenfalls ein (Vogt, 1980). Daneben spielen die Bindungsfähigkeit und Trennungstoleranz des Klienten, seine Motivation zum niederfrequenten Arbeiten sowie seine Toleranz und Akzeptanz für die Begrenzungen eines kurzzeittherapeutischen Settings eine Rolle (Dreyer u. Schmid, 2008). In der Praxis gibt es jedoch eine weitere Klientengruppe, die eine Beratung in Anspruch nimmt, weil für sie aus unterschiedlichen Gründen keine Psychotherapie in Frage kommt: Neben den Klienten, deren konkrete Lebenssituationen eine längerfristige Therapie nicht zulässt, gibt es solche, die das verbindliche Setting einer Psychotherapie oder Psychoanalyse mit ihren klaren Zeit- und Rollenvereinbarungen und ihrem dichten, regelmäßigen Kontakt aufgrund einer gravierenden Bindungsstörung nicht aushalten. Sie benötigen ein Setting, in dem sie kommen und gehen können und das mit größeren Abständen über eine unter Umständen lange Zeit. Bei Klienten mit einem ausgeprägten sekundären Krankheitsgewinn oder Ich-syntonen Symptomen ist zudem eine Motivation zu längerfristigen psychotherapeutischen Behandlungen nur schwer herstellbar. In diesen Fällen hat das Umfeld der Klienten den Problemdruck und drängt auf Abhilfe oder der Klient leidet an den konkreten Auswirkungen seines Handelns, verortet seine Probleme aber im sozialen Umfeld. Diese Beispiele machen deutlich, dass Beratungsklienten im klinischen Sinne nicht unbedingt »gesünder« sein müssen als Psychotherapiepatienten. In diesen Fällen kann eine Beratung zur Entwicklung eines Problembewusstseins oder zum Einüben einer reflektierenden Haltung beitragen und so eine Psychotherapie vorbereiten helfen.

Wenig Zeit ... aber ein konstruktiver Umgang mit ihr: Der Fokus in der Beratung Kennzeichnend für einen Beratungsprozess ist der kurze Zeitrahmen, der für die Behandlung zur Verfügung steht. Die in der Literatur beschriebenen Beratungen umfassen einen Zeitrahmen von zehn bis 25 Stunden (Vogt, 1980; Volger, 1998). Das Ende der Beratung steht also häufig schon zu Beginn der Behandlung fest. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Scharff (1994) und Leuzinger-Bohleber (1985) weisen darauf hin, dass es günstig ist, einen organischen Zeitpunkt (z. B. den Beginn von Ferien) für das Ende des Prozesses zu wählen. Eine Arbeit in einem derart knapp bemessenen Zeitfenster erfordert eine strikte Prioritätensetzung. Eine gewisse inhaltliche Fokussierung ergibt sich schon aus dem Auftrag der Beratungsstelle. Diese Art des Fokus (z. B. Erziehungsfragen in einer Erziehungsberatungsstelle, Drogenprobleme in einer Drogenberatungsstelle) betrifft die manifeste Beratungsebene und wird in der psychoanalytischen Beratung durch einen psychodynamisch akzentuierten Fokus ergänzt: Er bezieht sich auf den inneren, dem Klienten unbewussten Konfliktzusammenhang. Die psychodynamische Beratung fasst dann den Teil der äußeren Lebensschwierigkeit ins Auge, der durch die unbewusste Bedeutung der aktuell schwierigen Lebenssituation mitbestimmt wird. Dazu nimmt sie ihren Ausgangspunkt in einem relevanten, aktuellen, psychosozialen Konflikt des Klienten und den dort sichtbaren habituellen Lösungsmustern oder pathologischen Kompromissbildungen. Auch wenn es eine größere Anzahl problematischer Lebensbereiche geben sollte, fokussiert man den Beratungsprozess auf einen zentralen Konflikt, versucht also bewusst nur Teilziele zu erreichen und durch eine erfolgreiche Lösung dieser Teilziele eine günstige Gesamtentwicklung des Klienten anzustoßen. Lachauer (Klüwer u. Lachauer, 2004) schlägt methodisch die Formulierung eines Fokalsatzes vor, der aus dem Gesamtspektrum des Symptomfeldes das Hauptsymptom herausarbeitet und mit ­seinem unbewussten Hintergrund verbindet. Selbst wenn der Fokalsatz und das dahinter liegende psychodynamische Konfliktverständnis dem Klienten gegenüber nicht genannt wird, kann der Fokalsatz doch eine Verstehens- und Handlungsrichtung für den Berater darstellen. Der Fokus kann auch mit einer in die Zukunft weisenden heilenden Phantasie verbunden werden (Lachauer, 2004). Die Fokussierung erfordert eine Modifikation der im klassischen Setting praktizierten therapeutischen Grundregeln. Die freie Assoziation (auf Seiten der Klienten) und die gleichschwebende Aufmerksamkeit (auf Seiten der Therapeuten) sind afokale Elemente und öffnen einen Raum zum Verstehen unbewusster Aspekte eines Problems. Demgegenüber sind fokale Arbeitsphasen auf ein bestimmtes Problem und seine Lösung hin ausgerichtet. Während in der Psychoanalyse afokale Behandlungsphasen dominieren, kommen diese in der Beratung nur in beschränktem Maße zum Einsatz. Stattdessen werden in der psychodynamischen Beratung sowohl afokale als auch fokale Elemente eingesetzt. Konkret bedeutet dies, dass die in der Psychoanalyse übliche freie Assoziation in Beratungsprozessen nicht angebracht ist, weil das Thema zu sehr ausufern würde. Statt der freien Assoziation wird in einer psychodynamischen Beratung eine punktuelle, d. h. fokussierte Assoziation vorgeschlagen. Auf Seiten der Berater wird die gleichschwebende Aufmerksamkeit zwar eingesetzt, weil nur so ein Raum für neue Einfälle offengehalten wird (Scharff, 1994; Leuzinger-Bohleber, 1985), aber ihr sind im Setting der Beratung enge Grenzen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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gesetzt, weil dem Berater nur selten ruhige Momente für eine abwartende und reflektierende Haltung bleiben. Vogt (1980) weist zudem darauf hin, dass die gleichschwebende Aufmerksamkeit in der Beratung auch eine spezifische Akzentuierung erfährt: Sie richtet sich stärker auf die Wahrnehmungsebene als auf die Vorstellungsebene. Vor allem die Wahrnehmung gegenseitiger (Austausch-)Prozesse steht im Vordergrund. Nach Leuzinger-Bohleber (1985) sollten das spezifische Fragenkönnen und die Selektivität der Aufmerksamkeit in ausgewogener Verbindung mit Phasen der Offenheit, des Schweigenkönnens und der gleichschwebenden Aufmerksamkeit stehen. Nach ihrer Erfahrung ist dies eines der schwierigsten technischen Probleme psychodynamischer Beratung.

Die Folgen des Settings: Handlungsdialog versus Abstinenzgebot in der psychodynamischen Beratung Zentral für den psychodynamischen Beratungsansatz ist die Beachtung von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen. Sandler definiert Übertragung als »eine spezifische Illusion [...], die sich in Bezug auf eine andere Person einstellt und die ohne Wissen des Subjekts in einigen ihrer Merkmale eine Wiederholung der Beziehung zu einer bedeutsamen Figur der eigenen Vergangenheit darstellt. Dabei ist zu betonen, daß sie vom Subjekt nicht als Wiederholung, sondern als völlig gegenwarts- und personengerecht erlebt wird. [...] Zu Übertragung gehören auch die unbewußten Versuche, Situationen mit anderen herbeizuführen oder zu manipulieren, die eine verhüllte Wiederholung früherer Erlebnisse und Beziehungen sind« (Sandler, Dare u. Holder, 1979, S. 43). Der spezifische psychodynamische Umgang mit diesen biographisch bedingten Wahrnehmungsverzerrungen des Klienten und ihren als Gegenübertragungen bezeichneten Reaktionen des Beraters besteht darin, dass sie als Werkzeug zum Verstehen des Klienten genutzt werden. In einem weiten Verständnis der Übertragung kann alles, was gesagt wird, sich auch in irgendeinem Aspekt auf die Beratungssituation beziehen. Auch hier zeigt sich die enge Verflechtung innerer und äußerer, manifester und latenter Problem­ aspekte. Scharff schreibt dazu: »Es gilt, sich von der suggestiven Wirkung, die ­Berichte über Geschehnisse in der Außenwelt haben, ein Stück weit zu distanzieren, damit das, was zunächst nur auf der Bühne äußerer Geschehnisse erscheint, auch als Aussage über die unmittelbaren Vorgänge im Hier und Jetzt der Übertragungssituation für alle Beteiligten transparent wird« (Scharff, 1994, S. 342). Auch wenn letztlich alle psychodynamischen Verfahren das Übertragungsgeschehen zur Erkenntnisgewinnung nutzen, so ist der Umgang damit doch unterschiedlich. Im Unterschied zur Psychoanalyse, die settingsbedingt eine Intensivierung der Übertragung bis zur Herausbildung einer Übertragungsneurose anstrebt, wird Übertragungsneurosen in Beratungen kein Platz eingeräumt. Beratung ist eine Arbeit mit der Übertragung, nicht in der Übertragung. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Eine milde positive Übertragung ist günstig für die Bildung eines Arbeitsbündnisses und trägt den Beratungsprozess. Sie wird vom Berater aufgenommen und genutzt, ohne sie dem Klienten bewusst zu machen. Eine milde positive Übertragung stellt sich im Allgemeinen ein, wenn Berater sich ihren Klienten gegenüber höflich und ernsthaft zuwenden. Gattig (2008) weist jedoch zu Recht darauf hin, dass die Gefühlsambivalenz nicht erwarten lässt, dass positive Übertragungen ohne ihr Gegenteil feindlich destruktiver Gefühlsimpulse auftreten. Der Berater versucht zwar die Behandlung vor destruktiven Prozessen zu schützen, aber wenn sie sich dennoch bilden und den Beratungsprozess stören, dann sollten sie auch in Beratungen thematisiert und aufgelöst werden, um das Arbeitsbündnis nicht zu gefährden. Das Abstinenzgebot, das dem Berater Zurückhaltung und Neutralität abverlangt, behält volle Gültigkeit, ist in Beratungen aber schwerer einzuhalten, weil spontanes Reagieren und Nachfragen zur Beratungssituation gehört. Da sich Berater und Klient gegenübersitzen, sind sie als interagierende Gegenüber füreinander sichtbar und die Notwendigkeit des Handelns bringt es mit sich, dass weniger Zeit zum Reflektieren bleibt und dass es schwieriger wird, eine abstinente und neutrale Haltung einzunehmen. Von daher steigt die Gefahr einer übertragungsbedingten Verstrickung mit dem Klienten im Sinne einer unbewussten Rollenübernahme (Sandler, 1976), eines Handlungsdialogs (Klüwer, 1983) und einer projektiven Identifikation (Ogden, 1988). Nicht beachtete Gegenübertragungsreaktionen begünstigen diese Verwicklung des Beraters in das Konfliktgeschehen des Klienten. In einem solchen Enactment werden bedeutungsvolle Konfliktsituationen aus der Kindheit in Szene gesetzt. Der für ein psychodynamisches Vorgehen typische Umgang mit diesem Geschehen ist das szenische Verstehen, d. h. die Entschlüsselung der Handlungsdialoge hinsichtlich der in ihr zum Ausdruck kommenden unbewussten Bedeutung. Indem der Berater die Szenen versteht, kann er sie für das Verständnis der Problemlage des Klienten nutzen. Damit die in Beratungen häufigeren Regelverletzungen des Settings in diesem Sinne nutzbar werden, rät Scharff (1994) zu klaren und verbindlichen Absprachen mit dem Klienten im Umgang mit dem Setting. Er schreibt: »Der Ratsuchende behält seine Freiheit, sich zu verhalten, wie er will, aber sein womöglich abweichendes Verhalten wird, sobald es das Setting betrifft, vor dem Hintergrund klarer Absprachen interpretierbar. Anders ausgedrückt: Verhaltensauffälligkeiten können sich konstellieren und sie fallen, da sie das Material für den Verständnisprozeß liefern, nicht aus dem Gesamt der psychoanalytischen Reflexion heraus« (Scharff, 1994, S. 332).

Klarifikation, Konfrontation, Deutung, supportive Interventionen, Projektbildung: Techniken der psychodynamischen Beratung Auch wenn in Beratungen und Therapien ähnliche Interventionsmethoden genutzt werden, so erfordern Beratungen doch eine unterschiedliche Gewichtung und Handhabung von ihnen. Methoden wie Klarifikation, Konfrontation und Pro© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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jektbildung stehen in der psychodynamischen Beratung im Zentrum (Volger, 1998) und sie werden teilweise noch unterstützt durch instrumentelle, supportive oder psychoedukative Behandlungstechniken (Haubl, 2008). Zum besseren Verständnis werden die wesentlichen Methoden nachfolgend kurz beschrieben: Mit Hilfe der Klarifikation versucht der Berater das vom Klienten angebotene Material so zu ordnen, dass aus der Fülle zunächst verwirrender und eventuell widersprüchlicher Angaben eine nachvollziehbare Abfolge seines Erlebens und Verhaltens wird. Die verschiedenen inhaltlichen und affektiven Aspekte des aktuellen Problems werden auf diese Weise auf einer manifesten Ebene geklärt. Durch eine erhöhte Selbstwahrnehmung und Differenzierung der Selbstbeobachtung gelangt der Klient zu einer erweiterten Einsicht und einer realistischeren Wahrnehmung seiner Situation. Auf diese Weise kann eine innere Lösung, Distanzierung und Abgrenzung vom Problem erfolgen. Bei der Konfrontation wird der Klient mit den widersprüchlichen und konflikt­ reichen Aspekten seines Erlebens und Verhaltens konfrontiert. Diese sind ihm zwar nicht bewusst und stehen sogar in Widerspruch zu seinen bewussten Einstellungen, aber sie lassen sich aus dem Verhalten des Ratsuchenden erschließen. Klarifikationen und Konfrontationen bereiten Deutungen vor. Mit Hilfe von Deutungen wird ein Zusammenhang zwischen dem manifesten Verhalten eines Klienten und seinen unbewussten Motiven, Wünschen und Gefühlen hergestellt. Gerade im Einsatz von Deutungen zeigt sich ein großer Unterschied zur Psychotherapie: Grundsätzlich stützen sich Berater in ihrer Arbeit stärker auf die gesunden Anteile ihrer Klienten und arbeiten bewusstseinsnah bzw. dicht an der vorbewussten Oberfläche. Von daher spielen Deutungen nicht die zentrale Rolle wie bei Psychotherapien. Es ist in der Literatur sogar umstritten, ob im Kontext einer Beratung überhaupt gedeutet werden sollte. Leuzinger-Bohleber (1985) vertritt die Position, dass Deutungen im Kontext einer Beratung nicht angemessen sind. Andere Autoren halten Deutungen auch in Beratungen für möglich und sinnvoll (Scharff, 1994; Houben, 1984). Dies gilt vor allem für negative Übertragungen und unbewusste Widerstände bei der Planung und Umsetzung von Verhaltensalternativen im Beratungsprozess. Nach Houben sollten Deutungen jedoch nur punktuell, d. h. entlang dem fokussierten Thema, eingesetzt werden (Houben, 1984; Volger, 1998). Supportive Techniken wie Ermutigung, Anerkennung, Zuspruch, Rat, Hilfe und Beistand sind wichtige Interventionstechniken in der Krisenintervention (Gröning, 2006). Krisen zeichnen sich ja dadurch aus, dass entwickelte Bewältigungsstrategien zusammenbrechen und nicht mehr die gewünschte Stabilität garantieren (Hohage, 2008). Von daher stehen die Wiederaufrichtung und der Schutz der Abwehrlage des Klienten im Vordergrund einer Krisenberatung. Sogenannte »Durchhalte-Ziele« dominieren in Krisenzeiten, weil Veränderungsziele eine gewisse Stabilität voraussetzen (Hohage, 2008). Der Einsatz supportiver Interventionen ist jedoch auch umstritten, weil sie unbeabsichtigte Nebenwirkungen zeitigen können: Daser (2000) weist darauf hin, dass dominante Helfer bei Klienten Gefühle der Abhängigkeit, der Minderwertigkeit und der beschämenden Schwäche © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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auslösen können (Daser, 2000). »Insofern wäre Zuwendung, außer in der sehr begrenzten Situation der emotionalen Krise, ein wenn auch unbeabsichtigtes Mittel zur Entmündigung des Klienten und stellt demnach keine Anerkennungsform, sondern eine Form der Missachtung dar« (Gröning, 2006, S. 84). Daser (2000) plädiert deshalb auch in Krisen für eine psychoanalytische – an Widerstand, Übertragung und Gegenübertragung orientierte – aufdeckende Arbeit. Durchsprechen und Projektbildung: Auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass Klienten zumindest eine selektive Beeinträchtigung ihres Kompetenzgefühls empfinden, sind die Behandlungsmethoden so angelegt, dass sie regressive Neigungen der Klienten bewusst begrenzen. Durch das Setting, aber auch durch die aktivere Haltung des Beraters wird einer Regressionsneigung der Klienten gegengesteuert. Der Berater bietet sich dem Klienten nicht als Objekt frühkindlicher Übertragungswünsche an, sondern tritt als konsequenter Förderer der Selbstheilungskräfte auf. Die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Klienten bleiben so gewahrt. Dies äußert sich auch darin, dass dem Klienten schneller, als dies in therapeutischen Prozessen geschieht, Verantwortungsübernahme für ihr Verhalten abverlangt wird. Für die in der Psychoanalyse praktizierte Durcharbeitung der Konflikte bleibt in den kurzen Beratungsprozessen kein Raum, von daher kann man nur von einem fokussierten Durchsprechen der Konflikte sprechen. Darüber hinaus wird die Hinwendung zur Planung von Verhaltensalternativen in den sozialen Problembereichen des Klienten angeregt (Houben, 1984). Teilweise werden sogar konkrete Projekte mit dem Klienten vereinbart, die überschaubare Verhaltensaufgaben beinhalten und der Förderung einer progressiven Entwicklungsrichtung dienen (Volger, 1998). Die in diesen Projekten gemachten Erfahrungen des Klienten werden in der Beratung reflektiert, um die durch die äußeren Veränderungen angestoßenen inneren Konflikte zu benennen und zu bearbeiten. Methodenkombination: Die Frage, ob Abwandlungen der psychoanalytischen Methode im Rahmen einer Beratung sinnvoll oder notwendig sind, wird unterschiedlich beantwortet. Das Spektrum reicht von einer konsequenten Anwendung der psychoanalytischen Theorie und Methodologie (Scharff, 1994) bis hin zu einem Methodeneklektizismus. Dreyer und Schmidt (2008) weisen auf das Problem hin, dass der eng limitierte zeitliche Umfang einer Beratung umso schwerer einzuhalten geht, desto mehr von der Spezifität der Psychoanalyse erhalten bleibt. Von daher finden sich auch Psychoanalytiker, die das aus der Psychoanalyse entlehnte Vorgehen in der Beratung stark modifizieren und beispielsweise um systemtheoretische und lösungsorientierte (Fürstenau, 2001) oder klientenzentrierte Elemente (Junkers, 1978) erweitern. Zudem finden Beratungen häufig in Kombination mit anderen Hilfestrategien (Pharmakotherapie, sozialtherapeutische Behandlungen) statt. Reimer und Rüger (2003) weisen in diesem Zusammenhang jedoch zu Recht auf die Gefahr einer »eklektizistischen Polypragmasie« hin und mahnen einen methodisch genau bedachten Gesamtbehandlungsplan an (Reimer u. Rüger, 2003). Aus psychodynamischer Perspektive müsste der Einsatz einer Methodenkombination vom Berater auch hinsichtlich ihrer latenten Bedeutung reflektiert werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Abschließend kann festgestellt werden, dass die psychodynamische Beratung einen eindeutigen Bezug auf die theoretischen Grundlagen und methodischen Vorgehensweisen der Psychoanalyse aufweist. Zugleich zeigt die Sichtung der diesbezüglichen Fachliteratur auch, dass dieser Beratungsansatz hinsichtlich seiner Ziele und Behandlungsstrategien spezifische Modifikationen vornehmen muss, um seinen Auftrag erfüllen zu können.

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Trimborn, W. M. (2008). Transformation in krisenhaften Schwellensituationen. In K.-A. Dreyer, M. G. Schmidt (Hrsg.), Niederfrequente psychoanalytische Psychotherapie. Theorie, Technik, Therapie (S. 223–245). Stuttgart: Klett-Cotta. Vogt, R. (1980). Organisation, Theorie und Technik eines psychoanalytischen Beratungsprojektes zur Ausbildung von Psychologiestudenten. Psyche – Z. Psychoanal., 32, 24–53. Volger, I. (1998). Tiefenpsychologisch orientierte Beratung. Kleine Texte aus dem ev. Zentralinstitut für Familienberatung Nr. 32, Berlin. Wißmach, S. (2008). Psychoanalyse ohne Couch. Zur Theorie und Praxis der psychoanalytischen Beratung. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Marburg.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Jürgen Körner

Psychodynamische Beratung zwischen analytischer Psychotherapie und Pädagogik

Vorbemerkungen Man kann psychodynamische Beratung (und Beratung überhaupt) auf einem Kontinuum zwischen analytischer Psychotherapie und Erziehung nach unterschiedlichen Gesichtspunkten lokalisieren: im Hinblick auf die jeweiligen Anlässe, die Ziele, die Klienten, die erforderlichen fachlichen Kompetenzen und im Hinblick auf die äußeren Merkmale, das Setting, die Frequenz, die Dauer, die in Frage kommende Finanzierung. Diese äußeren Merkmale mögen eine Klassifikation von psychodynamischer Beratung, analytischer Psychotherapie und Erziehung ermöglichen, aber sie tragen wenig dazu bei, diese drei Verfahren in ihrem methodischen Kern voneinander abzugrenzen und einander gegenüberzustellen. Der folgende Beitrag wird in seinem Hauptteil die drei Verfahren der Erziehung, der psychodynamischen Beratung und der analytischen Psychotherapie daraufhin unterscheiden, wie sie jeweils ihre Beziehung zwischen professionellem Erzieher, Berater bzw. Psychotherapeuten und ihren Klienten gestalten und für die Arbeit nutzen. In allen drei Fällen handelt es sich um eine trianguläre Beziehung, in der sich die beiden Beteiligten auf ein gemeinsames Drittes ausrichten: eine zu bewältigende Entwicklungs- oder Lernaufgabe, ein zu lösender äußerer und zugleich innerer Konflikt oder eine lebensgeschichtlich früh verankerte seelische oder psychosomatische Erkrankung, deren unbewusste Dynamik verstanden und durchgearbeitet werden soll. Dieses Dritte jenseits der pädagogischen, beraterischen oder psychotherapeutischen Dyade verleiht der jeweiligen Beziehung ihren Sinn und ihre Ausrichtung. In einem ersten Schritt möchte ich damit beginnen, das Feld dieser drei Verfahren als ein Kontinuum darzustellen, das sich zwischen den beiden Endpunkten der Erziehung auf der einen Seite und der Psychotherapie (psychodynamisch verstanden) auf der anderen Seite aufspannt. Dazwischen wird dann für die psychodynamische Beratung der Platz bestimmt werden müssen. Dass es überhaupt üblich geworden ist, die Tätigkeiten des Erziehers und die des Psychotherapeuten als Gegensatzpaar zu charakterisieren, verdanken wir ­vor allem zwei Einflüssen, die in den folgenden Abschnitten kurz gewürdigt wer­den sollen: dem Einfluss der »typisch deutschen« Bildungsdebatte seit Ende des 18. Jahrhunderts und dem Einfluss der Professionalisierung, welche die Tätigkeiten des Erziehers und des Psychotherapeuten in jüngerer Zeit in moderne Berufe verwandelte und im Zuge dieser Entwicklung fast unvermeidlich gegeneinander © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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abgrenzte. Beide Einflüsse führten dazu, dass es heute fast unmöglich erscheint, Pädagogik und analytische Psychotherapie aufeinander zu beziehen oder gar in­ einander zu integrieren. Diese »Unvereinbarkeit« von Erziehung und Psychotherapie erscheint aus einer übergeordneten Perspektive künstlich, und sie lässt die Interessen der Klienten außer Acht. Überdies erschwert sie den Versuch, den Ort einer psychodynamischen Beratung zwischen den beiden Polen von Erziehung und analytischer Psychotherapie zu bestimmen.

Die »Unvereinbarkeit« von Erziehung und analytischer Psychotherapie als Folge eines idealistischen Bildungsideals Die Methoden der psychoanalytischen Psychotherapie und die der Erziehungswissenschaft stehen seit jeher in einem Spannungsverhältnis zueinander. Auch wenn Freud (1925) von der psychoanalytischen »Nacherziehung« schrieb, weil doch zuweilen nachgeholt werden müsse, was der Patient in seiner Kindheit vermisste oder nur unzureichend entwickelte, war er doch der Ansicht, dass Psychoanalyse und Pädagogik mit unterschiedlichen Methoden und Zielen zu arbeiten hätten. Tatsächlich lässt sich auch zeigen (Körner, 1980), dass sich die psychoanalytische Behandlung von den Methoden der Pädagogik durch ihre »regrediente« Richtung unterscheidet: Während der Pädagoge mehr oder weniger klar erkennbar auf zukünftige Ziele hin orientiert ist, geht es dem Psychoanalytiker insbesondere darum, aufzuklären, wie es zu einer psychischen Fehlentwicklung kommen konnte, und erst dadurch dem Patienten die Möglichkeiten an die Hand zu geben, sich zu ändern. Diese Gegenüberstellung von regredienter und progredienter Erkenntnishaltung und Arbeitsweise ist aber nicht wirklich als Alternative aufzufassen. Denn auch der Pädagoge versucht, seinen Klienten/Zögling aus seiner geschichtlichen Situation heraus zu verstehen, und der Psychoanalytiker eröffnet in seiner Arbeit den Möglichkeitsraum des Zukünftigen, in dem der Patient seine Ziele entwickeln und verfolgen kann. Ein zweites Merkmal, mit dem Psychoanalytiker gern einen unüberwindbaren Gegensatz von Psychoanalyse und Pädagogik begründen, erscheint in der eigentümlichen »Ziellosigkeit« (Freud, 1919, S. 192; Dreyer, 2006) der psychoanaly­ tischen Methode, in der edukative und sogar supportive Techniken keinen Platz haben könnten. Bis in die jüngere Zeit hinein betonen Psychoanalytiker oft mit großer Entschiedenheit diese Besonderheit der Psychoanalyse auch gegenüber fachlich verwandten Verfahren (wie z. B. der tiefenpsychologisch fundierten ­Psychotherapie). Tatsächlich schließt die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie vor allem bei der Behandlung von schweren Persönlichkeitsstörungen edukative Techniken durchaus ein, um zum Beispiel einem Patienten zu helfen, unzulänglich erlernte Ich-Funktionen wie Realitätsprüfung, Affektkontrolle und Perspektivenübernahme nachzuentwickeln. Obwohl die tiefenpsychologisch fun© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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dierte Psychotherapie eindeutig eine Variante der Psychoanalyse darstellt, wird sie von vielen Psychoanalytikern als eine mindere Version betrachtet. Und obwohl diese Methode an den psychoanalytischen Ausbildungsinstituten seit einigen Jahren auch gelehrt wird, haben die Absolventen dieser Ausbildung keinen Zutritt zu den psychoanalytischen Fachgesellschaften. In der Betrachtung dieser oft emotional gefärbten Betonung des Alleinstellungsmerkmals der »ziellosen« Psychoanalyse gegenüber solchen Verfahren, die der erzieherischen Einflussnahme verdächtig sind (Körner, 2009), drängt sich eine Parallele auf: Die Abgrenzungsdebatte zwischen Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie, die vor allem von Seiten der Psychoanalytiker aus betrieben wird, ähnelt in ihren Grundannahmen denen zwischen Bildung und Erziehung; auch die Anhänger des Bildungsgedankens betonen sehr gern die Differenz zu den Zielen und Inhalten der Erziehung. Dabei handelt es sich um eine »typisch deutsche« Debatte. Sie gründet in einem idealistischen Bildungsbegriff, der zum Ende des 18. Jahrhunderts auftauchte und der dem Menschen die Fähigkeit zuschrieb, sich selbst zu vervollkommnen, sich also selbst zum Gegenstand der Bildung zu machen. »Das Ich wurde zum eigenen Werk des Subjekts: Ich bilde mich!« (Körner, 2009, S. 313). Bildung wurde zu einem Streben des ästhetisch empfindsamen Individuums nach Vollkommenheit und freier Selbstbestimmung, während es der Erziehung vorbehalten blieb, anderen Menschen etwas »beizubringen«, also schon festliegende Ziele mit klug ausgewählten Mitteln zu verfolgen. Derartige idealistische Ideen lassen sich auch in der Vorstellung von der reinen, »tendenzlosen Psychoanalyse« (Freud, 1919, S. 192) wiederfinden. Der psychoanalytische Prozess soll frei von suggestiven, manipulativen oder erzieherischen Einflüssen des Analytikers sein, der Analysand soll die Freiheit spüren, seine Ziele selbst auszuwählen und in eigenem Tempo zu verfolgen. In dieser Konzeption wirkt der Analytiker wie ein Begleiter, der dem Patienten hilft, sich über sein eigenes Unbewusstes klarzuwerden, um fortan nach bewussten Motiven handeln zu können. Denn unbewusste Handlungsgründe wirken wie Ursachen, sie zwingen das Subjekt zu bestimmtem Verhalten. Es genügt also, das Unbewusste bewusst zu machen, um dem Patienten ein höheres Maß an Handlungsfreiheit zu ermöglichen und selbstverantwortlich sein Leben zu gestalten. Psychoanalyse und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie werden damit in ein hierarchisches Verhältnis zueinander gesetzt: Die »reine« Psychoanalyse bewahrt das »Gold« der analytischen Arbeit (Freud, 1919, S. 193), das von dem »Kupfer« suggestiver Beeinflussung sorgfältig geschieden werden muss. Ähnlich halten es die Anhänger des idealistischen Bildungskonzeptes, das »höhere« Wertvorstellungen verfolgt als die Verwirklichung von Erziehungszielen.1 Diese kategoriale Unterscheidung von Bildung und Erziehung scheint sich auf Immanuel Kant (1803) berufen zu können. Kant hatte in seiner Schrift über Päda1 Tatsächlich lässt sich ja auch das mehrgliedrige Schulsystem mit einer »höheren« Schule auf diese Hierarchisierung zurückführen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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gogik, die 1804 posthum erschien, unterschiedliche pädagogische Ziele charakterisiert. Niederstes und frühestes Ziel sei die Disziplinierung oder »Zucht«, darüber baue sich die Kultivierung auf, danach könne die Zivilisierung versucht werden und das höchste Ziel der Pädagogik werde mit der »Moralisierung« erreicht, die wohl dem modernen Begriff der Bildung gleichzusetzen ist. Ähnlich wie das »Ziel« eines Bildungsprozesses ist das Erziehungsziel der Moralisierung gar nicht absichtsvoll zu erreichen, denn das Individuum kann nur sich selbst moralisieren. Der Pädagoge kann auf diesem Wege nur Begleiter und vielleicht auch Gegenüber sein; er kann aber dem Zögling keine Ziele vorgeben. Nun hat Illien (2004) gezeigt, dass der diametrale Gegensatz von Erziehung (Zucht) und Bildung (Moralisierung) nur einen schwachen Versuch darstellt, das pädagogische Paradoxon »Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?« (Kant, 1803/1983, S. 711) zu zerschlagen. Er stellt überzeugend dar, wie man unter Bezugnahme auf Herder (1778) die Hierarchisierung von unterschiedlichen Erziehungszielen aufheben kann, und zwar mit folgendem Argument: Die Bildung eines Menschen setze nicht erst nach der Erziehung, also der Zucht, Kultivierung etc. ein, sondern schon im ersten Augenblick des menschlichen Lebens, und zwar immer dann, wenn das Kind in liebevollen Beziehungen zu seinen Eltern erfährt, dass es »zur Gesellschaft gebohren« ist (Herder, 1791/1985, S. 126). Die Tatsache der überragenden Bedeutung der Beziehung zwischen Erzieher und Zögling hebt also die Unterschiede zwischen Bildung und Erziehung tendenziell auf und lässt erkennen, dass die Bildung schon in den ersten Lebenstagen einsetzt.21 Diese Einsicht in das Primat der Beziehung überwindet den kategorialen ­Gegensatz von Bildung und Erziehung, und sie ist gleichermaßen geeignet, ­die ­Gegenüberstellung von »tendenzloser« Psychoanalyse und »pädagogischer« ­tiefenpsychologischer Psychotherapie zu überwinden. Sie könnte auch geeignet sein, die Unvereinbarkeit von psychoanalytischen und pädagogischen Methoden zu ­relativieren; jetzt käme es darauf an, sorgfältig zu untersuchen, wie denn die Be­ziehungsverhältnisse im Fall analytischer Therapie auf der einen Seite, im Fall erzieherischer Prozesse auf der anderen Seite und dazwischen im Fall psychodynamischer Beratung verstanden werden müssen.

Die Unvereinbarkeit von Psychoanalyse und Erziehung als Folge voranschreitender Professionalisierung Die Berufe des Psychotherapeuten und des Pädagogen haben sich in unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlichem Erfolg professionalisiert. Psychotherapeuten gelang es in den letzten Jahren, ihre Tätigkeit über die Stufenleiter der Pro2 Es ist gut zu erkennen, dass Herder u. a. von Rousseau und seinem Erziehungsroman »Emile oder über die Erziehung« von 1762 beeinflusst war. Rousseau beschrieb den Bildungsprozess eindrücklich als Beziehungsgeschehen.  © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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fessionalisierung zu entwickeln und diese Entwicklung erfolgreich abzuschließen. In relativ kurzer Zeit – verglichen zum Beispiel mit den Berufen des Arztes und dem des Juristen – haben sie zeigen können, dass ihre Tätigkeit, also das psychotherapeutische Handeln, gesellschaftlich nützlich und notwendig ist, sie haben nachgewiesen, dass man diese Tätigkeit in langen Weiterbildungen erlernen muss, haben selber diese Lernprozesse organisiert und curricular festgeschrieben, Berufsverbände gegründet, die die Einhaltung dieser Weiterbildungen überwachten, die Berufszugänge definierten und das Niveau ihrer Abschlüsse hochhielten. Dann haben sie mit dem Psychotherapeutengesetz von 1999 erreicht, dass sie das Monopol auf diesen Beruf erhielten, sie erreichten den Titelschutz (»Psychologischer Psychotherapeut«) und schließlich sogar eine Gebührenordnung, die ihnen zwar nur ein bescheidenes, aber sicheres Einkommen garantiert. Pädagogen hingegen ist die Professionalisierung nur halbwegs gelungen,­ man nennt ihren Beruf zuweilen auch »semiprofessionell«, weil sie der Öffentlichkeit nur mit Mühe die Einsicht vermitteln konnten, dass die Tätigkeit des Er­ ziehens überhaupt gelernt werden muss, und nur im Fall des Schullehrers ist es ihnen gelungen, eine geregelte Ausbildung durchzusetzen. Wenn die Einführung der erziehungswissenschaftlichen Diplomstudiengänge (z. B. Sozialpädagogik, ­Erwachsenenpädagogik, Kleinkindpädagogik) im Jahre 1969 einen erfolgreichen Professionalisierungsschritt darstellte, so bedeutet die Abschaffung dieser diszi­ plinär verankerten Studiengänge und ihre Verwandlung in Bachelor-/Masterstudiengänge heute einen Rückschritt in der Professionalisierungsentwicklung dieser Berufe. Pädagogen sind von den höheren Stufen einer Professionalisierungsentwicklung also abgeschnitten. Sie werden ein Monopol ihrer beruflichen Tätigkeit nicht erreichen, ebenso wenig wie einen Titelschutz oder gar eine Gebührenordnung. Die Vorteile eines Professionalisierungsprozesses für die Angehörigen eines Berufes liegen auf der Hand: Sie erreichen ein Monopol, können die Auswahl ihres Nachwuchses weitgehend selbst bestimmen und den Berufszugang verengen, um ihren Berufsangehörigen das Einkommen langfristig zu sichern. Die Nachteile ­einer Professionalisierung sind weniger leicht zu erkennen: Das »unprofessionelle« Laienhandeln wird entwertet und nur noch diejenigen Verfahren, die im Zuge der Professionalisierung anerkannt wurden, dürfen zukünftig ausgeübt werden. Am Beispiel der Psychotherapeuten zeigt sich, dass außer den drei »Richtlinienverfahren« analytische Psychotherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Verhaltenstherapie kein anderes Verfahren mehr ausgeübt werden darf, zumindest nicht mehr von den Krankenkassen finanziert wird. Systemische Psychotherapie, Gestaltpsychotherapie und bis zum heutigen Zeitpunkt auch die Gesprächspsychotherapie sind damit aus der Versorgungslandschaft ausgeschlossen. Von großem Nachteil ist auch, dass es sehr schwer sein wird, neue psychotherapeutische Verfahren zu entwickeln. Denn bevor sie als ein neues Richtlinienverfahren anerkannt werden könnte, müsste die neue Methode ja ihre Wirksamkeit, ggf. ihren Zusatznutzen nachgewiesen haben. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Es ist leicht zu sehen, dass die Professionalisierung des Psychotherapeutenberufes die Abgrenzung zu pädagogischen Verfahren verschärfte. Denn die Psychotherapierichtlinien schreiben exakt vor, welche Leistungen mit welcher Indikation von der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden. Ausdrücklich ausgeschlossen ist zum Beispiel die psychotherapeutische Behandlung von Beziehungskonflikten, hier wird eine scharfe Grenze zwischen dem SGB V und zum Beispiel dem SGB VIII (mit der Jugendhilfe) gezogen. Wenn zum Beispiel ein Jugendlicher sozial auffällig geworden ist, kann er vielleicht mit pädagogischen Methoden gut betreut werden. Übersteigt aber seine Problematik die Möglichkeiten einer pädagogischen Intervention, muss er das System Jugendhilfe verlassen und in das System Krankenbehandlung verschoben werden. Er trifft dort nicht nur auf andere Menschen, sondern auch auf andere Methoden, ein anderes Behandlungssetting, und die Ziele der Arbeit mit ihm ändern sich auch.31 Vom Jugendlichen aus betrachtet, sind diese Systemgrenzen unnatürlich. Es kann ihm gleichgültig sein, ob seine Problematik eher ein Fall für die Jugendhilfe oder einer für die Psychotherapie sein soll, aber die Folgen dieser Zuordnung sind für ihn sehr gravierend. Welchen Platz könnte nun die psychodynamische Beratung zwischen der analytischen Psychotherapie im System des SGB V und den erzieherischen Methoden im System des SGB VIII einnehmen? Vom Klienten her betrachtet mag es einfach sein, den Beratungsbedarf zu definieren (darüber im nächsten Abschnitt mehr), aber vom Leistungsträger her und angesichts der Gebundenheit psychotherapeutischer Methoden an die Psychotherapierichtlinien dürfte es schwierig sein, psychodynamische Beratung als ein eigenes Verfahren zu etablieren.

Psychodynamische Beratung zwischen analytischer Psychotherapie und Pädagogik Die in den zurückliegenden Abschnitten beschriebenen Einflüsse des »typisch deutschen« Bildungsbegriffs und der Professionalisierung insbesondere des Berufes des Psychotherapeuten haben dazu geführt, dass psychoanalytisch-therapeutisches und pädagogisches Handeln heute als kategorial verschieden aufgefasst werden. Wenn man von der Klientel und ihren Bedürfnissen her denkt, erscheinen diese Einflüsse sachfremd. Sie sollten im Folgenden außer Acht gelassen werden, um zu versuchen, die Pole des analytisch-psychotherapeutischen und des erzieherischen Handelns nicht als alternative Gegensätze, sondern als Endpunkte eines 3 Die anstehende Novelle des Psychotherapeutengesetzes führt schon im Vorfeld zu heftigen Auseinandersetzungen darüber, welche Qualifikationen ein Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut erworben haben muss: Soll er das Berufsfeld des Pädagogen kennengelernt haben, soll er sich gar pädagogische Methoden angeeignet haben oder genügt es, wenn er nach einem Psychologiestudium mit der Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten beginnt? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Kontinuums aufzufassen. Nur dann nämlich wird es gelingen, einer Methode wie der psychodynamischen Beratung einen Platz zwischen diesen beiden Polen auf dem Kontinuum zuzuweisen. Wie lässt sich dieses Kontinuum beschreiben? Allen genannten Situationen, den psychoanalytisch-psychotherapeutischen, den erzieherischen und auch den beraterischen, liegt eine trianguläre Struktur zugrunde. Immer handelt es sich um eine professionelle Beziehung zwischen mindestens zwei Beteiligten und um eine Aufgabe oder ein Ziel, das die beiden zusammengeführt hat und auf das hin sie ihre gemeinsame Arbeit ausrichten.4 Wie die beiden Beteiligten ihre Beziehung zueinander gestalten, welche Methoden der Pädagoge/Berater/Psychotherapeut anwendet und wie die beiden ihre Aufgaben untereinander verteilen, hängt maßgeblich von den Anforderungen der gemeinsamen Aufgabe ab.1 Worin liegen dann die Unterschiede? Die psychoanalytische Therapie auf dem einen Pol des Kontinuums konstruiert eine Situation, in der das Dritte, die gemeinsame Aufgabe, nur eine sehr geringe Rolle zu spielen scheint. Insbesondere dann, wenn sich der Psychoanalytiker als Anhänger der »reinen«, »tendenzlosen« Psychoanalyse versteht, wird er sich weigern, seine Arbeit mit dem Patienten auf konkrete Ziele hin auszurichten. An dieser Indifferenz gegenüber jedweder Zielstellung wird er auch dann festhalten, wenn der Patient mit einem konkreten Anliegen, zum Beispiel der Heilung von einem bestimmten psychischen oder psychosomatischen Symptom, in die analytische Psychotherapie kommt. Zwar dient die analytische Psychotherapie als Krankenbehandlung selbstverständlich der Heilung von seelischer Krankheit und der Linderung der Symptome. Aber der Psychoanalytiker ist überzeugt, dass eine Ausrichtung auf diese konkrete Zielstellung wenig nützlich wäre. Vielmehr wird er versuchen, die zugrunde liegenden Konflikte oder Defizite so zu bearbeiten, dass sie ihren pathogenen Einfluss verlieren. Diese eigentümliche »Ziellosigkeit« (Dreyer, 2006) kennzeichnet auch – oder sogar insbesondere – die Lehranalyse. Gerade sie soll dazu dienen, dass der Analysand sich selbst und sein Unbewusstes kennenlernt, um so in seinen Beziehungen zu eigenen Patienten offener zu sein, empathischer reagieren zu können, eigene Vorbehalte, Motive und Konfliktneigungen zu erkennen – Ziel der Lehranalyse ist es aber nicht, dem Analysanden vorzuschreiben, welche Wege die analytische Psychotherapie geht und welche Methoden dabei zur Anwendung kommen. Die Lehranalyse erfüllt keine didaktische Funktion.52 Die Abwesenheit erkennbarer oder gar vereinbarter Ziele führt dazu, dass der psychoanalytische Dialog einem Selbstzweck zu folgen scheint. Der Analysand soll sich selbst erforschen, dabei möglichst frei assoziieren und sich darüber mitteilen. 4 ���������������������������������������������������������������������������������������� Ruth Cohn (1988) hat diese Triangularität in ihrem populären Entwurf der Themenzentrierten Interaktion (TZI) ausgearbeitet. 5 Es mag dahingestellt bleiben, inwieweit der Lehranalysand nicht doch auch das Ziel verfolgt, innere Konflikte zu bearbeiten, und inwieweit die beiden Beteiligten wirklich die Frage suspendieren können, ob der Analysand durch die Lehranalyse ein guter Analytiker werden wird oder nicht. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Aber die in jeder sozialen Situation zu beantwortende Frage, »was hier eigentlich los ist« (Goffman, 1974), bleibt unbeantwortet, vielmehr ist der Analysand darauf angewiesen, seine Vorstellung von der analytischen Beziehung selbst zu entwickeln und im Dialog mit dem Analytiker auszugestalten. Das ist auch so gewollt: Der Analysand entwirft subjekthaft seine Beziehung zum Analytiker, und er folgt dabei seinen großenteils unbewussten inneren Arbeitsmodellen von menschlichen Beziehungen; er kann auch gar nicht anders, weil der Analytiker sich sehr weit zurückhält, also abstinent bleibt und wenig Persönliches preisgibt. So wird Übertragung und Übertragungsanalyse nicht nur möglich, sondern auch notwendig. Der Analytiker erkennt in dem Beziehungsentwurf seines Analysanden und darin, wie dieser ihn verwendet, dessen Arbeitsmodell von Beziehungen; der Analytiker widerspricht dieser Inszenierung nicht, sondern versucht sie zu verdeutlichen und in Deutungen nahezubringen. Ziel ist es natürlich, dass dem Analysanden seine Arbeitsmodelle bewusst werden und dass er einsieht, dass er ihnen schon viele Jahre lang folgte, ohne es zu bemerken. Jetzt, da er sie wahrgenommen hat, kann er sich gegen sie entscheiden.61 Dass der Analytiker sich abstinent verhält, soll dem Patienten also die Möglichkeit eröffnen, seine Beziehung zu ihm ganz nach seinen inneren, unbewussten ­Arbeitsmodellen zu gestalten. Die Abstinenz verbietet dem Analytiker, diesem Entwurf zu widersprechen, selbst dann, wenn er sich zu eigenem Missvergnügen sehr verzerrt wahrgenommen sieht. Aber er wird den Patienten mehr und mehr darauf aufmerksam machen, dass dieser seinen Beziehungsentwurf nicht nur (vielleicht sogar nur sehr wenig) an der Realität, also wie der Analytiker »wirklich« ist, ausrichtete, sondern diese Beziehung nach seinen Erwartungen entwarf. Das heißt, der Analysand soll das fiktionale, virtuelle seines Beziehungsentwurfes verstehen. Ziel dieser Fiktionalisierung ist es nicht, den Analysanden anzuhalten, seine Fiktion gegen die »richtige« Auffassung vom Analytiker einzutauschen – bis zum Ende der Analyse wird undeutlich bleiben, wie der Analytiker »wirklich« ist. Entscheidend ist, dass der Analysand einsieht, dass er seine Beziehung zum Analytiker und seine sozialen Beziehungen überhaupt subjekthaft entwirft; diese Einsicht könnte ihm die Möglichkeit geben, über diese Entwürfe nachzudenken und sie vielleicht auch zu ändern. Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen gelingt es oft nicht, das Fiktionale ihrer Beziehungsentwürfe zu erkennen. Sie bestehen zum Beispiel darauf, dass der Analytiker wirklich so ist, wie sie ihn sehen. Dann ist es schwierig, mit ihnen analytisch zu arbeiten, und sie werden in ihren alltäglichen sozialen Konflikten ihren eigenen subjekthaften Beitrag nicht erkennen können. Für solche Patienten hat die Psychoanalyse Varianten ihrer Technik entwickelt, um ihnen zu ermöglichen, das Fiktionale ihrer Beziehungsentwürfe zu durch6 Es soll hier außer Acht gelassen werden, dass die rein kognitive Arbeit, das Bewusstwerden der eigenen Übertragungsneigung, vielleicht eine notwendige, aber wohl doch keine hinreichende Bedingung für die therapeutische Veränderung ist. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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schauen. In der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie (Streeck, 2007) zum Beispiel gibt der Analytiker dem Patienten immer wieder Rückmeldungen darüber, wie dieser sich in der therapeutischen Beziehung verhält, wenn er zum Beispiel sehr rücksichtslos oder voreingenommen oder mit paranoiden Gedanken auftritt. Indem der Therapeut seine innere Antwort dosiert zu erkennen gibt (»Ich finde, dass Sie mich jetzt sehr entwerten«), eröffnet er dem Patienten die Möglichkeit, über die Differenz zwischen seinem eigenen Entwurf und der Antwort des Therapeuten nachzudenken und so schrittweise das Fiktionale seines Beziehungsentwurfes zu erkennen. Mit den Varianten der interaktionellen und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie haben wir den Pol der »ziellosen«, aber intensiv fiktionalisierenden analytischen Psychotherapie verlassen und sind einen großen Schritt in Richtung auf den Pol eines erzieherischen Handelns gegangen. Um auch diesen Pol mit einem extremen Beispiel zu charakterisieren: Es gibt erzieherische Situationen, in denen das Dritte, das gemeinsame Ziel, einen überaus bestimmenden Einfluss ausübt und die Beziehung und die Methoden der gemeinsamen Arbeit und die Rollenverteilung zwischen den beiden Beteiligten nahezu vollständig bestimmt. Fahrschüler und Fahrlehrer zum Beispiel kommen mit einem sehr klar definierten Ziel zusammen, und ihre pädagogische Beziehung wird von diesem Ziel weitgehend bestimmt. Selbst wenn der Fahrschüler die Neigung hätte, seine Beziehung zum Fahrlehrer subjekthaft auszugestalten – zum Beispiel könnte er sich in den Fahrlehrer verlieben oder er könnte ihn als einen Lehrer wahrnehmen, der ihm nur zeigen möchte, wie dumm er ist, und der sich freute, wenn er in der Fahrprüfung durchfiele –, käme das Fiktionale dieses Beziehungsentwurfes wohl kaum je zur Sprache. Vielleicht ist der Fahrlehrer sehr klug, und er erkennt den Beziehungsentwurf, und vielleicht spricht er ihn sogar an, um ein hohes Lernhindernis zu überwinden (z. B. könnte er dem Fahrschüler sagen, dass er den Eindruck habe, dass dieser ihn als überkritisch wahrnehme), aber dann hätte der Fahrlehrer seine Rolle verlassen und hätte sich auf dem Kontinuum zwischen analytischer Psychotherapie und Erziehung einen kleinen Schritt in Richtung auf die Psychotherapie zubewegt, weil er das Fiktionale der Situation zum Gegenstand des Dialoges gemacht hätte. Körner und Müller (2009) haben die unterschiedlichen Varianten pädagogischer Situationen danach eingeteilt, inwieweit sie die Fiktionalisierung der pädagogischen Situation wahrnehmen und für die gemeinsame Arbeit mit dem Edukanden nutzen. Nahe an jenem Pol, der am weitesten von der analytischen Therapie entfernt ist, auf dem also nur wenig die Fiktionalität der pädagogischen Situation und die des Entwurfs von der Welt zugelassen und zum Gegenstand werden kann, liegt, so Körner und Müller, die »ressourcenverwaltende« Tätigkeit eines Pädagogen: Der Pädagoge bietet eine Dienstleistung an, er leitet zum Beispiel ein Jugendfreizeitheim, in welchem es eine Reihe von klaren Regeln zu beachten gibt, oder arbeitet als Schuldnerberater, also mit Klienten, deren materielle Realität unbedingt beachtet werden muss. Ähnlich wie im Fahrlehrer-Beispiel wird der Päda© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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goge auch in diesen Fällen vermutlich sehr wenig darauf eingehen, inwieweit der Klient einem subjektiven Entwurf von Beziehungen – hier in der pädagogischen Beziehung und in seiner sozialen Realität überhaupt – folgt, in welchem Ausmaß er seinen Gläubigern Motive zum Beispiel von Rachsucht, Willkür oder Verlogenheit unterstellt. Sofern der Pädagoge psychoanalytisch orientiert ist, könnte er aber vielleicht doch versuchen, die subjekthaften Entwürfe seines Klienten einzubeziehen, um ihm zu helfen, seine Sicht von der sozialen Welt als selbst entworfene zu erkennen und vielleicht zu korrigieren. Körner und Müller (2009) haben drei weitere (sozial)pädagogische Situatio­nen beschrieben, die dadurch in eine aufsteigende Rangreihe gebracht werden können, dass sie zunehmend mehr die Fiktionalität der Situation und zunehmend weniger ihre Eigenmacht zum Gegenstand der gemeinsamen Arbeit mit dem Klienten machen: zunächst die »elternersetzende Erziehungstätigkeit«, ­sodann die »Wissen und Können vermittelnde Tätigkeit«, zum Beispiel die des Lehrers, und schließlich die »Beratung«. Von allen pädagogischen Situationen ist also die Beratung diejenige, in der am ehesten verstanden werden kann, dass es nicht nur um die Alltagsrealität, also um das »wirkliche« Leben geht, sondern dass es möglich sein könnte, die Anforderungen der Wirklichkeit und die Auffas­sung darüber, wie sie »wirklich« ist, zeitweilig zu suspendieren, um (1) ihren Entwurfscharakter zu erkennen und (2) einen Möglichkeitsraum zu schaffen, in dem neue Sichtweisen und vor allem neue Lösungsmöglichkeiten entworfen werden können. Bevor wir versuchen können, den Standort der psychodynamischen Beratung auf dem Kontinuum zwischen analytischer Psychotherapie und Erziehung zu bestimmen, möchte ich daran erinnern, zu welchem Zweck wir unseren Klienten anregen, seine Entwürfe von sich, von der Situation zwischen uns und von seiner sozialen Welt in ihrem subjekthaften Charakter wahrzunehmen, sie also zu fiktionalisieren: Unser Ziel ist es nicht, dem Klienten zu helfen, seine möglicherweise verzerrte Sichtweise zugunsten einer »korrekten« Anschauung von der Realität zu ändern. Sondern er soll verstehen, dass die Eigenmacht der Realität, die ihm da gegenübertritt, zu einem guten Teil in seinen eigenen Phantasien gründet. Diese Subjekthaftigkeit des Realitätsentwurfes zu erkennen ist dann besonders wichtig, wenn sie dazu beiträgt, dass sich der Klient immer wieder auf ähnliche Weise verstrickt und diese Verstricktheit deswegen nicht durchschaut und auch nicht ändern kann, weil er seine darin zur Wirkung kommenden unbewussten Phantasien nicht bewusst erlebt. Ein Beispiel: Klienten der Schuldnerberatung leiden nur selten unter dem Problem, dass sie einfach nicht rechnen können oder durch einen Unglücksfall unvorhersehbar in große Schulden geraten wären. Viel häufiger ist zu erkennen, dass sie ihre Realität verkennen, indem sie zum Beispiel glauben, dass ihnen das, was sie sich – auf Kredit – genommen haben, auch wirklich zusteht und dass man einen Verzicht von ihnen nicht verlangen könne. Oder aber sie sind unbewusst davon überzeugt, ein plötzlicher Lottogewinn oder eine überraschende Erbschaft würde © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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ihre finanziellen Engpässe öffnen. Die Beratungsarbeit mit diesen Klienten sollte zwar einerseits die Eigenmacht der Realität zur Geltung bringen, zum anderen aber ist es wichtig, die subjekthaften Realitätsentwürfe des Klienten zu erkennen und soweit möglich zu korrigieren. Nun ist das Beispiel von der Schuldnerberatung eines, in dem die Eigenmacht der Realität eine vergleichsweise dominierende Rolle spielt. Und doch kann es sogar in diesem Fall sinnvoll sein, die Fiktionalität des Realitätsentwurfes durch den Klienten (z. B. die unbewusste Überzeugung »Mir steht eigentlich alles zu«) zum Gegenstand der gemeinsamen Arbeit zu machen. Andere Beratungsanlässe und -formen ermöglichen eine sehr viel weitergehende Fiktionalisierung der Wirklichkeit; zum Beispiel könnte es in einer Partnerschaftskonfliktberatung im Vergleich zu einer Schuldnerberatung noch sehr viel produktiver sein, die Virtualität der wechselseitigen Beziehungsentwürfe zum Gegenstand zu nehmen. Wie immer auch das Spannungsverhältnis von Eigenmacht der Realität mit ihrem Anforderungscharakter einerseits und möglicher Virtualisierung des Realitätsentwurfes andererseits bestimmt werden muss: In allen Fällen psychodynamischer Beratung gehört die Arbeit am Entwurfscharakter der Wirklichkeit zum methodischen Kern. »Psychodynamisch« heißt also, dem Klienten helfen, den Entwurfscharakter seiner Realitätswahrnehmung zu erkennen, darin einen der inneren Gründe für seine äußeren Konflikte zu sehen, um dann Lösungsmöglichkeiten entwickeln zu können. Unter dieser Perspektive kann der psychodynamischen Beratung tatsächlich ein Ort zwischen analytischer Psychotherapie und Erziehung zugewiesen werden; allerdings liegt dieser Ort nicht wie ein Punkt auf dem Kontinuum zwischen den beiden Polen, sondern er ist selber ausgedehnt: Am einen Ende stehen psycho­ dynamische Beratungen, bei denen die Arbeit am subjekthaften Beziehungsentwurf eine eher geringe Rolle spielt (wie in der Schuldnerberatung), am anderen Ende liegen Beratungsanlässe, die ohne eine Fiktionalisierung des Wirklichkeitsentwurfes durch den Klienten gar nicht durchschaut und durchgearbeitet werden können. Man denke zum Beispiel an Studierende, die wegen erheblicher Arbeitsstörungen eine Beratungsstelle aufsuchen. Zwar darf auch im Fall einer Arbeitsstörung die Eigenmacht der Realität nicht außer Acht gelassen werden (zu viele Prüfungs­termine, mangelhafte Arbeitstechniken etc.), aber in sehr zahlreichen Fällen gründen Arbeitsstörungen doch in einer subjekthaften Ausgestaltung der so­zialen Wirklichkeit: Größenphantasien des Studierenden darüber, wie perfekt seine Leistungen »eigentlich« sein müssten, ein mehr oder weniger bewusster Protest gegen die ­Erwartungshaltungen der Hochschullehrer oder der Institution und vielleicht auch eine erlernte Passivität und ansprüchliche Erwartungshaltung (Heigl, 1969; Lüders, 1967, 1974). Das Motiv, in der psychodynamischen Beratung die Auffassung des Klienten von seiner sozialen Wirklichkeit zu fiktionalisieren, gerät unvermeidlich in Konflikt mit der Eigenmacht der Wirklichkeit und ihrem Anforderungscharakter. In dem Versuch, diesen Konflikt zu lösen, können nach allen Seiten hin Fehler ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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macht werden: Eine Fiktionalisierung über den Geltungsanspruch der Wirklichkeit hinweg könnte zu schweren Anpassungsstörungen führen; im Fall des arbeitsgestörten Studenten zum Beispiel wäre das Scheitern im Studium wohl die unvermeidliche Folge. Im gegenteiligen Fall, wenn also der subjekthafte Beziehungsentwurf kaum oder gar nicht zur Sprache käme, wäre vielleicht eine Anpassung zu erreichen, aber die persönlichen Ressourcen des Klienten blieben weitgehend ungenutzt. Im Beispiel: Der arbeitsgestörte Student würde vielleicht mit Hilfe effektiver Arbeitstechniken seine Examina bestehen, aber sein innerer Konflikt zwischen Größenanspruch und Selbstwahrnehmung bliebe eine stetige Quelle von Unzufriedenheit. Es wäre eine lohnende Aufgabe, die Vielfalt psychodynamischer Beratungs­ anlässe und -formen daraufhin zu systematisieren, wie sie den Konflikt zwischen Fiktionalisierung der Wirklichkeitsentwürfe und Anerkennung der Eigenmacht der Wirklichkeit im Einzelfall ausbalancieren. Für den hier vorgestellten Beitrag soll es aber genügen, vorläufig eine allgemeine Regel zur Bestimmung psycho­ dynamischer Beratung zu formulieren: In psychodynamischer Beratung soll der Realitätsentwurf des Klienten fiktionalisiert werden, und zwar soweit, wie es nötig ist, um den unbewussten Konflikthintergrund zu erfassen, und soweit es möglich ist angesichts des Geltungsanspruchs und des Anforderungscharakters der Wirklichkeit. Diese Maxime lässt sich auch anwenden zur Beantwortung der Frage, inwieweit auch die beraterische Beziehung selbst in diese Fiktionalisierung einbezogen werden soll. Das wird immer dann nötig sein, wenn der Beziehungsentwurf des Klienten erkennbar analog zu seinen maladaptiven Beziehungsentwürfen im Alltag steht. Ein Student zum Beispiel, der die Beratungsstelle wegen seiner Arbeitsstörungen aufsucht, könnte ja die zunächst unbewusste Vorstellung hegen, in sehr wenigen Sitzungen das Maximale zu erreichen und entsprechend erwartungsvoll dem Berater gegenübertreten. Der Berater wird diesen Beziehungsentwurf aufgreifen und thematisieren, weil er nicht nur ein Arbeitsmodell des Klienten spiegelt, das der Student ganz analog auch in seinem Alltag anwendet, sondern weil er außerdem die gemeinsame Arbeit behindert, indem der Student selbst passiv bleibt, aber das Maximum von seinem Berater fordert. Diesen Beziehungsentwurf anzusprechen ist auch deswegen sinnvoll, weil er als Übertragung einen Widerstand gegen das notwendige Erkennen und Durch­ arbeiten darstellt. Der psychodynamische Berater wird aber diese Übertragung nicht thematisieren, um ihre unbewussten Quellen freizulegen. Das wäre in einer analytischen Psychotherapie sinnvoll, würde aber dazu führen, dass der Klient diese Phantasien (»ich erwarte das Maximum«) weiter entfaltete und seine Anspruchshaltung verstärkte. Als Folge dieser regressiven Bewegung wäre er kaum fähig, den Arbeits- und Prüfungsanforderungen seines Studiums zu begegnen. Und er wäre wohl auch kaum bereit, die auf Realitätswahrnehmung und -bewäl­ tigung zielenden Interventionen seines Beraters zu erwägen und für sich zu nutzen. Daher gilt die erwähnte Maxime, den Realitätsentwurf zu fiktionalisieren, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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»soweit es möglich ist angesichts des Geltungsanspruchs und des Anforderungscharakters der Wirklichkeit« nicht nur in Bezug auf den Geltungsanspruch der Realität im sozialen Leben des Klienten (Studien- und Prüfungsordnungen etc.), sondern auch im Hinblick auf die Rolle des Beraters, die nicht so weit fiktionalisiert werden darf, dass er seine Funktion als Stellvertreter der realen sozialen Welt verlöre.

Literatur Cohn, R. (1988). Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion (8. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Dreyer, K.-A. (2006). Niederfrequente Psychoanalyse. Die Behandlung einer thrombotisch thrombozytopenischen Purpura. Psyche – Z. Psychoanal., 60, 1077–1104. Freud, S. (1919). Wege der psychoanalytischen Therapie. GW XII. Freud, S. (1925). Gleitwort zu Verwahrloste Jugend von August Aichhorn. GW XIV. Goffman, E. (1974). Rahmen-Analyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Heigl, F. (1969). Zur Psychodynamik der Lernstörungen. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse, 15, 239–251. Herder, J. G. (1778). Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele: Bemerkungen und Träume. Riga: Hartknoch. Herder, J. G. (1791/1985). Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Mit einem Vorwort von Gerhart Schmidt. Wiesbaden: Fourier. Iien, A. (2004). Fehleingeschätzte Bildung – ein Essay. Unveröffentlichtes Manuskript. Kant, I. (1803/1983). Über Pädagogik. In: Ders., Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Band 10. (S. 691–764). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Körner, J. (1980). Über das Verhältnis von Psychoanalyse und Pädagogik. Psyche – Z. Psycho­ anal., 34, 769–789. Körner, J. (2009). Psychoanalyse und Psychotherapie, Bildung und Erziehung. Forum der Psychoanalyse, 25, 311–321. Körner, J., Müller, B. (2009). Chancen der Virtualisierung. Entwurf einer Typologie psychoanalytisch-pädagogischer Arbeit. In W. Datler, B. Müller, U. Finger-Trescher (Hrsg.), Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 14 (S. 132–151), Gießen: Psychosozial-Verlag. Lüders, W. (1967). Lern- und Leistungsstörungen. Ein Beitrag zur Psychoanalyse der Arbeitsstörungen Psyche – Z. Psychoanal., 21, 915–938. Lüders, W. (1974). Psychotherapeutische Beratung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Rousseau, J.-J. (1762/1971). Emile oder über die Erziehung. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag. Streeck, U. (2007). Psychotherapie komplexer Persönlichkeitsstörungen. Grundlagen der psychoanalytisch-interaktionellen Methode. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Ingeborg Volger

Psychodynamische Beratung: Einzel-, Paar- und Erziehungsberatung

Die im Folgenden angestellten diagnostischen und methodischen Überlegungen für eine tiefenpsychologische Einzel-, Paar- und Erziehungsberatung beschreiben ein konfliktzentriertes Vorgehen im Beratungsprozess. Beratungsanlässe, die mit Hilfe konfliktzentrierter Beratung zu bearbeiten sind, werden verstanden als Ergebnis von Internalisierungen konflikthafter Beziehungserfahrungen mit Be­ zugspersonen der Kindheit. Konfliktzentrierte Beratung ist dann indiziert, wenn der Ratsuchende aus innerpsychischen Gründen in der Realisierung seiner Wünsche und Impulse eingeschränkt ist. Dem gegenüber steht die strukturbezogene Beratung, die dann indiziert ist, wenn Spannungen nicht innerpsychisch durch Symbolisierungsprozesse bewältigt werden können, sondern im Außen verortet und dort handelnd beantwortet und bekämpft werden. Strukturelle Stö­rungen benötigen eine Modifikation des diagnostischen Vorgehens und ein psychodynamisches Beratungsverfahren, das die beraterisch-therapeutische Methodik auf die speziellen Erlebens- und Funktionsweisen des Klienten1 ausrichtet (Rudolf, 2006).

Einzelberatung Psychodynamisches Verstehen der Konfliktdynamik: Diagnostik und Hypothesenbildung in der Einzelberatung

Tiefenpsychologisches Verstehen zielt darauf ab, die von Klienten geschilderten äußeren Konflikte in Beziehung zu setzen zu der dadurch aktivierten innerpsychischen Konfliktdynamik. Um zu verstehen, welche Wünsche und Bedürfnisse durch schwierige Beziehungs-, Arbeits- oder Lebenssituationen angestoßen, zugleich aber versagt und abgewehrt werden, wird in der Beratung der Versuch unternommen zu rekonstruieren, welche alten, d. h. infantilen Konflikte durch die äußere Situation aktualisiert werden. Umgekehrt wird der Frage nachgegangen, in welcher Weise die innere Konfliktdynamik möglicherweise auf die Konstellierung der äußeren Situationen eingewirkt hat. Methodisch ist Konfliktdiagnostik kein der eigentlichen Beratung vorgeschalteter Prozess, sondern ein Bestandteil des gesamten Beratungsverlaufs. Der Berater 1 Um die Lesbarkeit des Textes zu verbessern, habe ich mich für die Bezeichnungen »Klient« und »Berater« in der männlichen Form entschieden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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entwickelt dabei ein Bild von der Struktur der inneren Konflikte und der korrespondierenden Bewältigungs- und Abwehrmöglichkeiten des Klienten, das es ermöglicht, mit ihm in eine gemeinsame Kommunikation über die geklagten Beschwerden einzutreten. Hilfreich ist hier die Formulierung eines Fokalsatzes (Lachauer, 1992; Volger, 2000). Auf dieser Grundlage kann der Klient ein Verständnis für seine Bedürfnisse, Antriebe und Wünsche einerseits und deren Vermeidung bzw. kompromisshafte Realisierung andererseits gewinnen. Das Kennenlernen der eigenen, oft nicht bewussten Motive und deren Bearbeitung eröffnet dem Klienten einerseits die Möglichkeit des Verstehens seiner innerpsychischen Situation, was sehr häufig bereits beruhigende und klärende Wirkungen hat. Andererseits enthält ein psychodynamisches Verstehen der Konfliktdynamik zugleich Lösungsansätze für die geklagten Schwierigkeiten, die unter beraterisch-therapeutischer Unterstützung als neue Konfliktlösungsmöglichkeiten in der Alltagsrealität erprobt werden können. Damit enthält die Rückbesinnung auf frühkindliche ­Er­lebensweisen eine zugleich sinnstiftende und änderungsrelevante Funktion: ­Indem Beeinträchtigungen als sinnvolle Antworten auf schwer erträgliche Lebenssituationen verstanden werden, erschließt sich die Möglichkeit zur Veränderung unangemessener innerer Haltungen durch die Konfrontation mit neuen realis­ tischen Verhaltensoptionen (Volger, 1997). Damit verfolgt tiefenpsychologische Beratung eine emanzipatorische Absicht, indem sie die Klienten darin unterstützt, durch die Überwindung innerer Blockaden Ressourcen zu aktivieren, die die aktuelle Konfliktlösung und die Bewältigung zukünftiger Probleme fördern und einen Zuwachs an innerer und äußerer Autonomie versprechen. Inszenierung innerer Konflikte: Übertragungsanalyse in der Einzelberatung

Vor dem Hintergrund ihrer inneren Konfliktdynamik nehmen Klienten den Berater häufig in einer projektiv verzerrten Weise wahr. Der Berater kann zum Beispiel als abweisend wahrgenommen werden, weil auf ihn Ängste vor Grenzüberschreitungen oder Ablehnung projiziert werden und er vom Klienten daher abgewehrt werden muss. Um diesen Mechanismus zu festigen, kann der projektive Anteil der Kommunikation durch einen handlungsrelevanten Anteil verstärkt werden. Das Gegenüber wird dann nicht nur verzerrt wahrgenommen, sondern durch subtile kommunikative Einflussnahme dazu gebracht, sich entsprechend den Projektionen zu verhalten. Das »szenische Verstehen« (Argelander, 1970) der jeweiligen Übertragungsneigungen, d. h. also der interaktionellen Angebote des Klienten im Beratungskontakt, stellt insofern einen wesentlichen Schlüssel zum Verständnis der inneren Konflikte dar, da im Verhalten eher als in verbalen Mitteilungen vorbzw. unbewusste Prozesse zum Ausdruck kommen. Ein Berater, der die projizierte Angst des Klienten beantwortet, indem er auf dessen Zurückhaltung mit Gereiztheit oder zudringlichem Nachfragen reagiert, würde sich tatsächlich abweisend oder intrusiv verhalten. Damit hätten die Phantasien des Klienten Realitäten in der Beratungsbeziehung erzeugt, es wäre zu einer realen Wiederholung und Reinsze© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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nierung einer biographisch bedeutsamen Beziehungskonstellation gekommen. Ein sensibles Wahrnehmen und Verstehen des kommunikativen Angebotes des Klienten ist demnach unabdingbar, um Übertragungen in der Beratung zuzulassen, ohne sie zu wiederholen. Zugleich können aus den jeweiligen Inszenierungen sowohl psychodynamische Hypothesen als auch änderungsrelevante Verhaltens­ aspekte entwickelt werden, indem übertragungsbedingte Wahrnehmungsverzerrungen im Beratungsprozess thematisiert, korrigiert und verändert werden. Fallvignette Frau A., 42 Jahre, ist eine sportliche, der Beraterin sympathische Frau, die voller Energie von ihrem Anliegen spricht und als »Powerfrau« beschrieben wird. Sie möchte stabiler werden und mit sich selbst »besser« umgehen können, da sie sich als alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen (16 und 7 Jahre) in einer sehr anstrengenden Lebenssituation befinde, in der ihr oft alles über den Kopf wachse. Noch ehe sie sich im Beratungszimmer niedergelassen hat, beginnt sie zu erzählen und berichtet in chaotisch anmutender Weise von verschiedenen Begebenheiten, die die Beraterin in ihrer zeitlichen Reihenfolge und subjektiven Bedeutung für Frau A. nicht einzuordnen vermag. Im Gegenteil hinterlässt die Fülle an Informationen und der ungeordnete Erzählstil in der Beraterin eher ein Gefühl der Verwirrung und schließlich das der Erschöpfung, nachdem sie wiederholt versucht hatte, sich dem Tempo von Frau A. anzupassen, um ihr hochkonzentriert in ihrer Sprunghaftigkeit zu folgen. Die von der Beraterin zunächst erlebte Atemlosigkeit und Gehetztheit weicht allmählich einem inneren Abschalten. Frau A. wurde als Älteste von zwei Kindern geboren. Ihre Eltern ließen sich im 9. Lebensjahr scheiden. Die Mutter war durch ihre Berufstätigkeit häufig nicht anwesend, auch sonst sei die Mutter sehr unbezogen gewesen, sie habe sich eigentlich nie um sie gekümmert. Ihren Vater erinnere sie als wohlwollenden Menschen, der sich allerdings nicht für ihre Belange eingesetzt habe. Vor kurzem habe sie von ihrer Tante erfahren, dass der Vater, mit dem sie bis zum 9. Lebensjahr aufgewachsen sei, nicht der leibliche Vater sei. Bisher habe sie über Letzteren nicht viel ausfindig machen können, sie wisse lediglich, dass er in Amerika lebe. Angesprochen auf die Geheimhaltung ihrer familiären Wurzeln und die chronische Lüge über ihre Herkunft habe die Mutter mit Ausflüchten reagiert und Frau A. ihr Unverständnis vermittelt, da sie schließlich von ihrem »sozialen« Vater anerkannt und in die Familie integriert worden sei. Ihren späteren Mann, einen Amerikaner, heiratete sie 18-jährig, lebte bis zu ihrer Scheidung in den USA und absolvierte dort ein Studium. Der jüngere Sohn stammt aus einer anderen Beziehung, die sie vor vier Jahren aufgelöst habe.

Psychodynamik

Ein zentrales inneres Thema von Frau A. scheint ihre Desorientiertheit bezüglich ihrer Herkunft zu sein. Obwohl erst kürzlich von ihrer Abstammung in Kenntnis gesetzt, hat es den Anschein, als habe sie ihr Leben lang versucht, Ordnung in die Verwirrungen bezüglich ihrer Wurzeln zu bringen durch eine lebenslange Suche nach ihrem Vater. Zwar führte ihre Ehe sie unbewusst in das Land ihres Vaters, in dem sie, anders als im mütterlichen Umfeld, ihre intellektuellen Fähigkeiten geför© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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dert sah, doch blieb eine drängende Suche nach innerer Orientierung, insbesondere nachdem sich ein tiefes Misstrauen in die Vertrauenswürdigkeit der Eltern eingestellt hatte. Der Beraterin vermittelt sich die innere Situation von Frau A. durch die Rast- und Ruhelosigkeit, mit der sie die Beratungsbeziehung gestaltet. Ebenso wie die Beraterin sich in ihren Gegenübertragungsgefühlen gehetzt und verwirrt fühlt und schließlich emotional abschaltet, erlebt Frau A. sich getrieben und von ihren Gefühlen »abgeschaltet«, was zur Folge hat, dass sie Anforderungen oft nicht in einer für sie zuträglichen Weise zu regulieren vermag. Dank ihrer guten intellektuellen Auffassungsgabe konnte sie über lange Zeit die emotionalen Defizite kompensieren. Gerade diese Lösungsmöglichkeit aber hatte in den letzten Jahren zunehmend weniger Orientierung geboten, da sie immer häufiger von ihrem »Gefühlschaos« überrollt wurde, was Frau A. in all ihren Lebensäußerungen nachhaltig beeinflusste. Im Beratungsprozess zeigte sich dies in der großen Schwierigkeit, sich auf einen emotionalen Prozess einzulassen, sich auf die eigene Gefühlswelt zu beziehen und eine Beziehung zur Beraterin herzustellen. Ähnliche Probleme tauchten in ihren Partnerschaftsbeziehungen auf, in denen es nach anfänglicher Euphorie stets zu Rückzügen gekommen war. Die Beziehung zu ihren Kindern war geprägt durch ihre Sorge, sich deren Ansprüchen gegenüber nicht ausreichend zur Wehr setzen zu können. Dabei wurde Frau A. verständlich, dass ihre Anpassungsbereitschaft ihrer Hoffnung geschuldet war, durch soziale Unauffälligkeit »dazuzugehören«, sie aber trotz oder sogar wegen dieser Haltung ihre Partnerbeziehungen nicht hatte aufrechterhalten und Konflikte mit ihren Kindern nicht hatte vermeiden können. In diesem Zusammenhang entwickelte sich allmählich eine aggressiv getönte Haltung der Mutter gegenüber, die das Verschweigen ihrer biographischen Wurzeln bagatellisiert und von Frau A. erneute Anpassung erwartet hatte. Die mit diesem Prozess auftauchenden aggressiven Impulse eröffneten Frau A. nun die Möglichkeit, sich ihren persönlichen Wünschen ohne Schuldgefühl zuzuwenden und sie als legitime Bedürfnisse neben denen ihrer Kinder anzuerkennen. So gelang es ihr zunehmend besser, ihren Söhnen Grenzen zu setzen und deren Verärgerung über diese neuen Einschränkungen ohne allzu große Angst vor ihrer Ablehnung zu ertragen. Am Ende der 15-stündigen Beratung hatte Frau A. »eine Ahnung entwickelt, was ich möchte«, und hatte begonnen, ihre Wünsche in ihrem Alltag zu berücksichtigen.

Paarberatung Psychodynamisches Verstehen der Paardynamik: Diagnostik und Hypothesenbildung in der Paarberatung

Tiefenpsychologisches Verständnis von Paarbeziehungen geht davon aus, dass Übertragungsprozesse in jeder Partnerschaft als beziehungsstiftende Funktion © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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eine zentrale Rolle spielen. In der Partnerwahl realisiert sich das Bedürfnis nach Externalisierung, d. h. nach Wiederholung und Reproduktion innerpsychischer Themen in der äußeren Welt in besonderer Weise. Partner werden nicht zufällig ausgewählt, sondern nach Aspekten der Familiarität einerseits und dem Wunsch, im Gegenüber eine Entlastung von persönlichen Konflikten herzustellen, andererseits. Die Art und Weise, wie der Partner dabei behilflich sein soll, kann von der Kompensation persönlicher Unzulänglichkeiten bis hin zur Hoffnung reichen, durch seine Person innere Konflikte zu lösen. Damit ist die Partnerwahl besonders dazu geeignet, weit reichende Erwartungen zu mobilisieren, in der Paarbeziehung infantile Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen bzw. Ängste und Befürchtungen zu reduzieren (Volger u. Merbach, 2010). Durch diese Real-Externalisierung (Mentzos, 1985) müssen bisher ungelöste unbewusste Konflikte nun nicht mehr in erster Linie intrapsychisch verarbeitet werden, sondern erfahren in der Person des Partners eine soziale Verankerung. Je nachdem, welche Aspekte der frühen Beziehungen bei der Partnerwahl stärker im Vordergrund stehen, wird dem Partner eine jeweils anders akzentuierte Rolle in dem psychosozialen Arrangement zugedacht. Diese kann entwicklungsfördernde wie auch -behindernde Wirkungen nach sich ziehen. Findet das Paar zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen den Übertragungswünschen einerseits und dem Selbstkonzept der Partner andererseits, so kann die in der Partnerwahl gemeinsam konstituierte Beziehung in einer zugleich stabilen und flexiblen Entwicklung der Beziehung resultieren (Willi, 1985). Oft jedoch gelingt diese Balance nicht, und zwar insbesondere dann, wenn die gegenseitigen Übertragungsprozesse nicht innere Potentiale des Partners aktivieren, sondern im Gegenteil Entfaltungsmöglichkeiten so weitgehend einschränken, ja behindern, dass die Aufrechterhaltung der Beziehung zugleich die Negation basaler Bedürfnisse bedeutet. In der Folge kommt es häufig zu starken Polarisierungen innerhalb des Paares, die die in der Partnerwahl wahrgenommenen Gemeinsamkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten nicht mehr erkennen lassen, sondern im Gegenteil eher den Eindruck von besonderer Unvereinbarkeit der Partner hervorrufen (Volger, 2002). Inszenierung von Paarkonflikten: Beziehungsanalyse in der Paarberatung

Im Gegensatz zur Einzelberatung sind in der Paarberatung die Konfliktpart-­ ner gleichzeitig anwesend. Beide haben die Möglichkeit, ihre Sichtweise der Pro­ bleme in der Beziehung vorzutragen und in Szene zu setzen, und können dabei direkt auf die verbalen wie nonverbalen Äußerungen des Partners/der Partnerin antworten. Insofern entsteht eine komplexe beraterisch-therapeutische Dreiecksbeziehung, in der der Berater als Dritter in seiner Gegenübertragung das gemeinsame Thema und die Polarisierung des Paares widerspiegelt. Dabei verdeutlichen die Gegenübertragungsreaktionen des Beraters zugleich zwei verschiedene ­Aspekte der Paarbeziehung: Zum einen geben sie als Spiegelphänomen ein Abbild vom Ausmaß der Polarisierung des Paares wieder. Je unterschiedlicher die Gegen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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übertragungsreaktionen den Partnern gegenüber, umso größer ist deren Polarisierungsgrad, während Paare, die eine vergleichbare Gegenübertragung mobilisieren durch eine geringere Polarisierung gekennzeichnet sind. Zum anderen ist die ­Gegenübertragung Ausdruck der in der Dreiersituation durch den jeweils Einzelnen hergestellten emotionalen Antwort des Beraters auf das Beziehungssystem des Paares. Angesichts der gegenseitigen Übertragung der Partner beinhaltet eine emotionale Reaktion auf den einen zugleich eine Antwort auf die Latenz des an­ deren Partners. So verdeutlichen die Gegenübertragungsgefühle, welche Beziehungsthemen der einzelne Partner jeweils mit dem Berater in Szene setzt und in ihm deponiert. Da die Gegenübertragungsgefühle sich im Erleben des Beraters zunächst aber so abbilden, als seien sie hervorgerufen durch jeweils einen Partner ohne Beteiligung des anderen, geht es um eine Übersetzungs- und Verstehens­ arbeit, die die individuell evozierten Gegenübertragungsgefühle auf das Paar­ system bezieht und sie als Ausdruck eines gemeinsamen Themas versteht (Volger, 1997). Fallvignette Ein Paar Ende 30, kommt zur Beratung, weil es sich in einer Krise befinde, nachdem die Frau ein Verhältnis zu einem gemeinsamen Freund eingegangen war. Frau B. eröffnet die erste Stunde mit der Bemerkung: »Ich bin das Problem.« Sie seien seit 13 Jahren verheiratet, kennen sich aus der Schule und hätten insgesamt eine gute Ehe geführt. Vor einem halben Jahr habe sie eine Affäre begonnen »und bin von meinem Mann erwischt worden.« Sie möchte auf alle Fälle eine Trennung verhindern und sich intensiv um die Verbesserung ihrer Beziehung bemühen. Frau B. ist in der ersten Stunde sehr bewegt, sie weint viel und hinterlässt den Eindruck eines kleinen Mädchens, das hilflos und auf Trost angewiesen ist. Im Gegensatz zu Herrn B. ist sie bemüht, Optimismus zu verbreiten, sie glaubt, dass ein intensiverer Austausch zwischen ihnen die Krise beheben könne. Herr B. hingegen tritt abwartend und distanziert auf, dabei sehr logisch und sachlich argumentierend. Zwar wirkt der Kontakt zu ihm eher kühl, doch hat er zugleich etwas Jungenhaftes, wenn er lächelt. Er werde mit ihrer Untreue nicht fertig, besonders aber mit der Tatsache, dass es sich um einen seiner besten Freunde handele und diese Beziehung über ein halbes Jahr hinter seinem Rücken gelaufen sei. Herr B. fühlt sich an die elterliche Beziehung erinnert, sein Vater habe öfter Außenbeziehungen unterhalten und sei immer unehrlich gegenüber der Mutter gewesen. Die Mutter habe mit dieser Situation nicht umgehen können und sei an Alkoholismus zugrunde gegangen. Demgegenüber berichtet Frau B. aus einer heilen und harmonischen Familie zu kommen, in der sie wohl behütet aufgewachsen sei. Eigene Konflikte und Probleme könne sie im Zusammenhang mit ihrer Entwicklung nicht erinnern.

Paardynamik

Hier stehen sich zwei Menschen mit sehr unterschiedlichem Hintergrund ge­ genüber, eine Frau mit einer besonders konfliktarmen und ein Mann mit einer besonders konfliktträchtigen Biographie, wobei beiden gemeinsam die kon­sequent affektisolierende Abwehr bezüglich ihrer Lebensgeschichte ist. Vor diesem Hinter© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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grund entwickelt sich in der Gegenübertragung eine gewisse Skepsis angesichts ihres Optimismus und ein Distanzgefühl angesichts seiner Pseudosachlichkeit. Es tauchen in der Beraterin große Zweifel auf, ob es gelingt, seine rationalisierende und ihre verleugnende Abwehr aufzulockern, die beiden offensichtlich dazu dient, Aggressionen und in der Folge Trennungsangst zu kontrollieren. Zugleich konstelliert sich in der Beziehung der Beraterin zum Paar eine Wieder­holung der ehelichen Beziehung: Die Beraterin entwickelt das Gefühl, ähnlich wie Frau B., in besonderem Maße auf Herrn B. zugehen und um ihn werben zu müssen, während sie Frau B. gegenüber eher eine schützende Haltung einnimmt aus dem Gefühl heraus, sie in ihrer Unsicherheit unterstützen zu müssen. So haben beide in der Gegenübertragung persönliche Themen in der Beraterin deponiert: Herr B inszeniert seine Bindungsangst, Frau B. setzt ihr Abhängigkeitsthema in Szene. Der weitere Beratungsverlauf ist gekennzeichnet von dem immer wieder thematisierten Misstrauen in die Verlässlichkeit von Frau B. und ihren verhaltenen Antworten auf seine bohrenden Fragen. Sie hört in seinen Nachfragen (nicht zu Unrecht) Anklagen, die ihr Angst machen und ihren Rückzug motivieren. Ihr Schweigen und zögerliches Antworten mobilisiert in ihm (ebenfalls nicht zu Unrecht) zunehmend bedrängendere Phantasien darüber, was sie alles verschweigt, Befürchtungen, die er mit weiteren bohrenden Nachfragen oder Kontaktabbruch beantwortet. Es fällt dem Paar nun nicht schwer zu erkennen, dass jeder im Anderen eine psychogenetisch hoch ängstigende Situation auslöst: Frau B. fühlt sich durch die Fragen ihres Mannes an ihren Vater erinnert, dem gegenüber sie nie die Formulierung einer eigenen Position gewagt hat, Herrn B. erinnert die Vagheit seiner Frau an die Unklarheiten und Lügen der Eltern, vor denen er sich nur durch innere Emigration schützen konnte. Der verfestigte Interaktionszirkel (»Je mehr du mich bedrängst, desto unklarer werde ich« und »Je unklarer du bist, umso mehr muss ich dich bedrängen«) konnte aufgelockert werden, nachdem beide sich ihrer Angst stellen konnten, vom Partner entwertet und hintergangen zu werden. Sie hatte sich ihm gegenüber jahrelang angepasst und aus Angst vor seiner rationalen Überlegenheit ihre Gefühle und Bedürfnisse nicht zeigen können, war aber emotional dabei immer unzufriedener geworden. Er hatte dies aufgrund seiner Gefühlsabwehr nicht wahrnehmen können und war nun schockiert, mit einer Wieder­holung der elterlichen Situation konfrontiert zu sein. So hatten beide in ihrer Partnerwahl biographische Themen untergebracht: Frau B. hatte gehofft, ihre ­ehemals ihrem Vater geltende Unsicherheit mit ihrem Mann auflösen zu können, Herr B. hatte geglaubt, seine Bindungsangst mit seiner Frau überwinden zu können. Beiden gemeinsam war dabei, dass sie den Kontakt zu ihrem inneren Erleben weitgehend abgebrochen hatten und die Gefühlskommunikation in ihrer Beziehung kaum entwickelt war. So hielten sich beide auf Distanz, er mit schlechter Stimmung und Sprachlosigkeit, sie durch »unechtes« Bemühen und Unklarheit. Nachdem das gegenseitige Herstellen von Distanz als ein gemeinsames Thema des Paares deutlich geworden war, konnten beide Partner erleben, dass sie den Anderen auf ihre je individuelle Weise dazu benutzten, sich nicht mit ihren Gefüh© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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len von Kränkung, Enttäuschung, Wut, Ohnmacht und Trennungsangst konfrontieren zu müssen. Die gemeinsame Bearbeitung dieser Themen führte zu zaghaften Versuchen des Paares, innere Prozesse wahrzunehmen und zu thematisieren, anstatt in Sprachlosigkeit oder aufgesetzte Heiterkeit zu verfallen. Im Austausch über narzisstische Kränkungen und ihr je individuelles Gefühl von Unsicherheit und Insuffizienz (Frau B. hatte es nicht für möglich gehalten, dass ihr Mann derartige Gefühle kennt) stellte sich ein Erleben von Gemeinsamkeit ein, in dessen Verlauf Frau B. begann, ihre Idealisierungsneigung aufzulockern und zum Beispiel ihre Herkunftsfamilie kritisch zu betrachten. Nach 17 Beratungsstunden war dem Paar seine große Bedürftigkeit bewusst geworden und die Partner hatten begonnen, sich etwas von ihrem Inneren anzuvertrauen, auch wenn dies immer wieder ein wenig unbeholfen und gelegentlich künstlich wirkte.

Erziehungsberatung Im Folgenden wird Erziehungsberatung als Elternberatung verstanden. Zwar umfasst die Arbeit der institutionellen Erziehungsberatung angesichts der Vielfalt der unterschiedlichen Lebensentwürfe und der sich daraus ableitenden Erziehungskonflikte ein weites Spektrum unterschiedlicher Methoden, Aufgabenstellungen und Vorgehensweisen, doch stellt die Beratung von Eltern in der Praxis der Erziehungsberatung mit 36 % noch immer das zweithäufigste Setting dar (Hundsalz, 1995, S. 200). Neben diesem eher pragmatisch orientierten Zugang ergibt sich aus tiefenpsychologischer Perspektive allerdings in erster Linie eine theoretische Evidenz für diese Konzeptualisierung von Erziehungsberatung. Da die innerpsychischen Strukturen des Menschen und seine Persönlichkeitsentwicklung in entscheidendem Maße geprägt werden von frühen Internalisierungsprozessen, vermittelt sich in der Art und Weise, wie Eltern die Beziehung zu ihrem Kind gestalten, immer auch eine Aktualisierung der innerpsychischen Konfliktdynamik der Eltern. Damit werden Eltern für ihre Kinder zur »relevanten Außenwelt« (Volger, 2008), die diese als eigene strukturbildende Merkmale internalisieren. Psychodynamisches Verstehen der Familiendynamik: Diagnostik und Hypothesenbildung in der Erziehungsberatung

Familien sind durch das Zusammenleben verschiedener Generationen mit unterschiedlichen Verantwortungs- und Bedürfnisstrukturen in besonderem Maße zur Externalisierung innerpsychischer Konfliktlagen prädestiniert, so dass die bisher beschriebenen psychodynamischen Prozesse leicht im Rahmen familiärer Beziehungen aktualisiert werden. Dass Kinder zur Externalisierung elterlicher Konflikte »benutzt« und in deren psychosoziale Arrangements hineingezogen werden, speist sich aus verschiedenen Quellen: Aufgrund der Unreife des Kindes und seiner Ab© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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hängigkeit von seinen frühen Bindungspersonen beeinflussen die frühkindlich erfahrenen Beziehungs-, Bindungs- und Interaktionsangebote der betreuenden Erwachsenen in entscheidendem Maße die Qualität seiner seelischen Strukturen. Das kindliche Selbst ist in seiner Entwicklung zunächst nur an elterlichen Verhaltensweisen und Haltungen orientiert, die selbst wiederum geprägt sind durch deren lebensgeschichtliche Erfahrungen. Vor diesem Hintergrund können die entwicklungstypischen Bedürfnisse und Verhaltensweisen des Kindes Auslöser für unbewältigte und meist unbewusste Konflikte der Eltern werden. Eltern können durch eigene innere Konflikte in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit so eingeschränkt sein, dass sie als Ergebnis ihrer Projektionen im Kind nur noch ihre eigene innere Situation erleben können. Auf diese Weise externalisieren sie einen persönlichen innerpsychischen Konflikt auf ihr Kind und machen es damit zum Träger ihrer ungelösten biographischen Themen. Inszenierung elterlicher Konflikte: Übertragungsanalyse in der Erziehungsberatung

Die Übertragungssituation in der Erziehungsberatung unterscheidet sich insofern von der anderer Beratungskonstellationen, da die Eltern in der Regel zunächst nicht eigene Probleme bearbeiten möchten, sondern die eines meist nicht an­ wesenden Kindes, von dem oft nicht klar ist, inwieweit es aus eigenem Bedürfnis heraus um Hilfe nachsucht. Im Rahmen von Elternberatung konstelliert sich also eine beraterisch-therapeutische Situation, in der sich ein realer Kontakt ­zwischen Eltern und Berater über die Person eines virtuellen Kindes herstellt. Die Art und Weise, wie die Eltern ihr Kind vorstellen und beschreiben, ist immer auch geprägt durch ihre übertragungsbedingten Haltungen und Einstellungen dem Kind gegenüber. Dadurch ergibt sich eine sehr komplexe Übertragungssituation: Zum einen bilden sich in dem realen Kontakt zwischen Berater und Eltern(-teil) Aspekte der psychischen Wirklichkeit der Eltern ab, zum anderen übertragen die Eltern Facetten ihrer inneren Realität auf das Kind. Übertragung findet also zum Kind ebenso wie zum Berater statt. Unter der Prämisse, dass die auf den Berater gerichteten Übertragungsprozesse ähnliche Themen aktualisieren wie die auf das Kind gerichteten, bildet das Verstehen der elterlichen Übertragung im Beratungsprozess einen wesentlichen Zugang zum Verständnis der Beziehungsstörungen, die hinter den kindlichen Auffälligkeiten stehen. Insofern wird das abwesende Kind über die elterliche Mentalisierung in der Beratungssituation zu einem an­wesenden Kind. Fallvignette Eine junge Mutter dreier Kinder meldet sich in der Beratungsstelle, weil sie sich Sorgen mache um ihren 8-jährigen Sohn, der keine Freunde finde und auch zu Hause oft so sehr in seiner eigenen Welt versunken sei, dass er gar nicht ansprechbar sei. Inzwischen gebe es © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Klagen von der Lehrerin, dass er aus heiterem Himmel andere Kinder angreife und sich damit noch mehr ins Abseits stelle. Auch falle ihr auf, dass er andere Spiele als die Gleichaltrigen bevorzuge. So halte er in altersunangemessener Weise an seinem Interesse für Dinosaurier fest, wofür er von Gleichaltrigen ausgelacht werde. Es wird deutlich, dass Frau D. mit großem Entsetzen auf die Vorliebe ihres Sohnes für den blutrünstigsten unter allen Dinos, den Tyrannosaurus rex, reagiert. Sie versuche, ihm dies abzugewöhnen, indem sie ihm Bilder mit friedlichen Dino-Familien als besonders liebenswert anbiete. Angesprochen auf ein mögliches Aggressionsproblem ihres Sohnes wusste Frau D. nicht, warum er ein Aggressionsproblem haben sollte, da es in der Familie, abgesehen von einigen »Ausrastern« ­ihrerseits, betont friedvoll zugehe. Die Übertragungsbeziehung gestaltete sich leicht und unproblematisch, gleichzeitig erlebte die Beraterin in der Gegenübertragung die Klientin etwas fade und langweilig. Angesichts ihrer piepsigen Stimme und ihres unscheinbaren Auftretens wirkte Frau D. wie ein kleines Mädchen, zugleich entwickelte sich eine leichte Gereiztheit als Antwort auf eine latent zum Ausdruck gebrachte Vorwurfshaltung der Klientin.

Familiendynamik

Ausgehend von ihrer Schwierigkeit, mit ihren Kindern zu spielen und deren kreative Produkte positiv zu würdigen (sie finde immer etwas zu kritisieren, wenn es nicht wirklich perfekt gelungen sei), entwickelte sich im Laufe der Beratungsgespräche ein Perspektivwechsel zur Rekonstruktion ihrer Biographie: Hatte Frau D. zunächst stets ihre glückliche Kindheit betont, in der sie sich umsorgt und behütet gefühlt habe, wurde nun deutlich, dass sie sich zutiefst einsam gefühlt hatte, nachdem sie einjährig aufgrund der Berufstätigkeit der Eltern ganztägig in eine Krippe gegeben worden war. Sie sei schon von klein auf ein zurückgezogenes und ängstliches Kind gewesen, sie könne sich nicht erinnern, sich jemals mit ihren Eltern gestritten zu haben. Eine Auseinandersetzung mit den Eltern, besonders der Mutter, habe sie nicht gewagt, weil diese bei Unstimmigkeiten über Tage nicht mit ihr geredet hätte, so dass sie stets bemüht gewesen sei, ihr alles recht zu machen. Nun bemerke sie voller Entsetzen, dass sie ihren Kindern gegenüber, ohne es zu wollen, oft genauso reagiere, sie sei von Ungehörigkeiten der Kinder zutiefst getroffen, so dass es ihr auch bei Bemühen nicht möglich sei, sich ihnen zuzuwenden. Insgesamt sei sie immer um Anpassung bemüht und könne es nicht ertragen, wenn eins ihrer Kinder in der Öffentlichkeit schlecht da stehe. Obwohl sie sich dafür schäme, könne sie sich dann nicht vor ihr Kind stellen und es verteidigen, sondern gebe den anderen recht, selbst wenn sie wisse, dass ihr Kind zu Unrecht beschuldigt werde. Sie fühle sich sofort angegriffen und in ihrer Kompetenz als Mutter in Frage gestellt, so dass sie ihre Kinder schon im Vorhinein ermahne, sich unauffällig zu verhalten. Um nun nicht einer ständigen Angst vor Beschämung und Kränkung ausgesetzt zu sein, versuchte die Klientin, ihre Kinder einer ähnlichen Kontrolle zu unterwerfen, wie sie es für ihr eigenes Sicherheitsgefühl entwickelt hatte. Angesichts dieser Kontrolle durften Aggressionen und Wut von den Kindern nicht erlebt werden, auch die exzessive Beschäftigung ihres Sohnes mit einem blutrünstigen Ungeheuer brachte die Klientin © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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zunächst nicht mit einem inneren Thema in Verbindung, mit dem er offenbar nicht fertig wurde. Sie selbst fühlte sich bei aggressiven Äußerungen ihrer Kinder angegriffen und hatte in der Folge mehr mit der Wiederherstellung ihrer eigenen innerpsychischen Balance zu tun, als dass sie ihnen hätte spiegeln können, welch ungeheure Kraft man verspüren kann, wenn man einen Tyrannus zum Freund hat. Nachdem die Klientin einen kleinen Zipfel dieser Kraft auch in sich hatte entdecken können, überlegte sie, wie sie ihren Mann in den Beratungsprozess einbinden könne, einen Vorschlag der Beraterin aufgreifend, den sie bisher mit Blick auf seine Arbeitsüberlastung stets abgelehnt hatte. Ihr Mann sei in seiner Lebendigkeit noch mehr als sie selbst kontrolliert und könne sich vorwiegend verbal, nicht aber körperlich auf seinen Sohn beziehen. In einem 22-stündigen Beratungsprozess setzte die Klientin sich mit ihrer aggressiven Gehemmtheit auseinander und bemühte sich erfolgreich, ihren Kindern gegenüber weniger kontrollierend und leistungsorientiert aufzutreten. Dies gelang ihr vor allem dadurch, dass sie in Ansätzen ihre eigene Spielhemmung überwinden konnte und nun mit den Kindern einen unkontrollierteren Umgang entwickelte. Gleichwohl spürte sie, wie umfassend ihr inneres Aggressionsverbot ist und wie viel Angst auftaucht, wenn sie sich für das Zerstörerische in ihrem Sohn intensiver interessieren würde.

Ausblick Auf der Grundlage einer einheitlichen psychodynamischen Theorie ergibt sich über die verschiedenen Arbeitsfelder der institutionellen Beratung hinweg ein ähnliches Fallverständnis, das folgende Beratungsziele umfasst: 1. Das Erkennen identifikatorischer Prozesse mit frühen Objekten bedeutet, den Klienten aus der Perspektive seiner inneren Repräsentanzen wahrzunehmen und ihn dabei zu unterstützen, seine oft unbewussten Steuerungsmechanismen zu erkennen. Durch einen Prozess des Verstehens der persönlichen Lebensgeschichte bemüht sich tiefenpsychologische Beratung gemeinsam mit dem Klienten um ein psychodynamisches Verständnis seiner lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Brüche und deren Verarbeitung und Bewältigung in persönlichen Haltungen, Lebensstilen, Persönlichkeitsstrukturen oder auch Symptomen und Beschwerden. 2. Das Wahrnehmen der aktiven Einflussnahme auf die Struktur der aktuellen interpersonellen Beziehungen bedeutet, mit dem Klienten ein Verständnis herzustellen für seine Externalisierungsprozesse. Dabei wird mit dem Klienten erarbeitet, in welcher Weise seine inneren Konflikte zu projektiven Wahrnehmungsverzerrungen führen und wie sich darüber eine Externalisierung einer inneren Konfliktdynamik zum Beispiel in der Beziehung zum Partner oder den Kindern entwickelt. 3. Die Auflockerung umschriebener Abwehrmanifestationen und die Bearbeitung umgrenzter Konfliktfelder bedeutet für die Einzelberatung, bisher ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Ausgewählte Grundlagen

hemmte Impulse, Wünsche und Bedürfnisse besser wahrnehmen zu können und eine angemessenere Realisierung in diesen Konfliktfeldern zu entwickeln. Für die Paarberatung beinhaltet dies die Rücknahme gegenseitiger Projektionen und damit ein besseres Ausbalancieren der Ambivalenzpole bis hin zum Auflösen der »Ambivalenzspaltung« (Bauriedl et al., 2002). Für die Erziehungsberatung beinhaltet dieses Beratungsziel, projektive Übertragungs­hal­tungen auf das Kind zu erkennen, angemessenere Repräsentationen und Mentalisierungen des Kindes zu entwickeln und diese dem Kind über eine veränderte Haltung, aber auch im direkten verbalen Austausch zu kommunizieren. 4. Der Berater steht seinerseits vor der Aufgabe, sich mit den spezifischen »Kurztherapie-Mangelgefühlen« (Beck, 1974, S. 50) auseinanderzusetzen. Sie entspringen dem Wunsch, trotz umschriebener Beratungsziele auf größere Wirkungen und Einflussmöglichkeiten zu hoffen, und verlangen vom Berater, eine große Toleranz für Unvollkommenes, eine hohe narzisstische Stabilität und das Vertrauen in die Entwicklungspotentiale des Klienten.

Literatur Argelander, H. (1970). Das Erstinterview in der Psychotherapie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Bauriedl, T., Cierpka, M., Neraal, T., Reich, G. (2002). Psychoanalytische Paar- und Familientherapie. In M. Wirsching, M., P. Scheib (Hrsg.), Paar- und Familientherapie (S. 79–105). Berlin u. Heidelberg: Springer. Beck, D. (1974). Die Kurzpsychotherapie. Stuttgart: Huber. Hundsalz, A. (1995). Die Erziehungsberatung. Grundlagen, Organisation, Konzepte und Methoden. Weinheim u. München: Juventa. Lachauer, R. (1992). Der Fokus in der Psychotherapie. München: Pfeiffer. Mentzos, S. (1985). Neurotische Konfliktverarbeitung. Frankfurt a. M.: Fischer. Rudolf, G. (2006). Strukturbezogene Psychotherapie: Leitfaden zur psychodynamischen Therapie struktureller Störungen. Stuttgart u. New York: Schattauer. Volger, I. (1997). Tiefenpsychologisch orientierte Beratung. Wege zum Menschen, 49 (4), 213– 230. Volger, I. (2000). Vom Chaos zur Struktur. Zur Fokusbestimmung in der Beratung. Wege zum Menschen, 52 (5), 272–287. Volger, I. (2002). Interpersonelle Abwehrprozesse in der Paartherapie. Familiendynamik, 27 (1), 74–103. Volger, I. (2008). Veränderung der Kinder beginnt in der Seele der Eltern. Theoretische Grundlagen tiefenpsychologischer Erziehungsberatung. In B. Reuser, R. Nitsch, A. Hundsalz (Hrsg.), Die Macht der Gefühle. (S. 157–174) München: Juventa. Volger, I., Merbach, M. (2010). Die Beziehung verbessern. Beratung von Paaren, die unter ihrer Kommunikation leiden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Willi, J. (1985): Koevolution – die Kunst gemeinsamen Wachsens. Reinbek: Rowohlt.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

2 Praxisfelder der psychodynamischen Beratung

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Sabine Hufendiek

Psychosoziale Beratung im Kontext pränataler Diagnostik

Seit dem 1. Januar 2010 ist ein neues Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) in Kraft getreten. In erster Linie betrifft es den Handlungsbereich von Ärztinnen und Ärzten, die medizinische Indikationen ausstellen und/oder auffällige Befunde im Kontext pränataler Diagnostik mitteilen. Psychosoziale Beratung ist gesetzlich nicht vorgeschrieben, d. h., es gibt keine Beratungspflicht und es ist nicht die Ausstellung eines Beratungsscheins erforderlich wie im Kontext des § 219. Gleichwohl müssen Ärztinnen und Ärzte auf die Möglichkeit einer vertiefenden psychosozialen Beratung hinweisen und möglichst einen Kontakt zu einer Beratungsstelle herstellen, sofern die Frau oder das Paar dies wünscht und ein auffälliger Befund erhoben wurde. Das bedeutet für die Schwangerenberatungsstellen eine neue Herausforderung. Bereits seit 1995 besteht der Rechtsanspruch auf Beratung rund um alle Fragen von Schwangerschaft für die Schwangere und ihre Familie. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass Frauen und ihre Partner nur sehr begrenzt von diesem Angebot wissen und es folglich nur wenige in Anspruch nehmen. Das ist auch so im Zusammenhang mit allen Fragen zur Pränataldiagnostik. Eine zufriedenstellende Kooperation gab es bisher nur dann, wenn die psychosozialen Beraterinnen und Berater sich sehr aktiv um eine Zusammenarbeit bemüht haben und auf ärztlicher Seite Offenheit für dieses ergänzende Beratungsangebot vorhanden war. Diese Offenheit entstand zum einen durch persönliches Kennen der Beraterinnen und gute Erfahrungen in der Zusammenarbeit; zum anderen durch die Einsicht, dass Ärztinnen und Ärzte zwar beraten, zugleich aber weder das nötige Handwerkszeug für psychologische und soziale Beratung haben, noch in ihrer Praxis die zeitliche Kapazität vorhalten können, die solche Beratungsgespräche benötigen. Das Anliegen vieler Beraterinnen und Berater, Frauen und Paare möglichst vor in Anspruchnahme pränataler Diagnostik zu erreichen, um einen Raum des Nachdenkens jenseits des medizinischen Systems zu eröffnen, damit diese Frauen oder Paare informiert entscheiden können, welche Untersuchungen sie durchführen lassen wollen und worauf sie lieber verzichten wollen, ist bis heute nicht in greifbare Nähe gerückt. Der Gesetzgeber sieht jetzt vor, dass in jedem Fall bei einem auffälligen Befund die Vermittlung zu einer psychosozialen Beratungsstelle erfolgen soll, sofern es von der Schwangeren gewünscht wird. Der Arzt/die Ärztin soll möglichst einen direkten Kontakt zu einer Beratungsstelle herstellen und nicht nur eine Adresse weitergeben. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Im Folgenden wird an zwei Fallbeispielen das unterschiedliche Spektrum von Beratungen im Bereich Pränataldiagnostik veranschaulicht, um danach die Anforderungen an die Beraterinnen genauer zu beleuchten.

Fallbeispiel 1 Eine pränataldiagnostische Spezialpraxis ruft an und fragt, ob ein Termin mit dem Paar A. möglich ist, das soeben die Diagnose »Klinefelter«1 bei dem erwarteten Kind bekommen hat. Frau A. ist in der 25. Woche schwanger. Es ist Freitagabend und Feiertage stehen bevor. Der Pränataldiagnostiker gibt zu bedenken, dass es nach seiner Einschätzung nicht zumutbar ist, dem Paar erst am Dienstag einen Termin anzubieten, weil es einen sehr schockierten Eindruck auf ihn gemacht habe. Es wird daher ein Termin zur psychosozialen Beratung für den nächsten Tag vereinbart. Zu dem Beratungstermin erscheint Paar A.; beide Partner sind Ende dreißig. Für beide ist es die erste Schwangerschaft eines sehr erwünschten Kindes. In diesem ersten Gespräch gelingt eine gute Kontaktaufnahme. Die Beraterin versucht zunächst zu verstehen, mit wem sie es zu tun hat und was die Diagnose bei dem Paar ausgelöst hat. Das Paar ist nicht verheiratet, lebt aber seit knapp zwei Jahren zusammen. Beide schildern die Beziehung als schön und erfüllend, obwohl es auch große Unterschiede gibt. Frau A. ist Juristin, kommt aus einer Akademikerfamilie und legt auf diesen Status großen Wert. Ihr Partner hat kein Abitur und folglich auch keine akademische Ausbildung. Er ist aber in seinem Beruf durchaus erfolgreich und sehr zufrieden. Das Paar hat sich über ein gemeinsames Hobby, das Bergsteigen, im Urlaub kennengelernt und verliebt. Sie sind bald danach zusammen gezogen und wünschten sich beide ein Kind. Aus Altersgründen wollten sie auf eine Schwangerschaft nicht allzu lange warten. Als Frau A. schwanger wurde, waren beide sehr erfreut. Da sie eher vorsichtig und ängstlich ist und sich des Altersrisikos bewusst war, hat sie sich gut über Pränataldiagnostik informiert. Da alle Blutwerte zufriedenstellend und auch alle Ultraschalluntersuchungen (Messung der Nackentransparenz beim Pränataldiagnostiker in der 12. Woche) unauffällig waren, hat sie sich gemeinsam mit ihrem Partner gegen invasive Diagnostik entschieden und keine 1 Beim Klinefelter-Syndrom liegt eine veränderte Zahl der Geschlechtschromosomen vor, d. h., es gibt mindestens ein zusätzliches X-Chromosom. Das Chromosomenmuster XXY ist dabei am häufigsten. Die wichtigsten körperlichen Besonderheiten von Jungen und Männern mit Klinefelter sind endokrinologische Veränderungen, die die normale Entwicklung der Geschlechtsorgane und die Hormonproduktion beeinträchtigen. Diese reduzierte Testosteronproduktion führt zu einigen körperlichen Besonderheiten wie z. B. Ausbleiben von Spermienbildung, Stimmbruch und pubertärem Haarwuchs. Das kann durch eine entsprechende Hormonbehandlung ausgeglichen werden. Die motorische Entwicklung kann etwas verzögert sein, der durchschnittliche IQ liegt in der normalen Streubreite im unteren Bereich, vor allem sprachgebundene intellektuelle Fähigkeiten liegen unter dem Durchschnitt gleichaltriger Jungen. Häufig benötigen die Kinder Hilfen im Lese-Rechtschreib-Bereich. KlinefelterMänner sind infertil. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Fruchtwasseruntersuchung machen lassen, um die Schwangerschaft nicht zu gefährden. Damit ging es ihr zunächst gut und sie war beruhigt. Dann war das Paar gemeinsam im Urlaub und in der entspannten Atmosphäre begann Frau A. intensiv über mögliche Behinderungen des Kindes nachzudenken. Sie wurde immer unruhiger und ängstlicher. Deshalb entschloss sie sich nach der Rückkehr aus dem Urlaub, gegen den Rat des Partners, der da sehr viel gelassener sein konnte, für eine Fruchtwasseruntersuchung. Inzwischen war sie in der 23. Schwangerschaftswoche. Die Beraterin gewinnt den Eindruck, dass alle normalen Unsicherheiten und Ambivalenzen bezogen auf die Schwangerschaft und die einschneidende Veränderung, die die Geburt eines Kindes mit sich bringt, auf die Frage nach Gesundheit oder Krankheit des Kindes reduziert werden. »Ein gesundes Kind, und das heißt ein fittes, kluges, schönes Kind, kann ich mir vorstellen und diese Aufgabe kann ich bewältigen. Eine größere Herausforderung traue ich mir keinesfalls zu.« Zusätzlich formuliert Frau A., dass es für sie selbstverständlich ist, dass ihr gemeinsames Kind eine akademische Laufbahn beschreiten wird und natürlich ein Studium absolvieren soll, um alle nur denkbaren Chancen im Leben zu haben. Sonst habe man ja von vorneherein keine guten Möglichkeiten im Leben. Diese Ansicht von ihr irritiert den Partner spürbar, weil es ihn, seinen Beruf und somit auch seine Person in Frage stellt. Als Ergebnis der Fruchtwasseruntersuchung stand der Befund »Klinefelter-Syndrom« und er wurde dem Paar mitgeteilt. Mit diesem Befund ist auch klar, dass das erwartete Kind ein Junge sein wird. Der Pränataldiagnostiker hat nach der Diagnosemitteilung mit Vorsicht über das Syndrom informiert und dem Paar einen Termin in einer humangenetischen Praxis und in der psychosozialen Beratung besorgt, damit der Schock, den die Diagnose ausgelöst hat, gut begleitet wird und verarbeitet werden kann. Auch wenn das Klinefelter-Syndrom eine vergleichsweise harmlose Diagnose darstellt, ist aus Erfahrung bekannt, dass werdende Eltern bei jeder Abweichung von der Norm sehr erschüttert sind. Sie müssen sich in einem schmerzlichen Prozess von ihrem Wunschkind verabschieden, um frei zu werden für das real erwartete Kind. Das braucht Zeit, verständnisvolle Begleitung und – falls von den werdenden Eltern gewünscht – Kontakt zu anderen Eltern, die bereits ein Kind mit Klinefelter-Syndrom haben. Paar A. hat sich zu Hause in entsprechenden Internetforen bereits mannigfache Informationen besorgt und eine Elternselbsthilfegruppe kontaktiert. Diese Elternselbsthilfegruppe will sich anlässlich der Feiertage zusammen mit Eltern und den Kindern treffen und eine Wanderung mit einem abschließenden Grillfest veranstalten. Sie hat Paar A. eingeladen, daran teilzunehmen, weil es so die Möglichkeit hat, verschiedene Klinefelter Jungen zu beobachten und sich ein Bild von dieser genetischen Besonderheit zu machen. Die Beraterin ist insgeheim erleichtert, weil sie aus Erfahrung weiß, dass werdende Eltern, die sich für einen Kontakt zu anderen Eltern und betroffenen Kindern entscheiden, meist aufgeschlossen und positiv gestimmt zu weiteren Gesprächen kommen. Das zweite Gespräch in der Beratungsstelle wird am Dienstag nach den Feiertagen festgesetzt, wenn Paar A. das Treffen mit der Selbsthilfegruppe hinter sich hat. Am Dienstag kommt Paar A. in spürbar angespannter Stimmung zur Beratung. Die Partner nehmen weit voneinander entfernt Platz. Frau A. beginnt sofort zu erzählen. Die beiden haben vier Familien mit Klinefelter-Jungen getroffen und mit ihnen den Tag verbracht. Die Familien hatten auch Geschwisterkinder mit und es sei sehr deutlich gewesen – hier wird Frau © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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A.s Stimme schrill und energisch –, dass die Jungen lange nicht so begabt seien wie ihre Geschwister. So seien zum Beispiel die Geschwister auf dem Gymnasium und der KlinefelterJunge »nur« auf der Realschule. Nach dem Tag mit den Familien und den Kindern könne sie sich absolut nicht mehr vorstellen, so ein Kind zu bekommen. Von vornherein zu wissen, dass das erwartete eigene Kind weniger begabt sei als andere potentielle Akademikerkinder, sei für sie eben unvorstellbar. Der Partner formuliert sein Unverständnis und sein Erschrecken über das Urteil von Frau A. Sie hätten schon auf dem Nachhauseweg heftig gestritten und er sei entsetzt über die Urteile und Vorurteile seiner Partnerin. Er fühle sich auch selbst verurteilt und verletzt. Im Beratungsgespräch wird deutlich, dass die so »hochmütig« erscheinende Ansicht von Frau A. einer tiefen Lebensunsicherheit entspringt. Sie fürchtet, selbst nicht bestehen zu können, wenn sie ein Kind hat, dass scheinbar ihrer und der gesellschaftlichen Norm von Leistungsbereitschaft nicht entspricht. Zugleich wird ein Paarkonflikt sichtbar, der offenbar durch die Krise der Diagnose aktualisiert und ins Bewusstsein gehoben wird. Frau A. stellt ihre Beziehung in Frage; sie zweifelt ihre Wahl an und fragt sich, ob sie mit diesem Mann ein Kind haben will. Der Mann entspreche nicht ihren akademischen Auswahlkriterien und es gebe zudem sexuelle Schwierigkeiten. Herr A. habe ein Symptom. Wenn er sich unter Druck fühle, habe er beim Geschlechtsverkehr einen vorzeitigen Samenerguss. Herr A. scheint verstört durch die Aussagen seiner Partnerin. Er bestätigt zwar, was sie sagt, fügt aber hinzu, dass sein »Symptom« in letzter Zeit gar keine Rolle mehr zwischen ihnen gespielt habe und er sich entspannt und sicher fühle. Er verstehe nicht, wieso seine Partnerin jetzt mit diesem Thema komme. Er sei schockiert, dass sie offenbar gar nicht mehr an ihr gemeinsames Kind denke, das sie sich so sehr gewünscht haben. Die Beraterin nimmt in der Gegenübertragung sehr viel Aggression wahr, die von Frau A. offen geäußert wird. Herr A. dagegen verstummt und scheint keine Möglichkeiten der Auseinandersetzung zu sehen. Auf Nachfrage bestätigt er, dass er sich in solchen Fällen eher zurückziehe und nicht auseinandersetzen könne. In der dritten Stunde ist die Stimmung zwischen dem Paar noch schlechter. Frau A. will ­einen Schwangerschaftsabbruch, der in dem fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft nur mit medizinischer Indikation durchgeführt werden kann. D. h., eine Ärztin oder ein Arzt muss Frau A. bescheinigen, dass ihre physische oder psychische Gesundheit durch das Austragen dieser Schwangerschaft gefährdet ist. Der behandelnde Pränataldiagnostiker hat es auf Anfrage von Frau A. abgelehnt, ihr eine Indikation zu geben; ihre Gynäkologin ebenfalls. Jetzt ist Frau A. auf der Suche nach einer Ärztin oder einem Arzt, die oder der die Indikation schreiben würde. Außerdem versucht sie eine Klinik zu finden, die bereit ist, die Geburt einzuleiten und den Fetozid durchzuführen, da das Kind in diesem Stadium der Schwangerschaft bereits lebensfähig ist. Sie hat sich ganz in diese Suche verbissen und ist einem Gespräch fast nicht mehr zugänglich. Als die Beraterin über den Fetozid, die eingeleitete Geburt und die Möglichkeit zur Verabschiedung von dem Kind informiert, das noch vor kurzer Zeit erwünscht und gewollt war, und den Schmerz erwähnt, den der Abschied für seine Mutter bedeutet, wird Frau A. einen Moment lang zugänglich. Sie verhärtet sich jedoch sofort wieder, als ihr Partner zur Sprache bringt, dass er den Abbruch auf keinen Fall wünscht und sich gegebenenfalls auch vorstellen kann, das Kind alleine großzuziehen. Für ihn sei klar, dass der Abbruch auch das Ende ihrer Beziehung bedeuten würde. Darin ist sich Frau A. mit ihm einig. Auch ihr sei es unvorstellbar, die Beziehung mit ihm fortzuführen. Wenn sie das Kind bekäme, verstünde sie sich als alleinerziehende Mutter. Darüber wird Herr A. wiederum sprachlos. Weitere Gespräche lehnt Frau A. ab. Es gelingt nicht mehr, einen Kontakt zu ihr herzustellen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Durch behutsame Deutungen der Beratenden kann es unter Umständen gelingen, der Frau oder dem Paar Zugang zu eigenen unverarbeiteten Komplexen zu eröffnen und schwierige Verarbeitungsmuster zu verstehen. Der Versuch zu verstehen, was bei dem Paar innerpsychisch durch die Diagnose »Klinefelter-Syndrom« ausgelöst und aktualisiert worden ist, verhilft während der Beratung zu einem verständnisvolleren Umgang mit den Klienten. In der Situation einer psychosozialen Beratung im Kontext Pränataldiagnostik fehlt meist die Zeit, biographische Hindernisse zu verstehen und zu bearbeiten. Es ist zudem nicht das Anliegen der Klienten, etwas in ihrer Lebensgestaltung, worunter sie leiden, zu verändern. Sie kommen, weil von außen ein dramatisches Ereignis, nämlich die Diagnose einer drohenden Behinderung oder Erkrankung ihres zumeist sehr gewünschten Kindes, wie ein Schock, ein traumatischer Blitz, ihr Leben bedroht. Das passiert in einer Phase der Schwangerschaft, die ohnehin sehr sensibel ist. Lebensgeschichtlich wird der Übergang vom Paar zur Familie als der bedeutsamste Übergang im Erwachsenenleben gewertet (vgl. Sies, 1991). Schwangerschaft ist eine sensible Verbindung von hormonellen Vorgängen, von seelischer Befindlichkeit und von lebensgeschichtlichen Gegebenheiten (vgl. Gloger-Tippelt, 1988). Es ist also normal, dass jede Frau – auch bei einer erwünschten Schwangerschaft – mit Ambivalenzen und mit Ängsten zu tun hat und sich unsicher fühlt, ob sie der neuen Aufgabe, die sie mit der Mutterschaft erwartet, gewachsen sein wird. In dieser Situation bietet die Pränataldiagnostik scheinbar ein Instrument, das die Unsicherheit erträglicher macht. Alle normalen Ängste und Unsicherheiten werden in der Frage zusammengeführt: Ist das Kind gesund? Das wird im obigen Fallbeispiel von Frau A. sichtbar. Diese Frage lässt sich scheinbar am eindeutigsten durch Pränataldiagnostik beantworten. Dass durch Pränataldiagnostik häufig ganz neue Fragen und Unsicherheiten entstehen können, machen sich schwangere Frauen/Paare in der Regel nicht bewusst. Aus diesem Grund wäre es wünschenswert, wenn Frauen/Paare sich psychosozial beraten lassen, bevor sie mit einer auffälligen Diagnose konfrontiert werden. Es wäre dann möglich, dass sie vorab einen eigenen Standpunkt zu Erkrankungen und Behinderung entwickeln und nicht erst in der dramatischen und traumatischen Situation eines positiven Befundes (Leuzinger-Bohleber et al., 2009). Spätestens wenn irgendeine Auffälligkeit im Rahmen der Diagnostik entdeckt wird, stellt sich für die Frauen/Paare die Frage, ob sie weitere diagnostische Abklärung wünschen. Es gibt Fälle, in denen auch neue und genauere Untersuchungen letztlich keine Klarheit darüber ergeben, welchen Schweregrad von Erkrankung und Fehlbildung das erwartete Kind haben wird. Es bleibt eine Spanne bestehen zwischen leichten Entwicklungsverzögerungen bis zu sehr schweren geistigen Behinderungen. In dieser Unklarheit eine Entscheidung fällen zu müssen über den Fortbestand oder den Abbruch der Schwangerschaft, ist eine schwer erträgliche Zerreißprobe und letztlich eine »unmögliche« Entscheidung (Friedrich et al., 1998) für die werdenden Eltern. Eine besondere Herausforderung für die Beratung bedeuten in dem Bereich der Schwangerenberatung Frauen, die an einer schweren Störung der Selbststruktur lei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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den, wie zum Beispiel einer frühen Störung, einer schweren narzisstischen Störung, einer traumatischen Störung oder einer Borderline-Störung (Rudolf, 2006). Wir gehen davon aus, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung davon betroffen ist. Diese Klientelen stellen Beraterinnen und Berater sowohl in der Schwangerschaftskonfliktberatung (Beratung nach § 219 StGB), die meist eine einmalige Begegnung von etwa einer Stunde beinhaltet, als auch in der psychosozialen Beratung im Kontext Pränataldiagnostik, in der es in der Regel etwa zwei- bis dreimalige Begegnungen oder auch noch mehr Kontakte von ca. 90 Minuten gibt, vor besondere Probleme. Ihnen fällt es schwer bzw. es ist ihnen unmöglich, Ambivalenzen auszuhalten und in die eine oder andere Richtung zu phantasieren wie zum Beispiel: Was würde es bedeuten, die Schwangerschaft auszutragen und dann ein Leben mit der Herausforderung zu gestalten, so einem besonderen Kind gerecht zu werden? Auf der anderen Seite: Was bedeutet ein später Schwangerschaftsabbruch in der jeweiligen individuellen Lebenssituation und was hat er für Folgen? Frauen/Paare auf einem niedrigen Strukturniveau neigen stärker als belastbarere Persönlichkeiten zu (vermeintlich) schnellen Lösungen, weil die innerseelische Spannung unaushaltbar scheint und sie zu zerreißen droht. Zudem haben sie wenig Einsicht in psychodynamische Zusammenhänge. Alte Verletzungen, traumatische oder unverarbeitete Lebensereignisse können reaktiviert werden im Augenblick der Mitteilung einer Diagnose mit einem auffälligen Befund beim erwarteten Kind. In allen Diskussionen um Beratung im Bereich Pränataldiagnostik spielt diese Personengruppe keine Rolle. Diese besonders belasteten Personen machen es aber Beraterinnen und Beratern schwer, zum Beispiel ethische Fragestellungen in der Beratung anzusprechen und auszuloten. Sie machen es des Weiteren oft unmöglich, Druck zu reduzieren und Zeit zu gewinnen, die für eine so gravierende existentielle Entscheidung notwendig ist. Ebenso ist es bei dieser Personengruppe in der Kürze der Zeit nicht möglich, die Ursachen des Verhaltens zu verstehen oder an Veränderung zu arbeiten. Es ist unausweichlich, dass Beraterinnen und Berater nach solchen Beratungen unzufrieden und mit vielen offenen Fragen zurückbleiben. Zugleich ist es auch diese Personengruppe, die nach einem erfolgten Abbruch der Schwangerschaft Mühe hat, einen angemessenen Trauerprozess zu durchleben. Beutel (2002) beschreibt in seinem Buch »Der frühe Verlust eines Kindes«, dass Risikofaktoren für Bewältigungsschwierigkeiten im Verlauf des Trauerprozesses bei Frauen auftraten mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen wie eine selbstunsichere Persönlichkeit und nach vorausgegangenen schweren Lebensereignissen. Im Fall von Paar A. konnte die Beraterin ahnen, dass es schwierige lebensgeschichtliche Besonderheiten gibt, die es Frau A. unmöglich erscheinen ließen, ein Kind anzunehmen, das nicht in jeder Beziehung der »Norm« entspricht. Frauen bringen ihr ganz individuelles biographisches Erleben mit in die ­Lebensphase von Schwangerschaft und Geburt. Pines schreibt dazu: »Es gehört zum Beeindruckendsten in der Analyse schwangerer Frauen, dass vorher verdrängte Phantasien wieder im Vorbewußtsein und im Bewußtsein auftauchen [...] unerquickliche Konflikte aus zurückliegenden Entwicklungsstufen werden wieder © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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lebendig [...] Die junge Frau muß sich sowohl in ihrer inneren Welt als auch in der äußeren Objektwelt adaptiv einen neuen Standpunkt suchen« (1997, S. 65 f.). Bei Frau A. können wir phantasieren, dass sie selbst eine schwierige Beziehung zu ihrer Mutter bzw. zu ihren Eltern hatte. Offenbar musste sie selbst stets der Norm entsprechen und erwartete Leistung erbringen, damit sie geliebt und angenommen wurde. So kann sie sich nicht vorstellen, dass ihr Kind liebenswert ist, selbst wenn es keine Höchstleistung vollbringt. Des Weiteren scheint Frau A. das erwartete Kind ausschließlich als narzisstische Erweiterung des eigenen Selbst sehen zu können; das Kind hat damit eine bestimmte Funktion und dient überwiegend egoistischen, selbstbezogenen Gründen. Wenn das Kind nicht perfekt ist, ist auch die eigene Perfektion in Frage gestellt und das Ich der Mutter erfährt eine Schwächung, die unerträglich erscheint. Zudem scheint es eine – bis dahin verdeckte – Ambivalenz gegenüber dem Partner zu geben: Er entspreche nicht ihren intellektuellen Ansprüchen und er versage in der Sexualität. Jetzt erwartet das Paar ein Kind, aus dem kein zeugungsfähiger, also kein »richtiger« Mann werden kann. Dieses Kind auszutragen und zu gebären kann sich Frau A. nicht vorstellenHerr A. dagegen will, dass seine Partnerin die Schwangerschaft austrägt. Er traut sich aber nicht, sie wirklich zu konfrontieren, sondern lässt sich zum Opfer ihrer Aggression machen, ohne sich wehren zu können. Vielleicht ist er selbst einmal ein wehrloses Kind gegenüber einer übermächtigen Mutter gewesen und hat bis heute nicht gelernt, sich konstruktiv mit Frauen auseinanderzusetzen. Zugleich »bestraft« er seine Frau unbewusst, indem er seine Erektion nicht halten kann und der Frau somit die sexuelle Befriedigung verwehrt. Beide Partner bräuchten eine langfristige therapeutische Begleitung, um sich mit ihrer Geschichte und ihren inneren Themen auseinanderzusetzen. Diese Zeit ist allerdings im Rahmen einer psychosozialen Beratung zur Pränataldiagnostik nicht vorhanden und in den meisten Fällen bei den Klienten auch nicht der Wunsch danach. Manchmal ist es nach der eingeleiteten Geburt des Kindes und dem Abschied von ihm möglich, einen therapeutischen Prozess zu initiieren, damit das Geschehen verarbeitet werden kann. Der Preis für den Reifungsschritt, der dann manchmal möglich ist, ist allerdings ein sehr hoher – das Leben des Kindes.

Fallbeispiel 2 Bei einer Schwangeren, Frau B., wird in der 22. Schwangerschaftswoche beim Fetus ein hypoplastisches Linksherz diagnostiziert. Das ist ein »high risk«-Herzfehler. »High risk« bedeutet, dass das Kind mit einer hohen Wahrscheinlichkeit bei einer der mindestens drei erforderlichen Operationen, entweder während oder nach der OP verstirbt. Wenn das Kind alle Operationen überlebt hat, ist nicht sicher zu prognostizieren, wie belastbar es sein wird. In jedem Fall wird es ein eingeschränktes Leben führen müssen. Die pränataldiagnostische Praxis hat für das Paar bereits einen Termin bei einem Kinderkardiologen vereinbart, damit von medizinischer Seite alle notwendigen Informationen bereitgestellt werden. In dieser Praxis ist es schon lange üblich, dem Paar auch eine psychosoziale Beratung anzubieten und – sofern gewünscht – gleich einen Termin zu vereinbaren. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Am nächsten Tag kann ein Termin zur psychosozialen Beratung bereitgestellt werden. Es kommt ein junges Paar, die Frau bereits gut sichtbar schwanger, das sehr dankbar über den schnellen Beratungstermin ist. Am Vormittag des gleichen Tages hat das Paar einen Termin mit dem Kinderkardiologen wahrgenommen und fühlt sich von dieser Seite ausreichend und umfassend informiert. Die junge Frau ist Anfang dreißig, der junge Mann Mitte dreißig. Sie sind seit etwa fünf Jahren verheiratet und haben eine zweieinhalbjährige gemeinsame Tochter. Die jetzige Schwangerschaft war nicht geplant, sie konnten sich aber schnell darauf einlassen und sich über das erwartete Kind freuen. Die junge Frau ist studierte Geisteswissenschaftlerin und plant zu promovieren. Der Mann ist Ingenieur und arbeitet in einer verantwortlichen Stellung in einer großen Firma. Sie haben bewusst keine frühe Pränataldiagnostik in Anspruch genommen, lediglich den Spezialultraschall in der 22. Woche, um abzuklären, ob alles ­soweit in Ordnung ist oder ob spezielle Maßnahmen für die Geburt notwendig werden ­würden. Das erwartete Kind ist ein Junge. Beide sind über den mitgeteilten Befund noch sehr im Schock. Sie weinen viel, sind zugleich aber in der Lage, gut über ihre innere und äußere Situation zu reflektieren. Nach 90 Minuten Gespräch verabreden wir einen neuen Gesprächstermin in drei Tagen. In dem zweiten Gespräch wird allmählich die Tendenz erkennbar, das erwartete Kind nicht auszutragen, sondern einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen. Beide sprechen über ihre Einstellung zum Leben und Sterben, über die Frage nach Schuld, die eine solche Entscheidung mit sich bringt. Gleichzeitig reflektieren sie über die Freiheit, die auf der anderen Seite entsteht, wenn eigene Lebensentwürfe weiterverfolgt werden können. Es gilt auch, Verantwortung für die kleine Tochter wahrzunehmen, die nicht versorgt wäre, wenn die Frau mit dem erwarteten Baby über Wochen und Monate im Krankenhaus sein müsste. Als Fragen des Paares nach dem Prozedere eines späten Schwangerschaftsabbruchs gestellt werden, verdichtet sich die Atmosphäre nochmals. Ein später Schwangerschaftsabbruch ist immer eine eingeleitete Geburt und folglich stellt sich die Frage: Wie wollen die beiden das tote Kind empfangen? Wie soll es verabschiedet werden? Wie erfolgt die Beerdigung? Wie sind die Vorstellungen dieses Paares in Bezug auf ein Leben nach dem Tod? Ganz selbstverständlich kommt an diesem Punkt des Gesprächs die Frage nach Transzendenz, nach religiösen Einstellungen und Vorstellungen auf. Manchmal sind die Paare selbst überrascht, weil sie sich untereinander darüber noch nie ausgetauscht haben und die jeweilige Meinung des Anderen nicht kennen. Am Ende des Gespräches vereinbaren wir einen erneuten Termin, der stattfinden soll, nachdem beide das Vorbereitungsgespräch im Krankenhaus geführt haben. Sie haben auch schon längere Zeit Kontakt mit einer Hebamme, die sich bereiterklärt hat, sie auch in dieser Situation zu begleiten, und die nach dem Krankenhausaufenthalt die Nachsorge übernehmen wird. Im dritten Gespräch wirkt das Paar sehr ruhig, sehr klar entschlossen, wenn auch (natürlich) tief traurig über den bevorstehenden Weg. Beide erscheinen gereift und sie sind als Paar enger zusammengerückt. Es geht um Fragen wie: Was und wie erzählen wir unserem zweieinhalbjährigen Kind von der Situation? Was geben wir in der Öffentlichkeit preis? Wie wollen und sollten wir uns schützen mit dem, was wir erzählen oder nicht erzählen? Nach dem Spätabbruch (eingeleitete Geburt) ruft der Mann noch aus dem Krankenhaus an und berichtet, dass die Geburt soweit normal verlaufen ist und sie sich zum Gespräch melden, wenn sie wieder zu Hause sind. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Zu einem letzten Gespräch kommt die Frau alleine. Sie erzählt sehr bewegend von ihren Erlebnissen bei der Geburt und beim Verabschieden des Kindes. Sie hatte große Schwierigkeiten, das Kind loszulassen. Sie hatte das Gefühl, sie könne es nicht aus ihrem Arm lassen. Ihr Mann kam auf die gute Idee, die Krankenhausseelsorgerin um Hilfe zu bitten. Die Seelsorgerin fragte die Frau, was sie bräuchte, um das Kind von sich weg dem Krankenhauspersonal übergeben zu können. Die Frau konnte daraufhin nachdenken und bat die Kranken­ hausseelsorgerin, das Kind zu taufen, denn dann habe sie das Gefühl, sie gäbe das Kind von ihren mütterlichen Händen in Gottes Hände. Daraufhin taufte die Pastorin das Kind und die Frau konnte es beruhigt abgeben.

Bei Paar B. entsteht der Eindruck, dass es die für sich bestmögliche Entscheidung getroffen hat. Die beiden haben verantwortlich gegenüber dem schon lebenden Kind und gegenüber den eigenen Lebensplänen gehandelt und konnten das Geschehen entsprechend gut verarbeiten. Sie kamen beide aus einem relativ stabilen biographischen Hintergrund und der äußere Rahmen ihres Lebens war angemessen. Sie befanden sich in einer hinreichend guten Beziehung mit einem gesunden Kind und nutzten die Möglichkeit, die sich ihnen durch die PränataldiagnostikBeratung bot. Beratung und Begleitung in dieser existentiellen Ausnahmesituation benötigen einen anders gestalteten Kontakt als es in konventionellen Beratungen üblich ist. Der Kontakt ist dichter und braucht zugleich mehr Flexibilität zwischen Beraterin/Berater und Paar als üblicherweise im beraterischen Kontext. »Die Beraterinnen brauchen umfangreiche medizinische und psychologische Kenntnisse und Qualifikationen, die den besonderen Herausforderungen dieser speziellen Beratungsart gerecht werden« (Wassermann u. Rhode, 2009, S. 9). In der Regel sind die Paare sehr dankbar, dass sie von einer neutralen Stelle, zugleich aber in dichtem professionellen und menschlichen Kontakt begleitet und unterstützt werden. Ein häufiger Satz ist: »Danke, dass Sie diese schwere Situation mit uns ausgehalten haben.« Das Evangelische Zentralinstitut für Familienberatung in Berlin bekam 2002 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend den Auftrag, ein Curriculum für die psychosoziale Beratung im Kontext Pränataldiagnostik zu entwickeln, durchzuführen und zu evaluieren (Hufendiek, Meyer u. Brünig, 2005). Diese Weiterbildung erstreckt sich über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren. In einer interdiziplinär gemischten Gruppe (Medizinerinnen und Mediziner, Hebammen, Klinikseelsorgerinnen und Klinikseelsorger, psychosoziale Beraterinnen und Berater) und mit einem Dozentinnenteam aus unterschiedlichen Professionen, lernen die Teilnehmenden neben den Vernetzungsfragen, die zwischen den unterschiedlichen mit Pränataldiagnostik befassten Professionen eine Rolle spielen, und den notwendigen medizinischen Kenntnissen Elemente der tiefenpsychologischen Einzel- und Paarberatung. Sie erfahren etwas über Theoriehintergründe und setzen das Gehörte in Fallarbeitsgruppen und im Rollenspiel an eigenen und fremden Fällen um. Der Diskussion um die ethischen Fragen wird ein breiter Raum gewidmet, der mit jedem Fallbeispiel neu zu diskutieren ist. Um ergebnisof© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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fen beraten zu können, braucht es außerdem einen Raum zur Selbsterfahrung und Auseinandersetzung mit eigenen Normen und Werten. Beraterinnen und Beratern steht es nicht zu, für die Frauen oder Paare (besser) zu wissen, ob sie sich zutrauen, mit solch einem besonderen Kind zu leben, oder ob sie sich dagegen entscheiden. Zugleich sollen sie auf das Lebensrecht des ungeborenen Kindes hinweisen. In ihrem Buch »Schutz der Menschwerdung« beschreibt Christiane Kohler-Weiß diesen Konflikt anschaulich: »Während für die Normethik die Frage nach dem moralischen Status des Embryos/Fötus Dreh- und Angelpunkt ihrer Argumentation darstellt, orientiert sich die Ethik betroffener Frauen sowie die Beratungstätigkeit primär an den Lebenszusammenhängen von Frauen im Konflikt« (2003, S. 29). Diese ganzheitliche und menschenfreundliche Sicht versucht zu antizipieren, dass letztlich nur die Eltern und im Besonderen die Mütter entscheiden können, ob sie mit dem Kind oder ohne das Kind leben wollen, weil das Kind mindestens in den ersten Lebensjahren in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis von den Eltern ist (extrauterines Frühjahr). Die Fallbeispiele sollen verdeutlichen, dass psychosoziale Beratung im Kontext Pränataldiagnostik weit mehr umfasst als Beratung über soziale Hilfen und die Herstellung von Kontakten mit betroffenen Eltern oder Selbsthilfegruppen. Marianne Leuzinger-Bohleber und Kollegen fassen es so zusammen: »Das Ausleuchten der unbewussten Dimensionen, die in dieser existentiellen Lebenssituation unweigerlich mobilisiert werden, fällt in den Bereich genuin psychoanalytischen Wirkens. Frauen und Männern in oder nach ihrer Entscheidungssituation zu einem inneren Raum zu verhelfen, in dem sie sich mit den aktualisierten unbewussten Phantasien und Konflikten auseinandersetzen können, um nicht – unerkannt – von ihnen überflutet und nachhaltig psychisch beeinträchtigt zu werden, ist eine typische Aufgabe für unsere Berufsgruppe« (2009, S. 192). Aus diesem Grund braucht es eine umfängliche Weiterbildung mit tiefenpsychologischen Elementen und das Verstehen von psychodynamischen Prozessen, um in diesem Feld kompetent und angemessen beraten zu können.

Literatur Beutel, M. E. (2002). Der frühe Verlust eines Kindes. Göttingen: Hogrefe. Friedrich, H., Henze, K., Stemann-Acheampong, S. (1998). Eine unmögliche Entscheidung. Pränataldiagnostik: ihre psychosoziale Voraussetzung und Folge. Berlin: VWB-Verlag. Gloger-Tippelt, G. (1988). Schwangerschaft und erste Geburt. Stuttgart: Kohlhammer. Hufendiek, S., Meyer, A., Brünig, R. (2005). Abschlussbericht zum Modellprojekt »Entwicklung, Erprobung und Evaluation eines Curriculums für die Beratung im Zusammenhang mit vorgeburtlichen Untersuchungen (Pränataldiagnostik) und bei zu erwartender Behinderung des Kindes«. Online verfügbar: http://www.ezi-berlin.de/images/abschlussbericht-PD.pdf Hufendiek, S., Meyer, A., Brünig, R. (2007). Psychosoziale Beratung im Kontext Pränataldiagnostik kommt in der Beratung (nicht) vor? Fokus Beratung, April, 67–74. Kohler-Weiß, Ch. (2003). Schutz der Menschwerdung, Schwangerschaft und Schwangerschaftskonflikt als Themen evangelischer Ethik. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Sabine Hufendiek · Psychosoziale Beratung im Kontext pränataler Diagnostik

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Leuzinger-Bohleber, M., Fischmann, T., Pfennig, N., Läzer, K. L. (2009). Ambivalenz des medizinisch-technischen Fortschritts. Eine Untersuchung zu ethischen Dilemmata bei pränataler und genetischer Diagnostik. Psyche – Z. Psychoanal. 63 (2), 189–213. Pines, D. (1997). Der weibliche Körper. Stuttgart: Klett-Cotta. Rudolf, G. (2006). Strukturbezogene Psychotherapie. Stuttgart: Schattauer Sies, C. (1991). Schwellen des Begehrens. In Ch. Borer, K. Ley (Hrsg.), Fesselnde Familie. Tübingen: Edition discord. Wassermann, K., Rohde, A. (2009). Pränataldiagnostik und psychosoziale Beratung. Stuttgart, New York: Schattauer.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Rose Ahlheim

Psychoanalytische Elternberatung

Wenn Eltern sich in Sorge um ihre Kinder hilfesuchend an eine Kinderpsychotherapeutin wenden, ist für alle Beteiligten noch offen, worauf dieser erste Kontakt hinauslaufen könnte. Wird eine Therapievereinbarung getroffen, so gehören dazu auch Gespräche zwischen Therapeutin und Eltern – möglichst Vater und Mutter gemeinsam, ob sie nun zusammenleben oder nicht. Diese Gespräche sind als Bestandteil der Kinderpsychotherapie unverzichtbar, sie stellen eine eigene Therapieform mit eigenen Regeln dar, in deren Fokus ausdrücklich die Eltern-Kind-Beziehung steht, und sie werden, wie die Kinderstunden auch, nach einem geregelten Antragsverfahren von den Krankenversicherungen finanziert. Vielleicht aber kann das Problem der ratsuchenden Familie schon in einigen diagnostischen Stunden so weit gemeinsam verstanden werden, dass Eltern und Kinder nun selbständig damit umgehen wollen und können. Dann finden die ersten »probatorischen« Gespräche einen Abschluss, gegebenenfalls mit der Vereinbarung, dass die Familie sich bei Bedarf wieder melden will. Im Nachhinein stellt man also fest, dass eine kurze Folge psychoanalytisch geführter Gespräche im Sinne einer Beratung gewirkt und für Beruhigung, vielleicht auch für Veränderung gesorgt hat. Manchmal kommt es aber auch zur Vereinbarung einiger weiterer Stunden, zum Beispiel einer Sequenz von insgesamt 10 Sitzungen, um im Rahmen einer psychodynamischen Beratung den aufgefundenen Konflikt, der die Familie in die psychotherapeutische Sprechstunde geführt hat, eingehender zu erforschen und zu bearbeiten, ohne dass eine Psychotherapie beantragt werden muss. Das wird besonders dann der Fall sein, wenn verunsicherte Eltern Hilfe beim Verstehen ihres Problems haben möchten, ihr Kind aber einer Therapie nicht bedarf. In diesem Fall können Zahlungen der Krankenkassen über die diagnostischen Stunden hinaus nicht in Anspruch genommen werden. Dennoch ist diese Form der Arbeit in den psychotherapeutischen Ambulanzen und auch in den Praxen niedergelassener Psychotherapeuten nicht selten. Um diese beiden letzteren Varianten – einen Beratungsprozess, der sich naturwüchsig aus dem diagnostischen Gespräch ergibt, oder eine ausdrücklich vereinbarte Beratungssequenz – soll es nun gehen. Die psychoanalytische Haltung, die Einstellung des psychoanalytisch arbeitenden Therapeuten oder eben Beraters zu dem entstehenden Prozess, bleibt sich gleich. – Es könnten unbewusste Konflikte und Verwicklungen sein, die die Beziehung zwischen Eltern und Kindern kontaminiert und teilweise in eine Sackgasse ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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führt haben. Diese Knotenpunkte aufzuspüren und bewusst zu machen, ist die Aufgabe psychoanalytischer Gesprächsführung, damit eine Veränderung möglich wird. Manchmal ist ein solcher Konfliktpunkt relativ rasch zur Sprache zu bringen, so dass die Eltern zuversichtlich sind, damit nun auch ohne Hilfe von außen zurechtkommen zu können, indem sie ihren eigenen inneren Konflikt aus der Beziehung zu ihrem Kind heraushalten können. – Der Berater sollte sich nicht als jemand fühlen, der es »besser weiß« oder »besser kann«. Vielmehr handelt es sich um eine gemeinsame Suche. Die Position des Beraters ist dadurch gekennzeichnet, dass er nicht in die unbewussten Konflikte verwickelt ist und mit dem Blick eines außenstehenden Dritten unbefangener auf die Probleme schauen kann. – Sein wichtigstes Arbeitsmittel – neben konfliktpsychologischen und entwicklungspsychologischen theoretischen Konzepten – ist die Wahrnehmung von Prozessen der Übertragung und Gegenübertragung im Gespräch, insbesondere das »szenische Verstehen« (Argelander, 1970a, 1970b; Lorenzer, 1970).

Szenisches Verstehen Ein Beispiel für das Arbeiten mit der »Szene«, in die die beratende Therapeutin verwickelt wird: Frau A. ist eine alleinerziehende Mutter. Sie macht sich, wie sie am Telefon sagt, Sorgen um ihre 9-jährige Tochter, Anna mache ihr einen depressiven Eindruck. Zum Erstgespräch (das zunächst ohne Anna stattfindet) bringt Frau A. in einem Kinderwagen einen friedlich schlafenden Säugling mit, nach dem sie von Zeit zu Zeit sorgsam schaut. Wenn das Kind unruhig wird, schaukelt sie sanft am Wagen, spricht ein paar leise Worte zu ihm, und es schläft friedlich weiter. Die Kindertherapeutin, die sich von den Sorgen der Mutter erzählen lässt, ist angerührt von der liebevollen Aufmerksamkeit, die diese zugleich dem Baby zuwendet, und wirft ein, es sei ja nun auch ein Geschwisterchen da, das viel von der Mutter brauche und bekomme. Aber nein, sagt Frau A., das sei doch das Kind einer Freundin, es habe sich nur zufällig so ergeben, dass sie es heute betreuen müsse. Nun muss die Kindertherapeutin überlegen, was diese Szene bedeuten könnte – einen »Zufall« kann sie gerade bei diesem überraschenden Arrangement nicht einfach gelten lassen. »Vielleicht ist es Ihnen auch wichtig, dass ich sehe, wie liebevoll und sicher Sie im Umgang mit einem Baby sind«, sagt sie. Frau A. erwidert merklich irritiert: im Gegenteil, mit Babys sei es schwierig für sie. Nun wundert sich die Kindertherapeutin über den offensichtlichen Widerspruch und sagt das auch. Nach deutlichem Zögern erzählt dann Frau A. – einen inneren Widerstand sichtbar überwindend – von mehreren Abtreibungen in ihrer Lebensgeschichte, bevor sie sich das Mutterwerden zugetraut hat. Mit Hilfe einer eindrücklichen Inszenierung konnte Frau A. ohne Worte auf einen zentralen Konflikt in ihrem Leben hinweisen – ist sie eine »wirkliche«, eine gute und zuverlässige Mutter oder nicht, wie kann sie ihre Vorgeschichte integrieren in die gegenwärtige Lebenssituation – und es ihrem Gegenüber überlassen, ob ihr Dilemma aussprechbar sein wird. In der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Rose Ahlheim · Psychoanalytische Elternberatung

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szenischen Darstellung ist der Kindertherapeutin die Rolle einer akzeptierenden und wohlmeinenden Instanz zugefallen, die die guten Fähigkeiten der Mutter ausdrücklich anerkennt und Vertrauen in sie hat. Eine positive Übertragung ist entstanden, die sowohl ein »gutes« Mutter-Tochter-Verhältnis abbildet als auch eine akzeptierende, nicht verurteilende ÜberIch-Qualität. Von beiden Seiten war die Interaktion – die Inszenierung wie das Einsteigen der Therapeutin – unbewusst motiviert, von keiner bewussten Absicht gesteuert. Auf der Basis dieser positiven Übertragung kann nun ein gravierender innerpsychischer Konflikt betrachtet werden, der mit heftigen Gefühlen und auch Ängsten vor deren Destruktivität verbunden ist. In dem folgenden Beratungsprozess – Anna erwies sich als kreatives und gut entwickeltes Kind, das keiner Behandlung bedurfte – ging es um die bisher unbewusste Kontamination der mütterlichen Rolle mit den alten Konflikten und Schuldgefühlen, ohne dass eine Therapie daraus werden sollte. Die Erkenntnis, dass unbewusste Befürchtungen (etwa »ich kann meinem Kind kein gutes Leben garantieren«, »ich könnte eine Gefahr für mein Kind sein«) ihr Gefühl von Sicherheit untergraben hatten, ermöglichte Frau A., ihre mitgebrachten Konflikte aus der aktuellen Beziehung zu Anna weitgehend zurückzuziehen und für sich allein zu bearbeiten.

Wenn der Erstkontakt mit Mutter und Kind gemeinsam verabredet ist, wird auch das Kind seine Fähigkeit zur szenischen Darstellung entfalten. Dafür ein weiteres Beispiel: Frau B. hat beschlossen, ihr Kind erst auf sein eigenes Verlangen hin abzustillen. Als Boris 18 Monate alt ist, steht sie jedoch unerwartet vor der Notwendigkeit, entweder aus Berufsgründen etliche Tage in einer weit entfernten Stadt zuzubringen und Boris beim Vater zurückzulassen – was sicher glücklich gelingen könnte, aber auf ein Abstillen hinauslaufen würde – oder ihre beruflichen Pläne zu ändern, nachdem sie bisher eine ausgezeichnete Balance zwischen Familien- und Berufsaufgaben gefunden hatte. Das Abstillen werde ja endgültig sein und ihr egoistisch erscheinen, sagt sie unglücklich, als sei sie eine unwiderrufliche Verpflichtung eingegangen. Sie will aber auch nicht ihren kreativen Beruf, den sie liebt, hintanstellen. Über diesem Dilemma ist Frau B. in eine ihr selbst ganz unverständliche Verzweiflung geraten und sie möchte mit einer unbeteiligten Person darüber sprechen. Sie wisse eigentlich, dass sie selbst einen Verzicht zu leisten habe und dass das Problem bei ihr und nicht bei Boris liege, dennoch komme sie nicht damit zurecht und sie verstehe nicht, warum sie sich nicht entscheiden könne. Ausdrücklich stellt sie jedoch klar, sie wünsche keinerlei Herumsuchen in ihrer eigenen Lebensgeschichte, sie komme ausschließlich der aktuellen Entscheidungsnot wegen. Diese Vorbedingung respektiert die Kindertherapeutin zunächst, nicht ohne im Hinterkopf den Gedanken aufrechtzuhalten, dass es Frau B.s Reserve in ihrer Bedeutung zu verstehen gilt: Worüber darf nicht gesprochen werden und warum? (Ihre erste unausgesprochene Vermutung, dass es sich um eine unbewusste Rivalität zwischen den Ehepartnern handelt, zu wem das Kind gehören soll, wird sich nicht bestätigen.) Sie sagt, dass jeder wichtige Entwicklungsschritt auch einen Abschied von der engen frühen Bindung bedeute und deshalb nicht ohne Schmerz geschehe und dass Frau B. sich anscheinend nicht traue, ihrem Kind aus eigenen Gründen einen solchen Schmerz zuzumuten. Da wirft Boris der Kindertherapeutin bitterböse Blicke zu, und sie bestätigt ihm, dass er auch Wut verspüren dürfe, wenn ihm etwas fortgenommen werde, das so wichtig für ihn sei. Es folgt ein kleines Hin und Her zwischen Mutter und Sohn: Er will jetzt und sofort die Brust, und sie sagt, das solle nur noch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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zu Hause stattfinden. Sie versteht es, ihn mit Spielangeboten abzulenken – die Kindertherapeutin kommentiert, wie gut sie beide über die Klippe hinwegkommen und Spaß miteinander haben können –, und Boris beginnt Mutters Tasche auszuräumen. Er findet darin ein Fläschchen mit Sonnenmilch, überlegt kurz und holt dann die Babypuppe aus der Spielecke, um ihr dieses Fläschchen wie eine Babyflasche an den Mund zu halten. »Und wenn der Papa dem Boris abends die Milchflasche gibt, wenn Mama nicht da ist?«, fragt die Kindertherapeutin an beide gerichtet. Die Mutter ist gerührt, weil Boris selbst mit seiner Spielhandlung den Weg aus ihrem Dilemma gezeigt hat: Er kann sich mit der Flasche begnügen. Beide scheinen zufrieden, als sie nun dem Kind im Einzelnen erzählt, wie es zugehen könne zwischen ihm und dem Papa. Darauf folgt eine Pause des Schweigens, in der Frau B. anscheinend über das nachdenkt, was sie eigentlich nicht besprechen wollte, denn nun setzt sie das Gespräch auf einer neuen Ebene fort. Sie habe ihrer Mutter früher sehr bitter vorgeworfen, dass diese sie als Baby nicht habe stillen wollen. Sie schildert aus der eigenen Kindheit das Bild einer uneinfühlsamen und rücksichtslos fordernden Mutter und eines desinteressierten Vaters, der sie dieser Mutter überlässt. Und die Ablehnung ihrer Mutter gegen das Stillen, von der sie erfahren habe, sei ihr zum Inbegriff einer hassenswerten mütterlichen Kälte geworden. »Und jetzt haben Sie vielleicht Angst, dass Sie in Boris’ Augen zu einer ebensolchen Mutter werden, wenn Sie Ihren beruflichen Auftrag wichtiger nehmen als ihn«, sagt die Kindertherapeutin. Frau B. erwidert nachdenklich, sie habe tatsächlich große Angst davor, dass Boris sie so sehr hassen könnte wie sie früher ihre Mutter. Sie habe eigentlich gedacht, das Kapitel ihrer Beziehung zur eigenen Mutter längst abgeschlossen zu haben. Nun, sie sei ja erwachsen und müsse sich entschlossen klarmachen, dass Boris in einer anderen Welt lebe als sie damals.

Was Frau B. hier sagt, markiert einen Wendepunkt, wie er oftmals in einem Beratungsprozess auftaucht: Nicht nur die Erkenntnis, dass eigene Lebensthemen sich unbemerkt in die Beziehung zum Kind eingeschlichen haben, ermöglicht Veränderung, sondern wichtig ist auch der bewusste Entschluss der Eltern, ihre Problematik wieder zur eigenen Sache zu machen, dem Kind seine eigene Welt zuzugestehen. Möglicherweise sind an dem Konflikt um das Abstillen, der Frau B. in so eigenartiger Intensität betroffen hat, noch andere, tiefer liegende Motive beteiligt, möglicherweise aber kann Frau B. auch diese in eigener Regie relativieren, nachdem sie nun das Gefühl hat, ihre erwachsene Position wiedergefunden zu haben.

Elternschaft als Entwicklungsprozess »In jedem Kinderzimmer gibt es Gespenster. Sie sind die Besucher aus der nicht erinnerten Vergangenheit der Eltern.« Diese einleitende Feststellung aus Selma Fraibergs Arbeit »Ghosts in the Nursery« (1975, deutsch 2003) ist zu einem der meistzitierten Sätze in der kinderanalytischen Literatur geworden. Aber es sind nicht nur bösartige Geister, die da ihre Wirkung entfalten. In der Zeit, in der sie zu Eltern (also auch schon vor der Geburt des Kindes) werden, werden in Müttern und Vätern Erinnerungsspuren an die eigene Kindheit geweckt, die bis dahin vergessen oder verdrängt bleiben konnten. Die eigenen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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­ lternbilder, wie sie sie als Kinder hatten, werden wieder lebendig, und die eigene E infantile Gefühls- und Phantasiewelt ebenso, auch ganz frühe, im Körpergedächtnis eingeschriebene Körperempfindungen, psychophysische Erlebniszustände. (Zur Bedeutung des Körpergedächtnisses ist zum Beispiel die Beobachtung aufschlussreich, dass kleine Mädchen ihre Puppenbabys oft in eben der Körperhaltung versorgen, die sie mit der Mutter erlebt haben, ohne sich doch bewusst an die eigene Säuglingszeit erinnern zu können.) Dieses Wiedererwachen alter, längst nicht mehr virulenter Erinnerungen ist für die jungen Eltern der unbewusste Pfad, der sie zum empathischen Verstehen ihres Kindes leitet und zugleich zur Ausbildung ihrer elterlichen Identität. Entlang an den vor langer Zeit erworbenen inneren Bildern, den szenischen Erlebnisspuren mit ihrer vielfältigen emotionalen Begleitung entwickeln sich das Selbstbild der jungen Mutter, des jungen Vaters und ihre Fähigkeit, sich in ihr Kind einzufühlen und angemessen auf seine Signale zu reagieren (Benedek, 1960; Stern, 1998). Die intensive Bearbeitung der Beziehung zur eigenen Mutter, die mit dem eigenen Kind plötzlich wieder in den Lebensmittelpunkt der jungen Eltern gerückt ist, kann zu neuen Orientierungen und Lösungen führen und ist nicht mit regressiven Prozessen zu verwechseln. Dennoch ist der Prozess der Neuidentifizierung und Umorientierung oft schwierig und für Störungen anfällig. Das gilt besonders für die Monate nach der Geburt. Die psychische Durchlässigkeit in der frühen Zeit der Mutterschaft ist ja einerseits wichtig für das Wiederfinden der eigenen kindlichen Erinnerungsspuren, das die einfühlende Verständigung mit dem jungen Baby ermöglicht, bringt aber andererseits auch eine erhöhte psychische Verletzbarkeit mit sich. Auch die eigene Art des Kindes macht das Ihre mit den Eltern, Tag für Tag. Eine unsichere Mutter wird über der Versorgung eines ruhigen, nicht so leicht aus dem Gleichgewicht zu bringenden Babys Sicherheit gewinnen können, so dass sie dann auch Krisen mit ihm durchstehen kann (»ich bin eine gute Mutter und auch mein Kind ist gut, so wie ich ein gutes Kind mit einer guten Mutter war ...«). Dieselbe Mutter könnte aber im Austausch mit einem unruhigen, leicht störbaren Kind oder einem Baby, das sich nicht leicht trösten lässt, in eine negative Spirale unbewusster Gedanken geraten: »Ich habe ein unzufriedenes Kind, also bin ich eine schlechte Mutter, so wie auch meine Mutter schlecht war, und auch ich war ein schlechtes Kind ...« Die damit kurz skizzierte Spirale wechselseitiger Wirksamkeit und wechselseitiger Abhängigkeit ist mit der Säuglingszeit nicht zu Ende. Mit dem Explorations- und Expansionsdrang des Kleinkindes werden auch im Unbewussten seiner Eltern die infantilen Machtwünsche und Größenideen aus dieser Lebensphase wieder angeregt. Jetzt gibt es das Risiko, dass sie das Selbstbehauptungsstreben des Kindes, seine Erkundung der eigenen Wirkmächtigkeit beantworten mit blindem Durchsetzen ihres eigenen Willens auf einer kindlichen Stufe, dass sie sich also von ihrem Kind in infantile Machtkämpfe verwickeln lassen. Trennungskonflikte des Kindes reißen vielleicht alte Wunden in den Eltern wieder auf, eigene unbewusste Verlassenheits© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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angst kann sie daran hindern, ihrem Kind Mut zu machen und es in seinen Entwicklungsschritten zu unterstützen. Schulprobleme, Autoritätskonflikte, Verwirrungen und Krisen in der Suche nach sexueller Identität, Unsicherheiten in der Balance zwischen Nähe und Distanz – all dies hat vielleicht auch Krisenmomente für die Eltern mit sich gebracht, hat Ängste, Schuldgefühl oder unbewussten Hass hinterlassen. Die Wiederbelebung solcher unerledigter Kindheitskonflikte kann für die ­Eltern durchaus die Chance einer Neubearbeitung darstellen, so dass sie vom ­reifen erwachsenen Standpunkt aus nun alte Konflikte zu einer besseren Lösung führen und ihr Kind bei der Bearbeitung der seinigen unterstützen können. Im ungünstigen Fall aber verschränken sich die elterlichen Probleme mit denen ihres Kindes und verschärfen diese, so dass es zu einer Spirale von Vorwürfen, Schuldzuweisungen, Enttäuschungen und narzisstischen Kränkungen kommt, einem ­Gefühl des Ungenügens bei Eltern und Kind. Auf jedem Entwicklungsniveau, an jedem Konfliktknoten können die Weichen nicht nur für das Kind, sondern auch für seine Eltern neu gestellt werden. Wiederbelebte Trieb- und Beziehungskonflikte werden keine Mutter und keinen Vater unberührt lassen – als Herausforderung für neue Entwicklungsschritte oder als Stolperstein. Beispiel: Der 13-jährige Christoph versetzt seine Mutter mit riskanten Aktionen in Angst und Schrecken, zum Beispiel turnt er im vierten Stockwerk auf dem Fensterbrett herum, experimentiert mit Alkohol und Zigaretten, schließt sich an stadtbekannte Rüpel an, unternimmt gefährliche Manöver auf dem Fahrrad. Frau C. möchte ihn zur Therapie schicken, aber Christoph weigert sich rundheraus. Immerhin lässt er sich auf ein Gespräch ein – ausdrücklich nur ein einziges – und nutzt diese Stunde, um der Therapeutin deutlich zu machen, dass er seinen Stiefvater provozieren will. Dieser, Herr D., lebe seit drei Jahren in der Familie (Christoph hat zwei jüngere Schwestern) und erkläre rundheraus, er sei nicht als Vater zuständig, sondern nur »Lebensabschnittsbegleiter« der Mutter. Christoph sagt, er wolle Herrn D. »vergraulen«, lässt sich aber dann auch auf den Gedanken ein, er wünsche sich Aufmerksamkeit und Interesse von Herrn D., wolle ihn mit irgendetwas doch wenigstens einmal wirklich erreichen. Er sehnt sich nach einem »wirklichen« Vater. So kommt es zu einer Beratung von Frau C. und Herrn D. Hier geht es um divergierende Themen. Herr D. lässt hinter forschem Auftreten und rivalisierenden Wortgefechten mit der Beraterin durchblicken, dass er unter einem autoritären, zu Gewalttätigkeit neigenden Vater gelitten hat. Ein solcher Vater will er nicht sein, und eine andere Vorstellung ist ihm (noch) fremd. Seine Konflikte mit dem eigenen Vater kulminierten in der frühen Adoleszenz – er war also so alt wie Christoph jetzt – und daher kann er sich gerade die Beziehung zu einem pubertierenden Jungen nur als katastrophal vorstellen. Also will er erst gar keine Beziehung zu Christoph eingehen. Er hat seine Ursprungsfamilie sehr früh verlassen. Nun ist es Christoph, dieser Gedanke entwickelt sich im Laufe der Gespräche, der Herrn D. tyrannisieren kann und im Begriff scheint, ihn aus der Familie zu drängen, so wie es einst der Vater von Herrn D. tat. An seiner Mutter hatte Herr D., so stellt es sich ihm dar, damals keine Hilfe gegen den Vater. Frau C., eine energische und tatkräftige Frau, musste ohne einen Vater auskommen, wie sie sagt. Dieser habe ihre Mutter mit mehreren Töchtern früh verlassen. Ein starker Vorwurf schwingt immer noch mit, aber sie sagt mit einem gewissen Trotz in der Stimme, man habe © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Rose Ahlheim · Psychoanalytische Elternberatung

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keinen Mann in der Familie gebraucht. Daraus wird während des Gesprächs verständlich, warum sie auch jetzt mit einem »Lebensabschnittsbegleiter« zufrieden ist: Sie braucht ja keinen Vater für ihre Kinder, denn sie will nicht noch einmal so schrecklich alleingelassen und enttäuscht werden wie in ihrer Kindheit, und auch den eigenen Kindern will sie Vergleichbares ersparen. Unbewusst hat sie ihrerseits Herrn D. signalisiert, ein Partner sei ihr willkommen, ein Vater für ihre Kinder aber sei überflüssig. Herr D., der sich in das Vater-Sein erst einüben müsste, hat dabei von ihrer Seite auch gar keine Hilfe erwartet, denn seine eigene Mutter hat ihn gegen den überlegenen Rivalen ja auch nicht unterstützt.

Weil dies alles sich trotz bester Absichten abspielen kann, unbemerkt und aus unbewussten Motiven heraus, kann der Blick eines Dritten, Unbeteiligten (der Beraterin) die Perspektive ändern, kann dann auch die gemeinsame Suche nach unbewussten Determinationen verborgene Konfliktanteile aufspüren. Frau C. kann das Gefühl, von ihrem Vater im Stich gelassen zu sein, im Rückblick zulassen – damals hat sie ihrer Mutter zuliebe mit eingestimmt in die Beteuerung »wir brauchen keinen Vater« – und kann auch zu ihrem eigenen Erstaunen feststellen, dass sie mit Herrn D. die gleiche Konstellation noch einmal hergestellt hat. Dieses Mal aber ist sie erwachsen und kann nach einer besseren Lösung suchen. Herr D. kann mit einem ebensolchen Erstaunen feststellen, dass er sich von Christoph tatsächlich an die Wand spielen lässt, obwohl er ein energischer und durchsetzungsfähiger Mann ist – in dem Bestreben, auf gar keinen Fall so zu werden wie sein Vater, hat er die Rolle des rücksichtslosen Tyrannen dem 13-Jährigen überlassen. Beide, Frau C. und Herr D., beginnen über ihre Paarbeziehung nachzudenken und unternehmen Anstrengungen, zu einem Elternpaar für die Kinder zu werden, mit denen sie gemeinsam zusammenleben.

Elterliche Position und elterliche Allianz Frau C., die zuverlässig für ihre Kinder sorgte, hatte die »elterliche Position« ­gefunden, das heißt auf die eigenen kindlichen Wünsche weitgehend verzichtet und Verantwortung übernommen. Als »elterliche Position« wird hier die Fähigkeit und Bereitschaft der Erwachsenen bezeichnet, ihren Kindern relativ unbelastet durch eigene unreife, infantile Konflikte sicher und liebevoll zur Verfügung zu ­stehen und die Frustrationen, die die Auseinandersetzung mit der Realität unvermeidlich mit sich bringt, altersangemessen, einfühlend und relativ frei von Angst zu vertreten. Herr D., der sich mit seinem Einzug in die Familie unvorbereitet einer kleinen Kinderschar gegenüber sah, musste diesen Schritt erst tun. Psychoanalytische Beratung setzt vielfach an eben diesem Konfliktpunkt an: Das gemeinsame Nachdenken über die Hindernisse, die sich in dem Entwicklungsprozess zum Mutter- oder Vatersein auf bisher unverstandene Weise entgegenstellen, kann die blockierte Entwicklung wieder in Gang setzen. Dabei darf man aber nicht übersehen, dass auch die Internalisierungen der Kinder, ihre inneren Bilder von Mutter und Vater, auf die Selbstwahrnehmung der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Eltern zurückwirken und sie auch erheblich irritieren können. Christoph zum Beispiel sehnte sich einerseits nach einem Vater, hatte aber andererseits auch die Überzeugung der Mutter übernommen, ein Vater sei entbehrlich (das menschliche Unbewusste nimmt ja an Widersprüchen keinen Anstoß). Das machte es Herrn D. doppelt schwer, seinen Platz als Vater zu finden. Ein etwas anderer Gesichtspunkt in der Elternberatung ist die Frage nach der elterlichen Allianz, die beide Partner miteinander eingehen können. Hier hatten beide, Frau C. und Herr D., noch einen Schritt zu leisten. Mit »elterlicher Allianz« (vgl. Cohen u. Weissman, 1984) ist das Bündnis zwischen den Erwachsenen gemeint, die sich die Sorge um die Kinder teilen. Es kann unabhängig von der ehelichen Beziehung bestehen und kann diese im Fall einer Trennung des Paares auch überdauern. Es sichert und prägt das Selbstgefühl der Partner als Mutter und Vater, beide stärken einander in ihrem Vertrauen in ihre elterliche Kompetenz, in die Fähigkeiten auch des Kindes. Die gemeinsam entwickelte Vorstellung vom Kind, wie es war, wie es ist und wie es werden soll, kann für beide als Korrektiv aktueller Ängste oder Konflikte dienen. Wichtig ist, dass innerhalb des Bündnisses einer für den anderen einspringt, so dass Erschöpfung oder gelegentlicher Überdruss nicht stören müssen. Ein Partner kann sich vom anderen bestätigt und in der elterlichen Rolle akzeptiert fühlen, so dass beiden die Identifikation mit der elterlichen Position erleichtert wird. Im eben angeführten Beispiel von Frau C. und Herrn D. wurde deutlich, dass unbewusst mitgeschleppte Kindheitskonflikte den Partnern die elterliche Allianz erschweren können. Die psychoanalytische Beratung dient nicht der Bearbeitung solcher Konflikte, sondern will sie in das Bewusstsein rücken, damit die ratsuchenden Eltern sie in erwachsener Weise bearbeiten können. Auch alleinerziehende Eltern suchen oft eine solche Unterstützung bei anderen Erwachsenen. Umgekehrt kennen wir genug Elternpaare, deren Allianz nicht zustande gekommen oder gestört ist. Dann wird die Beratungsarbeit darauf abzielen, dass die Eltern das elterliche Bündnis wieder miteinander eingehen können. Gerade alleinerziehende Mütter oder Väter äußern nach als hilfreich empfundener Beratung manchmal den Wunsch, bei erneut auftauchenden Krisen wiederkommen zu können. Oft besteht ein loser Kontakt über Jahre – Krisen kommen immer wieder vor, wenn die Kinder sich entwickeln, sie gehören zum psychischen Wachstum, und gerade in Krisenzeiten fehlt der Allianz-Partner für das gemeinsame Nachdenken, für die gemeinsame Umorientierung, zum Beispiel wenn das Kind einen wichtigen Entwicklungsschritt getan hat. Es kann dann entlastend sein, den Berater/die Beraterin noch im Hintergrund zu wissen.

»Spiegeln« und »Übersetzen« in der Beratungsarbeit Belastete Eltern können besonders die offene, nicht auf ein festes Ziel gerichtete Arbeitsweise in der analytischen Beratung als wohltuend empfinden: »Hier habe ich endlich die Zeit und den Raum zum Nachdenken, beides fehlt mir im Alltag © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Rose Ahlheim · Psychoanalytische Elternberatung

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so.« Der Raum zum Nachdenken kann entstehen, weil ein Dritter in die dyadische Beziehung von Elternteil und Kind einbezogen wird – die sozusagen flächige, zweidimensionale Beziehung wird erweitert zum Raum. In anderen Fällen jedoch wird gerade das offene und wenig vorstrukturierte Gesprächsangebot zu einer Überforderung für ratsuchende Eltern, besonders für solche, deren Denk- und Phantasieraum, deren Symbolisierungsfähigkeit eingeschränkt ist. Misshandelte, vernachlässigte, verwahrloste Kinder wachsen meistens mit Eltern auf, die ihrerseits unter ähnlich belastenden und defizitären, wohl auch traumatisierenden Bedingungen großwerden mussten. Mütter und Väter haben dann oft wegen ihrer unsicheren Selbstwahrnehmung Schwierigkeiten, die inneren Bilder ihrer selbst und ihres Kindes klar genug voneinander abzugrenzen. Sie können emotionale Regungen und Zustände bei sich selbst vielfach nicht sicher wahrnehmen, differenzieren, in den Beziehungskontext einordnen und in Worte fassen, weil der psychische Binnenraum unzureichend ausgebildet werden konnte. Anstelle von Wahrnehmung, Verarbeitung und Mitteilung steht oft das direkte Ausagieren. Erst recht fällt es ihnen dann schwer, sich die innere Befindlichkeit ihres Kindes vorzustellen und seine emotionalen Regungen aufzunehmen. Und je weniger ein Erwachsener seine eigene Intentionalität wahrnehmen und überdenken kann, umso weniger kann er die intentionalen Regungen seines Kindes zutreffend erkennen und anerkennen. Beispiel: Frau E. sieht in dem explorierenden Tatendrang ihres noch nicht 3-jährigen Sohnes Emil Zügellosigkeit, Widersetzlichkeit, »Herrscherallüren«, denen sie nichts entgegenzu­ setzen weiß. Im Gespräch stellt sich heraus, dass sie schon in seinem ersten Lebensjahr seine erkundenden Gesten – Abtasten des mütterlichen Gesichts, den Griff nach ihrer Brille, ihren Haaren – als aggressive Angriffe erlebt hat. Ihre eigene Ratlosigkeit, wie sie Emil begegnen, ihn auch eingrenzen kann, hat mit ihrer Schwierigkeit zu tun, eigene Affekte wie Ärger und Wut, Ungeduld oder Enttäuschung rechtzeitig wahrzunehmen und sich einzu­ gestehen.

Wenn eine – wie auch immer begründete – Empathiestörung der Eltern sie daran hindert, die innere Befindlichkeit ihres Kindes zu verstehen, kann der psychoanalytische Berater versuchen, für sie zu »übersetzen«, was das Kind in seinen Aktionen ausdrücken mag – in Emils Fall Neugier, Erkundungsdrang, das Bedürfnis, etwas zu bewirken, im Fall des 13-jährigen Christoph die Sehnsucht nach einem Vater, die niemand in der Familie anerkennen mochte. Auch der Blick auf die eigenen Reaktionen kann für die Eltern hilfreich sein: Was haben sie zum Beispiel in der Situation gefühlt, die einer beschriebenen Es­kalation vorausging? An welchem Punkt sind sie »ausgerastet«, welche Gefühle haben sie vorher vielleicht übergangen? Hätten sie beizeiten dem Kind deutlich sagen können, was sie von ihm erwarten? Haben sie Angst, das Kind könnte sie nicht lieben – verlassen – verachten – überwältigen? Fürchten sie Missbilligung oder Verachtung durch Nachbarn, Lehrer, die Beraterin? Können sie ihre eigenen Fähigkeiten schätzen, sich selbst als hilfreich erleben – können sie die Beratung als hilfreich erleben, oder fürchten sie auch hier Tadel und Entwertung? Für die Eltern sollte erkennbar © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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sein, dass es sich um ein gemeinsames Nachdenken handelt, bei dem die Beraterin ihr Wissen und Denken zur Verfügung stellt, und nicht um eine »Verordnung«. Manchmal ist es auch hilfreich, die Interaktion in der Beratungsszene selbst für die Ratsuchenden in Worte zu fassen, so dass ihr Gefühl für die Reaktion wächst, die sie im Anderen auslösen. Beispiel: Frau F., eine voluminöse und groß gewachsene Frau, sitzt für gewöhnlich mit ­verschränkten Armen und grimmigem Blick aufrecht und wachsam da und bügelt nach Möglichkeit jede Bemerkung der Beraterin (wie dieser scheint) höhnisch und verächtlich ab. Als die Beraterin schließlich sagt, wie es ihr geht: »Ich kann anscheinend mit nichts bei Ihnen landen, ich komme mir vor, als würde ich für Sie nur Blech reden«, ändert Frau F. den Ton und fragt erstaunt. »Wie kommen Sie denn darauf?« Es verblüfft sie dann anscheinend auch weiterhin, als die Beraterin ihr sagt, wie einschüchternd und entmutigend die Pose von ­Unberührbarkeit und verächtlicher Kritik auf sie wirke. Beide können nun einvernehmlich darüber sprechen, dass Frau F. ihrerseits Angst vor vernichtender Kritik hat und sich deshalb hinter ihrer Pose »verschanzt«, dass sie von sich glaubt, es keinem recht machen zu können, auch nicht dem Sohn Franz. Auch von ihm fürchtet sie Ablehnung und Verachtung. Seine zärtlichen Gesten nimmt sie entgegen, als seien sie lästig und irgendwie vorwurfsvoll gemeint, Ausdruck seiner Unzufriedenheit. Die Beraterin versucht nun Franz der Mutter gegenüber zu vertreten: dass auch er sich »abgebügelt« und eingeschüchtert fühlen kann, wenn die Mutter so barsch zu ihm ist, und dass er entgegen ihrer Erwartung sie liebt und bewundert.

Frau F. hat hier großen Mut bewiesen, sich der Beraterin zu öffnen, und der Boden für ein so vertrauensvolles Gespräch war vor der Konfrontation, die die Beraterin ihr zugemutet hat, offenbar schon bereitet. Die Angst vor Beschämung kann ein echtes und schwieriges Hindernis in der Beratung sein. Die Befürchtung, versagt zu haben und sich bloßgestellt fühlen zu müssen, weil sie die natürlichste Aufgabe der Welt nicht zureichend hätten lösen können, begleitet mehr oder weniger bewusst alle Eltern, die eine Beratung suchen oder eine Therapie erwägen. Manchmal ist es schwer für sie, diese Gefühle auszusprechen. Dann kann es wichtig sein, ihre narzisstische Kränkung zum Thema zu machen und die Befürchtung zu bearbeiten, die Beraterin urteile schlecht über sie. Auch dies kann ja eine Neuauflage lebensgeschichtlich verankerter Ängste sein, die zur Sprache gebracht, aber nicht bestätigt werden sollten. Schon die Tatsache, dass Eltern eine Beratung suchen, verdient schließlich Respekt. Für narzisstisch verletzte Eltern kann auch ein übertrieben positiver Ton, ein als gönnerhaft empfundenes anerkennendes Lob für kleine Schritte eine Kränkung bedeuten. Gelegentlich freilich kann es zum Schutz des Kindes auch wichtig sein, klar zu sagen, was »einfach nicht geht«, will man nicht Angst oder umgekehrt Größen­ illusionen im Kind schüren.

Literatur Ahlheim, R. (2007). Die begleitende tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie der Eltern. In H. Hopf, E. Windaus (Hrsg.), Lehrbuch der Psychotherapie, Bd. 5: Psychoanalytische Kinderund Jugendlichen-Psychotherapie (Sp. 253–269). München: CIP-Medien. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Ahlheim, R., Eickmann, H. (1999). Wirkfaktoren in der Arbeit mit den Eltern. Z. Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie, 30 (3), 381–397. Ahlheim, R., Müller-Brühn, E. (1992). Elternarbeit als Erweiterung des analytischen Bezugsrahmens in der Kinderpsychotherapie. In G. Biermann (Hrsg.), Handbuch der Kinderpsychotherapie, Bd. V (S. 470–484). München u. Basel: Ernst Reinhardt. Argelander, H. (1970a). Das Erstinterview in der Psychotherapie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Argelander, H. (1970b). Die szenische Funktion des Ichs und ihr Anteil bei der Symptom- und Charakterbildung. Psyche – Z. Psychoanal. 24, 325–345. Benedek, Th. (1960). Elternschaft als Phase der Entwicklung. Jahrbuch der Psychoanalyse, Bd. 1 (S. 35–61). Bern u. a.: Huber. Cohen, R. S., Cohler, B. J., Weissman, S. H. (Eds.) (1984). Parenthood. A Psychodynamic Perspective. New York u. London: Guilford. Fraiberg, S. (2003). Gespenster im Kinderzimmer. Probleme gestörter Mutter-Säuglings-Beziehungen aus psychoanalytischer Sicht. Z. Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie 34 (4), 465–504. Lorenzer, A. (1970). Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Stern, D. (1998). Die Mutterschafts-Konstellation. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Udo Rauchfleisch

Psychodynamische Beratung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und ihren Angehörigen

In diesem Beitrag sollen die Prinzipien einer psychodynamischen Beratung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und ihren Angehörigen dargestellt werden. Zu den Grundlagen der psychodynamischen Beratung s. o. den Beitrag von Heike Schnoor. Im ersten Teil der folgenden Ausführungen sollen die psychodyna­ mischen Konzepte dargestellt werden, die für die Beratung von Menschen mit gleichgeschlechtlichen Orientierungen von Bedeutung sind. Danach werden die Besonderheiten dieser Klientinnen und Klienten beschrieben (s. hierzu auch Rauchfleisch, 2011). Es folgen eine Darstellung von spezifischen Beratungssituationen und ihrer Dynamik sowie Schlussfolgerungen, die sich aus der dargestellten Situation ergeben. An dieser Stelle ist noch eine grundsätzliche Frage zu klären: In den heute gebräuchlichen Diagnosenkatalogen (ICD, DSM) gibt es die Homosexualität zwar nicht mehr als Diagnose einer psychischen Störung. Immer wieder aber kann – selbst in Fachkreisen – eine Diskussion darüber entstehen, ob eine kausale Beziehung zwischen Homosexualität und psychischer Erkrankung bestehe. Aufgrund unserer heutigen Kenntnisse über die sexuellen Orientierungen können wir sagen, dass es keine wie auch immer geartete kausale Beziehung zwischen der sexuellen Orientierung und psychischer Krankheit gibt. Die Homo- wie die Heterosexualität umfassen das ganze Spektrum von psychischer Gesundheit bis Krankheit.

Konzepte der psychodynamischen Beratung Beratungen verfolgen im Allgemeinen das Ziel, bei den Klientinnen und Klienten die Entscheidungsfähigkeit, die Bewältigungskompetenzen, die Selbsthilfebereitschaft, die Selbststeuerung und die Handlungskompetenzen zu verbessern (Rauchfleisch, 2001). Dies sind Ziele, die auch für unsere psychotherapeutischen Interventionen gelten. Überhaupt scheint es mir schwierig und fragwürdig, eine scharfe Trennung zwischen Beratung und Psychotherapie vorzunehmen. Es bestehen vielmehr fließende Übergänge zwischen diesen beiden Interventionsformen, und gerade die tiefenpsychologische Sicht lässt erkennen, dass es von den angewendeten Konzepten her wichtige Übereinstimmungen gibt. Das Hauptpostulat der Psychoanalyse ist die Annahme von unbewussten Kräften, die eine zentrale Wirksamkeit in unserem Erleben und Verhalten entfalten. Aus diesem Konzept leiten sich für die Psychotherapie psychoanalytischer Prove© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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nienz die folgenden Hauptpfeiler ab: die Beachtung der unbewussten Dynamik, die gleichschwebende Aufmerksamkeit und die »technische« Neutralität, die Arbeit an Abwehr und Widerstang, die Beachtung von Übertragung und Gegenübertragung sowie Interventionen in Form von Konfrontation, Klärung und Deutung. Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit diese Aspekte auch in der Beratung relevant sind und in welcher Weise sie Anwendung finden.

Die Beachtung der unbewussten Dynamik Wie oben erwähnt, ist ein Grundpostulat der Psychoanalyse, dass es im Menschen unbewusste Kräfte gibt, die sein Verhalten mehr oder weniger steuern. Diese Kräfte sind auch in Beratungen, die stärker strukturiert sind als die klassische psychoanalytische Situation, wirksam und können mitunter die Dynamik der Interaktion zwischen Klienten und Professionellen erheblich beeinflussen. Oft klärt sich das Problem, dass Ratsuchende bestimmte Empfehlungen oder in der Beratung miteinander erarbeitete Strategien nicht umsetzen, erst dann, wenn wir berücksichtigen, dass dahinter ein unbewusster Konflikt liegt, der sich störend auswirkt. Auch ein Schwanken der Klienten zwischen Idealisierung und Entwertung der Professionellen bleibt uns unverständlich und löst unter Umständen aggressive Gegenübertragungsgefühle aus, wenn wir uns nicht darüber klar sind, dass diesen Übertragungskonstellationen unbewusste Konflikte zugrunde liegen. Wir werden am ehesten auf die Wirksamkeit des Unbewussten aufmerksam, wenn wir wahrnehmen, dass in der Interaktion mit den Klientinnen und Klienten etwas Störendes auftritt, das sich rational nicht klären lässt und einen erheblichen Einfluss auf die Beratung hat. Abweisende, misstrauische, fordernde oder andere der Situation unangemessene Reaktionen der Ratsuchenden können Hinweise darauf sein, dass hier unbewusste Prozesse ablaufen, die es ihnen verunmöglichen, das Beratungsangebot zu nutzen und die mit ihnen erarbeiteten Lösungsstrategien umzusetzen.

Die gleichschwebende Aufmerksamkeit und die »technische« Neutralität Dieser Begriff der Neutralität wird oft in dem Sinne missverstanden, dass wir als Professionelle gefühlsmäßig distanziert sein sollten. Dies ist indes keineswegs gemeint. Es geht vielmehr im Sinne des Freud’schen Konzepts der »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« (Freud, 1912) darum, gegenüber allen Äußerungen der Klientinnen und Klienten gleich offen zu sein und sich persönlicher Wertungen zu enthalten. Letzteres nicht nur, indem eigene Wertungen nicht geäußert werden, sondern auch in der Art, dass wir uns auch innerlich so weit wie möglich offen halten und vorurteilslos zuhören. Die technische Neutralität und die gleichschwebende Aufmerksamkeit stellen einen Schutz vor vorschnellen Be- und Verurteilungen dar und lassen uns auf © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Sachverhalte aufmerksam werden, die uns bei einer Haltung, die die uns mitgeteilten Informationen sofort in »wichtige« und »unwichtige« unterteilt, entgehen würden. Mit einer auf diesen psychoanalytischen Konzepten beruhenden Haltung gelingt es, den für eine konstruktive Beratung nötigen inneren Abstand zu den Klienten zu wahren und sie dort »abzuholen«, wo sie stehen und wo sie der professionellen Hilfe bedürfen. Eine Konsequenz der technischen Neutralität und der gleichschwebenden Aufmerksamkeit besteht schließlich darin, dass Beratungen, denen diese psychodynamischen Konzepte zugrunde liegen, zumindest in der Anfangsphase eher weniger strukturiert verlaufen. Wir werden die Ratsuchenden zunächst ihre Anliegen schildern lassen und möglichst wenig in den Erzählfluss eingreifen. Dabei interessiert uns nicht nur, was sie berichten und wie sie ihr Problem darstellen (wozu neben den Inhalten wesentlich auch die begleitenden Gefühle gehören), sondern auch, was sie nicht erwähnen und wo uns Gefühle zu fehlen oder inadäquat zu sein scheinen. Mit der gleichschwebenden Aufmerksamkeit folgen wir dem Bericht der Ratsuchenden, stimmen uns auf sie ein und versuchen gleichsam von innen heraus zu erspüren, um welche Probleme es geht. Dies können die von den Klienten benannten sein. Es können aber auch den Betreffenden selbst unbewusste Konflikte sein, die den dynamischen Hintergrund der mitgeteilten Probleme darstellen und bei einer effizienten Beratung unbedingt zu beachten sind, weil wir sonst die Anliegen der Klientinnen und Klienten nicht angemessen erfassen. Die Beachtung der hintergründigen Dynamik ist eine Haltung, die sich logisch aus dem oben geschilderten Postulat unbewusster Kräfte und Konflikte ergibt, die in uns Menschen wirksam sind.

Die Beachtung von Abwehr und Widerstand Die Psychoanalyse ist von ihrem Grundkonzept her eine Konfliktpsychologie. Im Freud’schen Instanzenmodell von Es/Ich/Über-Ich ebenso wie in der Ich-Psychologie (Blanck u. Blanck, 1978) und in der Objektbeziehungstheorie (Klein, 1972; Kernberg, 2006, 2009) steht die Konflikthaftigkeit des Menschen im Vordergrund. Die in den 1970er Jahren weiter ausgearbeitete Narzissmustheorie, vor allem das Konzept von Kohut (1973), hat das Konfliktmodell zwar ein Stück in den Hintergrund gedrängt und die Entwicklungsdefizite stärker betont. Letztlich aber stellt die Arbeit am Widerstand und an der pathologischen Abwehr nach wie vor ein zentrales Element der psychoanalytischen Psychotherapie dar. Die Beachtung von Widerstand und Abwehr ist auch für die Beratungssituation von zentraler Bedeutung. Ihre Wirksamkeit wird immer dort deutlich spürbar, wo die Klientinnen und Klienten zwar rational Einsicht in ein bestimmtes Problem gewonnen haben und »eigentlich« ihr Verhalten ändern könnten, eine solche Veränderung faktisch aber nicht stattfindet. In derartigen Situationen zeigt sich auch schnell, dass das Beibehalten des bisherigen Fehlverhaltens nicht dadurch zu erklären ist, dass es sich um fixierte Lernprozesse handle und eines Verhaltenstrainings © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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bedürfe, um neue Strategien zu erlernen. Die Klientinnen und Klienten halten vielmehr wider besseres Wissen und trotz engagierter Versuche des Umlernens an den alten Verhaltensweisen fest. Spätestens an dieser Stelle wird spürbar, dass wir es mit unbewussten Kräften zu tun haben, die sich der Veränderung hemmend in den Weg stellen. Die in Be­ ratungen oft auftretenden Schwierigkeiten könnten nicht bearbeitet und gelöst werden, wenn nicht die dem Verhalten der Klientinnen und Klienten zugrunde liegende Psychodynamik und die Wirksamkeit der pathologischen Abwehrprozesse berücksichtigt würden.

Die Arbeit mit der Übertragung Ein Grundpfeiler der psychodynamischen Psychotherapie ist die Übertragung. Nach Freud stellen Übertragungen »Neuauflagen, Nachbildungen von Regungen und Phantasien [dar], die während des Vordringens der Analyse erweckt und bewusst gemacht werden sollen, mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes. Um es anders zu sagen: eine ganze Reihe früherer psychischer Erlebnisse wird nicht als vergangen, sondern als aktuelle Beziehung zur Person des Arztes wieder lebendig« (Freud, 1905, S. 279). Das psychoanalytische Übertragungskonzept ist seit diesen Formulierungen Freuds zwar in vielfältiger Hinsicht weiterentwickelt und differenziert worden, in seinen Grundzügen gilt jedoch nach wie vor, dass in der Psychotherapie, vor allem wenn sie wenig strukturiert ist, Gefühle auftauchen und an der Person der Therapeutin oder des Therapeuten erlebt werden, die auf Konflikte mit frühen Bezugspersonen zurückzuführen sind und mit der aktuellen Situation in der Therapie nur entfernt zu tun haben. Die Behandelnden werden somit zu einer Projektionsfläche, an der aus der Kindheit stammende Ängste, Wünsche und Konflikte abgehandelt werden. In einer Beratung, in der wir mit dem psychoanalytischen Modell arbeiten, ist die Beachtung der Übertragungsdimension insofern wichtig, als wir mit Hilfe dieses Konzepts besonders für die interaktionelle Dimension sensibilisiert sind. Viele Beziehungskonflikte, wie sie sich zwischen den Professionellen und ihren Klientinnen und Klienten nicht nur in Psychotherapien, sondern auch in Beratungssituationen entwickeln, lassen sich letztlich nur als Ausdruck der Übertragung verstehen. Und erst dadurch wird es uns möglich, darauf in einer konstruktiven Weise zu reagieren.

Die Bedeutung der Gegenübertragung in der Beratung Neben der Übertragung ist ein weiterer Pfeiler der psychodynamischen Psychotherapie die Gegenübertragung. Während Freud die großen therapeutischen ­Möglichkeiten der Übertragung schon früh entdeckte, hat er diese Einsicht für das Phänomen der Gegenübertragung nicht mehr gewonnen. Für ihn bedeutete die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Gegenübertragung als »blinder Fleck« des Therapeuten ein Hindernis in der Behandlung (Freud, 1912). Erst die Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker der zweiten Generation haben die großen Chancen entdeckt, die auch in der Gegenübertragung liegen (Ermann, 2008; Heimann, 1964). Für sie – und das ist heute die in der Psychoanalyse allgemein akzeptierte Ansicht – ist die Gegenübertragung in einem umfassenderen Sinne die gesamte emotionale Reaktion des Therapeuten auf den Patienten in der Behandlungssituation (Sandler et al., 1973). Insbesondere lässt sich die Gegenübertragung zu diagnostischen Zwecken verwenden, indem sie uns Hinweise auf die in den Klienten vorherrschende Dynamik gibt. Oft sind es erst die Gegenübertragungsgefühle, die uns erkennen lassen, mit welchen Konflikten unsere Klientinnen und Klienten kämpfen. Und nicht selten erleben wir in der Gegenübertragung ansatzweise – zum Teil stellvertretend für die Patienten – ­etwas von den Gefühlen und Impulsen, denen die Patienten ausgesetzt sind, die aber unbewusst bleiben und die sie uns deshalb verbal oft nicht vermitteln können. Wie diese Hinweise zeigen, ist die Gegenübertragung ein außerordentlich hilfreiches Instrument, das nicht nur in psychodynamischen Psychotherapien von Bedeutung ist, sondern in allen beraterischen und therapeutischen Beziehungen, unabhängig vom theoretischen Modell, beachtet und genutzt werden sollte.

Interventionen: Klärung, Konfrontation, Deutung Nicht nur in der Psychotherapie, sondern auch in der Beratung ist der Einsatz verschiedener Interventionsformen möglich. Klärung bedeutet in diesem Fall, dass exploriert wird, welche Gefühle oder bewussten wie unbewussten Konflikte einem bestimmten Verhalten oder einer bestimmten Gefühlsreaktion zugrunde liegen. Bei der Konfrontation geben wir den Klientinnen und Klienten eine Rückmeldung darüber, dass wir bei ihnen ein bestimmtes Verhalten beobachten. Wichtig ist dabei auch zu eruieren, ob dieses Verhalten den Betreffenden selbst bewusst ist oder von ihnen nicht wahrgenommen oder sogar geleugnet wird. Deutungen im engeren Sinne, vor allem die Deutung unbewusster Konflikte, werden in der Beratungssituation im Allgemeinen nicht gegeben. Es können aber in diesem Kontext durchaus Deutungen von Zusammenhängen erfolgen, die das Verständnis des Ratsuchenden für seine Situation verbessern und ihm damit Möglichkeiten der Konfliktlösung an die Hand geben.

Besonderheiten im Leben von Lesben, Schwulen und Bisexuellen Die heterosexuelle Vorannahme und ihre Konsequenzen

In unserer heterosexuell orientierten Gesellschaft herrscht im Allgemeinen die ­Erwartung, dass die Menschen heterosexuell sind. Diese Vorannahme wird erst in © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Zweifel gezogen, wenn die betreffende Person sich selbst als homo- oder bisexuell outet oder durch bestimmte Attribute oder Verhaltensweisen signalisiert, nicht ­heterosexuell zu sein. Mit dieser heterosexuellen Vorannahme treten auch Eltern ihren Kindern entgegen. Dadurch entsteht eine Situation, in der ein Kind mit gleichgeschlechtlicher Präferenz anders erwartet wird, als es in Wahrheit ist. Diese Diskrepanz zwischen der eigenen Identität und der Fremdwahrnehmung muss nicht zwangsläufig zu schweren Traumatisierungen führen, insbesondere dann nicht, wenn die Umgebung sensibel die Entwicklung des Kindes und Jugendlichen verfolgt und vorurteilslos ist. Die heterosexuelle Vorannahme kann aber auch zu schweren Traumatisierungen führen, wenn über viele Jahre hin die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung unaufgelöst bestehen bleibt. Dies sind Situationen, in denen Lesben, Schwule, Bisexuelle und ihre Angehörigen oft bei Fachleuten Rat suchen. Homosexualitätsfeindliche Einstellungen der Umgebung

Belastungen können Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung auch durch ausgesprochen homosexualitätsfeindliche (homophobe) Einstellungen ihrer Umgebung erwachsen. Dies können Ausgrenzungen, entwertende Äußerungen bis hin zu manifesten Gewalttaten ihnen gegenüber sein und haben je nachdem mehr oder weniger schwere Auswirkungen. Trotz einer heute insgesamt in der Gesellschaft bestehenden größeren Akzeptanz von Lesben, Schwulen und Bisexuellen bestehen nach wie vor etliche Vorurteile und Zerrbilder von ihnen und äußern sich in homosexualitätsfeindlichen Reaktionen in Schule (»Bullying«: Gualdi et al., 2008a 2008b, Pullega et al., 2008) und Beruf, im familiären Kreis sowie im kirchlichen Kontext, hier vor allem von Seiten der katholischen Kirche. In derartigen Belastungssituationen können Beratungen von Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung und ihren Angehörigen große Hilfe bieten. Fehlen von Modellen für Partnerschaften

Menschen mit gleichgeschlechtlichen Orientierungen finden in ihrem Umfeld nur wenige bis keine Modelle für ihre Lebens- und Beziehungsgestaltung. Die heterosexuelle Familie, in der sie aufgewachsen sind, kann ihnen nur bedingt als Vorbild für ihre eigene gleichgeschlechtliche Partnerschaft dienen, und die Berichte in den Medien von lesbischen und schwulen Beziehungen bleiben im Allgemeinen zu vage, um ein Modell für ihre eigene Partnerschaft zu sein. Sie sind deshalb gezwungen, ihren Lebensstil und vor allem ihre Partnerschaften weitgehend selbständig zu gestalten. Dies ist indes nicht nur eine Belastung, sondern kann eine Chance sein, sich weitgehend von gesellschaftlichen Zwängen zu befreien und ganz individuelle, auf sie und ihre Partnerinnen bzw. Partner zugeschnittene ­Beziehungen zu pflegen. In diesem Prozess der sozialen Rollenfindung suchen Menschen mit gleichgeschlechtlichen Orientierungen nicht selten Rat bei Fach­leuten. Hierin liegt eine besondere © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Chance, sie für die kreativen Möglichkeiten ihrer Lebensgestaltung, die keinen starren Rollenvorgaben unterliegt, zu sensibi­lisieren.

Spezifische Beratungssituationen und ihre Dynamik Krisenintervention

Zum einen folgen Kriseninterventionen bei Menschen mit gleichgeschlechtlichen Orientierungen im Wesentlichen den Prinzipien des Vorgehens bei Heterosexuellen (s. den Beitrag von Giernalczyk und Albrecht in diesem Buch). Auch inhaltlich geht es bei ihren Krisen, wie bei Heterosexuellen, um Beziehungsprobleme, be­ rufliche Schwierigkeiten, besondere Belastungssituationen und Sinnkrisen. Zum anderen erhalten diese Situationen aber oft auch eine spezifische Dynamik beispielsweise durch die Ausgrenzungen, die Lesben, Schwule und Bisexuelle in der Gesellschaft erfahren, oder durch die Anforderungen, denen sie sich angesichts des weitgehenden Fehlens von verbindlichen Rollenvorgaben gegenübersehen. In der psychodynamisch orientierten Beratung werden wir mit der Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit und unter Zuhilfenahme der Interventionsformen von Klärung und Konfrontation einen Fokus zu definieren versuchen, der nicht nur die bewussten, sondern auch die unbewussten Aspekte des aktuellen Konflikts beinhaltet. Je nach Ausmaß und Art der Krise kann den Klientinnen und Klienten mitunter auch durch die Deutung eines unbewussten Anteils eine größere Einsicht in die Dynamik der Krise vermittelt werden. Im ganzen Prozess der Krisenintervention werden wir die Übertragungs- und Gegenübertragungsdynamik beachten und auch die daraus gewonnenen Informationen in die Beratung einfließen lassen. Immer ist es dabei aber notwendig, zu berücksichtigen, dass Menschen mit gleichgeschlechtlichen Orientierungen zumindest zu einem Teil eine andere Entwicklung durchlaufen haben und oft größeren realen Belastungen ausgesetzt sind als Heterosexuelle. Dieses »Gleich und doch Anders-Sein« (Rauchfleisch et al., 2002) bedarf unbedingter Beachtung. Klärung der sexuellen Orientierung

Gelegentlich sehen sich Beraterinnen und Berater seitens der Ratsuchenden mit der Frage konfrontiert, die sexuelle Orientierung klären zu wollen. In solchen Situationen gilt generell, dass die Klientinnen und Klienten von den Professionellen nicht in eine bestimmte Richtung gedrängt werden, sondern auf dem Weg ihrer Identitätsfindung begleitet werden. Häufig steht allerdings hinter der Frage »Bin ich homosexuell?« weniger die Unsicherheit hinsichtlich der sexuellen Präferenz als vielmehr die Frage »Wie soll ich mit meiner Homosexualität umgehen?«. Um als Beraterin und Berater zu evaluieren, ob es tatsächlich um die Frage »Homosexualität oder Heterosexualität« geht, ist es hilfreich, auf die hintergrün© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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dige – unbewusste – Dynamik und die Abwehrphänomene zu achten. Falls sich nicht nur Ängste bezüglich der (sozialen) Konsequenzen eines Coming-out zeigen und es auch keine von außen (z. B. von fundamentalistischen religiösen Gruppen) induzierten Schuldgefühle sind, sondern spürbar wird, dass der Frage nach der sexuellen Orientierung unbewusste Konflikte zugrunde liegen und die homosexuellen Phantasien ein Abwehrphänomen gegenüber der eigentlich bestehenden Heterosexualität darstellen, ist ganz besonders sorgfältig zu prüfen, ob tatsächlich eine eindeutige gleichgeschlechtliche Präferenz vorliegt. Falls sich diese Frage in einer Beratung nicht hinreichend klären lässt, sollte eine weiterführende Psychotherapie empfohlen werden, in der die zugrunde liegenden Probleme bearbeitet werden können und die betreffende Person dann eine Entscheidung bezüglich ­ihrer sexuellen Orientierung treffen kann. Die Frage nach der sexuellen Orientierung kann, begleitet von Gefühlen der Unsicherheit und Irritation, mitunter in der Adoleszenz auftreten, wenn die Heranwachsenden Phantasien und Wünsche erleben, die sich auf Personen des gleichen Geschlechts richten. Oft haben die Betreffenden zwar schon früher gespürt, dass ihre Gefühle anders als die ihrer Kameradinnen oder Kameraden sind. Aber sie haben sich in der Kindheit damit zumeist noch nicht bewusst auseinandergesetzt, was nun in der Adoleszenz aber notwendig wird. In diesem Klärungsprozess können fachliche vorurteilsfreie Beratungen sehr hilfreich sein und einen konstruktiven Coming-out-Prozess einleiten. In diesem Prozess ist es hilfreich, auf die sich entwickelnde Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik zu achten, zum Beispiel ob die Heranwachsenden die ablehnende Haltung ihres Vaters gegenüber der Homosexualität auf den Berater projizieren und aus diesem Grund manche sinnvollen und letztlich hilfreichen Interventionen als Infragestellung ihrer sexuellen Orientierung erleben. Bei der Bearbeitung dieser Dynamik werden vor allem die Interventionsformen Klärung und Konfrontation, teilweise aber auch die Deutung der projektiven Prozesse verwendet. Eine echte Frage, ob sie homo- oder heterosexuell seien, kann der Wunsch nach Klärung der sexuellen Orientierung bei bisexuellen Menschen sein. Beim Gewahrwerden ihres sich auf beide Geschlechter richtenden Begehrens reagieren sie zumeist sehr irritiert, weil sie – wie auch ihr Umfeld – davon ausgehen, ein Mensch müsse entweder hetero- oder homosexuell sein. In dieser Situation sind Beratungen oft indiziert, damit die Präferenz und die daraus für die Partnerbeziehungen resultierende Dynamik geklärt werden können. Häufig wird man in diesem Prozess sinnvollerweise auch die Partnerinnen und Partner mit in die Beratung einbeziehen, da diese durch die bisexuelle Orientierung ihrer Partner zum Teil sehr verunsichert sind. Beratung bei Coming-out-Prozessen

Die meisten Beratungen werden von Menschen mit gleichgeschlechtlichen Orientierungen im Verlauf ihres Coming-out gesucht. Es ist ein Prozess, in dem sich die Betreffenden zunehmend ihrer Homosexualität bewusst werden und sie dann © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Udo Rauchfleisch · Beratung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen

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nach und nach der weiteren und ferneren Umgebung mitteilen sowie einen ihrer Orientierung entsprechenden Lebens- und Beziehungsstil finden (s. Rauchfleisch, 2011). Zumeist verlaufen diese Entwicklungsschritte ohne große Schwierigkeiten. Es gibt aber Situationen, die sich krisenhaft zuspitzen können, zum Beispiel wenn Jugendliche in einer von rigiden Normen bestimmten Familie oder einer sonst stark homosexualitätsfeindlichen Umgebung aufwachsen oder wenn das Comingout erst im mittleren bis höheren Lebensalter erfolgt, wenn bereits eine Ehe geschlossen worden ist und Kinder in der Familie leben. In diesen Fällen durchläuft nicht nur die homosexuelle Person selbst ein Coming-out, sondern das ganze ­Familiensystem, d. h. Eltern, Geschwister, Ehegatten und Kinder. Sie alle müssen eine Art Coming-out-Prozess mitmachen, indem sie sich mit der gleichgeschlechtlichen Orientierung ihres Familienmitglieds auseinandersetzen und von der Umgebung als Angehörige einer Lesbe, eines Schwulen oder einer bisexuellen Person wahrgenommen und angesprochen werden. Außerdem sind im Fall von Ehen die Reaktionen der heterosexuellen Ehegattinnen und -gatten auf die Homosexualität ihres Angehörigen zu berücksichtigen und in der Beratung zu klären. Zumeist finden sich neben den Gefühlen der Trauer über die zerbrechende Beziehung Enttäuschung und Verbitterung, aber auch Wut wegen des dem Coming-out meist vorausgehenden »Doppellebens« (heterosexuelle Ehe und daneben homosexuelle Beziehungen). Die daraus entstehenden Paar- und Familienkonflikte sind in der Beratung zu bearbeiten. In solchen Beratungen ist die Haltung der technischen Neutralität, die alle Themen gleich wichtig nimmt und keine Bewertung vornimmt, von großer Bedeutung. Dies gilt beispielsweise insofern, als sich die Beraterinnen und Berater jeder direktiven Einflussnahme auf die Wünsche der Ehegatten, zusammenzubleiben oder sich zu trennen, oder auf die Entscheidung, ein konsequentes oder kein oder ein nur teilweise erfolgendes Coming-out zu durchlaufen, enthalten müssen. Wie in anderen Entwicklungsprozessen können nur die Betreffenden selbst entscheiden, wie sie sich verhalten wollen. Die Beratenden stellen sich ihnen lediglich als Begleiterinnen und Begleiter bei diesem Selbstfindungsprozess zur Verfügung. Außerdem ist in solchen Beratungen die Beachtung der Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik wichtig, weil sich hierin unter Umständen Konflikte zeigen, die den Betreffenden selbst nicht bewusst sind und von ihnen deshalb auch nicht thematisiert werden. Dies gilt beispielsweise für die per Übertragung auf die Beratenden projizierte Ablehnung der Homosexualität durch Eltern, die sich mit der Homosexualität ihres Kindes schwer tun. Diese Projektionen können dazu führen, dass sich die Ratsuchenden in ihrer eigenen homophoben Einstellung bestätigt sehen. Beziehungskonflikte

Grundsätzlich finden sich bei Menschen mit gleichgeschlechtlichen Orientierungen die gleichen Beziehungskonflikte wie bei Heterosexuellen: Nähe-Distanz-Re© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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gulierung, Macht-Ohnmacht-Verhältnisse in Partnerschaften, Autonomie-Abhängigkeit, Rollenverteilung, sexuelle Probleme usw. Eine spezielle Färbung erhalten diese Konflikte bei Lesben, Schwulen und Bisexuellen aber zum einen dadurch, dass sie eine in etlichen Aspekten von Heterosexuellen abweichende Entwicklung durchlaufen. Zum anderen haben sie primär eine heterosexuell geprägte Erziehung erfahren, die ihre Bilder von Frau und Mann und von der Rollenverteilung in Partnerschaften maßgeblich beeinflusst haben. Diese Besonderheiten sind bei Beratungen von Menschen mit gleichgeschlechtlichen Orientierungen und ihren Angehörigen zu berücksichtigen, um ihrer spezifischen Situation gerecht zu werden. Neben dem systemischen Ansatz, der bei solchen Beratungen zum Tragen kommt, sind bei Beziehungskonflikten insbesondere die unbewussten, meist aus der Herkunftsfamilie stammenden Konflikte zu berücksichtigen. Oft werden auf die Partnerin oder den Partner Aspekte projiziert, die aus Erfahrungen mit der Mutter und dem Vater resultieren. Oder es werden auf die Partnerinnen und Partner verinnerlichte negative Bilder der Homosexualität projiziert, wie sie den Betreffenden von ihrer Umgebung vermittelt und von ihnen dann introjiziert worden sind (verinnerlichte Homophobie). Diese projektiven Prozesse gilt es aufzudecken, um dadurch eine realistischere Basis für die Beziehung zu bilden. Die verinnerlichte Homophobie ist eines der wichtigsten Störelemente in der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Menschen mit gleichgeschlechtlichen Orientierungen und kann zu massiven Beziehungskonflikten und zu schwerwiegenden Selbstwertund Sinnkrisen führen (Wiesendanger, 2005). Probleme im beruflichen Bereich

In Anbetracht der in unserer Gesellschaft vielfach noch bestehenden Ablehnung homosexueller Lebensweisen kann es auch im beruflichen Bereich zu Ausgrenzungen, Benachteiligungen und anderen Formen der Diskriminierung kommen (vgl. Knoll et al., 1997). In diesen Fällen werden mitunter Beraterinnen und Berater aufgesucht, die, um die Situation richtig einschätzen zu können, unbedingt mit den spezifischen Lebensumständen von Menschen mit gleichgeschlechtlichen Orientierungen vertraut sein müssen. Das Problem ist im Fall der beruflichen Konflikte, dass es oft schwierig ist, zu ergründen, ob es tatsächliche Diskriminierungen und Benachteiligungen aufgrund der Homosexualität sind oder ob bei einem beruflichen Konflikt oder Misserfolg die Homosexualität von der betreffenden Person als Ursache angegeben wird, obwohl dies tatsächlich nicht der Fall ist. Hier bedarf es einer genauen ­Abklärung der sozialen Realität und der Feststellung, welchen Anteil der Betreffende selbst am Konflikt hat. Mangelndes Selbstwertgefühl und negative Erfahrungen in der Vergangenheit (vor allem Ablehnung der Homosexualität von Seiten der Eltern) können zu einer negativen Erwartungshaltung geführt haben, die bewirkt, dass alle Misserfolge im Leben der Homosexualität zugeschrieben werden. Hier bedarf es der klärenden und deutenden Interventionen der Beratenden, um © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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zwischen tatsächlichen und vermeintlichen Ursachen zu differenzieren und damit die soziale Kompetenz der Person mit gleichgeschlechtlicher Orientierung zu verbessern. Abklärung der Indikation zu therapeutischen Interventionen

Wie eingangs ausgeführt, sagt die sexuelle Orientierung eines Menschen nichts über psychische Gesundheit oder Krankheit aus. Im Fall psychischer Probleme verlaufen die Beratungen bei hetero- wie homosexuellen Klientinnen und Klienten im Prinzip gleich: Es gilt abzuklären, ob und, wenn ja, welche psychischen Störungen vorliegen und welche therapeutischen Maßnahmen zu empfehlen sind. Die beschriebene Situation, in der Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung in unserer Gesellschaft aufwachsen und leben, hat indes zur Folge, dass bei ihnen die psychischen Störungen mitunter eine spezifische Färbung durch ihr Leben als Lesbe, Schwuler und Bisexueller annehmen und eine besonders geartete Interaktion mit den psychischen Problemen ausbilden (vgl. Rauchfleisch et al., 2002). Einen Teil der psychischen Erkrankungen von Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung stellen Reaktionen auf ihre schwierigen Lebensumstände in einer stark von heterosexuellen Standards geprägten Gesellschaft dar (z. B. depressive Verstimmungen, Angsterkrankungen, psychosomatische Probleme usw.; vgl. Schneeberger et al., 2002). Daneben gibt es, wie bei Heterosexuellen, auch primäre psychische Erkrankungen (z. B. Persönlichkeitsstörungen, schizophrene Erkrankungen usw.), die in keinem kausalen Verhältnis mit der Homosexualität stehen, aber in ihrem Erscheinungsbild und ihrer Dynamik von der sexuellen Orientierung geprägt werden. Dies kann sich beispielsweise bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen (Kernberg, 2006, 2009) darin äußern, dass die bei diesen Erkrankungen generell bestehende starke Projektionsneigung sich bei homosexuellen Patienten darin äußert, dass sie alles Böse in der Aussenwelt sehen und sich darauf berufen, dass in unserer Gesellschaft Homosexuelle doch tatsächlich häufig diskriminiert werden. In der Beratung und Therapie solcher Patientinnen und Patienten kommt es darauf an, den Realitätsanteil zu klären und den projektiven Anteil zu deuten. Ähnlich ist es mit der bei Borderline-Persönlichkeiten im Allgemeinen bestehenden Neigung, fusionäre Beziehungen einzugehen. Diese Neigung finden wir bei hetero- wie homosexuellen Patienten. Bei Lesben und Schwulen mit einer solchen Persönlichkeitsstörung erhält diese Art der Beziehungsgestaltung aber noch eine besondere Ausprägung durch die Tatsache, dass hier zwei Menschen des gleichen Geschlechts miteinander leben, was die Illusion der Gleichheit noch verstärkt. Wegen der genannten Besonderheiten ist bei Beratungen von Lesben, Schwulen und Bisexuellen mit psychischen Störungen die Beachtung der oben dargestellten psychodynamischen Aspekte besonders wichtig. Dabei ist auf der einen Seite die Realität ihrer spezifischen Lebenssituation in Rechnung zu stellen. Auf der anderen Seite aber dürfen sich die Beraterinnen und Berater dadurch nicht dazu ver© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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führen lassen, allein die sozialen Gegebenheiten zu beachten, sondern müssen unbedingt die psychische Dynamik, die sich in Abwehr, Widerstand, Übertragung und Gegenübertragung manifestiert, in ihre Überlegungen einbeziehen.

Schlussfolgerungen Die psychodynamisch orientierte Beratung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und ihren Angehörigen folgt in weitem Maße den Beratungen, wie sie generell durchgeführt werden. Das Spezifische des psychodynamischen Ansatzes liegt in der besonderen Beachtung der unbewussten Konflikte, der Wirksamkeit von Abwehr und Widerstand, der Haltung der technischen Neutralität und der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, der Fokussierung auf die Interaktion zwischen Beratenden und Ratsuchenden in Gestalt von Übertragung und Gegenübertragung sowie im Einsatz der Interventionsformen von Klärung, Konfrontation und Deutung. Bei Lesben, Schwulen, Bisexuellen und ihren Angehörigen ist die besondere Situation, in der sie in einer von heterosexuellen Standards bestimmten Gesellschaft aufwachsen und leben, zu beachten. Dies erfordert zum einen im Sinne der technischen Neutralität eine prinzipielle Offenheit und Wertschätzung von gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen und die Einsicht, dass die sexuellen Orientierungen selbst nichts mit einer wie auch immer gearteten Pathologie zu tun haben, sondern in sich das ganze Spektrum von Gesundheit bis Krankheit enthalten. Zum anderen sollten die Beratenden, die von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und ihren Angehörigen aufgesucht werden, zumindest ein rudimentäres Wissen von den spezifischen Lebensumständen ihrer Klientinnen und Klienten besitzen und sich, wenn nötig, von mit diesem Thema vertrauten Fachleuten und von Homosexuellenorganisationen beraten lassen. Die psychodynamisch orientierte Beratung bietet die besondere Möglichkeit, nicht nur die vordergründige Problematik zu erfassen, sondern sich auch ein Bild von den nicht direkt zugänglichen Problemen und den unbewusst wirksamen Faktoren zu verschaffen, die einen mehr oder weniger großen Einfluss auf die Beratung haben.

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Meinolf Peters

Psychodynamische Beratung Älterer – Auf der Suche nach Identität

Psychosoziale Beratung Älterer – Ein vernachlässigtes Beratungsfeld Psychotherapie und psychosoziale Beratung sprechen ihre jeweilige Klientel auf unterschiedlichen Problemebenen an. Wer eine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nimmt, definiert sich als krank, wer hingegen eine Beratung aufsucht, fühlt sich von bestimmten Anforderungen der sozialen Welt überfordert (Großmaß, 2005). Ein Beratungsprozess weist demzufolge von Beginn an eine Nähe zum alltäglichen Problemerleben und der damit verbundenen Selbst- und Weltsicht, sprich der psychosozialen Identität auf. Schon dadurch wird sichtbar, dass Beratung für ältere Menschen ein unverzichtbares Angebot darstellt, ist doch ihr Alltag oftmals in besonderer Weise belastet und auf irgendeine Art und Weise ins Stocken geraten. Überfordernde Entwicklungsaufgaben, Anpassungskonflikte oder Einschränkungen und Verluste erfordern Veränderungen der alltäglichen Lebensgestaltung und Lebensdeutung, die nicht immer ohne weiteres gelingen. Demzufolge kann bei älteren Menschen von einem hohen Beratungsbedarf ausgegangen werden (Peters, 2009). Doch der Begriff »Beratung« hat sich gerade im Altersbereich bis zur Unkenntlichkeit ins Unspezifische verloren und auf seine alltagssprachliche Bedeutung ­reduziert. Im Pflege-Weiterentwicklungsgesetz aus dem Jahre 2009 ist die Bedeutung von Beratung zwar in besonderer Weise hervorgehoben worden, doch Konturen einer psychosozialen Beratung werden dabei kaum sichtbar. Diesem eingeschränkten bzw. unspezifischen Verständnis von Beratung entspricht weitgehend auch die bisherige Beratungspraxis in der Senioren-, Alten- und Angehörigenberatung. Zwar findet in der Altenhilfe in großem Umfang Beratung statt, bei der die Alltagsprobleme der älteren Menschen im Fokus stehen, doch meist kommt ein Beratungsverständnis zum Tragen, das einem Fürsorgedenken verhaftet und auf konkrete Hilfen und Unterstützungsangebote beschränkt bleibt. In den seltensten Fällen werden die Beratungsthemen auf ihre Hintergründe, Implikationen und Zusammenhänge hin durchleuchtet, obwohl Berater in zahlreichen Fällen psychosoziale Konflikte im Hintergrund vermuten (Heinemann-Koch u. Korte, 1999); im Pflegebereich unterbleibt dies vollständig (Koch-Straube, 2009). Ein psychodynamischer Ansatz nimmt aber gerade die Konflikte in den Blick, die den alltäglichen Schwierigkeiten zugrunde liegen. In diesem Beitrag wird für eine psychodynamisch-orientierte Erweiterung des Beratungsverständnisses plädiert, insbesondere auch vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Veränderungen des Alters und Altwerdens. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Fallvignetten Die 72-jährige Frau B. wurde in der Beratung vorstellig, nachdem sie bereits in einem vorab geführten Telefonat ihr Gefühl der Erschöpfung und Überforderung deutlich zum Ausdruck gebracht hatte. Sie kam mit einem ausgeprägten Entlastungswunsch ins Erstgespräch und rückte mit Verweis auf Hörprobleme den Stuhl nah an den Berater heran, was diesem spürbares Unbehagen bereitete und ihn zurückweichen ließ. Sie schilderte nun überhastet und voller Druck zunächst ihre eigene gesundheitliche Situation, v. a. ihre koronare Herzerkrankung, die erst vor wenigen Wochen zu einer Stentimplantation geführt hatte; zwei Jahre zuvor hatte sie bereits einen Herzinfarkt erlitten. Vor allem aber sei sie völlig erschöpft und überfordert mit der Pflege des Ehemannes. Sie fühle sich von ihm bedrängt, er lasse ihr keine Freiheit, erwarte zu viel von ihr und habe kein Verständnis für ihr Gefühl der Überforderung. Der Ehemann war infolge einer Parkinson-Erkrankung schwer pflegebedürftig, und obwohl er inzwischen tagsüber in einer Tagespflegeeinrichtung untergebracht war, erlebte sie dies doch kaum als Entlastung. Es schien, dass ihr Gefühl der Überforderung nicht allein aus den tatsächlich anfallenden Pflegeaufgaben herrührte, sondern noch andere Quellen hatte. Tatsächlich war bereits ein Pflegedienst eingeschaltet gewesen, diesen hatte sie jedoch wieder abbestellt, weil sie ein Entlastungsangebot nicht annehmen konnte. Jetzt sogleich ein Case Management in Gang zu setzen und weitere Entlastungsmöglichkeiten zu schaffen, erschien keineswegs sinnvoll. Es war also nicht zu umgehen, die Gesamtsituation genauer zu betrachten, wobei folgende Geschichte sichtbar wurde. Bei dem Ehemann handelte es sich um ihre Jugendliebe, die sie jedoch damals auf Drängen der Eltern aufgegeben hatte. Beide hatten andere Partner gewählt, doch vor einigen Jahren, nachdem die Ehefrau des Mannes verstorben war, setzte er sich erneut mit ihr in Verbindung. Sie schilderte, wie sie seine Arbeitsstelle aufsuchte, um ihn dort abzufangen, und als sie auf ihn traf, hakte sie sich bei ihm unter, und sie liefen Seite an Seite, als ob sofort die alte Vertrautheit zurückgekehrt sei und ihr Verliebtsein die Zeit überdauert hatte. Zu Hause legte sie ihrem Mann einen Zettel hin, dass sie ihn verlasse, und lebte nun mit der alten, nun wieder jungen Liebe zusammen. Dass er ihr schon damals mitgeteilt hatte, dass er an Parkinson leide, hatte sie geflissentlich überhört, zu einem Zeitpunkt, als das Alter näher rückte, war sie in ein Gefühl von Jugendlichkeit geflohen, in dem Einschränkungen keinen Platz hatten. Doch nun war diese Phantasie durchkreuzt, sie war in den Strudel eines belasteten Alterns geraten und in Loyalitätskonflikten, Schuldgefühlen und Trennungswünschen gefangen. Die davon ausgehende Lähmung ließ sie den Alltag als große Last erleben. Der zweite Klient, Herr T., suchte kurz vor seinem 60. Geburtstag die Beratungsstelle mit dem Wunsch auf, kein »knottriger Alter« werden zu wollen. Es handelte sich um einen stillen, zurückgezogenen Mann, der ganz offensichtlich einer anderen Kohorte Älterer angehörte. Er hatte sich in den 1960er Jahren an den damaligen Protesten beteiligt, Drogenerfahrungen gesammelt, ein Studium abgeschlossen, das als Broterwerb nicht taugte, und danach eine handwerkliche Ausbildung absolviert, in dem Beruf arbeitete er bis heute, jetzt aber stand der Vorruhestand bevor. Von seiner ersten Frau, mit der er drei erwachsene Kinder hatte, hatte er sich getrennt, nun lebte er mit einer deutlich jüngeren Frau zusammen, mit der er einen gerade schulpflichtigen Sohn hatte. Von seiner zweiten Frau, die sehr aktiv und umtriebig war, fühlte er sich vernachlässigt, und um sie zu binden, hatte er sich, wenn auch widerwillig, einverstanden erklärt, an einem neuen Wohnort mit ihr ein Haus zu bauen, das nun gerade bezogen worden war. Kurz vor seinem 60. Geburtstag tauchte in einem Traum die Sorge auf, zur Geburtstagsfeier könnte die Treppe noch nicht eingezogen sein. Dieses © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Bild spiegelte symbolisch die Angst vor dem neuen Lebensabschnitt wider, die Angst, den Übergang nicht zu schaffen, im Alter abgeschnitten zu sein und endgültig die Bindung zu verlieren. Dieses Erleben schien eine lebenslang bestehende Angst vor Ausgrenzung wieder zu aktivieren, so wie er sich in seiner Herkunftsfamilie – er stammte aus einer kinderreichen, gut bürgerlichen Familie – immer am Rande fühlte. Erst gerade hatte er die Erfahrung gemacht, dass die in einem Heim lebende Mutter bei der Feier zu ihrem Geburtstag eine Rede hielt, in der sie alle Kinder namentlich erwähnte, aber ihn vergaß. Er suchte nun die Ehe- und Lebensberatungsstelle auf, um seine Ehe zu retten, in der er sich ebenfalls vernachlässigt und von der Lebendigkeit seiner Frau abgeschnitten fühlte. Der Alltag war zu einer spannungsreichen, ja manchmal qualvollen Angelegenheit geworden.

Es handelt sich um zwei sehr unterschiedliche Beratungsfälle, die die Spannweite heutiger Seniorenberatung verdeutlichen. Frau B., bei der eine komplexe Überforderungssituation vorlag, war sicherlich auf die etablierten Hilfen bei Demenzerkrankungen bzw. pflegenden Angehörigen angewiesen. Doch diese waren bereits einmal gescheitert, und dazu mag neben der Verleugnung eigener Hilfsbedürftigkeit auch das Gefühl des Scheiterns ihres Altersmodells beigetragen haben. Das unbewusste Konzept, die eigene Jugend im Alter noch einmal aufleben zu lassen und sich tragen zu lassen von einem neuen Gefühl des Verliebtseins, erwies sich als nicht tragfähig. Damit aber war sie mit der Frage konfrontiert, welche Bedeutung sie ihrem Leben im Alter geben könne, eine Frage, die sie bislang hypomanisch abgewehrt hatte. Die Konfrontation mit den Schattenseiten des Alters stellte sie vor ein fundamentales Identitätsproblem, das in dem Beratungsprozess nicht ausgeklammert werden konnte. Herr T. hingegen gehörte einem völlig anderen Typus älterer Ratsuchender an, die keine herkömmliche Altenberatungsstelle aufsuchen, sondern sich an eine Ehe- und Lebensberatungsstelle wenden, um dort sogleich ihre Identitätsproblematik zu thematisieren.

Identitätskonflikte heutiger Älterer – Auf der Suche nach Identität Auch älteren Menschen wird in der postmodernen Gesellschaft zunehmend Identitätsarbeit abverlangt, um mit Widersprüchen, Unsicherheiten und Brüchen im Leben zurechtzukommen. Das Alter stellt mehr denn je vor die Aufgabe der Selbst­organisation und »Selbsteinbettung« (Keupp, 2004). Immer dann, wenn dies nicht ohne weiteres gelingt und die alltägliche Lebensbewältigung und Lebensdeutung in Frage steht, wird Identität thematisch und damit potentiell zum Beratungsthema. Wie aber lassen sich psychosoziale Identitätskonflikte und -krisen älterer Menschen heute beschreiben? Das Alter stand im letzten und vorletzten Jahrhundert vornehmlich unter dem Verdikt von Abbau und Verlust. Das negative Altersstereotyp war die Kehrseite einer kapitalistischen Gesellschaft, die Jugend als Sinnbild für Aufbruch und stetige Erneuerung stilisierte. Mit diesem defizitorientierten Altersstereotyp identifizierten sich Ältere lange Zeit vorbehaltlos, zumal sie ihm vielfach auch entspra© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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chen, waren sie doch nach einem arbeitsreichen Leben meist erschöpft und körperlich verbraucht. Von einer solchen Entsprechung kann heute jedoch kaum noch ausgegangen werden. Die Entwicklungsmöglichkeiten und Ressourcen, über die insbesondere die jungen Alten verfügen, sowie die soziokulturelle Verjüngung dieser Altersgruppe, die sich in ihrem Habitus, ihren Vorlieben und Gewohnheiten kaum mehr von anderen Altersgruppen unterscheidet, stehen zum negativen Altersstereotyp in eklatantem Gegensatz. Zwar hat sich dieses nicht aufgelöst, aber es hat an Wirkmächtigkeit verloren und wird kaum noch als brauchbare Identitätsfolie wahrgenommen. Stattdessen bildet sich mehr und mehr eine allgemeine Norm der Alterslosigkeit, und der gesellschaftliche Altersdiskurs wird zunehmend mit einem positiven Duktus geführt. Parallel dazu werden neue Altersbilder wie golden agers, best agers, pro aging oder gar happy aging kreiert. Diese Begriffe wirken, als seien sie werbewirksam gestalteten Katalogen entnommen und dem Alter wie ein Etikett von außen angeheftet, und manchmal zielen sie unverhohlen auf das Alter als aging enterprise (vgl. Amrhein u. Backes, 2008). Seriöser wirkt der Begriff des Seniors, der zunehmend in den öffentlichen Sprachgebrauch einfließt. Doch auch dieser Begriff erscheint merkwürdig farblos, ohne Inhalt und Konturen, allein negativ als »nicht mehr jung« oder »nicht mehr im Beruf stehend« definiert. Den neuen Altersbildern fehlt es an substantiellem Inhalt, sie verheißen Alter, ohne alt zu werden, versprechen eine Kontinuität des bisherigen Lebens, in dem das Alter seinen Schrecken verliert und als »späte Freiheit« idealisiert wird. Auch das körperliche Altern könne dem alterslosen Selbst, das als kontinuierlich und quasi zeitlos erlebt wird, nichts anhaben, so Featherstone und Hepworth (1991). Die gealterte äußere Erscheinung werde als täuschende Maske erlebt, die den Blick auf das »wahre« jugendliche Selbst versperre. Modernisierte Gesellschaften kennzeichnet eine inhärente Spannung zwischen dem subjektiven Selbst und der äußeren biologische Rückbildung (Biggs, 2003, 2004; Schröter, 2008). Diese Spannung spiegelt sich auch in einer Diskrepanz zwischen subjektivem und kalendarischem Alter, die mit zunehmendem Alter immer größer wird (Öberg u. Tornstam, 2001) und in der jugendzentrierten amerikanischen Gesellschaft noch ausgeprägter ist als hierzulande (Westerhoff et al., 2003). Die Abgrenzung und Distanzierung vom Alter nimmt vielfältige Formen an und reicht bis in sprachliche Nuancen hinein; alt sind immer die anderen, nicht man selbst (Hurd, 1999; Thimm, 2000). Um das Selbst zu schützen wird das Alter abgespalten, und diese Spaltung zwischen Innen und Außen impliziert auch ein Auseinanderreißen von Gegenwart und Zukunft mit der Folge, dass das hohe Alter nicht mehr als Teil der eigenen Zukunft erlebt wird. Die Trennung zwischen »wir« und »sie«, zwischen »man selbst« und »den anderen«, denen das Stigma »alt« angeheftet wird, mündet in einer Spaltung des Alters auf gesellschaftlicher Ebene. Mehr und mehr kristallisiert sich heute das sog. »dritte«, meist noch aktive Alter heraus, das zum ersehnten und tendenziell gesellschaftlich akzeptiertem Alter avanciert, während die abgelehnten Seiten des Alters auf die betagten Alten – das sog. »vierte« Alter – projiziert werden, die sich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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mit diesem Fremdbild identifizieren. Die negativen Folgen für das Selbst liegen auf der Hand, die Marginalisierung des hohen Alters ist eine zwangsläufige Folge dieser Entwicklung. Einer solchen Stereotypisierung, die Frauen mehr trifft als Männer (Hurd, 1999), können Ältere nur entgehen, indem sie immer wieder ein altersloses Selbst von sich entwerfen und dieses durch stetige Aktivität und einen jugendlichen Habitus zu validieren suchen. Die Belege für eine Distanzierung vom Alter ließen sich fortsetzen, und so sind denn längst Stimmen zu vernehmen, die darin eine neue Form des ageism sehen (Andrews, 1999). Dass die Reinigung des Alters von allem Negativen nur sehr begrenzt gelingen kann und ein Oberflächenphänomen bleibt, zeigen Assoziationsexperimente zu impliziten Altersbildern. Diese verdeutlichen, das unterhalb der Wahrnehmungsschwelle Alter weiterhin negative Assoziationen hervorruft, die sich von denen unterscheiden, die mit dem Adjektiv »jung« verknüpft sind (Levy u. Banaji, 2002). Die abgespaltenen, als bedrohlich erlebten Seiten des Alters existieren im Unbewussten fort, indem sie aber nicht integriert werden, beraubt sich das Selbst einer wesentlichen Erfahrungsdimension. Verschließt es sich der Erfahrung des Älterwerdens, besteht die Gefahr, dass die Innenseite der Persönlichkeit zum Stillstand kommt, während die äußere Fassade älter wird (Stroeken, 1993). Indem das Selbst vor der zeitlichen Realität, die sich im körperlichen Altern manifestiert, flieht, droht es, zur »Truggestalt von sich selbst« zu werden (Rosenmayr, 1996). Bereits Friedan (1995) hatte davor gewarnt, dass das Festhalten an einem alterslosen Selbst die Gefahr heraufbeschwört, zum passiven Opfer des Alters zu werden, so wie Frau B. zum Opfer ihres Altersbildes geworden war, in dem Einschränkungen und Verluste nicht vorkamen. Sie stand nun vor der Aufgabe, sich der neuen Realität anzupassen, in der sie mit einem kranken, pflegebedürftigen Mann konfrontiert war, der gerade noch eine wiedergefundene Jugendliebe zu sein schien. Das Alter ist zu einer dynamischen Lebensphase geworden und bietet heute mehr denn je die Chance zur Entwicklung von Individualität und authentischer Identität, doch das soziokulturelle Umfeld der »Erlebnisgesellschaft« (Schulze, 1995), in der jeder Einzelne an seinem Projekt vom »schönen Leben« zu basteln hat – zu dem nicht zuletzt gehört, jung zu sein oder zumindest so zu wirken –, erschwert gleichzeitig einen solchen Entwicklungsprozess. Wenn das alterslose Selbst zur Norm erhoben wird, muss das eingeschränkte Alter wie ein persönliches Versagen erlebt werden, das mit Schamgefühlen behaftet ist. Die Identifikation mit dem negativen Altersstereotyp bot zwar keine neuen Lebensoptionen, wohl aber eine Entlastung von gesellschaftlichen Normen und Leistungsansprüchen und erleichterte die Akzeptanz von Einschränkungen und Verlusten. Teil der »komplexen Wahrheit des Alters« (de Beauvior, 1970) ist die existentielle Dimension, die den älter werdenden Menschen mit Zeitlichkeit, Endlichkeit und Tod konfrontiert (Peters, 2004), eine Erfahrung, die sich nicht zuletzt auch körperlich vermittelt. Das Leben stößt an Grenzen, Kontingenzerfahrungen, d. h., Ereignisse, die dem Menschen widerfahren und die er nicht zu beeinflussen vermag, können die Weichen für das weitere Leben neu stellen und vermitteln ein © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Gefühl von der Zerbrechlichkeit des Seins. Diese Dimension der menschlichen Existenz entzieht sich immer wieder der Wahrnehmung, und Freuds (1915) Hinweis auf die Zeitlosigkeit des Unbewussten, das keine Vorstellung von Tod habe, zeigt, dass die natürlichen Lebensimpulse sich gegen diese facts of life (MoneyKyrle, 1971) richten. Dennoch besteht eine fundamentale Aufgabe des höheren Lebensalters darin, diesen Lebenstatsachen Rechnung zu tragen (Teising, im Druck), eine Aufgabe allerdings, die einer soziokulturellen Unterstützung bedarf. Es fehlt aber eine solche unterstützende »Kultur des Alters«, wie Baltes (1991) sie gefordert hatte, die dem Alter mehr gesellschaftliche Anerkennung verschafft, aber gleichwohl den Eigenwert dieses Lebensabschnittes betont, und in der substan­ tielle Altersbilder entstehen können, die dem Einzelnen Identifikationsmöglichkeiten und Wege zu einem vitalen Altern bieten, ohne die Schattenseiten des Alters verleugnen zu müssen.

Von der Identitätskrise zur Aneignung des Alters – Eine Beratungsaufgabe Entwicklung von Identität erfordert die Durcharbeitung und Bewältigung von Entwicklungskrisen, so Erikson (1973). Angesichts des skizzierten Wandels heutigen Alterns kann eine normative Entwicklungskrise in diesem Lebensabschnitt als universell, aber auch als notwendig betrachtet werden, um eine tragfähige und stabile Altersidentität zu gewinnen. Dass dies mehr denn je Aufgabe des Einzelnen ist, ist Folge der Individualisierung in der Gegenwartsgesellschaft, die zunehmend auch das Alter erfasst. Damit wird der Umgang mit der Identitätskrise des Alters, auf die de Beauvoir (1970) bereits vor vielen Jahren hingewiesen hatte, zum Kristallisationspunkt, der Chancen auf Entwicklung ebenso umfasst wie die Möglichkeit des Scheiterns, des Entwicklungsstillstandes oder des Abgleitens in ein vorzeitiges, eingeschränktes Altern, eine Angst, die auch Herrn T. beunruhigte. Wie aber ist dieser Prozess zu verstehen? Obwohl sich das Älterwerden in der Person selbst vollzieht, ist es eine Erfahrung, die von außen zu kommen scheint und dem Menschen zustößt. Insofern dürfte es in der Regel zu einem gewissen Zeitpunkt mit dem Gefühl der Fremdheit verbunden sein. Jaeggi (2005) beschreibt das Phänomen der Entfremdung als Gefühl der Entzweiung, als eine Macht- und Beziehungslosigkeit sich selbst oder der als fremd erlebten Welt gegenüber. Der Existenzialist Jean Améry (1968) hat den Prozess des Alterns als einen solchen Prozess zunehmender Entfremdung analysiert. Dieser vollziehe sich auf mehreren Ebenen, angefangen bei dem Vergehen der Zeit, die dem Älteren davonlaufe und die sich jedem Versuch, sie intellektuell zu erfassen, entziehe, sowie den körperlichen Veränderungen, die den Alternden dem vertrauten Bild von sich selbst und seinem Körper entfernten. Die soziale Entfremdung entstehe, weil die Älteren soziale Rollen und ihre soziale Macht verlören und stattdessen an den Rand der Gesellschaft gedrängt würden; die kulturelle Entfremdung komme zustande, da die Zeit über die Älteren hinweg gehe und sie sich immer we© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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niger mit dem identifizieren könnten, was sie umgibt. Sie verstünden manches nicht mehr, was die Welt ausmache, die nicht mehr die ihre sei (Améry, 1968). Folgt man dieser – zweifellos zugespitzten – Analyse, dann ist psychodynamisch gesehen davon auszugehen, dass diese Entfremdungsprozesse die Ich-Struktur und die intra- und interpersonelle Abwehr destabilisieren und eine Regression zur Folge haben. Darunter ist eine innere Öffnung zu verstehen, die sowohl eine unbewältigte Pathologie zum Vorschein bringen als auch für Weiterentwicklung genutzt werden kann. Nicht selten werden durch eine Labilisierung der Abwehr neurotische Konflikte oder alte Traumata reaktiviert; Letzteres betrifft die derzeitige Kohorte Älterer im Zusammenhang mit traumatischen Kriegs- und Fluchterfahrungen in besonderem Maße (Radebold, 2005). Die Identität des Älteren kann sich vor diesem Hintergrund im Zustand eines Moratoriums, also des Unentschieden-Seins und des Suchens, oder gar im Zustand der Identitätsdiffusion befinden, bei der sich das Alter der inneren Welt bemächtigt, indem es sich mit destruktiven, angstbesetzten inneren Objekten verbindet. Vorherrschend ist dann die Angst vor Alter und Tod, ein Gefühl der Verzweiflung angesichts der Unmöglichkeit, sich mit dem gelebten Leben auszusöhnen, oder des Ekels, der entsteht, wenn das Leben keine Ziele mehr hat und »träge« auf sich selbst zurückfällt (de Beauvior, 1970). Die heutige, soziokulturell akzentuierte Identitätskrise des Alters führt jedoch besonders häufig zu einer Identitätsentwicklung, die Marcia (1992) im Anschluss an Erikson als übernommene Identität beschrieben hatte (Cramer, 2003). Diese beruht auf der Anlehnung und Orientierung an Auffassungen anderer, ohne dass eine innere Auseinandersetzung stattgefunden hätte. Der auch von der Werbung geschürten Verlockung, sich an den neuen, euphemistisch verkürzten Altersbildern zu orientieren, den »Ruhestand« zu idealisieren und ihn zu einer nicht endenden Freizeitveranstaltung umzumünzen, ist oft kaum zu widerstehen. Das Alter wird dann nicht in seiner tieferen Bedeutung erkannt und »durchgearbeitet«, es findet keinen Eingang in die innere Welt und bleibt eine kaum assimilierte innere Repräsentanz. Es wird gewissermaßen dem Ich-Ideal zugeschlagen, das dadurch seinen narzisstischen Charakter bewahrt und nicht in den Veränderungsprozess einbezogen wird, wodurch erwiesenermaßen ein labiles inneres Gleichgewicht entsteht (Peters, 1998). Wie aber kann eine Altersidentität entstehen, die nicht auf Spaltung, sondern auf einem dialektischen Verhältnis von Selbst- und Fremdbild beruht, eine Identität, die die Spannung zwischen der Realität des Alters und dem Wunsch, das bisherige Selbst zu bewahren, aushält? Wenn die Veränderungen durch das Alter die innere Welt erreichen, kann die dadurch ausgelöste Regression einen Reflexionsund Möglichkeitsraum öffnen und einen Prozess der Aneignung des Alters in Gang setzen (Peters, 2008). Dieser wiederum ist für die Entstehung einer erarbeiteten, d. h. einer authentischen, eigenständigen Identität (Marcia, 1993) unerlässlich. Nur ein solcher, meist krisenhafter Prozess der inneren Aneignung kann die Entfremdung, die das Alter schafft, in konstruktiver Weise aufheben. Entfremdung und Aneignung sind mithin dialektisch aufeinander zu beziehen, insofern ist © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Aneignung als ein aktiver Vorgang der Auseinandersetzung und des Durcharbeitens zu verstehen. Das, was man sich aneignet, bleibt dabei nicht äußerlich, es wird zu einem Teil des Selbst. Das Angeeignete verändert sich und gewinnt eine ganz persönliche Prägung. Der Vorgang beschreibt somit eine Verinnerlichung, in der das Angeeignete gleichzeitig gestaltet und formiert wird. In gleichem Maße ver­ ändert sich auch der Aneignende, sein Denken, sein Fühlen und sein Selbstbild. Es handelt sich somit um einen Prozess, in dem sich beide verändern, das Angeeignete und der Aneignende, es findet ein gegenseitiges Durchdringen in dem Spannungsverhältnis zwischen Vorgegebenem und Gestaltbarem, zwischen Übernahme und Schöpfung statt (Jaeggi, 2005). Einen solchen Aneignungsprozess auf das Alter zu beziehen bedeutet ebenso wenig ein passives Hinnehmen des Alters wie eine einfache Anpassung, aber auch kein aktives Altern in dem Sinne, wie es heute in der Gerontologie gefordert wird. Aktivität meint hier nicht allein äußere Aktivität, obwohl auch die wichtig ist, sondern die innere aktiv-gestaltende Auseinandersetzung mit dem Alter. Voraussetzung hierfür ist eine »Regression im Dienste des Ich«, d. h. das Entstehen eines kreativ-spielerischen Innenraumes, in dem sich ein Aneignungsprozess entfalten kann, durch den das Alter zu einer integrierten psychischen Repräsentanz wird. Indem es sich dabei mit den guten inneren Objekten verbindet, wird es mit Hoffnung, Zuversicht und Vertrauen aufgeladen, so dass ihm ein Teil des Bedrohungspotentials genommen wird. Vor diesem Hintergrund können auch Endlichkeit und Tod als Wesensmerkmale des Alterns angenommen werden. Gleichermaßen aber können sich auch unabgegoltene Wünsche erneut Geltung verschaffen und dem Leben womöglich noch einmal zu neuer Fülle verhelfen. Das Alter wird somit nicht verleugnet, es wird aber auch nicht zu einer übermächtigen inneren Repräsentanz, der es sich zu unterwerfen gilt. Vielmehr wird es zu einer Erfahrung, die der inneren Welt hinzugefügt wird, ohne andere Objekterfahrungen und Identitätsaspekte völlig zu überlagern oder diese zu entwerten. Eine solche Assimilation, die eher gelingt, wenn gute Erfahrungen mit Älteren und Altwerden, etwa bei den eigenen Großeltern, zur Verfügung stehen, kann dann zu einer Ausdifferenzierung der eigenen Identität genutzt werden und der Persönlichkeit zu mehr Tiefe verhelfen, auch wenn der Begriff der Weisheit heute eher in Verruf geraten ist (Rösing, 2006). Die in diesem Prozess notwendige Offenheit und Flexibilität vermittelt durchaus ein Gefühl von Jugendlichkeit, obwohl diese Eigenschaften heute allzu einseitig mit Jugend assoziiert werden. Die Aneignung des Alters bietet die Chance zur Entwicklung einer individuellen psychosozialen und psychosexuellen Identität.

Beratungsbeziehung – Identität und Übertragung Unterschiede der Beratung Jüngerer zur Beratung Älterer liegen in zum Teil anderen Beratungsanlässen (Peters, 2008), die mit den in dieser Zeit zu bewältigenden © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Entwicklungsaufgaben und den Problemen der Alltagsbewältigung verknüpft sind, und der besonderen Identitätsproblematik Älterer. Des Weiteren ist der Blick aber auch auf die Besonderheiten der Beratungsbeziehung zu richten. Diese einer Analyse zu unterziehen, kann als wesentlicher Beitrag einer psychodynamischen Beratung betrachtet werden. Worin aber sind diese Besonderheiten begründet? Beratungen werden durch Ältere ebenso selten in Anspruch genommen wie psychotherapeutische Behandlungen (zus. Peters, 2006). Im Hinblick auf pflegende Angehörige etwa berichten Schneekloth und Wahl (2006), dass nur 16 % dieser hoch belasteten Gruppe regelmäßig auf Hilfsangebote zurückgreifen, weitere 37 % gaben an, dies gelegentlich zu tun. Was aber ist verantwortlich für dieses Vermeidungsverhalten? Ein Hinweis lässt sich der Bemerkung Michels (zit. nach Peters, 2008) entnehmen, der zufolge normalerweise in einer Psychotherapie – und Gleiches gilt zweifellos für Beratungen – von einer »geteilten kulturellen Basis« ausgegangen werde, die gewissermaßen eine stumme, implizite Matrix bilde, deren Fehlen eine interkulturelle Psychotherapie erschwere. Was diese Bemerkung mit Alter zu tun haben könnte, machen Befunde deutlich, denen zufolge alltägliche Kommunikationsnetze eine große Altershomogenität aufweisen, d. h. nichtverwandte Personen im sozialen Netzwerk fast ausschließlich gleichen Alters sind (Filipp u. Mayer, 1999). In der alltäglichen Lebenswelt gibt es offensichtlich nur wenige Berührungspunkte zwischen Jüngeren und Älteren, von der jeweiligen Lebenswelt der anderen bestehen nur unvollkommene, oft verzerrte Vorstellungen. Beide sind durch eine unterschiedliche Generationenzugehörigkeit geprägt und mit unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben konfrontiert. Eine solche Diskrepanz und Fremdheit aber gibt nicht selten Anlass zur Bildung von Vorurteilen. Der Kommunikationsforscher Giles, der zahlreiche empirische Studien zur Kommunikation zwischen Jüngeren und Älteren durchgeführt hat, spricht denn auch von der Begegnung zweier sozialer Gruppen, die einer »interkulturellen« Begegnung gleichkomme, was zu einem defensiven Kommunikationsverhalten führe, welches der Wahrung psychologischer Distanz und dem Schutz der eigenen Identität diene (Giles et al., 1990; Thimm, 2000; zus. Peters, 2006). Auch die Beratungssituation ist als eine Situation zu verstehen, in der sich zwei anfänglich Fremde begegnen; die damit verbundene Verunsicherung zu vermeiden, kann als ein Grund für die geringen Inanspruchnahmezahlen angeführt werden. Im Gegensatz dazu jedoch verfügen Klient wie Berater über intensive intergenerative Erfahrungen aus der eigenen Familie. Die dyadische Begegnung ist somit durch eine Gegenläufigkeit gekennzeichnet, nämlich intensiven innerfamiliären Erfahrungen, denen nur wenige außerfamiliäre Erfahrungen mit Mitgliedern der jeweils anderen Generationen gegenüberstehen. Aus der Psychoanalyse aber ist bekannt, dass Übertragungsreaktionen umso eher zum Tragen kommen, je unstrukturierter und unbekannter die Situation ist, deshalb wird die Abstinenz des Analytikers als technisches Mittel genutzt, eine Übertragungsbeziehung zu initiieren. In einer Beratungsbeziehung, in der ein Jüngerer und ein Älterer sich begegnen, ist diese Voraussetzung gewissermaßen von vornherein gegeben, die initiale © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Fremdheit ruft gerade am Beginn intensive Übertragungs- und Gegenübertragungsreaktionen hervor, d. h., die Beziehung wird auf der Folie der innerfamiliären Erfahrungen mit der jeweils anderen Generation wahrgenommen und strukturiert. Was aber bedeutet das und um welche spezifischen Übertragungsreaktionen handelt es sich? In der Begegnung zwischen jüngerem Berater und älterem Klienten kommt es zu komplexen umgekehrten und multigenerationalen Übertragungskonstellationen (Heuft et al., 2006; Radebold, 1992). Hiatt (1971) hat die multigenerationelle Übertragung in drei Kategorien eingeteilt: Elternübertragung, Geschwisterübertragung und Kinder-Enkel-Übertragung. Obwohl auch bei Älteren der Wunsch nach mächtigen Elternimagines besteht, werden die jüngeren Berater zunächst eher als Kinder oder Enkelkinder gesehen, eine Reaktion, die dem Älteren hilft, Vertrautheit herzustellen und Identität zu sichern. An die Jüngeren werden Wünsche nach besonderer Zuwendung, Hilfestellung und Versorgung herangetragen, oder sie werden zunächst nicht in ihrer Expertenrolle akzeptiert, manchmal sogar entwertet. Diese Sohn- bzw. Tochter-Übertragung bietet dem Älteren aber auch die Chance, die in der Beziehung zur jüngeren Generation unbewältigt gebliebenen Konflikte zu erleben und durchzuarbeiten. Für den Berater stellt diese Form der Übertragung oft eine besondere Herausforderung, ja Verunsicherung ihrer professionellen Identität dar, insbesondere dann, wenn ihn die Enttäuschung trifft, die eigentlich den eigenen Kindern gilt. Dann sieht er sich selbst dem Vorwurf ausgesetzt, unzulänglich zu sein, oder aber er wird mit der Erwartung konfrontiert, der bessere Sohn oder die bessere Tochter zu sein. Im Laufe der Zeit wird diese Form der Übertragung meist abgelöst von einer regulären Elternübertragung, oft bestehen aber beide Formen auch nebeneinander. Bei Älteren ist aber immer zu berücksichtigen, dass auch ganz andere Personen im Leben von besonderer Bedeutung waren und in der Übertragung auftauchen können. So haben oft die Geschwister eine herausragende Position eingenommen, beispielsweise dann, wenn die Familie infolge der Kriegsereignisse auseinandergerissen worden war. Dann sind Geschwister in eine Ersatzelternpositon gerückt worden, so dass auch diese bedeutsamen Beziehungen in einer Beratung wiederbelebt werden können. Durch die beschriebenen Übertragungskonstellationen entstehen für den Berater Gegenübertragungsgefühle, die sich oftmals mit Eigenübertragungsanteilen mischen. Mit Eigenübertragung hatte Heuft (1990) eigene Übertragungsbereitschaften beschrieben, die im Zusammenhang mit ungelösten Konflikten in der Beziehung zu den eigenen Eltern stehen bzw. unsere kulturell geformte Haltung Älteren gegenüber widerspiegeln (Peters, 2006; Zank, Peters u. Wilz, 2009). – Ältere nach privaten und intimen Details zu befragen, wird als Tabuverletzung erlebt, ist es doch bereits im Alten Testament nachdrücklich verboten, »die Blöße der Älteren« aufzudecken. – Zu dicht auf den Verfall der elterlichen Imagines zu blicken, kann als ängstigend erlebt werden, gibt es doch über die Kindheit hinaus den Wunsch nach mächtigen und beschützenden Eltern. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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– Es können besondere Verpflichtungsgefühle gegenüber Älteren geweckt werden, die Abgrenzung erschweren. – Eigene Ängste vor Alter, Abhängigkeit und Hilflosigkeit können geweckt werden. – Die Abwehr der Sexualität Älterer kann als Abwehr eigener ödipaler und prä­ ödipaler Wünsche verstanden werden. – Es kann eine Tendenz bestehen, sich mit Kindern oder Enkelkindern von Klienten zu identifizieren. Die Bedeutung der Übertragung, Gegenübertragung und Eigenübertragung macht deutlich, dass der Frage der Beziehungsgestaltung in der Beratung Älterer ein ­besonderer Stellenwert zukommt und sich darin ein deutlicher Unterschied zur Beratung Jüngerer erkennen lässt. Es fehlt die Sicherheit, die normalerweise aus der Gewissheit resultiert, den Lebensabschnitt, den der Klient zu bewältigen hat, bereits durchlebt zu haben. Da die Lebenswelt des Anderen als eher fremdes Land erlebt wird, werden umso eher Übertragungs-, Gegenübertragungs- und Eigenübertragungsreaktionen hervorgerufen, die die persönliche, familiäre Erfahrungswelt widerspiegeln. Doch gerade diese anfängliche Fremdheit bleibt nicht unbe­ einflusst von den beschriebenen soziokulturellen Veränderungen. Die Tendenz zur Relativierung von Altersgrenzen und soziokulturellen Altersunterschieden reduziert Beziehungsdiskrepanzen, Fremdheit und Vorbehalte zwischen beiden ­Generationen, ein kultureller Wandel, der auch die initiale Begegnung zwische jüngerem Berater und älterem Klienten verändert. Auch wenn unbewusste Übertragungsreaktionen dadurch weniger beeinflusst werden dürften, so könnte mit dieser Veränderung doch eine Verringerung des Vermeidungsverhaltens einher­ gehen, das bislang für die niedrigen Inanspruchnahmezahlen in Beratung und Psychotherapie verantwortlich war (Peters, 2006).

Psychodynamisch erweiterte Beratung Älterer Im psychoanalytischen Denken werden Symptome auf zugrunde liegende unbewusste neurotische Konflikte zurückgeführt. Dieses Denkmuster auf Beratung zu übertragen heißt Alltagskonflikte, die Anlass für eine Beratung liefern, als Ausdruck eines inneren Krisengeschehens zu betrachten, bei dem ein psychisches Ungleichgewicht auf widerstreitende Tendenzen zurückzuführen ist, die notwendige Entscheidungen blockieren (Bauriedl, 1994). Dieses Ungleichgewicht als Identitätskrise zu deuten wurde lange auf die Zeit der Adoleszenz begrenzt. Doch das Alter weist mancherlei Parallelen zur Adoleszenz auf, es verlangt ebenso körper­liche, narzisstische wie soziale Anpassungsprozesse, wenn auch mit unterschied­lichen Vorzeichen (King, 1980). Die Einbeziehung des Identitätsbegriffs bietet somit ein erweitertes Verständnis der Alterskrise und schafft die Grundlage für eine psychodynamisch verstandene Beratungspraxis. Die Entwicklung von Altersidentität zu fördern, könnte dann als eine erweiterte Aufgabe von Beratung betrachtet werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Ein solches Verständnis von Beratung scheint geeignet, die alltäglichen und lebensweltlichen Konflikte älterer Menschen, derentwegen sie eine Beratung aufsuchen, in ihrer »Türöffnerfunktion« dahingehend zu prüfen, ob sie als Ausdruck einer Identitätskrise zu verstehen sind und ein psychodynamischer Beratungsansatz indiziert ist. Die bislang in der Seniorenberatung ganz im Vordergrund stehenden konkreten Hilfen und Unterstützungsangebote werden weiterhin unverzichtbar bleiben, wären aber in manchen Fällen durch eine reflexive Ebene zu ergänzen. Ob ein solcher psychodynamisch orientierter Beratungsansatz zum Tragen kommt, hängt vom Einzelfall und der vorliegenden Problematik ab. Dies zu prüfen wäre dann aber Aufgabe des Beraters, dem der psychoanalytische Verstehens- und Deutungsrahmen als innere Reflexionsmöglichkeit zur Verfügung stehen sollte. Bei Frau B. bleibt die konkrete Hilfe und Unterstützung zweifellos eine wesentliche Beratungsdimension. Aber gerade in ihrem Fall wird auch deutlich, wie die Pflegeproblematik häufig mit konfliktträchtigen Entscheidungsprozessen verbunden ist, um ein Pflegearrangement zu schaffen und den oft notwendigen Pflegemix auszuloten (Bubolz-Lutz u. Kricheldorf, 2006). Bei Herrn T. ist eine konflikhafte Ehebeziehung Anlass, eine Eheberatungsstelle aufzusuchen. Dabei bietet sich die Frage, wie angesichts der großen Altersdifferenz jetzt, wo er an der Schwelle zum Alter steht, die gemeinsame eheliche Identität aufrechterhalten werden und er dennoch für sich ein Alterskonzept finden kann, sogleich als wesentliche Beratungsthematik an. Der bereits erwähnte Traum, in dem sich die Angst vor dem Alter abbildete, setzte sich fort. Herr T. träumte von einer Hütte hoch auf einem Berg, daneben stand ein Baum nahe einem plätschernden Bach. Sein Blick war auf das Tal gerichtet, über dem eine Dunstwolke hing. Man könnte in diesem Bild den Wandel eines angstvollen Altersbildes hin zu einem versöhnlichen, von guten inneren Objekten durchdrungenen Altersbild sehen, das ihm mehr Gelassenheit und Distanz zum hektischen Treiben des Alltags erlaubte. Gleichzeitig ist dieses Bild mit Rückzug verbunden, der sich nur schwerlich mit der ehelichen Beziehung verbinden lassen würde. Diesen Konflikt auszuloten, um zu einem kohärenten Selbst zu gelangen, stand im Fokus der Beratung. Es ist zu erwarten, dass zukünftig mehr Ältere mit ähnlichen Anliegen eine Beratungsstelle aufsuchen werden, so wie es bereits jetzt in den Ehe- und Lebensberatungsstellen der Fall ist, die eher einem psychosozialen Beratungsansatz verpflichtet sind. Nicht zuletzt trägt hierzu bei, dass die jetzt in ein höheres Lebensalter kommende Kohorte andere Sozialisationserfahrungen mitbringt als ihre Vorgänger (Höpflinger u. Perrig-Chiello, 2009). Dieser neuen Kohorte gehörte auch Herr T. an, der sich auf der Suche nach einer Altersidentität unter den Bedingungen einer Patchwork-Familie befand. Angesichts seiner familiären Situation sah er sich mit Entwicklungsaufgaben konfrontiert, beispielsweise Vater eines Schulkindes zu sein und ein neues Haus bezogen zu haben, die bislang anderen Lebensabschnitten zugerechnet wurden, die aber zukünftig immer weniger dem kalendarischen Alter nach zeitlich zu verorten sind. Zunehmend mehr Ältere © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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­ erden vor der Aufgabe stehen, verschiedene Identitätsaspekte zu verbinden und w dennoch einen Weg ins Alter zu finden – eine Anforderung, die bei Herrn T. an­ gesichts der familiären Spannungen und eines ohnehin eher introvertierten Charakters die Phantasie eines Rückzugs in ein »knottriges Alter« entstehen ließ, eine Phantasie allerdings, die ihn angesichts seiner lebensgeschichtlichen Erfahrungen auch mit Angst erfüllte. Ob es den neuen Kohorten Älterer gelingen wird, eine neue Alterskultur zu entwickeln, die unter den Bedingungen der Postmoderne Identitätsentwicklung erleichtert, wird die Zukunft zeigen. Wie auch immer sich die soziokulturellen Bedingungen für die Identitätsbildung im Alter entwickeln werden, bleibt das Alter doch eine existentielle Herausforderung, der auch zukünftige Kohorten sich werden stellen müssen.

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Thomas Giernalczyk und Carla Albrecht

Psychodynamische Beratung in Lebenskrisen und bei akuter Suizidalität

Vorbemerkung Die psychodynamische Sichtweise auf Lebenskrisen und akute Suizidalität stellt dem Berater hilfreiche Denkkonzepte und daraus folgende Handlungsimplika­ tionen zur Verfügung. Im Folgenden wird der Krisenbegriff eingeführt und mit psychodynamischen Aspekten angereichert. Danach werden die Konzepte der Übertragung, der biographischen Entwicklungsthemen und der Fokusbildung diskutiert und Haltungen und Handlungen für den Berater abgeleitet. Im Mittelpunkt des Beitrags steht die organisierende Trias von psychodynamischer Krisenberatung als Zusammenspiel der Konzepte Containing, Affektregulation und projektiver Identifikation. Ein Verständnis für diese Konzepte stellt eine günstige Voraussetzung für den Berater dar, die Krise mit dem Klienten zu bearbeiten. Abschließend werden konkrete Fallbeispiele für die Beratung narzisstischer suizidaler Krisen und manipulativer Suizidalität vorgestellt.

Das Konzept der Krise Menschen, die sich in Lebenskrisen befinden, fühlen sich oft überfordert, sind verzweifelt, erleben heftige negative Gefühle und haben nicht selten ihre Hoffnung auf Verbesserung der Situation verloren. Eine psychodynamische Beratung, die diesen Situationen gerecht wird, orientiert sich an dem hohen Grad an Emo­ tionalität und an den spezifischen Beziehungsmustern von Menschen in Lebens­ krisen. Im Folgenden sollen einige einleitende Bemerkungen zum Krisenbegriff vorgenommen werden, der nicht einheitlich verwendet und entsprechend den Perspektiven und wissenschaftlichen Interessen der Autoren unterschiedlich ausdifferenziert wurde (Caplan, 1964; Cullberg, 2006; Caplan u. Grunebaum, 1967; Ulich et al., 1985; Sonneck, 2000; Ciompi, 2000; Dross, 2001; Wolfersdorf, 2000). Die verschiedenen Definitionen von Krisen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Eine Krise entsteht, wenn ein Mensch mit Ereignissen oder Lebensumständen konfrontiert wird, die ihn aufgrund seiner Fähigkeiten und sozialen Ressourcen stark überfordern und durch die er sein seelisches Gleichgewicht verliert. Eine Krise geht mit starken emotionalen Veränderungen einher und ist zeitlich begrenzt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Folgende Aspekte dieser Definition sollen dabei hervorgehoben werden: 1. Der Anlass: Krisen lassen sich einem oder mehreren Auslösern zuordnen, durch die Menschen aus ihrer gewohnten Selbstverständlichkeit herausfallen und in einen Ausnahmezustand geraten. Bezüglich der Auslöser werden zwei Typen unterschieden: traumatische Auslöser, wie der plötzliche Tod eines nahe stehenden Menschen oder die Diagnose einer schweren Erkrankung, führen zu traumatischen Krisen. Im Gegensatz dazu werden Lebensveränderungskrisen durch vorhersehbare Ereignisse, wie Auszug aus dem Elternhaus oder Eintritt ins Berufsleben, ausgelöst. 2. Die subjektive Überforderung und der Verlust der affektiven und narzisstischen Balance: Dabei wird deutlich, dass Krise ein Konzept ist, das an der subjektiven Perspektive der Betroffenen anknüpft. Der subjektive bewusste Zustand unterscheidet sich deutlich vom normalen Erleben und ist von Überforderung, Hilf- und Perspektivlosigkeit geprägt. 3. Der Bewältigungsversuch: Das subjektive Erleben von Krisen ist eng mit Bewältigungsversuchen verknüpft, die sich an den inneren und äußeren Ressourcen orientieren. Regression, Konflikte und Selbstwerterleben bestimmen, welche Handlungen zur Bewältigung vorgenommen werden. Teilweise werden Krisen erst durch misslingende und regressive Bewältigungsversuche weiter zugespitzt. Unter diesen Bedingungen sind haltende Angebote aus dem persönlichen und professionellen Umfeld von großer Bedeutung. 4. Psychische Symptomatik: Krisen sind häufig mit starken negativen Emotionen verbunden. Betroffene erleben Ängste, Unruhezustände, Depression oder andere psychische und psychosomatische Symptome. 5. Die zeitliche Begrenzung: Krisen werden zumeist als ein Verlauf mit einem ­Höhepunkt und einem Ausklingen des Geschehens konzipiert, das sich über Wochen bis Monate hinziehen kann.

Psychodynamische Aspekte von Krisen Die vorgestellte allgemeine psychologische Diskussion des Begriffs der Krise, soll im Folgenden durch psychodynamische Spezifika weiter ergänzt werden. 1. Krisen begünstigen regressive Tendenzen der Betroffenen. Die dadurch ent­ stehende Regression ist einerseits als Abwehrmechanismus zu sehen, durch den schmerzliche Veränderungen dem Erleben möglichst ferngehalten werden ­sollen. Andererseits bestimmt die Regression auch das psychische Funktions­ niveau der Krisenklienten. Oftmals befinden sich Krisenklienten in einer ­Einengung und einem Zustand, in dem sie deutlich mehr auf frühere Abwehrmechanismen wie Spaltung, Projektion und projektive Identifizierung zurückgreifen als in ihrem normalen Zustand. Aufgrund der Regression werden diese Klienten teils vorschnell mit entsprechenden Diagnosen versehen. So können narzisstische Persönlichkeiten in Krisen eher wie Borderline-Persönlichkeiten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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wirken. Borderline-Persönlichkeiten dagegen können in Krisen vermehrt psychotische Anteile in aktuelle Beziehungen einbringen. 2. Psychodynamisch betrachtet sind menschliche Krisen überdeterminiert. Sie treffen immer auf eine spezifische Persönlichkeit in einem ganz bestimmten Entwicklungsabschnitt. Krisen reaktivieren innere Konflikte, Beziehungs- und Bindungsthemen sowie brüchige Persönlichkeitsanteile. Entsprechend der ­eigenen Biographie und den mehr oder minder phasentypisch gelösten Entwicklungsaufgaben (Abhängigkeit und Autonomie, ödipale Entwicklung und Themen des Selbstwertes) werden unterschiedliche Entwicklungsbereiche reaktualisiert. Damit haben Krisen nicht nur spezifische Auslöser, sondern immer auch einen persönlich-biographischen Hintergrund, durch den entsprechende Auslöser erst ihre subjektive Bedeutung erhalten. 3. Krisen erhöhen die Übertragungsbereitschaft der Klienten. Durch Verluste, Enttäuschungen und Kränkungen können die Klienten verstärkt beziehungssuchend sein. In diesem Fall sind sie bereit, den Berater zu idealisieren und rasch eine positive Elternübertragung herzustellen. Sie zeigen aber auch gegenteilige Reaktionen, die in den Begriffen Übertragungsangriff (Henseler u. Reimer, 1981), Testung des Therapeuten und Übertragungshass (Maltsberger u. Buie, 1974) beschrieben werden. Diese negativen Übertragungen stehen eng mit den aktuellen Belastungen und Verlusten in Zusammenhang und können negative Objektbeziehungen reaktivieren bzw. reinszenieren.

Die Bedeutung der Gegenübertragung bei psychodynamischer Krisenberatung Psychodynamische Krisenberatung legt einen besonderen Schwerpunkt auf die Gestaltung der Beziehung zwischen Berater und Klient und interessiert sich für unbewusste Faktoren, die für die Beziehungsgestaltung, das Erleben und die Bewältigung von Krisen bedeutsam sind. Dabei spielen die Konzepte der Über­tragung und Gegenübertrag eine besondere Rolle und werden zur weiteren Dia­gnostik und für die Entwicklung von Interventionen genutzt (Götze, 2003). Unter Übertragung sind alle unbewussten Erwartungen, Wünsche, Befürchtungen und Annahmen zu verstehen, die der Klient in die Beratungssituation mit hineinnimmt und an den Berater richtet. Diese werden natürlich auch vom Berater und dem Setting beeinflusst. Mit dem Begriff der Gegenübertragung werden alle unbewussten Reaktionen, antwortenden Gefühle und Handlungsimpulse des Beraters auf den Klienten und dessen Übertragung beschrieben. Um unbewusste Themen und die Gestaltung von Übertragung und Gegenübertragung zu erfassen, wird die Interak­tionssituation im Sinne des szenischen Verstehens (Argelander, 1970) betrachtet. Das Gespräch wird wie eine Situation auf der Bühne eines Theaters gesehen. Auftritte von Personen und Themen, die Art des Sprechens und das Aufeinander-Eingehen von Patient und Therapeut einschließlich der räumlichen Nutzung des Behandlungsraumes werden in einem interpretieren© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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den Sinne genutzt. Grundlegend für dieses Vorgehen ist die Annahme, dass Menschen unbewusste Konflikte und zentrale Krisenthemen nonverbal in Szene setzen. Sie zeigen mit Handlungen, was sie nicht bewusst in Sprache ausdrücken können. Sie übertragen damit bereits erfahrene Beziehungskonstellationen auf die professionelle Situation. Dabei geht das szenische Verstehen entscheidend über die Klientenbeobachtung hinaus und bezieht das Verhalten ebenso wie das bewusste Erleben des Beraters als Datenquelle mit ein. Wie bei einem Blick auf den inneren Tacho achtet der Berater auf sein Befinden und sein Vorgehen. Er geht der Frage nach, ob er von dem üblichen Prozedere abweicht, und nimmt wahr, welche Gefühle und Bilder in ihm ausgelöst werden. Bei der Analyse der Gegenübertragung wird ebenso wie bei der Übertragung davon ausgegangen, dass beide Partner bewusste wie unbewusste Beziehungsphantasien und Themen in den Kontakt mit einbringen. Die Arbeit in der Beziehung konzentriert sich auf das Hier und Jetzt der Krisenberatung, denn in ihr wird ein wichtiges Abbild des »Da und Dort« und des »Gestern und Damals« gesehen. In Anlehnung an ein Beziehungsdreieck nimmt die psychodynamische Krisenberatung an, dass die professionelle Situation Ähnlichkeiten mit den Interaktionsmustern zu wichtigen Bezugspersonen aufweist und beide Situationstypen eine »historische Quelle« in den primären Beziehungserfahrungen der Herkunftsfamilie haben. Beispiel aus einem Erstkontakt, in dem der Klient seinen Berater schroff zurückweist: Klient: Ich bin nun einmal schwierig und nicht bereit, mir Ihre Kommentare anzuhören, die ich in jedem Lehrbuch nachlesen kann. Berater (erschrocken, da bewusst wohlmeinend, nun untergründig ärgerlich, nimmt sich vor, die Gründe für die Reaktion des Patienten in Abhängigkeit zu seinem Verhalten zu ­klären): Meine Bemerkung hat Sie verärgert, weil Sie wie von »der Stange« und nicht für Sie passend gewirkt hat? Klient: Mit der Äußerung, dass sich meine Freundin von mir getrennt hat, haben Sie mich bloßgestellt! Berater: Und dagegen haben Sie sich gewehrt? Klient: Wie so oft, meine Freundin hat mich auch immer so angegriffen.

Aus Sicht des Klienten hat er sich gegen einen Angriff des Beraters verteidigt (Hier und Jetzt). Darüber hinaus gibt er einen Hinweis dafür, dass er mit seiner Freundin (Da und Dort) Ähnliches erlebt hat. Hinzu kommt, dass der Berater sich seines »Angriffs« nicht bewusst war. Dies könnte ein Hinweis dafür sein, dass der Klient empfindlicher ist, als vom Berater vermutet. Auf der anderen Seite zeigte der Klient eine scharfe Reaktion, derer er sich möglicherweise nicht bewusst war. Kann diese heftige Art auch zu seiner Krise beigetragen haben? Bei diesen Überlegungen ist es unerlässlich, dass der Berater sich über deren hypothetischen Charakter im Klaren bleibt und sie nicht für bare Münze hält. Bei der Auswertung der Gegenübertragung kann der Krisenberater für sich klären, ob er sich eher ähnlich wie der Klient fühlt (konkordante Gegenübertra© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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gung, Racker, 1978) oder eher so, wie es Bezugspersonen des Klienten gehen mag (komplementäre Gegenübertragung, Racker, 1978). Diese Frage ist nicht immer eindeutig zu beantworten. In bestimmter Hinsicht mag es ihm wie dem Klienten, in anderer wie dessen Bezugspersonen gehen. Die Überlegungen des Beraters können am besten eingebracht werden, wenn er sich vorher die Zustimmung seines Klienten geholt hat, ihm etwas über die Art ihres Kontaktes mitzuteilen.

Klärung des Hier und Jetzt in der Krisenberatung Wenn es in der Krisenintervention zu Irritationen kommt, bietet es sich an, kleine Sequenzen, die sich zwischen Therapeut und Patient ereignet haben, aufzugreifen und durchzusprechen. Vielleicht nimmt der Therapeut wahr, dass sich der Patient zurückzieht und nur noch einsilbig auf Fragen antwortet. In dieser Situation kann der Therapeut seinen Patienten fragen, ob er etwas getan habe, was den Patienten geärgert oder verletzt hat. Es kann dann miteinander besprochen werden, wie der Patient eine bestimmte Situation erlebt hat und wie vielleicht im Unterschied dazu der Therapeut die gleiche Situation empfunden hat. Diese Metakommunikation ist sehr nützlich für die Krisenintervention, denn durch sie kann der Patient lernen, dass die gleiche Situation von den Beteiligten sehr unterschiedlich wahrgenommen und bewertet wird. Durch das Erkennen der Unterschiedlichkeit wird letztlich wieder eine Form des gemeinsamen Verstehens hergestellt und damit Rückzug und Trennung überflüssig gemacht. Wichtiger Bestandteil dieses Vorgehens ist immer das Anerkennen des subjektiven Erlebens des Patienten und die Feststellung, dass der Therapeut die gleiche Sequenz anders erlebt hat. Metaphorisch gesprochen führt die Bearbeitung des Hier und Jetzt in der Krisenintervention dazu, dass Patient und Therapeut aus dem Fluss der Krisenbearbeitung steigen, sich an sein Ufer stellen und einen bestimmten Abschnitt gemeinsam anschauen und klären, bevor sie wieder miteinander im Fluss weiterschwimmen. Ein Beispiel könnte etwa eine Äußerung sein, in der der Patient zum Therapeuten sagt: »Ich will mir Ihre Reden nicht weiter anhören, das löst meine Probleme nicht.« In einer derartigen Situation ist es wichtig, diese Bemerkung aufzugreifen und zu ­klären, wodurch sie veranlasst wurde. Es kann günstig sein zu fragen, durch welche Äußerung des Beraters der Klient den Eindruck gewonnen hat, dass er keine Hilfe bekommen könnte. Der Therapeut sollte klarstellen, dass er dem Patienten nicht helfen kann, wenn er nicht bereit ist, ihm zuzuhören, und dass der Patient auf diese Weise verhindert, dass er eine Unterstützung bekommt.

Gegenübertragungshass für möglich halten Maltsberger und Buie (1974) haben den Begriff des Gegenübertragungshasses für die Arbeit mit suizidalen Klienten geprägt. Dabei folgen sie der grundsätzlichen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Idee, dass es Klienten gibt, die aufgrund ihrer Erfahrungen und der aktuellen Situation mit Hassaffekten kämpfen. Diese negativen Affekte bestimmen einen Teil der Übertragung auf den Berater. Auf diese Weise entstehen auch im Berater negative Affekte, die als Gegenübertragungshass bezeichnet werden. Hass hat für die Autoren die Komponenten der Aversion und der Böswilligkeit. Aversion führt aus dem Kontakt heraus. Böswilligkeit ist der Motor, der den Kontakt aufrechterhält. Die Autoren schildern, wie diese Patienten in suizidalen Krisen durch eine Mischung von Provokation in Form von verbalen Angriffen und durch Projektion ihren Therapeuten attackieren. Als zentrale Angriffspunkte des Beraters sehen sie überwertige narzisstische Überzeugungen des Helfers. Zu ihnen gehören »alle heilen zu können«, »alles zu wissen« und »alle lieben zu können«. Der Hass des Patienten führt zum Gegenübertragungshass des Therapeuten. Dieser Therapeutenhass führt je nach Regression zu unterschiedlichen Abwehrstrategien und zur wachsenden Gefahr, dass der Therapeut seinen Hass gegen den Patienten ausagiert und damit die Gefahr eines Suizids erhöht. Letztlich verstehen Maltsberger und Buie den Hass des Therapeuten als Signal dafür, dass diese Patienten Beziehungen herstellen, in denen die Böswilligkeit die Funktion hat, andere dazu zu bringen, sie zurückzuweisen, zu zerstören und zu verlassen. Den besten Schutz gegen antitherapeutisches Agieren sehen die Autoren darin, dass sich Therapeuten klar machen, dass Hassimpulse bei ihnen auftreten können und sie sich diese möglichst im Bewusstsein halten sollten.

Idealisierung und Entwertung als Beziehungsmuster der Kränkung bei narzisstisch suizidalen Krisen Henseler (1984) und Henseler und Reimer (1981) haben sich in ihren Arbeiten ausführlich mit narzisstisch suizidalen Krisen befasst. Dabei haben sie das Konzept der aversiven Gegenübertragungsreaktionen des Therapeuten nach Maltsberger und Bui (1974) auf die Dynamik narzisstischer Krisen übertragen. Auftretende Übertragungsangriffe auf den Therapeuten werden mit kurz zurückliegender Objektverlusterfahrung in Form von Kränkung, Enttäuschung und Trennung erklärt. Entsprechend der Persönlichkeitsstrukur der untersuchten Patienten werden besonders Entwertung und Idealisierung des Therapeuten als Versuche der Stabilisierung des angeschlagenen Selbstwertgefühls angesehen und zu ­einem wichtigen Ausgangspunkt aversiver Gegenübertragungsreaktionen gemacht. So ist eine mögliche Gefahr, dass der Therapeut durch das Agieren eigener Kränkungen den Patienten aggressiv behandelt und somit das Arbeitsbündnis zerbricht. Neben der Komponente des Hasses wird Entwertung durch den Patienten auch konstruktiv als Versuch der Restitution des Selbstwertgefühls interpretiert und als »Testung der Idealisierbarkeit« (Henseler u. Reimer, 1981) des Therapeuten verstanden. Der Patient prüft dabei, ob der Therapeut ideal genug für seine hohen Erwartungen an ihn ist. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Weiteren Spezifika der psychodynamischen Krisenberatung bei suizidal-narzisstischen Krisen wird ein eigener Abschnitt am Ende dieses Beitrags gewidmet.

Fokusbildung und biographische Entwicklungsthemen In der psychodynamischen Krisenberatung werden Krisen in Bezug zur Bewältigung menschlicher Entwicklungsthemen gesetzt. Defizitäre und konflikthafte Themen in der zurückliegenden biographischen Entwicklung bilden oft besonders empfindliche Punkte bei Menschen. Werden diese durch bestimmte Ereignisse tangiert und können durch die üblichen Verarbeitungs- und Abwehrmechanismen nicht begrenzt werden, so entsteht eine psychische Krise. Die entsprechend älteren Probleme sind den Betroffenen aber vielfach nicht bewusst. Sie erinnern sie nicht und tragen sie in bestimmter Hinsicht unverarbeitet bei sich. Zur Klärung der Verbindung älterer, unbewusster Themen und aktuellem Krisengeschehen kann nun im Rahmen der Krisenintervention ein Fokus gebildet werden (Klüwer, 1995). In der Art eines gemeinsamen Nenners werden das Krisengeschehen und das Entwicklungsthema miteinander verbunden. Der Fokus ist eine Arbeitshypothese, in der der Krisenberater für sich formuliert, welche Entwicklungsthematik unbewusst in der Krise aktiviert wird. Durch ihn werden die Aufmerksamkeit und die Interventionstätigkeit gesteuert. Ein Fokus ist jedoch kein unhinterfragbares Konstrukt, sondern kann während der Gespräche aufgrund neuer Informationen und besonderem Übertragungs-Gegenübertragungs-Geschehen revidiert werden. Das folgende Beispiel soll den Zusammenhang von Krise und Entwicklungsthema sowie die Bildung eines Fokus illustrieren: Eine 37-jährige Verkäuferin ist in eine Krise geraten, nachdem ihr Hund gestorben ist, der ihr einziges liebevoll besetztes Beziehungsobjekt war. Obgleich sie bei ihrer Arbeit und im Bekanntenkreis weiterhin oberflächlich angepasste Kontakte pflegte, wurde sie von Einsamkeitsgefühlen und Verlassenheitsängsten überflutet und entwickelte eine zunehmende Scheu vor persönlichen Kontakten mit Menschen. Infolge dieser Vorgänge bildete sie Schlaflosigkeit und Paniksymptome aus. Während eines Krisengesprächs ging aus einer kurzen Bemerkung von ihr hervor, dass ihre Mutter sich vom gewalttätigen Vater getrennt hatte und die Klientin, trotz ihres Flehens, beim gefährlichen Vater zurückließ.

Im Sinne der Entwicklungsthemen können wir vermuten, dass dieser Verlust der Mutter bei der Klientin Verlassenheitsgefühle, Ängste sowie eine untergründige Wut auf die Mutter bedingt haben könnten. Das Versorgungs-VerlassenheitsThema bleibt so für die Klientin auch in späteren Lebensabschnitten unbewusst problematisch. Auch ihre ausschließliche Bindung an ihren Hund kann in diesem Kontext gesehen werden, denn vielleicht wird die Gefahr, wieder verlassen zu werden, beim Hund geringer als bei einem Menschen veranschlagt (schon im Altertum wurde der Hund als Symbol der Treue geführt). Der Fokus könnte nach diesem Stand der Information etwa wie folgt formuliert werden: Die Klientin befindet sich in dem Konflikt zwischen Kontaktwunsch und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Kontaktangst. Einerseits wünscht sie (mütterliche) Beziehungen, andererseits vermeidet sie zu enge Kontakte, weil dann die Gefahr eines neuerlichen Verlustes zu groß werden könnte. Der ausschließliche enge emotionale Kontakt zum Hund stellte vor diesem Hintergrund einen Kompromiss dar, der durch den Tod des Tieres zusammengebrochen ist. Dieser Fokus wurde auch durch aktuelle Beziehungsgestaltung in der Krisenintervention plausibel: Auf das Angebot der Therapeutin, zunächst fünf Gespräche miteinander zu führen, reagierte sie ablehnend. Stattdessen bat sie sich aus, immer erst am Ende jeder Sitzung entscheiden zu dürfen, ob sie noch einmal wiederkommen wolle. Auf diese Weise schützte sie sich davor, von der Beraterin verlassen zu werden, und brachte die Möglichkeit, sie zu verlassen, latent mit in den Kontakt. In der Gegenübertragung spürte die Beraterin deutlich, wie es ist, wenn man sich einer Beziehung nicht sicher sein kann. Der Kontakt in der Krisenberatung erzeugt somit auch Beziehungsmaterial, das, wenn die Klientin dafür aufnahmefähig ist, thematisiert werden kann und einem größeren Verständnis der Krise dient. Beispielsweise könnte die Beraterin sagen: »Sie lassen mich spüren, wie es sich anfühlt, wenn man jederzeit verlassen werden kann.«

Zusammenfassend besteht der Sinn der Arbeit mit Entwicklungsthemen und die Bildung eines Fokus darin, Menschen darin zu unterstützen, sich besser zu verstehen, und somit ihnen einen größeren Handlungsspielraum für bewusste Entscheidungen zu eröffnen. Auch in dieser Hinsicht sind Krisen Chancen, wenn durch sie unverarbeitetes Vergangenes in denk- und fühlbares Geschehen verwandelt und so der Wiederholungszwang vermindert werden kann.

Die organisierende Trias der psychodynamischen Krisenintervention Die Konzepte Container-Contained, Affektregulation und projektive Identifizierung sind zentral für die psychodynamische Krisenberatung. Durch sie kann der Krisenberater seine Haltung und seine Beziehung organisieren, wichtige emotionale Aufgaben im Blick behalten und intensive und negative emotionale Austauschprozesse (aus)halten. Der rationale und kognitive Anteil von Beratung soll hierbei nicht außer Acht gelassen oder relativiert, der affektive Anteil jedoch besonders hervorgehoben werden. Krisenberatung als Container-Contained-Prozess

Im folgenden Abschnitt wird näher darauf eingegangen, wie Containing als psychodynamische Haltung des Krisentherapeuten eine günstige Vorrausetzung darstellt, die Krise zu bearbeiten und einen Zugang zum bewussten und unbewussten Verständnis des Krisengeschehens zu erhalten (Bion, 1990; Giernalczyk u. Lazar, 2002). Das Konzept Container-Contained ist ein Prinzip des emotionalen Lernens und ereignet sich in ganz unterschiedlichen Kommunikationssituationen. So wird es gleichermaßen für die Mutter-Kind-Beziehung wie auch für die Berater-Klien© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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ten-Beziehung in der Krisenberatung angewendet. Das Konzept Container-Contained heißt, dass ein Ort, eine Person, ein Berater, eine Mutter (Container) etwas aufnimmt (to be contained) und verarbeitet wieder zurückgibt, wodurch sich sowohl der Sender als auch der Empfänger verändern. Für die Mutter-Kind-Interaktion wird die Container-Funktion der Mutter hervorgehoben, die negative, schwer auszuhaltende Emotionen des Kindes, die es auf sie projiziert, aufnehmen kann, bei sich behält und verarbeitet, in abgemilderter Weise an das Kind zurückgibt. Nach Bion (1990) verändert die Mutter die negativen, nicht aushaltbaren Emotionen des Kindes mit ihrer Fähigkeit zum Tagtraum (Reverie) und verschafft dem Kind eine emotionale Erleichterung, das dann den abgemilderten Affekt wieder in sich aufnimmt. Unter Tagtraum und Reverie versteht man die Fähigkeit des Nachsinnens und ungerichteten Durch-den-Kopf-gehen-Lassens, bei dem auch eigene Gefühle, Bilder und Gedanken auftauchen und das Material des Anderen subjektiv bewertet und erfasst wird. In ähnlicher Weise spielen Container-Contained-Prozesse in der psychodynamischen Krisenberatung eine wichtige Rolle: Der emotional überforderte Krisen­ klient braucht einen Container, die Psyche des Beraters, die genug freie Kapazität zur Verfügung stellt, damit nicht aushaltbares, nicht verstehbares und noch nicht in Sprache fassbares, teils unbewusstes, Material des Patienten einen »Nistplatz« findet, wo es durch die Fähigkeit des Tagträumens verstanden, eingeordnet, in Sprache gebracht und bewusstseinsfähig wird. Anschließend wird es in dieser veränderten (metabolisierten) Form dem Krisenklienten wieder zur Verfügung gestellt. Insgesamt beschreibt der Container-Contained-Prozess einen spezifischen emotionalen und kognitiven Kommunikations- und Veränderungsvorgang, bei dem sowohl bewusstes als auch unbewusstes Material auf dem Weg der Introjektion zu einer Veränderung von Sender und Empfänger führt. Für die Krisenintervention ist das Modell in mehrfacher Hinsicht relevant: (1) Es beschreibt einen Sender, der in seiner emotional-kognitiven Selbstregulation überfordert ist. (2) Es charakterisiert einen Kommunikationsweg, auf dem bewusste und unbewusste Inhalte über verbale und nonverbale Kanäle transportiert werden. (3) Mit dem Begriff der freien Kapazität wird der psychische Zustand des Empfängers definiert und der psychische (Metabolisierungs-)Prozess des Beraters hervorgehoben. (4) Schließlich wird für die Antwort des Beraters gefordert, dass sie aktuelles psychisches Material des Klienten aufgreift und in einer veränderten Form zurückgibt. (5) Auf diese Weise soll sich die Fähigkeit des Klienten verbessern, bisher Unverstandenes/Unbewusstes zu erkennen und sich dadurch auch emotional zu beruhigen. Das allgemeine Container-Contained-Modell soll nun in konkrete Handlungsanweisungen für den Krisenberater umgesetzt werden: 1. Der Berater soll ein Setting schaffen, das Sicherheit gibt. Im Idealfall ist das eine Gesprächssituation ohne äußere Störungen (Telefon etc.) und mit einem vorhersehbaren Zeitrahmen. Auf diese Weise wird ein strukturelles Containing hergestellt, das den Rahmen für den kognitiv-emotionalen Austausch schafft. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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2. Der Berater soll eine mentale Haltung einnehmen, in der er bereit ist, sich von der Erzählung und dem Verhalten des Klienten beeindrucken zu lassen. Er ist sich dabei bewusst, dass sein eigener innerer Prozess (seine Gegenübertragung) ein relevanter Teil der Krisenberatung ist. Dafür soll er sich so weit von anderen Verpflichtungen distanzieren, dass er freie psychische Kapazität (Bion, 1990, spricht von negativer Kapazität) zur Verfügung hat. 3. Der Berater versucht (bei gleichschwebender Aufmerksamkeit) zu verstehen, was mit seinem Gesprächspartner vor sich geht. Das kann bei ihm auch Angst auslösen, da er unter Umständen auch destruktive Aspekte in sich wahrnehmen muss. Dabei soll er sich nicht scheuen, naive Fragen zu stellen, Verstandenes und Vorstellbares in eigene Worte zu fassen und Gefühle, Annahmen und Schlüsse des Patienten zu beschreiben. Darüber hinaus achtet er auf eigene antwortende Gefühle und Erinnerungen und fragt sich, was sie mit der Situation des Klienten und mit der Gestaltung des Kontaktes zu tun haben. Wie mit einem dritten Ohr soll er aufnehmen, was zur Situation gehören könnte, aber (noch) nicht gesagt werden kann, um Abgespaltenes sowie blinde Flecken zu integrieren. Krisenberatung als »Affektregulation zu zweit«

Um den emotionalen Anteil von Krisen und die immense Bedeutung des Umgangs mit heftigen und widersprüchlichen Gefühlen in der Krisenberatung hervorzuheben, verwende ich den Begriff »Affektregulation zu zweit« (Giernalczyk, 2003). Krisenberatung richtet sich oft an Menschen, die von ihren eigenen Gefühlen überflutet werden und nicht mehr in der Lage sind, sich selbst zu beruhigen. Deshalb besteht eine wichtige Funktion von Krisenberatung darin, Menschen in Krisen zu unterstützen, sich selbst zu beruhigen und die eigenen Gefühle soweit zu verstehen und einzuordnen, dass die Betroffenen nicht permanent in einem emotionalen Ausnahmezustand verbleiben. Dazu brauchen sie ein spiegelndes Gegenüber, das ihre Gefühle aufnimmt und in einen größeren Zusammenhang, in eine Metakonstruktion stellt. Auf diese Weise durch einen anderen Menschen verstanden, kann sich der betroffene Mensch selbst besser verstehen und beruhigen. Vorübergehend braucht er oder sie also einen anderen Menschen, der nicht einfach nur da ist, sondern der ihn emotional/kognitiv unterstützt seine inneren Zustände zu bewerten und einzuordnen. »Affektregulation zu zweit« knüpft an das Verständnis früher Mutter-Kind-Interaktionen an und überträgt die affektregulierende Aufgabe der Mutter für das Kleinkind auf die Situation der Krisenintervention. Durch starke Belastung und einhergehende Regression übernimmt der Krisenberater zeitweise Teile der regulativen Mechanismen, die dem Klienten (vorübergehend) nicht genug zur Verfügung stehen. Beispiel: Ein Mann hat seine Partnerin durch einen Autounfall verloren. Er reagiert mit Trauer, Wut und einem Gefühl der Erleichterung. Diese Gefühlsmischung stürzt ihn in einen Zustand, in dem er sich nicht mehr versteht und für den er keine Worte findet. Unentwegt fühlt © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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er sich den widersprüchlichen Gefühlen von Trauer, Wut und Erleichterung ausgesetzt. Als Folge seiner emotionalen Achterbahn gerät er in Verzweiflung darüber, dass er sich nicht mehr unter Kontrolle hat, und spürt Befremdung und Ablehnung über seine Gefühle der Erleichterung. Im Sinne der Affektregulation kommt der Krisenhelferin die Aufgabe zu, diese Gefühle zunächst richtig aufzugreifen und sie zutreffend und nicht verharmlosend zu benennen. Sie könnte sagen: Beraterin: Sie leiden also unter einer unabänderlichen Folge der Gefühle von Trauer, Wut und Erleichterung und verstehen vor allem ihr Gefühl der Erleichterung dabei nach dem Tod ihrer Partnerin nicht. Durch diese Intervention findet eine erste Einordnung des Leids statt, die Gefühle und die Unmöglichkeit, besonders das Gefühl der Erleichterung zu akzeptieren, werden in Worte gefasst. Klient: Ich verstehe es nicht und ich ertrage diese Achterbahn nicht. Beraterin: Sich nicht verstehen und diese Achterbahn macht Sie weiter verzweifelt, Sie kommen sich fremd vor und fürchten, die Kontrolle über sich und die Gefühle zu verlieren? Klient nickt, atmet durch und entspannt sich etwas.

Der Klient kann sich das Verständnis des Beraters zu eigen machen (bekommt eine neue Meta-Repräsentation) und versteht sich etwas mehr. Dieses vom Berater vorbereitete Verständnis führt nun zu einer emotionalen Beruhigung. Die »Affektregulation zu zweit« bedeutet somit, dass der Berater die Emotionen des Klienten korrekt aufgreift und sie in einen neuen kognitiven Rahmen stellt. Der Klient ­akzeptiert diesen Rahmen und erlangt mehr Fähigkeit zur Selbstregulation. Der Exkurs zur Funktion der Affektregulation zeigt nur einen Aspekt von Krisenberatung. Das Geschehen ist erheblich vielschichtiger und mit dieser kurzen Sequenz ist die Krise des Klienten selbstverständlich nicht vollständig bearbeitet. Im Konzept der Affektregulation wird die Veränderung des Klienten betont, im Rahmen der emotionalen Austauschprozesse einer Krisenberatung kommt es aber auch zu Veränderungen der Gefühle und Stimmungen des Beraters. Das Modell der projektiven Identifizierung (Ogden, 1979) steckt einen Rahmen, in dem untersucht werden kann, wie es zu (mitunter heftigen) Stimmungsänderungen und Impulsbildungen auf Seiten des Beraters kommen kann und wie er psychologisch an der inneren Welt seines Klienten über Gefühlskommunikation teilhat. Zunächst werden die Phasen projektiver Identifizierung dargestellt und anschließend an einem Beispiel ausgeführt.

Projektive Identifizierung in der Krisenberatung Projektive Identifizierung ist ein Kommunikationsmodell für unbewusstes Material, das in Krisen mit heftigen Gefühlen eine wichtige Rolle spielt. Seine Schritte lauten: (1) Ein Mensch in einer Krise versucht zu bedrohliche psychische Inhalte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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über Projektion bei einem Interaktionspartner zu lokalisieren (z. B.: »Nicht ich bin destruktiv, er ist destruktiv«). Auf diese Weise erfährt er eine Entlastung und behält den Anteil beim Anderen aber auch im Blickfeld. (2) Er baut eine (nonverbale) Kommunikation auf, die den Anderen dazu bringt, ähnliche Gefühle in sich zu erleben. In gewisser Hinsicht wird das Erleben des Empfängers dem des Senders ähnlicher (der Empfänger spürt evtl. destruktive Impulse gegenüber dem Sender). (3) Dadurch entsteht eine Objektbeziehung in der der Sender den Empfänger als getrennt genug erlebt, um sich entlastet zu fühlen, aber auch so verbunden, dass er seine inneren Zustände mit einer anderen Person gemeinsam erleben kann. (4) Der Sender kann sich nun weiter psychisch verändern und entlasten, wenn er sich mit dem Empfänger identifiziert, der seinerseits das Material (die destruktiven Impulse) in sich bearbeitet. Sowohl Container-Contained als auch projektive Identifikation beschreiben subtile psychische (bewusste und unbewusste) Austauschprozesse, die auch als Versuch emotionalen Lernens verstanden werden können und die der Bewäl­ tigung schwieriger Gefühlslagen zu zweit dienen. Ergänzt um das Konzept der ­Affektregulation beschreiben sie einen Handlungsrahmen für Krisenberater. Plakativ zusammengefasst, soll der Berater sich als Container für seine Krisenklienten zur Verfügung stellen und durch seine »Reverie« zur Symbolisierung und Klärung ­beitragen. Dabei soll er darauf eingestellt sein, dass es aufgrund der emotional angespannten Situation seiner Klienten zu projektiv identifikatorischen Austauschprozessen kommen kann. Insbesondere eigene sehr heftige und schwer nachvollziehbare Reaktionen des Beraters können einen ersten Hinweis darauf geben. Schließlich sollen Berater als bewusstes Ziel die Klärung und Regulation von negativen Gefühlen wie Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit anstreben. Dafür sprechen sie Teile ihrer Gegenübertragung an und benennen und kontextualisieren verbal und nonverbal ausgedrückte Gefühle. Beispiel: Eine 28-jährige Klientin schildert in einem ambulanten Erstkontakt, dass sie sich verwirrt, depressiv und schuldig fühlt, seitdem sie veranlasst hat, dass ihr Freund, der vor 12 Monaten einen Schlaganfall erlitten hat und seitdem geistig behindert ist, auf ihr Betreiben in stationäre Pflege untergebracht wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde er tagestherapeutisch betreut, während sie arbeitete, und von ihr in der übrigen Zeit zu Hause in der gemeinsamen Wohnung gepflegt. Durch diese Belastung verlor sie nach und nach ihre eigenen Sozialkontakte.

Der folgende Dialogausschnitt wurde für die Veranschaulichung eines ContainerContained-Prozesses gewählt. Klientin: Also ich hätte das nicht tun dürfen, denn er wollte es nicht ... aber ich konnte so nicht mehr weitermachen, jeden Abend das gleiche Pflegeprogramm und die Mutter von ihm hat sich überhaupt nicht gekümmert. Aber nun ist er weg und ich bin einsam und kann nicht mehr schlafen und mich quälen Gedanken an den Tod. (Diese Frau erlaubt sich nicht das Gefühl der Erleichterung, wie es der Mann im ersten Fallbeispiel erlebt hatte.) Berater (empfindet spontan Mitleid mit der Patientin, möchte sie bestätigen, ist empört über die Mutter des Freundes und merkt, dass die Formulierung »ich hätte es nicht tun dürfen« einprägsam war): Ich hab verstanden, dass Sie Ihren Freund in stationäre Pflege unter© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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gebracht haben und dass Sie damit Schwierigkeiten haben. Und ich frage mich, was Sie mit der Äußerung »ich hätte es nicht tun dürfen« meinen. Klientin (schaut auf, macht eine Pause): Es war gemein von mir, ich hab ihm angetan, was ich nie erleben will. Berater (fühlt sich verwirrt, braucht weitere Klärung, entscheidet sich für eine »naive« Frage): Wie meinen sie das? Klientin: Na ja, meine größte Angst ist, abgeschoben zu werden, einsam zu sein, und das hab ich ihm angetan. Berater (spontan): Ja und sich auch. Sie wollten ein Problem lösen und haben ein Verbot übertreten? Klientin (lebhaft): So ist es, jetzt muss ich dafür büßen und er muss büßen.

Im voranstehenden Gesprächsausschnitt hat der Berater vor allem den Aspekt des Übertritts eines Verbots aufgenommen und der Klientin zur Verfügung gestellt. Damit kann sie diesen Aspekt ihres Leidens genauer erfassen. Subjektiv befand sie sich wohl in einem Dilemma: Mit ihrem Freund fühlte sie sich zunehmend iso­ lierter und entwickelte eine immer stärkere Aggression auf ihn. Nach der Heimunterbringung fühlte sie sich zunächst ebenfalls einsam und war überdies von eigenen Über-Ich-Ansprüchen geplagt. Die Benennung des Verbot-Übertritts war die Basis, auf der sie nun mit dem Berater gemeinsam reflektieren konnte, ob sie eine realistische Schuld auf sich genommen hatte und woher, obwohl sie dies verneinen musste, die Schuldgefühle stammen könnten.

Psychodynamische Beratung bei suizidalen narzisstischen Krisen Eine besondere Aufforderung für psychodynamische Beratung stellen narzisstische suizidale Krisen dar. Bei der Bearbeitung narzisstischer Krisen spielen das Verständnis des Beziehungsangebotes des gekränkten Klienten und seine Tendenz, den Berater ebenfalls zu kränken, eine entscheidende Rolle. Wenn der Berater ein Verständnis für die psychische Notlage des mitunter schwierig erscheinenden Klienten entwickeln kann, vermeidet er die Gefahr, in einen Machtkampf zu treten oder den Klienten seinerseits zu entwerten (Giernalczyk, 1994). Obwohl jeder Mensch in eine narzisstische Krise geraten kann, weisen Menschen mit einem labilen Selbstwertgefühl, einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur oder einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung eine erhöhte Empfindlichkeit auf und können bei Kränkungen in eine narzisstische Krise geraten. Kompensatorisch zum labilen Selbstwertgefühl bilden sie eine unbewusste Größenvorstellung aus, die jedoch auf bestätigende äußere Umstände angewiesen ist. Narzisstisch labile Menschen geraten dann in eine Krise, wenn zum Beispiel die Trennung einer Person oder der Verlust einer beruflichen Position den Zustand des Größenselbst beschädigt und sie durch die Kränkung in den Zustand des Kleinheits-Selbstzustandes geraten (Henseler, 1984; Henseler u. Reimer, 1981; Volkan u. Ast, 1994). Narzissti© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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sche Krisen erfahren häufig eine suizidale Zuspitzung. Suizidalität ist dann (unbewusst) der einzige Fluchtweg, um Beschämung und Schande zu entkommen. Der Tod wird in dieser Situation mitunter unbewusst als paradiesischer Ort der Geborgenheit und Ungeschiedenheit phantasiert. Bei dem Umgang mit Menschen in einer narzisstischen Krise muss aufgrund der meist erst kurz zurückliegenden Kränkung einer erhöhten Empfindlichkeit des Patienten Rechnung getragen werden. Es ist günstig, wenn der Therapeut sich bewusst ist, dass eigenes Zuspätkommen, die Verlegung von Terminen sowie ein nicht langfristig angekündigter Urlaub vom Patienten als Missachtung und Entwertung erlebt werden kann, die dann mit narzisstischer Wut auf den Therapeuten und seiner Entwertung beantwortet werden. Inhaltlich geht es bei der Krisenintervention um die Suche nach dem kränkenden Anlass, denn sehr oft wird die Kränkung rasch verdrängt, kann nicht erinnert werden, quält aber unbewusst weiter. Das Krisenerleben kann dann als menschlich nachvollziehbare Reaktion auf Kränkung aufgegriffen werden. Darüber hinaus sind wertschätzende Interventionen sinnvoll, die das beschädigte Größenselbst wieder stabilisieren. Zu ihnen gehört vor allem die Würdigung der Stärken, der menschlichen Seiten und der Leistungen des Patienten. Im Gespräch wird der Therapeut nicht selten erst durch entwertende und idealisierende Bemerkungen des Patienten auf die narzisstische Krisenthematik aufmerksam. Beispiel: Der Klient ist 27 Jahre alt, Unternehmensberater mit einer eigenen Firma und hat es schon zu einem beträchtlichen finanziellen Vermögen gebracht. Er fühlt sich depressiv und zunehmend kraftlos. Auf der letzten Autobahnfahrt hatte er mehrmals den Wunsch verspürt, seinen Wagen bei über 200 km/h gegen einen Brückenpfeiler zu lenken. Klient: Es geht mir gar nicht so gut und ich fürchte, dass Sie auch nicht in der Lage sein werden, mich zu durchschauen und wieder auf die Reihe zu kriegen, dafür bin ich wohl zu komplex. Berater (fühlt sich leicht verärgert durch die negative Erwartung des Patienten, sieht darin einen Hinweis für eine Selbstwertproblematik): Wenn Sie ein so komplexer Mensch sind, dann kann ich Ihre Sorge verstehen. Aber da Sie nun schon einmal hier sind, können wir es ja trotzdem versuchen. Am Besten sagen Sie mir gleich Bescheid, wenn Sie den Eindruck haben, dass ich Sie nicht recht durchschaue. Klient: Okay, fangen Sie an. Berater: Ich würde gerne wissen, was Sie vor der Autofahrt gemacht haben, während derer Sie die Idee hatten, gegen Brückenpfeiler zu fahren. Klient (zuckt die Schulter): Business as usual. Berater: Ich frage deshalb nach, weil ich die Vermutung habe, dass Sie etwas erlebt haben, das nun an Ihnen nagt, aber Sie wissen nicht genau, was es ist. Klient (atmet tief durch, fährt sich mit der Hand durch die Haare, nimmt sein Handy aus der Jacketttasche und schaltet es ab): Naja, ich hab Ärger mit Moni, meiner Assistentin und, sagen wir, Gespielin gehabt. Berater: Was war denn los? © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Klient: Im Grunde hat sie mir den Laufpass gegeben und gemeint, ich wäre unerträglich ... Sie hat für mich gearbeitet und wir hatten, hatten eine, sagen wir, heftige Zeit (lächelt, winkt mit der Hand ab). Berater (hebt die Hand und lässt sie sinken): Wenn ich mich in Ihre Lage versetze, wäre das schon ein Hammer für mich. Klient (setzt sich auf ): Ja, wirklich? Wieso? Berater: Sie sind weggeschickt worden von einer Frau, mit der Sie zusammen waren und die vermutlich weiß, was Sie leisten. Klient: Und deshalb glauben Sie, hab ich das Gefühl, meine Batterie läuft aus und mein Porsche will die Brücke küssen? Berater: Das wäre eine sehr menschliche Reaktion. Klient (lehnt sich zurück, schließt kurz die Augen): Sie müssen mich coachen, dann komme ich wieder nach vorn, ich merke, Sie können das! Berater lächelt, nimmt die Idealisierung wahr und hofft, damit eine Arbeitsbasis gefunden zu haben.

Typisch in diesem Gesprächsausschnitt ist die anfängliche Entwertung, die auch den Charakter einer unbewussten Testung haben kann: Wird der Berater auf eine Kränkung, die ich ihm zufüge, genau so reagieren, wie ich auf die Kränkung ­meiner Assistentin reagiert habe? Dies kann auch im Sinne der projektiven Identifikation verstanden werden. Der Berater gerät in eine ähnliche Lage wie der Klient und soll stellvertretend für ihn damit umgehen. Wird dies auf eine akzeptierende Weise aufgenommen, dann wird die Gefahr eines Beziehungsclinches (Gier­ nalczyk, 1994; 2005) vermieden. Die vermutlich wichtigste Strategie des Beraters besteht in der Suche nach dem kränkenden Auslöser und die Parteinahme für die Krisenreaktion als menschlich achtbares Geschehen. Die Idealisierung des Beraters am Ende der Sequenz kann ebenso wie die anfängliche Entwertung ­primär als Restitutionsversuch des beschädigten Größenselbst gewertet werden.

Psychodynamische Beratung bei manipulativer Suizidalität Manipulative Suizidalität entsteht nicht selten im Kontext von Krisen auf Borderline-Niveau. Diese Krisen stehen oft mit Beziehungsschwierigkeiten und Beziehungsabbrüchen in engem Zusammenhang. In der Krisenberatung entsteht dann eine Interaktion, die von Besorgnis und Angst um oder auch vor dem Klienten gekennzeichnet ist (Lohmer, 2002). Die Beziehung nimmt über drohende Suizidalität den Charakter einer manipulativen Objektbeziehung an (Kind, 1996). Der Klient greift auf »Erpressung« zurück, um den Berater zu einer dichten und zuwendenden Beziehung zu zwingen, und erzeugt auf diese Weise, was er genau vermeiden möchte, nämlich aversive, aus der Beziehung herausführende Tendenzen beim Therapeuten (Giernalczyk, 2005). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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132 Beispiel: Erstgespräch mit einer 32-jährigen Patientin in Trennungssituation.

Klientin: Wenn Sie jetzt meinen Freund nicht anrufen und ihm sagen, er soll zurückkommen, garantiere ich für nichts (blickt zum offenen Fenster des 4. Stockwerkes, stützt sich auf die Armlehnen des Sitzes). Beraterin: Sie wollen, dass ich Ihren Freund zurückhole, und drohen mir dabei. Ich komme so ziemlich unter Druck. Klientin (bläst Luft durch die Zähne): Ich bin unter Druck, nicht Sie. Beraterin: Vielleicht ist es so, dass wir beide unter Druck sind und ich darüber erlebe, wie Ihnen zu Mute ist. (Auch diese Intervention geschieht vor dem Verständnis einer projektiven Identifikation.) Klientin (lässt die Armlehnen los, presst die Hände aneinander): Mag sein – und jetzt? Beraterin: Ich möchte mit Ihnen überlegen, wie Sie und ich den Druck verkleinern können. Klientin: Na er muss zurückkommen sonst ... (blickt zum Fenster). Beraterin: ... sonst könnten Sie sich aus dem Fenster stürzen? Klientin (lächelt): Erfasst. Beraterin: Sie nehmen Ihr Leben als Geisel, um mich zu einem Anruf zu zwingen? Also ­haben Sie das Gefühl, ohne ihn nicht leben zu können? Klientin nickt, schaut nach unten. Beraterin: Was fehlt, wenn er fehlt? Klientin: Ich ertrag das Alleinsein nicht. Beraterin: Ich würde gerne darüber reden, was Sie alles schon gegen Alleinsein gemacht haben und was davon gut tut. Klientin: Einverstanden ...

Der Ausschnitt demonstriert, wie die Klientin auf projektive Weise eigene Gefühle des Ausgeliefertseins auch bei ihrer Beraterin erzeugt, die versucht, ihr diesen Zusammenhang vor Augen zu führen. Es wird deutlich, dass manipulative Suizidalität als Mittel gegen Einsamkeit eingesetzt wird. Die Konzentration auf dieses zugrunde liegende Gefühl bringt vorübergehende Entspannung und stellt einen containenden Schritt dar. Ausgangspunkt für eine derartige Beziehungsdynamik sind oftmals unbewusste Ängste des Patienten vor Objektverlust, das heißt Angst davor, vom Anderen abgeschoben und verlassen zu werden. Häufig gehen dieser Situation Kränkungserlebnisse und Objektverluste voraus, wie sie Henseler (1984) beschrieben hat. Infolge einer Kränkung werden frühe Ängste vor Objektverlust mobilisiert und erpresserische Objektbindung über Suizidalität erscheint als letzte Möglichkeit, um sich vor erneutem Objektverlust zu schützen. Manipulative Situationen können zum Teil mit dem Mechanismus der projektiven Identifikation (Ogden, 1979; Kernberg 1993) erklärt werden. Der Patient © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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fühlt sich selbst hilflos und ohnmächtig seinem Therapeuten ausgeliefert. Durch Projektion und kommunikativen Druck auf den Therapeuten entstehen diese Gefühle auch im Erleben des Therapeuten. Auf diese Weise gelingt es dem Patienten, sein Gefühl der Auslieferung auf den Therapeuten zu verlagern und damit zugleich jene Kontrolle über den Therapeuten zu entwickeln, der er sich selbst ausgeliefert sieht. In dieser Situation ist die Suizidalität des Patienten wie eine Geiselnahme organisiert. Er nimmt sein Leben als Geisel, um damit den Helfer unter Druck zu setzten (Kind, 2000). Bei der Geiselnahme geht schrittweise das Gefühl dafür verloren, dass zwei im Prinzip getrennte Menschen interagieren. Zur Trennung der Menschen gehört auch der Aspekt, dass sich ein Mensch suizidieren kann, wenn er es will, und dass ein anderer Mensch nicht im Sinne einer Verursachung dafür verantwortlich ist. Die Verantwortung des Therapeuten besteht dagegen darin, den Suizidalen in einer Weise anzusprechen und zu beeinflussen, dass aus Sicht des Therapeuten der suizidale Handlungsdruck verringert wird. Durch die erpresserische Suizidalität soll der Therapeut dazu gebracht werden, den Patienten eben nicht abzuschieben. So erpresst fühlt sich der Therapeut ähnlich hilflos und wütend wie sein Patient. Die Tragik besteht allerdings darin, dass der hilflose Therapeut seinerseits wütend wird und nun den Patienten unter ­Umständen loswerden und abschieben will. Da er aber zugleich den Suizid des Patienten fürchtet, fühlt er sich mattgesetzt. Auf diese Weise entwickelt sich die Therapeut-Pa­tient-Beziehung zu dem Punkt, den der Patient »immer schon« kannte: Er erlebt wieder das Gefühl, nicht gewollt zu sein und deswegen abgeschoben zu werden (statt werden zu sollen).

Beratungsschritte bei manipulativer Suizidalität Für manipulative Suizidalität empfiehlt sich das folgende Vorgehen: 1. Negative Gefühle des Therapeuten sind auch als Signale bzw. diagnostische Hinweise auf die emotionale Situation des Patienten zu verstehen. Insbesondere Ohnmacht und Wut werden über projektive Identifiaktion auch für den Therapeuten erlebbar. Auf der Interventionsebene folgt daraus, dass der Therapeut die Gefühle seines Patienten klärt und sich dabei von der These leiten lässt, dass der Patient sich ähnlich fühlt wie er selbst. Nach der Klärung der Gefühlslage kann im nächsten Schritt der Hintergrund für diese Gefühle geklärt werden. 2. Der Therapeut sollte der Erpressung nicht nachgeben. Früher oder später wird er sich immer abgrenzen müssen. Außerdem hat das vorläufige Einlenken auf erpresserisches Ansinnen den Nachteil, dass der Therapeut dadurch seinen ­Ärger verstärkt und sich damit dem Projektionsbild seines Patienten weiter annähert. 3. Das Grundmuster der Erpressung besteht darin, dass Therapeut und Patient glauben, dass der Therapeut durch Handeln oder Unterlassen einer Handlung (im Beispiel das Einsetzen für die Klinikentlassung) direkt das Leben des Patienten retten oder verwirken könnte. Diese Vorstellung ist so natürlich nicht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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richtig, denn bei aller Not und gegenseitiger Abhängigkeit bleibt es die Entscheidung des Patienten, ob er Hand an sich legen wird. In einer erpresserischen Situation kann es von Nutzen sein, wenn der Therapeut die prinzipielle Möglichkeit zum Suizid des Patienten bestätigt und ihn gleichzeitig damit konfrontiert, dass er jedoch mit dem Suizid nicht einverstanden ist und weiter mit ihm in Kontakt bleiben will. Gefährlich ist, wenn der Therapeut den Kontakt zu seinem Patienten abbricht. Denn dadurch wird der gefürchtete Objektverlust des Patienten durch das Verhalten des Therapeuten bestätigt und die Suizidalität des Patienten weiter verschärft. 4. Im Fall manipulativer Suizidalität ist die Gefahr eines aggressiven Agierens des Therapeuten sehr hoch. Seine Aufgabe besteht darin, kritisch zu hinterfragen, welche seiner Interventionen und Maßnahmen eine angemessene Reaktion auf die Gefährdung des Patienten sind und welche Aktivität eher Ausdruck seines eigenen Ärgers und eventueller Hilflosigkeit ist. Insbesondere Schutzmaßnahmen wie Verlegungen auf andere Stationen, Einweisungen und Medikamenteneinsatz müssen auf ihr agierendes Potential in Erpressungssituationen hin überprüft werden. 5. Gelingt es dem Therapeuten, die suizidale Erpressung als den speziellen Umgang des Patienten mit seinen Objekten (Mitmenschen) in innerer Not zu erkennen, so bekommt die suizidale Erpressung sogar positive Seiten. Denn so gesehen ist sie ein Hinweis auf die innere Verfassung des Patienten und auf einen vielleicht typischen Modus der Beziehungsgestaltung des Patienten, die gerade dann, wenn sie sich zeigt, effektiv bearbeitet werden kann. Erpressung kann dann wie folgt bearbeitet werden: – Aufgrund welcher Ereignisse entstehen negative Gefühle (Angst, Ohnmacht, Wut) im Patienten? (Frage nach den auslösenden Bedingungen) – Welche Ziele verfolgt er (bewusst oder unbewusst) bezüglich des Therapeuten und bezüglich anderer wichtiger Personen? – Wie könnte er diese Ziele auch ohne Suizidalität erreichen? – Was nimmt er über die Haltung seines Therapeuten oder anderer Menschen an? (Klärung von Objektbeziehungen) – Was sind die negativen Auswirkungen seiner Strategie für ihn und für andere Beteiligte? (Unterscheidung von Phantasie und Realität) – Wie könnte er mit seinen Gefühlen und der momentanen Situation anders umgehen bzw. wie könnte er eine derartige Situation besser ertragen? (Veränderung der Bewältigungsstrategie bzw. Förderung des Ertragens unangenehmer Gefühle)

Literatur Argelander, H. (1970). Das Erstinterview in der Psychotherapie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Bion, W. R. (1990). Lernen durch Erfahrung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Udo Rauchfleisch

Psychodynamische Beratung von dissozialen Klientinnen und Klienten

In diesem Beitrag werden die Prinzipien der psychodynamischen Beratung dissozialer Menschen dargestellt. Zu den Grundlagen der psychodynamischen Beratung im Allgemeinen siehe den Eingangsbeitrag von Heike Schnoor. Dissoziale Verhaltensweisen finden sich bei den verschiedensten Klientinnen und Klienten. Hier geht es indes nicht um dissoziale Phänomene im Allgemeinen, sondern um eine Kerngruppe von Menschen, die nach der ICD-10 und dem DSMIV die Diagnose »dissoziale« oder »antisoziale Persönlichkeitsstörung« erhalten. Diese Persönlichkeiten werden dort durch eine Reihe sehr negativer Etikettierungen beschrieben: Sie wiesen Verantwortungslosigkeit, eine Unfähigkeit zum Erleben von Schuldgefühlen auf, missachteten und verletzten die Rechte anderer, täuschten und manipulierten andere Menschen, neigten zu Lügen, Betrügen und Impulsivität und zeichneten sich durch Rücksichtslosigkeit und Aggressivität ­aus. Diese negative Beschreibung lässt erkennen, dass diese Menschen stark negative Affekte bei den Menschen ihrer Umgebung – und zwar auch bei den Fachleuten – auslösen. Bezüglich der psychodynamischen Konzepte der Beratung (Beachtung der unbewussten Dynamik, gleichschwebende Aufmerksamkeit und »technische« Neutralität, Beachtung von Abwehr und Widerstand, Arbeit an und mit Übertragung und Gegenübertragung, Interventionen: Klärung, Konfrontation, Deutung) verweise ich auf meinen Beitrag über die Beratung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und ihren Angehörigen.

Die Entwicklung dissozialer Persönlichkeiten Die folgende kasuistische Vignette dient der Veranschaulichung der spezifischen Entwicklung und der Persönlichkeitsausformung, wie wir sie häufig bei dissozialen Menschen finden. Herr E. wurde nach der Trennung seiner Eltern im Alter von zwei Jahren zu einer Pflegefamilie gegeben, da weder Vater noch Mutter in der Lage waren, angemessen für ihn und seine drei Geschwister zu sorgen. Wie aus den Akten des schulpsychologischen Dienstes hervorging, ließ er bereits in der Kindergartenund Schulzeit eine Fülle von Verhaltensauffälligkeiten erkennen. Neben Einnässen bis zum 11. Lebensjahr und einem ausgesprochen ängstlichen Verhalten, das unversehens jedoch in Aggression umschlagen konnte, fiel insbesondere seine große »Ansprüchlichkeit« auf, wie es im Bericht hieß. Er habe »unmäßige« Wünsche und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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sei letztlich durch nichts zufriedenzustellen. Als sich die Schwierigkeiten in der Pflegefamilie immer mehr zuspitzten, wurde Herr E. im Alter von 15 Jahren in ein Erziehungsheim eingewiesen. Auch hier imponierte er als sehr auffällig. Er sei von einem starken »Geltungsbedürfnis« erfüllt und im Hinblick auf seine Wünsche wie ein »Fass ohne Boden«. Erste Delikte (Aufbrechen der Geldbehälter in Telefonzellen, Entwendung von Motorfahrzeugen) traten im Alter von 17 Jahren auf, und es schloss sich eine der typischen »kriminellen Karrieren« mit einer Fülle von Straftaten und mehrfachen Gefängnisaufenthalten an. Als ich die Behandlung des 30-jährigen Herrn E. im Rahmen einer vom Gericht angeordneten ambulanten Psychotherapie übernahm, fiel mir gleich zu Beginn die Unersättlichkeit dieses Mannes auf. Diese äußerte sich schon vor Beginn der eigentlichen Therapie, indem er mehrmals anrief und immer wieder andere Termine verlangte. Dabei wurde deutlich, dass er jeweils den vorher vereinbarten Termin nicht wegen irgendwelcher anderen Verpflichtungen absagte. Es bestand bei ihm vielmehr offensichtlich ein starkes Bedürfnis, die Situation total in der Hand zu haben und durch derartige Aktionen sich selbst und dem jeweiligen Partner beweisen zu können, dass er in keiner Weise auf den Anderen angewiesen sei und aus diesem »herauspressen« könne, was er wolle. Diese Dynamik, die in allen seinen Beziehungen zu beobachten war, konnten wir später im Verlauf der Psychotherapie verstehen als Ausdruck seiner überwältigenden Angst vor dem Gefühl totaler Ohnmacht und des Ausgeliefertseins sowie als Versuch, sich all das einzuverleiben, was er in Kindheit und Jugend vermisst hatte, und sich für das zu rächen, was in seiner Sicht die Umwelt ihm angetan hatte. Wie die Fallvignette zeigt, zeichnet sich die Entwicklung vieler Dissozialer (Rauchfleisch, 1999, 2008) durch eine große Instabilität in den frühen Beziehungen und schon im Kindes- und Jugendalter auftretende Verhaltensauffälligkei­ten aus. Diese Mangelerfahrungen führen zu einem oral-aggressiven Kernkonflikt (Rauchfleisch, 1999, 2008), der sich bei Herrn E. in der immer wieder beschrie­ benen »Unersättlichkeit« äußerte. Im Sinne der psychoanalytischen Objekt­ beziehungstheorie (Kernberg, 2006, 2009) führen die verinnerlichten destruktiven Beziehungserfahrungen zu für diese Persönlichkeiten spezifischen psychodyna­ mischen Konstellationen, vor allem zu einer stark aggressiven Aufladung ihrer Selbst- und Objektbilder, und zu einer Reihe von Ich-Struktur-Defekten: mangelnde Realitätskontrolle, Störungen in der Affektregulierung (Fonagy et al., 2004), patho­ logische Abwehrprozesse in Form von Spaltung, projektiver Identifikation, Verleugnung, Idealisierung und Entwertung. Wie das Verhalten von Herrn E. zeigt, spielt außerdem in der Persönlichkeit von dissozialen Menschen die Selbstwertstörung eine zentrale Rolle. Der schon in der Kindheit bei ihm beschriebene »Geltungsdrang«, seine immense Angst vor Ohnmachtsituationen und seine ausgeprägten Manipulationstendenzen sind Ausdruck dieser Selbstwertstörung und dienen der Rettung seiner labilen narzisstischen Homöostase. Charakteristisch ist schließlich die auch bei Herrn E. schon in der Jugend sichtbar werdende enge Verquickung seiner psychischen und sozialen Probleme. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Udo Rauchfleisch · Beratung von dissozialen Klienten

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Besonderheiten in der Behandlung Motivation

Wenn es um die Beratung und Therapie dissozialer Menschen geht, taucht immer wieder der skeptische Einwand auf, sie seien doch vielfach für eine Behandlung gar nicht motiviert und seien aufgrund ihrer Persönlichkeitsentwicklung nicht in der Lage, von professionellen Angeboten wirklich zu profitieren. Diese Überlegungen scheinen berechtigt zu sein, wenn man nur das manifeste Verhalten betrachtet. Sobald man aber etwas sorgfältiger die diesem Verhalten zugrunde liegende Persönlichkeitsdynamik untersucht, stellt man schnell fest, dass es psychodynamische Gründe gibt, die es diesen Menschen verunmöglichen, von sich aus Motivation im traditionellen Sinne aufzubringen und uns zu vermitteln. Der »mangelnden Motivation« können die folgenden Ursachen zugrunde liegen, wie sie sich auch bei Herrn E. finden: – Aufgrund ihrer frühkindlichen Entwicklung besteht bei diesen Klientinnen und Klienten eine große Ambivalenz ­gegenüber intensiven Beziehungen (SehnsuchtAngst-Dilemma), indem sie ­einerseits die Nähe anderer Menschen um jeden Preis suchen (»oral-aggressiver Kernkonflikt«, Rauchfleisch, 1999), sie aber andererseits diese Nähe gar nicht ­ertragen und deshalb jedes Näheangebot, das wir ihnen ja auch durch unsere professionellen Kontakte anbieten, vehement ablehnen; – die Angst, dass ihre stark ausgeprägte, aus den in der Kindheit und im weiteren Leben erlittenen Traumatisierungen resultierende Aggression im Kontakt mit den Professionellen hervorbrechen und zu selbst- und fremdgefährlichen Aggressionsausbrüchen führen könnte; – die Angst vor erneuten Verletzungen in den Kontakten zu Beratern und Therapeutinnen, wodurch die Wunden früherer traumatisch erlebter Beziehungserfahrungen wieder aufgerissen würden; – die Tatsache, dass ihre Beziehungen von Kindheit an im Allgemeinen äußerst brüchig und instabil sind und die Klientinnen und Klienten sich keine emotional tragfähigen Beziehungen vorstellen können; – Beratungs- und Therapieangebote werden von ihnen aufgrund ihrer oft ausgeprägten Selbstwertstörung als narzisstische Kränkung erlebt; – die Resignation angesichts ihrer oft desolaten sozialen Situation, die jegliche Hoffnung auf eine Verbesserung ihres Lebens erstickt hat; – ihr prinzipielles, aus den früheren Beziehungserfahrungen herrührendes Misstrauen, das sie bezweifeln lässt, dass andere Menschen sich ihnen unvoreingenommen zuwenden, und daraus resultierend der Versuch, das Gegenüber durch Ablehnung aller Angebote zu provozieren und zu testen, ob das Angebot wirklich ernst gemeint ist. Die psychodynamische Betrachtung zeigt, dass hinter dem Phänomen einer »mangelnden« Behandlungsmotivation ausgeprägte – zumeist unbewusste – Konflikte © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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stehen, die zu beachten sind, wenn wir in einen professionellen Kontakt mit diesen Klientinnen und Klienten treten. Die Konsequenz besteht darin, eine eigene Motivation im traditionellen Sinne bei ihnen nicht als Voraussetzung für unsere Aktivitäten zu fordern, sondern als ein erstes Behandlungsziel zu betrachten. Gerade in Beratungen kann Motivation geweckt und damit die Bereitschaft der Klienten, professionelle Hilfe anzunehmen, gefördert werden. Externalisierung innerer Konflikte, Impulsivität

Dissoziale Klientinnen und Klienten sind oft deshalb besonders unbeliebt, weil sie – mitunter in exzessiver Weise – zu einem impulsiven Verhalten neigen. Gerade weil es sehr provokativ und manipulativ ist, reagieren viele Professionelle darauf mit Ablehnung oder ihrerseits mit aggressivem Verhalten. Die psychodynamische Betrachtungsweise erlaubt indes, die Dynamik hinter dem impulsiven Verhalten zu verstehen. Dies bedeutet nicht, dieses Verhalten gutzuheißen, ermöglicht es aber, in der Gegenübertragung gelassener und therapeutisch konstruktiver darauf zu reagieren, als wenn es nur als aggressiver Akt uns gegenüber verstanden wird. Die psychodynamische Betrachtung lässt erkennen, dass die Klientinnen und Klienten im impulsiven Verhalten innere Konflikte externalisieren. Wie das Fallbeispiel von Herrn E. zeigt, äußert sich in seinen aggressiven Aktionen und seinen ausgeprägten Manipulationstendenzen seine schwere Selbstwertstörung, und diese Reaktionsmuster stellen in gewisser Weise Lösungsversuche dar. So störend und provokativ diese Verhaltensweisen auch sein mögen, erlauben sie uns doch wichtige Einblicke in die Innenwelt unserer Klientinnen und Klienten, die ihre inneren Konflikte gleichsam symbolisch-handelnd in der sozialen Realität inszenieren. Die Verquickung psychischer und sozialer Probleme

Eines der charakteristischsten Phänomene dissozialer Persönlichkeiten ist die bei Herrn E. beschriebene enge Verquickung ihrer psychischen und sozialen Probleme. Neben der psychischen Fehlentwicklung bestehen bei ihnen von Kindheit an gravierende soziale Schwierigkeiten: mangelnde Schul- und Berufsausbildung, Wohn- und Arbeitsprobleme, Überschuldung, Beziehungskonflikte und im Fall der Straffälligkeit die Etikettierung als »Vorbestrafte«. Bei Beratungen und Behandlungen ist beiden Dimensionen, der psychischen wie der sozialen, Rechnung zu tragen. Konkret heißt dies, dass wir im Sinne des bifokalen Behandlungskonzepts (Rauchfleisch, 1999, 2001, 2008) beide Dimensionen im Auge behalten müssen und uns nicht nur auf die psychische oder die soziale Störung allein konzentrieren dürfen. Das bifokale Behandlungskonzept ist eine mir wichtig erscheinende Modifikation der sonst üblichen Therapiekonzepte, da bei diesen Klientinnen und Klienten eine enge Beziehung zwischen den psychischen Problemen und den sozialen Schwierigkeiten besteht und sie sich gegenseitig bedingen und aufschaukeln. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Udo Rauchfleisch · Beratung von dissozialen Klienten

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Die unbewusste Wirkung der psychosozialen Hilfe

Aufgrund der engen Verquickung von psychischen und sozialen Problemen bei dissozialen Menschen bedürfen sie im Sinne des bifokalen Behandlungskonzepts sowohl der Bearbeitung ihrer psychischen Probleme als auch einer sozialen Sanierung. Bei der psychodynamisch orientierten Beratung und Therapie solcher ­Pa­tienten stellt sich die Frage, welche unbewusste Wirkung die psychosoziale Hilfe, derer sie so dringend bedürfen, auf sie hat. Oft stellen die Professionellen fest, dass ihre Hilfe entweder vehement abgelehnt wird, oder es richten sich auf sie ungeheure Ansprüche und Erwartungen, Ausdruck des oral-aggressiven Kernkonflikts. Immer wieder zeichnen sich diese Reaktionen der Klientinnen und Klienten durch eine weitgehende Verkennung der Realität aus, indem sie die Professionellen und ihre Interventionen nicht so wahrnehmen, wie sie tatsächlich sind. In dieser Situation ist es hilfreich, die unbewusste Dynamik, die dieser Interaktion zugrunde liegt, zu klären und sie zum Thema in der Beratung und Therapie zu machen. Den Wahrnehmungsverzerrungen, die sich störend auf die Beziehung der Professionellen und ihrer Klienten auswirken, haben verschiedene Ursachen: – Zum einen sind dissoziale Menschen aufgrund ihrer Persönlichkeitsstörung im Allgemeinen nicht in der Lage, ihre Mitmenschen, so auch ihre Betreuerinnen und Betreuer, ganzheitlich wahrzunehmen. Sie haben von ihren Bezugspersonen lediglich Teilbilder (Partialobjektbilder) mit voneinander gespaltenen Affektqualitäten. So sind für sie die Professionellen entweder nur »Freunde« oder ausschließlich »Feinde«, wobei diese voneinander gespaltenen Teilbilder schnell wechseln können, insbesondere kann das »gute« in ein »böses« Teilbild umschlagen, wenn sich die Klientinnen und Klienten gekränkt oder enttäuscht fühlen. Ambivalenz, die zu einem kohärenten Bild anderer Menschen gehören würde, vermögen diese Menschen nicht zu erleben. Manifeste Hilfe, die ihnen die Professionellen bieten, nehmen Dissoziale deshalb als Akt der narzisstischen Bestätigung (»Freund«-Bild) oder als Kränkung (»Feind«, der ihnen nicht genug gibt oder sie durch die Hilfe beschämen will) wahr. – Damit hängt ein zweites Problem zusammen: Die sozialen Interventionen der Professionellen werden von dissozialen Menschen oft als Selbstverständlichkeit empfunden und dementsprechend in keiner Weise wertgeschätzt. Die unbewusste Phantasie betrachtet die Hilfe als eine lange ersehnte, nun endlich erfolgende »Wiedergutmachung« (für die in der Kindheit erlittenen Versagungen und Traumatisierungen). Die Folge kann eine unheilvolle, »maligne« Regression (Balint, 1970) sein, aufgrund derer die Klientinnen und Klienten immer passiver und ansprüchlicher werden und keine Schritte nach vorne machen, sondern sich immer mehr in die Regression zurückziehen. – Schließlich kann die von den Professionellen gebotene Hilfe von den Klientinnen und Klienten als narzisstische Kränkung erlebt werden. Sie fühlen sich dadurch beschämt und in ihren grandiosen Vorstellungen, sie seien völlig autark, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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auf niemanden angewiesen, in Frage gestellt. So dringend sie einerseits Unterstützung und Zuwendung brauchen, so vehement lehnen sie sie andererseits aufgrund dieser aus ihrer narzisstischen Problematik herrührenden Dynamik ab. Sie bringen sich selbst dadurch in einen verhängnisvollen Teufelskreis und führen bei ihren Betreuerinnen und Betreuern zu Gefühlen der Ohnmacht und des Ärgers. In allen diesen Situationen ist es wichtig, dass sich die Professionellen über die unbewusste Dynamik ihrer Klientinnen und Klienten klar zu werden versuchen. Erst dann können sie in einer adäquaten, konstruktiven Weise darauf reagieren. Die kritische Reflexion ihrer Gegenübertragung ermöglicht es ihnen dann, sich nicht unreflektiert aggressiv und vorwurfsvoll zu verhalten oder sich nicht mit dem Gefühl völliger Ohnmacht und Resignation von den Klienten zurückzuziehen

Spezifische Beratungssituationen und ihre Dynamik Generell werden Beratungen – wie auch Therapien – bei dissozialen Klientinnen und Klienten entweder in einer Institution (z. B. in einer Strafanstalt) oder im ambulanten Bereich durchgeführt. Dabei wird die Atmosphäre der Interaktion jeweils durch den Kontext, in dem die Beratung stattfindet, mitbestimmt. Je stärker die Professionellen als »Handlanger des Gesetzes« empfunden werden, desto größer ist im Allgemeinen das Misstrauen ihnen gegenüber, ein Gefühl, das bei Menschen mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen, wie auch die kasuistische Vignette zeigt, aufgrund ihrer bisherigen Lebenserfahrungen ohnehin ausgeprägt ist. Mit diesem »Ur-Misstrauen« – anstelle des von Erikson (1966) beschriebenen »Ur-Vertrauens« – muss bei Beratungen von Dissozialen stets gerechnet werden. Kriseninterventionen

Da Menschen mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen im psychischen wie im sozialen Bereich in vielfältige Konflikte verstrickt sind, stellen Kriseninterventionen bei ihnen eine der häufigsten Beratungsgründe dar. Die Krisen können finanzieller, beruflicher oder psychischer Art sein und zeichnen sich bei diesen Klientinnen und Klienten vor allem dadurch aus, dass sie in der Regel nicht eigentlich eine Beratung suchen, sondern – mitunter ausgesprochen drängend – von der Umgebung eine Lösung ihres Problems fordern. Eine rein oberflächliche Betrachtung dieses Verhaltens, verbunden mit der Feststellung, die Klienten seien, wie Herr E., »unverschämt« und »unersättlich«, würde ihnen indes nicht gerecht. Der psychodynamische Zugang hingegen lässt erkennen, dass diesem Verhalten zum einen eine mangelhafte Angst- und Spannungstoleranz (Kernberg, 2006, 2009) und, dadurch bedingt, eine nur geringe Frustrationstoleranz, zugrunde liegt. Zum anderen hat sich bei ihnen infolge der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Udo Rauchfleisch · Beratung von dissozialen Klienten

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vielfältigen Traumatisierungen und Verlusterfahrungen in der Kindheit eine ­ausgeprägte Bedürftigkeit entwickelt, aufgrund derer sie permanent das Gefühl haben, zu kurz zu kommen und Anspruch auf Unterstützung jedweder Art zu haben (»oral-aggressiver Kernkonflikt«, Rauchfleisch, 1999). Im Sinne der Bindungs­ theorie (Fonagy, 2006, Strauss et al., 2002) und des Mentalisierungskonzepts ­(Fonagy et al., 2004) haben wir es bei diesen Klientinnen und Klienten mit Bindungstraumata und ihren Auswirkungen auf die Fähigkeit der Affektregulierung und der Einfühlung in andere Menschen zu tun. Der Einbezug der psychodynamischen Konzepte der freischwebenden Aufmerksamkeit und der »technischen« Neutralität sowie die Beachtung von Übertragung und Gegenübertragung ermöglichen es den Beratenden, diese hintergründige, den Klienten selbst unbewusste Dynamik zu berücksichtigen. Dies führt beispielsweise im Umgang mit den Klienten zu einer Haltung größerer Gelassenheit und ermöglicht es, einerseits diese Dynamik zu deuten und andererseits dort Grenzen zu setzen, wo dies sinnvoll und notwendig ist. Spezifische Beziehungsmuster

In den Beratungen von Menschen mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen entwickelt sich oft eine spezifische Interaktionsdynamik, die ohne die Zuhilfenahme psychodynamischer Konzepte kaum verständlich ist resp. von den Professionellen falsch gedeutet wird, zum Beispiel als Hilflosigkeit und Ansprüchlichkeit oder Provokation. Als Reaktion auf ihre desolaten frühkindlichen und späteren Entwicklungsbedingungen haben diese Menschen, wie das Beispiel von Herrn E. zeigt, eine Reihe von Verhaltensweisen ausgebildet, die im sozialen Kontakt ausgesprochen störend sein können. Dazu gehören vor allem drei spezifische Beziehungsmuster: anklammerndes Verhalten, Entwertung der Professionellen und funktionalisierte Beziehungen. Es ist bereits auf die Neigung Dissozialer hingewiesen worden, in einer geradezu unersättlichen Weise von den Professionellen Zuwendung und Hilfe zu fordern (Ausdruck des »oral-aggressiven Kernkonflikts«). Dies geschieht oft in einer sehr manipulativen Art, die etwa bei Beraterinnen und Beratern in der Gegenübertragung leicht Gefühle des Sich-überfordert-Fühlens oder der Ablehnung hervorruft (Rauchfleisch, 2008). So störend und provokativ dieses anklammernde, fordernde Verhalten auch sein mag, wird man ihm nicht gerecht und kann nicht in einer konstruktiven Art darauf reagieren, wenn es oberflächlich als Unverschämtheit und Maßlosigkeit verstanden wird. Es stellt vielmehr einen Erhaltungsmechanismus im Sinne Mahlers (1972) dar, mit dessen Hilfe diese Menschen sich das zu sichern versuchen (insbesondere über materielle Güter Zuwendung und Bestätigung), von dem sie aufgrund ihrer bisherigen Lebenserfahrung fürchten, dass es ihnen niemand freiwillig geben wird. Die Tatsache, dass sie ihre Forderungen im Verlauf der professionellen Kontakte oft immer höher schrauben, bewirkt allerdings im Allgemeinen genau das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Gegenteil: Die Professionellen fühlen sich überfordert und empfinden die Ansprüche der Klientinnen und Klienten als unmäßig und völlig realitätsfern. Die Reaktion darauf kann eine strikte Zurückweisung dieser Forderungen oder sogar der Abbruch der professionellen Beziehung sein. Der Einbezug psychodynamischer Konzepte ermöglicht es, die hinter diesem Verhalten stehende Dynamik zu verstehen und einerseits klare Grenzen zu setzen, was die Erfüllung der unrealistischen Wünsche angeht, und andererseits die unbewusste Dynamik zu deuten. Nicht selten finden wir bei dissozialen Persönlichkeiten aber auch, zum Teil alternierend mit dem anklammernden, fordernden Verhalten, ausgeprägte Entwertungen der professionellen Angebote. Die diesem Verhalten zugrunde liegende Dynamik resultiert aus den Selbstwertproblemen, unter denen viele Dissoziale leiden. Die Entwertung anderer Menschen, so auch der Professionellen, erfolgt, um auf diese Weise ihren narzisstischen Status zu erhöhen. Häufig sind wir in der Arbeit mit Dissozialen noch mit einer weiteren Inter­ aktionsform konfrontiert, die zu erheblichen Problemen führen kann. Es ist das Phänomen der funktionalisierten Beziehungen. Diese Interaktion resultiert aus der Selbstwertstörung der Klienten und ihrer Unfähigkeit, andere Menschen als Individuen mit eigenen Gefühlen und Verhaltensweisen wahrzunehmen. Typischerweise sind für diese Klientinnen und Klienten andere Menschen »Mittel zum Zweck«, d. h., sie bedienen sich ihrer zur Erreichung eigener Ziele und nehmen andere auch nur unter diesem Aspekt wahr. In der Beziehung zu Professionellen zeigt sich dies darin, dass die Klienten ­ihnen freundlich und zugewandt begegnen und den Eindruck erwecken, als nähmen sie ihr Gegenüber ganzheitlich und realitätsgerecht wahr. Tatsächlich sind die Beraterinnen und Berater für sie aber nur so lange von Bedeutung, als sie die Erwartungen der Dissozialen erfüllen und ihnen in irgendeiner Weise (vor allem zur Stärkung ihres schwachen Selbstwertgefühls) nützlich sind. Sobald sie die ihnen zugeschriebene Funktion nicht mehr erfüllen, brechen die Klienten die Beziehung jedoch unter Umständen abrupt ab. Die Gefahr solcher funktionalisierter Beziehungen liegt darin, dass bei den Professionellen leicht der Eindruck entsteht, die Klientinnen und Klienten hätten eine »vertrauensvolle«, »tragfähige« Beziehung zu ihnen aufgebaut, und dann zutiefst gekränkt sind, wenn sie plötzlich feststellen müssen, dass sie »fallengelassen« werden, sobald sie die ihnen zugeschriebene Funktion nicht mehr erfüllen. Die unreflektierte Gegenübertragung kann dann zu aggressiven Reaktionen der Professionellen und unter Umständen sogar zu einem von ihnen ausgehenden Abbruch der Beratung und Betreuung führen. Bei den geschilderten drei für Menschen mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen typischen Interaktionsmustern erweist sich die psychodynamische Betrachtungsweise als außerordentlich hilfreich. Sie ermöglicht es den Professionellen, die zum Verständnis der hintergründigen Dynamik nötige Distanz zu gewinnen und die Ursachen dieser – z. T. ausgesprochen störenden und provokativen – Beziehungsmuster zu erkennen. Erst dann ist es möglich, darauf in einer therapeutisch konstruktiven Weise zu reagieren. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Udo Rauchfleisch · Beratung von dissozialen Klienten

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Beratungen zur Abklärung von Therapieindikationen

Die eingangs beschriebene Persönlichkeitsstörung und die oben diskutierten Problembereiche der dissozialen Menschen erfordern eine intensive Psychotherapie. In Anbetracht ihrer geringen Eigenmotivation kommen solche Behandlungen aber oft nicht zustande. Wichtig ist es in dieser Situation, die Klientinnen und Klienten in den Beratungsgesprächen über die Therapiemöglichkeiten zu informieren und Motivation zu entwickeln. Eigenmotivation ist bei ihnen nicht Voraussetzung für eine Therapieindikation, sondern ein erstes Ziel, zu dessen Erreichung sich gerade Beratungen besonders eignen. Dabei ist vor allem der genannten engen Verquickung von psychischen und sozialen Problemen Rechnung zu tragen. Im Allgemeinen ist es sinnvoll – und löst bei den Klienten weniger Angst aus –, bei den konkreten Alltagsproblemen zu beginnen und sich erst dann vorsichtig den psychischen Schwierigkeiten zuzuwenden. Spezifische Übertragungs-Gegenübertragungs-Probleme

Im Umgang mit Dissozialen entwickeln sich fast regelhaft bestimmte Interaktionsmuster, denen spezifische Übertragungsdispositionen zugrunde liegen und auf welche die Professionellen oft mit spezifischen Gegenübertragungsgefühlen ­rea­gieren. Es sind bereits drei solche Interaktionsmuster diskutiert worden: das anklammernde, fordernde und das entwertende Verhalten sowie die funktionalisierten Beziehungen. Ein weiteres im Umgang mit diesen Klientinnen und Klienten immer wieder auftretendes Übertragungs-Gegenübertragungs-Muster ist das einer Macht-­OhnmachtSpirale mit wechselnden Rollen. Diese Dynamik entsteht aufgrund des großen Aggressionspotentials und der ausgeprägten Selbstwertstörung dieser ­Klientinnen und Klienten, die in jede Beziehung über kurz oder lang massive ­Aggressionen hineintragen und sich und ihrer Umwelt immer wieder meinen beweisen zu müssen, dass sie die Stärkeren sind. In der einen Phase der Beziehung fühlen sie sich – und sind mitunter tatsächlich – in der Machtposition, während die Professionellen sich ohnmächtig fühlen. Die Situation kann sich aber sehr schnell ändern, indem die Professionellen versuchen, wieder »den Kopf über Wasser« zu bekommen und, aus einer aggressiven Gegenübertragung heraus, den Dissozialen unter Druck setzen, was bei ihm das Gefühl quälender Ohnmacht auslöst. Unversehens kehrt sich die Situation dann aber wieder um, wobei in dieser Beziehungskonstellation von den beiden am Interaktionsprozess Beteiligten Macht und Ohnmacht mit wechselnden Rollen agiert werden. Ein Ausstieg aus diesem sadomasochistischen Clinch gelingt am ehesten durch eine konsequente Reflexion der Gegenübertragung. Die oft schwierigen Beziehungsmuster, die sich zwischen den dissozialen ­Klientinnen und Klienten und den Professionellen entwickeln, üben auch einen Einfluss auf die Motivation der Ratsuchenden aus. Häufig wird das Phänomen »Motivation« als eine Patientenvariable, d. h. als ein Persönlichkeitsmerkmal der Patienten betrachtet. Tatsächlich aber zeigt eine psychodynamische Untersuchung der zwischen Dissozialen und Professionellen ablaufenden Interaktion, dass die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Motivation das Resultat eines interaktiven Prozesses ist, an dem beide, Professionelle wie Klienten, beteiligt sind.

Schlussfolgerungen Gerade in der Beratung von Menschen mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen erweist sich der Einbezug psychodynamischer Konzepte als sehr hilfreich. Viele ihrer provokativen und ihre Umgebung irritierenden Verhaltensweisen blieben unverständlich und würden zu Gegenaggressionen führen, wenn nicht der psychodynamische Hintergrund beachtet und die zwischen Klienten und Professionellen sich entwickelnde Interaktionsdynamik als Ausdruck von Übertragung und Gegenübertragung verstanden würde. Der Einbezug der psychodynamischen Konzepte ermöglicht einen differenzierten Zugang zu diesen sonst schwer erreichbaren Klientinnen und Klienten und liefert Strategien für einen konstruktiven professionellen Umgang mit ihnen. Besonders wichtig ist die Berücksichtigung der psychodynamischen Dimension bei der manifesten Hilfe, derer diese Klientinnen und Klienten dringend ­bedürfen, die sie oft aber nicht oder nur in verzerrter Weise und deshalb mit in­ adäquaten Reaktionen anzunehmen vermögen. Hier gilt es für die Professionellen in besonderer Weise, den psychodynamischen Hintergrund solcher inadäquater Verhaltensweisen zu reflektieren und bei ihrem Handeln im sozialen Feld zu berücksichtigen. Dadurch schützen sie sich auch vor aggressiven und resignativen Gegenübertragungsreaktionen, welche die Beziehung zwischen Professionellen und Klienten belasten würden und unter Umständen sogar von Seiten der Professionellen zu einem Abbruch der Betreuung führen könnten. Was das konkrete beraterische und therapeutische Vorgehen angeht, bestehen bei diesen Klientinnen und Klienten keine grundsätzlichen Unterschiede etwa zu den kognitiv-behavioralen Behandlungskonzepten. Der wesentliche Unterschied liegt indes darin, dass wir mit dem psychodynamischen Zugang nach der dem manifesten Verhalten zugrunde liegenden Dynamik fragen und in Beratung und Therapie die Wirksamkeit dieser Kräfte in unsere Überlegungen einbeziehen. Dadurch kann es gelingen, besseren Zugang zu den Menschen mit dissozialen Persönlichkeitsstörungen zu finden und in einen konstruktiven Rapport mit ihnen zu treten.

Literatur Balint, M. (1970). Therapeutische Aspekte der Regression. Stuttgart: Klett. Erikson, E. H. (1966). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Fonagy, P. (2006). Bindungstheorie und Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta. Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E., Target, M. (2004). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Kernberg, O. F. (2009). Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus. Frankfurt a. M: Suhrkamp. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Udo Rauchfleisch · Beratung von dissozialen Klienten

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Kernberg, O. F. (2006). Schwere Persönlichkeitsstörungen. Stuttgart: Klett-Cotta. Mahler, M. S. (1972). Symbiose und Individuation. Bd. 1. Psychosen im frühen Kindesalter. Stuttgart: Klett-Cotta. Rauchfleisch, U. (1999). Außenseiter der Gesellschaft. Psychodynamik und Möglichkeiten zur Psychotherapie Straffälliger. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Rauchfleisch, U. (2001). Arbeit im psychosozialen Feld. Beratung, Begleitung, Psychotherapie, Seelsorge. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Rauchfleisch, U. (2008). Begleitung und Therapie straffälliger Menschen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Strauss, B., Buchheim, A., Kächele, H. (2002). Klinische Bindungsforschung. Stuttgart: Schattauer.

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Marc Willmann

»Helping the helpers not to harm« Mental Health Consultation als Beitrag zu einer Theorie der psychodynamischen Praxisberatung und Prävention

Vorbemerkung Konsultation in der hier diskutierten Form von Mental Health Consultation (MHC) ist ein Ende der 1950er Jahre entwickeltes Verfahren zur psychodynamischen Fallberatung professioneller Helfer im psychosozialen Versorgungssystem.

Zum Konsultationsbegriff Der Konsultationsbegriff geht auf die medizinische Profession zurück. Schon früh entwickelte sich in den ärztlichen Berufen eine Praxis klinischer Konsultation: »Die klinische Konsultation begann im Bereich der Medizin bereits im 13. Jahrhundert [...] und hatte in der Mitte des 19. Jahrhunderts weite Verbreitung gefunden. Mit der zunehmenden Spezialisierung in der Medizin wurde es für Ärzte zu einer geläufigen Praxis, Unterstützung bei der Diagnose medizinischer Probleme nachzufragen. In der klinischen Konsultation untersucht der Spezialist den Patienten, verschreibt eine Behandlung und zieht sich dann zurück und lässt den beteiligten Arzt die Behandlung durchführen« (Brown, Pryzwansky u. Schulte, 2001, S. 2; Übersetzung des Autors1). Dabei betont das medizinische Konsultationsmodell die Funktion des Beraters als »Heiler« (healer; vgl. Gallessich, 1982, S. 28). In der klassischen Form der ärztlichen Konsultation untersucht der Konsultant den Klienten des Konsultierenden, um eine Diagnose zu erstellen und eine Behandlung zu empfehlen. Nach Stein (1999) lassen sich mit dem Konsiliar- und dem Liaisonmodell zwei Kooperationsformen unterscheiden: Im Konsiliarmodell zieht der (primär) behandelnde Arzt aus dem Bedarf des Einzelfalls heraus einen Konsiliararzt zur diagnostischen Abklärung und/oder Mitbehandlung hinzu. Im Liaisonmodell erfolgt die Kooperation des Konsiliars als Liaisonpraktiker nicht einzelfallbezogen, sondern regelmäßig und überweisungsunabhängig (Stein, 1999, S. xii).

1 Die Übersetzungen der aus englischsprachigen Originalquellen zitierten Textstellen wurden durch den Autor des vorliegenden Beitrags erbracht. In den folgenden Stellen wird hierauf nicht mehr explizit verwiesen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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In dem Bestreben, sich als medizinische Disziplin zu etablieren, orientierte sich die Psychiatrie in ihren Anfängen stark an der Organmedizin. Entsprechend folgte auch die Praxis der psychiatrischen Konsultation zunächst dem Vorbild des klinischen Ansatzes, wie er sich im Modell des Konsiliararztes etabliert hatte. »Die psychiatrischen Konsultanten, die sich mit den Allgemeinmedizinern in Krankenhäusern und Kliniken sowie den neueren psychosozialen Berufsgruppen – Sozialarbeiter und klinische Psychologen – berieten, waren stark von der dominierenden Profession der Mediziner beeinflusst und konsultierten daher nach dem klinischen Modell. Diese Praktiker mussten aber feststellen, dass der traditionelle Ansatz nur einen Bruchteil der psychosozialen Probleme berührte, die sie in der Praxis entdeckten. Vielleicht war es die Sorge um die Verschiedenheit zwischen den Bedürfnissen und den Angeboten, die sie dazu brachten, das Modell von Mental Health Consultation zu entwickeln« (Gallessich, 1982, S. 30). Eine Loslösung von dieser klinischen Orientierung fand ganz allmählich statt: »In den 1940er und 1950er Jahren fingen traditionell ausgebildete Professionelle damit an, die Kliniken zu verlassen und sich in anderen Einrichtungen wie Schulen und Pflegeheimen anzusiedeln, um dort die Klienten zu diagnostizieren und zu überweisen. Diese Kliniker bemerkten emotionale Probleme in einem solchen Ausmaß, dass eine professionelle Behandlung der Individuen nicht zur Diskussion stand« (Gallessich, 1982, S. 150). Zeitgenössischer Kontext: Psychiatrische Unterversorgung in der Nachkriegszeit

In der Nachkriegszeit leitete der US-amerikanische Psychiater Gerald Caplan ein kleines Team von Sozialarbeitern und Psychologen, das mit Immigrantenkin­dern in Israel arbeitete, die unter den psychischen Nachwirkungen des Holocaust litten. 1949 übernahm er dann die Leitung des psychologischen Dienstes in Jeru­ salem, der für die Gesamtversorgung von 17.000 Immigrantenkindern in mehr als 100 Heim­einrichtungen zuständig war (Meyers, Brent, Faherty u. Modafferi, 1993, S. 99). Dem enormen Bedarf an therapeutischer Unterstützung (die Anzahl an Überweisungen lag bei etwa 1.000 Kindern im ersten Jahr; vgl. Caplan, Caplan u. Erchul, 1994, S. 2) stand ein eklatanter Fachkräftemangel gegenüber und es fehlte insbesondere an therapeutisch geschultem Fachpersonal. Aufgrund dieser Mangelsituation gingen Caplan und sein Team dazu über, einen Großteil der Patienten nicht mehr in der kinderpsychiatrischen Klinik zu behandeln, sondern die jeweiligen Institutionen aufzusuchen, in denen die Kinder und Jugendlichen lebten, um sich dann vor Ort mit dem Betreuungs- und Pflegepersonal zu beraten. In kollegialen Gesprächen wurden vor allem die Wahrnehmungen und Einstellungen der professionellen Helfer gegenüber ihren Klienten thematisiert. Den Helfern war es nach den Gesprächen häufig möglich, mit veränderten Einstellungen und erweiterten Perspektiven alternative Behandlungs- und Pflegemethoden zu entwickeln. Diese Erfahrungen führten Caplan schließlich zu der Überzeugung, dass über die Beratung der professionellen Helfer als Schlüssel© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Marc Willmann · »Helping the helpers not to harm«

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personen indirekt auf mehr Behandlungsverläufe eingewirkt werden kann, als es in der Einzeltherapie mit den Patienten möglich wäre (vgl. Caplan, Caplan u. Erchul, 1994, S. 2). Die Anfänge der amerikanischen Gemeindepsychiatrie

In den USA führte die zunehmende Kritik an der psychiatrischen Unterversorgung in den 1950er Jahren zu verstärkten Forschungsaktivitäten. Lambert (2004) schildert, wie der im Anschluss an die Nachkriegszeit einsetzende Aus- und Umbau des psychiatrischen Versorgungssystems auf eine gemeindenahe psychia­ trische Versorgung in Kalifornien durch die Einrichtung eines aufwendigen Forschungsprogramms zur Identifikation und schulischen Förderung von Schülern mit einer »emotional disturbance« begann. Im Rahmen der Forschungsarbeiten wurde auch eine Reihe von Modellprojekten initialisiert, in denen verschiedene Konzepte der »psychohygienischen« Unterstützung von Lehrern bei schulischen Verhaltensproblemen erprobt wurden. Als besonders vielversprechend wurde in diesem Zusammenhang das von Caplan (1956) entwickelte Konsultationskonzept eingeschätzt. Unter der Kennedy-Regierung fand das Anliegen der gemeindenahen psychiatrischen Versorgung Gehör und wurde in eine konkrete Gesetzgebung überführt: Mit dem Bundesgesetz über die gemeindepsychiatrischen Zentren, dem Community Mental Health Centers and Retardation Act of 1963, P.L. 88–164, wurde der Ausbau der amerikanischen Gemeindepsychiatrie forciert. Konsultation wurde als eine der fünf Aufgaben dieser Zentren definiert. Grundlagen der präventiven Psychiatrie: Das dreistufige Präventionskonzept der Gemeindepsychiatrie nach Gerald Caplan

In einer seiner zentralen Schriften entwirft Caplan (1964) ein umfassendes Präven­ tionsmodell. Neben Fragen der Planung und organisatorischen Umsetzung psy­ chiatrischer Präventionsprogramme in der Gemeinde widmet sich das Grund­ lagenwerk ausführlich der allgemeinen Frage, welches Konzept einer präventiven Psychiatrie zugrunde liegt, und führt ein Modell ein, das drei Stufen der Prävention unterscheidet: »Präventive Psychiatrie bezeichnet das professionelle theoretische wie praktische Wissen, das herangezogen werden kann für die Planung und Umsetzung von Programmen zur (1) Reduzierung der Inzidenz psychischer ­Erkrankungen jedweder Art in der Gemeinde (»primäre Prävention«), (2) Ver­kürzung der Dauer solcher Erkrankungen in einer signifikanten Anzahl der Fälle (»sekundäre Prävention«) und zur (3) Verringerung der Beeinträchtigungen, die aus diesen Störungen resultieren können (»tertiäre Prävention«)« (Caplan, 1964, S. 16 f.). Die psychiatrische Konsultation ist zentraler Bestandteil des Caplan’schen Präventionsmodells. In der Konsultation unterstützen beratende Psychiater die in den psychosozialen Versorgungssystemen tätigen professionellen Helfer. Dem zu© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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grunde liegenden Beratungsmodell, der Mental Health Consultation, kommt in diesem Präventionsansatz eine herausgehobene primär-präventive Funktion zu: Durch die Konsultation wird psychiatrisches Expertenwissen für den Einzelfall bereitgestellt, um die professionelle Dienstleistung der Helfer nachhaltig zu fördern und einer iatrogenen psychischen Schädigung der Klientinnen und Klienten vorzubeugen.

Das Konzept der Mental Health Consultation (MHC) Von der Beratungsdyade zur Konsultationstriade

Konsultation kann ganz grundlegend definiert werden als ein (1) helfender, problemlösender Prozess zwischen einem (2) professionellen Helfer (dem Berater) und einem Hilfe suchenden Professionellen, der die Verantwortung für das Wohlergehen einer anderen Person trägt, wobei die Beratung als (3) freiwillige Arbeitsbeziehung (4) der gemeinsamen Erarbeitung von Problemlösungen dient, mit dem (5) Ziel, ein bestehendes arbeitstechnisches Problem des ratsuchenden Professionellen in Hinblick auf dessen Klienten zu lösen, wodurch (6) der ratsuchende Kollege von der Beratung auch derartig profitiert, dass er zukünftig ähnliche Problemkonstellationen besser bewältigen kann (Meyers, Parsons u. Martin, 1979, S. 4). Während das traditionelle Verständnis von (psychosozialer) Beratung von ­einer dyadischen Beziehungsstruktur zwischen dem Berater und seinem Klient ausgeht, verschiebt sich in der Konsultationstriade der Klientenbegriff: Der Konsultant berät den Konsultierenden mit Blick auf einen Klienten bzw. einen Fall, für den der konsultierende Helfer eine eigene professionelle Verantwortung trägt. Gegenstand der Konsultation sind in der Arbeitsbeziehung des Konsultierenden zu seinem Klienten auftretende Schwierigkeiten, die die Fallarbeit beeinträchtigen (vgl. Caplan, 1970, S. 19). Konsultation als indirektes Unterstützungsformat

Konsultation unterscheidet sich von Formen der direkten Unterstützung, wie etwa Beratung oder Psychotherapie (Gutkin u. Curtis, 1999, S. 601), durch die Indirektheit der Bezugnahme auf den Klienten, der als mittelbarer Adressat von der Beratung profitiert, aber nicht direkt in die Beratung einbezogen wird. Allerdings ist ein Kontakt zwischen dem Konsultanten und dem Klienten des Konsultierenden nicht zwingend ausgeschlossen, sondern es stellt sich eher die Frage, welcher Art ein solcher Kontakt sein kann: »Der entscheidende Punkt ist nicht, ob Konsul­ tanten einen direkten Kontakt zu den Klienten haben, sondern vielmehr, dass die Behandlungsmaßnahmen, die als Ergebnis einer Konsultation mit den Klienten schließlich durchgeführt werden, von einem oder mehreren Konsultierenden umgesetzt werden und nicht vom Konsultanten« (Gutkin u. Curtis, 1999, S. 602). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Theoretische Grundlagen

Caplan selbst hat immer wieder den pragmatischen Charakter seines Modells betont, das direkt aus den Erfordernissen der Praxis abgeleitet ist (vgl. Caplan, Caplan u. Erchul, 1995, S. 29 f.), womit es sich von genuin aus der Theorie heraus entwickelten Konzepten wie etwa Behavioral Consultation unterscheidet. Dennoch zeigt die Mental Health Consultation in ihrer Bezugnahme auf den psychoanaly­tischen Ansatz eine klare theoretische Ausrichtung (West u. Idol, 1987, S. 391). Einen großen Einfluss auf die theoretische Grundlegung der Mental Health Consultation hatten zudem der klientenzentrierte Ansatz von Carl Rogers und die Adler’sche Individualpsychologie (vgl. Meyers, Parsons u. Martin, 1979, S. 27). Vier Typen von Mental Health Consultation

Rolle und Funktion des Konsultanten und des Konsultierenden sind davon abhängig, wie das Problem definiert wird und welche Aufgabe sich damit für die Beratung stellt. Caplan (1970, S. 32 ff.) beschreibt vier Konsultationstypen, die sich darin unterscheiden, welche Person und welche Inhalte im Mittelpunkt des Konsultationsprozesses stehen. Client-centered case consultation: In der klientenzentrierten Konsultation liegt der Schwerpunkt auf dem Klienten des Konsultierenden. Die Beratung folgt hier nach dem klassischen Modell der klinischen Konsultation: Der Konsultant diagnostiziert den Klienten und verschreibt eine angemessene Behandlungsmethode, die der Konsultierende dann selbst umzusetzen hat (Erchul u. Martens, 2002, S. 79). Consultee-centered case consultation: Dieser Konsultationstyp fokussiert auf die Schwierigkeiten des Konsultierenden in der Fallarbeit mit einem Klienten: Der Konsultierende ist die primäre Zielperson angestrebter Veränderungen und erst sekundär auch dessen Klient (Brown, Pryzwansky u. Schulte, 2001, S. 21). Kennzeichnend ist ein prozessorientiertes Beratungsverständnis, bei dem die Beratungsbeziehung im Vordergrund steht. Damit unterscheidet sich dieser Ansatz von der auf den Klienten zielenden Expertenberatung. An die Stelle der hierarchischen Rollenverteilung, in der nach dem medizinischen Vorbild ein Experte einen diagnosegestützten Behandlungsplan verordnet, tritt die Vorstellung einer nicht­ hierarchischen Beratungsbeziehung, in der dem Konsultanten keine verordnende Funktion zukommt, sondern eine unterstützende (Lambert, 2004, S. 12 f.). Das vorrangige Ziel ist es, die Problemwahrnehmungen des Konsultierenden zu hinterfragen und über einen Perspektivenwechsel zu verändern. Program-centered administrative consultation: Dieser Typ der »programmbezogenen Institutionsberatung« (Bittner, Ertle u. Schmid, 1974, S. 81) richtet sich an Führungskräfte und stellt die Probleme bei der Durchführung bestimmter Arbeitsprogramme in einer Einrichtung in den Mittelpunkt (Brown, Pryzwansky u. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Schulte, 2001, S. 21). In gewissem Sinne handelt es sich hierbei um einen Konsultationstypus, der die Idee der Organisationsberatung vorwegnimmt, denn hier »geht es um die Lösung von Fragen, die bei der Planung, Veränderung und Durchführung eines mental-health Programms auftreten, wozu auch die Gewinnung und Schulung von Mitarbeitern und deren adäquater Einsatz zu zählen sind« (Bittner, Ertle u. Schmid, 1974, S. 82). Consultee-centered administrative consultation: Auch dieser Typ dient der Be­ratung von Führungskräften, wobei hier aber der Konsultierende und zum Bei­spiel dessen Kompetenzen in der Mitarbeiterführung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen (Parallelen zu modernen Formen des Coaching sind unverkennbar). Jeder dieser Konsultationstypen legt einen anderen Fokus auf die Schwierigkeiten in der Fallarbeit und formuliert daher spezifische Zielsetzungen (vgl. Conoley u. Conoley, 1982, S. 5). Entsprechend unterscheidet sich das jeweilige Vorgehen in der Beratung (vgl. Tab. 1). Psychodynamische Beratung als consultee-cenetered case consultation

Aus psychodynamischer Sicht ist der auf den Konsultierenden zentrierten Fallberatung (consultee-centered case consultation) besondere Beachtung zu schenken. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes stehen Störungen in der helfenden Beziehung zwischen dem professionellen Helfer und seinem Klienten, die auf die unbewussten Dynamiken der Fallarbeit, vor allem auf die innerpsychischen Reaktionen des professionellen Helfers zurückzuführen sind. Dieser Ansatz beschreibt den Prozess, »bei dem der Konsultant auf sein Expertenwissen über psychologische Zusammenhänge und über persönliche Beziehungen zurückgreift, um dem Konsultierenden dabei zu helfen, die psychologischen Aspekte in seiner Fallarbeit besser zu verstehen. Hierzu wird eine kurze Folge von Falldiskussionen – meistens zwei oder drei Gesprächstermine – angeboten, in denen der Konsultierende den Fall beschreibt; der Konsultant hilft dabei, die Aspekte aufzuklären, die in den Fall hineinspielen, in dem er Möglichkeiten aufzeigt, wie das Fallmaterial anders interpretiert werden kann. In der Regel wird der Konsultant den Klienten selbst nicht in Augenschein nehmen, sondern sich darauf verlassen, wie der Konsultierende den Fall wahrnimmt. Der Konsultierende muss keine besonderen Untersuchungen durchführen und auch keinen systematischen Bericht als Vorbereitung auf die Konsultation erstellen. Ihm ist am besten geholfen, wenn er frei darüber sprechen kann, wie er den Fall interpretiert. Das ermöglicht es dem Konsultanten, die Bereiche zu identifizieren, in denen die Schwierigkeiten liegen [...] Da die Anwesenheit einer dritten Person die Diskussion verkomplizieren würde, sollte das Gespräch sich auf den Konsultanten und den Konsultierenden beschränken. Damit der Konsultierende seine Wahrnehmungen und Meinungen frei ausdrücken kann, sollte ihm verdeutlicht werden, dass der Konsultant das Gespräch vertraulich behandelt« (Caplan, 1964, S. 237). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Tabelle 1: Vergleich der vier Typen von Mental Health Consutation Client-centered case consultation

Consultee-centered case consultation

Fokus

Entwicklung eines Interventionsplanes, der einem bestimmten Klienten helfen soll

Verbesserung der Verbesserung von professionellen Dienst- Programmen und leistung des Professio- Strategien nellen mit Blick auf bestimmte Fälle

Verbesserung der Kompetenzen eines Professionellen mit Blick auf Programme und Strategien

Ziel

Beratung des Konsultierenden mit Blick auf die Behandlung des Klienten

(Fort-)Bildung des Konsultierenden, bei der die Probleme mit dem Klienten als Hebel genutzt werden

Unterstützung von neuen oder Verbesserung existierender Programme und Strategien

Unterstützung des Konsultierenden bei der Entwicklung von Problemlösestrategien mit Blick auf organisatorische Probleme

Beispiel

Schulpsychologe, der angefordert wird, um die Leseschwierigkeiten eines Schülers zu diagnostizieren

Anfrage eines Schulberaters nach Unterstützung für den Umgang mit den Drogenproblemen eines Schülers

Leiter eines Pflegedienstes bittet um Unterstützung bei der Entwicklung eines Mitarbeiter-bezogenen Arbeitskonzepts

Polizeichef bittet um Hilfe bei der Entwicklung eines Programms, das sich mit den zwischenmenschlichen Problemen beschäftigt, die sich zwischen altgedienten und neuen Polizeibeamten ergeben

Rolle und Verantwortlichkeiten des Konsultanten

Trifft in der Regel den Klienten, um die Problemdiagnose zu unterstützen

Trifft den Klienten niemals oder höchst selten

Zusammenkünfte mit Gruppen und Einzelpersonen, um die Probleme akkurat zu erfassen

Zusammenkünfte mit Gruppen und Einzelpersonen, um eine Verbesserung vorhandener Problemlösungskompetenzen zu unterstützen

Verantwortung für die Beurteilung des Problems und die Verschreibung einer Vorgehensweise

Muss in der Lage sein, die Quelle der Schwierigkeiten des Konsultierenden zu erkennen und indirekt mit diesen umgehen können

Program-centered administrative case consultation

Verantwortung für eine korrekte Beurteilung des Problems und für die Entwicklung eines Konzepts für das administrative Vorgehen

Consultee-centered administrative case consultation

Muss in der Lage sein, die Quelle der organisationsstrukturellen Schwierigkeiten zu erkennen, und fungiert als Katalysator für das Handeln der Einrichtungsleitung

In Anlehnung an Brown, Pryzwansky und Schulte (2001, S. 26); Übersetzung des Autors

Die vier Problemkategorien des Konsultierenden

Nach Caplan lassen sich die Schwierigkeiten, die sich dem professionellen Helfer bei der Fallarbeit in den Weg stellen können, in vier Kategorien unterteilen: Sie können auf ein mangelndes Verständnis über die psychologischen Faktoren eines Falls zurückzuführen sein. Der Konsultierende weist ein fachliches Wissensdefizit auf oder ist nicht in der Lage, das gelernte Fachwissen auf den konkreten Fall anzuwenden (lack of knowledge, vgl. Caplan, 1964, S. 124). Ganz ähnlich können sich Schwierigkeiten auch auf Defizite in den professionellen Kompetenzen zurückfüh© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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ren lassen (lack of skill). Hierzu zählt Caplan (1964, S. 221 f.) unter anderem, Schwierigkeiten zu erkennen, wie der professionelle Helfer mit den psycholo­ gischen Komplikationen eines Falls umgehen soll, welche zusätzlichen Ressourcen durch weiterführende Hilfsangebote zur Verfügung stehen, welche Institu­tionen und Spezialisten hinzugezogen werden oder wie diese Dienste zum Wohle des Klienten in die Fallarbeit eingebunden werden können. Die Konsultation zu Kompetenzdefiziten ähnelt dabei einer technischen Supervision (Caplan, 1964, S. 221). Während mit diesen ersten beiden Kategorien eher kognitive Aspekte, also Wissens- und Kompetenzdefizite des professionellen Helfers angesprochen werden, beschreiben die beiden weiteren Problemkategorien diffizilere Phänomene, bei denen es um Schwierigkeiten geht, die sich eher psychologisch erschließen ­lassen. Probleme des mangelnden Selbstvertrauens (lack of confidence and self-­ esteem) sind dabei nach Caplan (1964, S. 226) eher noch einfach zu diagnostizieren: »Diese Art Schwierigkeiten sind in der Regel einfach zu identifizieren. Die Fallarbeit wird behindert durch nichtspezifische Faktoren wie Krankheit, Ermüdung, Schwäche oder einen Mangel an Zutrauen in Folge der eigenen Unerfahrenheit oder Jugend. Für den Konsultanten stellt sich die Aufgabe einer unspezifischen Ich-Unterstützung. Die einzige technische Schwierigkeit hierbei liegt darin, taktvoll vorzugehen« (Caplan, 1964, S. 226). Von besonderer Komplexität ist hingegen die unbewusste emotionale Verstrickung des Konsultierenden in die Fallarbeit, die »Störung der professionellen Objektivität durch Einwirkung subjektiver Faktoren. Die professionelle Empathie gegenüber dem Klienten oder anderen Personen in dessen Lebenswelt kann durch eine Identifizierung und persönliche Verwicklung ersetzt werden und zu einer Vetternwirtschaft führen oder aber dazu, sich von der Situation des Klienten abzuwenden, weil persönliche Empfindungen hervorgerufen werden« (Caplan, 1964, S. 223). Der Verlust der professionellen Objektivität in der Fallarbeit

Der Schwerpunkt der Mental Health Consultation liegt auf der Bearbeitung von Störungen, die zu einem Mangel an professioneller Objektivität (lack of objectivity) infolge fehlender oder zu großer Distanz in der Beziehung des Konsultierendem zu seinem Klienten führen. Zu den psychischen Mechanismen, die die Objektivität des professionellen Helfers bedrohen, zählen: (a) direkte persönliche Verstrickung, (b) einfache Identifizierung, (c) Übertragung, (d) charakterologische Verzerrungen und (e) thematische Überlagerungen, wobei sich diese Kategorien gegenseitig überlappen können (ausführlich: Caplan, 1970, S. 132–150). Bei der direkten persönlichen Verstrickung verlässt der Konsultierende die professionelle Arbeitsbeziehung und geht eine persönliche Beziehung zu seinem Klienten ein. Im Fall der einfachen Identifizierung ist der Konsultierende nicht mehr nur noch empathisch auf seinen Klienten eingestellt, sondern identifiziert sich mit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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diesem. In der Übertragungssituation vermischen sich eigene Erfahrungsmuster des Konsultierenden mit der aktuellen Fallarbeit. Eine charakterologische Verzerrung resultiert aus einer psychischen Störung des Konsultierenden selbst und die thematische Überlagerung wird als eine spezifische Form von Übertragungsreaktion des Konsultierenden verstanden (Webster, 2002, S. 16). Unbewusste Verstrickungen in der Fallarbeit: Das Konzept der thematischen Überlagerung

Das Konzept der thematischen Überlagerung (theme interference) wurde von ­Caplan und Mitarbeitern an der Harvard School of Public Health erforscht und beschreibt die Übertragungsbereitschaft des professionellen Helfers. Mit Themes wird dabei ein bestimmter ungelöster innerer Konflikt beschrieben, »der sich im Vorbewussten oder Unbewussten als eine emotional eingefärbte kognitive Konstellation festsetzt« (Caplan u. Caplan, 1993, S. 122). »Eine thematische Überlagerung ist ein unbewusstes Manöver, das ein professioneller Helfer unternimmt, um ein ungelöstes Problem seines eigenen Lebens zu bearbeiten. Bestimmte Eigenschaften des Klienten oder spezifische Aspekte des Falls werden zu einem evokativen Auslösereiz, der den professionellen Helfer dazu verleitet, eigene unbewusste oder vorbewusste Anteile auf eine aktuelle Arbeitssituation zu projizieren. Die thematische Überlagerung ist Teil der psychischen Abwehr, die – in der psychoanalytischen Terminologie ausgedrückt – der Verschiebung dient, so dass der professionelle Helfer sich mit seinen eigenen Problemen draußen konfrontieren und abmühen kann, dort, wo es weniger bedrohlich wirkt, weil es in sicherer Entfernung, im Leben eines anderen stattzufinden scheint und offensichtlich nichts mit dem Leben des Helfers selbst zu tun hat. Wir können erkennen, dass eine thematische Überlagerung auf eine iatrogene Beschädigung hinweisen kann« (Caplan-Moskovich u. Caplan, 2004, S. 192). Die thematische Überlagerung erscheint als »eine symbolische Hemmung der freien Wahrnehmung und Kommunikation zwischen dem Konsultierenden und dem Klienten und der gleichzeitigen Störung der Objektivität. Dies geht meist einher mit einem gewissen Maß an emotionalem Aufruhr des Konsultierenden, der von einer relativ leichten Spannung reichen kann, die der Konsultierende verspürt, wenn er an bestimmte Aspekte des Falls denkt (wir nennen diese segmentierte Spannung), bis hin zu einer ausgeprägten Krisenreaktion, bei der die allgemeine Arbeitsleistung wie auch das emotionale Gleichgewicht des Konsultierenden zeitweise verstört werden. Das eigene Unbehagen wird den Schwierigkeiten mit dem Klienten zugeschrieben, auf den die eigenen Ängste, Gefühle der Feindseligkeit, Scham und depressive Empfindungen verschoben werden« (Caplan, 1964, S. 223). Thematische Überlagerungen drücken sich vor allem in überzogenen oder unbegründeten Ängsten und Sorgen des Konsultierenden mit Blick auf die Probleme seines Klienten aus, die zu »vorbewussten Schlussfolgerungen« führen und so die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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»Erwartungshaltungen formen« (Caplan, 1964, S. 224). Der professionelle Helfer nimmt seinen Klient stereotyp war; er entwickelt »ein Symbol, das eine persönliche Bedeutung für ihn selbst hat; dies führt zu der fixen Erwartung, dass der Klient unaufhaltsam einem bestimmten Schicksal entgegeneilt, was sich hemmend auf die professionellen Anstrengungen des Konsultierenden auswirkt, weil er sich hoffnungslos fühlt« (Caplan, 1964, S. 225). Die verzerrte Wahrnehmung auf den Fall bzw. auf den Klienten und deren Auswirkungen auf die Fallarbeit, nicht aber die persönlichen und biographischen Hintergründe der thematischen Überlagerung, stehen im Mittelpunkt der Konsultation. »Um mit diesen Situationen umgehen zu können, legen wir in unserem Ansatz Wert darauf, die Trennung zwischen dem Privatleben des Konsultierenden und seinen Arbeitsproblemen zu respektieren. Nicht die Hintergründe für die thematische Überlagerung werden betrachtet, sondern es geht darum, durch eine sorgfältige Betrachtung der Manifestation dieses Themas im Arbeitskontext zu ergründen, worum es hierbei thematisch geht. Der Konsultant kann dann die thematische Überlagerung verringern, indem er den Konsultierenden dabei unterstützt, dem Klienten gegenüber eine realitätsbezogene Erwartungshaltung einzunehmen« (Caplan, 1964, S. 225). Durch bestimmte Techniken wird im Konsultationsprozess daran gearbeitet, die Übertragungsbereitschaft des professionellen Helfers, die die Arbeitsbeziehung zu seinem Klienten beeinträchtigt, abzubauen, um die professionelle fachliche Urteilskraft des Konsultierenden wiederherzustellen (vgl. Meyers 1981, S. 38). Caplan (1964, S. 166–181) beschreibt vier Techniken zur Reduzierung von thematischen Überlagerungen: – sprachlicher Fokus auf den Klienten: Konsultant und Konsultierender untersuchen den Fall detailliert und denken über mögliche Fallverläufe nach. Der Konsultant demonstriert, dass sich die Befürchtungen des Konsultierenden zwar durchaus bewahrheiten könnten, der Fall aber auch eine ganz andere Entwicklung nehmen kann, die sogar wahrscheinlicher erscheint als die befürchtete Entwicklung. – die Parabel: Das Erzählen einer Parabel ermöglicht es, das Thema aus einer größeren Distanz anzusprechen. Durch Rückgriff auf Beispiele und Fälle aus der eigenen Erfahrung illustriert der Konsultant, dass die vom Konsultierenden befürchtete negative Entwicklung des Klienten nicht in jedem Fall eintreffen muss. – nichtsprachlicher Fokus auf den Fall: Der Konsultant versucht, die Ängste des Konsultierenden indirekt zu thematisieren, indem er durch seine Ausdrucksund Verhaltensweisen einen entspannteren Umgang mit dem Fall vermittelt. So kann die Dramatik, die der Konsultierende in dem Fall sieht, entschärft werden, um eine realitätsangemessene Perspektive einzunehmen. – nichtsprachlicher Fokus auf die Beratungsbeziehung in der Konsultation: Die für die thematische Überlagerung charakteristische Übertragungsbereitschaft des Konsultierenden kann sich auch durch das Ausagieren in der aktuellen Bera© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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tungsbeziehung im Konsultationsprozess zeigen. Im Gegensatz zur psychotherapeutischen Behandlung werden die Übertragungsgeschehnisse aber nicht gedeutet und verbalisiert, sondern durch nonverbale Signale indirekt adressiert. Diese Techniken zur Reduktion der thematischen Überlagerung können einzeln oder kombiniert angewandt werden. Sie zielen darauf, dem Konsultierenden zunächst zu verdeutlichen, dass seine bisherige Sichtweise auf den Fall oder den Klienten unangemessen erscheint und die Befürchtungen überzogen oder unbegründet sind, bevor über einen veränderten Umgang mit dem Klienten nachgedacht wird (Sandoval, 2004). Anwendungsfelder und Probleme der praktischen Umsetzung

Die Arbeit an der thematischen Überlagerung wird als der schwierigste Fall von consultee-centred case consultation betrachtet (Caplan, 1964); sie setzt seitens des Beraters eine hohe technische Kompetenz in psychoanalytischer Gesprächsführung voraus und zudem eine Sensibilität für die Grenze zwischen Konsultation und Psychotherapie (Henning-Stout, 1993, S. 21). Insofern scheint es wenig verwunderlich, wenn die Übertragbarkeit der Mental Health Consultation – vor allem die Bearbeitung von Übertragungsphänomenen durch Reduzierung von thematischen Überlagerungen – auf andere Handlungsfelder des psychosozialen Helfersystems eher kritisch gesehen wird (Caplan, Caplan u. Erchul, 1995, S. 29). Aber nicht nur die technischen Fähigkeiten des Konsultanten, sondern ebenso die Bereitschaft des Konsultierenden stellen eine grundlegende Bedingung für diese Form von Beratung dar. So setzt beispielsweise die lehrerzentrierte Konsultation im Bereich der sonderpädagogischen oder schulpsychologischen Beratung zum Umgang mit Verhaltensstörungen in der Schule voraus, dass die Klassenlehrer eine Bereitschaft signalisieren, die Verhaltensschwierigkeiten von Schülern nicht einseitig als eine Störung im Schüler, sondern auch als Ausdruck von Interaktionsstörungen zu betrachten. Werden Verhaltensstörungen in der pädagogischen Reflexion als Erziehungsprobleme beschreibbar (Willmann, 2009), so bleibt die Beratung nicht auf die rollenförmigen Aspekte beschränkt und die Lehrkraft gerät auch als ganze Person in den Blick (Willmann 2007; 2008a).

Der originäre Beitrag der MHC zur psychodynamischen Beratungsdiskussion Der Einfluss der Arbeiten von Gerald Caplan, der als der Vater der gemeindenahen Psychiatrie gilt (Cutler, 1993), geht weit über den Beitrag zur Entwicklung des psychiatrischen Versorgungssystems, der gut dokumentiert ist (Schulberg u. Killilea, 1982; Langley, 1996), hinaus. Das Konzept der Mental Health Consultation ist gerade © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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für die beratungstheoretische Diskussion von großer Bedeutung. Der von Caplan konzeptionalisierte Typus der auf den Konsultierenden fokussierten Beratung (consultee-centered case consultation) durchbricht das Paradigma der klinischen Konsultation, bei dem der Klient des Konsultierenden im Mittelpunkt des Konsultationsprozesses steht (client-centered case consultation). Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Grundformen der Konsultation ist gerade aus beratungstheoretischer Sicht essentiell, da jeweils verschiedenartige Problemdefinitionen und Zielsetzungen zugrunde liegen, die entsprechend durch unterschiedliche Vorgehensweisen bearbeitet werden. Konzeptionell betrachtet stehen diese beiden Ansätze einander diametral gegenüber, denn während die Konsultation mit Blick auf den Klienten auf eine »technische« Problemlösung zielt (Konsultation dient hier der Entwicklung eines Interventionsplans, den der Konsultierende in der Fallarbeit mit seinem Klienten umsetzt), geht es in der auf den Konsultierenden zentrierten Konsultation um die Hinterfragung der Problemwahrnehmung des Konsultierenden. Diese grundlegenden Differenzen zwischen diesen beiden Konsultationstypen legen es nahe, mit jeweils anderen psychologischen Paradigmen zu operieren (Willmann, 2008a): Die technische Problemlösung des erstgenannten Modells, die in erster Linie auf eine Verhaltensänderung des Klienten zielt, wird eher mit lernpsychologischen Ansätzen bedient; für die reflexiv-edukative Zielsetzung des letztgenannten Modells sind prozessorientierte Ansätze angezeigt wie klassischerweise die psychodynamischen Verfahren oder neuerdings systemische/konstruktivisische/narrative Ansätze. Das Konzept der Mental Health Consultation, insbesondere in der Form der consultee-centered case consultation, gibt darüber hinaus wichtige Impulse für die psychodynamische Beratungsdiskussion, die abschließend anhand von drei Aspek­ten beleuchtet werden sollen. Das Konzept der thematischen Überlagerungen als Beitrag zur Psychoanalytischen Pädagogik

Gerade in pädagogischen Zusammenhängen ist der Bedeutung unbewusster ­Beziehungsdynamiken große Beachtung geschenkt worden. In der Tradition der Psychoanalytischen Pädagogik werden spezifische Konzepte wie beispielsweise das Szenische Verstehen und der Fördernde Dialog diskutiert, Konzepte, die sich explizit mit den Gegenübertragungsreaktionen der Pädagogen auf bestimmte Übertragungsangebote der Kinder und Jugendlichen beschäftigen. Dabei ist bis heute aber weitestgehend ungeklärt, inwieweit diese Ansätze der spezifischen Strukturlogik des pädagogischen Handelns hinreichend gerecht werden. Pädagogisches Handeln ist geradezu darauf angelegt, dass unkontrollierte Übertragungsprozesse stattfinden, da das pädagogische Setting – im Gegensatz zum therapeutischen – weder über einen technisch-kontrollierten Rahmen verfügt noch über einen virtuellen Raum, der sich künstlich vom Alltagsgeschehen abgrenzen lässt. Die Vermischung von rollenförmigen und diffusen Anteilen in den Sozialbeziehungen sind konstitutive Strukturmerkmale von Erziehungsprozessen (Oevermann, 1996) und somit © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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scheint es geradezu unvermeidbar, dass auch der Pädagoge eigene unbewusste Anteile auf das Kind bzw. auf die Beziehung zu diesem überträgt – ganz unabhängig von den Übertragungsangeboten, die vom Kind ausgehen. Während sich in der modernen Psychoanalyse eine differenzierte Sicht auf Übertragungs-/Gegenübertragungsphänomene entwickelt hat und sich einige Beiträge explizit mit der Frage beschäftigen, wie sich das Unbewusste des Analytikers auf den Analysanden auswirkt (vgl. zum Überblick: Urban, 2009, S. 145–168), scheint die Psychoanalytische Pädagogik eher einem traditionellen Verständnis verhaftet, das die Gegenübertragung des Pädagogen einseitig als unbewusste Antwort auf das Übertragungsangebot des Kindes bzw. Jugendlichen beschreibt, ohne die eigene Übertragungsbereitschaft des Pädagogen hinreichend zu thematisieren. Das von Caplan (1964, 1970) im Rahmen der Mental Health Consultation beschriebene Phänomen der thematischen Überlagerung erläutert die Übertragungsbereitschaft des professionellen Helfers, dessen psychische Abwehr aktuelle Lebensthemen auf einen eigenen Klienten bzw. einen Fall überträgt. Der Rückgriff auf das Konzept der thematischen Überlagerung liefert gute Argumente, um diese vergessene Dimension in das Bewusstsein der Psychoanalytischen Pädagogik zu holen. Abgrenzungen zur psychotherapeutischen Behandlung: Konsultation als nichtaufdeckendes Verfahren

Für die Konsultation gilt der Grundsatz, dass nicht die persönlichen Probleme des ratsuchenden professionellen Helfers zum Thema der Beratung gemacht werden, oder besser gesagt, dass diese nur insoweit zu einem Thema werden, als sie sich in den Schwierigkeiten der Fallarbeit mit einem bestimmten Klienten manifestieren. Nicht die Hintergründe für die thematischen Überlagerungen, nicht die inneren Konflikte und ungelösten Lebensthemen des professionellen Helfers sollen aufgedeckt und bearbeitet, sondern ihre nachteiligen Auswirkungen auf die professionelle Performanz betrachtet werden, um die verzerrte Wahrnehmung des professionellen Helfers aufzulösen, so dass dieser eine realitätsangemessene Sichtweise auf den Klienten bzw. den Fall wiedererlangen kann. In der psychodynamischen Diskussion sind Beiträge zu einer genuinen Beratungstheorie eher Mangelware. Im deutschsprachigen Raum ist der Beitrag von Argelander hervorzuheben, dessen Ansatz auf kurzzeitige psychodynamische Beratung ausgerichtet ist und sich deutlich von der medizinischen Orientierung des psychotherapeutischen Ansatzes unterscheidet: »Eine Beratungsmethode muß sich nicht an der Eigenart von Heilungsprozessen ausrichten. Die Eignung für eine Beratung ist deshalb nicht abhängig von diagnostischen Kategorien im medizinisch-psychotherapeutischen Sinne, sondern muss nach anderen Kriterien bestimmt werden, die dem Verfahren und seiner Zielsetzung angemessen sind« (Argelander, 1985, S. 167). Das Modell der MHC erfüllt diese Bedingung, indem es die Konsultation als psychodynamische Beratung von professionellen Helfern konzeptionalisiert und hier© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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bei eine deutliche Demarkationslinie zur psychotherapeutischen Behandlung zieht: »In allen Fällen, in denen es um Defizite geht, die sich auf die professionelle Fall­ arbeit auswirken, beschränkt sich die Konsultation auf arbeitsbezogene Themen. Konsultation ist ihrem Wesen nach kollegial und die Konsultationsbeziehung würde schweren Schaden nehmen, wenn der Konsultant eine Doppelrolle als Kollege und Therapeut einnehmen würde. Daher wird in der Mental Health Consultation der Fokus definitorisch auf professionelle Fragestellungen gelegt. Diese Maxime der Mental Health Consultation hat mittlerweile über alle verschiedenen Ansätze von Konsultation hinweg allgemeine Gültigkeit erlangt« (Henning-Stout, 1993, S. 20). In der Mental Health Consultation geht es also nicht um eine »aufdeckende«, tiefenpsychologische Behandlung des Konsultierenden. Insofern kann das Vorgehen sogar konstruktivistisch interpretiert werden, da es hauptsächlich auf eine veränderte Problemwahrnehmung des Konsultierenden abzielt (vgl. Sandoval, 2004, S. 43). Abgrenzungen zur psychodynamischen Supervision

Die Unterscheidung psychodynamischer Konsultation zur Supervision ist vor dem Hintergrund der im angloamerikanischen Raum vorherrschenden Tradition von administrativer Supervision gut möglich. Fließend scheinen die Übergänge hingegen, wenn Mental Health Consultation zum edukativen Supiervisionskonzept abgegrenzt werden soll. »Die Funktion des administrativen Supervisors prägt noch heute im amerikanischen und im angelsächsischen Raum und damit auch bei uns im Profitbereich das Verständnis von Supervision. Der Supervisor in diesem Sinne bezeichnet eine Managementfunktion. Seine Aufgabe ist es, das Erreichen vor­ gegebener Ziele in Teams, Gruppen und bei Einzelnen zu steuern, aber auch die Arbeitsfähigkeit von Einzelnen und von Gruppen zu erhalten und zu fördern. Der in dieser Funktion enthaltene Aspekt der Kontrolle und Überwachung wird leicht mit dem Begriff des Supervisors, wie er bei uns im not-for-profit-Bereich gebräuchlich ist, verbunden. Der Supervisor als externer Berater hat diese Managementfunktion nicht« (Rappe-Giesecke, 1999, S. 27 f.). Das im deutschsprachigen Raum vorherrschende Verständnis von edukativer Supervision zeigt eher Gemeinsamkeiten zur Mental Health Consultation (vgl. Willmannn, 2008b, S. 71). Deutliche Differenzen zeigen sich allerdings in der Frage des Expertenrates und der Einbindung des Beraters in das psychosoziale Helfersystem: Zum einen ist es in der Konsultation nicht prinzipiell ausgeschlossen, dass der Konsultant eine konkrete Handlungsempfehlung ausspricht (Expertenrat), was in der edukativen Supervision eher vermieden wird. Zum anderen ist der Konsultant als Mitarbeiter einer der in den Einzelfall involvierten Einrichtung zugleich Teil des Helfersystems, das psychosoziale Unterstützungsdienste anbietet. Von daher ist immer auch die Möglichkeit gegeben, dass der Konsultant in einem anderen Setting – also außerhalb des Konsultationsprozesses – direkt mit dem Klienten des Konsultierenden arbeitet. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Diese Überschneidungen in der Zuständigkeit des Konsultanten zeigen sich g­ erade im Bereich schulischer Konsultationsangebote. Die zunehmende Institu­ tionalisierung schulpsychologischer und sonderpädagogischer Beratungsdienste verdeutlicht die Dringlichkeit, sich im schulischen Kontext mit Konzepten der psychodynamischen Konsultation auseinanderzusetzen.

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Beate West-Leuer

Affekt-Coaching Business-Coaching zur Verbesserung von Selbstmanagement und Selbststeuerung

Wie wir mit Gefühlen wie Ärger, Angst oder Freude umgehen, prägt ganz we­ sentlich unsere sozialen Kompetenzen, nicht nur im privaten, sondern auch im beruflichen Bereich. Business-Coaching soll als »Affekt-Coaching« bezeichnet werden, wenn im Coaching die Fähigkeiten eines Klienten zu Selbstmanagement und der Selbststeuerung durch eine Präzisierung der Wahrnehmung eigener und fremder Affektive verbessert werden. Die Anlässe für das Coaching können sehr unterschiedlich sein. Wird ein Coaching firmenseits empfohlen, so nennt der Mitarbeiter der Personalabteilung, der für den Klienten einen Coach sucht, so unterschiedliche Themen wie »Persönlichkeitsentwicklung«, »Verbesserung der Selbstreflexionsfähigkeit«, »mangelnde Kommunikationsfähigkeit«, »Disziplinprobleme« oder »Emotionsregulierung« (vgl. Grimmer u. Neukom, 2009). Aus der neurobiologischen Bindungsforschung wissen wir, dass die Heraus­ bildung unserer Affektsysteme im Säuglingsalter erfolgt. Im lebendigen spiegelnden Austausch mit dem Gesicht der frühen Bezugsperson, zumeist der Mutter, und den dort ablesbaren Gefühlsreaktionen wird das soziale Erleben des Kleinkinds ­aktiviert, so dass sich die neuronalen Verschaltungen sozialer Kompetenzen im ­Gehirn entwickeln können. Wenn diese frühe emotionale Verbundenheit nicht oder nicht ausreichend gegeben ist, hat dies gravierende Auswirkungen auf die Selbstmanagementfähigkeiten. Hier setzen die Interventionen der interak­tionellpsychoanalytischen Methode an. Im Coaching zielen sie darauf ab, die Affekt­ systeme des Klienten zu stabilisieren und ihn in seinem Selbstmanagement zu unterstützen. In einem selektiv authentischen Affektaustausch spiegelt der Coach dem Klienten, wie sich dieser in Beziehung verhält, wie er mit seinen Affekten umgeht und wie sich dieser Umgang möglicherweise auf sein Gegenüber auswirkt. Die Coaching-Beziehung wiederholt und festigt so, was Neurobiologie und Bindungsforschung für eine gelingende Affektregulierung fordern. Im Folgenden soll dieser psychodynamische Prozess anhand von Fällen aus der Coaching-Praxis der Autorin dargestellt werden. Dem geht eine kurze Einführung in das Beratungsformat des Psychodynamischen Business-Coaching voraus. Die Fallbeispiele sind eingebettet in eine Darstellung der theoretischen Grundannahmen der interaktionell-psychoanalytischen Methode und ihrer Anwendungsmöglichkeiten in der Beratungspraxis. Eine Übersicht über grundlegende Erkenntnisse © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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der neurobiologischen und bindungsorientierten Affektforschung dient der wissenschaftlichen Fundierung.

Business-Coaching als psychodynamisch fundierte Beratung Business-Coaching ist ein sehr heterogenes Beratungsformat. In den Dachverbänden besteht weitgehend Konsens, dass Business-Coaching als professionelle Begleitung von Personen mit Führungs- und Steuerungsfunktionen und von Experten in Organisationen zu verstehen ist und eine Kombination aus individueller Unterstützung zur Bewältigung verschiedener Anliegen und persönliche Beratung bietet. Zur Anwendung kommen verschiedene Interventionsformen, die von unterschiedlich ausgebildeten Experten durchgeführt werden. Der Klient lernt im Idealfall, seine Probleme eigenständig zu lösen und seine Einstellungen und sein Verhalten weiterzuentwickeln. Ein grundlegendes Merkmal ist die Förderung von Selbstreflexion und Selbststeuerung in den Belangen professionellen Handelns und Verhaltens. Als dialogischer Prozess, der freiwillig, eigenverantwortlich und in einem Setting stattfindet, das Vertraulichkeit zusichert, ist Business-Coaching zielorientiert und ergebnisoffen. Der Coach übernimmt die Verantwortung für den Prozess und der Klient für seine Ziele (vgl. Deutscher Bundesverband Coaching, 2007, S. 19 f.). Das von mir entwickelte Konzept für ein Psychodynamisches Business­ Coaching (West-Leuer, 2003) rekurriert – neben übergreifenden Theorien aus ­Organisationspsychologie und Betriebswirtschaftslehre – ganz wesentlich auf ­Intersubjektivitätstheorien der Psychoanalyse (Altmeyer u. Thomä, 2006), Bindungstheorien mit Neurobiologie (Fonagy et al., 2004; Franz u. West-Leuer, 2008) und interpersonellen Kommunikationstheorien und Persönlichkeitsmodellen (Tress, 1993). Der Coach ist durch seine Fähigkeit zu Empathie und Identifikation in das Beratungsanliegen des Klienten eingebunden. Methodisch gelten andere Regeln als in der psychoanalytischen Therapie. Die Inhalte werden nicht nur frei assoziiert, sondern sind thematisch definiert. Der Fokus der Schilderungen und Reflexionen hat sich vom Primärprozess (unbewusste Affekte, Emotionen, Wünsche, Phantasien) auf den Sekundärprozess (Realitätsprinzip und Ich-Funktionen) verschoben (Kettner, 1995). Dies bewirkt bei dem Klient Erhalt und Stärkung der Ich-Aktivitäten und hilft, die Regressionswünsche zu reduzieren. Durch diese Verschiebung des Fokus auf das Realitätsprinzip und den Verzicht auf stark regressive Elemente verfügt Psychodynamisches Coaching – neben dem klassischen Dreischritt von Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten – über eine Reihe anderer stützender und strukturierender Interventionstechniken. Dazu gehören Konversationstechniken wie Erklärungen und Begründungen, fachliche Klarifikationen, Diskussion alternativer Vorgehensweisen, Anführen anderer Beispiele, Rückfragen zur Klärung der Realität, aktives Eingreifen, wenn das Setting nicht eingehalten wird oder modifiziert werden muss, moralische Entlastung, (selbst-)reflexive Bewertung sowie Generierung von Modellszenen (vgl. Buchholz u. Streeck, 1994). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Der Coach ist in der Regel bemüht, möglichst explizit und nachvollziehbar zu sagen, was er versteht, während ein Therapeut weder alles sagt, noch so artikuliert und differenziert, wie er es könnte (vgl. Kettner, 1995). Nichtsdestotrotz stellt der psychodynamisch orientierte Coach mit Hilfe des Settings einen intermediären Übergangsraum bereit (Winnicott, 1997). Dadurch kann sich Unbewusstes in Form von Affekten, Gefühlen und Mitgefühl entfalten. Die unbewussten Beziehungen des Klienten zu Mitarbeitern, Kollegen und/oder Kunden reinszenieren sich und der Coach entwickelt eine Gegenübertragung zweiter Ordnung. Im Coaching hat der Klient Gelegenheit, Beziehungserfahrungen aus seinem beruflichen Kontext in einem geschützten Raum zu reinszenieren (Kernberg, 1999). Im Dialog mit dem Coach können projektiven Identifikationen und Enactments sowie die freundlichen und feindlichen Übertragungen, die nicht nur im Privatbereich, sondern auch im Arbeitsalltag entstanden sind, allmählich zugänglich werden. Dies ermöglicht es dem Klienten, Selbstmanagement und Selbststeuerung in seiner beruflichen Rolle und als Person zu verbessern und den Umgang mit seinen Mitarbeitern, Kollegen und Kunden zu objektivieren.

Coaching mit psychotherapeutischen Elementen Eine Sonderform des Psychodynamischen Coachings ist das Coaching mit psychotherapeutischen Elementen. Coaching fördert den Menschen vorwiegend in seiner beruflichen Rolle und Funktion, Psychotherapie zielt auf eine Veränderung der Person. Coaching setzt Selbstmanagementkompetenzen voraus, Psychotherapie baut diese auf. Laut Definition eignet sich Coaching dann als Beratungsformat, wenn der Klient in der frühen Lebensentwicklung ausreichend gute Beziehungserfahrungen gemacht hat. Idealerweise schafft das Beratungssetting Bedingungen, in welchen der Klient seine verinnerlichten, wohlwollenden Elternfiguren aktiviert, in einen inneren Dialog mit ihnen tritt und daraus angemessene Bilder von sich als selbstbestimmte und selbstbestimmende Person zieht, die ihn dann in die Lage versetzen, kreative Handlungsstrategien für seine beruflichen Ziele und in seinen beruflichen Beziehungen zu entwickeln (Grimmer u. Neukom, 2009, S. 128 f.). In der Beratungspraxis sehen sich Coachs zunehmend mit Anfragen konfrontiert, bei denen beim potentiellen Klienten Selbstmanagement und Selbststeuerung beeinträchtigt sind. »High Performers« reagieren mit Beschämung und dem Gefühl, versagt zu haben, wenn die Karriere einmal stagniert. Sie geraten in psychische Krisen oder entwickeln Depressionen (West-Leuer, 2009b; Haubl, 2007). Dies gilt es, so lange wie möglich vor sich selbst und vor anderen geheim zu halten. Denn psychische Krisen können desaströse Auswirkungen auf die Karriere haben. Personal- und Coachingverantwortliche wissen dies. Daher bestehen sie zwar formal auf der Trennung von Coaching und Psychotherapie, schätzen aber paradoxerweise therapeutische Interventionen als besonders wirksam ein und gehen daher wie selbstverständlich von ihrer Verwendung im Coaching aus (Grimmer u. Neukom, 2009). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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In der Praxis erscheint eine eindeutige Trennung von Coaching und Psycho­ therapie weder realisierbar noch unbedingt wünschenswert. Sie können als gegen­ sätzliche Pole einer Beratungsleistung »von Menschen für Menschen« verstanden werden, verbunden durch den Wirkfaktor »Beziehung«. Wo die Grenzen des Coa­ chings erreicht sind, muss der Coach manchmal sensibel austarieren. Grund­ kenntnisse eines therapeutischen Beratungskonzeptes sind hierbei sicherlich eine Hilfe. Hat der Coach eine abgeschlossene psychoanalytische Psychotherapieausbil­ dung, kann er fokaltherapeutische Elemente der psychoanalytischen Kurzzeitthe­ rapie in das Coaching einbeziehen (vgl. Haubl, zit. nach Grimmer u. Neukom 2009). Bei einer analytischen Grundhaltung, die auch den unbewussten psychi­ schen Dispositionen des Klienten mit Authentizität, Präsenz und Respekt (HeiglEvers u. Ott, 1998; Ott u. West-Leuer, 2003; Streeck, 2007) begegnet, fokussiert der Coach auf die Realbeziehungen im Hier und Jetzt. Übertragungen früher und frühkindlicher Beziehungsmuster werden selten gedeutet, sondern beantwortet.

Vom Affekt zum Gefühl und Mitgefühl1 Unsere Affekte können auf die Basisgefühle Angst, Wut, Freude, Trauer, Ekel zu­ rückgeführt werden. So organisiert Angst erbgenetisch die Distanzierung oder Flucht vor einem gefährlichen äußeren Objekt. Wut intendiert die schnelle und aggressive Zerstörung eines gefährlichen äußeren Objekts, während Ekel ein be­ reits zum Teil eingedrungenes gefährliches Objekt wieder ausstoßen soll. Freude organisiert Annäherung (Sicherheit, Fortpflanzung), Trauer den Verlust und die seelische Wiedererlangung des verlorenen Objekts. Vergleichbar steuern intrapsy­ chische Prozesse den affektiven Umgang mit den inneren Objekten, Selbst- und Fremdrepräsentanzen von bedeutsamen Anderen, die uns über unsere Lebens­ spanne hinweg begleiten. Übertragen auf die berufliche Situation kann Angst vor Mitarbeitern oder Vorgesetzten dazu führen, dass Probleme, Fehlleistungen und Konflikte nicht angesprochen werden. Unter Umständen wird ein Rückzug bis hin zur inneren Kündigung einer sachlichen oder fachlichen Auseinandersetzung vor­ gezogen. Wut kann zu ungesteuerten Ausbrüchen führen, die Mitarbeiter (oder Vorgesetzte) dauerhaft beeinträchtigen, gelegentlich sogar »traumatisieren«. Ekel kann Mobbing zur Folge haben, etwa wenn ein Team aufgrund kollektiver Projek­ tionen versucht, ein Teammitglied auszustoßen. Freude hebt die Motivation und führt zur positiven Besetzung von Arbeitsprozessen und Produkten. Trauer ist ele­ mentar wichtig bei Umstrukturierungen, wenn Altvertrautes zugunsten neuer Strukturen und Prozesse aufgegeben werden muss. Eine Unter- bzw. Übersteue­ rung einzelner Basisaffekte spielt bei einer Vielzahl von Coaching-Anfragen im Hintergrund eine Rolle, weil so erhebliche Beeinträchtigungen des Sozialverhal­ tens im Berufsalltag entstehen können. 1 Franz, 2008. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Den individuellen Umgang mit diesen Basisaffekten lernen wir im Gesicht ­ nserer frühen Bezugspersonen, in der Regel im Gesicht der Mutter. Ist die u ­Zuwendung der Mutter empathiegesteuert und stressreguliert, bewirkt sie eine Optimierung und Reifung der stressmodulierenden neuronalen Systeme im kindlichen Gehirn. Ein Vorgang, der – von Franz (2008) technisch formuliert – als strukturschaffender Download von emotionalen Informationen in die dynamische »Hardware« der synaptisch verknüpften neuronalen Netze des kindlichen Gehirns umschrieben werden könnte. So wird ein Spannungszustand des Säuglings von einer gesunden und feinfühligen Mutter praktisch »online« intuitiv verstanden. Diese enorme Leistung, sich anhand kindlicher Mikrosignale unmittelbar in ­dessen Erleben einfühlen zu können (affect attunement), ist die Voraussetzung ­einer »artgerechten« Stressregulation. Eine ausreichend feinfühlige Mutter ist darüber hinaus in der Lage, den jeweiligen Affektzustand ihres Kindes in sich zu ­erzeugen und in Resonanz mit dem Kind dessen aktiviertes Affektsystem nach­ zuempfinden (affect sharing). Daraufhin kann sie in Sekundenschnelle ein affektexpressives Antwortsignal und damit dem Kind ein Symbol für dessen eigenes Erleben zur Verfügung stellen. Dies geschieht sehr intensiv über den affektadäquaten Gesichtsausdruck der Mutter, der mit hoher Konzentration vom Säugling beobachtet wird. Entscheidend ist nun, dass der emotionale Gesichtsausdruck der Mutter das zum Beispiel unlustvolle Erleben des Kindes nicht einfach eins zu eins wie ein Automat spiegelt. Der mechanisch gespiegelte Affekt »Angst im Kind = echte ­eigene Angst im Gesicht der Mutter« führt genau so zu einer tiefen Verunsicherung des Kindes wie das Schließen der Augen oder die länger andauernde Abwendung des Gesichts (Franz, 2008). Durch ihre mimischen Eigenbeiträge kommentiert die Mutter gewissermaßen den im Kind vorhandenen negativen Affekt, verändert oder »verdaut« ihn und stellt ihn aus psychoanalytischer Sicht in »entgifteter« Form auf ihrem Gesicht dar (Fonagy et al., 2004). Diese teilnehmende Spiegelung, die sog. Affektmarkierung, signalisiert drei Dinge: – Das Kind hat für seine eigenen inneren Affektzustände noch keinerlei Begrifflichkeiten oder Symbole zur Verfügung. Es erfährt, was es »fühlt«, aus dem Gesicht der Mutter. – Andererseits erlebt das Kind, dass sein eigener Gefühlszustand keine vernichtende, sondern eine überlebbare Qualität besitzt. Zahlreiche Wiederholungen der Affektmarkierung fördern die differenzierende Wahrnehmung unterschiedlicher eigener Affekte und führen schließlich auch zu einer Reifung der symbolischen Affektexpression über die Zuordnung eigener Körperempfindungen und schließlich auch sprachlicher Symbole für unterschiedliche Affektzustände. – Darüber hinaus macht das Kind zunehmend die Erfahrung, dass eine andere Person offensichtlich in der Lage ist, sich nicht nur in seine Person einzufühlen, sondern überdies auch noch aus eigenem Erleben heraus emotional authentisch zu empfinden. Das Kind konstruiert so nach und nach die emotionale Unterschiedlichkeit seines Gegenübers. Etwa ab einem Alter von fünf Jahren © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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eröffnet sich ihm die Möglichkeit, das Innenleben eines Gegenübers mental zu erfassen. Die Fähigkeit zu einem Als-ob-Modus eröffnet dem Kind die Möglichkeit, sicher zwischen Phantasie und Wirklichkeit zu entscheiden: Das Krokodil frisst den Kasper nun nicht länger wirklich, sondern tut nur so, weil alles ein Spiel ist (Franz, 2008). Gelingt der Prozess, ist das Kind schließlich in der Lage, die Unterschiedlichkeit des Gegenübers nicht automatisch als bedrohlich zu empfinden und darauf mit narzisstischer Kontrolle oder Trennungsangst zu reagieren, sondern vielmehr das emotionale Erleben des Anderen nachzuempfinden und fürsorglich in die eigene Verhaltenssteuerung einfließen zu lassen, ohne die eigene Identität in Frage zu stellen oder zu beschädigen. Es macht die Erfahrung, dass es die Mutter zur Befriedigung seiner Bedürfnisse berechenbar und umfassend manipulieren kann. Tatsächlich ist dies lediglich die Illusion einer Kontrolle, die zustande kommt, wenn die Mutter die Bedürfnisse ihres Kindes angemessen befriedigt (Franz, 2008). Die Kontrolle und mentale Modellierung des Erlebens des Anderen im eigenen Ich sind zusammen mit einer sicheren Bindung wesentliche Grundlagen des ­Erwerbes sozial-emotionaler, kognitiver und persönlichkeitsstruktureller Kompetenzen. – Zu den sozial-emotionalen Kompetenzen zählt beispielsweise die Möglichkeit, realistische Vorstellungen über die Verhaltensmotive anderer zu entwickeln, d. h., das Erleben des Anderen in sich selbst zu repräsentieren. Ein empathisches, konstruktives Sozialverhalten, Wechselseitigkeit in Beziehungen, Spielfähigkeit, Humor sowie ein bewusster Umgang mit Affekten bzw. der sprachliche Gefühlsausdruck sind Indikatoren derartiger sozial-emotionaler Kompetenzen, die sich bereits im frühen Grundschulalter einstellen. – Kognitive Kompetenzen kommen unter anderen darin zum Ausdruck, dass das »magische Denken« von der Fähigkeit abgelöst wird, das Verhalten und die Wünsche anderer in sich im Als-ob-Modus probehalber zu simulieren. Auch eine sichere Wahrnehmung von Fakten, neugieriges Explorationsverhalten sowie Abstraktionsfähigkeit und der Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine lassen auf altersgemäße Entwicklung kognitiver Kompetenzen schließen. – Persönlichkeitsstrukturelle Kompetenzen, die sicher gebundene und menta­ lisierungsfähige Kinder zeigen, sind eine wachsende Kontrolle über triebhafte, zum Beispiel aggressive Impulse, eine sozial angepasste Affektregulation, eine angemessene Angstbewältigung (Schutzsuche statt Aggression), eine gewachsene Frustrationstoleranz und Stressresistenz sowie eine gute Konzentrationsund Lernfähigkeit (Franz, 2008).

Interaktionell-psychoanalytische Interventionsmodi im Coaching Die präzise Wahrnehmung eigener und fremder affektiver Prozesse ist eine Kernkompetenz für Führungskräfte. Sie fördert die Selbstreflexion und versetzt in die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Lage, die berufliche Rolle aktiv und intersubjektiv – im Austausch mit Mitarbeitern und Kunden – zu gestalten (vgl. Deutscher Bundesverband Coaching, 2007). Ein psychodynamisches Beratungskonzept verfügt über Interventionsmodi, die den Klienten in seiner Wahrnehmung von Affekten und im Umgang damit unterstützen und fördern. Psychodynamische Beratungskompetenz habe ich definiert als die Fähigkeit zum Doppeldenk2: Der Coaching-Prozess ist ein unbewusst gesteuertes Zusammenspiel von Klient und Coach (vgl. Altmeyer u. Thomä, 2006). Der Coach spaltet sein Erleben in eine Person, die sich mit dem Klienten und ­seinem Beratungsanliegen affektiv verstrickt, und in einen beobachtenden »objektiven« Anderen. Der agierende Ich-Anteil wird von den bewussten und unbewussten Aktionen des Klienten »angesaugt«. Der Klient nutzt nicht zuletzt die enorme Vielfalt mimischer Ausdrucksmöglichkeiten, um den Coach in seinem Sinne emotional zu beeinflussen. Mit seinem beobachtenden Ich-Anteil evaluiert der Coach das Beziehungsgeschehen (Kernberg, 1999). Zunächst nimmt er die eigene spontane Reaktion auf das interaktionelle Angebot des Klienten bei sich wahr. Diese Reaktion gilt es im Hinblick darauf zu durchdenken, was der Coach über den Klienten weiß und welche Rolle er für den Klienten spielt. Vor diesem Hintergrund kann der Coach seine Reaktionen auf den Klienten modifizieren. So wird möglicherweise anstelle eines anfänglichen Affekts von Ärger ein Affekt des Mitfühlens oder auch ein völlig anderes Gefühl treten. Diese selbstreflexiv verarbeiteten Affekte und die daraus resultierenden Erkenntnisse wird der Coach dem Klienten selektiv mitteilen.1 Psychodynamische Interventionsmodi, die sich nicht nur für therapeutische Zwecke, sondern auch für Beratungsformate eignen, stellt die interaktionell-psychoanalytische Methode bereit (Heigl-Evers u. Ott, 1998; Streeck, 2007). Sie wurde entwickelt, um dem strukturell gestörten Patienten nicht abstinent, sondern in einer selektivauthentischen Beziehung zu begegnen. Selektiv-authentische Beziehungen sind auch eine Grundlage des Psychodynamischen Coaching (Ott u. West-Leuer, 2003). Die wesentlichen Interventionen sind authentisches Antworten, Affektidentifizierung bzw. Affektklarifizierung und die Übernahme von Hilfs-Ich- resp. Über-Ich-Funktionen. Sie können bewirken, dass Emotionen wie Verblüffung, Staunen, Überraschung oder Betroffenheit, aber auch Ärger, Scham oder Trauer in der Beziehung zum Coach differenziert erlebt und in das Selbstbild integriert werden. So lassen sich die Beeinträchtigungen, denen sich die Führungskräfte durch eine Unter- bzw. Übersteuerung einzelner Emotionen und Affekte ausliefern, allmählich modifizieren. Im Folgenden soll die Anwendung der interaktionell-psychoanalytischen Interventionsmodi an Fallbeispielen aus dem Einzelcoaching mit Selbstzahlern bzw. aus einer Supervision vorgestellt werden. Instabile Affektsysteme und Affektregulation können den Arbeitsprozess besonders stark stören, wenn zum Beispiel Krisen und Konflikte zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten zu bewältigen sind, bei Umstrukturierungs- und Rationalisierungsprozessen, bei Störungen der Kommunikation wie auch bei Defiziten in sozialer Kompetenz. Gerade in »kritischen« (im Ver2 Die Idee verdanke ich Dr. phil. Marga Löwer-Hirsch, Senior Coach (DBVC). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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gleich zu verbesserungswürdigen oder entspannten) Situationen (vgl. Deutscher Bundesverband Coaching, 2007) benötigen die Menschen an ihrem Arbeitsplatz nicht ideale Arbeitsbedingungen, sondern authentische (Arbeits-)Beziehungen (vgl. West-Leuer, 2007a).

Modus der authentischen, hinsichtlich ihrer Expression selektiven Antwort In seiner authentischen Reaktion bringt der Coach modifiziert zur Sprache, was der Klient in ihm auslöst: »Wenn Sie sich so oder so verhalten, dann erlebe ich Sie so oder so, dann fühle ich dieses oder jenes Ihnen gegenüber.« Der Coach zeigt sich als unterschiedliche Person und ist für den Klienten als ernst zu nehmendes Gegenüber deutlich spürbar. Der Klient wird mit einer von der eigenen unterschiedenen Perspektive konfrontiert. Eine authentische Antwort, die ins Zentrum der Beratungsbeziehung und des Beratungsanliegens zielt, bedeutet für den Klienten eine Chance, nicht nur den Anderen, sondern auch sich selbst von einer anderen Seite kennenzulernen. Herr A. hat zum wiederholten Mal eine Stelle als Betriebsleiter im Maschinenbau verloren. Er kann sich nicht erklären, warum ihm nach zwei bis drei Jahren immer wieder gekündigt wird, obwohl man mit seiner Leistung völlig zufrieden ist. Als er nach einem Vorstellungsgespräch bei einem mittelständischen Unternehmen eine Absage erhält, kommt er ins Coaching. Er will verstehen, warum er den Job trotz seiner ausgezeichneten fachlichen Qualifikation nicht erhalten hat. Vom Vorstellungsgespräch berichtet er, dass er stellvertretend für den Eigen­ tümer von dessen Tochter interviewt wurde. Dann äußert er: »Schon nach den ersten Sätzen habe ich gemerkt, dass die Tochter mit der Situation deutlich überfordert war.« Ich bin mit der Tochter des Chefs identifiziert und spüre sowohl Gefühle der Kleinheit als auch Ärger. Meine emotionale Reaktion zeigt mir, dass ich die Schilderung des Klienten auf die Coachingsituation übertrage. Ich überlege, ob mir Herr A. unbewusst zu verstehen ge­ ben will, dass für einen Diplom-Ingenieur der Verfahrenstechnik eigentlich nur ein Fachkol­ lege als Coach in Betracht kommt. Für eine angemessene Antwort muss ich verstehen, von welcher Art seine aggressive, auch auf mich projizierte Entwertung der Tochter des Chefs sein mag: Will er meine Interventionen bereits vorab entwerten oder zunichte machen und mich unbewusst dominieren, bei Widerstand vielleicht gar zerstören? Oder wird der Klient von grausamen inneren Objekten (bedeutsamen Personen seiner Biographie, die sich als Fremdrepräsentanzen in seinem Selbst eingenistet haben) oder unerträglichen Versagens­ ängsten und Schuldgefühlen überschwemmt, die er projizieren muss, um nicht von seiner Angst überflutet zu werden oder zu dekompensieren (Kreuzer-Haustein, 2008)? Im Fall destruktiver Dominierungstendenzen würde ich das Coaching entweder abbrechen oder subtil dafür sorgen, dass Herr A. aussteigt. Um dies zu verhindern, könnte ich im Modus der selektiv-authentischen Antwort erwidern: »Es kommt mir so vor, als ob Sie Ihre fachli­ chen Kompetenzen nicht exakt von den Kompetenzen anderer zu trennen wissen. Und dann wirkt man leicht ›von oben herab‹. Ich habe bei Ihrer Bemerkung über die Tochter des Seniorchefs Ärger gespürt und Ihren Kommentar ›probeweise‹ auf unsere Beziehung über­ tragen. Die Folge ist, dass ich Zweifel habe, ob Sie im Coaching wirklich etwas verändern wollen oder ob es Ihnen eher darum geht herauszufinden, wer von uns beiden ›oben‹ und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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wer ›unten‹ ist. Wenn die Tochter des Chefs ähnlich empfunden hat, wird sie von Ihrer Einstellung abgeraten haben. Ich bin gerne bereit, mit Ihnen im Coaching zusammenzuarbeiten. Das erste Ziel wäre dann, dass wir – bei ganz unterschiedlichen fachlichen Kompetenzen – menschlich achtsam und gleichwertig miteinander umgehen.« Tatsächlich aber verflogen sowohl meine Kleinheitsgefühle als auch mein Ärger rasch. ­Hinter der Maske des toughen Bewerbers zeigte sich ein in Beziehung ungeübter, ratloser Klient. Ich konnte für mich entscheiden, dass die Entwertungsversuche auf seinen Ver­sagensängsten beruhten, wodurch sich meine Starre löste. Meine Antwort, dass Überlegenheitsgesten, selbst wenn sie fachlich fundiert sind, von Vorgesetzten in der Regel nicht akzeptiert werden, war in Ton und Mimik weder distanzierend noch klein machend oder von Rachegefühlen begleitet, sondern erfolgte im Kontakt. Eventuelle frühe negative Überzeugungsstrukturen, dass er klein gehalten werden soll und sich deshalb ganz groß machen muss, um überleben zu können, wurden durch das Coaching weder bestätigt noch verfestigt, sondern zum Teil aufgeweicht. In der Folge konnte er verstehen, dass Konkurrenz um fachliche Expertise beim Gegenüber als Arroganz ankommen kann, was sich in einem Einstellungsgespräch natürlich ungünstig auswirkt. Als Ergebnis dieses Kurzzeitcoachings ­(6 Sitzungen à 60 Minuten) konnte der Klient einen neuen Arbeitsplatz finden. Ein Feedback nach vier Jahren zeigte, dass es ihm gelungen war, seine sozialen Kompetenzen, besonders sein »Verständnis« für Vorgesetzte und Mitarbeiter, schrittweise zu erweitern. Eine Therapieempfehlung lehnte er jedoch ab.

Affektidentifizierung und Affektklarifizierung In Coaching-Prozessen bildet sich die ganze Bandbreite unserer Affekte ab. Beim Interventionsmodus Affektidentifizierung und Affektklarifizierung lässt sich der Coach vom Klienten emotional erreichen und vermittelt dies auch: »Du bist jemand, der mich gefühlsmäßig ansprechen und bewegen kann. Umgekehrt bin auch ich jemand, der bei dir Gefühle in Bewegung setzt. So kommt es während des Beratungsprozesses zwischen uns zum Austausch, zur Abstimmung, zu Anregungen und zu bewegten Abläufen teils freundlicher, teils kritischer, eventuell auch aggressiver Natur.« Der Klient kann dann auf offensichtliche Hemmungen und Unterdrückung oder unkontrolliertes Agieren und Übertreibung von Affekten in der Absicht angesprochen werden, diese einer adäquateren Steuerung zu unterlegen. Zusammengefasst geht es darum, – Affekte in ihrer Beziehung zur Situation, zur eigenen Person oder zu anderen zu klären; – Affekttoleranz zu verändern; – Affekte zu begrenzen und zu modulieren; – affektive Signale zu entschlüsseln. »Wenn die Mitarbeiter von ihrem Chef als von einem ›sachlichen‹ oder ›kühlen‹ Menschen sprechen und meinen, er habe keinen gefühlsmäßigen Bezug zu den Menschen, so hat er sehr wohl einen – nur eben einen schlechten!« (Bayer, 1995). Psychodynamisch formuliert, verfügt der beschriebene Vorgesetzte nur über eine reduzierte Wahrnehmung der eigenen Affekte und kann folglich auch die Af© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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fekte seiner Mitarbeiter nicht entschlüsseln oder motivierend beantworten. Im Coaching besteht die Chance, sich vorsichtig an Affekte heranzutasten und diese Erfahrungen auf die Beziehungen am Arbeitsplatz zu übertragen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen nachtragende Affekte wie Bitterkeit, Grimm, Groll, Hader oder Racheimpulse. Gelingt es dem Klienten, solche Affekte bei sich zu identifizieren, kann er lernen, diese in ihrem Entstehungszusammenhang zu verstehen und angemessen zu verarbeiten. Die Disponenten in einer Speditionsfirma »rasten« nach Telefonaten regelmäßig aus. Sie schimpfen laut auf die Kunden des Unternehmens. Da sie im Großraumbüro arbeiten, sind diese Äußerungen auch von den anderen Kunden am Telefon deutlich zu vernehmen.­ Der junge Chef hat deshalb einen Kommunikationstrainer engagiert. Als sich das Verhalten seiner Disponenten dadurch nur kurzfristig ändert, kommt er ins Coaching. Über den Umgangsstil im Unternehmen berichtet er, dass er selbst um Sachlichkeit und Freundlichkeit bemüht sei. Auch versuche er, einen demokratischen Führungsstil einzuführen. Seine ­Mutter habe das Unternehmen eher autoritär geführt. Sie komme täglich in die Firma und beklage sich offen über die »Unfähigkeit« der Mitarbeiter und über seinen »weichen« ­Führungsstil. Diese Klagen seien weithin hörbar. Dann wechselt er spontan das Thema und berichtet, dass er in einem Jahreshoroskop gelesen habe, sein Idealberuf sei Koch. Jetzt überlege er, den Beruf zu wechseln, obwohl der Betrieb in letzter Zeit kräftig expandiert sei.

In diesem Fallbeispiel schildert der Klient ein deutlich aggressives und entwertendes Vorgehen der Mutter, hat aber zunächst keine Möglichkeit, so etwas wie eigenen Ärger darüber zu aktivieren oder zu spüren. Sein Wunsch, den Beruf zu wechseln, deutet darauf hin, dass er lieber fliehen möchte, als sich einer notwendigen Auseinandersetzung zu stellen. Vermutlich wird er sich aber auch nicht trauen, das Unternehmen zu wechseln, weil das nicht mit den Plänen seiner Mutter übereinstimmt. Gelegentlich kommt es dann zu einer Flucht nach innen, die Aggressionen werden gegen das eigene Selbst gerichtet und der Klient nimmt Zuflucht zu einer eher depressiven Symptomatik. Es bietet sich an, die »Harmoniesucht« des Klienten zu hinterfragen. Denn die Übersteuerung seiner Aggressionen und die ­Verleugnung seiner Kränkungen führen dazu, dass seine Disponenten ihre Aggressionen stellvertretend untersteuern und »ausrasten«. Wird dies im Coaching thematisiert, ist damit zu rechnen, dass dieser Klient versuchen wird, es auch dem Coach recht zu machen und »Emotion« zu zeigen. Auf sein angepasstes Verhalten angesprochen, wird Trauer spürbar. Erst ein Trauerprozess erlaubt es dem Klienten, die »gute« Mutter(-Repräsentanzen) in seinem Gefühlsleben zu stabilisieren, sich aber gegen die offensichtlichen affektiven Fehlleistungen einer Seniorchefin abzugrenzen und diese zu unterbinden. Nach den vereinbarten zehn Sitzungen beendet der Klient das Coaching. Er sieht zu dem Zeitpunkt keinen weiteren Coaching-Bedarf. Er überlegt jedoch, ob er langfristig von einer tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie profitieren könnte, und meldet sich nach einem halben Jahr wegen einer Psychotherapieempfehlung. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Übernahme einer Hilfs-Ich-Funktion Im dritten Interventionsmodus übernimmt der Coach vorübergehend Ich-Funk­ tionen, die dem Klienten nicht zur Verfügung stehen. Zu diesen Funktionen ge­ hören: – Wahrnehmen und Verbalisieren von Bedürfnissen und Wünschen; – Wahrnehmen und Verändern von inneren Normen und Idealen; – Aktivieren von Ich-Funktionen: • Selbstwahrnehmung und -beurteilung, • Fremdwahrnehmung und -beurteilung, • Realitätsprüfung, • Nähe-Distanz-Regulierung, • Fähigkeit zur Kompromissbildung; – Registrieren und Verändern von dysfunktionalen Widerständen. Die Übernahme dieser Hilfs-Ich-Funktionen stellt ein Unterstützungs- und Identi­ fizierungsangebot dar: »Wie wäre es, wenn Sie es einmal so oder ähnlich versuchen würden.« »Ich, Ihr Coach, würde in einer solchen Situation so und so, also anders als Sie reagieren oder handeln.« Wie im Fall von Herrn A. stellt der Coach fest, dass der Klient immer wieder in die gleiche Falle läuft. Er wiederholt ein bestimmtes Verhalten, ist erstaunt über die Folgen, kommt zum nächsten Treffen und sagt: »Stellen Sie sich vor, was mir passiert ist!« Wenn der Coach ihn nun mit der Realität konfrontiert und äußert: »Dann haben Sie die Situation wohl vor sich verharmlost«, dreht der Klient den Spieß um. Er verleugnet und bagatellisiert die Angelegenheit. In solchen Fällen ist es dann Aufgabe des Coachs, die Realitätsprüfung zu übernehmen. Dies soll an einem Beispiel aus dem Sport verdeutlicht werden: »Es wäre für den Tennisspieler ein Leichtes gewesen, sich auf die Spielweise des Gegners umzustellen. Aber er wollte immer wieder die gleiche Strategie durchziehen. Er war zu keiner Antizipation der Spielweise des Gegners fähig. Er spielte vor großem Publikum. Auch viele ›Weiber‹ waren da und er wollte seine Spielweise vorführen [...] die Spielweise: Aufschlag, Bumm, Stürz-ans-Netz. Ein Schlag war spektakulär und alle haben geguckt. Aber die Punkte, die er brauchte, um zu gewinnen, fehlten ihm« (Ott in Ott u. West-Leuer, 2003, S. 146). Der Tennisspieler spielt, als ob er Scheuklappen vor den Augen hätte. Aus Angst vor Beschämung ist ihm die Fähigkeit abhanden gekommen, innezuhalten und zu überlegen, ob ein Strategiewechsel angebracht wäre. Seine Scheuklappen hindern ihn, der Situation ins Auge zu sehen. In dieser Situation hat der Coach die Aufgabe, den Klienten mittels der Hilfs-Ich-Funktion darauf aufmerksam zu machen, dass eine Alternativstrategie erforderlich ist. Das geht oft nur, wenn der Coach die notwendige »Operation« in kleine Schritte zerlegt und diese kleinen Schritte dann Zug um Zug mit dem Klienten durchspricht. Dies gilt auch für Fälle, mit denen wir im Coaching nicht so gern konfrontiert werden, weil wir uns mit anstößig erscheinendem Handeln, Verhalten und Erleben © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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auseinandersetzen müssen. Wir verweigern unser Mitgefühl, denn wir möchten nicht eigenen, abgespaltenen anstößigen Selbstanteilen begegnen. Einer Erweiterung der Selbstwahrnehmung und kritischen Selbstreflexion wird entgegengehalten: Hier geht es nicht weiter (Hartkamp u. Heigl-Evers, 1995). Und wir meinen: »Ein solches Verhalten kommt für mich nicht in Frage, da bin ich mir ganz sicher«, denn eine Identifizierung des Coachs mit der Klientin könnte die Konstanz der eigenen Person in Frage stellen. Eine Kollegin erzählt in einer Weiterbildungsgruppe von einem Vorgespräch mit einer Klientin aus der IT-Branche. Die Klientin komme auf eigene Initiative, weil sie sich in ihrer Firma nicht ausreichend wertgeschätzt fühle. Sie befürchte, bei der anstehenden Umstrukturierung ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Vorsorglich habe sie sich vertrauliche Daten gesichert, um diese bei einer Entlassung als Einstieg und möglichen Türöffner für eine Bewerbung beim Konkurrenzunternehmen zu nutzen. Die Kollegin, die diesen Fall zur Supervision einbringt, ist stark verunsichert. Sie fragt sich, ob sie sich strafbar macht, wenn sie mit dieser Klientin arbeitet. Die anderen Mitglieder der Weiterbildungsgruppe reagieren heftig auf diese Falldarstellung; viele zeigen sich empört über die Klientin und raten der Falldarstellerin zu einem sofortigen Kontaktabbruch. Gemeinsam können wir erarbeiten: Wie Grimm, Groll und Entrüstung ist auch unsere Empörung ein nachtragender Affekt. Die Empörung ist Ich-synton, in völliger Übereinstimmung mit uns selbst und wird aus einem tiefgreifenden Berechtigungsgefühl genährt (Hartkamp u. Heigl-Evers, 1995). Ein Abbruch der Beratung hilft der Klientin allerdings nicht, sondern bestätigt sie in ihren Erfahrungen, abgelehnt und ausgeschlossen zu werden, ohne dass sie sich erklären kann, warum. Im Interventionsmodus des Hilfs-Ich gilt es, Ich-Funktionen vorübergehend zu übernehmen, die der Klientin nicht zur Verfügung stehen. Die Mitglieder der Weiterbildungsgruppe verstehen ihre Reaktion nun als Spiegelphänomen oder psychischen Resonanzeffekt. Das heißt, dass der Affekthaushalt der Klienten von nachtragenden, Ich-syntonen Affekten dominiert wird. Nachdem der »Da machen wir nicht mit«-Affekt (Hartkamp u. Heigl-Evers, 1995) überwunden ist, entwickeln die Gruppenmitglieder unterschiedliche Interventionsvorschläge im selek­ tiven Hilfs-Ich- resp. Hilfs-Über-Ich-Modus. Ein Vorschlag wäre es, der Klientin zu sagen: »Wenn Sie mir von Ihrem Vorhaben erzählen, wird mir ein wenig angst und bange um Sie. Haben Sie mal überlegt, wie es in der neuen Firma weitergehen könnte, nachdem Sie die vertraulichen Daten abgeliefert haben?« Der Klientin stehen Affekte der Trauer darüber, dass sie in ihrer Firma keine ausreichende Wertschätzung erfährt, nicht zur Verfügung. Sie fühlt keine Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes oder vor Entdeckung ihres potentiellen Datendiebstahls, sondern Wut über die erfahrenen Kränkungen und möchte sich ­rächen. Wesentlich ist die fehlende Realitätsprüfung. Sie kann nicht antizipieren, dass ein neuer Arbeitgeber sie vielleicht zunächst einstellen, sich aber aufgrund ihrer Illoyalität so bald wie möglich wieder von ihr trennen wird. Im Affekt-Coaching bekäme die Klientin in dieser Krisensituation eine Chance, ihre Strategie zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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überdenken, um dann – im günstigen Fall – eine längerfristige Psychotherapie zu absolvieren. Häufig kommen Menschen ins Coaching, die eine vertraute, aber dysfunktionale Strategie nicht aufgeben können (vgl. West-Leuer, 2007b). Wenn der Coach sie mit dieser Realität konfrontiert, leisten sie hartnäckigsten Widerstand. Diese Klienten werden einen schwelenden Konflikt immer wieder und in verschiedensten Variationen fortsetzen und eskalieren lassen, selbst wenn sie deswegen den Arbeitsplatz verlieren sollten. Der Coach wird dann die Hilfs-Ich-Position aufgeben und sich für eine authentische Antwort entscheiden: »Ich kann Sie auf Ihrem Feldzug nicht begleiten. Mache ich diesen aussichtslosen Kampf zu lange mit, kann es sein, dass Ihnen dies eher schadet als nützt. Und das ist weder mein Auftrag noch mein Wunsch.«

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Urte Finger-Trescher

Beratungsqualität und Leitungsqualität in psychosozialen Beratungseinrichtungen

Erziehungsberatungsstellen und ihre primäre Aufgabe Die Primäre Aufgabe bzw. die primären Aufgaben von Erziehungsberatungsstellen in Deutschland sind im Wesentlichen festgeschrieben und definiert in den §§ 27ff. SGB VIII (1990) sowie im § 8a SGB VIII: Dementsprechend sind die Träger der öffentlichen Jugendhilfe verpflichtet, Erziehungsberatungsstellen einzurichten und zu erhalten bzw. entsprechende Verträge mit freien Trägern zu schließen (vgl. Obholzer, 2000; Finger-Trescher, 2009). »Erziehungsberatungsstellen und andere Beratungseinrichtungen sollen Kinder, Jugendliche, Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Klärung und Bewältigung individueller und familienbezogener Probleme und der zugrunde liegenden Faktoren, bei der Lösung von Erziehungsfragen sowie bei Trennung und Scheidung unterstützen. Dabei sollen Fachkräfte verschiedener Fachrichtungen zusammenwirken, die mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen vertraut sind« (§ 28 SGB VIII). Somit ist Erziehungsberatung als Jugendhilfeleistung in recht hohem Maße institutionalisiert und anders als in anderen Ländern eine Pflichtleistung, auf die Eltern, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis zum 27. Lebensjahr einen Rechtsanspruch haben. Diese Leistung ist für die Anspruchsberechtigten kostenlos, sie kann auf Wunsch auch anonym in Anspruch genommen werden und sie unterliegt der Schweigepflicht. Diese Definition legt indes nicht fest, wie die Unterstützung gestaltet werden soll, wie die Strukturen beschaffen sein müssen, damit die Aufgaben optimal erfüllt werden können, und welche Ressourcen hierfür zur Verfügung gestellt werden müssen. Der 2005 in Kraft getretene § 8a SGB VIII regelt den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung bzw. verpflichtet alle Personen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe tätig sind, diesen Schutzauftrag zu erfüllen. Dabei gilt auch für Erziehungs­ beratungsstellen, dass der Schutz eines Kindes grundsätzlich vorrangig zu gewährleisten ist vor allen anderen Leistungen. »(1) Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen. (2) Hält das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, so hat es das Gericht anzurufen; dies gilt auch, wenn die Personensorgeberechtigten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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oder die Erziehungsberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwirken. Besteht eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen« (§ 8a SGB VIII). Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in einer Erziehungsberatungsstelle sind in diesen Fällen gleichgestellt mit allen anderen in der Jugendhilfe Tätigen und können auch die ihnen obliegende Garantenstellung nicht delegieren. Vielmehr sind sie verpflichtet, in Zusammenarbeit mit anderen Fachkräften Gefährdungsanalysen zu erstellen und, falls notwendig, auch aktiv einzugreifen. Auch die Verpflichtung zur Verschwiegenheit ist bei Kindeswohlgefährdung obsolet. Durch das Inkrafttreten dieses Gesetzes hat, so kann man sagen, ein Paradigmenwechsel in der Jugendhilfe, insbesondere aber in der fachlichen Ausrichtung der Erziehungsberatungsstellen stattgefunden. Das bis dahin überwiegende und nicht hinterfragte Selbstverständnis der Erziehungsberaterinnen und Erziehungsberater, ausschließlich als psychotherapeutisch ausgerichtete Berater oder Psychotherapeuten tätig zu sein, keineswegs aber Kontrolle – und Eingriffsfunktion – zu übernehmen, dieses Selbstverständnis wurde nachhaltig erschüttert und diese Erschütterung hat Kränkungen hervorgerufen ebenso wie massive Ängste, Unsicherheit und Widerstände. Erst nach vielen Monaten der allmählichen Gewöhnung an die veränderte Situation kann man eine Beruhigung feststellen und auch die Vorteile wahrnehmen, die durchaus auch damit verbunden sind. Es geht also zum einen um die Erfüllung der primären Aufgaben (vgl. FingerTrescher, 2009a) bzw. um den Prozess, der hierfür notwendig ist, zum anderen aber geht es um das primäre Risiko, das zwangsläufig und immer damit verbunden ist. Das Risiko, bei der Erfüllung der primären Aufgabe zu scheitern mit allen Folgen, die dies sowohl für die Adressaten der Leistungen als auch für die Erbringer, also für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Beratungsstellen sowie für die gesamte Organisation, haben kann, muss insbesondere von Leitungskräften gesehen, eingeschätzt und gemanagt werden mit dem Ziel, es so gering wie möglich zu halten.

Aufgabenbereiche und Problemlagen Die Aufgaben, die Erziehungsberatungsstellen, aber auch allgemeine Lebensberatungsstellen, nach §  27 ff. SGB VIII wahrnehmen, sind vielfältig und breit ge­ fächert. Sie beziehen sich nicht nur auf die reine Beratung von Klientinnen und Klienten, sondern schließen darüber hinaus präventive Aufgabenstellungen ein. Dabei gibt es zwischen den einzelnen Beratungsstellen unterschiedliche Ausrichtungen je nach Ausstattung mit materiellen und personellen Ressourcen und fachlich-konzeptioneller Ausrichtung, die von der Leitung vertreten und angestrebt wird. Ich nenne im Folgenden die wesentlichen Aufgaben: – Erstgespräche und Krisenintervention, – Exploration und Verhaltensbeobachtung sowie Auswertung und Interpretation, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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– Erhebung von Anamnesen, – Durchführung von Diagnostik, – Teilnahme an offenen Sprechstunden, – Beratung von Eltern, Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen, – Eltern-Baby- und Eltern-Kleinkind-Beratung, – Durchführung von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, – Leiten von Gesprächsgruppen für Mütter, Väter oder Jugendliche, – Durchführung therapeutischer Gruppen für Kinder, – Durchführung von Gruppen für Kinder psychisch kranker Eltern, – Durchführung und Dokumentation von Gefährdungsanalysen gem. § 8a SGB VIII, – Vorbereitung und ggf. Durchführung von Inobhutnahmen, – Kooperation mit anderen Sozialen Diensten, Kindertageseinrichtungen, Schulen, – Praxisberatung von Fachkräften in Einrichtungen der Jugendhilfe und der Schulen, – Supervision, – Konzeptentwicklung. Je nach Konzept und finanziellen bzw. personellen Ressourcen variieren Leistungen der unterschiedlichen Beratungsstellen mit Ausnahme der gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtleistung »Beratung von Eltern, Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen« (vgl. § 28 SGB VIII). Die therapeutischen und Beratungsangebote betreffen vielfältige Problemlagen der Ratsuchenden: – Fragen zur Erziehung und kindlicher Entwicklung, – emotionale oder soziale Auffälligkeiten, – Schul- und Ausbildungsprobleme, – Trennung, Scheidung und Verlust, – Arbeitslosigkeit und Armut bzw. deren Auswirkung auf das familiäre Zusammenleben und auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, – Probleme mit Eltern, Geschwistern, Freunden, – Fragen zu Liebe, Sexualität/Homosexualität, – selbstverletzendes Verhalten, – migrationsbedingte Identitätskonflikte und Integrationsprobleme, – häusliche Gewalt, – Krankheit und Behinderung.

Qualitätskriterien Drei wesentliche Qualitätsstandards für die Arbeit von Erziehungsberatungsstellen sind Niederschwelligkeit, Erstkontakte sowie Teamarbeit. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Niederschwelligkeit bedeutet möglichst kurze Wege durch eine gut erreichbare geographische Lage sowie durch Außensprechstunden in verschiedenen Stadtteilen. Darüber hinaus gehört dazu die Abschaffung zeitlicher, finanzieller und formaler Hürden für die Ratsuchenden, d. h. Verzicht auf Wartelisten, Einführung offener Sprechstunden, Abschaffung schriftlicher Anträge oder anderer Formalitäten vor dem Erstkontakt. Erstkontakte. Aus psychoanalytischer Perspektive ist der Erstkontakt von herausragender Bedeutung. Die meisten Menschen, die professionelle Hilfe suchen für ihre sehr persönlichen Sorgen und Probleme, haben zuvor selbst nach Lösungen gesucht, viele haben sich bei anderen Familienmitgliedern, bei Freunden und Bekannten, bei Erzieherinnen und Lehrern Rat geholt, viele haben auch im Internet nach Erfahrungsberichten und Erfahrungsaustausch sowie nach Ratgebern gesucht und konnten dabei entdecken, dass zu ihrem Problem viele Einträge und Seiten existieren. Manche von ihnen haben sich auch Ratgeber besorgt, alles im Bemühen darum, die sie bedrückenden oder beunruhigenden Probleme in den Griff zu bekommen. Und erst wenn trotz all dieser Bemühungen eine Lösung der Probleme nicht gefunden wurde, entschließen sie sich – oftmals schweren Herzens –, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und sich an eine Erziehungsberatungsstelle zu wenden. Ein solcher Entschluss geht in der Regel einher mit intensiven Affekten wie Scham- und Insuffizienzgefühlen, Angst, Hoffnung, aber auch Misstrauen und Abwehr. Dies zu berücksichtigen im allerersten Kontakt, den die Ratsuchenden zur Beratungsstelle herstellen, ist unter Umständen von herausragender Bedeutung für den Verlauf des gesamten Beratungsprozesses. Die Übertragung beginnt bereits beim Erstkontakt, sei dieser telefonisch oder persönlich (vgl. Figdor, 1999). Daher ist der Erstkontakt von sehr großer Bedeutung und sollte von qualifizierten Beraterinnen und Beratern gestaltet werden, und zwar dann, wenn die Ratsuchenden den ersten Schritt in die Beratungsstelle wagen und unabhängig davon, ob dies am Telefon oder persönlich erfolgt. Teamarbeit ist ein ebenfalls unverzichtbares Qualitätsmerkmal einer Erziehungsberatungsstelle. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf den Schutzauftrag der Jugendhilfe, sondern für sämtliche zu beratenden Personen und in sämtlichen ­Fällen. Die Besprechung aller Erstkontakte im Team, die gemeinsame Indikationsstellung und die Nutzung des Gruppenprozesses für das Verständnis der einzelnen Fälle sind meines Erachtens unverzichtbare Instrumente für hinreichend gute Beratungsprozesse. Dies bringt es mit sich, dass die Entscheidung darüber, wer aus dem Team sinnvollerweise welchen Fall übernimmt, Bestandteil der Teamarbeit ist. Die Frage nämlich, warum in der Beratungsstelle welcher Mitarbeiter welchen Klienten wie berät und warum und wie – wenn überhaupt – diese Beratung was bewirken soll, ist keineswegs einfach zu beantworten. Diese Frage zu stellen bedarf von Seiten des Leiters oder der Leiterin eines gewissen Mutes, denn sie wird als Kontrolle empfunden – und das ist damit ja auch intendiert. Kontrolle aber ist nicht gern gesehen und das gilt ganz besonders für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Beratungsstellen, die über recht hohe Qualifikationen verfügen, weitge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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hend eigenverantwortliche Leistungen erbringen müssen und noch immer von der »Kultur« der 1970er und 1980er Jahre geprägt sind, der zufolge Leitung möglichst unsichtbar nach innen agieren soll und Kontrolle nicht als Unterstützung, sondern als Entwertung empfunden wird. Die Frage also, warum in der Beratungsstelle welcher Mitarbeiter welchen Klienten wie berät und warum, erzeugt Angst, weil sie jeden Einzelnen mit der »Diffusität beraterischer Kompetenz« konfrontiert (vgl. Buchholz, 1988; Finger-Trescher, 1999) und eine Antwort auf diese Frage häufig nicht zufriedenstellend gegeben werden kann. Umso wesentlicher ist es, Transparenz über die in der Beratungsstelle angemeldeten und beratenen Fälle in den Teams herzustellen und neben der eigenen Verantwortung der einzelnen Beraterin und des einzelnen Beraters das Team als Ganzes mit der Verantwortung für die Leistungserbringung für die jeweilige Einrichtung zu betrauen und Teamarbeit als wesentlichen Bestandteil guter Beratungsarbeit zu fordern und zu f­ördern. Leiterinnen und Leiter tragen die Verantwortung dafür, dass optimale Organisationsstrukturen und ein optimales Organisationsdesign entwickelt und ausgestaltet werden können, und das, wie ausgeführt, unter Einbezug und Beteiligung der Teams. Leiterinnen und Leiter müssen Wandel und damit Entwicklung ermöglichen, gleichzeitig aber auch Sorge tragen für eine Stabilität, die notwendig ist für die schwierige, emotional belastende Arbeit mit Menschen, die sich in psychischen und häufig auch in ganz realen Notlagen befinden. Bevor ich die Bedeutung der Teamarbeit weiter ausführen werde, möchte ich anhand eines Fallbeispiels verdeutlichen, in welchem Spannungsfeld sich Erziehungsberatung heute bewegt und welche Bedeutung Leitung hierbei zukommt.

Fallbeispiel Persönliche Anmeldung durch die Mutter Frau Maier, eine türkischstämmige Mutter, die ausgezeichnet deutsch spricht, meldet sich bzw. ihren 8-jährigen Sohn Can persönlich in der offenen Sprechstunde an. Can mache ihr seit längerer Zeit Sorgen. In der Familie leben Herr Maier, der deutsche Vater von Can, Frau Maier und die zwei Kinder Can sowie seine 10-jährige Halbschwester Aylin aus einer vorherigen Ehe der Mutter. Die Schule und auch der Hort, den beide Kinder besuchen, üben großen Druck auf die Eltern aus. Can falle in der Schule auf durch unruhiges, unkonzentriertes Verhalten, er dominiere andere Kinder, vor allem jüngere. Auch gegenüber seiner Schwester verhalte er sich so. Er sei in der Schule in der Jungentoilette dabei erwischt worden, wie er einen anderen Jungen – einen jüngeren – zu sexuellen Handlungen aufgefordert habe. Aylin zeige im Hort auffälliges Verhalten, sie ziehe sich manchmal nackt aus und posiere so vor allem vor Jungs und den männlichen Betreuern, außerdem mache sie ungewöhnlich oft obszöne sexualisierte Bemerkungen über andere Kinder und auch über Erwachsene. Sie sei überdies für ihre Erzieherinnen kaum ansprechbar, ziehe sich zurück, wirke oft abwesend. Zu Hause gebe es viel Streit zwischen den Geschwistern, aber auch zwischen den Eltern. Die Beziehung der Eltern sei sehr angespannt. Zudem stehen die Eltern beruflich sehr unter Stress: Herr Maier ist selbständig und hat wenig Zeit, Frau Maier arbeitet am Flughafen beim © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Bodenpersonal einer türkischen Airline im Schichtdienst. Finanzielle Sorgen hat die Familie nicht. Mehr erfährt der Kollege im Erstkontakt nicht, weil während des Gesprächs einige Male das Mobiltelefon von Frau Maier läutet und sie die Gespräche auch annimmt, weil sie bereitstehen muss, um eventuell für eine erkrankte Kollegin einzuspringen. Fallverteilung In der darauf folgenden Teamsitzung spricht das Team über diese Anmeldung. Der Kollege, der das Anmeldegespräch geführt hatte, berichtet, dass ihm ein Widerspruch aufgefallen sei zwischen dem, was Frau Maier inhaltlich an doch sehr besorgniserregenden Verhaltensweisen der Kinder und auch der Eltern geschildert habe und der scheinbaren Beiläufigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der sie es erzählt hat. Es entsteht im Team der Eindruck, dass es sich hier um einen vielschichtigen Fall handeln könne, bei dem das Wesentliche noch im Verborgenen liege. Darüber hinaus äußern vor allem die weiblichen Teammitglieder die Phantasie, es kann sexueller Missbrauch vorliegen. Eine Kollegin, Frau Z., übernimmt den Fall und bittet beide Eltern zwei Tage später zu einem weiteren persönlichen Gespräch. Erstes persönliches Gespräch mit beiden Eltern Die Kollegin beschreibt die Eltern als freundlich und zurückhaltend. Sie seien beide sichtlich bemüht gewesen, einen positiven Eindruck zu machen, sie zeigten sich besorgt wegen der Kinder, aber auch erstaunt darüber, dass Schule und Hort ihrer Ansicht nach etwas übertrieben reagierten. Die heftigen Streitereien führen sie darauf zurück, dass es in der Ehe seit geraumer Zeit kriselt, dass es viel Streit zwischen den Eltern gebe und die Kinder das alles mitbekommen. Thematisiert wurde von Frau Maier, dass ihr Mann häufig nächtelang nicht nach Hause komme. Er verspreche morgens, zum Abendessen nach Hause zu kommen, und schicke dann kurz vorher eine SMS, dass es spät werden könnte. An dieser Stelle des Gesprächs habe sich eine sehr lautstarke, aggressive Auseinandersetzung zwischen beiden entfacht. Beide seien voller gegenseitiger Vorwürfe. Herr Maier mache deutlich, dass die Streitereien kaum auszuhalten seien, und er habe es satt, dass seine Frau ihm hinterherspioniere. Dennoch haben beide noch nicht ernsthaft eine Trennung in Erwägung gezogen. Nachdem Frau Z. die Eltern darauf angesprochen habe, dass bei so vielen Belastungen durch Beruf und Eheprobleme die Kinder leicht aus dem Blick geraten könnten und die Kinder mit diesen vielen Belastungen überfordert seien, betonten die Eltern, es werde viel mit den Kindern unternommen, Ausflüge, Fahrradtouren, Schwimmbad und vieles mehr. Die Kinder hätten viele Spielsachen zu Hause und auch Haustiere. Außerdem hätten die Kinder viel Kontakt zu den Großeltern und Geschwistern der Eltern, besonders der Mutter. Die Kollegin vereinbarte mit den Eltern einen weiteren Termin, an dem sie die Kinder kennenlernen wollte. Exploration mit den Kindern Während des zweiten Gesprächs mit beiden Eltern bittet Frau Z. diese, im Wartezimmer Platz zu nehmen, da sie mit den Kindern allein sprechen wolle. Im Anschluss daran wendet sie sich an die Leiterin der Einrichtung, während Eltern und Kinder warten. Sie berichtet: Sie habe mit den Kindern gesprochen, sie seien anwesend. Sie, Frau Z., ist nun davon überzeugt, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Beide Kinder haben ihr erzählt, dass sie von den Eltern geschlagen würden, wenn sie nicht hören. Wenn sie dagegen brav seien, dürften sie mit dem Vater an dessen Computer spielen und surfen. Auf die Frage, was für Spiele oder Seiten das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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seien, die sie mit dem Vater besuchen, sagten beide, das sei doch ein Geheimnis. Manchmal, wenn der Papa nicht zu Hause sei, würden sie auch mal heimlich an seinem PC surfen. Frau Z. und die Leiterin beschließen, das weitere Gespräch mit den Eltern gemeinsam zu führen und diese dabei auch mit den Aussagen der Kinder zu konfrontieren, um einschätzen zu können, ob mit den Mitteln der Erziehungsberatung die Gefährdung der Kinder abzuwenden ist. Zweites Gespräch mit beiden Eltern Frau Maier ist erstaunt darüber, dass die Leiterin zum Gespräch hinzugezogen wurde, und es beunruhigt sie offensichtlich. Frau Z. erläutert den Eltern, warum das so ist und dass Sie und die Leiterin ihrem Schutzauftrag gemäß möglichst gemeinsam mit ihr, Frau Maier, und ihrem Mann versuchen wollen, eine Hilfe zu entwickeln, die geeignet erscheint, um ihr Erziehungsverhalten dahingehend zu ändern, dass sie im Konfliktfall die Kinder nicht mehr schlagen. Frau Maier ist sichtlich erschrocken, sie verharmlost zunächst das Schlagen: Die Kinder hätten allenfalls einmal einen Klaps bekommen, das sei ja wohl nicht so schlimm. Außerdem komme das selten vor. Es wird vorsichtig mit ihr besprochen, in welchen Situationen dies vorkommen könnte, wobei Schuldzuschreibungen und Vorwürfe vermieden werden. Aber es ist sehr deutlich, dass Frau Maier sich ertappt fühlt und Angst hat vor möglichen Konsequenzen. Herr Maier dagegen ist zunächst wie versteinert, sagt kein Wort. Frau Maier aber betont, ihr Mann schlage auch ab und zu mit einem Stock, das sei für ihn nichts Besonderes. Auf die Frage, welche Seiten Herr Maier mit den Kindern im Internet besuche, reagiert dieser nun sichtlich erschrocken. Er stammelt etwas bei der Antwort und sagt ausweichend: »Ach, mal dies, mal das, je nachdem, auf was die Kinder gerade Lust haben.« Frau Maier dagegen sagt, sie wisse, dass ihr Mann viele Sexseiten im Internet besuche, manchmal sogar stundenlang, auch an den Wochenenden. Sie äußert die Vermutung, dass er den Kindern manchmal solche Seiten zeige bzw. dass er gar nicht darauf achte, was die Kinder anschauen, er sei überhaupt nicht prüde, werfe ihr aber vor, verklemmt zu sein. Er laufe auch nackt durch die Wohnung, dusche bei offener Badezimmertür und betrete auch das Badezimmer, wenn ihre Tochter dusche, und kommentiere ihre gerade beginnende Schambehaarung, obwohl diese das nicht möchte. Er wolle nicht, dass die Kinder verklemmt und prüde aufwachsen, sondern ein natürliches Verhältnis zum Körper entwickeln. Herrn Maier ist diese Wendung des Gesprächs sichtlich peinlich, er versichert, künftig seinen PC und vor allem entsprechende Seiten zu sichern, so dass die Kinder keinen Zugang dazu haben. Schlagen werde er auch nicht mehr. Es ist spürbar, dass er das Gespräch so schnell wie möglich beenden möchte. Drittes Gespräch mit beiden Eltern Frau und Herr Maier erscheinen pünktlich zum Gespräch, beide sehen verbittert und erschöpft aus. Offenbar ist wieder heftig gestritten worden. Herr Maier versichert von sich aus, die Kinder nicht mehr zu schlagen, er werde die Kinder auch nicht mehr an seinen PC lassen bzw. für die Kinder einen eigenen PC anschaffen. Er habe das Schlagen nie wirklich gewollt, aber es sei doch immer wieder passiert. Die Sexseiten im PC habe er nicht für so schlimm gehalten, das sei doch etwas Natürliches und er habe ja keine Kinderpornographie oder illegale Seiten angeschaut. Den Vorschlag der Beraterinnen, dass sie sich gegenseitig vor dem Schlagen bewahren sollten, nehmen sie auf. Für Frau Z. und die Leiterin ist jedoch nicht ersichtlich, ob sie tatsächlich in der Lage sein werden, dieses Verhalten zu ändern. Den Eltern wird vorgeschlagen, zu einer Reihe weiterer Gespräche bei der Kollegin Z. zu kommen und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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auch die Kinder in regelmäßigen Abständen vorzustellen, was sie zusichern. Trotz des Drucks, den die Beraterinnen ausüben müssen, und der mit den Gesprächen verbundenen Kontrolle, zeigen beide Eltern eine Art von Erleichterung, so als ob eine Last von ihnen genommen sei.

Dieses Fallbeispiel verdeutlicht, wie stark der in § 8a SGB VIII festgeschriebene Schutzauftrag die inhaltliche Arbeit der Beratungsstellen und die fachliche Gestaltung der Beratungsprozesse beeinflusst. Die psychodynamische Dimension, die das Verstehen der Konfliktlagen und unbewussten oder auch bewussten Motive der Ratsuchenden – sowohl der Kinder und Jugendlichen als auch der Eltern – in den Fokus nimmt, diese Dimension tritt bei Kindeswohlgefährdung zunächst einmal in den Hintergrund, zumindest scheinbar. Denn die Gewährleistung des Schutzes hat oberste Priorität. Erst wenn dieser sicher gestellt ist, kann Beratung – im Einverständnis mit den Ratsuchenden – sich der psychischen, emotionalen Bedeutung der problematischen Entwicklung im familiären Zusammenleben, in der kindlichen Entwicklung, auch in der Eltern-Paar-Beziehung zuwenden. Erst dann kann versucht werden, zu verstehen, warum die Entwicklung so geworden ist, wo die möglichen Ursachen liegen, und erst dann kann an möglichen Lösungen oder an der Wiederherstellung von Entwicklungsschancen und Bewältigungsstrategien gearbeitet werden. Dennoch – und das erscheint als Paradoxon – ist es genau diese psychodynamische Dimension, die bereits im ersten Schritt – im Sicherstellen des Schutzes der Kinder – unbedingt berücksichtigt werden muss, wenn weitere Beratungsprozesse nicht scheitern sollen. D. h., trotz auszuübender Kontrolle und Intervention ist darauf zu achten, dass sich die gefährdenden Eltern als Menschen mit inneren Beweggründen, mit persönlichen Grenzen und auch mit ihren positiven elterlichen Motiven gesehen und angenommen fühlen. Zwar werden bestimmte ihrer erzieherischen »Maßnahmen« missbilligt und unterbunden, doch das bedeutet nicht, dass sie keinen Anspruch auf empathische und anerkennende Beratungsleistungen hätten. Im Gegenteil: Diese Eltern benötigen möglicherweise professionelle und d. h. nicht entwertende Beratung, einen verstehenden Zugang zu ihren inneren persönlichen Beweggründen – mehr noch als viele andere.

Fachliche Qualitätssicherung in der Team-Gruppe Die Zusammenarbeit im Team ist eine nicht verzichtbare Bedingung für die fachliche Qualität der Beratungsprozesse. Der Klärungs- und Verstehensprozess in der Team-Gruppe ist besonders bei schwierigen, komplizierten Fällen von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Ich spreche ausdrücklich von der Team-Gruppe, weil für die Reflexion der Fälle letztendlich der sich entwickelnde Gruppenprozess ausschlaggebende Bedeutung hat. (vgl. Finger-Trescher, 1999). Gruppen sind nicht primär durch die Individuen, die Teile dieser Gruppe sind, zu definieren, sondern durch die Interaktionen, die ihre Besonderheit ausmachen und die die einzelnen Teile verändern. Spezifisch für Gruppen ist das Phänomen der »Valenz« (vgl. Bion, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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1962), d. h. eine spontan sich herstellende gemeinsame unbewusste Phantasie und identifikatorische Resonanz (vgl., Moeller, 1975; Ohlmeier, 1976). Dabei erzeugt das Gruppenthema, der Fall, in jedem einzelnen Gruppenmitglied eine Resonanz. »Es ist, als ob durch das Anschlagen einer Saite oder eines ganz bestimmten Tones eine spezifische Resonanz im aufnehmenden Individuum, dem Rezipienten, ausgelöst würde« (Foulkes, 1964, S. 31). Es handelt sich um eine Form »induzierter szenischer Spontandarstellung« (König, 1974) in der Gruppe, um Spiegelprozesse, die ganz unterschiedliche Facetten der intrapsychischen und interpersonellen Dynamik des Falls zusammenfügen. Das Gruppengeschehen ist insofern real und irreal, Phantasie und Realität zur gleichen Zeit. Die Resonanz- und Spiegelungsphänomene, die für Gruppen so typisch sind, sind äußerst wertvoll im Hinblick auf den Verstehensprozess im jeweiligen Fall. Es ist Aufgabe der Leiterin oder des Leiters, diesen Verstehensprozess im Sinne einer Reflexion der Interaktionsszenen immer wieder einzuleiten, zu vermitteln, zu steuern. Dass es hierbei nicht um gleichsam originalgetreue Spiegelungen geht, liegt auf der Hand, da jede Resonanz subjektiv gefärbt ist. Es geht auch nicht um Objektivität, sondern um interpersonelle Interaktionen, um einen Prozess interpersonellen Verstehens, der die ganze Palette menschlicher Emotionen und Affekte umfasst.

Fallbeispiel Kollegin R. berichtet in der Teamsitzung von der Anmeldung eines Vaters, Herr Saulic, dessen 6-jähriger Sohn Fadil in der Vorklasse auffalle, störe und auch zu Hause wild und bockig sei. Der Vater führt das Verhalten des Sohnes auf Schwierigkeiten in der Ehe der Eltern zurück. Beide Eltern stammen aus Bosnien. Der Vater des Jungen lebt seit 20 Jahren in Deutschland, er hat aus einer vorherigen Ehe noch zwei Kinder: eine 20-jährige Tochter und einen 22-jährigen Sohn. Die Tochter ist bereits verheiratet und hat ein einjähriges Kind. Fadils Mutter lebt seit 7 Jahren in Deutschland, beide Eltern sprechen gut deutsch. Frau Saulic war in ihrem Heimatland berufstätig als Arzthelferin. Seit zwei Jahren, seit Herr Saulic arbeitslos ist, übt sie ihren Beruf wieder aus, sie ist angestellt in einer Kinderklinik. Herr Saulic beklagt sich bitterlich über seine Frau, die ihn und vor allem das Kind vernachlässige, ständig Streit anfange und drohe, mit Fadil nach Bosnien, zu ihrer Familie, zurückzukehren. Er müsse alle Einkäufe erledigen und sich um den Haushalt kümmern, seine Frau sei kaum zu Hause, sie wolle jetzt sogar eine Zusatzausbildung beginnen und wäre dann abends, wenn das Kind schlafe, nicht mehr ansprechbar, weil sie lernen müsste. Das habe sie ihm kürzlich eröffnet. Die Diskussion im Team dreht sich um die Frage, wer in der Familie Beratung braucht bzw. wünscht und was Beratung bewirken solle. Kollegin R. berichtet, Herr Saulic habe ganz am Ende des Gesprächs von ihr verlangt, sie solle seine Frau anrufen und zu einem Gespräch auffordern, gleichsam um sie mit ihren Mängeln als Ehefrau und Mutter zu konfrontieren. Das hat die Kollegin selbstverständlich – und zu Recht – abgelehnt. Es vergehen weitere 15 Mi­ nuten mit Überlegungen, ob es sich um eine arrangierte Ehe handeln könnte, ob es Gewalt in der Ehe geben könnte usw. Es wird eines deutlich: Niemand möchte den Fall übernehmen, alle weichen dieser Frage aus. Dabei handelt es sich keineswegs um einen ungewöhnlichen Fall. Im Gegenteil: Ähnlich gelagerte Beratungsanlässe gehören zum normalen Alltag © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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in der Beratungsstelle. Die Leiterin sieht sich nun gezwungen, den Fall doch noch »an den Mann« zu bringen, was auf diese Weise sehr selten vorkommt. Das gelingt erst einiger­ maßen zufriedenstellend, nachdem die unterschwellig aggressive Gegenübertragung, die offensichtlich die Dynamik der Teamsitzung beherrschte, angesprochen und als solche erkannt wurde. Hierdurch konnte die mögliche Not des Kindes, von dem bislang kaum die Rede war, in das Blickfeld rücken und ebenso die Verletztheit des Herrn Saulic, der momentan nicht in der Lage zu sein schien, die psychischen Probleme seines Sohnes zu sehen und zu verstehen und aufgrund seiner eigenen Verletztheit sich seinem Kind derzeit nicht wirklich zuwenden konnte. Ein Kollege erklärt sich dann bereit, den Vater oder beide Eltern, falls beide es wünschen, weiterhin zu beraten, er werde auf Wunsch von Vater und Mutter auch mit dem Kind sprechen und gegebenenfalls eine Diagnostik durchführen. An dieser Stelle nun, an der Kollegin R. diesem Kollegen das Protokoll des Anmeldegesprächs übergeben will, stellt sie fest, dass das Formular für die persönlichen Daten wie Telefonnummer und Anschrift leer ist, sie hat ganz offensichtlich vergessen, Herrn Saulic nach diesen Daten zu fragen. Erneut wird nun diskutiert, wie jetzt zu verfahren sei, da Herr Saulic auf einen Rückruf und einen Termin wartet. Und natürlich stellt die Leiterin die Frage, was diese Fehlleistung zu bedeuten habe und was die ganze zähe Diskussion und Schwierigkeit, diesen Fall zu verteilen, möglicherweise aussagt über die familiäre Dynamik des Falls. Es wird die Phantasie geäußert, Frau Saulic habe ihren Mann möglicherweise innerlich bereits verlassen, es lohne daher nicht, weitere Beratung anzubieten, zumal Herr Saulic vielleicht nichts für sein Kind will, sondern nur seine Frau gefügig machen möchte. Es wird Einigung darüber hergestellt, dass man abwarten müsse, ob Herr oder Frau Saulic oder beide sich wieder an die Beratungsstelle wenden werden, um sich nach dem versprochenen Termin zu erkundigen. Und tatsächlich kommt wenige Tage später Herr Saulic erneut in die Sprechstunde und beklagt mit großer Empörung und Wut, dass seine Frau mit dem Kind aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen sei, sie hatte die neue Wohnung angemietet, ohne ihn davon zu unterrichten. Und nicht nur das: Sie habe ein Verhältnis mit einem Pfleger aus dem Krankenhaus, das habe er herausgefunden. Und nun wird auch im Gespräch mit dem Berater ganz deutlich, dass er sich nicht etwa Gedanken macht um die Entwicklung seines Kindes bzw. hierfür Beratung sucht, sondern eigentlich erwartet, dass die Beratungsstelle seine Frau zur Rechenschaft zieht, weswegen weitere »Beratungsgespräche« tatsächlich nicht in Frage kommen. Die Dynamik der Teamsitzung hat somit im Sinne eines Spiegelungsphänomens weitgehend aufgezeigt, worin der aktuelle familiäre Konflikt bestand. Herr Saulic war über die Untreue seiner Frau so außer sich, so verletzt und wütend, so sehr in seiner Ehre gekränkt, dass zum Gesprächszeitpunkt kein Arbeitsbündnis herzustellen war, da er die Trennung noch nicht akzeptieren konnte und eigentlich ausschließlich daran interessiert war, diese rückgängig zu machen, wofür ihm fast jedes Mittel recht schien. Daher hatte der beratende Kollege lediglich die Möglichkeit, ihm gegenüber sein Verständnis für die tiefen Gefühle der Kränkung und Verletzung zum Ausdruck zu bringen und ihm anzubieten, die Beratungsstelle wieder aufzusuchen, falls er Gesprächs- bzw. Beratungsbedarf haben sollte.

Leitung – Eine Machtfrage? Dass Leitung auch in psychosozialen Einrichtungen, speziell auch in Beratungseinrichtungen, sinnvoll und vonnöten ist, ist mittlerweile weitgehend anerkannt. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Dennoch fällt auf, dass nach wie vor eine Tendenz vorhanden ist, die mit Leitung notwendig verbundene Macht möglichst nicht zu aktivieren bzw. sie eher zu verschleiern. Das hat bezogen auf Erziehungsberatungsstellen in Deutschland eine lange Tradition. In den 1970er und 1980er Jahren hat sich der Gedanke etabliert, dass Hierarchien und speziell Leitung in Erziehungsberatungsstellen unnötig oder gar schädlich seien. So hat die KGSt (Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement) 1980 vorgeschlagen, Leitungsaufgaben nach drei unterschiedlichen Modellen zu gestalten: 1. nach dem Rotationsprinzip, d. h. abwechselnd von jedem Teammitglied, und/ oder 2. ganz oder teilweise von einem Teammitglied und/oder 3. von einer Leitungsgruppe, die sich aus Mitgliedern des Teams zusammensetzt (vgl. Hundsalz, 1995, S. 116). »In den 70er und 80er Jahren war ein deutlich wahrnehmbarer Trend in den Teams der Erziehungs- und Familienberatungsstellen zu erkennen, die notwendigen Anforderungen nach Kollegialität und gegenseitiger Unterstützung über die Forderung nach Gleichheit zu realisieren und dabei die gegebenen Hierarchiestrukturen zu leugnen. Dies war sicherlich mitbedingt durch den Wunsch, überkommene Autoritätsstrukturen zu hinterfragen und eine bessere Gesellschaft aufzubauen« (Hundsalz, 1995, S. 120). Dennoch sind die faktischen Ungleichheiten wie auch die Hierarchien keineswegs verschwunden und lassen sich auf einen Blick erkennen anhand der Zusammensetzung der Teams mit unterschiedlichen Qualifikationen, wie es § 28 SGB VIII vorschreibt. Gemäß den hier genannten gesetzlichen Vorgaben und Aufgaben sind in den Erziehungsberatungsstellen Fachkräfte unterschiedlicher Qualifikationen beschäftigt und sie werden auch unterschiedlich bezahlt. In der Regel arbeiten dort Diplom-Psychologinnen oder -Psychologen, Diplom-Sozialarbeiterinnen oder -Sozialarbeiter, Diplom-Pädagoginnen oder -Pädagogen, gelegentlich auch andere Fachkräfte wie zum Beispiel Diplom-Soziologinnen und -Soziologen oder Heilpädagoginnen bzw. Heilpädagogen. Sie verfügen neben ihren Grundqualifi­ kationen in aller Regel auch über unterschiedliche beraterische und/oder therapeutische Zusatzqualifikationen. Familientherapeutische Ansätze, hier vor allem systemische, machen dabei einen hohen Anteil aus, klassische psychoanalytische Ausbildungen dagegen sind eher selten geworden. Ein Teil der Fachkräfte verfügt über eine Approbation als Psychologischer bzw. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Die vom Gesetzgeber geforderte fachliche Vielfalt ist hierdurch gewährleistet. Allerdings sind durch die Differenzen in Qualifikation und Bezahlung offenkundige Differenzen und auch Konkurrenzen in den Teams angelegt, zumal die faktische Verteilung der Aufgaben sich nur zu einem relativ kleinen Teil an den unterschiedlichen Qualifikationen und Vergütungen orientiert. D. h., nicht alle, aber doch ein sehr großer Teil der anfallenden Beratungsleistungen wird ungeach© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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tet der fachlichen Differenzen in den Teams verteilt. Diagnostische Testverfahren, Kinderpsychotherapien und spezifische andere Leistungen wie zum Beispiel ­Supervision und Beratung für Fachkräfte anderer Institutionen werden in einigen Beratungsstellen, aber nicht zwingend in allen, von ausschließlich hierfür spezifisch qualifizierten Fachkräften, übernommen. Da in aller Regel die Beratungs­ stellen personell unzureichend ausgestattet sind, ist eine andere, spezifischere Vorgehensweise auch kaum möglich. Die Frage etwa, ob im Fall X eher ein systemisch-familientherapeutischer Ansatz oder aber ein tiefenpsychologisch orientierter kindertherapeutischer Ansatz geeignet sei, ist eine durchaus wesentliche Frage, die aber in vielen Fällen gar nicht gestellt werden kann, weil die anfragenden Klienten versorgt werden müssen, andernfalls entstünden unter Umständen sehr lange und unzumutbare Wartezeiten. Es kann somit durchaus vorkommen, dass das fachliche Angebot, das einer ratsuchenden Person gemacht wird, eher als zufällig denn als fachlich begründet erscheint. Der »Mythos von der Gleichheit aller« (Buchholz, 1988, S. 285) wird auf diese Weise erhalten. Faktisch muss jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter in einer solchen Beratungsstelle fähig und in der Lage sein, auf die breite Vielfalt der zu bearbeitenden Fallkonstellationen angemessen und professionell zu reagieren. Aufgabe von Leitung ist es hier aber dennoch, bei der Verteilung der angemeldeten Fälle im Team darauf zu achten, dass die fachliche Angemessenheit im Sinne eines »good enough« gewahrt bleibt (vgl. Winnicott, 1962), d. h., die Verteilung der Fälle entsprechend zu steuern. Fachliche Konkurrenzen sind also durchaus gegeben, ebenso wie die informelle Macht, die Teams auf unterschiedliche Weise ausüben. Wird dies allerdings geleugnet oder tabuisiert, dann kann daraus keine fruchtbare fachliche Weiterentwicklung entstehen. Anstelle dessen wirken die (un-)»heimlichen« Konkurrenzen in diesem Fall hinterrücks entwicklungshemmend und behindern die Arbeit. Formale Macht, wenn sie sicht- und erfahrbar wird, wird häufig als etwas Negatives abgewehrt und abgewertet, wohingegen die informelle Macht, die gleichsam im Schatten der formalen Macht und im Schatten notwendig zu erbringender Arbeitsleistung wirkt, von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist (vgl. Buchholz, 1988; Finger-Trescher, 1999). Die Tabuisierung von Macht ist Folge eines bei Helferberufen sehr häufigen Ich-Ideal-Bildes, in dem Aggression verpönt ist, stattdessen spielen aber Helfen-Wollen und Gebraucht-Werden ebenso wie ein gewisses »Gutmenschentum« eine zentrale Rolle. Buchholz bezeichnete vor mehr als zwanzig Jahren zwei wirksame Mechanismen in Teams von Erziehungsberatungsstellen: »Helferaktivismus und Selbsterfahrung« (Buchholz, 1988, S. 26). Diese in leicht karikierender Form beschriebenen Dynamiken sind keineswegs nur in Erziehungsberatungsstellen zu finden, sondern in vielen (psycho-)sozialen Einrichtungen. Helferaktivismus und Selbsterfahrung als Motivlagen scheinen Machtverhältnisse auszuschließen, tatsächlich aber kaschieren sie die informellen Machtverhältnisse und den Kampf um Machtpositionen. Dies ist unproblematisch, solange die primäre Aufgabe der jeweiligen Institution nicht aus dem Auge verloren wird und die notwendigen Arbeitsprozesse nicht blockiert werden. Das © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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aber wäre dann der Fall, wenn die Arbeitsabläufe nicht hinterfragt werden dürfen und deren mögliche oder auch notwendige Optimierung und Veränderung tabuisiert würden. Macht in Beziehungskontexten auszuüben, ist sicherlich ein nicht unwesentliches bewusstes oder unbewusstes Motiv für die Wahl eines helfenden Berufs. Denn in der Arbeit mit einem abhängigen und hilfesuchenden Klienten kann man sich selbst unhinterfragt bedeutsam, stark und mächtig erfahren. Macht ist also keineswegs nur ein Merkmal von Leitung.

Leiten – Zielvereinbarungen und Partizipation Das formale Anforderungsprofil von Leitungsstellen in Beratungsstellen, wie sie etwa in Stellenbeschreibungen zu finden sind, umfasst folgende Merkmale: – Dienst- und Fachaufsicht, Mitarbeiterführung, – Ressourcenverantwortung, – Außenvertretung der Einrichtung gegenüber Kunden (Eltern, Kinder, Jugend­ liche und junge Erwachsene) und Institutionen (Soziale Dienste, Kinder­ tageseinrichtungen, Schulen, Staatliche Schulämter, Ärzte, Sozialpädiatrische Zentren, niedergelassene Psychotherapeuten, Ergotherapeutinnen, Logopäden, Kliniken, Kollegen, Polizei), – Innovationsmanagement, Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung, – Öffentlichkeitsarbeit, zum Beispiel wissenschaftliche Vorträge und Publika­tionen, – Mitwirkung in Gremien, – Fallbearbeitung im Sinne von Wahrnehmung der Aufgaben nach §§ 27ff und § 8a SGB VIII. Die hier aufgeführten Aufgabenbenennungen sagen indes noch nicht viel aus über die Qualität der zu erbringenden Leistungen. Selbstverständlich muss die Qualifikation der Leiterinnen und Leiter, aber auch der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so ausgerichtet sein, dass die Erfüllung der Aufgaben möglich ist, und sie muss den stets wachsenden und sich auch ändernden Bedarfen angepasst werden. Innovationsmanagement oder Change Management ist insofern zentral, als jede Institution wie auch jede Gesellschaft einem permanenten Wandel unterliegt und einen solchen Wandel auch zulassen muss, um nicht zu erstarren. Grundsätzlich muss Leitung sowohl strukturbezogen als auch personenbezogen aktiv sein. Sowohl die strukturbezogenen als auch die personenbezogenen Leitungsaktivitäten bedürfen gerade in psychosozialen Einrichtungen eines partizipativen Führungsstils. Dies gilt umso mehr für Einrichtungen mit sehr qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wie zum Beispiel Erziehungsberatungsstellen. Diese erwarten aufgrund ihrer Ausbildung, ihrer Weiterbildungen, ihres Status und der Verantwortung für die von ihnen zu gestaltenden Beratungsprozesse, an Entscheidungen beteiligt zu werden und am Prozess der Entscheidungsfindung mitzuwirken, und entwickeln gerade durch Zielvereinbarungen und Partizipation an diesen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Prozessen häufig eine hohe Motivation für die Umsetzung dieser Entscheidungen (vgl. Merchel, 2004). Leitungskräfte sollen die Kunst beherrschen, in einem eigentlich unkalkulierbaren Bereich kalkulierbare Wirkungen zu erzielen (vgl. Merchel, 2004, S. 27). Hierfür benötigen sie vielfältige Kompetenzen. Merchel unterscheidet fünf Kompetenzbereiche für das erforderliche Sozialmanagement: »Fachkompetenz, Prozesskompetenz, Organisationskompetenz, ökonomoische Managementkompetenz und Kompetenz als politischer Akteur« (S. 124). Es wäre indes illusionär zu glauben, dass eine Leiterin oder ein Leiter, der über all diese Kompetenzen verfügt, seine Einrichtung reibungslos und zielsicher steuern könne. Stolpersteine und Hindernisse können sowohl durch äußere Einflüsse (z. B. politische Entscheidungen) als auch durch ökonomische Faktoren (z. B. zu geringe finanzielle Ressourcen) als auch durch institutionsinterne Probleme plötzlich und unvorhergesehen oder auch anhaltend und strukturell verankert be- oder entstehen. Während Leiterinnen und Leiter beim Kampf gegen äußere oder strukturelle Hindernisse in der Regel mit der Solidarität ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter rechnen können, ist das beim Lösen oder Managen interner, vor allem personenbezogener Problemlagen keineswegs oder eher selten der Fall. »Führung wäre leicht zu erlangen und zu handhaben, wäre da nicht die unbequeme Tatsache, dass es ohne Gefolgschaft keine Führung geben kann, außer vielleicht einer wahnhaften« (Obholzer, 2000, S. 79). Dieses Zitat verdeutlicht, dass mit Führen untrennbar Sich-führen-Lassen verbunden ist und dass Leitung grundsätzlich ein Interaktionsprozess ist bzw. auf einer prozesshaften wechselseitigen Verhaltensregulation beruht. »Leitung in Organisationen der Sozialen Arbeit befindet sich also in einem strukturellen Dilemma: Die Eigenheiten der an die Organisation herangetragenen Aufgaben lässt strukturbezogene Steuerungs­formen nur begrenzt als funktional erscheinen und macht personenbezogene ­Leitungsaktivitäten erforderlich, während gerade solche personenbezogenen Leitungsaktivitäten durch den professionellen Status der Organisationsmitglieder und durch die Situationsgebundenheit der Aufgaben zum Teil abgewehrt werden« (Merchel, 2004, S. 33). Faktisch nehmen Leitungspersonen in sozialen Organisationen und ganz speziell auch in Beratungseinrichtungen eine Mittlerposition ein, insofern sie an der Grenze zwischen externen übergeordneten sowie externen kooperierenden Organisationen – in aller Regel Träger der Einrichtung – und der internen Organisation positioniert sind. Das Ausbalancieren der an dieser Grenze entstehenden Spannungen und Konflikte gehört ebenfalls zu den wesentlichen Leitungsaufgaben in diesen Einrichtungen.

Leitung – Das Prinzip der offenen Tür und die »Containing Function« Leitungskräfte tragen Verantwortung für die Konzeption ihrer Einrichtung, für notwendige Strukturen, damit die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen die primäre © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Arbeitsaufgabe der Einrichtung möglichst optimal erfüllen können. Sie tragen Verantwortung für die Beschaffung und fachgerechte Nutzung zeitlicher und materieller Ressourcen, für die Auswahl qualifizierten Personals und sie müssen Ressourcen zur Verfügung stellen, damit diese Qualifikationen nicht nur erhalten, sondern weiterentwickelt werden können. Insofern beeinflussen sie wesentlich die Kultur ihrer Einrichtung. Leitung in einer psychosozialen Einrichtung wie der Erziehungsberatungsstelle muss aber auch noch andere Aufgaben erfüllen. Die primäre Arbeitsaufgabe erzeugt auch und gerade bei den Mitarbeitern unbewusst Ängste, die wiederum – ebenfalls meist unbewusst – abgewehrt werden. »Die Gefahr des Scheiterns, des Nicht-erfüllen-Könnens der primären Aufgabe, ist daher in einer Organisation (jedenfalls unterschwellig) ständig präsent und stellt für Belegschaft und Leitung – wenn auch in unterschiedlichem Maße – eine hohe psychische und soziale Herausforderung dar. So muss im beruflichen Alltag neben der Verantwortung für das Erfüllen der primären Aufgabe auch das ständig existente Risiko des Scheiterns gemanagt werden« (Steinhardt u. Datler, 2005, S. 215). Institutionen neigen ebenso wie Individuen zur Homöostase, d. h. zum Festhalten an vertrauten Strukturen. Aufgabe von Leitung ist es dennoch, – Wandel zu antizipieren, Visionen der Optimierung und Veränderung zu ent­ wickeln, Neuerungen zu initiieren und – die damit verbundenen Befürchtungen und Ängste zu »containen« im Sinne Bions (Bion, 1962). Das Containment ist wesentlich, damit innerhalb des ängstigenden Wandels eine Stabilität erhalten bleiben kann, die es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ermöglicht, trotz der Ängste und Abwehrhaltungen sich wandelnden Strukturen und veränderten Aufgaben zuzuwenden, sie mitzudefinieren und deren Erfüllung zu gestalten. Mit der primären Aufgabe, Eltern in Erziehungsfragen und familiären Krisen zu beraten, Kindertherapien durchzuführen, Fachkräfte anderer Einrichtungen zu beraten und zu supervidieren waren auch vor Inkrafttreten des § 8a SGB VIII bewusste und unbewusste Ängste verbunden, die im Kontext vom primären Risiko, das mit jeder Art von Aufgabenerfüllung verbunden ist, zu verstehen sind (vgl. Hirschhorn, 2000). Bezogen auf die primäre Aufgabe von psychosozialen Beratungsstellen ist das primäre Risiko, persönlich, als Person, zu versagen, jedoch wesentlich höher als zum Beispiel in Verwaltungsbereichen, in der Fertigungsindustrie oder im Handwerk. Auch dort können Fehler gemacht werden, die unter Umständen zu erheblichen Schäden führen können, diese hängen indes nicht unmittelbar mit der Persönlichkeit des Verursachers zusammen. Vielmehr geht es hier um Fähigkeiten und Fertigkeiten instrumenteller Art. Im psychosozialen Bereich aber, respektive im Beratungsbereich, ist das Arbeitsinstrument des Beraters oder der Beraterin die eigene Person, die eigene Persönlichkeit. D. h., der Berater oder die Beraterin muss, um beraten oder therapieren zu können, in der Lage und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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fähig sein, sich auf einen regressiven Prozess einzulassen, intime Beziehungsgeschichten zu (er-)tragen, sich darin einfühlen und sich partiell auch damit zu identifizieren, er oder sie muss Irrationales und Widersprüchliches anerkennen und aushalten, Ambivalenzen sowie heftige Affekte und Konflikte zulassen, aber auch Widerstände und Abwehrhaltungen respektieren. Das kann nicht nur Angst hervorrufen, sondern auch an eigene unbewältigte Konflikte und Probleme rühren. Die Fähigkeit zu »containen«, d. h. die Fähigkeit, die teils heftigen Affekte und Konflikte des Klienten, aber auch der eigenen Person (aus-) zu halten und zu gestalten, dabei professionelle Distanz und Neutralität zu wahren, ist notwendig und die Basis für gelingende Beratungsprozesse. Eine professionelle Grundhaltung des »Nicht-Wissens« (vgl. Obholzer, 1994; Finger-Trescher, 1999) bildet die Voraussetzung für einen gemeinsamen Prozess des Erforschens, auf den sowohl Beraterin oder Berater als auch ratsuchende Klientinnen und Klienten sich einlassen müssen, um das Problem, dessentwegen Beratung erfolgen soll, und seine Ursachen verstehen und lösen zu können. Beratung ist ja immer nur als gemeinsamer Prozess von Ratsuchenden und Berater denkbar, als das, was Hoerster und Müller (1996) »koproduktive Erschließung von blockierten Entwicklungschancen« genannIn der psychoanalytisch-pädagogischen Beratung liegt dabei der Fokus auf dem Erforschen und Verstehen bisher nicht gewusster Konfliktlagen, Motive und Bedeutungen. Ebenso von Bedeutung ist aber auch der Prozess der gemeinsamen Konstruktion von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen und die Ermöglichung von neuen, von anderen affektiven und kognitiven Erfahrungen, die sich in der Folgezeit strukturell verankern können. Leiterinnen und Leiter von psychosozialen Beratungseinrichtungen müssen somit Strukturen schaffen, in denen diese schwierige Aufgabe bewältigt werden kann. Das bedeutet, dass Leiterinnen und Leiter ebenfalls eine Funktion des Containments übernehmen müssen, die ich als Prinzip der offenen Tür bezeichnen möchte. Menschen, die täglich gleichsam mit dem Leid anderer Menschen befasst sind, bedürfen einer besonderen Unterstützung und Entlastung. Leiten nach dem Prinzip der offenen Tür meint nicht mehr und nicht weniger, als dass Leitung in einem hohen Maße persönlich präsent ist, um in schwierigen fachlichen Situationen gemeinsam mit den Mitarbeitern Lösungen zu finden und einen ex-zentrischen Betrachtungsstandpunkt (wieder-)einzunehmen, der die jeweilige Fachkraft wieder in die Lage versetzt, angemessen professionell zu handeln. Eine fehlerfreundliche Atmosphäre oder Kultur, in der Fehlern und Schwächen, die ja niemals zu vermeiden sind, ein Raum zur Verfügung gestellt wird, in welchem sie verstanden und professionell reflektiert werden können, gehört ebenso zum Prinzip der offenen Tür wie das Containment, das Leiterinnen und Leiter bereitstellen müssen, um die Qualität der Beratungsprozesse in ihren Einrichtungen zu gewährleisten. Diesen Raum muss Leitung schaffen und die Tür zu diesem Raum sollte grundsätzlich offenstehen. Aufgabe von Leitung ist es last, but not least, die eigene Organisation, die ­eigene Institution aus der Perspektive der Kunden, hier: der Ratsuchenden, zu betrachten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Urte Finger-Trescher · Beratungsqualität und Leitungsqualität

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und entsprechend die internen Strukturen sowie die Beratungsprozesse zu steuern. Dabei muss für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deutlich werden, dass das Ziel letztendlich nicht verhandelbar ist, wohl aber haben sie einen Anspruch auf Bedingungen, die es ihnen ermöglichen, die Erreichung des Ziels oder der Ziele im Sinne eines »good enough« zu bewältigen.

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Rolf Haubl

Latenzschutz und Veränderungswiderstand Grundfragen psychodynamisch-systemischer Organisationsberatung

Wenn der Titel eines bekannten Sammelbandes »Psychodynamische Organisa­ tions­beratung« (Lohmer, 2000) lautet, dann wird wie selbstverständlich ein Begriff gebraucht, der seine Tücken hat. Denn »Organisationsberatung« lässt sich auf zwei verschiedene Arten verstehen: als Beratung in einer Organisation und als Beratung einer Organisation. Die erste Bedeutung ist vergleichsweise unproblematisch, die zweite fingiert dagegen Organisationen als Beratungsnehmer/-innen. Was aber kann es begründet heißen, wenn man davon spricht, Organisationen würden beraten? Denn als korporative Akteure sind sie kein Gegenüber, das Personen gleicht. Die folgende Darstellung ist keine lehrbuchmäßige Einführung in die psychodynamisch-systemische Organisationsberatung. Vielmehr erörtere ich einige Punkte, bei denen ich wiederholt die Erfahrung gemacht habe, dass sie gerne übersehen werden.

Was heißt es, eine Organisation zu beraten? Da Organisationen korporative Akteure sind, müssen sie von Rollenträger/-innen repräsentiert werden. Insofern setzt auch Organisationsberatung notwendig an Personen an. Ein Unterschied mag darin liegen, dass im spezifischen Fall einer Organisationsberatung die Beratung darauf zielt, Regeln zu entwickeln, durchzusetzen und verbindlich zu machen, die der Organisation als Ganzer eine Struktur geben, während es in anderen Fällen um eine Optimierung der Kompetenzen von Rollenträger/-innen geht. Allerdings ist diese Unterscheidung nicht überschneidungsfrei, da die Optimierung von Kompetenzen auch einer Optimierung von Strukturen dienen kann. Rollenträger/-innen, die beraten werden, repräsentieren mehr oder weniger große Ausschnitte einer Organisation und verfügen über mehr oder weniger große – formale und/oder informelle – Entscheidungs- und damit auch Strukturierungsmacht. Deshalb verwundert es nicht, wenn Organisationsberatung oft als Beratung von Leitungskräften verstanden wird, da Leitungskräfte als besonders mächtige Organisationsmitglieder gelten (dürfen). Nun sind Organisationen zwar zweckrationale soziale Systeme, die idealtypisch alle ihre Prozesse auf die optimale arbeitsteilige Erfüllung ihrer »primären Aufgabe« (Miller, 1976) ausrichten. Das heißt aber nicht, es würde eine quasi natürli© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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che Konvergenz der Interessen aller Organisationsmitglieder geben. Zugespitzt formuliert, ließe sich geradezu das Gegenteil behaupten: Organisieren verlangt permanent, divergierende Interessen zusammenzuführen. Für die Organisationsberatung hat das zur Folge, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt nie sicher ist, wen die Rollenträger/-innen, mit denen die Berater/-innen arbeiten, tatsächlich repräsentieren bzw. über wie viel Entscheidungs- und Strukturierungsmacht diese tatsächlich verfügen. In gewisser Weise ist das allerdings kein kategorialer, sondern nur ein gradueller Unterschied zu einer Beratung von Privatpersonen. Denn jede Privatperson, die sich – gleich mit welchem Anliegen – beraten lässt, begegnet ihrem Berater als Repräsentantin einer sozialen Matrix, auch wenn sie das selbst unterschätzen oder – individualistisch sozialisiert – sogar verleugnen mag. Ob sie die Einsichten, die sie während einer Beratung gewinnt, tatsächlich lebenspraktisch realisieren kann, hängt nur in Grenzfällen von ihr allein ab. Da folglich kein Rollenträger die gesamte Organisation repräsentiert, muss jede Organisationsberatung, die ihrem Begriff gerecht werden will, mehrdimensional verfahren. Sie muss verschiedene Settings bereithalten – Settings für die Beratung einzelner Rollenträger/-innen sowie Settings für Rollenträger/-innen, die zu einer größeren Organisationseinheit wie zum Beispiel einem Projektteam oder einer Abteilung verbunden sind. In jedem der Settings entsteht ein partikuläres Bild der Organisation als Ganzer, weshalb es einer Triangulierung dieser Perspektiven bedarf, um annähernd die ganze Organisation realistisch zu erfassen. Wo es in der Praxis zu einer Annäherung an diesen Idealtypus kommt, wird Organisationsberatung auch nicht von einzelnen Berater/-innen durchgeführt, sondern von einem Beraterteam, das die partikulären Einsichten der einzelnen Berater/-innen zu ­einem Gesamtbild zusammenfügt und in die einzelnen Beratungen zurückver­mittelt. Der Regelfall ist das nicht. Sehr viel häufiger sind in einer Organisation verschiedene Berater/-innen auf verschiedenen Ebenen unterwegs, die ihre Einsichten nicht zusammenfügen, weil sie unabhängig voneinander tätig sind und oftmals gar nichts voneinander wissen. Oder aber es gibt einen einzelnen Berater, der sukzessiv oder sogar gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen einer Organisation tätig ist und dadurch die Gelegenheit erhält, sich ein umfassenderes Bild der Organisation zu machen als ein Berater, der immer dieselbe Perspektive hat. Ein solcher einzelner, vom Idealtypus her gesehen: vereinzelter Berater muss sich damit behelfen, sich und die Rollenträger/-innen, die er berät, ständig daran zu erinnern, dass sie eine einseitige Perspektive auf die Organisation haben. Zudem kann er sie interventionsmethodisch anregen, die Perspektive von anderen Rollenträger/-innen zu antizipieren, um so die soziale Matrix zu rekonstruieren, von deren Kräftefeld sie beeinflusst werden. Nun ist im Begriff der Organisationsberatung aber nicht nur der Bestandteil »Organisation« problematisch, sondern auch der Bestandteil »Beratung«. Denn nicht alles, was Personen tun, die in der Rolle eines Beraters auftreten, entspricht der kommunikativen Gattung (Luckmann, 1986) einer Beratung. Berater/-innen empfehlen, belehren, betreuen, moderieren, trainieren und machen vieles andere © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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mehr. Legt man einen emphatischen Beratungsbegriff (Fuchs u. Mahler, 2000) zugrunde, dann ist Beratung in Organisationen vermutlich sogar eher selten. Denn sie setzt nicht nur die Freiwilligkeit der Teilnahme voraus, sondern auch eigenverantwortliches Handeln. Berater/-innen helfen, Problemlösemöglichkeiten zu entdecken, durchzuspielen und zu bewerten; welche dieser Möglichkeiten die Organisation wählt, bleibt einzig und allein ihr überlassen. (Dabei ist die Formulierung, es sei die Organisation, die wähle, nur dann legitim, wenn man sich bewusst hält, dass es immer Rollenträger/-innen sind, die dies, und sei es nach Maßgabe bestimmter Verfahrensregeln, tun.) Beratung als Teamleistung

Der Komplexitätsgrad des Klientensystems verlangt eine entsprechende Komplexität des Beratersystems. Folglich ist es für die Beratung von komplexen Organi­ sationen angezeigt, dass sie von einem Beraterteam durchgeführt wird, das mit Berater/-innen besetzt ist, die auf dem Hintergrund eines gemeinsamen Grundverständnisses über verschiedene Kompetenzen verfügen. Um daraus eine Stärke zu machen, bedarf es einer kontinuierlichen Teamentwicklung, denn die Kooperation der einzelnen Berater/-innen ist kein Selbstläufer (Nossal, 2009), sondern das Ergebnis einer kontinuierlichen und damit auch zeitaufwendigen Reflexion der bestehenden Kooperationsbeziehungen im Beraterteam. Gerade wenn ein solches Team multiprofessionell zusammengesetzt ist, entstehen leicht Spannungen aus einem Narzissmuss der kleinen Differenzen, der Kooperationswiderstände aufgrund befürchteter oder bereits eingetretener Kränkungen des eigenen professionellen Selbstverständnisses motiviert. Verlangt echte Teamarbeit, ein Bewusstsein dafür zu schaffen und aufrechtzuerhalten, dass die Qualität der eigenen Beratungsleistung notwendig von der Qualität der Beratungsleistungen aller anderen Berater/-innen abhängt, so droht dieses Bewusstsein immer wieder zu schwinden, zum Beispiel dann, wenn das Klientensystem den Problemlösungsdruck erhöht, mithin schnelle Lösungen einfordert und so verhindert, dass sich die Berater/-innen mit sich selbst befassen und womöglich ihre Kooperationsschwierigkeiten als Spiegelung (Kutter, 2009) von Kooperationsschwierigkeiten im Klientensystem thematisieren. Nicht selten ist dieser Widerstand bereits dadurch angebahnt, dass sich die Auftraggeber einer Organisationsberatung weigern, die Reflexionszeit des Beraterteams als geldwerte Leistung zu honorieren. Beratung als kommunikative Koppelung von Teilsystemen

Organisationsberatung muss sich auf den jeweiligen Organisationstyp einstellen, der beraten wird. In der Spätmoderne stehen Organisationen unter einem steigenden Flexibilisierungsdruck (Sennett, 1998). Sie schaffen Hierarchien und Bürokratien zwar nicht ab, setzen aber verstärkt auf Dezentralisierung und Entbürokratisierung. Dadurch erhöht sich ihr Kommunikationsbedarf. Denn nunmehr besteht eine Organisa© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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tion aus vielen autonomen Teilsystemen, die lediglich »lose gekoppelt« (Weick, 1976) sind. Diese Flexibilisierung wird durch eine dauerhafte De­stabilisierung erkauft, was von den Rollenträger/-innen verlangt, ein drängendes Sicherheitsbedürfnis aufzugeben und stattdessen auf Kommunikation und Fehlerfreundlichkeit umzustellen. Wenn Fehlerfreundlichkeit allerdings nur ein Lippenbekenntnis bleibt, werden Lernprozesse blockiert und Rollenträger/-innen mit einer narzisstischen Selbstdarstellung prämiert. Aber auch dann, wenn Lernprozesse nicht übersprungen werden, entstehen zwangsläufig Verwerfungen, weil es der Synchronisierung unterschiedlicher Lerngeschwindigkeiten bedarf. Flexibilisierte Organisationen reproduzieren somit ständig Schnittstellenprobleme zwischen ihren Teilsystemen, deren Lösung die Optimierung kommunikativer Selbststeuerungsprozesse verlangt. Ob sie Erfolg haben, hängt nicht zuletzt von einer veränderten Einstellung zu Konflikten ab. So wie Fehler auf der Sachebene, sind Konflikte auf der Interaktionsebene produktiv zu wenden: Statt sie zu verheimlichen, sollen sie ausgetragen werden, freilich nicht im Sinne einer apodiktischen Feststellung, welche Konfliktpartei die richtige Problemlösung zu bieten hat, sondern als Diversifikation von denkbaren Problemlösungswegen. Die skizzierte Umstellung von Befehl und Gehorsam auf kontinuierliche Aushandlungsprozesse schafft einen kontinuierlichen Bedarf an Organisationsberatung, in der die Berater/-innen als Prozessoren gebraucht werden. Das heißt nun aber nicht, sie könnten sich auf eine Prozessbegleitung zurückziehen, für die sie keine »Feldkompetenz« benötigen würden. Ohne die spezifische Strukturierung von Organisationen eines bestimmten Typs zu kennen, werden auch deren interne und externe Kommunikationsprobleme verkannt. Beratung im Rahmen von Macht und Herrschaft

Organisationsberatung wird dann nachgefragt, wenn Auftraggeber bei der Beobachtung der Dynamik in der Organisation, die sie repräsentieren, zu dem Schluss kommen, das etwas nicht so läuft, wie sie es sich vorstellen, oder dass sie vermuten, es könnte in absehbarer Zeit soweit kommen. Gemäß klinischer Terminologie lässt sich zwischen kurativen und präventiven Aufträgen unterscheiden: Die einen orientieren sich an bestehenden Symptomen, die anderen versuchen, Symptombildungen zu verhindern. Als Symptom erscheint in diesem Zusammenhang alles, was es den Rollenträger/-innen erschwert, ihre primäre Aufgabe als arbeitsteiligen Beitrag zu der erfolgreichen Erledigung der primären Aufgabe der Organisation als Ganzer erfolgreich zu erledigen, wozu auch Unklarheiten gehören, worin diese Aufgaben bestehen. Dabei ist nüchtern im Blick zu behalten, dass es in Organisationen – ob Profitoder Non-Profit-Organisationen – immer auch um Herrschaft geht. Damit sind Machtkämpfe an der Tagesordnung. Berater/-innen, die das ausblenden, werden nicht nur selbst enttäuscht, wenn sie erleben müssen, dass eine Organisation das Arbeitsleid ihrer Mitglieder solange nicht kümmert, wie es dazu beiträgt, schwarze Zahlen zu schreiben, sie enttäuschen auch die beratenen Rollenträger/-innen, wenn sie ihnen eine »Therapie« in Aussicht stellen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Wo Berater/-innen auf gruppenanalytische Konzepte zurückgreifen, gilt es, sich bewusst zu bleiben, dass Organisationen nur bedingt großen Gruppen gleichen. Macht und Herrschaft sind vernachlässigte Themen der Gruppenanalyse, die ihr Erklärungspotential schwächen und deshalb theoretisch und interventionspraktisch beseitigt werden müssen (Schülein, 2007; Haubl, 2005a). Organisationsberatung als prekäre Dienstleistung

In der Organisationsberatung sind Auftraggeber und Klient nicht identisch. Als Klienten treten Rollenträger/-innen auf, für deren Beratung die Organisation zahlt. Folglich ist in der Organisationsberatung die Freiwilligkeit der Klienten eingeschränkt. Zwar können Rollenträger/-innen ablehnen, beraten zu werden, eine solche Ablehnung würde aber wahrscheinlich als unbotmäßige Verweigerung interpretiert. Insofern müssen die Berater/-innen einerseits damit rechnen, dass sich Widerstand, der nicht vorab geäußert werden kann, in den Beratungsprozess selbst verlagert. Andererseits können Rollenträger/-innen einer Beratung in der Hoffnung zustimmen, in den Berater/-innen die Verbündeten zu finden, die sie brauchen, um ihre eigenen Interessen auch gegen den Widerstand der Organisation durchzusetzen. Berater/-innen tun gut daran, sich immer wieder neu die Frage zu stellen, warum (gerade) sie engagiert worden sind. Denn es wäre naiv, ungeprüft davon auszugehen, dass eine Organisation für eine Beratung offen sei, nur weil sie eine Beratung in Auftrag gibt und finanziert (Ameln et al., 2009). Nicht selten werden Berater/-innen einfach deshalb geholt, weil man eben Berater/-innen holt. Seitdem sich die moderne Gesellschaft zu einer »beratenen Gesellschaft« (Schützeichel u. Brüsemeister, 2004) entwickelt hat, gehört Beratung zu den Üblichkeiten. Infolgedessen wird der Verzicht auf Beratung rechenschaftspflichtig. Auch wenn es keine konkreten Nutzenerwartungen gibt, so kann Beratung doch auch nicht schaden, heißt es, was freilich deren Wirkung in Form von jederzeit möglichen unliebsamen, nicht intendierten Nebenfolgen verharmlost. Auch eine Beratung, mit der die Organisation ihren Mitgliedern lediglich signalisieren will, dass man sich ihre Entwicklung etwas kosten lässt, setzt einen Prozess in Gang, der sich einer lückenlosen Kontrolle entzieht. Insofern ist die Implementierung von Beratung eine Intervention, hinter der mehr oder weniger bewusste Erwartungen stehen. Eine sorgfältige Analyse der Auftragsvergabe und des Auftrags sollte deshalb in der Organisationsberatung ein unbedingtes Muss sein (Wellendorf, 2000) – auch und vielleicht gerade dann, wenn sich die Organisation den Berater/-innen als Kunde präsentiert, der eine Dienstleistung einkauft, die kritiklos seine Vorstellungen verwirklicht. Abgesehen davon, dass viele Aufträge diffus sind, gebietet es die Professionalität und das Ethos einer psychodynamischsystemischen Beratungsleistung, den Auftrag selbst einer Analyse zu unterziehen, da er so formuliert sein kann, dass die Beratung von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Denn Berater/-innen eignen sich gut als Sündenböcke. Gegebenenfalls werden sie engagiert, um sie scheitern zu lassen und dadurch einen Status quo zu befestigen, der vorderhand vermeintlich verändert werden soll. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Latenzschutz – systemisch

Organisationsberatung hat immer mit einem Sachverhalt zu tun, der auf alle Organisationen zutrifft: »Latenzschutz« (Luhmann, 1984, S. 459; 1991). Der Begriff lässt sich auf doppelte Weise verstehen. Zum einen meint er, dass Organisa­tionen ihre Strukturen und damit ihre Stabilität schützen, indem sie alles, was diese Strukturen unkontrolliert verändern könnte, kommunikativ latent zu halten suchen (Strukturschutz durch Latenz), zum anderen, dass sie die Latenz sichernde Kommunikation selbst davor zu schützen suchen, aufgedeckt, zur Sprache gebracht und zur Disposition gestellt zu werden (Schutz der Latenz). Zu den Strukturen, die latent gehalten werden, gehören immer auch die Herrschaftsverhältnisse in einer Organisation, zumindest soweit, wie zu befürchten steht, dass sie sich nicht hinreichend legitimieren lassen. Im einfachsten Fall wirkt sich der Latenzschutz einer Organisation so aus, dass die Rollenträger/-innen gehalten sind, bestimmte kritische Themen nicht zu besprechen oder gar nicht erst wahrzunehmen. Sie tun dies entweder aus Angst vor Sanktionen oder aber weil sie sich ihr Rollenhandeln nicht unnötig erschweren wollen. Denn die Thematisierung kritischer Themen erhöht die Komplexität ihrer Handlungsbedingungen, indem sie etwa Handlungsroutinen unterbricht und bis auf Weiteres aussetzt, ohne zu wissen, ob und wie lange es dauert, bis Handlungssicherheit zurückgewonnen worden ist. Insofern sind diejenigen Themen kritisch, deren Thematisierung womöglich zu einer Krise führt. Und Kennzeichen von Krisen ist ihr offener Ausgang. So gesehen dient Latenzschutz dazu, die Funktionsfähigkeit einer Organisation aufrechtzuerhalten. Beispiel eines bewusstseinsnahen Latenzschutzes: Die Schule hat als Institution der bürgerlichen Gesellschaft die Aufgabe, Lebenschancen über den Erwerb von Bildungszertifikaten zu verteilen. Dabei gehört es zu ihrer grundlegenden Legitimationsfassade, dass die Zertifikate einzig und allein auf den erbrachten Leistungen beruhen, weshalb deren Beurteilung auch keinen anderen Kriterien folgt. Schüler/-innen sollen in der Schule leistungsgerecht beurteilt werden und sich gemäß dieser Erfahrung in eine Gesellschaft integrieren, in der Leistungsgerechtigkeit ein zentrales Gebot ist. Nun wissen aber alle Lehrer/-innen, dass ihre Benotungspraxis diesen Anspruch bestenfalls annähernd erfüllt. Genau das machen sie aber nicht von sich aus zum Thema und wenn doch, dann nur auf der Hinterbühne. Auf der Vorderbühne weisen sie Kritik an ihrer Benotungspraxis gegenüber den Schüler/-innen und ihren Eltern sowie gegenüber einer erweiterten kritischen bildungspolitischen Öffentlichkeit zurück. Dabei gibt es interindividuelle Unterschiede. Aber diejenigen Lehrer/-innen, die sich zu offenherzig auf eine entsprechende kritische Diskussion einlassen, schaffen einen heiklen Präzedenzfall. Wenn Lehrer/-innen deshalb solche Diskussionen zu vermeiden suchen, dann tun sie dies, wie reflektiert auch immer, um die Behauptung einer verwirklichten Leistungsgerechtigkeit zu verteidigen, mithin das Organisationsideal (Schwartz, 1990) der © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Schule vor seiner Demontage zu schützen und dadurch das Vertrauen in die Institution zu erhalten, ohne die sie ihrem Bildungsauftrag nicht nachkommen kann. Allerdings dient Latenzschutz der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit einer Organisation nur solange, wie er nicht verhindert, die kritischen Themen zu besprechen, die besprochen werden müssen, um die Organisationsstrukturen – woran auch immer gemessen – zu optimieren. Latenzschutz kann somit nicht nur der Selbsterhaltung einer Organisation dienen, sondern sie auch gefährden. Organisationen sind deshalb gut beraten, ihren Latenzschutz flexibel zu handhaben, heißt: ihn immer wieder zu lockern, um zu prüfen, ob sich bestehende Symptome verringern oder drohende Symptome vermeiden lassen, wenn kritische Themen zur Sprache kommen dürfen. Organisationsberatung kann mehr oder weniger geschützte Räume bieten, in denen diese Lockerung erlaubt ist. Jede Lockerung führt zu einer Krise, aus der es zwei Auswege gibt: Ist die resultierende Verunsicherung der Rollenträger/-innen zu stark, werden sie den Latenzschutz so schnell wie möglich wieder stabilisieren. Gelingt es aber in der Beratung, die Verunsicherung so erträglich zu halten, dass die Rollenträger/-innen wagen, die bisher latent gehaltenen kritischen Themen (gemeinsam) zu explorieren – probeweise verunsichernde Gefühle zu fühlen, verunsichernde Gedanken zu denken und verunsichernde Handlungen zu tun –, wächst der Gestaltungsspielraum ihrer Rolle. Sie gewinnen an Kontingenzbewusstsein, das die Normativität des Faktischen außer Kraft setzt. Da Latenzschutz der Selbsterhaltung einer Organisation dient, darf er in Beratungsprozessen aber immer nur in einem Abgleich mit den vorhandenen Bewältigungskapazitäten gelockert werden. Eine Thematisierung um der Thematisierung willen ist weder legitim noch funktional. Latenzschutz – psychodynamisch

Latenzschutz ist ein systemisches Konzept, das – psychodynamisch gewendet – auf die Produktion von Unbewusstheit verweist. Nun können aber im strengen Sinne nur Personen unbewusste Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse haben. Will man die Vorstellung eines dynamischen Unbewussten auf korporative Akteure, wie es Organisationen sind, übertragen, muss man wiederum auf den Sprachgebrauch achten, denn es macht einen Unterschied, ob man von der Unbewusstheit in einer Organisation oder von der Unbewusstheit einer Organisation spricht. Unbewusstheit in einer Organisation geht mit der Annahme einher, dass nicht alle Rollen­ träger/-innen dieselben kritischen Themen latent halten. Es ist geradezu ein konstitutives Merkmal von Organisationen, dass sie Bewusstheit und Unbewusstheit unter ihren Rollenträger/-innen ungleich verteilen können. Daran gemessen suggeriert die Rede von der Unbewusstheit einer Organisation eine Einheitlichkeit, die mit zunehmender Komplexität von Organisationen unwahrscheinlicher wird. Unbewusstheit wird in Organisationen zum Beispiel dadurch produziert, dass es bestimmte institutionalisierte Konstruktionen von Wirklichkeit gibt, deren kri© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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tiklose Anerkennung die Rollenträger/-innen voneinander erwarten. Dadurch entstehen Wirklichkeitskonstruktionen, die einer Realitätsprüfung entzogen sind. Häufig zu beobachtende Glaubenssätze in diesem Zusammenhang lauten: – Unsere Organisation ist zweckrational strukturiert, alle Entscheidungen fallen nur nach sachlogischen Gesichtspunkten. – Kommt es zu Fehlentscheidungen ist das die Ausnahme von einer ansonsten erfolgreichen Praxis. – An solchen seltenen Fehlentscheidungen sind bestimmte Rollenträger/-innen aufgrund ihrer persönlichen Unzulänglichkeiten schuld und müssen ausgetauscht werden, um die erfolgreiche Praxis dauerhaft wiederherzustellen. – Wer die Richtigkeit dieser Glaubenssätze anzweifelt, gefährdet die Erledigung unserer primären Aufgabe. Ist eine solche Wirklichkeitskonstruktion institutionalisiert, erwarten die Rol­len­ träger/-innen voneinander, dass sie andere mögliche Konstruktionen von vorn­ herein für falsch halten und somit gar nicht erst in Erwägung ziehen. Das dynamische Unbewusste in einer Organisation oder Organisationseinheit ist somit die Menge alternativer Wirklichkeitskonstruktionen, die die Rollenträger/-innen aus Gründen des Latenzschutzes nicht thematisieren – und zudem nicht thematisieren, dass sie dies tun. In Organisationsberatungsprozessen gilt es, dysfunktionale Wirklichkeitskonstruktionen zu dekonstruieren. Das verlangt zum einen eine Verringerung des Widerstandes gegen eine Lockerung des Latenzschutzes, indem die – institutionellen, interpersonalen und gegebenenfalls auch individuellen – Abwehrmechanismen (Bain, 1998) rekonstruiert werden, die den Widerstand aufrechterhalten. Zum anderen sind die kritischen Themen, die dadurch zur Sprache kommen dürfen, daraufhin zu prüfen, ob sie nicht anders als bisher behandelt werden können, weil sich etwa die drohende Destabilisierung als Phantasie herausstellt, die einer Realitätsprüfung nicht standhält. Freilich sind Dekonstruktionen prekäre Unternehmungen. Denn Beratungsprozesse können im Dienste des Latenzschutzes assimiliert werden. Dann bestätigen sie eine Wirklichkeitskonstruktion, obwohl sie dysfunktional ist. Diese Gefahr besteht unter anderem immer dann, wenn der Auftraggeber die Thematisierungsbreite in der Beratung begrenzt sehen möchte, weil dadurch zum Beispiel eine Personalisierung der Probleme befördert wird, die von einer Kritik der Organisationsstrukturen ablenkt (Kühl, 2006, S. 399 ff.). Emotionale Dynamik

Da eine zentrale Form des Latenzschutzes in Organisationen in der Errichtung einer Rationalitätsfassade besteht, richtet eine psychodynamisch-systemische Organisationsberatung ihre Aufmerksamkeit besonders auf die Emotionen der Rollenträger/-innen, denen ein offener Ausdruck verwehrt ist. Vor allem betrifft © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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das Ängste, die in Anbetracht des »primären Risikos« (Hirschhorn, 1999), das mit der Erledigung der primären Aufgabe verbunden ist, entstehen können. Um die Arbeitsfähigkeit der Rollenträger/-innen aufrechtzuerhalten, sorgen Organisationen dafür, dass diese Ängste erträglich bleiben. Zu diesem Zweck ist eine institutio­ nelle Angstabwehr erforderlich, die ihrerseits aber nicht die Arbeitsleistung beeinträchtigen darf. Menzies (1974) hat in einem Krankenhaus beobachtet, dass die Berufsanfängerinnen unter den Schwestern von den berufserfahrenen Schwestern daran gehindert werden, sich todkranken oder sterbenden Patienten längere Zeit zuzuwenden. Dies geschieht nicht explizit, sondern ist durch alle möglichen Arbeitsabläufe rationalisiert und infolgedessen der Reflexion entzogen. Todkranke und Sterbende konfrontieren die Schwestern mit ihrer eigenen Hinfälligkeit und Sterblichkeit. Dies löst Angst aus, die so stark werden kann, dass sie die Arbeitsfähigkeit der Schwestern zersetzt, vor allem dann, wenn sie sich mit Patienten identifizieren. Um derartige Identifizierungen erst gar nicht entstehen zu lassen oder zumindest zu erschweren, wird der Stationsalltag so gestaltet, dass er möglichst wenig Zeit für persönliche Begegnungen mit den Patienten lässt. Nun sind Organisationen in emotionaler Hinsicht aber nicht nur durch Angst, sondern durch die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen geprägt (Fineman, 1993, 2000), weshalb es einer Erweiterung des ursprünglichen Paradigmas bedarf (Stein, 2000): Jede Organisation institutionalisiert auf der einen Seite institutionelle Praktiken, um alle Emotionen ihrer Mitglieder zu dämpfen, die ihr vermeintlich schaden; auf der anderen Seite institutionalisiert sie Praktiken, um alle Emotionen ihrer Mitglieder zu fördern, die ihr vermeintlich nützen. So gesehen, findet in allen Organisationen eine institutionelle Emotionsregulation statt, die im Dienste des Latenzschutzes steht. Historisch lässt sich eine Verschiebung feststellen: Haben Emotionen einst als Störgrößen gegolten, die rationales Handeln in Organisationen erschweren oder gar verhindern, so gelten sie heute eher als profitable Ressource. Das heißt freilich nicht, Organisationen hielten es für ihr oberstes Gebot, die Arbeitszufriedenheit ihrer Mitglieder zu erhöhen. Wenn es Erfolg verspricht, machen sie ihnen Angst (Freimuth, 1999; Bauer, 2005), setzen sie Beschämungen aus oder stimulieren ­ihren Neid. Die regulative Idee einer salutogenen Organisation (Badura et al., 2010) ist (noch) nicht sehr weit verbreitet, was auch seinen Ausdruck darin findet, dass wir über »negative« Emotionen weit mehr wissen als über »positive« Emotionen und deren Förderung. Leitung als Containment

Auch wenn sich psychodynamisch-systemische Organisationsberatung nicht auf das Coaching von Leitungskräften (Haubl, 2007, 2008) reduzieren lässt, gehört die Analyse der Leitung in Organisationen doch zu den maßgeblichen Gesichtspunkten. Leitung wird heute mehr denn jemals zuvor als ein Prozess verstanden, der Mitarbeiter/-innen beratend hilft, ihr Arbeitsvermögen zu entfalten. Das ist zu ei© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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nem guten Teil ideologische Verschleierung von Repression, aber eben nicht nur. Denn intrinsisch motivierte Mitarbeiter/-innen sind produktiver, wenn Leitung – metaphorisch gesprochen – von Druck auf Sog umgestellt wird. Wenn Organisationen unter Flexibilisierungsdruck geraten, erwartet man auch von Leitungskräften einen flexiblen Leitungsstil. In diesem Zusammenhang ist es in psychodynamisch-systemischer Perspektive üblich geworden, Leitung als Container-Contained (Billow, 2003) zu begreifen. Als Container betrachtet, stellt sich eine Leitungskraft ihren Mitarbeiter/-innen nicht nur als Halt und Orien­tierung gebendes gutes Objekt zur Verfügung, sondern auch als ein gutes Objekt, das es erlaubt und sogar dazu einlädt, es zu benutzen, um schwer verständliche und schwer erträgliche Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse, die bei der Erledigung ihrer primären Aufgaben auftauchen, ihm aufzubürden. Container ist eine Leitungskraft nur dann und so lange, wie sie deren Projektionen und projektiven Identifizierungen an- und aufnimmt, um sie stellvertretend psychisch zu be- und verarbeiten, bevor sie anschließend zur Sprache bringt, was sie verstanden hat. Kommunikationstheoretisch gefasst, sind in den verbalen und nonverbalen Äußerungen von Mitarbeiter/-innen an ihre Leitungskraft »rätselhafte Botschaften« (in Anlehnung an Laplanche, 2004) enthalten. Das schließt Botschaften ein, die sie selbst verrätseln, weil sie nicht offen auszusprechen wagen, was sie fühlen, denken und tun mögen, darüber hinaus aber sind es Botschaften, in denen zum Ausdruck kommt, dass sie selbst nicht verstehen, was sie erleben. Damit eine Leitungskraft als Container fungieren kann, ist eine wechselseitige Vertrauensbeziehung vorausgesetzt. Nur dann, wenn Mitarbeiter/-innen ihrer Leitungskraft vertrauen, sind sie bereit, ihren Selbstverständigungsprozess durch deren Reflexion zu erweitern. Die Leitungskraft hilft ihren Mitarbeiter/-innen das zu reflektieren, was diese nicht reflektieren können, wie sie auch deren unbestimmte Emotionen benennt und dadurch differenziert. Auf diese Weise greift sie deutend und emotional regulierend in die Innenwelt ihrer Mitarbeiter/-innen ein. Vertrauen heißt für die Mitarbeiter/-innen in diesem Zusammenhang, darauf zu vertrauen, dass ihre Führungskraft ihre Macht nicht missbraucht (Haubl, 2005b), sondern sie dabei unterstützt, ihr Arbeitsvermögen zum wechselseitigen Nutzen von Organisation und Rollenträger/-in zu entfalten. Soweit ich es sehe, ist das Container-Contained-Modell der Führung in der psychodynamisch-systemischen Organisationsberatung in drei Versionen in Gebrauch: Erste Version. Das Modell beschreibt »gute« Leitung, um die sich jede Leitungskraft bemühen sollte. Eine Propagierung dieser Norm wirkt freilich blauäugig, da sie den Druck ausblendet, unter dem reale Leitungskräfte selbst stehen. Wird von ihnen erwartet, dass sie ihre Mitarbeiter/-innen dazu motivieren, Selbstausbeutung als Selbstverwirklichung zu erleben, und das wird immer häufiger von ihnen erwartet, dann ist dies mit dem Modell unvereinbar. Zweite Version. Das Modell beschreibt eine bestimmte Sehnsucht, wonach sich Mitarbeiter/-innen wünschen, Leitungskräfte zu haben, die sich ihm entsprechend © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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verhalten. Diese Sehnsucht entspricht einer Regression, durch die es zu der Übertragungsphantasie eines guten mütterlichen Objektes kommt (wie ja auch das ­Modell ursprünglich von der Mutter-Kind-Beziehung abgeleitet ist). Leitungskräfte, die diese Übertragungsphantasien erkennen, können sie deuten und als unangemessen zurückweisen, aber auch strategisch-taktisch für eigene Interessen nutzen. Dritte Version. Das Modell beschreibt einen Prozess unbewusster Kommunikation, die jeder bewussten Kommunikation unterliegt. Folglich sind in jeden sozialen Austausch rätselhafte Botschaften eingelassen, die unter dem bestehenden Kommunikationsdruck des Arbeitsalltags nicht entschlüsselt, sondern bestenfalls als Irritationen gespürt und registriert werden können. Manche von ihnen hallen so stark nach, dass sie zum Nach-Denken anregen und sich dadurch nachträglich verstehen lassen. Da Leitungskräfte besonders dichte Knoten im kommunikativen Netzwerk einer ­Organisation sind, nehmen sie sehr viele solcher Botschaften auf, die ihre aktuelle Verstehenskapazität überfordern. Sie nachträglich verstehen zu wollen, resultiert nicht nur aus einem psychohygienischen Bedürfnis, sondern mehr noch aus der epistemologischen Annahme, dass die enträtselten Botschaften besonders relevant sind, weil sie seismographische Informationen über Prozesse in der Organisation liefern, die gerade erst beginnen oder aber ambivalent, vielleicht sogar tabuisiert sind. Solche subtilen psychischen Niederschläge des Arbeitsalltags in einer Organisation lassen sich als eine mehr oder weniger bewusstseinsferne »Organization in the Mind« (Armstrong, 2005) begreifen. Von ihrer Rekonstruktion und Verbalisierung verspricht sich eine psychodynamisch-systemische Organisationsberatung besonders aufschlussreiche Anhaltspunkte für eine Auflösung der Symptome, die durch den Latenzschutz einer Organisation erzeugt werden – und das nicht nur bei Leitungskräften, denn Übertragung und Gegenübertragung finden in der gesamten Matrix einer Organisation statt.

Schlussbemerkung Zweifellos kann ein psychodynamisch-systemischer Ansatz einen wichtigen Beitrag zu einer Analyse und Beratung von Organisationen leisten. Voraussetzung ist ein profundes organisationstheoretisches Wissen, nicht nur allgemein, sondern vor allem über die speziellen Organisationen, in deren Auftrag die Berater/innen arbeiten: Krankenhäuser, Schulen, Administrationen, Verbände, Wirtschaftsunternehmen und viele andere mehr. In der Selbstdarstellung dieses Ansatzes gilt es, Mystifikationen zu vermeiden, denen nicht nur auftraggebende Organisationen, sondern immer wieder auch Berater/-innen erliegen. Es sind Mystifikationen, die sich schnell einstellen, wenn zu unbedacht von einem Un­ bewussten (in) einer Organisation gesprochen wird. Zwar ist es legitim, wenn der psychodynamisch-systemische Ansatz damit für sich wirbt, dass er zu einem © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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»­ vertieften« Verständnis der krisenhaften Prozesse in Organisationen führt, die sich nicht (länger) überzeugend rationalisieren lassen. Welche Elemente des ­Latenzschutzes einer Organisation in diesem Zusammenhang in welchem Sinne unbewusst sind, darf den beratenen Rollenträger/-innen freilich nicht einfach zugeschrieben werden, sondern verlangt eine überzeugende fallspezifische Begründung.

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3 Aspekte der Aus- und Weiterbildung im psychodynamischen Beratungsansatz

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Heike Schnoor

Psychodynamische Kasuistik in universitären Lehrveranstaltungen Hochschuldidaktische Überlegungen

In diesem Beitrag werden didaktische Überlegungen und Erfahrungen zur Vermittlung der psychodynamischen Beratung im Rahmen von Lehrveranstaltungen im Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Marburg vorgestellt. Ziel ist es, den Studierenden erste Erfahrungen mit diesem Ansatz zu vermitteln und ihr Interesse an einer postgradualen, tiefenpsychologisch orientierten Weiterbildung zu wecken. In den Seminaren werden die notwendigen theoretischen und begrifflichen Grundlagen prinzipiell immer durch Fallvignetten veranschaulicht. Diese entstammen zum einen dem langen Praxisbezug der Dozentin, zum anderen – und das ist hier das Thema – bestehen sie aus der Analyse medial inszenierter Expertenberatungen, die seit Jahren regelmäßig in öffentlich-rechtlichen, aber auch privaten Medien ausgestrahlt werden. Diese Beratungen sind nicht psychodynamisch orientiert, aber für das Verstehen des Problems der Klienten und der Interaktion zwischen Berater und Klient ist die Psychoanalyse außerordentlich hilfreich. Die Analyse dieser Beratungsgespräche vermittelt Studierenden einen ersten Eindruck psychodynamischer Arbeitsweisen.

Über die Schwierigkeit, Psychoanalyse an der Universität zu lehren Nach meinen Erfahrungen haben Studierende – trotz aller Unkenrufe – ein großes Interesse an der Psychoanalyse. Eine Vermittlung von psychoanalytischen Inhalten im Studium ist jedoch mit einer Reihe von Schwierigkeiten verbunden. Zunächst kann festgestellt werden, dass die Psychoanalyse im Rahmen eines universitären Studiums keinen Alleinvertretungsanspruch auf die Erklärung und Lösung von Praxisproblemen erheben kann. Im Gegenteil, sie muss sich neben einer Vielzahl anderer Theorien und Schulen – auch leichter eingängigen und scheinbar moderneren Ansätzen – behaupten. Zudem hat sie für etablierte universitäre Disziplinen, zum Beispiel der Erziehungswissenschaft, den Rang einer Hilfswissenschaft. Dies spitzt sich in den neu konzipierten Bachelor- und Masterstudiengängen noch einmal zu, weil Psychoanalyse dort curricular in der Regel nicht mehr verankert ist. Sie kann deshalb häufig nur noch im Kontext anderer übergreifender Modulthemen vermittelt werden. 1 1 ���������������������������������������������������������������������������������������� Die im Folgenden vorgestellten Überlegungen betreffen beispielsweise Seminare und Vorlesungen im Kontext eines Lehrbereichs »Beratung, Moderation und Supervision« bzw. »pädagogische Theorien und pädagogisches Handeln«. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Zudem werden in Modulen Lehrveranstaltungen strikter auf den Kanon fachwissenschaftlicher Inhalte und auf das Berufsziel der Studierenden (employability) ausgerichtet, als dies vor der Studiengangsreform notwendigerweise sein musste. Diese curriculare Ausrichtung wird hinsichtlich ihrer inneren Logik von Akkreditierungsagenturen überprüft. Dadurch entfallen Spielräume, die im Rahmen der »Freiheit in Forschung und Lehre« von den Hochschullehrern in früheren Zeiten in größerem Umfang genutzt werden konnten. Dadurch verstärkt sich ein Rechtfertigungsdruck für psychoanalytische Lehrinhalte: Es gilt nachzuweisen, ob und inwieweit sie für die Ausbildung von Studierenden in einem Studiengang sinnvoll und zweckmäßig sind. Mit Übernahme einer Universitätsprofessur verlassen Psychoanalytiker den traditionellen Rahmen ihrer therapeutischen Tätigkeit. Ihre Tätigkeit ist keine psychoanalytische Praxis und sie bilden auch keine Psychoanalytiker aus. Da Lehrstühle in der Regel nicht für Psychoanalyse ausgeschrieben werden, sind Psychoanalytiker für andere Fachgebiete zuständig und müssen diese auch inhaltlich füllen. Zudem dürfen sie mit ihrem theoretischen und methodischen Ansatz die Anschlussfähigkeit an den aktuellen Fachdiskurs ihrer universitären Disziplin nicht verlieren. Koechel (1984) schreibt dazu: »Wer als Psychoanalytiker an die Hochschule geht, um dort im Bereich der Lehre sowie einer auf Lehre und Praxis bezogenen Forschung tätig zu sein, muß Bereitschaft mitbringen, wissenschaftliche Grundlagen für die Anwendung der Psychoanalyse außerhalb der klassischen Behandlungssituation zu entwickeln und die mit dem Eintritt der Psychoanalyse in den Wissenschaftsbetrieb der Hochschule verbundenen Probleme und Schwierigkeiten mit einzubeziehen« (Koechel, 1984, S. 157). Dies gilt auch für notwendige Kooperationen im Kollegium. Da Psychoanalytiker immer seltener auf Lehrstühle berufen werden und niedergelassene Psychoanalytiker nicht leicht für unterbezahlte Lehraufträge zu gewinnen sind, müssen Module gemeinsam mit den real existierenden Kollegen und deren methodischer Ausrichtung bestückt werden. Am Beispiel der Supervisorenausbildung beschreibt Koechel (1984) die Situation folgendermaßen: »Häufig geht es um die Kooperation mit Vertretern anderer Berufe im Hochschulrahmen mit dem Ziel, tragfähige Konzepte für die Supervisionsausbildung und -praxis zu erarbeiten. Dabei ist nicht psychoanalytische Kompetenz die Grundlage der Zusammenarbeit, sondern das Interesse des Sozialpsychiaters, einen Beitrag zur Verbesserung der psychosozialen Versorgungssituation leisten zu wollen« (Koechel, 1984, S. 157). Es bleibt die Frage der Vermittlung psychoanalytischer Kenntnisse im Studium. Die Psychoanalyse kann Erziehungswissenschaftlern wichtige Einsichten vermitteln. Sie kann beispielsweise die Selbsterkenntnis erweitern, für zwischenmenschliche Beziehungen sensibilisieren und emotionales Lernen fördern, aber sie ist im Kontext eines theorielastigen universitären Studiums nur schwer vermittelbar. Der wichtigste Schritt der Aneignung der Psychoanalyse in außeruniversitären Ausbildungsinstituten ist die Selbsterfahrung in der Lehranalyse. Diese sprengt den Rahmen einer universitären Ausbildung. Aber das Unbewusste als der zentrale Gegen© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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stand der Psychoanalyse lässt sich nicht auf rein kognitiver Ebene aneignen (Vogt, 1993, S. 54). Ohne klinischen Bezug gibt es keinen festen Bezugsrahmen für die Bedeutung psychoanalytischer Aussagen (Wellendorf, 1984, S. 139; Koechel, 1984, S. 154). Wenn sie nicht in irgendeiner Weise auch direkt erlebbar gemacht werden, bleiben psychoanalytische Begriffe und Konzepte unklar und bedeutungsleer. Es besteht dann die Gefahr, dass nur erstarrte und verdinglichte Teile des Theoriegebäudes behalten werden (z. B. das Strukturschema Ich/Es/Über-Ich oder das genetische Schema oral/anal/genital) und das psychoanalytische Potential zum Verständnis unbewusster, konflikthafter Muster ungenutzt bleibt. Zudem kann eine halbverstandene Psychoanalyse dazu führen, soziale und gesellschaftliche Realitäten vorschnell zu individualisieren und zu psychologisieren (Wellendorf, 1984, S. 136). Bei einer oberflächlichen und rein konzeptionellen Vermittlung besteht also die Gefahr eines dogmatischen Missverständnisses der Psychoanalyse. Von daher müssen andere Möglichkeiten gefunden werden, Evidenzerlebnisse zu vermitteln. Die Vorstellung von Fallvignetten aus der Praxis der Lehrenden zur Veranschaulichung zuvor dargestellter theoretischer und klinischer Begriffe ist ein bewährter Weg. Argelander und Vogt haben darüber hinaus ein Beratungskonzept entwickelt, dass Psychologiestudierende unter der Supervision von Psychoanalytikern in der Praxis durchführen konnten (Vogt, 1980). Dieses Konzept war nach der Erfahrung von Vogt »ein voller Erfolg« (Vogt, 1993, S. 54). Leider musste es aufgegeben werden, weil es unter den Bedingungen einer Massenuniversität nicht auf Dauer realisierbar war. Trotz aller Schwierigkeiten: Die Lehre der Psychoanalyse unter den institutionellen Rahmenbedingungen einer Universität kann erfolgversprechende Ergebnisse zeitigen. Rolf Vogt schreibt dazu: »Die positiven Resultate, was das Verständnis der Psychoanalyse betrifft, setzt mich heute noch immer wieder in Erstaunen. Für mich besteht kein Zweifel, dass ein adäquates Verständnis wesentlicher Inhalte psychoanalytischer Theorie und Methode ohne eigene Selbsterfahrung durch eine persönliche Analyse und ohne eigene klinische Tätigkeit möglich ist« (Vogt, 1993, S. 55). Wenn im Rahmen eines Studiums nur wenig Raum für die Vermittlung der Psychoanalyse vorhanden ist, müssen die Ziele natürlich bescheiden ausfallen. Aber auch Einzelveranstaltungen zur psychodynamischen Beratung können dazu beitragen, die Vorurteile gegenüber der Psychoanalyse zu relativieren, Grundlagen der Psychoanalyse kompetent und erlebnisnah zu vermitteln und Neugierde und Interesse an der Psychoanalyse zu wecken. Letztlich erhofft man sich, dass Studierende postgradual psychoanalytisch orientierte Weiterbildungen und Supervisionen wahrnehmen oder bei Bedarf psychoanalytische Hilfe annehmen.

Kasuistische Fallarbeit in der universitären Lehre Es bleibt die hochschuldidaktische Frage nach Möglichkeiten der Vermittlung psychoanalytischer Lehrinhalte. Im Folgenden möchte ich einige Erfahrungen und © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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didaktische Überlegungen zur Vermittlung der psychoanalytischen Beratung an der Universität vorstellen. Pädagogik als Profession entwickelt ihre Handlungsstrategien vorwiegend auf der Basis eines individuellen Fallverstehens. Von daher ist es in der Erziehungs­ wissenschaft naheliegend, einen kasuistischen Zugang zum Ausgangspunkt und Gegenstand einer wissenschaftlichen Rekonstruktion zu machen. Kasuistik (von lateinisch casus: Fall), die Betrachtung von Einzelfällen in einem bestimmten Fachgebiet, hat auch in der Psychoanalyse eine lange Tradition. Sie geht bis auf die psychologischen Mittwoch-Abende zurück, in denen Freud mit seinen Schülern Falldiskussionen durchführte. Es ist bis heute bewährte Praxis in psychoanalytischen Weiterbildungen, die Ausbildungsfälle der Weiterbildungskandidaten vor dem Hintergrund psychoanalytischer Theorie und Methodologie zu analysieren. Die am Einzelfall erfolgte Beobachtung kann dort mit den abstrakten und generalisierbaren psychoanalytischen Konzepten verbunden werden. Auf diese Weise wird das Theoriegebäude der Psychoanalyse bei den Weiterbildungsteilnehmern mit Leben gefüllt. Nach meiner Erfahrung sind kasuistische Seminare auch ein erfolgversprechender Ansatz in der Hochschullehre. Sie erfüllen den Wunsch von Studierenden nach einer Lehre und Forschung, die sich stärker am realen Praxisgeschehen ­ausrichtet. Zugleich ist zu beobachten, dass Studierende – vor allem in ihren Praktika – eine unreflektierte Form des Fallverstehens anwenden. In kasuistischen ­Seminaren soll diese intuitive Form des Fallverstehens zugunsten eines regelgeleiteten Handelns überwunden werden. Indem am Einzelfall die Regeln der Psychoanalyse angewendet werden, wird die Kluft zwischen angeeignetem theoretischen Wissen und Berufswirklichkeit überbrückt und eine wissenschaftlich fundierte Berufspraxis eingeübt. Wählt man einen kasuistischen Zugang zur psychodynamischen Beratung, muss man allerdings berücksichtigen, dass Studierende noch keine eigenen Patienten behandeln können und dürfen. Das Fallmaterial muss also aus anderen Quellen stammen. Eine mögliche Quelle sind medial inszenierte Beratungsgespräche, wie sie in vielen Radio- und Fernsehsendern öffentlich ausgestrahlt werden. Es handelt sich bei diesen Beratungsgesprächen um keine psychodynamische Beratung, aber unbewusste Prozesse sind ubiquitär: Sie bilden sich ohne Rücksicht auf das Setting und zeigen sich auch in diesen kurzen Beratungen. Gleichwohl eignen sich nicht alle ausgestrahlten Gespräche dafür. Einige sind für ein kasuistisches Seminar sehr aufschlussreich, aber die Mehrzahl dieser Gespräche ist abwehr­ bedingt oberflächlich. Günstig sind die Beratungsgespräche, in denen eine unbewusste Dynamik zwischen Ratsuchendem und Berater sowie szenische Informationen sichtbar werden, die in einen inhaltlichen Zusammenhang mit dem vorgetragenen Problem gebracht werden können. Bei der gemeinsamen Analyse von medial inszenierten Beratungen beobachten Studierende aus einer geschützten Position heraus einen Beratungsprozess, ohne dass sie selbst als Klient (wie in der Selbsterfahrung) oder als Berater (wie in der Supervision) beteiligt sind. Der Unterschied zur Supervision besteht in zwei As© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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pekten: (1) der Berater ist nicht persönlich anwesend, sondern sein Fall wird in Abwesenheit in der Gruppe besprochen. (2) Die Diskussion basiert nicht auf dem mündlichen Bericht des Beraters, sondern liegt als Audiomitschnitt vor. Dies hat den Vorteil der authentischen Vermittlung des Gesprächs. Nicht nur der Text, sondern auch alle parasprachlichen Inhalte (Klang der Stimme, Redepausen, hörbares Durchatmen, Stolpern im Redefluss etc.) stehen als Informationen zur Verfügung. Verfälschungen, Auslassungen etc., die in einem mündlichen Bericht vorkommen können, sind hier ausgeschlossen. Der Bandmitschnitt erlaubt es zudem, kritische oder uneindeutige Passagen mehrfach anzuhören. An dem Fallmaterial können Studierende erste Erfahrungen mit den Grundregeln sammeln und ihre Fähigkeit zur Beobachtung und zur psychodynamischen Fallreflexion schulen. Bewährt hat sich auch, das kasuistische Seminar durch die vorhergehende Vermittlung von Theorieinhalten vorzubereiten, die im anschließend behandelten Fallmaterial zentral sind. Auf diese Weise kann der schwierige Theorie-Praxis-Transfer erleichtert werden. Auch wenn es sich immer um kurze Gespräche handelt (meist sind sie sechs bis zwölf Minuten lang), hat es sich doch bewährt, sie in kurze Textpassagen unterteilt vorzuspielen. In den Pausen wird das Gehörte gemeinsam analysiert. In dem Maße, wie den Studierenden dies gelingt, entsteht ein analytischer Raum zum Erkennen unbewusster Prozesse. Die entstehenden Assoziationsketten bilden die Basis für die psychoanalytische Interpretation des Gesprächs. Sie werden für alle sichtbar auf dem Overheadprojektor notiert. Auf diese Weise entfaltet sich die unbewusste Dynamik der Beratung vor den Augen und Ohren aller Studie­renden. Beispielhaft soll im Folgenden ein Transkript von einem medial inszenierten Beratungsgespräch dargestellt werden.

Ein Fallbeispiel Im Folgenden wird ein Beratungsgespräch aus der Sendung »Was wollen Sie wissen?« mit Dr. Erwin Marcus wiedergegeben. Das achtminütige Gespräch wurde vom NDR 2 am 7.4.1989 ausgestrahlt. Anruferin: Ja, guten Tag, Herr Dr. M. Berater: Guten Tag. Anruferin: Ich hab schon vor langer Zeit mit Ihnen schon mal gesprochen, und zwar handelte es sich damals um meinen Mann, der in einer Psychiatrie gelebt hat und sich dann das Leben genommen hat nach drei Jahren. Ich bin 71 Jahre alt und bin jetzt völlig allein und ich kann diese Einsamkeit einfach nicht mehr ertragen. Und ich denke, Herr Doktor, es liegt auch daran (undeutlich), weil ich so ... ich bin ein Typ, der Schwellenangst hat, der nirgendwo reingehen mag und mit den Leuten reden. Ich kann das nicht. Berater: Das fällt ihnen sehr schwer. Kontakt anzuknüpfen. Anruferin: Ja, ja. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Anruferin: Ich hab’s mal versucht in einem Altenkreis und bin auch einige Male hingegangen. Das hat mich viel Überwindung gekostet, aber ... Berater: Ja. Anruferin: ... es ist nichts dabei rausgekommen. Berater: Sie haben sich in diesem Altenkreis auch gar nicht wohl gefühlt. Anruferin: Nein, nein, nein, nein. Das waren alles ältere Frauen, die haben sich lange, lange gekannt. Berater: Ja. Anruferin: Und es ist ja klar, wenn man da neu dazukommt, ist man ... und wenn ich dann nicht auf die Leute zugehen kann, ja auf mich kommt keiner zu. Berater: Obwohl es in diesen Kreisen ja anders sein sollte und häufig auch anders ist ... Anruferin: Ja, da war eine Dame dabei, die ist Diakonin und, und ... Berater: Ja. Anruferin: Ja, Organistin in einer Kirche. Berater: Ja. Anruferin: Und mit der hatte ich mich so ein bisschen, na ja, angefreundet ist zu viel gesagt. Und das ist nun leider, gut, vielleicht ist das auch meine Dummheit mit, auseinandergegangen. Und ich bin so maßlos enttäuscht worden. So maßlos, dass ich einfach da nicht mit fertig werde. Und ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe, Herr Doktor ... Berater: Warum, warum ist denn das auseinandergegangen? Anruferin: Ja, es ist, also das ist eigentlich eine lange Geschichte. Berater: Achso. Anruferin: Es handelte sich um einen Pastoren, der nach Australien gegangen ist, und von dem hätte ich so gerne eine Widmung gehabt. Und da hat sie mich wohl auch falsch verstanden und ich war so ein bisschen enttäuscht und hab das dann auch von mir gegeben und das war wohl nicht richtig. Und seitdem ist also aus. Berater: Hm. Aber das sind so Enttäuschungen, die ja jeder Menschen erlebt. Anruferin: Ja. Aber, ich meine ... Berater: Sie sind einfach mit dem Leben verbunden. Anruferin: Herr Dr. Markus, ich hab immer versucht alles gut zu machen. Berater: Ja. Anruferin: Ich hab immer gespendet und gespendet, und alles gemacht, wissen Sie, und wenn man dann so einfach beiseitegeschoben wird, das tut weh ... Berater: Das ist, ja, das ist sehr bitter. Nun kommt ja auch hinzu ... Anruferin: Denn die Frau hatte immer zu mir gesagt, sie hätte mich so gerne, und sie hätte mich so gerne und das hab ich an und für sich gar nicht gerne gehört, weil ich das einfach nicht glauben konnte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Berater: Hm. Sie hatten den Eindruck, das ist übertrieben. Anruferin: Ja, ja, ja. Berater: Nun ... Anruferin: Und die hat die Leitung von diesem Altenkreis, aber nicht immer. Da ist auch einmal ein Pastor und dann ein anderer Pastor. Und der eine Pastor, der an der Kirche ist, der liegt mir gar nicht. Also wenn der da ist, dann kann ich auch nicht zum Gottesdienst gehen, wenn der andere da ist, kann ich schon gehen, aber jetzt, wo nun diese Frau da oben sitzt an der Orgel und die Schultern so rausstehen – und ich soll dann da rausgehen (? undeutlich), das bring ich einfach nicht übers Herz, ich kann es nicht. Ich kann auch jetzt nicht mehr hingehen. Obwohl mir das auch immer sehr schwergefallen war, da von hier aus noch hinzulaufen. Berater: Ja. Sie haben vermutlich auch keine Freunde oder Bekannte ... Anruferin: Ich hab niemanden, die sind alle tot. Berater: Sind alle tot. Und Sie haben ja auch sehr unter dem Tod Ihres Mannes gelitten. Anruferin: Ich leide immer noch. Man sagt immer: Die Zeit heilt. Aber die heilt nicht. Es bricht immer wieder raus. Berater: Nun ist dies auch ein ... Anruferin: Weil er eben ... er war ... Berater: Es ist auch ein sehr bitterer Tod, wenn ein Mann ... Anruferin: Er war ein sehr schwerkranker Mann, weil Depressionen. Man sagt Depressionen so leichthin, aber es war so schlimm. Ich war der letzte Dreck in seinen Augen und da hat er sich das Leben genommen. Berater: Ja. Anruferin: Und ich frage mich immer noch: Hab ich was falsch gemacht, aber ich habe, ich habe nichts falsch gemacht ... Berater: Nein, Sie haben auch nichts falsch gemacht. Wir denken das ... Anruferin: Ich hab alles getan, was ich konnte. Berater: Hm. Ich erinnere mich. Darüber haben wir ja früher schon einmal miteinander gesprochen. Anruferin: Ja, ja. Das hatte mir auch der Pfleger bestätigt an dem Tag, als er gestorben war, da war er zu mir gekommen. Berater: Aber ... Anruferin: Dann hab ich gesagt: Warum, warum hat er das getan? Warum? Aber er war krank, er war krank ... Berater: Er war krank und darauf, darauf ist es zurückzuführen. Anruferin: Und dann hab ich noch eine Tochter und die wohnt in, grade da, wo mein Mann sich das Leben genommen hat. Das ist in der Nähe von Lübeck. Und nun ist sie auch psychisch krank und geht immer zum Arzt, lässt sich behandeln und, Herr Doktor, mit meiner Tochter kann ich auch über das nicht reden. Dann schreit sie mich gleich an und sagt: Ja, was soll ich denn sagen? Ich muss jeden Tag an dem Klotz vorbei. Ich weiß das ja ... ich hab es auch nicht gewollt. Ich kann ja nichts dafür. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Berater: Wenn Sie einmal ihre jetzige Lebenssituation überdenken, was glauben Sie, was würde Ihnen am meisten helfen? Wonach ... was wünschen Sie sich? Anruferin: Am meisten würde mir helfen, wenn ich mir das Leben nehme, aber ich muss an meine Tochter denken. Ich kann es nicht tun. Berater: Ja, und das ist auch keine Lösung. Anruferin: Ja, Herr Doktor, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn Sie wochenlang alleine sitzen und immer alleine. Berater: Das ist ... Anruferin: und nur Radio und Fernsehen ... Berater: Das ist, äh, das ist ... Anruferin: Man kann nicht mehr ... Berater: Das ist so, so bitter, da haben Sie, da haben Sie völlig Recht. Aber wir wollen einmal zusammen überlegen, ob es nicht doch einen Weg gibt für Sie, um aus dieser Einsamkeit herauszukommen. Anruferin: Ja. Berater: Sie wohnen in Hamburg? Anruferin: Ich wohne in Hamburg, ja. In den (undeutlich) Hochhäusern. Und das ist ja auch noch, dass man ... In den (undeutlich) Hochhäusern finden Sie sehr schlecht Anschluss. Wenn man nicht die richtigen Nachbarn hat. Und ich bin kein Typ, der auf andere Leute, wie gesagt, zugehen kann. Berater: Ja. Nein. Aber es gibt einen Weg. Und Sie können einmal den Kontakt aufnehmen zum Club X. Haben Sie einmal davon gehört? Anruferin: Nein. Berater: Der Club X ist ein, eine Gruppe von interessierten Menschen, auch in Ihrem Alter, die sich regelmäßig montags im Beratungs- und Seelsorgezentrum St. P. treffen. Anruferin: Aha. Berater: X-weg ... Anruferin: X-straße. Berater: Ja, X-straße. Anruferin: Ja, da war ich auch schon hingegangen (undeutlich), da war ich auch mit einer Dame da, da lebte mein Mann aber noch. Berater: Ja. Und nun machen Sie doch bitte Folgendes. Anruferin: Ja? Berater: Suchen Sie einmal bitte dieses Beratungszentrum wieder auf. Anruferin: Ja. Berater: Gehen Sie nicht gleich in den Club, sondern zunächst einmal sprechen Sie mit einer Beraterin und der Beraterin berichten Sie über ihre Schwierigkeiten, und auch, dass Sie auch © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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eine Hilfe benötigen, um die Verbindung zu diesem Club aufzunehmen. Und dann wird die Beraterin mit Ihnen zusammen einen Weg finden. Vielleicht, dass jemand Sie begleitet, an dem ersten Besuch des Club-Abends. Anruferin: Ja, das hatte ich ja alles schon dieser Dame, die hat mich ja auch zwei- oder dreimal besucht, aber ich fühle mich so ausgenutzt, weil ich eben so gutmütig war und alles raus- und hergegeben hab, was ich konnte, und selbst wenn ich (undeutlich) beiseitegeschoben ... Berater: Aber diese bittere Erfahrung braucht sich ja nicht wiederholen. Anruferin: Nein, nein. Berater: Es ist ja auch gut möglich, dass Sie jetzt eine gute Erfahrung machen und deswegen möchte ich Ihnen noch einmal raten, dass Sie sich an das Beratungs- und Seelsorgezentrum wenden und einmal teilnehmen an den Abenden des Clubs. Wenn Sie mögen, könnten Sie auch sprechen mit dem im Beratungs- und Seelsorgezentrum beschäftigten Diplom-Psychologen Herrn N. Anruferin: N., ja. Berater: Mit ihm können Sie ebenfalls sprechen, auch über Ihre Schwierigkeit, den Kontakt anzu... Denn es dürfte nicht schwerfallen, dem Beratungs- und Seelsorgezentrum, Ihnen zu helfen, die Verbindung zu diesem Club aufzunehmen. Anruferin: Ja, ja. Berater: Das ist zum Beispiel ein Weg. Anruferin: Ja. Berater: Weiter könnten Sie auch dort im Beratungs- und Seelsorgezentrum teilnehmen an Einzelgesprächen, um auch dort über Ihren Kummer zu sprechen, insbesondere auch über Ihren Kummer über den Tod Ihres Mannes. Nun möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen. Anruferin: Ja. Berater: Gehen Sie bitte recht bald zum Beratungs- und Seelsorgezentrum hin. Anruferin: Ja, das mach ich. Berater: Führen Sie dort Einzelgespräche, nehmen Sie an den Club-Abenden teil und dann rufen Sie mich bitte wieder an. Anruferin: Ja. Berater: Versuchen Sie es bitte einmal bei diesem Beratungszentrum. Anruferin: Ja, mach ich, Herr Doktor. Haben Sie herzlichen Dank. Berater: Ja. Alles Gute für Sie. Anruferin: Ja, Dankeschön. Wiederhören.

Psychodynamische Analyse des Beratungsgesprächs Methodisch wird das Gespräch wie ein Erstinterview behandelt (Argelander, 1967). Die Studierenden wenden die Grundregeln der gleichschwebenden Auf© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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merksamkeit und freien Assoziation an, d. h., sie werden aufgefordert, ent­ sprechend der Erstinterviewtechnik die im Gespräch enthaltenen Informationen nach objektiven, subjektiven und szenischen Informationen zuzuordnen. Die im Folgenden dargestellte Analyse des Gesprächs ist durch Studierende in einer 90-minütigen Seminarsitzung entwickelt worden. Dem gingen Einführungen in psychoanalytische Grundbegriffe (Übertragung, Gegenübertragung, Abwehrmechanismen, Agieren, szenisches Verstehen, Neurosentheorien) voraus. Sicher sind nicht alle Aspekte des Gesprächs entschlüsselt worden, aber dieses Beispiel kann doch deutlich machen, was Studierende im Rahmen universitärer Seminare leisten können. Die in einem Gespräch befindlichen objektiven Informationen sind für Studierende leicht erkennbar und deshalb eine guter Einstieg in die Gesprächsanalyse. Dazu zählen beispielsweise, dass die Anruferin 71 Jahre alt ist und in Hamburg lebt. Dass ihr Ehemann wegen einer depressiven Erkrankung in der Psychiatrie lebte und sich vor einigen Jahren das Leben genommen hat. Dass ihre Freunde und Bekannte verstorben sind und sie sozial isoliert in einem Hochhaus lebt. Dass sie unter Kontaktstörungen leidet und dass Versuche, Kontakt in kirchlichen ­Altenkreisen zu finden oder mit ihrer Tochter über ihre Probleme zu sprechen, gescheitert sind. Untersucht man den Text hinsichtlich der darin befindlichen subjektiven Informationen, so wird deutlich, dass die Anruferin den Tod ihres Mannes nicht überwunden hat und sich einsam fühlt. Sie lebt in dem Gefühl, sich immer um andere Menschen bemüht zu haben (hat alles für ihren Mann getan/hat für die Kirche gespendet) aber trotzdem zurückgewiesen worden zu sein (sie war für ihren Mann der letzte Dreck/sie fühlt sich von der Kirchengemeinde abgeschoben). Sie sagt sich, dass sie keine Schuld trifft (Mann war krank/die anderen im Altenkreis kannten sich schon lange/der Konflikt mit der Diakonin beruhte auf einem Missverständnis), und ahnt doch, dass sie etwas falsch macht. Da sie davon überzeugt ist, nicht anders handeln zu können und von anderen Menschen (Mann, Diakonin, Tochter) ausgenutzt bzw. in Stich gelassen zu werden, zieht sie sich mit einem Gefühl maßloser Enttäuschung aus sozialen Kontakten zurück. Da sie aber ihre dann eintretende Einsamkeit nicht mehr aushält, weiß sie keinen Ausweg mehr und sucht Rat bei dem Berater. Diese subjektive Perspektive auf das Problem ist für Studierende immer noch recht eingängig. Wirklich neu und überraschend ist für sie die szenische Perspektive auf das Material. Hier geht es um Gesprächssequenzen, die über die Art der Interaktion zwischen der Anruferin und dem Berater Aufschluss geben. Studierende können in dem Gesprächsverlauf erkennen, dass die Anruferin von ihrer Verzweiflung überwältigt erscheint, sehr schnell redet und durch den Berater kaum zu unterbrechen ist. Sie lässt dem Berater im ersten Teil des Gesprächs kaum einen Raum für einen Dialog (Kontakt). Der Berater bemüht sich sehr um sie: Er spiegelt, fragt nach, versucht zu entlasten, zu relativieren und Mut zu machen, aber er kann die Anruferin zunächst kaum erreichen. Immer wieder bringt sie ihre © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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schlechten Vorerfahrungen abwehrend ins Spiel. Zwar nimmt sie schließlich seinen Ratschlag an, aber ob sie ihn in die Tat umsetzten wird, bleibt nach dem Anruf ungewiss. Im Gespräch reinszeniert sich also das Kontaktproblem der Anruferin. Schaut man sich die Beratungsstrategie an, so fällt auf, dass die Anruferin sich bewusst darüber ist, dass sie nicht auf andere Menschen zugehen kann und auf diese Weise ihr Problem verschärft. Der Berater greift aus der Problemdarstellung der Anruferin dieses konkrete Anliegen heraus: Er fokussiert die Frage, wie die Anruferin Anschluss an einen Altenkreis finden kann, und mit seinem Angebot, dass sie wieder bei ihm anrufen kann, hilft er ihr dabei, den ersten Schritt zu tun. Aber unterhalb dieses manifesten Beratungsanlasses liegt noch eine latente Problemebene verborgen, die der Anruferin nicht bewusst ist: Wegen ihrer Anklagen, Schuldvorwürfe und ihrer anklammernden Bedürftigkeit begünstigt sie eine Situation, in der man sie schwer aushalten kann. Wenn sich ihr soziales Umfeld vor ihr verschließt (Tochter/Diakonin), erlebt die Anruferin dies als Zurückweisung und zieht sich aus Schutz vor Enttäuschung ihrerseits zurück. Weil sie sich als Opfer der Zurückweisung anderer erlebt, fällt es ihr so schwer, den Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen und ihn zu halten. Auf diese Weise begünstigt sie selbst eine Chronifizierung und Zuspitzung der Krise. Die Anruferin springt in ihrer Problemschilderung vom Altenkreis, über die Diakonin und den Pastoren zu ihrem Mann und ihrer Tochter und lässt so eine innere Verbindung dieser Ebenen erkennen. Von allen fühlt sie sich enttäuscht und verlassen. Schon in diesem kurzen Beratungsgespräch zeigt sich, dass es sich um ein verfestigtes Erlebens- und Verhaltensmuster der Anruferin handelt, das in unterschiedlichen sozialen Kontexten durchschlägt und auch die Gefahr einer negativen therapeutischen Reaktion in sich trägt: D. h., auch die potentiellen Helfer der Anruferin sind in Gefahr, entsprechend diesem Muster wahrgenommen und von ihr entwertet zu werden. Auch der Rat von dem Berater im ersten Gespräch brachte anscheinend nicht den erhofften Erfolg. Es kann vermutet werden, dass die Zurückweisung durch die Diakonin die Neuauflage eines älteren Konflikts ist. Auch wenn diese sehr kurzen Beratungsgespräche kein oder nur sehr wenig biographisches Material bieten, spricht die Heftigkeit der Reaktion der Anruferin dafür, dass die aktuelle Enttäuschung auf eine lange bestehende Problemlage trifft. Schon ein kleines Missverständnis mit der Diakonin lässt ihre eingegangenen sozialen Kontakte zusammenbrechen und eine akute Krisensituation entstehen. Es ist zu vermuten, dass diesem Muster ein negatives Selbstbild der Anruferin zugrunde liegt: Ihre Hilfe für andere (z. B. durch hohe Spenden) kann auch als ein Versuch verstanden werden, sich die Zuneigung anderer Menschen zu verdienen. Wenn sie sich wie »der letzte Dreck« fühlt, wendet sie dieses böse Introjekt in masochistischer Weise gegen sich und trägt durch ihren sozialen Rückzug dazu bei, dass sich das Problem verschärft. Wehrt sie es projektiv ab, dann sind die anderen »der letzte Dreck«, weil sie die Anruferin ausnutzen und wegschieben. In dieser projektiven Abwehr ihres Selbstbildes kann sie andere nicht an sich heranlassen, muss sie entwerten und deren Hilfe abweisen. In dieser Position erlebt sie sich © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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auch als ein guter Mensch. Dies wird auch darin deutlich, dass sie ihrer Tochter keinen Suizid antun möchte. Damit stellt sie sich im Vergleich zu ihrem Ehemann als das bessere Objekt dar, denn er hat den Suizid seiner Familie zugemutet. Es stellt sich die Frage, warum die Anruferin keine Lebensberatungsstelle vor Ort aufgesucht hat oder die Telefonseelsorge anrief, sondern sich für dieses mediale Hilfeangebot entschieden hat. Auf den ersten Blick leuchtet ein, dass eine anonyme Telefonberatung ein so niedrigschwelliges Angebot darstellt, dass sie es trotz ihrer sozialen Ängste wahrnehmen kann. Doch man kann auch vermuten, dass es sich hier um eine Kompromissbildung handelt: Sie weiß, dass ihr appellativer Hilfeschrei von einem Millionenpublikum in ganz Norddeutschland gehört wird, aber die Anonymität der Sendung verhindert zugleich, dass auf diesem Weg Hilfe kommen kann. Sie wählt ein Setting, in dem nur ein wenige Minuten währender Kontakt möglich ist und keine wirkliche Nähe entstehen kann, aber aus diesem Grund ist bei diesem Angebot auch die Gefahr der Enttäuschung gering. Die Anruferin erscheint in ihrem Konflikt zwischen Nähewünschen und sozialen Ängsten sehr gefangen. Immerhin war es ihr aber schon das zweite Mal möglich, bei dem Berater anzurufen. Ein psychodynamisches Fallverstehen begründet die Formulierung zweier ­Beratungsanliegen: Das manifeste Beratungsthema der Klientin könnte wie folgt heißen: »Ich halte meine Einsamkeit nicht aus und suche den Kontakt zu Menschen.« Diese Ebene hat der Berater in der Sendung aufgegriffen und in dem Gespräch verfolgt. In einer psychodynamischen Beratung würde aber auch die tiefer liegende latente Ebene des Problems bearbeitet werden (Klüwer, 2000, S. 299 ff.). Sie könnte zum Beispiel in folgender Formulierung eines psychodynamischen Beratungsfokus bestehen: »Ich wage es nicht, einen Kontakt zu Menschen einzugehen, denn ich bin davon überzeugt, verlassen zu werden, weil ich (die anderen) der letzte Dreck bin (sind).« Nun kann man zu Recht einwenden, dass innerhalb einer zehnminütigen, öffentlichen Telefonberatung diese latente Problemebene nicht thematisiert werden kann und dass es schon einen großen Erfolg darstellt, wenn die Anruferin den vorgeschlagenen Weg des Beraters einschlagen würde. Aber jede weitere Hilfe im Altenkreis oder in der vorgeschalteten Beratung wird diese unbewusste Problem­ ebene der Anruferin berücksichtigen müssen, wenn sie nicht wieder scheitern soll.

Medial inszenierte Beratungsgespräche als kasuistisches Material in der Hochschullehre Neben einer medienanalytischen Ebene können medial inszenierte Beratungen – je nach Thema des Gesprächs – hinsichtlich der unterschiedlichsten Aspekte ­untersucht werden. Da die Symptome von Krisen und Krankheitsbildern (z. B. ­Depression, Ängste, narzisstische Störung), die Folgen traumatischer Erfahrungen (z. B. Unfälle, sexueller Missbrauch) oder die Probleme bei der Bewältigung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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schwieriger Lebenslagen (Alter, Behinderung, Partnerschaftsprobleme, Trennungs­ situationen, soziale Isolierung) in diesen Gesprächen thematisiert werden, bietet sich das Material zur Einführung in die Neurosenlehre an. Die Studierenden können in den Gesprächen auch wahrnehmen, wann Anrufer Abwehrmechanismen einsetzen und welche sie nutzen, um ihre Probleme nicht mit voller Wucht wahrnehmen zu müssen. Auch Bindungsmuster der Anrufer sind in dem Material zu entdecken. Aber auch die unbewusste Dynamik in der Interaktion zwischen Berater und Anrufer wird sichtbar: Teilweise ist die suggestive Kraft der Anrufer so groß, dass Berater die professionelle Distanz verlieren und in hochdramatische Inszenierungen hineingezogen werden. Zur Überraschung der Studierenden wird deutlich, wie schnell sich eine unbewusste Dynamik im Beratungsgespräch herstellt. Ent­ wickelnde Handlungsdialoge zwischen Anrufer und Berater, in der sich die Problematik der Klienten in der Interaktion mit dem Berater reinszeniert, werden evident. Der psychoanalytische Umgang mit solchen Dynamiken, nämlich die Szene als Mittel der Erkenntnis zu nutzen (Klüwer, 1983, S. 828 ff.; Sandler, Dare u. ­Holder, 1979, S. 87 ff.), wird Studierenden nachvollziehbar. Die Chance der Seminargruppe besteht darin, dass die verschiedenen Elemente des Gesprächs differenzierter und vielschichtiger wahrgenommen werden, als es einem Einzelnen ­möglich wäre. Die Analyse erfolgt zwar auf der Ebene des Sekundärprozesses, aber die Beziehungsdynamik zwischen Berater und Anrufer findet in der Gruppe einen Resonanzkörper. Konkordante oder komplementäre Identifizierungen in der Gruppe werden sichtbar und bewusstseinsfähig. Ähnlich wie in einer Balintgruppe (Nedelmann u. Ferstl, 1989) stellen sich unter den Seminarteilnehmern Über­ tragungs- und Gegenübertragungskonstellationen her, die durch das Fallmaterial geweckt werden. Diese Spiegelphänomene können als Inszenierungen der Gegenüber­tragung auf einem anderen Schauplatz angesehen werden. Auf diese Weise werden Studierende in unbewusste Prozesse hineingezogen und die Dynamik wird für sie erlebbar. Eine Analyse dieser Szenen kann für die Fallreflexion nutzbar gemacht werden. Die Unterscheidung zwischen dem privaten Anteil der Gegenübertragung (die biographischen Erfahrungen der Studierenden geschuldet ist) und dem öffentlichen Anteil der Gegenübertragung ist dabei wichtig. Der Gruppenleiter sollte bei der Analyse der Beratungsgespräche die privaten Aspekte der Gegenübertragung übergehen und die Aspekte mit der Gruppe herausarbeiten und für das Fallversehen nutzen, die eine Reaktion auf den vorgestellten Fall betreffen. Eine andere Analyseebene ist die der Gesprächstechnik. Die Phasen des Beratungsgesprächs mit ihren offenen (nondirektiven) und strukturierten (direktiven) Anteilen in der Gesprächsführung sind ebenso beobachtbar wie die Ritualisierung des Gesprächsbeginns und die Inszenierung des Gesprächsendes (Ratschlag als »Rausschmeißer«). Vor allem beim Vergleich unterschiedlicher Berater können die Studierenden beobachten, dass die Entfaltung unbewusster Dynamiken in ­einer zurückhaltenden Gesprächsführung des Beraters leichter gelingt. Die Techniken, im Rahmen kurzer Beratungsgespräche zu einem Problemverständnis zu © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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kommen, werden sichtbar, aber auch die Reaktion der Klienten, wenn sie sich vom Berater nicht richtig wahrgenommen fühlen. Studierende können beobachten, wie destruktiv falsche Ratschläge wirken. Zugleich werden die engen Grenzen eines solchen Settings deutlich: Sie bieten keinen Raum für die Vertiefung des Problemverständnisses durch die Klienten, die Arbeit an den Widerständen oder die Aufweichung von Wiederholungszwängen. Es bleibt beim Rat des Experten in Form einer Anregung, einer Weiterüberweisung, einer Bestärkung, Entlastung oder Korrektur des Lösungsweges. Was davon die Anrufer in welcher Weise umsetzen, bleibt beim Abschluss der Beratung offen. In der Regel sind Studierende überrascht, wie viel Informationen selbst kurze Textpassagen für ein psychoanalytisches Fallverstehen liefern, und gerade diese überraschenden Erkenntnisse ermöglichen es ihnen, wirkliche Lernerfahrungen zu machen. Aus der psychoanalytischen Kasuistik ist ja bekannt, dass sich im Teil schon das Ganze zeigt. Scharff beschreibt dies mit den Worten: »Was einerseits in einem lebenslangen Prozeß aus der Verborgenheit geholt werden will, ist andererseits auch in jedem Moment da« (Scharff, 1994, S. 334). Von daher entstehen in der Seminararbeit regelhaft Situationen, dass sich erste, zunächst nur vage Ein­ drücke zu Beginn des Gesprächs verdichten und durch weiteres Material bestätigt werden. Einfälle, die privaten Gegenübertragungsgefühlen entsprechen, können so im Gesprächsverlauf relativiert werden. Es hat sich zudem bewährt, dass der Seminarleiter zum Abschluss der Gesprächsanalyse die Erkenntnisse noch einmal zusammenfasst und mit den zentralen theoretischen Konzepten der Psychoanalyse in Verbindung bringt. Auf diese Weise werden psychoanalytische Konzepte für Studierende mit Leben erfüllt.

Resümee Das Interesse Studierender an der Psychoanalyse ist groß, aber es ist nicht einfach, das Erkenntnispotential der Psychoanalyse im Kontext gestufter Studiengänge zu vermitteln. Dies liegt auch am Gegenstand der Psychoanalyse selbst, weil die Lehre vom Unbewussten nicht ausschließlich auf kognitiver Ebene angeeignet werden kann. Die Arbeit an Kasuistiken ist ein bewährter Ansatz und wird hier anhand medial inszenierter Telefonberatungen durchgeführt. Auch wenn die Studierenden in der psychodynamischen Fallanalyse ungeübt sind, spricht meine Erfahrung mit vielen Studierendengruppen doch dafür, dass sie bei einem solchen Vorgehen in der Lage sind, unbewusste Prozesse zu erkennen und in dieser Hinsicht Evidenzerlebnisse erfahren können. Ziel dieser kasuistischen Arbeit wäre es, den Studierenden einen ersten Eindruck des analytischen Arbeitens und Reflektierens zu vermitteln in der Hoffnung, so viel Interesse zu wecken, dass sie postgradual psychodynamische Weiterbildungen und Supervisionen in Anspruch nehmen und auf diese Weise eine nachhaltig erfolgreiche Arbeit mit ihrer zukünftigen Klientel durchführen können. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Literatur Argelander, H. (1967). Das Erstinterview in der Psychoanalyse Teil I. Psyche – Z. Psychoanal., 21 (5), 341–368. Argelander, H.(1967). Das Erstinterview in der Psychoanalyse Teil II. Psyche – Z. Psychoanal., 21 (6), 429–467. Argelander, H. (1967). Das Erstinterview in der Psychoanalyse Teil III. Psyche – Z. Psychoanal., 21 (7), 473–512. Klüwer, R. (1983). Agieren und Mitagieren. Psyche – Z. Psychoanal., 37 (9), 828–840. Klüwer, R. (2000). Fokus – Fokaltherapie – Fokalkonferenz. Psyche – Z. Psychoanal., 54 (4), 299– 321. Koechel, R. (1984). Zur Vermittlung von Psychoanalyse an der Hochschule. Fragmente 12/13. Schriftenreihe zur Psychoanalyse (S. 148–159). Wiss. Zentrum II, Gesamthochschule Kassel. Nedelmann, C., Ferstl, H. (Hrsg.) (1989). Die Methode der Balint-Gruppe. Stuttgart: Klett-Cotta. Sandler, J., Dare, C., Holder, A. (1979). Die Grundbegriffe der psychoanalytischen Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta. Scharff, J. (1994). Pragmatismus oder Methodik? Psychoanalytisch orientierte 10-Stunden-Beratung im Spiegel der Supervision. Psyche – Z. Psychoanal., 48 (4), 324–360. Vogt, R. (1980). Organisation, Theorie und Technik eines psychoanalytischen Beratungsprojekts zur Ausbildung von Psychologiestudenten. Psyche – Z. Psychoanal., 34 (1), 24–53. Vogt, R. (1993). Psychoanalyse an der Universität. Journal für Psychologie, 1 (3), 52–55. Wellendorf, F. (1984). Bemerkungen zur Problematik der Vermittlung von Psychoanalyse an der Hochschule. Fragmente 12/13. Schriftenreihe zur Psychoanalyse (S. 134–146). Wiss. Zentrum II, Gesamthochschule Kassel.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Elisabeth Rohr

Supervision mit Studierenden in universitären Seminaren Eine besondere Form der Beratung und der Theorie-Praxis-Vermittlung

Die Kontroverse Mitte der 1970er Jahre fand eine intensive und in einer Reihe von Artikeln öffentlich ausgetragene Auseinandersetzung über Möglichkeiten und Grenzen alternativer, vor allem selbsterfahrungsbezogener und psychoanalytisch orientierter Formen des Lernens in der Universität statt (Kutter, 1976, 1977; Wellendorf, 1979, 1996). Es ging dabei konkret um die Frage, ob psychoanalytisch geleitete Selbsterfahrungsgruppen im universitären Setting einer Lehrveranstaltung eine bessere Chance als herkömmliche Seminarformen boten, bislang nur theoretisch vermittelte Inhalte und Theorieelemente zum Thema »Psychoanalyse« auch praktisch, und d. h. auf der Grundlage affektiven Erlebens, subjektiv begreifbar zu machen. Protagonisten der damaligen Kontroverse waren hauptsächlich der an der Frankfurter Universität lehrende Professor für Psychoanalyse, Peter Kutter, und einige seiner Mitarbeiter auf der einen Seite und der später an der Universität Hannover lehrende Professor für Psychologie, Franz Wellendorf, auf der anderen Seite. Der Kontroverse vorausgegangen waren eine Reihe experimenteller, gruppentherapeutischer Veranstaltungen an der Universität Frankfurt, allesamt initiiert von Peter Kutter. War man sich anfangs im Team der therapeutisch erfahrenen Gruppenleiter, zu dem neben Kutter auch Wellendorf, damals noch als Lehrbeauftragter, sowie einige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Kutters zählten, über Rahmen und Setting des versuchsweise etablierten universitären Lern- und Lehr-Experiments noch weitgehend einig, so schieden sich jedoch alsbald die Geister an der Frage der Angemessenheit der Methode. Differenzen entzündeten sich vor allem an der Frage, ob die psychoanalytische Technik unter diesen spezifischen Bedingungen, die kein therapeutisches Setting darstellten, einer Modifikation bedurfte oder quasi als Demonstrationsinstrument unverändert zur Anwendung gebracht werden sollte. Trotz aller Bemühungen ließ sich weder eine Einigung noch ein Konsens oder ein gegenseitiges Verstehen herbeiführen. Das lässt sich zumindest aus den vielfältigen Veröffentlichungen zu diesem Experiment erschließen (Kutter, 1976; Leber, 1977; Moser, 1977; Wellendorf, 1979). Ein Blick auf die inhaltlichen Argumentationen, die diese Auseinandersetzung prägten, und auf die Modifikationen, die nach den ersten heftigen Kritiken vorgenommen wurden, zeigt, dass diese Auseinandersetzung auch dreißig Jahre später © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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noch insofern interessant und vor allem auch relevant ist, als heute die theoretische Auseinandersetzung mit der Frage, wie sinnvoll es ist, Beratung und Supervision und damit verbundene Selbsterfahrung im Sinne einer angewandten Psychoanalyse als Studiengänge an Universitäten und Fachhochschulen zu etablieren, einem geradezu erschreckend anmutenden Pragmatismus gewichen ist. Angesichts der im Zuge des Bologna-Prozesses geradezu inflationären Entwicklung von Bachelor- und Masterstudiengängen besonders im Bereich von Beratung, Super­ vision, Therapie und Mediation an Fachhochschulen wie Universitäten scheinen die damals in den 1970er Jahren in vielen Artikeln aufgeführten und durchaus als gewichtig einzustufenden Argumente für und wider die Einführung von Selbsterfahrung in die universitären Lehrseminare heute nicht einmal mehr der Rede wert. Es scheint so, als habe diese Auseinandersetzung überhaupt nie stattgefunden, wird doch in neueren Veröffentlichungen, wenn überhaupt, so dann allenfalls am Rande, darauf Bezug genommen (Fröhlich u. Göppel, 2003; Würker, 2007; Hierdeis u. Walter, 2007). Heute scheint nur noch die Frage zu interessieren, mit welcher methodischen Ausrichtung diese Studiengänge zu etablieren sind, und schon lange spielt die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, spezifische Beratungs-, Supervisions- und Therapieausbildungen mit entsprechenden Selbsterfahrungsanteilen als Studiengänge an akademisch ausgerichteten Einrichtungen zu etablieren, keine oder nur eine unbedeutende und von daher zu vernachlässigende Rolle. Bedenken tauchen allenfalls indirekt in den Konzeptionen als Konzessionen an die damalige Kontroverse auf, wenn Selbsterfahrung strikt von dem übrigen Lehrbetrieb getrennt und zum Beispiel an Lehrbeauftragte ausgelagert wird, die dann in der Regel nicht prüfungsberechtigt sind und dem Lehrkörper nicht unmittelbar angehören.1 Konsens scheint auch zu sein, dass in diesen und verwandten Studiengängen in aller Regel Supervision und teilweise auch Selbsterfahrung als essentiell betrachtet werden und von daher als ein relevanter, und zwar obligatorischer, Teil des Studiums curricular etabliert sind, jedoch ansonsten streng von der Lehre getrennt bleiben. Das ist zweifellos insofern ein Fortschritt, als affektive und selbstreflexive Lernelemente als integraler Bestandteil spezifisch inhaltlich ausgerichteter Studiengänge nicht mehr in Frage gestellt werden. Allerdings ist durch die strikte Trennung das Problem nicht überwunden, schließlich bleibt die von Wellendorf (1996) in die Debatte eingebrachte Kritik, dass universitäre Selbsterfahrung und Supervision zwingend einer Reflexion des institutionellen Kontextes bedürfen, wenn effektive Lernerfolge erzielt werden sollen. Diese inhaltlich weitreichende Kritik spiegelt sich jedoch in den heutigen Konzeptionen nicht wider, bleibt unerwähnt, so als sei mit der Trennung von Selbsterfahrung und Lehrbetrieb der Kritik bereits Genüge getan.

1 Siehe hierzu exemplarisch Konzepte der Universität Hannover, der Universität Kassel, der FH Frankfurt und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (siehe »InternetQuellen« nach dem Literaturverzeichnis). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Die Frage bleibt also, warum dieser inhaltlich entscheidende Aspekt der Kon­ troverse in den aktuellen Konzeptionen der Studiengänge keine Rolle mehr zu spielen scheint. Um die inhaltliche Tragweite und Bedeutung dieses Kritikpunktes nachzuvollziehen, ist es notwendig, einen kurzen Blick zurückzuwerfen: Was war damals geschehen und woran entzündete sich konkret die Kontroverse, was ist daraus geworden und was ist davon übrig geblieben?

Erste Erfahrungen mit Selbsterfahrung an der Uni Peter Kutter hatte 1975, zu der Zeit tätig als Professor für Psychoanalyse am Institut für Psychologie der Frankfurter Universität, eine Gruppe von Assistenten und Assistentinnen, Lehrbeauftragten und einen Kollegen, nämlich Franz Wellendorf von der Universität Hannover, zusammengerufen, um nach einigen Erprobungs­ erfahrungen in Berlin nun auch in Frankfurt das Experiment zu wagen, Psychoanalyse nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch in universitären Lehrveranstaltungen zu vermitteln. Die Experimentierfreude war zu jener Zeit, also in den Jahren nach 1968, noch relativ groß und aus den Artikeln ist deutlich diese Aufbruchstimmung, die Freude am Experiment, die Neugier auf etwas Neues zu spüren und damit auch der Mut, mit den herkömmlichen und von Lehrenden wie Professoren als unbefriedigend erlebten Seminarformen und -strukturen zu brechen. Statt den traditionell wöchentlich angesetzten Lehrveranstaltungen war nun geplant, in Kompaktform, also an vier konsekutiven Tagen, ganztäglich, in Kleingruppen Psychoanalyse »live« erfahrbar zu machen. Die Überlegungen gingen dabei von der Erfahrung aus, dass die Arbeit in Gruppen an der Universität »häufig unproduktiv« ist, »in Vorlesungen, Seminaren und Kursen wird häufig wenig gelernt, und wenn diskutiert wird, so nicht selten mit destruktivem oder resignativem Ausgang« (Kutter, 1977, S. 256). Kutter spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Mahler (1969, S. 772) von einem »pathogenen Hochschul-Klima«, von dem sowohl die Studierenden wie die Lehrenden betroffen waren (und wie heute hinzuzufügen wäre: immer noch sind). Da seiner Auffassung nach weder von politischer noch von administrativer Seite her Abhilfe zu erwarten war, zielte Kutters Initiative auf eine »Optimierung der Didaktik, des Lehrens und Lernens«. Durch Selbsterfahrungs- und Supervisionsgruppen sollte »ein besseres Umgehen aller Beteiligten mit den an der Hochschule vorhandenen Gruppen« (Kutter, 1977, S. 256) erreicht werden. Im Verlauf der Jahre wurden die Selbsterfahrungs- und Supervisionsgruppen immer stärker modifiziert, so dass deutlich eine Entfernung von dem ursprüng­ lichen Design, das sich stark an dem Modell von klassischen Therapiegruppen ­orientiert hatte, feststellbar war. Als Ergebnis seiner über mehrere Jahre durchgeführten Experimentalgruppen hielt Kutter fest, dass mit seinem Konzept »genuin therapeutische Effekte von nicht zu unterschätzender gesundheitspolitischer Bedeutung und eine Optimierung des Lehrens und Lernens ausgehen«, die auch bil© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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dungspolitisch von großer Relevanz wären (Kutter, 1977, S. 264). Er verstand diese therapeutischen Effekte im Sinne »einer Neurosenprophylaxe« bei den Studierenden, wobei seiner Auffassung nach die Effekte für die einzelnen Teilnehmer umso größer waren, »je mehr der Gruppenprozess, an dem die Teilnehmer partizipierten, die entscheidenden Stufen der psychosexuellen Entwicklungsphasen regressiv wiederbelebt« (Kutter, 1977, S. 264). Bereits an dieser Aussage lässt sich erkennen, dass Kutter inhaltlich als Psychoanalytiker argumentierte und in seinem Denken das klassische psychoanalytische Modell des Verstehens auf die universitäre Situation übertrug. Auch in späteren Veröffentlichungen steht bei Kutter (1977) und seinen Mit­ arbeitern die Beschreibung klassisch psychoanalytischer Phänomene, die im Verlauf des Gruppenprozesses zu beobachten waren, im Vordergrund. Psychosexuelle Phasen, Regression, Übertragung und Gegenübertragung, Angst, Abwehr und ­Widerstände werden ebenso beschrieben wie Bion’sche Phänomene, von der Idealisierung bis hin zur symbolischen Tötung des Leiters, aber auch Geschlechter­ konflikte, Geschwisterrivalität und schließlich andeutungsweise auch psychopathologische Persönlichkeitsstörungen einzelner Gruppenmitglieder. Trotz der relativen Kürze der Kleingruppenprozesse, die ja in Kompaktform an vier aufeinanderfolgenden Tagen stattfanden, und trotz aller auftauchenden Schwierigkeiten, die konsequent psychoanalytisch gedeutet wurden, schätzt Kutter, wie später auch seine Mitarbeiter, das Experiment als äußerst gelungen ein. Dies schlägt sich auch in den vielfältigen Veröffentlichungen zu diesem Thema nieder (Fürstenau, 1979; Kutter, 1984; Leber, 1986). Aus dem in einem Artikel von Kutter, Laimböck und Roth (1974) detailliert beschriebenen Lernziel wird schließlich deutlich, was der eigentliche und vehement von Wellendorf (1979) aufgegriffene und in die Diskussion gebrachte Kritikpunkt war. In dem Artikel von Kutter et al. heißt es: »Lernziel: Vermittlung von Psychoanalyse durch die Teilhabe am Gruppenprozess. Es soll erlebbar und spürbar werden, welche infantilen Gefühle, d. h. Gefühle, die einer bestimmten Entwicklungsstufe eines Kindes entsprechen, mit bestimmten Vorgängen in der Gruppe einhergehen. Wenn zum Beispiel ein ödipales Thema im Vordergrund steht, etwa sexuelle Wünsche der Teilnehmer untereinander, Paarbildungen usw., so erfährt die Gruppe, welche infantilen Gefühle damit verbunden sind, wie etwa Eifersucht, das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, sich zu schämen oder schuldig fühlen« (Kutter et al., 1974, S. 179). Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass die Kritik Wellendorfs, die sich vor allem an der mangelnden Rückbindung an den institutionellen Kontext entzündete, weder theoretisch verstanden wurde noch in der Praxis, und zwar trotz aller Modifikationen, umgesetzt werden konnte. Das lässt sich konkret an der Beschreibung eines Gruppenprozesses verdeutlichen, der als paradigmatisch für den Ablauf der an der Universität etablierten Selbsterfahrungsgruppen gelten kann: »Was den Ablauf der Gruppenprozesse betrifft, so kamen folgende Verläufe regelmäßig vor: 1. eine regressive Bewegung der ganzen Gruppe auf Probleme oraler Abhän© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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gigkeit, auf solche analer Konkurrenz sowie auf diejenigen zwischen Mann und Frau; 2. eine Bewegung des Gruppenprozesses von Abhängigkeit über Kampf mit dem und Revolte gegen den Leiter bis zu größerer Unabhängigkeit vom Leiter« (Kutter et al., 1974, S. 184). Wellendorf kritisiert an diesem Vorgehen sowohl »die Gefahr einer Blindheit für die institutionelle Realität« wie auch »die Gefahr einer naiven Anwendung von Psychoanalyse« (Wellendorf, 1979, S. 160). Er betont dabei, dass diese Art von Veranstaltung sich gut »als Kontrastprogramm zum traditionellen akademischen Lehrbetrieb« eignet, wobei vergessen wird, »dass es sich um eine Lehrveranstaltung an der Universität handelt, deren institutionelle Gebundenheit bewusst bleiben muss, sonst droht das Seminar im Erleben zu einem exotischen Garten der Beziehungen und Gefühle in einem institutionellen Niemandsland zu werden« (Wellendorf, 1979, S. 162). »Deutungen«, so Wellendorf weiter, »werden unter der Hand zu Beschwörungsformeln, mit deren Hilfe die unerfreuliche und leidvolle Realität der Lehr- und Lernmaschine Universität aus dem gemeinsamen faszinierenden ›Erlebnis‹ herausgehalten wird« (Wellendorf, 1979, S. 162). Exemplarisch verdeutlicht wird dies an Fallbeispielen aus diesen Selbsterfahrungsgruppen, wobei Wellendorf zu zeigen vermag, dass allein die Gruppenzusammenstellung, bzw. die durch die Studierenden vorgenommene Zuordnung zu einzelnen Gruppenleitern, bereits von institutionellen Faktoren geprägt ist. So wollten viele der Teilnehmenden lieber zum Leiter der Veranstaltung (Kutter) in die Gruppe als in eine Gruppe, die von einem seiner Mitarbeiter oder einer Mitarbeiterin geleitet wurde. Weder die hier deutlich werdende kollegiale Rivalität noch die offensichtliche Hierarchie unter den Gruppenleitern wurden jedoch später in den Gruppen thematisiert und in die Deutungen einbezogen, obwohl gerade diese Rivalität und die Hierarchie unter den Lehrenden für Studierende einen wichtigen und prägenden Aspekt ihrer studentischen Lernerfahrungen abbilden. Ohne diesen institutionellen Bezug aber, so moniert Wellendorf, läuft und läuft die Gruppe und »alle haben ein Erlebnis, aber arbeiten nicht an einer Aufgabe« (Wellendorf, 1979, S. 167). Es geht also darum, sich nicht unreflektiert jenen in der Selbsterfahrungsgruppe auftauchenden symbiotischen und regressiven Wünschen hinzugeben, sondern sich immer wieder bewusst zu machen, dass gerade diese symbiotischen und regressiven Impulse in einer hoch leistungsorientierten und auf kognitives Lernen ausgerichteten Organisation, wie sie Universitäten nun einmal darstellen, keinen Platz haben und dass es eine durchaus leidvolle Erfahrung sein kann, darauf zu verzichten. Hinzu kommt, dass die Selbsterfahrung in einer Institution stattfindet, zu deren zentralen Aufgaben es gehört, zu werten und zu bewerten, was jedoch in einem diametralen Gegensatz zum Anliegen von quasi therapeutisch geleiteten Selbsterfahrungsgruppen steht. Eine Selbsterfahrungsgruppe aber, die diesen Bogen zur institutionellen Realität nicht schlägt, verführt mithin Studierende dazu, im Rahmen der Gruppe therapeutische Bedürfnisse zu äußern und befriedigen zu wollen, die sich jedoch in diesem Kontext nicht befriedigen lassen und bestenfalls zu einer Pseudo-Befriedigung führen, die aber dann den schalen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Geschmack von Manipulation und eventuell sogar Missbrauch in sich trägt. Diese Erfahrung führt dann zwangsläufig zu Aggression, Frustration und Enttäuschung. Was Studierende jedoch lernen können angesichts der Bewusstwerdung und d. h. auch der adäquaten Deutung eventuell auftauchender therapeutischer, regressiver und symbiotischer Bedürfnisse, ist, dass nicht die Universität, sondern andere Einrichtungen der richtige Ort für die Befriedigung dieser Bedürfnisse sind, dass aber gerade die strikt kognitiv ausgerichtete Bildungseinrichtung Universität dazu verleitet, das hier herrschende und konzeptionell vorgesehene Defizit emotionaler Bedürfnisbefriedigung besonders stark zu empfinden. Wellendorf (1979) betont also explizit, dass es nicht unmöglich ist oder gar unsinnig, psychoanalytisch orientierte Selbsterfahrungsgruppen im universitären Zusammenhang durchzuführen, sondern nur, dass die Deutungstechnik wie auch das Setting und der Rahmen insgesamt an den institutionellen Kontext anzupassen und diese Faktoren konkret in die Deutungsarbeit einzubeziehen sind. Wie dies konkret aussehen und inhaltlich ohne große Schwierigkeiten auch umgesetzt werden kann, möchte ich an einem Fallbeispiel aus meiner eigenen und gegenwärtigen universitären Praxis verdeutlichen.

Supervision »live« im Uni-Seminar Seit mehreren Jahren biete ich im Rahmen meiner universitären Lehrveranstaltungen Kompaktseminare zu Supervisions- und Mediationsthemen an. Sie sind jeweils so konzipiert, dass theoretische Inputs von Seiten der Studierenden in Form von Referaten sowie Übungen in Kleingruppen zur Demonstration spezifischer methodischer Elemente und schließlich eine in aller Regel sehr intensive exemplarische, fallbezogene Arbeit die Praxis von Supervision bzw. Mediation verdeutlichen und vermitteln soll. Sowohl Theorie wie auch Methode basieren dabei auf der Gruppenanalyse (Foulkes, 1992), da die spätere Arbeitspraxis von Pädagoginnen und Pädagogenen wie auch von Lehrerinnen und Lehrern überwiegend gruppenbezogen ist und fast ausschließlich in Gruppen stattfindet. Die Gruppenanalyse hat sich dabei bewährt als eine besonders differenzierte Form eines gruppentherapeutischen Verfahrens, das sowohl das Individuum wie auch die Gruppe als Ganzes im Blick hat und sich in seinem Deutungsrepertoire sowohl an der Psychoanalyse wie auch an Erkenntnissen der Soziologie (Elias, 1978) orientiert. Der Andrang zu diesen etwas aus dem Rahmen der üblichen pädagogischen Veranstaltungen herausfallenden Seminaren ist jedes Mal sehr groß, da nicht nur die Tatsache, dass es sich hier um Kompaktseminare handelt, sondern vor allem auch der deutlich aus der Seminarbeschreibung zu erkennende Praxisbezug den Interessen der Pädagogik-Studierenden wie auch der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer sehr entgegenkommt. Ernüchterung und zumeist auch eine gehörige Portion an Aggression und Frustration treten deshalb zumeist schon während der Vorbesprechung zur Veranstaltung auf, da deutlich wird, dass die besondere Form © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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der Praxisorientierung des Seminars keine 80 Teilnehmende erträgt und deshalb nur rund die Hälfte der Interessenten aufgenommen werden kann. Um die Frustration nicht zu arg zu strapazieren, werden dann bis zu 45 Studierende zugelassen, obwohl eine verantwortungsvolle Arbeit nicht mehr als 25 vorsehen würde. Dieser erste Realitätsschock im Seminar hat dann allerdings ungewollt positive Auswirkungen und zeigt sich in einem hohen Maß an Verbindlichkeit, an Zuverlässigkeit und auch an Pünktlichkeit, was im regulären universitären Betrieb allesamt zu Fremdwörtern degradierte Erfahrungen sind. Die Auswahl der Teilnehmenden erfolgt nach sachorientierten und für alle nachvollziehbaren Kriterien, und zwar nach Anzahl der Semester, d. h. diejenigen, die sich erst in der Mitte ihres Studiums befinden und deshalb die Möglichkeit haben, noch im nächsten Semester die Veranstaltung zu besuchen, können sich auf einer Warteliste eintragen, alle anderen, höheren Semester erhalten eine Zulassung zum Seminar. Das Eintragen auf der Warteliste erleichtert dabei den Abschied und mindert auch die Frustration. Die zugelassenen Studierenden fühlen sich jedoch nach erfolgreicher Überwindung dieser ersten Hürde als Auserwählte und zeigen eine besonders hohe Lernmotivation. Aufgrund der hohen Anzahl von Anwesenden entsteht von daher immer und zwangsläufig eine Großgruppensituation, was eine besondere Schwierigkeit darstellt, wenn es um die Vermittlung affektiver Lerninhalte geht. Dies gilt insbesondere für die supervisorischen Elemente des Seminars, also für die konkrete Fallarbeit. Um die nachmittäglichen Supervisionssitzungen trotz der Großgruppensituation noch als affektive Lernerfahrung zu realisieren, gestalte ich sie in Form einer fishbowl, wobei ein kleiner Kreis in der Mitte die Supervisionsgruppe bildet, während die im Außenkreis Sitzenden den Gruppenprozess und die supervisorische Fallbesprechung nach spezifischen und jeweils vorher erläuterten vorgegebenen Kriterien beobachten. Bei vier Fallbesprechungen an zwei Tagen erhält so jeder die Chance, einmal in der Mitte des Kreises unter den Supervisanden zu sitzen. Die vorgegebenen Kriterien, die der Außenkreis zu beobachten hat, richten sich nach den zuvor theoretisch abgehandelten, erläuterten und diskutierten Inhalten. Die Aufgabe besteht zum Beispiel darin, regressive Prozesse, Abwehr und Widerstand oder auch Schlüsselszenen, wie etwa die Effekte meiner Interventionen, atmosphärische Veränderungen im Gruppenprozess und körpersprachliche Signale zu beobachten, zu notieren und im Anschluss an die supervisorische Fallbesprechung im Plenum, in einer kasuistisch gestalteten Diskussionsrunde, in die supervisorische Debatte einzubringen. Hierbei geht es vor allem darum, einen Blick für den Prozess und für unbewusste prozesshafte Dynamiken zu gewinnen. Auf diese Weise wird zwar einerseits supervisorische Praxis »live« vorgeführt und erlebbar gemacht, jedoch zugleich die Aufgabe der Universität, nämlich zu lehren und zu lernen, nicht aus den Augen verloren. Das mildert auch die Angst vor dem unbekannten Lernprozess und vermittelt Halt und Containment, da universitäre und d. h. allseits vertraute, kognitive Aufgaben ebenfalls gefragt und ge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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fordert sind. Durch diese bewusste Einbindung von Beobachtung und anschließender kasuistischer Auswertung werden regressive Prozesse während des supervisorischen Gruppenprozesses zwar erlaubt, jedoch zugleich begrenzt, symbiotische Wünsche zugelassen, aber eingeschränkt. Es kommt dabei durchaus zu deutlich wahrnehmbaren Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen, diese werden jedoch nicht in allen Fällen angesprochen, sondern nur dann, wenn die Gruppe ausreichend stabil und gereift erscheint und sich, unabhängig davon, auf diese Weise neue Aspekte und Einsichten in die Fallbesprechung einführen lassen. Vor allem scheint mir wichtig, dass in die Deutungen die Tatsache einbezogen und berücksichtigt wird, dass selbst minimal erscheinende supervisorische Elemente in einem Seminar bereits ein Kontrastprogramm zur Didaktik der üblichen akademischen Lehr- und Lernerfahrungen darstellen und stark verunsichernd wirken können. Diese Erfahrungen können jedoch als durchaus kritische und produktive Einsicht in die Erkenntnisgewinnung und Fallbesprechung einbezogen werden. Dies möchte ich an einem Fallbeispiel konkretisieren.

Eine Praktikantin in Afrika Eine junge Frau berichtet von ihren Praktikumserfahrungen, die sie in einem Kinderheim in Afrika machte. Diese Erfahrungen lagen schon eine Weile zurück und sie hatte die Praktikumsphase wie auch den universitär notwendigen Abschluss­bericht schon längst abgeliefert und war davon ausgegangen, dieses Kapitel ihres Studiums eigentlich abgeschlossen zu haben. Doch dann wurde ihr bewusst, dass sie wesentliche Erfahrungen in den abschließenden Praktikumsbericht nicht auf­genommen hatte und es diese Erlebnisse waren, die sie nachhaltig peinigten. Sie berichtet dann sehr anschaulich von ihrer dortigen Lebens- und Arbeitssituation und ihrer Erfahrung mit afrikanischen Erziehungsmethoden. Sie wohnte mitsamt einer ebenfalls weißen Praktikumskollegin auf dem Gelände des Heimes und erlebte hautnah die vielfältigen Schikanen, denen die Kinder durch die Nonnen, die das Heim leiteten, ausgesetzt waren. So beobachtete sie eines Tages, wie ein kleines, dünnes Mädchen wegen einer minimalen Regelverletzung von einer Nonne mit einem Stock geschlagen und malträtiert wurde. Das Mädchen nahm alles klaglos hin, weinte nicht, schrie nicht und wehrte sich nicht. Die Praktikantin erzählte dann, wie sie erstarrt und wie im Schock zusah und nicht in der Lage war einzugreifen. Unter Tränen schildert sie dann, dass sie die gesamte Zeit ihres restlichen Aufenthaltes immer versuchte diesem Kind aus dem Wege zu gehen und falls es nicht zu vermeiden war, ihr dann jedoch nicht in die Augen sehen konnte. Der Nonne ging sie ebenfalls aus dem Weg. In der Gruppe breitete sich zunächst Stille, gemischt mit leisem Entsetzen und Unverständnis aus. Die Tränen der jungen Frau schienen allen peinlich. Ich thematisierte dann, dass diese junge Frau über Erfahrungen sprach, die sie in ihrem für das universitäre Seminar geschriebenen Praktikumsbericht nur unvollständig bzw. gar nicht erwähnt hatte, und diese Auslassungen aber der emotional bedeutsame Teil ihrer Erfahrungen und zugleich noch unabgeschlossen waren und nun hier wie ein Kloß im Raume standen. In der nun folgenden supervisorischen Besprechung widmete sich die Gruppe über längere Strecken einer Reihe von Fragen, die der Fall aufgeworfen hatte und die die junge Frau sich nun bemühte zu beantworten. Es war wie ein zaghaftes Herantasten an den Fall, weit von außen zunächst, doch dann immer näher an das eigentliche Geschehen heran, bis wir schließlich wieder bei © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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der zentralen Szene angelangt waren, die bei allen viel an Irritation und auch Beunruhigung ausgelöst hatte. Die Fragen, die dann der jungen Frau gestellt wurden, klangen zunächst ungewollt vorwurfsvoll: Warum hatte sie das Mädchen nicht schützen können, warum war sie nicht eingeschritten, warum hatte sie nichts sagen können? Obwohl sie diese Fragen nicht beantworten konnte, wurde doch offensichtlich, welche Scham die bloße Erinnerung in ihr auslöste und wie sehr die Fragen der anderen Studierenden diese Scham wiederum verstärkten. In ihrem Ringen zwischen der Abwehr der Erinnerung und dem Verlangen, das Unbegreifliche doch endlich verstehen zu wollen, ließ sich der innere Konflikt, der sie damals gelähmt hatte, langsam erahnen. Sie hatte nicht gewagt einzuschreiten, weil sie eine Praktikantin war und man sie deutlich merken ließ, dass sie nicht wirklich dazugehörte und außerdem ganz unten in der Hierarchie der Betreuer im Heim stand. Außerdem aber war sie eine Weiße und scheute autoritär anmutende Interventionen, die ihr als kolonialistische Attitüde hätten ausgelegt werden können, und zum Schluss wurde noch deutlich, dass sie fürchtete, ihren Praktikumsplatz zu verlieren, wenn sie Stellung bezog, und zwar Stellung gegen die etablierten Erziehungsmethoden und -regeln in diesem afrikanischen Heim. Deutlich wurde dann auch, dass es insbesondere dieses Eigeninteresse war, das ihr fürchterliche Schuldgefühle einflößte, unter denen sie nach wie vor litt. Sie schämte sich dieser »dunklen Seite« in ihr und schämte sich, schuldig geworden zu sein an diesem Kind. Es war, als würde die gesamte Bürde des Kolonialismus allein auf ihren Schultern lasten, eine Bürde, die sie fast erdrückte. Dabei hatte sie es doch besser machen und vor allem auch helfen wollen, war ausdrücklich bis nach Afrika gereist, um ihr Praktikum zu absolvieren, und nun fühlte sie sich, als ob sie gescheitert wäre. Sie weinte bitterlich. Eine Wende in der weiteren supervisorischen Fallarbeit ergab sich jedoch, als deutlich wurde, dass die anderen in der Gruppe ihr keine Vorwürfe mehr machten, sie auch nicht verurteilten, sondern im Gegenteil ihr sehr mitfühlend zu verstehen gaben, dass sie sie verstanden und dass sie in dieser Situation womöglich auch nicht den Mut gehabt hätten zu intervenieren. Einige berichteten dann von ähnlichen Situationen, in denen sie wie paralysiert dastanden, nicht intervenieren konnten, obwohl sie es für richtig gehalten hätten, und im Nachhinein sich mit schrecklichen Schuldgefühlen herumplagten. Das war für alle sehr tröstlich zu erfahren, dass es anderen ähnlich ergangen war und sie nicht allein diese Erfahrung hatten machen müssen. Das war entlastend und schuf eine sehr versöhnliche, zugewandte, liebevolle Atmosphäre im Raum. An diesem Punkt wurde der innere Kreis aufgelöst und die Beobachtungen und Wahrnehmungen der Außengruppe in die Besprechung einbezogen. Anders als die Teilnehmenden des inneren Kreises fokussierten die Studierenden des Außenkreises vor allem auf die Tränen ihrer Kommilitonin und auf das deutlich wahrnehmbare Gefühl von Scham und Peinlichkeit in der Gruppe. Sowohl die Tränen wie auch die deutlich spürbare Scham hatten nachhaltige Irritationen ausgelöst. Ich machte an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass Tränen wie überhaupt Gefühle zu zeigen ungewöhnlich, wenn nicht sogar verpönt sind in einer akademischen Welt, wo es doch immer nur um kognitive Leistungen, um Klugsein und intellektuelles Brillieren geht. In diesem Ambiente stören Tränen und Gefühle und wenn sie dann doch auftauchen, werden sie als peinlich und beschämend erlebt. Nicht umsonst hatte die junge Frau den affektiven und, wie sich nun zeigte, zentralen Gehalt ihrer Praktikumserfahrungen aus dem Bericht herausgelassen, aber, wie deutlich wurde, waren sie damit noch lange nicht verschwunden und schon gar nicht vergessen. Der Praktikumsbericht hatte in der Form, in der er zur Benotung abgeliefert worden war, nur einen minimalen Lerneffekt enthalten, da er gezielt die emotionale Dimension unberücksichtigt gelassen hatte. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Von daher kann durchaus behauptet werden, dass ein Lerneffekt überhaupt erst dann eintrat, als in einem mehr oder minder geschützten Rahmen dieser affektive Gehalt betrachtet, entschlüsselt und verstanden werden konnte. Erst das Besprechen und das Verstehen der aus dem Praktikumsbericht ausgelassenen Szene vervollständigte eine zentrale, jedoch schambesetzte Lernerfahrung und schloss eine Lücke, die bislang eine Symbolisierung der Erfahrung verhindert hatte. Nun aber wurde deutlich, dass die junge Frau, möglicherweise aus einer zwar von Hilflosigkeit, aber auch von tiefer, innerer Solidarität und Scham geprägten Identifikation mit dem afrikanischen Mädchen, ebenso wie dieses ihre Gefühle versteckt und diese nicht hatte zeigen können. Es existierte eine sehr nachhaltige, wenngleich schmerzhafte und ihr bislang nicht bewusst gewordene Verbundenheit mit diesem Mädchen in dem afrikanischen Heim, die sich in diesem universitären Setting jedoch verbot weiter anzuschauen. Doch diese heimliche Verbundenheit deutete in beiden Fällen darauf hin, dass sowohl dort im Heim wie an der heimischen Universität Gefühle tabuisiert und verpönt sind und, wenn überhaupt, dann nur in einer als Kontrastprogramm zu bezeichnenden Veranstaltung zum Ausdruck gelangen. Dies, obwohl Gefühle mit viel Macht auch in der Welt der Wissenschaften und in universitären Seminaren an die Oberfläche drängen und erst die Aufdeckung und Bearbeitung des affektiven Gehalts Lernen signifikant, vollständig und damit subjektiv und symbolisch bedeutsam werden lässt.

Fazit Nicht nur die Psychoanalyse, sondern auch die Gruppenanalyse und das, was ich affektives Lernen (Klippert, 1994; Muck u. Trescher, 2001) nenne, lassen sich durchaus sinnvoll in den regulären Lernbetrieb integrieren, praxisnah vermitteln und subjektiv erlebbar machen, allerdings in dosierter und klar institutionell verankerter Form, wobei Verstehen, Deuten und Lernen miteinander verbunden werden. Subjektiv erfahrbare psychoanalytische bzw. gruppenanalytische Elemente, wie Regression, Abwehr, Widerstand, Spiegelung, Identifikation, und multiple, gruppale Übertragungsprozesse lassen sich wahrnehmen, erkennen, benennen und in einen fallbezogenen wie auch institutionellen Kontext einordnen und verstehbar machen. Auf diese Weise wird ein Prozess der Selbstreflexion angestoßen, der eine Brücke schlägt zwischen subjektivem Verstehen und kognitiven Lernvorgängen, so dass hier eine Transformation zum affektiven Lernen möglich wird. In der universitären Wirklichkeit erwächst somit aus der Notwendigkeit, die institutionelle Komponente neben dem psychologischen bzw. gruppenanalytischen Interpretieren des Fallgeschehens gleichgewichtig zu berücksichtigen, eine zusätzliche und wertvolle Chance des Verstehens und Begreifens. Erst durch diese institutionelle Rückbindung verstärkt und verdichtet sich die Wahrheit des Erkenntnisprozesses und die Plausibilität eines sich neu konstellierenden Verstehenszusammenhangs. Die Frage ist allerdings, ob diese Zusammenhänge erkennbar werden können, wenn sie abge© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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trennt und dann auch noch in eigenständigen Formaten als Supervisions- bzw. als Selbsterfahrungsgruppen von externen Lehrbeauftragten dargeboten werden. Zumindest dürfte sich der Druck der Studierenden, die ein wirklich universitäres Kontrastprogramm wünschen, erhöhen, um zumindest hier die unangenehme Realität der akademischen Welt außen vor zu lassen. Und wahrscheinlich waren es Mitte der 1970er Jahre auch nicht nur die Nachwehen der studentischen Revolte, die den Wunsch bei den Professoren und Dozenten aufkommen ließ, ein universitäres Kontrastprogramm zu etablieren, sondern auch das Leiden an einer als abgespalten erlebten Welt der Wissenschaft, die affektivem Erleben und Lernen so feindlich gesinnt ist und deshalb auch so wenig bzw. gar keinen Raum zubilligt. Aber das hier präsentierte Fallbeispiel macht deutlich, dass eine Optimierung des Lehrens und Lernens in der Tat neue Formate braucht, die anders sind als jene in den 1970er Jahren erprobten. Wichtigste Erkenntnis wäre demzufolge, dass prinzipiell und trotz der strukturell verankerten Trennung von Lehrbetrieb und Selbsterfahrung, Supervision oder Therapie in den Selbsterfahrungsgruppen, in der Supervision und in der Therapie der institutionelle Kontext als Rahmen und damit als zentrale Referenz in den Reflexionsprozess und damit in alle Deutungen einzubeziehen ist und dann auch erkenntniserweiternde Möglichkeiten des Lernens und Verstehens eröffnet. Wird das emotionale Erleben im konkreten professionellen Handeln nicht nur auf der Folie subjektiver Erfahrung gedeutet, sondern auch als Abbild institutioneller Realitäten verstanden, lässt sich dieser Reflexionsprozess auch nutzbar machen für pädagogische Lernprozesse, die dann einen emotional wie kognitiv weiterführenden und innovativen Erkenntniszusammenhang ermöglichen.

Literatur Elias, N. (1978). Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Foulkes, S. H. (1992). Gruppenanalytische Psychotherapie. München: Pfeiffer. Fröhlich, V., Göppel, R. (Hrsg.) (2003). Was macht die Schule mit den Kindern? – Was machen die Kinder mit der Schule? Psychoanalytisch-pädagogische Blicke auf die Institution Schule. Gießen: Psychosozial-Verlag. Fürstenau, P. (1978). Zur Psychoanalyse der Schule als Institution. Argument Studienheft 13, 65–78. Fürstenau, P. (1979). Zur Theorie psychoanalytischer Praxis. Stuttgart: Klett-Cotta. Hierdeis, H., Walter, H. J. (2007). Bildung, Beziehung, Psychoanalyse. Beiträge zu einem psychoanalytischen Bildungsverständnis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Klippert, H. (1994). Methoden-Training, Übungsbausteine für den Unterricht (14. Aufl.). Weinheim: Beltz. Kutter, P. (1976). Probleme der Vermittlung von Psychoanalyse an der Hochschule. Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, 11, 61–88. Kutter, P. (1977). Psychoanalytisch orientierte Gruppenarbeit an der Hochschule – Möglichkeiten und Grenzen. In: Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 11, 256–266. Kutter, P. (1984). Psychoanalyse in der Bewährung. Methode, Theorie und Anwendung. Frankfurt a. M.: Fischer. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Die Bedeutung der psychoanalytischen Theorie und Praxis für die Beratung

Versteht man Beratung nicht in simplem Sinne des Ratgebens, sondern im Sinne eines reziproken Kommunikationsprozesses, in dem in gemeinsamer Arbeit Ursprünge und Zusammenhänge bestehender Probleme sowie lebbare Lösungsmöglichkeiten für Konflikte gefunden werden sollen, dann erhebt sich die Frage, über welche Wissensvoraussetzungen und Haltungen ein Berater verfügen muss. Psychische Probleme, Partnerkonflikte, Sexualstörungen usw. sind im Allgemeinen Bestandteil gestörter Erlebens-, Verhaltens- und Kommunikationsformen im Kontext zeitspezifischer gesellschaftlicher Bedingungen. Notwendiges Wissen zentriert sich daher um die Frage, wie Erleben und Verhalten entstehen, wodurch ihre Form aufrechterhalten bleibt und ob und wie sie entwickelt und verändert werden könnte. Gesucht wurde im Jahre 1969 von Pro Familia (Sexual- und Schwangerschaftskonfliktberatung) eine Theorie und eine davon abgeleitete Praxis, um dies beantworten zu können, mit der Bitte, entsprechende Kurse einzurichten. Der Autor hat ein entsprechendes Curriculum aufgestellt und für 12 Jahre die fachliche Ausbildungsleitung übernommen. Pro Familia, Tochtergesellschaft der International Planned Parenthood Fede­ra­tion (IPPF) und Mitglied des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV), war bei der Gründung eine Vereinigung von Ärzten, die ihre Aufgabe in der Beratung bei Problemen der Familienplanung sah. Die Notwendigkeit einer Weiterbildung schilderte eine Ärztin des ersten Kurses so: »Das besondere Anliegen der Pro-Familia-Beratungsstellen ist es von jeher, Kontrazeption nicht als isolierte medizinische Maßnahme zu betrachten. Die beratenden Ärzte sind darum bemüht, die Gesamtpersönlichkeit des Ratsuchenden in seinem sozialen und zwischenmenschlichen Spannungsfeld in die Beratung mit einzubeziehen« (Schmitt-Schick, 1971, S. 6). Gerade das Konzept Kontrazeption nicht als isoliertes medizinisches Problem zu sehen, sondern die Verflochtenheit des Wunsches nach Schwangerschaftsverhütung mit der realen und psychischen Situation der Ratsuchenden, ihrer Partnerbeziehung, der Familiensituation, den sozialen Umständen usw. zu verstehen, machte die Berater auf weitere, oft damit in Verbindung stehende Konfliktfelder aufmerksam: Sexualprobleme (z. B. Impotenz, Frigidität, Perversion usw.), gesellschaftliche, moralische, religiöse Meinungsdifferenzen, Notsituationen sowie die sich aus alledem ergebenden juristischen Fragestellungen. Zum Verständnis alles dessen konnte medizinischer Sachverstand allein nicht ausreichen, so dass nach einem umfassenden, theoretischen und praktischen wissenschaftlich relevanten Modell gefragt wurde, mit Hilfe dessen die Berater – und ihre Klienten – © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Antworten auf ihre Probleme erhalten konnten. Die Anfrage an das Sigmund-FreudInstitut – übrigens zeitgleich mit einer Anfrage der Katholischen Familien­beratungsstelle – führte zu einer Erarbeitung eines psychoanalytisch orientierten Beratungskonzepts unter Einbeziehung soziologischer und juristischer Themen sowie entsprechender Fachreferenten. Im Folgenden soll dargestellt werden, wie dieses Curriculum ausgesehen hat und welche Theoriebestandteile der Psychoanalyse dazu als notwendig erachtet wurden.

Grundannahmen und Modelle der Psychoanalyse Nach Sigmund Freud ist Psychoanalyse erstens »der Name eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind, zweitens eine Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich auf diese Untersuchung gründet, drittens eine Reihe von psychologischen, auf solchen Wegen gewonnenen Einsichten, die allmählich zu einer wissenschaftlichen Disziplin« (1923/1999, S. 211) zusammengewachsen sind. Daraus folgt, dass die Psychoanalyse kein geschlossenes, rein geisteswissenschaftliches System definierter Inhalte ist. Sie lässt sich zutreffend beschreiben als ein offenes System, welches analog zu naturwissenschaftlichen ­Modellen mit dem Erkenntnisprozess wächst, sich ergänzt und/oder verändert. Im Unterschied zu diesen besitzt es jedoch keine quantifizierbaren Inhalte, die als gemessene Werte ihren Stellenwert im System beziehen, sondern empirisch ermittelte Inhalte, deren Bedeutung und Stellenwert durch Interpretation lebensgeschichtlicher Sinnzusammenhänge zustande kommen. Psychoanalytische Aussagen sind daher Wahrscheinlichkeitsaussagen. Diese Einschränkung teilt die Psychoanalyse jedoch mit den exakten Naturwissenschaften: Auch diese können exakte Voraussagen nur in Bezug auf statistische Mengen, nicht in Bezug auf Individualitäten machen. So ist zum Beispiel die Halbwertszeit von Uran angebbar, die eines einzelnen Atoms jedoch nicht – es kann jetzt oder in 10.000 Jahren zerfallen. Durch ihre Methode stellt die Psychoanalyse Bezüge zwischen biologisch Vorgegebenem und den durch erlebte Kommunikation entstehenden psychischen Strukturen her. Die Reflexion von Sinnzusammenhängen bezieht sich darüber hinaus auch auf die Theorie und Praxis selbst. Sie unterliegt damit der ständigen Betrachtung und Korrektur und entgeht daher weitgehend der Gefahr zu veralten. Als für Beratungsaufgaben relevant wurden folgende Grundannahmen und Modelle der Psychoanalyse angesehen: – Die Annahme des Zusammenwirkens biologisch vorgegebener Aspekte (Aussehen, Triebausstattung, Gehirnstruktur usw.) mit Aspekten der Beziehungen – einschließlich gesellschaftlicher Bedingungen. Die genetische Ausstattung ist sozusagen der Beginn des Lebensschicksals. – Die Annahme des Bestehens und Wirkens unbewusster psychischer Inhalte. Unbewusstes und unbewusst gewordene Vergangenheit wirken in die Gegenwart hinein. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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– Die Annahme eines nicht zufälligen, sondern in Sinnzusammenhängen erfolgenden Verlaufs der Lebensgeschichte; wobei Sinnzusammenhänge auch überdeterminiert sein können. Aus dem Zusammenwirken der genannten drei Grundannahmen leiten sich mehrere Modelle ab, die für unsere Betrachtung von Bedeutung sind: – das Beziehungsmodell – von der Infantilbeziehung und den daraus für spätere Beziehungen resultierenden Bedeutungen, – das Strukturmodell der Person und dessen Bedeutung für Beziehungen (Muck, 1978), – das genetische Modell, – Fehlentwicklungen, Beratung und Supervision. Nicht ohne Grund steht das Modell der Beziehung an erster Stelle: Es ist die erlebte Beziehung des Kindes zu seinen Bezugspersonen, die aus den vorgegebenen Anlagen psychische Struktur entstehen lässt – so wie aus der grundsätzlichen Fähigkeit, sprechen zu lernen, in der Kommunikation mit der Mutter »Muttersprache« wird –, entfalten sich auch alle anderen Fähigkeiten des Kindes in Szenen zwischen ihm und den Bezugspersonen. Psychische Struktur und das daraus resultierende Erleben und Verhalten entwickeln sich in Szenen. Am Beginn dieser Entwicklung steht die Infantilszene, die sich wie folgt entfaltet: Die biologische Grundausstattung des Kindes ermöglicht es ihm, dass sich seine Triebwünsche aus dem sog. »Es« (z. B. Hunger) äußern können. Sie tun dies sehr spezifisch, sowohl was Ausdruck, Intensität und Begleitumstände betrifft. Die Mutter, durch ihre bisherige Lebensgeschichte strukturiert, beantwortet diese sehr spezifischen Signale auf ihre Weise. Ihre bewussten und unbewussten Wünsche, Ängste, Erwartungen, Vorurteile usw. gehen in die Art ihrer Antwort ein: freundlich, ungeduldig, ablehnend oder zärtlich – eine Fülle von Informationen, die das Kind in Verknüpfung mit der Stillung oder Frustration seiner Bedürfnisse von der Mutter bekommt. Die Addition der Erinnerungsspuren all dieser unendlich vielen Szenen des Alltags schlägt sich im Kind als seine psychische Struktur nieder – das physiologische Substrat dazu ist die dabei entstehende Vernetzung der Gehirnzellen. Szenen sind gleichsam der kleinste unteilbare Bestandteil des Erlebens. Innerhalb der auf diese Weise entstehenden Struktur lassen sich verschiedene Bereiche unterscheiden: – Erlebnisniederschläge im Hinblick auf das Objekt – d. h., wie die Mutter in Bezug zur eigenen Person erlebt wird; die Objektrepräsentanz. – Erlebnisniederschläge im Hinblick auf die eigene Person – d. h., wie man sich selbst sowohl in der Innenwahrnehmung als auch gespiegelt am Objekt wahrnimmt; die Selbstrepräsentanz. – Erlebnisniederschläge die Art und Weise der Beziehung betreffend – im Sinne von »mir geht es immer ...«; die Beziehungsrepräsentanz. – Erlebnisniederschläge, die in ihrer Addition zu Orientierungen und Einsichten führen (können). Diese sich im Vollzug ihres eigenen Erlebens ausdifferenzie© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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rende Struktur heißt in der Psychoanalyse das Ich. Übrigens lässt sich eine analoge Aussage von der entstehenden Gehirnstruktur machen: Auch die Vernetzung der Neuronen entsteht durch die Verarbeitung der eingehenden Reize. Diesem physiologischen Substrat liefert die Psychoanalyse die Inhalte. – Erlebnisniederschläge, die in ihrer Summierung zu verinnerlichten Regeln und Ritualen führen. Daraus entstehen die Inhalte des Über-Ich. Diese fünf Strukturbestandteile entstammen alle ein und denselben Szenen, bleiben aufeinander bezogen und bilden in ihrem Zusammenspiel die Quelle immer wiederkehrenden Erlebens, Verhaltens, Denkens und Kommunizieren. So ist Verhalten weder nur angeboren noch nur erworben. Das Zusammenwirken beider Aspekte geht einher mit Anfragen, Rückwirkungen und Verinnerlichungen auf der Grundlage genetischer Anlagen. Wir »programmieren« uns für unser Leben, indem wir leben! Die Eigenarten besonders der frühen, grundlegenden Erfahrungen der Lebensund Lerngeschichte entscheiden darüber, ob diese in der Ursprungsfamilie entstandenen Modelle für das spätere Leben »draußen« geeignet sind. Wenn nicht, sprechen wir von einer neurotischen Entwicklung – dann wird Lebensgeschichte zur Konfliktgeschichte. Die Einteilung in eine frühe versus spätere Lebensgeschichte ist jedoch ungenau. Es hat sich nämlich gezeigt, dass es im Laufe der Entwicklung, analog zu den Entwicklungsphasen des Embryos, Prägungsphasen gibt, in denen das Kind eine spezifische Sensibilität aufweist. Themen und Erlebnisse in diesen Phasen spielen für die Richtung späterer Entwicklung – oder Fehlentwicklung – eine besondere Rolle. Die Krankheitslehre der Psychoanalyse hat dies zum Thema. Wir haben bisher von Triebwünschen und ihrer Beantwortung durch Bezugspersonen im Allgemeinen gesprochen, ohne die Veränderungen im Laufe der Entwicklung näher zu berücksichtigen. Das psychoanalytische Entwicklungsmodell handelt von diesen von Freud so genannten »Triebschicksalen« (Freud, 1915/1999, S. 219); Schicksale insofern, als sich aus der Veränderung der Triebwünsche des Kindes immer neue Fragen und Antworten ergeben. Die Veränderung der Triebwünsche selbst ist ein Produkt biologischer Reifungsvorgänge, welche wiederum neue Signale des Kindes zur Folge haben. Das oben genannte Ineinanderwirken von Reifungsprozessen und Objektbeziehungen und deren gesellschaftliche Verankerung wird hierbei besonders deutlich. Es gibt deshalb eine große Zahl entwicklungspsychologischer Phaseneinteilungen, je nach zugrunde gelegten Fragestellungen; sie verlaufen jedoch nicht notwendig synchron. So haben etwa die Wachstumsperioden keinen zeitlichen Zusammenhang mit der Entwicklung des Sprachverständnisses. Das psychoanalytische Entwicklungsmodell orientiert seine Phaseneinteilung an den Reifungsphasen des Sexualtriebs, der, aus analytischer Sicht, alle lustbetonten, zur Befriedigung drängenden Antriebserlebnisse zusammenfasst. Viele biologische Prozesse verlaufen in Reifungsphasen. Die Reifungsphasen des Sexualtriebs © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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führen zu jeweils durch sie möglich gewordenen neuen Triebwünschen, die, im Idealfall, von den Bezugspersonen phasenspezifisch beantwortet werden sollten. So sind zu unterschiedlichen Zeiten der Entwicklung unterschiedliche Themen aktuell. Diese oben genannten Prägungsphasen sind Zeiten optimaler Aufnahmefähigkeiten für spezifische Erfahrungen. Vorher ist eine Verarbeitung entsprechender Angebote gar nicht – oder zumindest überfordernd wie zum Beispiel zu frühes Sauberkeitstraining –, später nur unter mehr oder weniger großen Schwierigkeiten möglich. Beratung hat gerade mit diesen Schwierigkeiten zu tun, insbesondere dann, wenn es, wie bei der Sexualberatung, um im engeren Sinne sexuelle Probleme wie Frigidität, Impotenz, Perversion und Ähnliches geht. Um die Brauchbarkeit des psychoanalytischen Modells für die Beratung einschätzen zu können, ist es notwendig, gerade diesen Teil des Modells etwas näher – allerdings nur etwas näher – zu beschreiben. Zu unterscheiden sind in Verlauf, Inhalt und Erfordernissen folgende Phasen: 1. Der intrauterine Zustand. 2. Die orale Phase, etwa das erste Lebensjahr. 3. Die anale Phase, etwa das 2. und 3. Lebensjahr. 4. Die phallisch-ödipale Phase, etwa vom 3. bis 5. Lebensjahr. 5. Die Latenzzeit, etwa 6. bis 11. Lebensjahr. 6. Die Pubertät und Adoleszenz, etwa 12. bis 18. Lebensjahr, und die sich daraus ergebenden Problemfelder des Erwachsenenalters. Diese Altersangaben sind natürlich sehr ungefähr, überschneiden sich zum Teil und sind auch bei Mädchen und Jungen unterschiedlich. Auch sowohl klimatische wie kulturelle Bedingungen können zu Unterschieden führen.

Psychoanalytische Entwicklungsphasen 1. Der intrauterine Zustand

Dieser Zustand ist vor allem durch optimale Geborgenheit geprägt. Die Kontinuität mütterlicher Gegenwart vermittelt sich sowohl durch Umhülltsein wie durch ständige Schaukelbewegungen – der Embryo ist nie allein. Auch die Versorgung ist mit allem Lebensnotwendigen wie Sauerstoff, Flüssigkeit, Nahrung, Wärme usw. kontinuierlich gegeben. Nur gravierende Lebensumstände der Mutter können, zum Beispiel mechanisch oder chemisch, wenn auch gebremst, das Erleben des Embryos stören oder gefährden. Der in der Regel paradiesische Zustand wird durch die Geburt beendet – ein wahrscheinlich traumatisches Ereignis, welches über einen Zustand äußerster Beengung zum Abbruch der bisherigen Beziehung und aller bisherigen Lebensumstände führt. Es ist vor allem die Kontinuität, die beendet ist. Sie wird ersetzt durch die Periodizität von, im direktem wie übertragenem Sinne, Hunger und Sättigung. Nach Luft muss nun gerungen, nach Nahrung © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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und Flüssigkeit geschrien, nach Wärme und Gegenwart der Mutter geweint werden. Es beginnt die Periodik des Trieblebens, bestehend aus dem Wechsel von Frustration und Befriedigung. Aber in den Religionen, in Mythen und Märchen, wie im Seelenleben des Menschen bleibt die Sehnsucht nach dem Paradies, dem Schlaraffenland zeitlebens erhalten. 2. Die orale Phase

Sie beginnt zwangsläufig mit der Geburt und damit zumindest mit einer Beunruhigung. Kleinkinder – wie auch Erwachsene – lassen sich jedoch beruhigen, indem man den intrauterinen Zustand partiell nachahmt: etwa durch Streicheln, Wärmen, Wiegen oder Stillen (der Erwachsene stillt seinen Kummer nicht selten durch Alkohol). Natürlich sind diese Beruhigungen nur partiell und nicht von Dauer. Aber genau sie sind ein Hauptthema der oralen Phase, die ihren Namen dem Umstand verdankt, dass der Mund die erste erogene Zone ist, an der die ­ersten Triebbefriedigungen stattfinden, dem Gestilltwerden. Diese im Idealfall zärtliche Mutter-Kind-Dyade mit ihrem möglichst paradiesischen Umfeld ist nicht nur eine Quelle des Gedeihens des Kindes, sondern auch der späteren Fähigkeiten, Zärtlichkeit zu empfinden und zu geben. Aus dem Nebel dieser ersten Empfindungen taucht nach und nach die Mutter als ein Gegenüber auf. Durch die je­ weilige Beschaffenheit der Antworten der Mutter auf die kindlichen Bedürfnisse entsteht durch Vorgänge der Verinnerlichung ein Bild der Mutter: die Objektrepräsentanz. Was in dieser Phase wieder gelernt werden muss, ist die Erfahrung von Geborgenheit, und dies auch im Wechsel von Frustration und Befriedigung. Gelingt es der Mutter, sich in die vielfältigen Äußerungen des Kindes einzufühlen, ohne sie durch unbewusste Unterstellungen, Ideologien oder gar Ablehnung allzu sehr zu verfremden, kommt eine Beziehung zustande, die durch wechselseitige Regulationen bestimmt ist und dem Kind die Aufrechterhaltung seiner Homöostase und seines Sicherheitsgefühls ermöglicht. E. H. Erikson hat dies in dem Begriff des Urvertrauens zusammengefasst. In dem Ausmaß, in dem Urvertrauen durch Störungen der Beziehung nicht oder zu wenig zustande kommt, entstehen spezifische Folgen: fehlende Geborgenheitsgefühle als Quelle späterer Depressionen, Mangel an oraler Befriedigung als früheste Quelle der Sucht, Mangel an Zärtlichkeit als Quelle von Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken, Mangel von Beziehungsangeboten (Spielen) als Quelle von Narzissmus und Beziehungsunfähigkeit 3. Die anale Phase

Diese Phase der Triebentwicklung hat ihren Namen von der mit Beginn des 2. Lebensjahres eintretenden Verstärkung der libidinösen Besetzung der Analgegend. Dies ist ebenso ein Ergebnis biologischer Reifung der Trieborganisation wie die Differenzierung und Koordination der gesamten Willkürmotorik. Das Kind kann immer mehr willkürlich bewirken: greifen, krabbeln, sauber werden, lallen, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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schließlich sprechen und laufen. Damit beginnt ein erstes Erleben von Autonomie. Die dazu parallele Entwicklung des »nervösen Apparates« ist einerseits dazu Voraussetzung, andererseits wird sie davon angestoßen. Seine weitere Differenzierung ist abhängig von adäquaten Antworten der Bezugspersonen und der weiteren Umwelt des Kindes Das Trocken- und Sauberwerden des Kindes ist nicht nur für die Mutter eine Erleichterung. Für das Kind ist es einerseits ein Bewältigungssieg, andererseits eine Lust, die mit der libidinösen Erregbarkeit der Analgegend in Zusammenhang steht. Später praktizierter Analverkehr ist als Fixierung auf diese Stufe der Trieborganisation zu verstehen. War die orale Beziehung durch das Vorherrschen einer dualen Beziehung gekennzeichnet, der Mutter-Kind-Dyade, tauchen in der analen Phase dritte Personen in das kindliche Bewusstsein; dies allerdings noch nicht im Sinne einer Dreierbeziehung, sondern im Sinne mehrerer, paralleler Zweierbeziehungen. Durch die stürmische Entwicklung des Ich in der analen Phase ist das Kind nun in der Lage, viele Kulturtechniken zu erlernen – es stößt allerdings gerade deshalb oft an Grenzen, die zu Frustrationen, aber auch zu neuen Lernfortschritten führen. War das Kind der oralen Phase in seiner Angewiesenheit auf helfende Bezugspersonen noch manchmal in hilflose Wut geraten, verfügt das Kind der analen Phase bereits über viele autonome Fähigkeiten und Eigenmachtsgefühle, deren Frustration gerichteten Zorn hervorrufen kann, der sich nicht selten zu chaotischen Wutanfällen steigern kann. Man spricht dann vom »ersten Trotzalter«. Anale Aggressionen bleiben im Erwachsenenalter zumindest sprachlich erhalten: In der deutschen Sprache sind die meisten Kraftausdrücke (»Scheiße«), Fluchworte (»Arschloch«), Beleidigungen (»Arschkriecher«), Beschämungen (»Hosenscheißer«) analer Natur. Missliebige Ereignisse sind dann entweder »scheißegal« oder gehen »am Arsch vorbei«. Selbst das Misslingen eines Vorhabens wird mit »es ist in die Hose gegangen« beschrieben. Zu den verbalen Machtmitteln der Eltern wie der Kinder, gehört das »Nein!«. Das Kind lernt an dieser Grenzsetzung, was es tun oder lassen soll; eine erste Quelle des damit entstehenden Über-Ich. Es lernt aber auch das Nein-Sagen als eigenes Machtmittel kennen – was zu ausgedehnten Machtspielen führen kann: Kaum lernt das Kind folgen, lernt es auch, die Folgsamkeit zu verweigern. Verweigern bleibt bis in die Pubertät ein Hauptinstrument kindlicher Macht (Schulverweigern), ein Zeichen zwar erworbener, aber noch ungekonnter Autonomie. Das Denken des Kindes ist in dieser Phase seiner Ich-Entwicklung stark von magischen Zügen geprägt. Dies insbesondere deshalb, weil die Unterscheidung von Innenwelt und Außenwelt, Phantasie und Wahrnehmung erst ansatzweise gelingt. Erst die sprachliche Benennung der Dingwelt macht sie dem Kind schrittweise verfügbar. Damit geht allerdings im Laufe der Entwicklung die Zauberwelt der Märchen verloren. Die Macht von Rumpelstilzchen erlischt, wenn man seinen Namen kennt. Zunehmend bewusst werden nun auch Ambivalenzen: Ja und nein, gut und böse, sauber und schmutzig, lieb und böse beginnen damit auch relativierbar zu werden. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Im Spiel mit Eltern, Geschwistern, Freunden und Dingen lernt das Kind seine Kräfte, Aktionen, Reaktionen, Wünsche und Grenzen kennen und dosieren. 4. Die phallisch-ödipale Phase

Ein zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr erfolgender Reifungsschritt führt zur libidinösen Besetzung der Geschlechtsorgane, die dadurch zu einem neuen Zentrum kindlicher Aufmerksamkeit werden. In dieser Intensivierung der Beschäftigung mit den Genitalien in Phantasie und lustvollen Handlungen fallen den Kindern Geschlechtsunterschiede auf, was zu zum Teil hoch aufgeladenen Interpretationen und Fehlinterpretationen führen kann. Auch spielt dabei, wie bei vielen anderen Themen, das Gerechtigkeitsempfinden eine große Rolle; ein Ergebnis u. a. auch der Auseinandersetzung mit Ambivalenzen und deren Relativierungen, die zu einem ersten Wertesystem geführt haben. In diesem Wertesystem bedeutet »mehr haben« wertvoller sein (auch im Erwachsenenalter nicht unbekannt!). Eine Fehlinterpretation des Geschlechtsunterschieds liegt von daher nahe: einen Penis haben, erscheint dann mehr und besser, als keinen haben – man (Mann) kann damit auch angeben und zeigen, wer »den größeren Bogen raus hat«. Die emotionalen Folgen dieser Interpretation sind mannigfach. Sie reichen bei Mädchen von Unwert- und Neidgefühlen (»Penisneid«) bis zu Hassempfindungen dem anderen Geschlecht gegenüber und dem Wunsch zu rivalisieren, um die vermeintliche Ungerechtigkeit unterschiedlicher körperlicher Ausstattung auszu­ gleichen. Analog ist bei Jungen das Gegenstück zu finden: Überheblichkeit im Sinne des Gefühls vermeintlicher »natürlicher Überlegenheit«, Geringschätzung und Entwertung des Weiblichen bei gleichzeitig vager Angst vor dem Unbekannten (»Kastrationsangst, »Vagina dentata«) – eine der möglichen Quellen von Impotenz. Im Gefolge dieser Entwicklung wird den Kindern natürlich auch das unterschiedliche Geschlecht von Vater und Mutter bewusst und amalgamiert sich mit den immer schon unterschiedlichen Gefühlen beiden gegenüber. Dieser Ödipuskomplex beschreibt die Tatsache, dass in der vollständigen Familie zwei Geschlechter und zwei Generationen unter einem Dach wohnen. Durch die gleichzeitig bestehende emotionale Nähe sind Konflikte nahegelegt. Meist erwachen erotische Gefühle dem gegengeschlechtlichen Elternteil gegenüber und Eifersuchtsgefühle gegenüber dem gleichgeschlechtlichen. Gegenläufig dazu gibt es jedoch Identifizierungen mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil – in Abhängigkeit von der Bedeutung der Eltern in der Vorgeschichte. Dazu kommt noch, dass der Junge bei seinem Primärobjekt bleibt, während das Mädchen sich nun dem Vater als wichtigstem Objekt zuwendet. Dies ist jedoch nur ein möglicher Ausgang dieser Gemengelage. Die Notwendigkeit der Lösung dieses wirklich sehr komplexen Geschehens ist unausweichlich und ubiquitär – selbst in unvollständigen Familien: Es gibt jemanden, der den fehlenden Elternteil bleibend, sporadisch oder in der Phantasie des Kindes ersetzt – was wiederum gravierende Folgen für die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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weitere Entwicklung hat; denn was in dieser Konfiguration verinnerlicht wird, wird zum Grundmodell aller späteren Beziehungen. Die Ich-Entwicklung dieses Alters ist gekennzeichnet durch eine besondere Neugier und der Frage nach dem Warum: ein Aufblühen des logischen Denkvermögens im Sinne von Kausalität. Dabei geht die Entwicklung gleitend von den bisherigen magischen Zuordnungen über Selbstbezüge bis zum Erfassen von realen Kausalbeziehungen. Die Warum-Frage ist nicht nur eine spielerische Neugierfrage, sondern auch ein wichtiges Interaktionsspiel zwischen Eltern und Kind sowie ein erster Klärungsversuch, Relationen zwischen Menschen und Mächten zu verstehen: Wer ist stärker, schöner, besser, schneller, klüger und warum? Die intellektuelle und emotionale Umgangsweise der Eltern mit diesen Fragen ist von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung von Motivationen, der Gedächtnisleistung, des logischen Denkens sowie der Ideal- und Rollenvorstellungen als erste moralische Einordnungen. Etabliert wird also nicht nur kausales Denken, sondern auch das Über-Ich als strukturierte Instanz. Die positive Lösung des ödipalen Konflikts führt zur Klärung der geschlechtlichen Identität, der Bildung des Gewissens und der Konstitution eines kritischen Ich. Gleichzeitig leitet sich damit eine Phase relativer Triebberuhigung ein. 5. Die Latenzphase

Im Gegensatz zu den Primaten, die nach einer der phallischen Phase analogen Entwicklung geschlechtsreif werden, tritt die Latenzphase des Menschen nach ­einer Pause in der Triebentwicklung ein. Sie dauert etwa vom 6. bis 11. Lebensjahr und ermöglicht eine von Triebnöten weitgehend ungestörte Entwicklung des Ich und seiner Sublimierungsfähigkeiten. Dadurch können u. a. Lernziele mit ungestörter Aufmerksamkeit und Interesse verfolgt werden. Dies allerdings nur dann und in dem Ausmaß, in dem ödipale und frühere Konflikte ausreichend gelöst werden konnten und keine übermäßig triebstimulierenden Erregungen (durch ­ältere Kinder, Fernsehen, Computerspiele u. Ä.) auf das Kind einwirken und gesellschaftliche Angebote – insbesondere die Schule – nicht übermäßige Trennungsängste bewirken oder in Regressionen zwingen. Bewältigung des Ödipuskomplexes bedeutet auch die relativ konfliktfreie Einbeziehung Dritter. Wir-Beziehungen und damit soziales Verhalten sind dadurch ermöglicht. Misslingt dies, werden Kontakte als Einzelzuwendungen oder als Bühne zur Selbstdarstellung fehlinterpretiert. 6. Die Pubertät und Adoleszenz

Der biologische Reifungsvorgang der Pubertät wird durch den zweiten Triebschub eingeleitet. Er erfolgt etwa im 11. bis 13. Lebensjahr und führt zur Geschlechtsreife. In der Latenzphase gemilderte Trieb- und Beziehungskonflikte können, je nach Anlässen, wiederbelebt werden. Da die Konflikte im Rahmen des ersten © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Triebschubs weitgehend unbewusst geworden sind, verstehen weder die Erwachsenen noch die Jugendlichen selbst das oft recht chaotisch werdende Geschehen, das »zweite Trotzalter«. Der intensive Umbau von Gehirnstrukturen durch die vermehrte Ausschüttung von Sexualhormonen gleicht dem Umbau eines Schiffes auf hoher See. Denn das Leben mit elterlichen und gesellschaftlichen Anforderungen geht ja weiter, als würde nichts geschehen. Die Veränderungen sind jedoch tiefgreifend, nicht nur die Sexualität und die Körperlichkeit betreffend, sondern auch in Bezug auf das Selbsterleben, Beziehungen und Autonomie. Werden alte Konfliktmuster in ihrer Wiederholung bestätigt, wird Pubertät oft zum Ausgangspunkt der meisten nun ausgeprägten neurotischen, psychotischen und psychosomatischen Störungen, die Gegenstand psychotherapeutischer oder psychiatrischer Bemühungen sind. Durch korrigierende Erfahrungen mit neuen Bezugspersonen (Lehrer, Schüler, Freunde usw.) kann dies, in der Regel im Laufe von wenigen Jahren, soweit gemildert werden, dass diese Störungen nur ­passager anklingen und dann als »Pubertätskrisen« allmählich der Vergessenheit anheimfallen. Bleibende Reste davon deuten sich in unterschiedlichen, zum Teil unbewusst gesuchten Lösungswegen des späteren Erwachsenenlebens an. Sie sind die Quelle der Probleme, die in Beratungen auftauchen. Inwiefern sie dies sind, kann ein kurzer Blick in die psychoanalytische Krankheitslehre verständlich machen.

Unbewusste Konflikte, Übertragung und Gegenübertragung Die psychoanalytische Krankheitslehre geht von der Tatsache aus, dass alle Aspekte des Erlebens und Verhaltens, einschließlich der möglichen Symptome, das Ergebnis der bisherigen Lebensgeschichte sind. Dabei erhalten unbewusst gewordene Konflikte wegen ihrer Unerreichbarkeit durch das Bewusstsein einen besonderen Stellenwert: Sie sind das Substrat dessen, was in der Psychoanalyse »Übertragung« genannt wird. Übertragungen sind Erfahrungen, die das Kind an Bezugspersonen der Kindheit gemacht hat, die man aber nun in gegenwärtigen Beziehungen zu erleben glaubt. Es handelt sich dabei nicht um Wahrnehmungsstörungen, sondern um Fehlinterpretationen des korrekt Wahrgenommenen. Übertragungen sind Unterstellungen im Dienste der Vergangenheit: Inszenierungen alter Dramen in neuem Gewand. Dies ergänzt sich dadurch, dass die Personen, auf die übertragen wird, bewusst und auch unbewusst auf die Unterstellungen mit Reaktionen und sog. Gegenübertragungen reagieren. Die dadurch entstehenden Inszenierungen sind dann durch die Vorgeschichten beider Partner bestimmt. Die Aufgabe des Beraters besteht nun darin, diese Zusammenhänge aufzu­ klären – eine Aufgabe, die sich als das Gegenteil dessen beschreiben lässt, was Aufgabe eines Regisseurs ist: Dieser hat ein Drehbuch, das er in eine Szene umsetzen muss, der Berater sieht eine Inszenierung, zu der er das »Drehbuch«, d. h. den Sinngehalt, finden muss: die unbewusste Bedeutung der Szene. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Um zu einem Ergebnis zu kommen, benötigt er die Lebensgeschichte des Ratsuchenden auf dem Hintergrund des Wissens um die oben dargestellten Phasen. Die Frage ist: Was geschah wann mit wem in welcher Phase der Entwicklung? Wobei die Phase die Thematik angibt: Vertrauen versus Misstrauen, Autonomie versus Hilflosigkeit, Initiative versus Schüchternheit. Das Problem, mit dem der Klient kommt, sei es nun ein Ehezwist, ein Schwangerschaftskonflikt, Eifersucht, Untreue, Impotenz, Frigidität oder Perversion, spielt sich oft in übertragenem Sinne, in Szenen bei dem Berater ab, die eine Analogie zur geklagten Szenerie und zur Kindheitsszene sind. Dies gilt es zu erkennen und zu deuten, was heißt, den unbewussten Sinnzusammenhang deutlich zu machen.

Curriculum für die Weiterbildung in psychoanalytisch orientierter Beratung Aus dem Dargestellten ergibt sich – und ergab sich 1969 für das Anliegen von Pro Familia – ein Curriculum, das aus einem zureichenden Minimum an psychoanalytischem Theoriehintergrund, Erfahrungen in psychoanalytisch orientierter Gesprächsführung und Supervision bestehen sollte, wobei Wissensinhalte in Seminarform vermittelt, dann in themenzentrierter Gruppenarbeit diskutiert und anschließend in Selbsterfahrungsgruppen vertieft werden sollten. Die Kursabschnitte hatten folgende Themen zum Inhalt: 1. Kursabschnitt

– Aufgabe des Beratens (Problemstellung, geschichtliche Entwicklung, Berufsbild, Abgrenzung von Therapie und Psychoanalyse u. Ä.); – Grundlagen des psychoanalytischen Modells, Abgrenzungen, Strukturmodell, genetisches Modell; – soziologische Betrachtung sexueller Probleme in der Gesellschaft. 2. Kursabschnitt

– psychoanalytische Entwicklungslehre – orale und anale Phase (psychische Strukturen, Erlebnisweisen, Beziehungsweisen, Störungen im Kontext zu Familienstrukturen); – allgemeine Familiensoziologie. 3. Kursabschnitt

– psychoanalytische Entwicklungslehre – phallisch-ödipale Phase und Latenz und Zusammenhänge mit späteren Partnerproblemen. Erziehungsprobleme; – soziologische Betrachtung der Partnerwahl, Rolle der Frau, ledige Mütter. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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4. Kursabschnitt

– psychoanalytische Entwicklungslehre – Pubertät und Adoleszenz, zweiter Triebschub, progressive und regressive Prozesse, Geschlechtsreife, Berufsreife, Identitätsbildung; – Jugendsoziologie. 5. Kursabschnitt

– psychoanalytische Krankheitslehre – Symptomneurosen und psychosexuelle Störungen (Frigidität und Impotenz), Charakterneurosen – Persönlichkeit und Beziehungsstörung. Ehe- und Familienprobleme; – sexualpädagogische Fragestellungen 6. Kursabschnitt

– Perversion, Sucht und spezifische Themen abweichenden Verhaltens (Diagnose, Behandlung, Beratung); – Soziologie abweichenden Verhaltens. 7. Kursabschnitt

– p  sychoanalytische Gesprächsführung – Interview, Konfliktberatung, andere Beratungsmodelle, Balintgruppenarbeit; – juristische Aspekte von Ehe und Familie. 8. Kursabschnitt

– psychoanalytische Betrachtung spezieller, akuter Themen (Schwangerschaftsabbruch, Sterilisation, Schwangerschaftskonfliktberatung, Wertvorstellungen von Beratern und Klienten). Beginn der eigentlichen, von da an fortlaufenden Balintgruppenarbeit: Die Kurse erfolgten in Zusammenarbeit mit niedergelassenen Therapeuten, Soziologen, Sexualwissenschaftlern und Juristen. Jeder Kurs endete nach etwa zwei Jahren mit einem Kolloquium, in dem eine Beratung vorgestellt und ausführlich diskutiert wurde. Der Autor hat nach 12 Jahren fachlicher Leitung die Kurse an den Psychoanalytiker Jörg M. Scharff abgegeben, der sie weiterführte und weiterentwickelte. 1993 übernahm die Psychoanalytikerin Christiane Schrader die Kurse. Vogt hat in seiner Darstellung eines analogen Beratungsmodells darauf hingewiesen, dass analytisch orientierte Beratungskonzepte »prinzipiell übertragbar (sind) auf die Ausbildung von psychologischen Beratern, Pädagogen, Ärzten, Sozialarbeitern und anderen helfenden Berufen, soweit theoretische und praktische Voraussetzungen einschließlich Selbsterfahrung gegeben sind« (1980, S. 24). © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Mario Muck · Psychoanalytische Theorie und Praxis für die Beratung

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In dem hier dargestellten, über viele Jahre praktizierten Modell ist dies integraler Bestandteil. Analoge Kurse, bezogen auf die jeweilige Klientel und Problematik sowie die heutigen gesellschaftlichen Gegebenheiten, können überall dort sinnvoll sein, wo psychische Probleme der Vergangenheit die Gegenwart beeinträchtigen.

Literatur Freud, S. (1915/1999). Triebe und Triebschicksale (S. 210–232). GW X. Freud, S. (1923/1999). Psychoanalyse und Libidotheorie. GW XIII. Muck, M, (1978). Überlegungen zur Struktur menschlicher Beziehungen. Psyche – Z. Psycho­ anal., 32, 211–228. Schmitt-Schick, L.-L. (1971). Der erste Ausbildungslehrgang der Pro Familia zum Sexualberater. Pro Familia Informationen, Nr. 3. Vogt, R. (1980). Organisation, Theorie und Technik eines psychoanalytischen Beratungsprojekts zur Ausbildung von Psychologiestudenten. Psyche – Z. Psychoanal., 34, 24–53.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Ingeborg Volger

Ausbildung in psychodynamischer Beratung Das Weiterbildungskonzept in Integrierter Familienorientierter Beratung® am Evangelischen Zentralinstitut in Berlin

Berufsbegleitende Weiterbildung als Modell lebenslangen Lernens Menschen kommen mit den unterschiedlichsten Anliegen und Problemlagen in Beratung: Manche suchen Unterstützung bei alltagsnahen Zielkonflikten, andere möchten unerträgliche Gefühlszustände überwinden, trauen sich nichts mehr zu oder suchen Hilfe, weil sie sich den Anforderungen des Alltags nicht gewachsen fühlen. Diese Probleme können Menschen aller Altersgruppen, aller sozialen Milieus, an jedem Punkt ihres Lebenszyklus betreffen. Beratungsarbeit im institutionellen Kontext ist durch diese Komplexität und Mehrdimensionalität gekennzeichnet. Mit den Arbeitsfeldern – Einzelberatung, – Ehe- und Paarberatung, – Erziehungs- und Familienberatung, – Schwangeren- und Schwangerschaftskonfliktberatung umfasst sie das gesamte Spektrum möglicher zwischenmenschlicher Problemlagen und innerpsychischer Konfliktdynamik. Angesichts dieser Vielschichtigkeit wird von der Beratungsperson eine besondere Flexibilität gefordert mit Blick auf ihre Fähigkeit – zur Handhabung unterschiedlicher Settings, – zur Arbeit mit Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft, – zur Einfühlung in unterschiedliche Problemlagen. Zwar sind Beraterinnen und Berater nach der Definition des Psychotherapeutengesetztes nicht befugt, Klienten mit krankheitswertiger Symptomatik zu behandeln, doch entscheiden Klienten sich nicht aufgrund der Art ihrer Störung für eine bestimmte Behandlungsform, sondern lassen sich durch eine Vielzahl anderer Faktoren in ihrer Suche leiten. So kann die Niedrigschwelligkeit, das Vermeiden von Krankheitsdiagnosen, die räumliche Nähe der Beratungsstelle oder der Mangel an niedergelassenen Psychotherapeuten ein Kriterium für das Aufsuchen einer © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Beratungsstelle sein. Insofern werden Berater mit einer enormen Bandbreite von Konflikten, Persönlichkeitsstrukturen, Störungen und Symptomatik konfrontiert, die einzuordnen, zu verstehen und zu handhaben sie gefordert sind, und sei es nur, um eine angemessene Indikationsentscheidung treffen und entsprechende Überweisungen oder institutionelle Maßnahmen initiieren zu können. Für die Bewältigung dieser besonderen Anforderungen ist eine feldspezifische Zusatzqualifikation nötig, die »Generalisten« oder »Allrounder« qualifiziert, die in der Lage sind, auf der Basis eines konsistenten und theoretisch begründeten Beratungskonzeptes in den verschiedenen Beratungsfeldern zu arbeiten und Antworten auf neue gesellschaftliche Herausforderungen zu formulieren.

Das Weiterbildungskonzept des EZI Die Weiterbildung in Integrierter Familienorientierter Beratung (IFB)® am Evan­ gelischen Zentralinstitut für Familienberatung (EZI) in Berlin hat sich auf der Grundlage einer jahrzehntelangen Tra­ dition der Vermittlung psychologischer Beratung für Einzelne und Paare ent­ wickelt (Brauner et al., 1990). Auf der Basis ­tiefenpsychologischer Theorie und Methodik vermittelt sie als berufs­b e­ gleitende Zusatzausbildung grund­l e­ gende Qualifikationen und professionelle Kompe­tenzen für die psychologische Beratungs­arbeit (Haid-Loh et al., 2009). Die besondere Praxisorientierung erhält diese 3-jährige Weiterbildung durch die enge Verzahnung von Intensivkursen und daran anschließenden Praktikums­ abschnitten in Beratungsstellen (Abb. 1).

Abbildung 1: Verzahnung von Intensivkursen und Praktika

Im Einzelnen umfasst die Weiterbildung in IFB®: – 6 zweiwöchige, in halbjährigem Abstand aufeinander aufbauende Intensivkurse am EZI in Berlin, – 1 einwöchiger Vertiefungskurs zur Beratungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen am EZI in Berlin, © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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– 5 Tage Fortbildung zur Beratungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen als frei wählbare Module, – 5 halbjährige Praktika im multidisziplinären Team einer Beratungsstelle der Region, in der selbständig unter Supervision Beratung durchgeführt wird. Die Intensivkurse decken insgesamt 500 Unterrichtsstunden ab, 120 Stunden Selbsterfahrung zur Entwicklung der Beraterpersönlichkeit inklusive. Bei den Intensivkursen und den Praktika handelt es sich um inhaltlich eng aufeinander bezogene, gleichwertige Elemente der Weiterbildung. Die Weiterbildung schließt mit einem Diplom ab, das den Richtlinien anerkannter Fachgesellschaften, wie zum Beispiel der Deutschen Gesellschaft für Beratung (DGfB), entspricht.

Die Strukturen der Intensivkurse Ein wesentliches Strukturmerkmal der Weiterbildung ist die konsequente Verschränkung von Theorie, Methodik und Selbsterfahrung. Diese drei zentralen Bausteine werden soweit möglich in der didaktischen Vermittlung stets aufeinander bezogen und miteinander in Beziehung gesetzt, so dass die Teilnehmenden Erfahrungen sowohl unter kognitiven als auch emotionalen und beratungsmethodischen Aspekten sammeln können. So werden spezielle theoretische Themen mit Wahrnehmungsübungen und selbsterfahrungsorientierten Anregungen verknüpft und mit Hilfe praktischer Interventionsübungen im Rollenspiel in die Beratungspraxis umgesetzt. Beginnend mit der Einzelberatung bauen die Beratungsbereiche im Curriculum so aufeinander auf, dass mit Blick auf die zu erlernenden Arbeitsfelder in jedem Kursteil neue beraterische Kompetenzen und Methoden erworben werden. Die Platzierung der Beratungsbereiche im Curriculum hat zur Folge, dass insbesondere der 4. und 5. Kursteil hohe Anforderungen an die Teilnehmenden stellt. 1

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Grundlagen tiefenpsychologischer Theorie konfliktzentrierte Einzelberatung

strukturbezogene Einzelberatung

Erziehungsberatung

Beratung mit Kindern und Jugendlichen

Paarberatung SKB Abbildung 2: IFB-Integrierte Familienorientierte Beratung® – Intensivkurse 1–7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Theoretischer Pluralismus

Berater benötigen umfassende Kenntnisse über Entwicklungs-, Persönlichkeitsund Krankheitstheorien und ihre fallspezifische Anwendung im Beratungsprozess. Die Psychoanalyse ist gekennzeichnet von einer Vielzahl konkurrierender Perspektiven und Theorien, die »schillernd wie ein Chamäleon« (Kutter u. Müller, 2008, S. 61) oft eher zu Verwirrung, denn zu Klärung beitragen. Die Vermittlung psychoanalytischer Theorie tritt daher nicht mit einem »Wahrheitsanspruch« auf, sondern überprüft deren Brauchbarkeit für das Verstehen von innerpsychischen und interpersonellen Prozessen. Diese pluralistische Position garantiert, dass relevante theoretische Konzepte aus unterschiedlichen psychoanalytischen Theoriegebäuden reflektiert und für die Beratungsarbeit nutzbar gemacht werden. In der Fortführung dieser konzeptuellen Überlegungen sind auch die Ergebnisse angrenzender Wissenschaften für das Curriculum von Bedeutung, da nur eine interdisziplinäre Perspektive der Vielfalt der Beratungsanlässe gerecht werden kann. In erster Linie ist hier an die Säuglings- und Bindungsforschung (Brisch, 1999; Fonagy, 2003; Lichtenberg, 1991) zu denken, aber auch an Nachbardisziplinen, wie die Kommunikationstheorie, die Soziologie, die Traumaforschung und die Neurowissenschaften. So sehr das IFB-Curriculum sich in seiner theoretischen und methodischen Ausrichtung als eklektisch und (Psychoanalyse-)schulenübergreifend versteht, so klar ist seine Konzeption an einem tiefenpsychologischen Verständnis orientiert, das durch die Annahme einer grundlegenden Konflikthaftigkeit des Menschen und der Existenz unbewusster Prozesse gekennzeichnet ist. Daraus folgt eine klare beraterisch-therapeutische Stringenz, die garantiert, dass die in der Beratungsarbeit notwendige Methodenvielfalt auf der Grundlage eines reflektierten konzeptuellen Verständnisses realisiert wird. Methodentraining

Da das Wissen um psychodynamische Zusammenhänge sich nicht unwillkürlich in angemessenes beraterisches Verstehen und Handeln übersetzt, nimmt das Methodentraining in der Weiterbildung einen zentralen Stellenwert ein. In Rollenspielen, Videoanalysen oder der Bearbeitung von Verbatims werden die genuin tiefenpsychologische Wahrnehmungseinstellung und die Beratungsmethodik praktisch trainiert. Dies geschieht durch das Einüben von Interventionen, durch das Erleben der Klientenrolle, durch ein detailliertes Besprechen der interaktionellen Dynamik eines Rollenspiels, durch die Analyse der Beratungsfälle der Teilnehmenden und durch das Lernen am Modell erfahrener Dozenten oder Supervisoren. Selbsterfahrung

Erfolgreiche Beratungsprozesse sind wesentlich von der Persönlichkeit des Beraters abhängig. Entsprechend sind die Auseinandersetzung mit dem eigenen Gew© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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ordensein und die Erweiterung der persönlichen Wahrnehmungs-, Handlungsund Beziehungsmöglichkeiten in der täglich stattfindenden Selbsterfahrungsgruppe zentrales Anliegen der Weiterbildung. Daneben gibt es während der ganzen Ausbildungszeit kontinuierlich Anstöße zur Selbsterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung und zur Klärung eigener Positionen und Werte. Multiperspektivität

Die Komplexität der Beratungsanlässe erfordert nicht nur beratungsmethodische, sondern auch spezielle sozial- und familienrechtliche Kompetenzen. Bei Beratungsanlässen wie Trennung und Scheidung, Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch, Pränataldiagnostik und Spätabtreibung, Kindeswohlgefährdung oder Kindesmisshandlung, sexualisierter oder häuslicher Gewalt, bei Arbeitslosigkeit, Armut und anderen prekären familiären Lebenslagen sind Beratende wie Beratene auf Aufklärung und Informationen über die sie betreffenden juristischen Regelungen existentiell angewiesen. Daher wird die Rolle des Rechts in speziellen Lehrveranstaltungen aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Jeder Berater ist direkt oder indirekt mit ethischen und religiösen Fragestellungen konfrontiert, so auch mit der Wirkungsgeschichte der christlichen Glaubensüberlieferung und der kirchlichen Lebensordnung. Für den Berater sind die Kenntnis dieser Tradition sowohl mit ihren orientierenden und stützenden als auch mit ihren blockierenden Wirkungen und die Auseinandersetzung mit ihr notwendig, sowohl um die Orientierungen der Ratsuchenden zu verstehen als auch die eigene Position kritisch zu beleuchten. Jede Beratungsbeziehung kann auch als interkulturelle Begegnung beschrieben werden, in der kulturelle Aspekte mehr oder weniger stark zum Tragen kommen, zum Beispiel durch unterschiedliche Herkunftsländer bzw. unterschiedliche Schichtzugehörigkeit von Berater und Klient. Vor diesem Hintergrund machen sich die Teilnehmenden mit Konzepten der kultursensiblen Beratung vertraut und reflektieren eigene Fremdheitserfahrungen in der Beratungsbeziehung.

Didaktik und Inhalte der Intensivkurse Zentrales Anliegen der Theorievermittlung ist es, die Psychoanalyse in ihrer Bedeutung als allgemeine Theorie zwischenmenschlicher Prozesse und Beziehungen darzustellen, die unabhängig von möglicher Störung und Pathologie innerseelische Vorgänge beschreibt. Unter dieser Voraussetzung können die häufig abstrakten Begriffe und Konstrukte erlebnisnah vermittelt werden, indem Erfahrungen der Teilnehmenden aufgegriffen und mit Hilfe tiefenpsychologischer Konzepte verständlich werden. Die Einheiten gruppieren sich um die Vermittlung eines tiefenpsychologischen Konfliktverständnisses und entwicklungspsychologischer Perspektiven. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Lernziele sind: – äußere Anlässe und Situationen als Auslöser für innere Konflikte wahrneh-men; – innere Konflikte als unbewusste Entwicklungskonflikte und Ergebnis von Internalisierungsprozessen konzipieren; – Externalisierung und Wiederholung als (Re-)Inszenierung unbewusster innerer Konflikte in der Umwelt verstehen; – Übertragung und Gegenübertragung als interaktionelles Geschehen wahrnehmen und verstehen; – eigene Anteile am Zustandekommen einer Inszenierung erkennen; – unbewusste Botschaften des Klienten wahrnehmen; – zentrale phasentypische Entwicklungsthemen und -konflikte benennen; – förderliche und hemmende elterliche Haltungen wahrnehmen; – Selbst-, Objekt- und Beziehungsrepräsentanzen als innerpsychischen Niederschlag früher Interaktionsmuster erkennen.

Einzelberatung Diagnostik und Methodik

Über den gesamten Verlauf der Weiterbildung findet eine intensive Bearbeitung psychoanalytischer Persönlichkeits-, Störungs-, und Krankheitstheorien statt. In den ersten drei Kursteilen lernen die Teilnehmenden sowohl die deskriptiven Merkmale konfliktbedingter Persönlichkeitsstrukturen als auch die zugehörigen Grundkonflikte und deren Psychodynamik kennen. Die Auseinandersetzung mit strukturellen Störungen beginnt am Beispiel der narzisstischen Persönlichkeitsstruktur im 4. Kursteil, im 5. und 6. Kursteil folgen die Besonderheiten der Borderline-Persönlichkeitsstruktur. Entsprechend der beschriebenen Diagnostik wird methodisch zwischen konfliktzentrierter und strukturbezogener Beratung unterschieden. Konfliktzentrierte Einzelberatung beabsichtigt die Auflockerung umschriebener Abwehrmanifestationen und die Bearbeitung umgrenzter Konfliktfelder mit dem Ziel, die Realisierung bisher gehemmter Impulse, Wünsche und Bedürfnisse zu ermöglichen. Ziel strukturbezogener Beratung ist es, den Betreffenden zu einer angemesseneren Regulationsfähigkeit zu verhelfen, indem insbesondere der Aufbau von Ich-Funktionen gefördert wird. Die zu erlernenden methodischen Kompetenzen werden in unterschiedlichen Gruppenkonstellationen und unter Anwendung spezifischer Didaktik trainiert. Didaktik und Lernziele konfliktzentrierter Beratung

1. Erfassen und formulieren eines inneren Konflikts Zentrales Medium zur Erarbeitung dieses Ziels sind die von den Teilnehmenden eingereichten Verbatims, die in Arbeitsgruppen (à 6 bis 8 Teilnehmern) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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besprochen werden. In der Fallbesprechung werden die Einfälle und Verstehensperspektiven der Teilnehmenden aufgegriffen, diskutiert und zu einem gemeinsamen Fallverstehen gebündelt mit dem Ziel, Interventionen zu entwickeln, die mit dem Klienten ein sinnstiftendes Verstehen seines Anliegens und mögliche Entwicklungsperspektiven erarbeiten. 2. Formulieren eines Beratungsfokus  Anhand eines speziellen Fragenkataloges formulieren die Teilnehmenden einen Fokalsatz, der den zentralen Hauptkonflikt und die bevorzugten Abwehrstrategien eines vorgestellten Falls erfasst (Lachauer, 1992). 3. Verstehen von und Arbeit mit Inszenierungen Angeregt durch spezielle übertragungsrelevante Fragen reflektieren die Teilnehmenden das Übertragungsgeschehen in verschiedenen Fallberichten und lernen, ihre Gegenübertragung als diagnostisches Mittel zu nutzen. Dabei werden persönlichkeitsstrukturelle Übertragungskonstellationen ebenso thematisiert wie persönliche Gegenübertragungsneigungen auf die je spezifischen Übertragungen. 4. Einüben konfliktzentrierter Interventionsformen und Reflexion ihrer Wirkung In verschiedenen Übungen, Rollenspielen und schriftlichen Fallvignetten üben die Teilnehmenden Interventionen wie Problemsondierung, Konkretisieren, Konfrontieren und Deuten und erleben in der Rolle eines »Betroffenen«, welche konstruktiven, möglicherweise aber auch destruktiven und Abwehr stabilisierenden Effekte einzelne Interventionen haben. Didaktik und Lernziele strukturbezogener Beratung

1. Erfassen der strukturellen Defizite Die Teilnehmenden lernen anhand von Fallbeispielen zwischen verschiedenen Ich-strukturellen Defiziten zu differenzieren und diejenigen psychischen Funktionen zu unterstützen, die die Einschränkungen des Klienten überwinden helfen. 2. Verstehen und strukturbezogene Handhabung der Übertragungsbeziehung Die sich bei der Arbeit mit Borderline-Klienten entwickelnde Übertragungsbeziehung ist gekennzeichnet durch einen schnellen Wechsel intensiver Gefühlsmanifestationen und bedarf spezieller Antworten durch den Berater. Dabei sind weniger die Interventionen als vielmehr die beraterische Haltung von zentraler Bedeutung, die in erster Linie eine emotionsregulierende und haltende Funktion hat. Anhand von Fallvignetten setzen sich die Teilnehmenden mit ihrer Gegenübertragung als antwortendem Gefühl auf die Inszenierung des Klienten auseinander und erproben eine entsprechende, Sicherheit und Unterstützung vermittelnde beraterische Haltung (Rudolf, 2006). 3. Entwicklung einer strukturbezogenen Beratungsmethodik Mit dem speziellen methodischen Vorgehen in der strukturbezogenen Beratung setzen die Teilnehmenden sich am Beispiel verschiedener Fallvignetten im © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Rollenspiel auseinander. Antwortende, spiegelnde oder strukturierende Mitteilungen üben die Teilnehmenden ebenso ein wie konfrontierende Interventionen, die zur Selbstreflexion, zur Regressionsbegrenzung und zur Emotionsregulierung anregen (Rudolf, 2006; Wöller, 2006).

Paarberatung Diagnostik und Methodik

Die konzeptuellen Grundlagen dieser Einheiten orientieren sich an der psychoanalytischen Theorie, insbesondere dem Kollusionsmodell (Willi, 1976), der Kommunikationstheorie (Watzlawick et al., 1969) und der systemischen Theorie (Stierlin, 1978). Vermittelt wird ein Verständnis für paardynamische Grundprinzipien und die Dynamik der Partnerwahl mit ihrer Tendenz zu Zirkularität und Polarisierung, für die bewussten und unbewussten triebdynamischen und narzisstischen Grundthemen von Partnerschaften und die Merkmale dysfunktionaler Paarbeziehungen wie Fixierung und Stagnation. Entsprechend ist die Paarmethodik gekennzeichnet durch das Bemühen des Beraters, über einen empathischen Zugang zum Einzelnen das interpersonelle Zusammenspiel des Paares zu verstehen, zu thematisieren und damit neue Erlebens- und Verhaltensmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen (Volger u. Merbach, 2010). Didaktik und Lernziele

1. Erkennen und formulieren des gemeinsamen Paarthemas Im Rahmen von Rollenspielen identifizieren sich die Teilnehmenden mit der progressiven wie regressiven Position oraler, analer, phallischer und narzisstischer Kollusionen. Sie gewinnen auf diese Weise einen inneren Zugang zu dem unbewussten, korrespondierenden Thema und dem »Sog« der spezifischen Paardynamik von der Partnerwahl bis zum Paarkonflikt. Über ihre Identifikation mit den unterschiedlichen Positionen erhalten sie einen emotionalen Zugang zu den gemeinsamen Grundthemen des jeweiligen Paarsystems. Neben diesem erlebensorientierten Zugang lernen die Teilnehmenden unter beratungsmethodischem Aspekt, die Paarinszenierungen als Widerspiegelung eines gemeinsamen Themas des Paares zu erkennen. 2. Erkennen und formulieren des gemeinsamen Interaktionszirkels Anhand von Falldarstellungen und Verbatims lernen die Teilnehmenden die gegenseitige Bedingtheit des Verhaltens des Paares anzusprechen und die Zirkularität seiner Handlungen und Erlebensweisen zu verdeutlichen. Die interaktionelle Ebene zielt darauf ab, die subjektive Stimmigkeit jeder der beiden polarisierten Standpunkte erfahrbar zu machen und den Partnern die Relativität ihrer subjektiven Wahrnehmung zu verdeutlichen. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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3. Formulieren eines Paarfokus Zur Strukturierung des vielschichtigen Materials einer Paarberatung wird die Methode der Fokusbestimmung aus der Einzelberatung aufgegriffen und auf die Dynamik von Paarberatung angewandt. Am Beispiel eines Beratungsfalls der Teilnehmenden wird ein gemeinsamer Fokus für das Paar bestimmt, der das Gemeinsame des Fokalsatzes für jeden der beiden Partner inkludiert. 4. Verstehen von und Arbeit mit Übertragung Anhand einer Skulptur werden die Bedeutung von Übertragungsprozessen bei der Partnerwahl, im Paarkonflikt und in der Beratungssituation verdeutlicht und Überlegungen zur Dynamik der Dreierkonstellation in der Paarberatung und zur Rolle des Beraters angestellt. Die Teilnehmenden lernen, die Gegenübertragung des Beraters als diagnostisches Instrument zu nutzen und auf ­dieser Grundlage Interventionen zu formulieren, die dem Paar helfen, seine jeweilige Übertragung auf den Partner zu erkennen, um funktionalere Interaktionsmuster entwickeln zu können. 5. Umgang mit Widerstand und rigider Paarkommunikation Am Beispiel kurzer Fallvignetten entwickeln die Teilnehmenden ein paar­ dynamisches Verständnis für mögliche Motivationsprobleme und Widerstände eines Partners in der Eröffnungsphase. Typische Stagnationsprozesse der Mittelphase der Paarberatung werden anhand konkreter Beratungsverläufe vorgestellt, in ihrer dynamischen Bedeutung für die Paardynamik und den Prozess der Beratung reflektiert und Möglichkeiten der Auflockerung aufgezeigt. Im Zusammenhang mit der Arbeit mit ritualisierten, oft symmetrischen Widerstands- und Abwehrmustern rigider Paarsysteme, wie sie speziell von Streitpaaren inszeniert werden, lernen die Teilnehmenden spezielle methodische Techniken und Interventionen kennen, die den Partnern flexiblere und weniger destruktive Interaktionsformen eröffnen. 6. Phasenspezifische Interventionen bei Trennung und Scheidung Die Teilnehmenden lernen drei verschiedene Phasen des Trennungsprozesses voneinander zu unterscheiden und phasenspezifische Interventionen zu formulieren (Koschorke, 2003). In der ersten Phase durchlebt das Paar eine Krise, will aber prinzipiell an der Beziehung festhalten. Der Bearbeitung des Paar­ konflikts dienen kommunikationsintensivierende Interventionen, die zur Klärung der Beziehung beitragen. Die zweite Phase ist durch eine hohe Ambivalenz ­gekennzeichnet, in der Trennung explizit formuliert wird und die Partner eine Entscheidung über die Zukunft ihrer Beziehung treffen müssen. Methodisch geht es hier vor allem um eine Unterstützung der Partner bei der Klärung ihrer Ambivalenz und bei der Formulierung einer Entscheidung. In der dritten Phase muss nach einer getroffenen Trennungsentscheidung die innere und ­äußere Ablösung bewältigt werden, die methodisch durch eine beraterische Haltung begleitet wird, die Abschied und Trauer ermöglicht und zugleich die Chancen der neuen Situation nicht aus dem Blick verliert. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Erziehungsberatung Diagnostik und Methodik

Die Konzeptualisierung von Familiendynamik und kindlichen Störungen orientiert sich u. a. an der psychoanalytischen Familientherapie (Richter, 1990), der Bindungstheorie (Fonagy, 2003) und der Säuglingsforschung (Dornes, 1993). Vor dem Hintergrund dieser Theorien beschäftigen sich die Einheiten zur tiefenpsychologischen Erziehungsberatung mit den Prozessen transgenerationaler Weitergabe von Konflikten und Traumatisierungen. Dazu werden die inneren Repräsentanzen der Eltern, ihre Mentalisierung des Kindes und deren Auswirkung auf die kindliche Entwicklung und deren Störungsmöglichkeiten thematisiert. Ebenso werden die zentralen phasentypischen innerpsychischen und interpersonalen kindlichen und adoleszenten Konflikte im Entwicklungsverlauf und im Zusammenhang mit ausgewählten Störungsbildern des Kindes- und Jugendalters vermittelt. Tiefenpsychologische Erziehungsberatung verfolgt zwei Ziele: Zum einen vermittelt sie Eltern ein Verständnis für ihre eigene innerpsychische Konfliktdynamik, sensibilisiert für transgenerationale Übertragungsprozesse und unterstützt Eltern bei der Auflockerung innerpsychischer und interpersoneller Konflikte mit ihrem Kind. Zum anderen entwickelt sie in der Einzelarbeit mit Kindern und Jugendlichen das Verstehen von Symbolisierungen und Lösungen für kindliche und adoleszente Konfliktlagen. Didaktik und Lernziele

1. Erarbeiten einer familiendynamischen Perspektive Neben einer Einführung über die Bedeutung familiärer Schwellensituation erleben die Teilnehmenden in mehreren aufeinander aufbauenden Einheiten im Rahmen eines mehrstufigen Rollenspiels für jedes einzelne Familienmitglied die Phasen des familiären Lebenszyklus und die mit ihnen verbundenen Entwicklungsaufgaben. 2. Erkennen und formulieren der familiären Konfliktdynamik In verschiedenen Rollenspielen und anhand der von den Teilnehmenden erarbeiteten Verbatims üben sie konkrete Interventionen, die über die Konflikte des Einzelnen hinaus das konflikthafte Geschehen in der gesamten Familie thematisieren. Dazu gehört insbesondere auch die Fähigkeit zum Erkennen präödipaler und ödipaler triadischer Konfliktmuster. 3. Erkennen der Inszenierung elterlicher Konflikte im Kontext der Elternberatung Die Übertragungssituation in der Erziehungsberatung ist sehr komplex, da sie sich sowohl im realen Kontakt zwischen Berater und Eltern(-teil) ereignet als auch in der sich konstellierenden Beziehung zu dem abwesenden Kind. Am Beispiel von Beratungsdemonstrationen entschlüsseln die Teilnehmenden die © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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elterlichen Inszenierungen und setzen sich mit ihrer persönlichen Gegenübertragung auf die Eltern und das abwesende Kind auseinander. 4. Gestaltung eines Beratungsprozesses mit den Eltern Auf Grundlage familiendiagnostischer Hypothesen erlernen die Teilnehmenden am Beispiel eigener Fälle und intensiver Rollenspiele, wie Eltern für eine Arbeit an den eigenen Repräsentanzen und inneren Konflikten gewonnen werden können. Dazu bedarf es einer beraterischen Haltung des empathischen Verständnisses der Eltern ebenso wie des Kindes und flexibler methodischer Fertigkeiten, um zu erwartende Kränkungen und Widerstände bearbeiten zu können. 5. Indikationsstellung und Elternarbeit im getrennten Eltern-Kind-Setting Die Einzelarbeit mit Kindern im Rahmen der Erziehungsberatung findet in einem komplexen sozialen Feld statt, das eine Vielzahl diagnostischer und methodischer Probleme aufwirft, so zum Beispiel Fragen der Indikation, des Settings und der Abstinenz. Eingeübt wird die Kontaktaufnahme zur Familie in verschiedenen Settings unter der Fragestellung: Wie kann unter Beachtung der Schweigepflicht die Arbeit mit Eltern und Kindern produktiv gestaltet werden? 6. Psychologische Diagnostik des Kindes Im Rahmen der Einzelarbeit mit dem Kind lernen die Teilnehmenden über das szenische Verstehen von Spiel- und Interaktionssequenzen diagnostische Überlegungen zum Stand der Ich-Entwicklung und zur zentralen innerpsychischen Konfliktdynamik des Kindes anzustellen und für den Beratungsprozess zu nutzen. 7. Gestaltung eines Beratungsprozesses mit dem Kind Um das kindliche Spiel im Beratungsprozess so zu gestalten, dass Konfliktbewältigung und Persönlichkeitsreifung möglich werden, muss der Berater sich empathisch auf die Spielwelt des Kindes einlassen und zugleich seine eigenen Gefühle unter Kontrolle halten, was eine stabile Selbstregulation des Beraters voraussetzt. Im Rahmen von Rollenspielen und Demonstrationen erarbeiten die Teilnehmenden sprachliche Interventionsmöglichkeiten als Antwort auf spontane Symbolisierungen und Spieläußerungen des Kindes und beschäftigen sich mit dem Verständnis von Abwehr- und Widerstandsphänomenen und der Erarbeitung hilfreicher Interventionen. So setzen sich die Teilnehmenden mit der Frage auseinander, welche therapeutische Haltung einen angemessenen Umgang zum Beispiel mit aggressiven, grenzüberschreitenden, ängstlichen oder depressiven Kindern erlaubt. 8. Besonderheiten der Jugendlichenberatung Da die Kontaktaufnahme zu Jugendlichen oft unter einem starken Handlungsdruck steht, ist der Umgang mit Jugendlichen von Seiten der Berater vielfach durch ein hohes Maß an Unsicherheit und Hilflosigkeit gekennzeichnet. Kenntnisse über die innerpsychische Situation des Jugendlichen, wie sie in den entwicklungspsychologischen Einheiten vermittelt werden, bilden den Hintergrund für die Erarbeitung der Beratungsmethodik. Besonders intensiv © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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diskutieren die Teilnehmenden spezielle Übertragungskonstellationen und Probleme des Settings, wie zum Beispiel Fragen zum Verständnis von Abbrüchen oder des Wunsches nach Behandlungsunterbrechung, und erarbeiten in Rollenspielen entsprechende Interventionen.

Schwangeren- und Schwangerschaftskonfliktberatung Diagnostik und Methodik

Die Schwangerschaftskonfliktberatung ist eine gesetzlich vorgeschriebene Be­ ratung nach §  219 des Strafgesetzbuches, zu der jede Frau, die einen legalen Schwangerschaftsabbruch in Betracht zieht, vom Gesetzgeber verpflichtet ist. Tiefenpsychologische Schwangerschaftskonfliktberatung geht davon aus, dass eine ungeplante Schwangerschaft immer eine unbewusste Konfliktdynamik enthält, die als Antwort auf unerträgliche, meist unbewusste Konflikte verstanden wird, die in ungelösten biographischen Gegebenheiten der Frau oder auch in ungelösten Paarkonflikten begründet liegen können. Damit ist Schwangerschaftskonfliktberatung auch methodisch mit besonderen Herausforderungen konfrontiert, die eine gründliche Kenntnis psychodynamischer Prozesse voraussetzen. Didaktik und Lernziele

1. Die Bedeutung des Zwangskontextes für die Dynamik der Beratungsbeziehung Der Zwangskontext mobilisiert in besonderer Weise ungelöste Autoritäts­ konflikte der Ratsuchenden, die die Wahrnehmung der Beraterin projektiv ­verzerren können, so dass im Beratungsprozess mit massiveren Widerstandsmanifestationen zu rechnen ist. So können in der Beraterin Macht- und Do­ minanzgefühle ebenso wie Ablehnungsgefühle wahrgenommen werden, die dazu beitragen, dass die innerpsychische Situation der Schwangeren nicht zur Sprache kommen kann. Die Teilnehmenden lernen in Rollenspielen und ­Fallbesprechungen die jeweiligen Projektionen zu verstehen und aufzunehmen und sie für die Entwicklung eines vertrauensvollen Gespräches zu nutzen. 2. Bedeutung der Einmalberatung für die Dynamik der Beratungsbeziehung Schwangerschaftskonfliktberatung findet in den allermeisten Fällen als einmaliges Gespräch statt. Da es sich im Beratungskontext verbietet, die Frau zu einem Gespräch zu »zwingen«, kann das Gespräch über den Konflikt immer nur ein Angebot sein. Lehnt die Frau ein Gespräch über ihre Situation ab, beschränkt sich die Schwangerschaftskonfliktberatung auf Informationen über mögliche soziale und rechtliche Hilfen, auf Informationen im Kontext medizinischer Fragen des Schwangerschaftsabbruchs und auf Hinweise auf zukünftige Schwangerschaftsverhütung. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Ingeborg Volger · Ausbildung in psychodynamischer Beratung

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3. Bedeutung von Schuld und Schuldgefühlen im Schwangerschaftskonflikt Schuldgefühle sind ein zentrales Hintergrundthema in der Schwangerschaftskonfliktberatung, sie werden allerdings oft nicht thematisiert, da eine bewusstere Auseinandersetzung mit der Schuldthematik den Handlungskonflikt ­verstärken würde. Die Abwehr dieser Thematik kann sich dann in der Beratungssituation durch aggressive Angriffe gegen die Beraterin oder in der Verweigerung des Gesprächsangebotes realisieren. Die Teilnehmenden lernen diese Übertragungsdynamik kennen und üben einen beraterischen Umgang, der das interpersonelle Konfliktgeschehen reguliert. 4. Wahrnehmen und formulieren des inneren und interpersonellen Schwangerschaftskonflikts Die Teilnehmenden setzen sich in verschiedenen Übungen mit der inneren und äußeren Situation aller an der Schwangerschaft beteiligten Personen identifikatorisch auseinander und erarbeiten ein Verständnis für die Verschränkung des Schwangerschaftskonflikts mit den inneren Konflikten der Schwangeren und der spezifischen Konfliktdynamik ihres sozialen Umfelds. In Rollenspielen werden entsprechende Interventionen entwickelt und eingeübt. 5. Führen eines Beratungsgesprächs Anhand eines Leitfadens üben die Teilnehmenden im Rollenspiel die einzelnen Schritte des Beratungsgesprächs ein und entwickeln mit Blick auf mögliche Widerstände und Blockaden flexible Interventionsalternativen.

Ausblick Nach Abschluss der Weiterbildung verfügen die Teilnehmenden über profunde Kenntnisse aller Arbeitsfelder der institutionellen Beratung. Gleichwohl sind die Herausforderungen im Alltag der Beratungspraxis so umfassend, dass ein lebenslanger Lern- und Weiterbildungsprozess notwendig ist, um die hohe Qualität der Beratungsangebote zu garantieren.

Literatur Brauner, K., Koschorke, M., Langus-Mewes, I., Lindemann, F.-W., Meyer, A., Tilgner, S. (1990). Psychologische Beratung in der Kirche: Das Weiterbildungsmodell in Ehe- und Lebensberatung des Evangelischen Zentralinstituts für Familienberatung in Berlin (EZI). Wege zum Menschen, 42 (1), 2–40. Brisch, K.-H. (1999). Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta. Dornes, M. (1993). Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt a. M.: Fischer. Fonagy, P. (2003). Bindungstheorie und Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta. Haid-Loh, A., Hufendiek, S., Kröger, Ch., Merbach, M., Meyer, A., Volger, I. (2009). Integrierte Familienorientierte Beratung: Ein Weg in die Zukunft (Band 1). Berlin: EZI-Eigenverlag. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Aus- und Weiterbildung

Koschorke, M. (2003). Trennung oder Neubeginn? »Trennungsberatung«: Konzepte und Methoden der Paarberatung beim Thema Trennung. Fokus Beratung. Mai, 85–98. Kutter, P., Müller, Th. (2008). Psychoanalyse. Eine Einführung in die Psychologie unbewusster Prozesse. Stuttgart: Klett-Cotta. Lachauer, R. (1992). Der Fokus in der Psychotherapie. München: Pfeiffer. Lichtenberg, J. D. (1991). Psychoanalyse und Säuglingsforschung. Berlin u. a.: Springer. Richter, H.-E. (1990). Patient Familie: Entstehung, Struktur und Therapie von Konflikten in Ehe und Familie. Reinbek: Rohwolt. Rudolf, G. (2006). Strukturbezogene Psychotherapie: Leitfaden zur psychodynamischen Therapie struktureller Störungen. Stuttgart u. New York: Schattauer. Stierlin, H. (1978). Delegation und Familie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Volger, J., Merbach, M. (2010). Die Beziehung verbessern. Beratung von Paaren, die unter ihrer Kommunikation leiden. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Watzlawick, P., Beavin, J., Jackson, D. (1969). Menschliche Kommunikation. Stuttgart: Huber. Willi, J. (1976). Die Zweierbeziehung. Reinbek: Rowohlt. Wöller, W. (2006): Trauma und Persönlichkeitsstörungen. Psychodynamisch-integrative Therapie. Stuttgart u. New York: Schattauer.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Die Autorinnen und Autoren

Ahlheim, Rose: Dr. phil., Dipl.-Päd. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in eigener Praxis. Zehnjährige Tätigkeit als Sonderschullehrerin. Langjährige Mitarbeit als Dozentin und Supervisorin am Institut für Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie in Frankfurt/Main. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Behandlungstechnik; Konzept des »autoritären Charakters«; psychoanalytische Arbeit mit Eltern; Psychotherapie mit Säuglingen/Kleinkindern und ihren Eltern. Albrecht, Carla: Dipl.-Psych. Mitarbeiterin am Institut für Psychodynamische Organisationsberatung München (IPOM). Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Familienpsychologie; Projekte für soziale und klinische Einrichtungen. Finger-Trescher, Urte: Priv.-Doz. Dr. phil., Psychotherapist European Registered, Gruppenanalytikerin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Leiterin der Beratungsstelle für ­Eltern, Kinder und Jugendliche der Stadt Offenbach. Privatdozentin an der Universität Kassel. Lehre am Institut für Bildungswissenschaft/Forschungseinheit Psychoanalytische Pä­ dagogik der Universität Wien. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Psychosoziale Beratung im institutionellen Kontext; Erziehungsberatung im Kontext von Jugendhilfe; Trauma und Traumaverarbeitung bei Kindern und Jugendlichen; Psychoanalytische Pädagogik; Gruppenanalyse. Giernalczyk, Thomas: Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., Professor an der Fakultät für Pädagogik der Universität der Bundeswehr in München. Psychoanalytiker, Supervisor und Organisations­ berater (MAP, DGPT, IPOM). Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention – Hilfe in Lebenskrisen e. V. (DGS). Vorsitzender des Vereins und der Beratungsstelle »Die Arche – Suizidprävention und Hilfe in Lebenskrisen e. V.« in München. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Krisenintervention; Suizidprävention; Beratung. Haubl, Rolf: Prof. Dr. Dr., Dipl.-Psych., Sprachwissenschaftler. Gruppenlehranalytiker (DAGG) und Supervisor (DGSv). Professor für Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt/Main und Direktor des dortigen Sigmund-Freud-Instituts. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Krankheit und Gesellschaft; Medikalisierung sozialer Probleme; sozialwissenschaftliche Emotionsforschung; Theorie und Praxis von Beratungsprozessen; Methodenentwicklung in der qualitativen Sozialforschung. Hufendiek, Sabine: Dipl.-Päd., Paar- und Lebensberaterin, Supervisorin (DGSv; EKFuL), Kinderund Jugendlichenpsychotherapeutin. Mitarbeiterin einer Evangelischen Familienberatungsstelle in Bielefeld. Seit 2002 Dozentin am Evangelischen Zentralinstitut für Familienberatung Berlin. Eigene Praxis für Paarberatung und Supervision. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Mitarbeit in der Weiterbildung »Integrierte Familienorientierte Beratung« und in der Fortbildung in Paarberatung; Entwicklung, Durchführung und Evaluation eines Curriculums für psychosoziale Beratung im Kontext der Pränataldiagnostik. Arbeit in der Fortbildung für Schwangeren- und Schwangerschaftskonfliktberatung. Körner, Jürgen: Dr. disc. pol., Dipl.-Psych. Bis 2009 Professor für Erziehungswissenschaft an der FU Berlin. Psychoanalytiker, Lehr- und Kontrollanalytiker (DPG, DGPT, IPA), Gruppenlehranalytiker und Balintgruppenleiter. Präsident der International Psychoanalytic University Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Methode der Psychoanalyse; Psychoanalytische Pädagogik; jugendliche Delinquenz. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

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Die Autorinnen und Autoren

Muck, Mario: Dipl.-Psych., Psychoanalytiker. Betriebspsychologe und Ausbildungsleiter der Braun-AG Frankfurt (1959–1965). Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sigmund-Freud-Instituts (1965–1993). Lehrbeauftragter an den Universitäten Frankfurt/Main und Gießen. Fachlicher Leiter der Pro-Familia-Ausbildung. Mitglied des Instituts für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Gerichtsgutachter. Mitglied des zentralen und Leiter (1991–1993) des örtlichen Ausbildungsausschusses. Dozent für Kandidaten, Lehr- und Kontrollanalytiker. In eigener Praxis tätig (1993–2008), seither Supervisionen. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalyse und Pädagogik; Politik; Strafrecht und Theologie. Peters, Meinolf: Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker. Niedergelassen in eigener Praxis. Leitender Psychologe im Funktionsbereich Gerontopsychosomatik in der Klinik am Hainberg in Bad Hersfeld. Mitinhaber und Geschäftsführer des Instituts für Alterspsychotherapie und Angewandte Gerontologie. Honorarprofessor an der Universität Marburg. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Gerontopsychosomatik und -psychotherapie. Rauchfleisch, Udo: Prof. emer. Dr. rer. nat., Dipl-Psych., für Klinische Psychologie an der Universität Basel. Psychoanalytiker (DPG, DGPT). Langjährige Tätigkeit als Klinischer Psychologe in der Kinder-/Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie. Seit 1999 in privater psychotherapeutischer Praxis niedergelassen. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Testpsychologie; psychoanalytische Psychotherapie; Gewalt; Dissozialität; theologisch-psychologische Grenzgebiete; Musikpsychologie; Homosexualität und Transsexualität. Rohr, Elisabeth: Prof. Dr. phil., Dipl.-Soz., Professorin für Interkulturelle Erziehung am Fach­ bereich Erziehungswissenschaften der Philipps-Universität Marburg. Gruppenanalytikerin und Supervisorin in nationalen und internationalen Arbeitsbereichen, u. a. Forschungen in Ecuador, Supervisionstrainings in Guatemala. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Migration; Fundamentalismus; Gender; Körper und Identität und Supervision. Schnoor, Heike: Prof. Dr. phil., Lehrerin, Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin, Psy­ choanalytikerin (DPV). Professorin für Rehabilitationspsychologie und -pädagogik an der Universität Marburg. Tätigkeit als Psychoanalytikerin in eigener Praxis. Dozentin und Supervisorin am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Giessen e. V. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Rehabilitationspädagogik und -psychologie, Qualitätszirkel in pädagogischen Einrichtungen, psychodynamische Beratung. Volger, Ingeborg: Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin (DGPT), Psychoanalytische Paartherapeutin. Wissenschaftliche Assistentin an der TU Berlin. Seit 1983 Dozentin am Evangelischen Zentralinstitut für Familienberatung Berlin. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Konzept und Methode tiefenpsychologischer Beratung, Entwicklung von Curricula für Fort- und Weiterbildungen in Integrierter Familienorientierter Beratung (IFB)®, Erziehungsberatung, Kinder- und Jugendlichenberatung. West-Leuer, Beate: Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin (DGSv), Lehrsupervisorin, Senior Coach (DBVC). Vorstandsmitglied der Akademie für Psychoanalyse und Psychosomatik Düsseldorf e. V. Leitung des Instituts Psychodynamische Organisationsentwicklung und Personalmanagement Düsseldorf e. V. (POP). Lehrbeauftragte der Universität Düsseldorf. In eigener Praxis tätig. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Psychodynamische Beratung; Coaching; Coaching an Schulen; Entwicklungschancen von Kindern und Jugendlichen als Folge ihrer Beziehungserfahrungen; Psychoanalyse und Film. Willmann, Marc: Dr. phil., Dipl.-Päd. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover (1999–2007); seither am Institut für Rehabilitationswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Ausgewählte Arbeitsschwerpunkte: Emotional-soziale Schwierigkeiten und Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen; Unterricht und Didaktik bei Lern- und Verhaltensproblemen; Beratungstheorie und -forschung; pädagogische Diagnostik bei Verhaltensstörungen; Integrations- und Sonderschulforschung; Organisationstheorie der Schule und Schulentwicklung. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40170-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-40170-6

Sachregister

A Abstinenz 30, 44, 111, 171, 265 Abwehr 9, 25, 32, 52, 56 f., 90 f., 96, 100, 109, 113, 137, 157, 161, 182, 193, 209, 223, 232, 235, 237 f., 261, 263, 265, 267 Abwehrmanifestation 61, 260 Abwehrmechanismen 10, 118, 123, 204, 222, 225 Abwehrprozesse 23, 62, 92, 138 Abwehrstrategien 122, 261 institutionelle Angstabwehr siehe Institution Affekte 10, 32, 56, 85, 122, 137, 166, 168 f., 171, 173 f., 176, 187, 194 Affect Attunement/Affect Sharing 169 Affect-Coaching siehe Coaching affektives Lernen 230, 235, 238 Affektkontrolle 38 Affektmarkierung 169 Affektregulation 117, 124, 126 ff., 138, 143, 165, 170 f. Aggression 54, 57, 60, 68, 71, 85, 122, 129, 134, 137, 139, 145, 168, 170, 173, 184, 190, 234, 247, 267 aggressive Gegenübertragung 90, 188 Alter Ältere 105, 107, 111 f., 114 Altersbilder 105 f., 108 f., 114 Altersidentität 108 f., 113 f. Altersstereotyp 105 ff. Ambivalenz 31, 62, 67, 69 ff., 75, 139, 141, 194, 207, 247 f., 263 Anamnese 25 f., 181 Angehörige 41, 89, 94, 97 f., 100, 103, 105, 111 Angst 8, 10, 14, 26, 52, 54, 57, 60 f., 69, 79, 80, 82 f., 85 f., 92, 96, 99, 105, 108 f., 113 ff., 118, 126, 128 f., 131 f., 134, 138 f., 142, 145, 157 f., 165, 168 f., 172, 175 f., 180, 182 f., 185, 193 f., 202, 205, 208 f., 224, 232, 235, 243, 248 Angsttoleranz 142

Bindungsangst 57 Kontaktangst 124 Trennungsangst 57 f., 170, 249 Verlassenheitsangst 81 Versagensangst 172 Anpassung 23, 27, 48, 54, 60, 103, 110, 113 Anpassungsstörung 22, 48 Arbeitsbündnis 25, 28, 31, 122, 188 Ausbildung 15, 35, 39, 41 f., 66, 81, 104, 168, 178, 189, 191, 214, 227, 230, 252 f., 255 f., 259, 270 Ausbildungssituation 15 Ausbildungsstandards 15, 22 B Behandlung 11, 22, 27 f., 31, 33, 38, 42, 49, 79, 93, 100, 103, 111, 119, 138 f., 145 f., 149, 150, 153, 155, 159, 161 f., 214, 252, 255, 266 Behandlungsmethoden 8 f., 33, 153, 242 Behandlungsmotivation 139 Behandlungstechniken 8, 32 Behandlungsvertrag 25 Beratung Beratungsanlässe 47, 51, 187, 258 f. Beratungsanliegen 13 f., 25, 27, 166, 171, 224, 255 Beratungsbeziehung 10, 27, 37, 43, 48, 52, 54, 57, 93, 110 f., 119, 125, 133, 141, 144, 152 f., 158, 172, 259, 266 Beratungsdyade 152 Beratungsindikation siehe Indikation Beratungsmethoden 10, 161, 257, 258, 261, 262, 265 Beratungsqualität 179 Beratungstechnik 24 Beratungsziel siehe Ziel → manifeste/ latente Ziele Einzelberatung 51 f., 55, 61, 255, 257, 260, 263 Elternberatung siehe Eltern

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Sachregister

272 Erziehungsberatung siehe Erziehung Expertenberatung 153, 213 Familienberatung 73, 255 f., 267, 269 f. Krisenberatung siehe Krise Lebensberatung 13, 105, 114, 180, 267 Organisationsberatung 11, 154, 195, 197–208, 240 Paarberatung siehe Paare sanktionsbewährte Beratung 24 Beziehung Beziehungsangebot 59, 129, 246 Beziehungsentwurf 44 f., 47 f. Beziehungserfahrungen 51, 120, 138, 139, 167, 177 Beziehungsgestaltung 94, 99, 113, 119, 124, 134 Beziehungskonflikt 42, 51, 82, 92, 97, 112, 131, 140, 249 Beziehungsmuster 117, 122, 143 ff., 168 Eltern-Kind-Beziehung siehe Eltern funktionalisierte Beziehung 143 Paarbeziehung siehe Paare Bildung 7, 10, 31, 37, 39 f., 49, 202, 232, 234, 239 f., 249 Bindung 28, 59, 79, 105, 119, 123, 143, 165, 170, 177, 225, 258, 264 Borderline-Störung 70, 99, 118, 131, 260 C Coaching 154, 164–168, 170–178, 205, 208 Affekt-Coaching 165, 176 Business-Coaching 165 f. Coming-out 96 f., 101 Container-Contained/Containing/Containment 117, 124, 192, 205, 235 Curriculum 73, 241 f., 251, 257 f. D Deutung 26, 31 f., 34, 44, 69, 90, 93, 95 f., 100, 137, 233 f., 236, 239 Diagnose/Diagnostik 10, 25, 51, 54, 58, 66 ff., 89, 118, 137, 149, 155, 188, 260, 262, 264, 266 Didaktik 43, 213, 216, 231, 236, 240, 259–262, 264, 266, 270 Dissozialität 137 Durcharbeiten 11, 22, 33, 108, 166 E Eigenmacht der Realität siehe Realität Einzelberatung siehe Beatung

Eltern elterliche Allianz 83 f. elterliche Position 83 Elternberatung 58 f., 77, 84, 264 Eltern-Kind-Beziehung 40, 54, 58, 71, 77, 80 f., 85, 112, 124 f., 139, 207 Entscheidungen 8, 23, 69, 79, 96 f., 113, 124, 134, 180, 182, 191 f., 197, 204, 256, 263 Entscheidungsalternativen 24 Entscheidungsfähigkeit 27, 89 Entscheidungsprozesse 22 f., 114 Entwertung 27, 85, 90, 122, 130 f., 138, 143 f., 172 f., 183, 248 Entwicklung Entwicklungsaufgaben 7, 103, 111, 114, 119, 264 Entwicklungskrisen 27, 108 Entwicklungspotential 9, 62 Entwicklungsprozess 80, 83, 97, 107 Entwicklungsthemen 117, 123 f., 260 Erstinterview 25, 221, 227 Erstkontakt 9, 79, 120, 128, 182, 184 Erziehung 7, 37–40, 45 ff., 49, 98, 164, 181, 213, 240, 270 Erziehungsberatung 11 ff., 51, 58 f., 62, 179, 183, 185, 195, 257, 264 f., 269 Expertenberatung siehe Beratung Externalisierung 55, 58, 61, 140, 260 F Fall

Fallarbeit 73, 152–158, 160 ff., 215, 235, 237 Fallbesprechung 235 f., 261, 266 Fallverstehen 224, 226, 261 Familienberatung siehe Beratung Fokus bifokales Behandlungskonzept 140 Fokalsatz 29, 52, 261, 263 Fokaltherapie 21, 168 Fokusbildung 12, 123 freie Assoziation siehe Grundregeln Führung 25, 154, 166, 170, 174, 191 f., 195, 206 G Gegenübertragung Beipiele/Anwendungen 55, 112, 128, 145, 160, 261 Definition/Erläuterungen 30, 92, 119 Sonstiges/Allgemeines 25, 78, 90, 100, 143, 222, 225, 250, 260

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Sachregister

273

gleichschwebende Aufmerksamkeit siehe Grundregeln Grundregeln freie Assoziation 29, 43, 222 gleichschwebende Aufmerksamkeit 25, 29 f., 90, 95, 137, 143, 222 technische Neutralität 90, 97, 100, 143 Gruppe Gruppenanalyse 201, 234, 238 Gruppenprozess 182, 186, 232, 235 H Handlungsalternativen 12, 27 f. Hilfs-Ich-Funktion 171, 175 Hypothesenbildung 51, 54, 58 I Idealisierung 58, 106, 109, 119, 122, 130 f., 138, 232 Identität 81 f., 94 f., 103, 105, 107–112, 114 f., 146, 170, 249, 270 Identifikation 61, 81, 84, 105, 107, 156, 175, 187, 194, 205, 225, 248, 262 Identitätskrise 108 f., 113 f. Indikation Beratungsindikation 22, 26 Indikationsstellung 25, 182, 265 Therapieindikation 99, 145 Instanzenmodell 79, 91, 249 Institution institutionelle Angstabwehr 205 institutioneller Kontext/Rahmen 9, 15, 22, 24, 58, 61, 215 Institutionsanalyse 25 Internalisierung 24, 51, 58, 83, 260 Intervention 15, 24 Interventionstechniken 11 f., 31 f., 166, 198 Krisenintervention siehe Krise supportive Intervention 32, 38, 166 J Jugendhilfe 42, 179–182, 195 K Kasuistik 137, 213, 216, 226, 235 Kindeswohlgefährdung 24, 179 f., 184, 186, 259 Klarifikation 31 f., 166 Klärung 7, 90, 93, 95 f., 100, 121, 123, 128 f., 133 f., 137, 166, 179, 186, 249, 258 f., 263

Konflikt Beziehungskonflikt siehe Beziehung Kernkonflikt 138 f., 143 Konfliktdynamik 10, 25, 51 f., 58, 61, 255, 264–267 Konfliktverständnis 10, 29, 260 Paarkonflikte siehe Paare psychosozialer Konflikt 8, 29, 103 Konfrontation 31 f., 52, 86, 90, 93, 95 f., 100, 105 Konsultation 149–154, 156, 158–164 Konsultationstriade 152 Krise Entwicklungskrisen siehe Entwicklung Identitätskrise siehe Identität Krisenbegriff 117 Krisenberatung 32, 117, 119 ff., 123–127, 131 Krisenintervention 32, 34, 95, 121, 123–126, 130, 135, 180 narzistische Krise siehe Narzismus suizidale Krise siehe Suizidalität Kurzzeittherapie 8, 11 f., 21 f., 168 L Latenzschutz 197, 202 f., 207 Lebensberatung siehe Beratung Lebenskrise 8, 117 Leitung 180, 183, 188–195, 197, 205 f., 219 Leitungsqualität 179 M Macht 81, 98, 108, 129, 145, 189 ff., 195, 197, 200 f., 206, 209, 247, 266 Methodenkombination 33 Misstrauen 54, 57, 139, 142, 182, 251 Motivation 27 f., 139 f., 145 f., 168, 192, 235, 249, 263 Behandlungsmotivation siehe Behandlung N Narzissmus Narzissmustheorie 91 narzisstische Kränkung 58, 82, 86, 139, 141 narzisstische Krise 117, 122, 129 Neutralität siehe Grundregeln → technische Neutralität O Objekt Objektbeziehungen 10, 119, 134, 244

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Sachregister

274 Objektbeziehungstheorie 91, 138 Objektbilder 23, 138, 141 Ödipuskomplex 113, 119, 232, 245, 248, 264 Organisationsberatung siehe Beratung P Paare 56, 65, 69 f., 256 Paarberatung 54 f., 62, 73, 255, 257, 262 f., 268 f. Paarbeziehung 54 f., 83, 94, 114, 186, 241, 262 Paardynamik 54, 56, 262 f. Paarkonflikte 55, 68, 262, 266 Pädagogik 37 ff., 42, 49, 160 f., 164, 195, 216, 234, 240 Phasenmodell 119, 244 Pränataldiagnostik 65 f., 69, 70–75, 259, 269 Prävention 23, 149, 151, 177, 180, 200 Probedeutung 26 Problem Lebensprobleme 8 manifeste/latente Probleme 30, 223 Problembewältigung 8, 24 Problemlagen 7, 10, 12, 21, 23, 31, 180 f., 192, 223, 255 Problemlösefähigkeiten 23, 25, 155 Problemlösung 8, 10, 22, 152, 155, 160, 199, 200 Problemverständnis 16, 24, 27, 225 soziale Probleme 140 Professionalisierung 37, 40 ff. professionelle Objektivität 156 Projektbildung 31, 33 projektive Identifikation 31, 117 f., 124, 127, 131, 138, 167, 206 psychoanalytische Gesprächsführung 78, 159, 225, 251 f. Psychotherapie 8, 11 f., 17, 21 ff., 27 f., 32, 34 f., 37–43, 45–49, 62, 75, 77, 86 f., 89, 91 ff., 96, 101, 103, 111, 113, 115 f., 134, f., 138, 145, 147, 152, 159, 167, 174, 177 f., 181, 190, 195 Pubertät 245, 247, 249 f., 252 Q Qualität 15, 59, 79, 141, 164, 169, 182, 186, 191, 194, 199, 267 Qualitätskriterien 181 Qualitätssicherung 186, 191

R Realität 10, 15, 22 ff., 44–47, 49, 52, 59, 83, 98 f., 107, 109, 134 f., 138, 140 f., 166, 175, 177, 187, 215, 233, 235, 239 äußere Realität 23 Eigenmacht der Realität 46 innere Realität 23, 59 Realitätsprüfung 38, 175 f., 204 Regression 27, 33, 48, 81, 109 f., 118, 122, 126, 141, 146, 166, 194, 207, 232, 235, 238, 249, 262 Resignation 10, 139, 142, 146, 231 Ressourcen 7, 23 f., 27, 45, 48, 52, 106, 117 f., 156, 179 ff., 191 ff., 205 S sanktionsbewährte Beratung siehe Beratung Schlüsselwort-Technik 26 Schwangerschaftskonflikt 65, 70, 74, 241, 251, 255, 266 f. Selbst Selbstbilder 23, 81, 110, 171, 223 Selbsterfahrung 74, 190, 214 ff., 229 ff., 233, 239 f., 251 f., 257 Selbsterfahrungsseminar 229 Selbsterkenntnis 8, 214 Selbstvertrauen 156 Selbstwertgefühl 98, 118, 122, 129, 138, 144 Setting 8 f., 21, 28 f., 31, 33 f., 37, 42, 58, 119, 125, 160, 162, 166, 198, 216, 224, 226, 229, 234, 238, 255, 265 Sexualität 68, 71, 113, 181, 183, 224, 232, 245, 250 Bisexualität 89, 93 Heterosexualität 89, 93–96 Homosexualität 89, 95–99, 181 sexuelle Orientierung 89, 95, 99 Spaltung 106, 109, 118, 126, 138, 176 Spiegeln 55, 84, 126, 167, 169, 176, 187, 199, 222, 225, 238, 262 Studiengänge 41, 213, 226, 230 f. Stützung 7, 52, 84, 103, 108, 114, 121, 142, 149 f., 155, 162, 166, 175, 179, 183, 189, 194, 255, 261, 263 Sublimierung 249 Suizidalität 117, 130–135 manipulative Suizidalität 131 ff. Suizid 133 f., 224 suizidale Krise 117, 122, 129 Supervision 11, 156, 162, 164, 171, 176 ff., 181, 190, 208 f., 213–216, 226 f., 229 f., 234, 239 f., 243, 251, 257, 269, 270

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Sachregister

275

supportive Techniken siehe Intervention → supportive Intervention szenische Informationen 216, 222 szenisches Verstehen 31, 52, 78, 119, 160, 222, 240, 265 T Team 7, 73, 150, 162, 168, 181–184, 186 f., 190, 195, 198 f., 229, 257 Teamleistung 199 technische Neutralität siehe Grundregeln Therapieindikation siehe Indikation Trauer 70, 97, 126 f., 168, 171, 174, 176, 263 Traumatisierung 69, 94, 109, 118, 139, 168, 264 U Übertragung Beispiele/Anwendungen 48, 78, 95, 97, 111, 118, 145, 156, 160, 167, 207, 260, 264 Definitionen/Erläuterungen 30, 92, 119, 250 Sonstiges/Allgemeines 10, 26, 90, 100, 117, 182, 222, 225, 238, 267 Übertragungsanalyse 44, 52, 59

Unbewusstes unbewusste Dynamik 37, 90, 141–144, 154, 216 f., 225 unbewusste Verstrickung 157 V Verleugnung 23, 105, 108, 110, 138, 174, 198 W Weiterbildung 11, 15 ff., 41, 73 f., 176, 191, 211, 213, 215, 226, 240 f., 251, 255–260, 267, 269 Weiterbildungskonzept 255 f. Widerstand 10, 11, 26, 32 f., 48, 78, 90 f., 100, 172, 175, 177, 180, 194, 197, 199, 201, 204, 226, 232, 235, 238, 263, 265 Wiederholungszwang 24, 124, 226 Z Ziel Durchhalteziele 32 manifeste/latente Ziele 22, 223 Veränderungsziele 32 Zielsetzung 8, 22, 154, 160 f. Zielvereinbarungen 191

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